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Multiperspektivität und dramatische Wirkung in der sophokleischen Tragödie

0926
2022
978-3-8233-9563-8
978-3-8233-8563-9
Gunter Narr Verlag 
Severin Hof
10.24053/9783823395638
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Multiperspektivität ist, was das Drama von anderen Literaturgattungen unterscheidet. Dieses zentrale Merkmal hat in der Erforschung des antiken Dramas aber bis jetzt nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die es verdient. Dies ändert die vorliegende Studie. Sie entwickelt für den altgriechischen Tragiker Sophokles ein kommunikatives Gesamtmodell und zeigt auf, wie dieser die Darstellung der Kommunikation zwischen den Figuren mit ihren jeweiligen Perspektiven systematisch als Ressource für die Kommunikation mit seinen Rezipienten nutzte. Auf diese Weise gewinnt sie durch sorgfältige Analysen und in intensiver Auseinandersetzung mit existierenden Deutungsansätzen neue Erkenntnisse für das Verständnis dreier bis heute zurecht berühmter, vielfältig rezipierter und in ihrer Deutung umstrittener Tragödien, nämlich des Aias, der Antigone und der Elektra.

<?page no="0"?> I SBN 978-3-8233-8563-9 www.narr.de Multiperspektivität ist, was das Drama von anderen Literaturgattungen unterscheidet. Dieses zentrale Merkmal hat in der Erforschung des antiken Dramas aber bis jetzt nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die es verdient. Dies ändert die vorliegende Studie, indem sie ausgewählte sophokleische Tragödien beispielhaft einer kommunikativen Gesamtbetrachtung unterzieht und aufzeigt, wie die von den jeweiligen spezifischen Perspektiven geprägte Kommunikation zwischen den dramatischen Akteuren im Hinblick auf die Kommunikation zwischen Dichter und Rezipienten funktionalisiert ist. Auf diese Weise gewinnt sie durch sorgfältige Analysen und in intensiver Auseinandersetzung mit existierenden Deutungsansätzen neue Erkenntnisse für das Verständnis dreier bis heute zurecht berühmter, vielfältig rezipierter und in ihrer Deutung umstrittener Tragödien, nämlich des Aias, der Antigone und der Elektra. Hof Multiperspektivität und dramatische Wirkung in der sophokleischen Tragödie Severin Hof Multiperspektivität und dramatische Wirkung in der sophokleischen Tragödie DRAMA 23 DRAMA 23 Studien zum antiken Drama und zu seiner Rezeption Bernhard Zimmermann (Hrsg.) <?page no="1"?> Multiperspektivität und dramatische Wirkung in der sophokleischen Tragödie <?page no="2"?> DRAMA Neue Serie · Band 23 <?page no="3"?> Severin Hof Multiperspektivität und dramatische Wirkung in der sophokleischen Tragödie <?page no="4"?> ISBN 978-3-8233-8563-9 (Print) ISBN 978-3-8233-9563-8 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0392-3 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Severin Hof Universität Zürich Fachstelle Latein Seminar für Griechische und Lateinische Philologie der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit CH-8001 Zürich, Rämistrasse 68 0000-0003-2030-0249 DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823395638 © 2022 · Severin Hof Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https: / / creativecommons.org/ licenses/ by-sa/ 4.0/ ) veröffentlicht. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1862-7005 www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ®® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 0 9 1 11 1.1 11 1.2 12 1.3 13 1.3.1 14 1.3.2 15 1.4 19 1.5 20 1.5.1 20 1.5.2 27 1.6 29 1.7 30 2 33 2.1 33 2.2 35 2.2.1 35 2.2.2 40 2.2.3 45 2.2.4 49 2.2.5 63 2.3 67 2.3.1 68 2.3.2 68 2.3.3 74 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multiperspektivität und die attische Tragödie . . . . . . . . . . . . . „Involvement“ und seine Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Involvement“ und Multiperspektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modi der Involvierung: Privilegierung und Spannung Sympathielenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warum Sophokles? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resultate und Klärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretischer Gewinn: eine kommunikative Gesamtbetrachtung der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praktisch-interpretatorischer Gewinn: Involvierung als Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage der Untersuchung und Stückauswahl . . . . . . . . . . . . . . Technische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Aias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontextualisierung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma Der Prolog: die offene Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Parodos: auf dem Weg zu einer Antwort I . . . . . . . Die Begegnung des Chors mit Tekmessa: auf dem Weg zu einer Antwort II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Auftritt des Aias: vom Engagement zum Dilemma Das erste Stasimon als Ruhestelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der zweite Handlungsbogen: die Lösung, die keine ist . . . . . Das erste Stasimon als Scharnier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Trugrede: an der Oberfläche und darunter . . . . . . . Die Prophezeiung des Kalchas: die göttliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 2.4 76 2.4.1 77 2.4.2 78 2.4.3 81 2.5 86 2.5.1 88 2.5.2 98 2.5.3 100 2.6 111 2.7 117 3 119 3.1 119 3.2 122 3.2.1 123 3.2.2 132 3.2.3 135 3.2.4 151 3.3 153 3.4 160 3.4.1 160 3.4.2 166 3.5 171 3.5.1 171 3.5.2 173 3.5.3 176 3.5.4 183 3.5.5 185 3.5.6 191 3.5.7 195 Der dritte Handlungsbogen: der Tod eines Helden . . . . . . . . . Die Suche der philoi: die Hoffnung stirbt zuletzt . . . . . Der Abschiedsmonolog des Aias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Reaktion der philoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der vierte Handlungsbogen: die Fortschreibung der Spannung Der Agon mit Menelaos: Kampf gegen Ungerechtigkeit, aber wie? I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vorbereitung der Bestattung: engagiert für die gerechte Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Agon mit Agamemnon: Kampf gegen Ungerechtigkeit, aber wie? II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der fünfte Handlungsbogen: die unvollständige Auflösung . . Was am Ende bleibt: der ethische Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Antigone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontextualisierung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der erste Handlungsbogen: auf dem Weg zu einer angemessenen Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Prolog: die offene Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Parodos: von der offenen Frage zum Engagement . Das Ende der Involvierung: die angemessene Reaktion Der Abschluss des ersten Handlungsbogens: ein Hymnus auf die Normalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das zweite Epeisodion als Ruhestelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der zweite Auftritt der Ismene und das zweite Stasimon als Scharnier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ismenes Verwandlung: einmal Torheit und zurück . . . Die Reaffirmation der Normalität im zweiten Stasimon Der zweite Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haimons Nähe zu Antigone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kreons ‚Vernunft‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hilflosigkeit des Haimon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hilflosigkeit der Zuschauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die positive ‚Botschaft‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die doch nicht überwundene Spannung . . . . . . . . . . . . Die Reaffirmation der Vernunft im dritten Stasimon . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 3.6 198 3.6.1 198 3.6.2 201 3.6.3 205 3.6.4 207 3.7 209 3.7.1 210 3.7.2 217 3.8 228 4 231 4.1 231 4.2 232 4.2.1 233 4.2.2 241 4.2.3 267 4.3 280 4.4 290 4.4.1 290 4.4.2 297 4.4.3 301 4.4.4 310 4.4.5 312 4.5 317 4.6 324 5 329 5.1 333 5.2 338 Der dritte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antigones Verwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hilflosigkeit der Antigone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hilflosigkeit der Zuschauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gleichheit, Differenz und positive ‚Botschaft‘ . . . . . . . . Der vierte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der problematisierte Chordiskurs im vierten Stasimon Die Hoffnung auf ein glückliches Ende und ihr Scheitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was am Ende bleibt: die positive ‚Botschaft‘ . . . . . . . . . . . . . . . Die Elektra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontextualisierung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Prolog als Ansatzpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Εlektra und der Chor: von der offenen Frage zum Engagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Agon mit Klytaimestra: die Problematik von Elektras Agieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der zweite Handlungsbogen: kein Platz für Helden . . . . . . . . Der dritte Handlungsbogen: die Wendung ins Positive und zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entkernung von Elektras Perspektive . . . . . . . . . . . Elektras Befreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elektras erneute Unterdrückung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wendung ins Positive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ende im moralischen Vakuum . . . . . . . . . . . . . . . . . Der vierte Handlungsbogen: das pessimistische Stückende . . Was am Ende bleibt: die pessimistische ‚Botschaft‘ . . . . . . . . . Ein Blick zurück, einer zur Seite und einer nach vorne . . . . . . . . . . . . . . . Und die anderen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie weiter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt <?page no="8"?> 6 341 6.1 341 6.2 342 7 353 7.1 353 7.2 360 373 374 375 376 377 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indices . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namen und Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Index locorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhänge: graphische Darstellungen der Handlungsabläufe . . . . . . . Anhang 1: Der Aias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang 2a: Die Antigone (‚Weg 1‘ nach 3.2.3.1) . . . . . . . . . . . . Anhang 2b: Die Antigone (‚Weg 2‘ nach 3.2.3.2) . . . . . . . . . . . . Anhang 3: Die Elektra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 1 Projekte Nr. PP00P1_157444 und PP00P1_183707. 0 Vorwort Dazu, dass dieses Buch hat entstehen können, haben verschiedene Personen und Institutionen wesentlich beigetragen. Was hier vorgelegt wird, ist die überarbeitete und erweiterte Version einer Dissertation, die zwischen 2016 und 2020 im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanzierten 1 und von Prof. Dr. Gunther Martin (Zürich) geleiteten Projekts zur Pragmatik des Dialogs in der antiken Tragödie entstanden ist. Entsprechend möchte ich an erster Stelle Gunther Martin nennen: Er hat als hauptverantwortlicher Gutachter das Entstehen meiner Dissertation mit seiner eindrücklichen Expertise und mit beispielhafter Geduld sowie einer ganzen Menge Verständnis für die Situation begleitet, in der sich ein junger Doktorand befindet, wenn er sein erstes großes For‐ schungsprojekt in Angriff nimmt und die Arbeit mitunter auch nicht ganz problemlos vorangeht. Prof. Dr. Christoph Riedweg (Zürich) hat mich nicht nur während meiner Zürcher Studienjahre vielfältig gefördert, sondern sich auch bereit erklärt, das Zweitgutachten zu meiner Dissertation zu übernehmen, und mein Projekt mit seiner großen Fachkompetenz und dem ihm eigenen wachen Interesse begleitet. Meiner Zürcher Projektkollegin Dr. Federica Iurescia verdanke ich vielfältige und hilfreiche Rückmeldungen zu meinen Ideen. Robert Barnea (Zürich) hat umfangreiche Portionen meiner Arbeit in unterschiedlichen Entstehungsstadien wiederholt gelesen und zahlreiche inhaltliche und formale Verbesserungen vorgeschlagen. Das Seminar für Griechische und Lateinische Philologie der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Zürich hat mir eine menschlich und insbesondere mit seiner wunderbaren Bibliothek fachlich höchst anregende Arbeitsumgebung geboten. Prof. Dr. Carmen Cardelle de Hartmann (Zürich) hat mir durch eine Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter an ihrem Lehrstuhl für Mittellatein den Raum verschafft, meine Dissertation im Hinblick auf die Buchpublikation gründlich zu überarbeiten und zu erweitern. Allen Genannten gilt mein Dank. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Felix Budelmann (Oxford, jetzt Groningen) sowie Dr. Jon Hesk (St. Andrews) für Gespräche, ebenso den Zuhörerinnen und Zuhörern bei den Vorträgen, an denen ich mein Projekt in unterschiedlichen Phasen seiner Entstehung vorgestellt habe. Prof. Dr. Bernhard Zimmermann (Freiburg i.Br.) danke ich für die Aufnahme meines Buches in die Reihe DRAMA; die <?page no="10"?> Zusammenarbeit mit Tillmann Bub und Mareike Wagner vom Lektorat des Verlags Narr Francke Attempto ist durchgehend sehr angenehm gewesen. Der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung hat großzügigerweise die Kosten für die Herstellung der Druckvorstufe sowie die Open-Access-Publikation übernommen. Gewidmet ist dieses Buch Henrike Kümmerer, und dies mit gutem Grund: Sie ist mir in den Jahren, in denen ich an dem gearbeitet habe, was nun als Buch erscheint, eine unermüdliche, verständnisvolle und kluge Lebens- und Gesprächspartnerin gewesen, ohne die sehr vieles sehr viel schwerer gewesen wäre. Möge es ein gutes Omen sein, dass sowohl die Verteidigung meiner Dissertation wie auch deren Publikation jeweils mit einer wichtigen Station auf dem Weg zusammengefallen sind, den ich gemeinsam mit ihr gehe: der Geburt unseres Sohnes Leander im Sommer 2020 und derjenigen unseres Sohnes Raphael im Sommer 2022. 10 0 Vorwort <?page no="11"?> 2 Vgl. Pfister 1977, 91 f. zur „Polyperspektivität“ des Dramas. 3 Vgl. Plat. Pol. 394b4-c2; Arist. Poet. 1449b26f. 4 Die stiefmütterliche Behandlung der Multiperspektivität in der Analyse des antiken Dramas stellt Fuchs (2000, 55) ausdrücklich fest (laut Hartner [2012, §11] gilt dies auch außerhalb der Altphilologie). Siehe allerdings Sourvinou-Inwood 1989b, 135 f. u.ö.; Griffith 1995, 71 f. und 1998, 41 f.; Hall 1997, 118-124 für Erwähnungen und/ oder kurze Diskussionen dieser Eigenschaft sowie Harder 1995 (zu Euripides’ und Sophokles’ Elektren), Segal 1995a und Burian 2012 (zum sophokleischen Aias), Hose 2000 (zu den erhaltenen sophokleischen Tragödien) sowie Dubischar 2001, 187-384 (zu den euripideischen Abrechnungsagonen) für dramenanalytische Untersuchungen, die mit dem Konzept der Perspektive arbeiten. Harder, Hose und Dubischar beziehen sich dabei auf die Dramentheorie von Pfister (1977), die auch für diese Untersuchung zentral ist. Harders Aufsatz (siehe zu diesem unten Anm. 508) ist dabei aber relativ kurz, während Dubischar sich auf einen Typ einer bestimmten Bauform - eben den Abrechnungsagon - konzentriert; Hose geht es um die apriorische Hierarchisierung der Figurenperspektiven (siehe dazu unten Anm. 63); Segal und Burian entwickeln bzw. verwenden keine ausgearbeitete Methodik, auch wenn sie in ihren Arbeiten wichtige Beobachtungen anstellen. Markantonatos (2002) analysiert den sophokleischen Oidipus auf Kolonos narratologisch, überträgt also ein Instrumentarium auf die Dramenanalyse, das gerade nicht für Texte entwickelt wurde, deren Alleinstellungsmerkmal das Fehlen einer Erzählerstimme ist (vgl. de Jong 2004, 6 f.; 2006, 74 f.), und es ist fraglich, inwieweit man den dramatischen Akteuren gerecht wird, wenn man diese primär als Erzähler - und nicht als Handelnde - auffasst (siehe unten 1.3 zur Relevanz der Darstellung als Handelnde). Gegen das Ende der Entstehungszeit dieser Untersuchung hinzugekommen ist die Studie von Zetzmann (2021), die unter dem Gesichtspunkt 1 Einführung 1.1 Multiperspektivität und die attische Tragödie Gegenstand dieser Untersuchung ist ein zentrales Merkmal der attischen Tra‐ gödie: die Multiperspektivität. Für die attische Tragödie gilt, wie grundsätzlich für jedes dramatische Genos, dass eine auktoriale Erzählerstimme fehlt und die Träger des Plots alleine die dramatischen Akteure selbst sind. 2 Diese Tatsache wurde bereits in der antiken Literaturtheorie als Alleinstellungsmerkmal des Dramas gegenüber anderen literarischen Gattungen herausgestellt. 3 Überra‐ schend ist daher, dass der Umstand, dass sich die Rezipienten einer attischen Tra‐ gödie mit einem Gegen-, Neben- und Miteinander verschiedener Perspektiven konfrontiert sahen, in der modernen literaturwissenschaftlichen Diskussion zwar gelegentlich festgehalten, aber noch nicht ins Zentrum einer ausgedehnten Untersuchung gerückt worden ist. 4 Denn wenn die Multiperspektivität ein <?page no="12"?> des Scheiterns von Persuasion die Analyse der Kommunikation zwischen tragischen Akteuren für die Textinterpretation fruchtbar macht und dabei insbesondere mit dem Konzept der Perspektivenübernahme arbeitet (siehe S. 24-26). 5 Pausch 2011, 191-250 („Der involvierte Leser“ bei Livius) und Lindl 2020 („Narrative Technik und Leseraktivierung“ bei Tacitus). 6 Budelmann 2000, bes. 10 und 16f. Alleinstellungsmerkmal des Dramas ist, kann man davon ausgehen, dass diese Dichtern wie Zuschauern einen bestimmten Mehrwert bot, der sie veranlasste, dieser Kunstform ihre Aufmerksamkeit zu schenken, also Dramen zu verfassen und zu rezipieren. Kurzum, in der Multiperspektivität muss ein spezifisches Wirkungspotential beschlossen sein, und diesem Wirkungspotential ist die vor‐ liegende Untersuchung auf der Spur. Was also ermöglicht Multiperspektivität einem Dramatiker, welchen Beitrag kann sie zum Funktionieren seiner Werke leisten? Eine Antwort auf diese Frage soll hier im Mittelpunkt stehen: Sie befähigt den Dramatiker, seine Zuschauer zu involvieren. 1.2 „Involvement“ und seine Funktion Das Konzept der Involvierung - synonym auch ‚Aktivierung‘ genannt - er‐ scheint gelegentlich in der Altphilologie, so liegen namentlich entsprechende latinistische Studien zu Livius und Tacitus vor. 5 Entscheidend angeregt worden ist die vorliegende Untersuchung aber durch eine Monographie von F. Bu‐ delmann aus dem Jahre 2000, in welcher der Autor argumentiert, dass die „sophokleische Sprache“ besonders geeignet sei, „involvement“ zu generieren. Budelmann liefert zwar keine Definition dieses Konzepts, doch seine Studie macht deutlich, was er damit meint: Sophokles zeichnet sich laut ihm häufig dadurch aus, dass er seinen Rezipienten einige Information liefert, aber zugleich den Eindruck erweckt, dass da ‚noch mehr‘ sei, und die Rezipienten so in einen Zustand des, wie Budelmann sagt, „struggling for more“ versetzt. Auf diese Weise richtet er ihre Aufmerksamkeit auf den weiteren Verlauf des Stückes, von dem sie sich eine Vervollständigung ihres Bildes erhoffen können, kurzum, er involviert sie in dieses 6 - ohne Frage ein zentrales Moment dessen, was 1.1 oben als ‚Funktionieren‘ eines Dramas bezeichnet worden ist. 12 1 Einführung <?page no="13"?> 7 Siehe zur Wortgeschichte Dimpel 2011, 41f. 8 Pfister 1977, 90. 9 Vgl. die etymologischen Betrachtungen von Aristoteles in seiner Poetik (1448a28f.) sowie die Bezeichnung als μίμησις πράξεως ebendort (1449b24 u.ö.). 10 Vgl. Pfister (1977, 90), der ebenfalls argumentiert, dass die Perspektive sich nicht in den Informationen erschöpfe, über die ihr Träger verfügt; zum Parameter der ‚Reaktion auf die Situation‘, der hilft, das jeweils Spezifische der unterschiedlichen dramatischen Akteure zu erfassen, vgl. ferner Schwinge 1968, 25. 1.3 „Involvement“ und Multiperspektivität Um nun das spezifische Potential der Multiperspektivität zur Schaffung eines Zustandes des „struggling for more“ herauszuarbeiten, ist zunächst der Begriff der ‚Perspektive‘ zu bestimmen und darzulegen, was eine solche im Drama leistet. ‚Perspektive‘ ist nach der Herkunft ein visueller Begriff: 7 Die Akteure auf der Bühne sehen sich mit einer Situation konfrontiert, die sie wahrnehmen, und diese Wahrnehmung erschließen sie den Zuschauern. Mit der Wahrnehmung erscheint nun ein subjektives Moment: Verschiedene Akteure können eine Situation unterschiedlich wahrnehmen, mit unterschiedlichen „perspektivischen Abschattungen“ in den Begriffen von M. Pfister. 8 Doch mit dem Begriff der ‚Wahrnehmung‘ ist noch nicht alles gesagt: Drama ist, wie der Name zeigt, die Darstellung von Handelnden, 9 und Handeln erschöpft sich nicht darin, eine Situation wahrzunehmen, vielmehr ist die Wahrnehmung bloß ein erster Schritt. Auf die Wahrnehmung einer Situation folgt nämlich eine Reaktion auf diese, und auch diese Reaktion kann sich von dramatischem Akteur zu dramatischem Akteur unterscheiden: Ein Akteur kann beispielsweise mit der Situation zufrieden sein, dieser Zufriedenheit Ausdruck verliehen und/ oder das Erreichte zu bewahren versuchen, während ein anderer Akteur eine Situation beklagen und/ oder bestrebt sein kann, diese zu ändern. Entsprechend soll ‚Perspektive‘ in dieser Untersuchung als spezifischer Standpunkt eines Akteurs verstanden werden, von dem aus dieser auf die Situation reagiert, mit der er sich konfrontiert sieht - determiniert von seinem Wissensstand, aber sich nicht notwendig darin erschöpfend. 10 Soviel zum Wesen der Perspektive; nun zu ihrer Funktion. Entscheidend dafür ist die Tatsache, dass die jeweiligen Reaktionen der dramatischen Akteure kraft ihrer Unterschiedlichkeit dazu einladen, bewertet zu werden: Die Rezipienten können Reaktionen auf die im Drama präsentierte Situation als angemessener oder unangemessener beurteilen und deren Trägern entsprechend mit mehr oder weniger Sympathie begegnen, sich mehr oder weniger mit diesen identi‐ 13 1.3 „Involvement“ und Multiperspektivität <?page no="14"?> 11 Vgl. Pfister 1977, 96-98 zur „Selektion der Figurenperspektive“, das heißt, der Rekon‐ struktion der „intendierten Rezeptionsperspektive“; ‚Identifikation‘ bezeichnet dabei nicht primär die Absorption des eigenen Selbst in einen Bühnenakteur, sondern den Prozess, in dessen Rahmen ein Zuschauer, angeleitet von der Sympathielenkung (dazu siehe unten 1.3.2), die Reaktion eines Akteurs nachvollzieht und diesem ggf. bei dessen Handeln Erfolg wünscht (er identifiziert sich also, genau gesagt, mit der Reaktion, nicht notwendig mit dem Akteur selbst; für einen ähnlich weiten Identifikationsbegriff siehe Griffith 1998, 40 f.). 12 Pfister 1977, 98. 13 Vgl. zu dieser Grundalternative Barker 2009, 20. fizieren. 11 Zu einer solchen Beurteilung einzuladen, entsprechende Angebote zu machen, ist, was die Perspektiven der dramatischen Akteure gegenüber den Rezipienten leisten. 1.3.1 Modi der Involvierung: Privilegierung und Spannung Ausgehend von dieser Darlegung lässt sich nun die Brücke von der Multiper‐ spektivität zur Involvierung schlagen. Die multiperspektivische Struktur eines Dramas besteht, in den Begriffen von Pfister, 12 in der „durch Kontrast- und Korrespondenzbezüge strukturierte[n] Zuordnung der Figurenperspektiven“. Nun finden sich in jeder Tragödie an prominenter Stelle Konflikte zwischen Akteuren, von der Meinungsverschiedenheit bis zur Todfeindschaft, das heißt, die Perspektiven von Akteuren korrespondieren kraft ihres geteilten Status als Konfliktgegner und kontrastieren, insofern die Akteure nicht nur unterschied‐ lich auf eine Situation reagieren, sondern einander wechselseitig sozusagen zu einem Teil der Situation werden, mit der sie sich konfrontiert sehen, eben zu Konfliktgegnern. Nähert man sich also der Gattung ‚Tragödie‘ zunächst über das Merkmal des Konflikts - das Komplement dazu, das Konvergieren von Perspektiven, wird unten 1.3.2 zu seinem Recht kommen -, dann lässt sich festhalten, dass ein Dichter bei der Darstellung von im Rahmen eines Konflikts kontrastierten Perspektiven grundsätzlich zwei Möglichkeiten hat: 13 Zum einen kann er die Sympathie auf einen Akteur konzentrieren, also dessen Perspektive auf Kosten derjenigen seines Gegenspielers privilegieren. In diesem Fall werden die Rezipienten zur Hoffnung angehalten, dass der Sympathieträger im weiteren Verlauf des Stückes im Konflikt obsiegen möge, sei es, dass er seinen Gegenspieler überwindet, sei es, dass dieser erkennt, dass der Sympathieträger richtigliegt, oder sei es, dass die Umstände dem Sympathieträger Recht geben. Auf jeden Fall wird die Aufmerksamkeit und das emotionale Engagement der Zuschauer auf das Agieren des Sympathieträgers und somit auf den weiteren Verlauf des Stückes gerichtet, sie werden in dieses involviert. 14 1 Einführung <?page no="15"?> 14 Der deutsche Begriff ‚Spannung‘ mag etwa problematisch erscheinen, da dieser die Phänomene ‚suspense‘ und ‚tension‘ umfasst; hier wird er aber in Ermangelung einer sprachlich akzeptablen Alternative konsequent für ‚tension‘ verwendet (dass v. a. die eben besprochene ‚Involvierung durch Privilegierung‘ ‚suspense‘-Elemente enthalten kann, liegt dabei aber auf der Hand - Wird es dem Sympathieträger gelingen, den hinter der Ecke auf ihn lauernden Bösewicht zu überwinden? -, doch diese werden hier nicht als solche besprochen; siehe allerdings unten 1.5.1.1 für eine kurze Diskussion, die mit Gewinn auf ‚suspense‘-Theorie und -Forschung zurückgegriffen hat). Für eine Untersuchung v. a. des ‚suspense‘ in der attischen Tragödie siehe Fuchs 2000. 15 Vgl. Langer 2008, 18. 16 Dieses ‚Gesamtpaket‘-Modell, das der Realität theatralischer Erfahrung - und mensch‐ licher Kognition allgemein - näherkommt als eine scharfe Trennung zwischen Emotion und Intellekt und als eine Zuweisung des Theaters an eine der beiden Sphären - in der Regel an die erste -, entspricht dem von Lada (1993) für die altgriechische Wahrnehmung geprägten Konzept des ‚empathetic understanding‘, das sie auf der Basis moderner Kognitionsforschung, aber auch unter Rückgriff auf Aristoteles in Zum anderen aber kann ein Dichter auch darauf verzichten, ein derartig klares Bild zu zeichnen, und die Sympathie in einem Konflikt gleichmäßig verteilen, so dass sich die Rezipienten mit einem Dilemma, mit einer Spannung konfrontiert sehen. 14 Entscheidend ist, dass die Rezipienten auch in diesem Fall ins Stück involviert werden, da eine Situation, wie sie eben beschrieben worden ist, zur Hoffnung anhält, dass der weitere Verlauf der Handlung eine Überwindung des Dilemmas bringen möge. 15 Aus der eben geführten Diskussion lässt sich also eine einfache Heuristik gewinnen, die der nachfolgenden Unter‐ suchung zugrunde gelegt werden kann; dabei soll für das sperrige ‚Involvierung durch Privilegierung‘ das kürzere ‚Engagement‘ verwendet werden: Die Privi‐ legierung der Perspektive eines Akteurs vermag die Zuschauer im Hinblick auf dessen Handeln zu engagieren. Diese Heuristik präsentiert sich wie folgt: 1. Involvierung durch Spannung 2. Involvierung durch Privilegierung (= Engagement) 1.3.2 Sympathielenkung Entscheidend für die Feststellung, welcher dieser beiden Modi in einem be‐ stimmten Stück oder einem bestimmten Stückabschnitt vorliegt, ist die Rekon‐ struktion der Signale, durch die ein Dichter eine oder eben mehr als eine Akteursperspektive ein Identifikationspotential entwickeln lässt oder gerade nicht, das heißt, eine Analyse der Sympathielenkung. ‚Sympathie‘ ist dabei zu verstehen als eine ganzheitliche positive Reaktion auf einen dramatischen Ak‐ teur, zu der im Normalfall sowohl emotionale wie auch intellektuelle Momente beitragen und zu einem ‚Gesamtpaket‘ verbunden sind; 16 solche Mittel, die 15 1.3 „Involvement“ und Multiperspektivität <?page no="16"?> einem eindrücklichen Überblick über die antiken Quellen entwickelt hat. Vgl. auch Taplin 2 2003, 169 f. („Understanding, reason, learning, moral discrimination - these things are not, in my experience, incompatible with emotion [nor presumably in the experience of Gorgias and Aristotle]: what is incompatible is cold insensibility […] our emotions in the theatre, far from driving out thought and meaning, are indivisible from them: they are simultaneous and mutually dependent.“) sowie Pfister (1978, 21), der Sympathie als „die ganzheitliche, gefühlsmäßige, moralisch wertende und intellektuelle Momente integrierende Reaktion des Publikums auf die Dramenfiguren“ beschreibt. Zur Möglichkeit, die emotionale von der intellektuellen Dimension der Sympathie zu entkoppeln, siehe unten. 17 Die folgende Aufzählung ist angelehnt an Pfister 1978, 27-31. 18 Siehe Pfister 1978, 29; vgl. Heath 1987, 90-98. 19 Siehe Pfister 1978, 29; vgl. auch Heath 1987, 178. 20 Siehe Dimpel 2011, 93f. allerdings nie alle zugleich, ja nicht einmal notwendig in dieselbe Richtung wirken müssen, sind: 17 1. Alles, wovon ein emotionaler und intellektueller ‚Sog‘ ausgehen, ein Akteur in den Fokus gerückt werden kann: 18 Inwieweit wird ein Akteur zu einem privilegierten Objekt der Aufmerksamkeit der Zuschauer? In‐ wieweit erhalten diese einen Einblick in dessen Motivationen, dessen Innenleben, dessen Denken, Nachdenken und Fühlen? Hierzu gehören insbesondere - im Bereich des emotionalen ‚Sogs‘ - sprachliche und außersprachliche Mittel zur Förderung des Pathos, durch die ein Dichter das Leiden eines Akteurs an dessen Situation besonders in den Fokus rückt, diesem besondere Eindringlichkeit verleiht. 19 Zu nennen ist hier natürlich die besondere poetische und/ oder lyrische Qualität, die ein Dichter den Aussagen eines Akteurs verleihen kann, doch man sollte auch an die visuelle Dimension denken: Eine Figur erscheint beispielsweise verstümmelt, versklavt oder in hilfloser Supplikantenhaltung an einem Altar. 2. Normative(r) Rahmen: Die Werte, die ein Publikum ‚mitbringt‘, aber auch die Art und Weise, wie die ‚mitgebrachten‘ Werte im Stück aktiviert und eventuell manipuliert oder mit anderen Wertesystemen konfrontiert werden. 20 Ferner folgende, nicht primär auf der Achse Emotion-Intellekt liegende Mittel: 3. Ontologische Nähe: Nähe zu im Publikum greifbaren Identitäten oder Funktionen (‚Athener‘, ‚Mensch‘, ‚Soldat‘ etc.) 16 1 Einführung <?page no="17"?> 21 Siehe Pfister 1978, 28. 22 Siehe Pfister 1978, 29. 23 Zur Fokalisation im Drama siehe z. B. Hose 1990, 36f. 24 Vgl. Dimpel 2011, 54 f. und 113f. 25 Grundsätzlich darum, weil natürlich auch dieser Sympathielenkungsmechanismus durch andere, ihm entgegenlaufende übersteuert werden kann - man denke zum Beispiel an die Verabredung zweier Akteure zu einem Raubmord, die (hoffentlich! ) kein Identifikationspotential generiert (vgl. Dimpel 2011, 113 Anm. 275). 4. Das Verhältnis zu - und eventuelle Verschiebungen gegenüber - Hypo‐ texten 21 5. Der Wissensstand eines Akteurs; 22 hier zeigt sich das heuristische Potential der Bestimmung der Perspektive als Art und Weise, wie ein Akteur auf die Situation reagiert, die oben 1.3 über die bloße Wahrnehmung hinaus vorgenommen worden ist: Natürlich, ein Akteur, dessen Wissensstand ähnlich ist wie derjenige der Zuschauer, ist geeignet, ein besonderes Iden‐ tifikationspotential zu entwickeln, besonders dann, wenn die Zuschauer neue Informationen zusammen mit diesem Akteur rezipieren, die Situation - durchaus im Wortsinn - mit dessen Augen und Ohren wahrnehmen, dieser also als Fokalisator fungiert. 23 Jedoch bedeutet eine defizitäre Wahr‐ nehmung der Situation keinen automatischen Sympathieverlust. Dazu muss man nur an eine Situation denken, in der Zuschauer beobachten, wie ein Feind einem Sympathieträger hinter einer Ecke auflauert, und erwarten können, dass es zum Kampf kommen wird. Hier ist die Wahrnehmung des Sympathieträgers offensichtlich defizitär, doch die Zuschauer sind in der Lage, die Reaktion - der Sympathieträger wird sich wehren - zu inferieren und sich im Hinblick auf diese Reaktion, wenngleich durch den Filter ihres Mehrwissens, engagieren zu lassen. 6. Konvergenzprozesse: Oben 1.3.1 ist die Rede gewesen von der Kontras‐ tierung von Akteursperspektiven im Rahmen eines Konflikts; nun gibt es aber natürlich nicht nur den Korrespondenzbezug der Gegnerschaft, Perspektiven können auch konvergieren: Ein Akteur kann die Perspektive eines anderen akzeptieren oder gar übernehmen, oder aber zwei Akteure können ihre jeweiligen zu einer gemeinsamen Perspektive synthetisieren; 24 insbesondere können zwei (oder natürlich auch mehr) Akteure einen weiteren Akteur als gemeinsamen Gegenspieler verstehen und die durch diesen präsentierte Herausforderung gemeinsam in Angriff nehmen. Die Darstellung eines solchen Prozesses erhöht grundsätzlich 25 das Identifi‐ kationspotential der übernommenen oder durch Synthese gewonnenen gemeinsamen Perspektive: Die entsprechende Reaktion ist offenbar eine, die für verschiedene Akteure vor ihren jeweiligen spezifischen Hinter‐ 17 1.3 „Involvement“ und Multiperspektivität <?page no="18"?> 26 Eine andere Möglichkeit, die emotionale von der intellektuellen Dimension zu entkop‐ peln, besteht darin, der emotionalen Dynamik nicht primär einen normativen, sondern den situativen Rahmen entgegenzustellen. Ein Beispiel dafür liegt in der Szene der sophokleischen Elektra vor, wo die Titelfigur sich in heftigen Freudebekundungen ergeht, während ihr Bruder Orest und dessen alter Erzieher sie zum Schweigen zu bringen versuchen, da sie den Vollzug der Rache gefährde. Auch sie haben ‚Recht‘, doch zugleich erscheint die Auffassung, dass alles bestens wäre, wenn Elektra bloß endlich ihren lästigen Mund hielte, durchaus unangemessen: Die emotionale Dynamik arbeitet für Elektra und gegen die Versuche, sie zum Schweigen zu bringen (siehe unten 4.4.3). 27 Vgl. oben Anm. 16. 28 Man kann hier an den Gemeinplatz des ‚Unschuldig-schuldig-Werdens‘ denken, dem auch eine Entkopplung der emotionalen von der normativen Dimension zugrunde liegt: Ein Akteur zieht alle emotionale Sympathie auf sich, doch handelt, ohne es zu wollen, gegen die Götter, und die Götter, so weiß man, haben immer ‚Recht‘, setzen gewissermaßen ihren eigenen normativen Rahmen voraus. gründen (gewissermaßen trotz der Unterschiedlichkeit ihrer Hintergründe) attraktiv erscheint. Dies erleichtert es den Rezipienten, sich vor ihrem spezifischen Hintergrund mit dieser Reaktion zu identifizieren. Durch den Einsatz dieser Mittel kann ein Dichter also Sympathie für einen Akteur wecken, und die Aufzählung hat gezeigt, dass diese Mittel sowohl den Bereichen ‚Emotion‘ wie ‚Intellekt‘ zugehören, Sympathie also, wie ein‐ gangs gesagt, im Normalfall ein ‚Gesamtpaket‘ ist. Nun kann man von einem Normalfall aber immer auch abweichen, und dies gilt auch hier. Tatsächlich nämlich bietet der ‚Gesamtpaket‘-Charakter der Sympathie einem Dichter ein spezifisches Potential, ‚Involvierung durch Spannung‘ zu generieren, auf das zum Ende gesondert einzugehen ist. Denn ein Dichter kann die emotionale gewissermaßen gewaltsam von der intellektuellen Dimension entkoppeln. Dies tut er zum Beispiel, wenn er die emotionale Dynamik eindeutig für einen Akteur und gegen einen anderen arbeiten lässt, das Agieren dieses anderen Akteurs aber (im Unterschied zum Engagement) durch einen im Stück affirmierten und stabilisierten normativen Rahmen deckt. Man weiß also, wer ‚Recht‘ hat und wer nicht, doch dies liegt über Kreuz mit dem, was man gegenüber den Akteuren empfindet. 26 Kurzum, ein Dichter kann, wenn er will, der „cold insensibility“ 27 eine starke Position verleihen und so mehr oder weniger quälende Situationen schaffen, wie sie in einer Tragödie wohl besonders am Platz sind. 28 18 1 Einführung <?page no="19"?> 29 Siehe für einen kurzen Blick auf Aischylos und Euripides unten 5.1. 30 Kirkwood 1958, 31 f. u.ö. 31 Siehe Schmidt 1971, 4 f.; für eine dialogische Gestaltung auch des Trachinierinnen-Pro‐ logs argumentiert de Jong (2007, 8-19). 32 Tatsächlich wird unten 2.2.1, 3.2.1-3.2.1.3 und 4.2.1-4.2.1.2 gezeigt werden, dass die multiperspektivische Anlage zentral ist für das Funktionieren der Prologe und somit der gesamten Stücke. 1.4 Warum Sophokles? Mit der oben 1.3.1 entwickelten Heuristik sowie den eben aufgelisteten Sympa‐ thielenkungsmechanismen hat man das Handwerkszeug, um die dramatische Funktionalisierung von Multiperspektivität systematisch zu erfassen und zu analysieren. Dieses Handwerkszeug wird in der vorliegenden Untersuchung für die Analyse ausgewählter sophokleischer Tragödien nutzbar gemacht. Die Auswahl eines spezifischen Autors oder eines spezifischen Korpus, um einen literaturwissenschaftlichen Ansatz vorzuführen, kommt nicht ohne Willkür aus, und dies gilt auch hier: Es hätte grundsätzlich durchaus auch ein anderer Autor gewählt werden können. 29 Dennoch gibt es mindestens zwei gute Gründe, Sophokles a priori ein besonderes Interesse an der Involvierung durch Multi‐ perspektivität zu unterstellen. Deren erster ist die simple, aber nicht ganz irrelevante Tatsache, dass es andere auch schon ähnlich gesehen haben: Von Budelmanns Feststellung, dass die „sophokleische Sprache“ besonders geeignet sei, „involvement“ zu generieren, ist oben 1.2 bereits die Rede gewesen; bedenkt man ferner die These von G.M. Kirkwood, dass „character interaction“ für das Funktionieren besonders des sophokleischen Dramas wichtig sei, 30 dann liegt der Schritt nahe, diese beiden Beobachtungen zusammenzusehen und davon auszugehen, dass Sophokles ein besonders lohnender Gegenstand ist, um das Gegen-, Neben- und Miteinander dramatischer Charaktere in Beziehung zu setzen zur Zuschauerinvolvierung. Der zweite Grund, Sophokles ein besonderes Interesse an der Multiperspektivität zu unterstellen, liegt in der Tatsache, dass seine Prologe, im Unterschied zu denjenigen der beiden anderen großen Tragiker, sämtlich dialogisch gestaltet sind. 31 Er führt also die Zuschauer jeweils an seine Stücke heran, indem er sie mit potentiell unterschiedlichen Reaktionen auf den zu exponierenden Sachverhalt konfrontiert, so dass er auch aufgrund dieses strukturellen Merkmals als besonders interessiert daran erscheint, die Ressourcen der Multiperspektivität zu nutzen, und somit als besonders lohnender Gegenstand für eine Untersuchung wie die vorliegende. 32 19 1.4 Warum Sophokles? <?page no="20"?> 33 Siehe für einen Überblick Martin u. a. 2020, 3f. 34 Vgl. Hartner 2012, §12. 35 Siehe Taplin 2 2003, 17-19 u.ö. 1.5 Resultate und Klärungen Doch was ist, um die einzig entscheidende Frage zu stellen, mit einer sol‐ chen Untersuchung gewonnen? Die Fortschritte liegen auf zwei Ebenen: der dramentheoretischen und der praktisch-interpretatorischen. Diese sollen im Folgenden skizziert werden, wobei diese Darlegung es auch ermöglicht, Re‐ chenschaft abzulegen über einige grundsätzliche Fragen zum angemessenen literaturwissenschaftlichen Umgang mit der (sophokleischen) Tragödie, die bis jetzt offengeblieben sind. 1.5.1 Theoretischer Gewinn: eine kommunikative Gesamtbetrachtung der Tragödie Im hier entwickelten Ansatz fließen zwei literaturwissenschaftliche Erkennt‐ nisinteressen zusammen, die, jeweils für sich, grundlegend neue Sichtweisen auf das Genos ‚Tragödie‘ eröffnet haben und denen eine Sache gemeinsam ist: Sie verstehen die Tragödie, auf unterschiedlichen Ebenen, als Kommunikation. Deren erste ist das Verständnis der Sprache des antiken Dramas als Konversation, das heißt, als grundsätzlich identisch mit natürlicher Kommunikation, das ins‐ besondere den immer zahlreicher werdenden Untersuchungen zugrunde liegt, welche die Instrumente der modernen linguistischen Pragmatik an antike Texte herantragen. 33 Denn die Zuschreibung einer bestimmten Perspektive an einen dramatischen Akteur ist natürlich intentionalistisch: 34 Man schreibt diesem bestimmte mentale Prozesse zu, die ihn so und nicht anders reagieren lassen, und rekonstruiert sowie ergänzt Intentionen, auch wenn diese nicht explizit ausgesprochen werden. Wenn man ferner bedenkt, dass tragische Akteure in aller Regel durch Sprache handeln - sie streiten, flehen um Schutz, verfluchen und betrügen -, auf keinen Fall aber ohne Sprache, sind doch auch zumindest die relevanten nonverbalen Handlungen durch Worte begleitet, 35 wenn man also bedenkt, dass die Reaktion auf eine Situation sich sprachlich festmachen lässt, dann wird klar, dass die Zuschreibung von Perspektiven an dramatische Akteure bedeutet, diese als ‚Sprechakteure‘ zu betrachten, die bestimmte, rekonstruierbare kommunikative Ziele verfolgen. Hier nun liegt der Nexus zur natürlichen Sprache. Denn dort sind derartige Inferenzprozesse selbstverständ‐ lich, ja Zeichen elementarer Kompetenz: Wer an einem Gespräch teilnimmt, macht sich selbstverständlich ein Bild des Innenlebens seines Gegenübers, von 20 1 Einführung <?page no="21"?> 36 Siehe Bach/ Harnish 1979, 4f. 37 Siehe für eine Diskussion van Emde Boas 2017, 2-4. 38 Siehe Schuren 2014, 5 und 11 f.; van Emde Boas 2017, 2 f.; vgl. ferner Easterling 1990 dazu, dass sich der ‚Rahmen‘ (im Sinne E. Goffmans) des Theaters nicht dichotomisch, sondern graduell von der außerdramatischen ‚Realität‘ unterscheidet. 39 Vgl. Martin u. a. 2020, 5 f.; dabei ist zu beachten, dass umgekehrt auch in der natürlichen Kommunikation Konventionalität und Konventionalisierung keineswegs inexistent sind (siehe Strawson 1964, bes. 443-445). 40 Vgl. Martin u. a. 2020, 5. dessen Motivationen und Zielen, ist sich bewusst, dass das Gegenüber dies auch tut, und gestaltet das eigene Kommunikationsverhalten entsprechend. 36 Ebenso, so kann man ergänzen, deutet jemand, der ein Gespräch verfolgt, dieses selbstverständlich vor dem Hintergrund der Inferenzen, die er bezüglich der spezifischen Standpunkte der am Gespräch teilnehmenden Personen angestellt hat, versteht diese also auch als ‚Sprechakteure‘, die bestimmte, rekonstruierbare kommunikative Ziele verfolgen. Nun muss aber, was bei der ‚Rezeption‘ natürlicher Kommunikation selbst‐ verständlich ist, dies bei der Rezeption einer Tragödie nicht notwendig sein, und der Einwand, dass die stilisierte Natur tragischer Kunstsprache diese kategorial von natürlicher Kommunikation unterscheide, ist bedenkenswert. 37 Dennoch aber trägt er letztlich nicht, im Gegenteil wird eine konversationelle oder kommunikative Betrachtung der tragischen Sprache sogar besonders gut gerecht. Dies lässt sich anhand zweier Beobachtungen nachvollziehen: Die erste basiert auf einer genauen Betrachtung des Begriffs der ‚Stilisierung‘. Denn wo stilisiert wird, muss etwas sein, das man stilisieren kann, mit anderen Worten, die natürliche Kommunikation ist das Material, mit dem der Dichter arbeitet und ohne das als Folie die dramatische Darstellung nicht verständlich wäre. 38 Tragische Kunstsprache ist nicht identisch mit natürlicher Kommunikation, und es gibt Schlüsse, die zu ziehen bei der ‚Rezeption‘ natürlicher Kommunikation legitim sein kann, nicht aber bei derjenigen einer Tragödie, insbesondere, da natürlich die tragische Sprache im Prozess der Stilisierung ihre eigenen Konventionen entwickelt hat, die als solche erkennbar waren; 39 aber tragische Sprache ist (Darstellung von) Kommunikation, der man mit der Postulierung eines kategorialen Unterschiedes nicht gerecht wird - eine Auffassung, die letztlich auch nichts anderes bedeutet, als den mimetischen Charakter der attischen Tragödie ernst zu nehmen. 40 Die zweite relevante Beobachtung ist die, dass die dramatischen Akteure selbst oft die Frage nach der Motivation anderer Akteure stellen und deren Handlungen - häufig mit überschaubarem Erfolg - 21 1.5 Resultate und Klärungen <?page no="22"?> 41 Zu „mind-reading“ durch Akteure und Rezipienten in der attischen Tragödie siehe Budelmann/ Easterling 2010; Scodel 2017; Zetzmann 2021, 24-26 u.ö. 42 Dimpel 2011, 143. 43 Pfister 1977, 21. 44 Pfister 1977, 21. 45 Siehe Gruber 2009, 18-26 für einen Überblick aus altphilologischer Sicht. 46 Zum Begriff der ‚Illokution‘ siehe Austin 2 1975, 98-103. 47 Vgl. Rozik 1998, 79f. mithilfe des Bildes zu deuten versuchen, das sie sich von diesen gemacht haben, 41 so dass es keinen Grund gibt, warum die Zuschauer dies nicht auch hätten tun können und sollen: Die „Verfügbarkeit intentionaler Denkmuster“ 42 ist gegeben. Diese Argumente zugunsten eines konversationellen oder kommunikativen Verständnisses tragischer Sprache haben nun für die vorliegende Untersuchung die Konsequenz, dass der kommunikativen Dynamik zwischen den verschie‐ denen Akteuren, dem internen Kommunikationssystem in den Begriffen von Pfister, 43 höchste Aufmerksamkeit gelten muss und immer zu fragen sein wird, was die Akteure mit dem, was sie sagen, in der Situation, in der sie sich befinden, bewirken wollen. Nur so lässt sich nämlich nachzuvollziehen, wie Sophokles in den untersuchten Stücken eine multiperspektivische ‚Landschaft‘ entworfen hat, in der die Zuschauer ihren Platz finden konnten. Nun ist das Entwerfen dieser ‚Landschaft‘ aber natürlich selbst kommunikativ funktionalisiert, und zwar auf der kommunikativen Achse Dichter-Rezipienten, also im externen Kommunikationssystem: 44 Die Darstellung von Kommuni‐ kation ist, in Abwesenheit auktorialer Ansprache, die Kommunikation des Dichters mit seinen Zuschauern. Für diese Achse interessiert sich nun das zweite literaturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse, das für den hier entwi‐ ckelten Ansatz gewissermaßen Pate gestanden hat: die Rezeptionsästhetik. 45 Die vorliegende Studie untersucht die Art und Weise, wie Sophokles Perspektiven miteinander in Bezug setzt, zunächst also eine klassisch produktionsästhetische Fragestellung. Nun ist bei einer Gattung wie der Tragödie in der Produktion die Rezeption aber immer schon präsent: Die Dichter schrieben für eine spezifische Gelegenheit und mit einem klaren Ziel, nämlich, im tragischen Agon mit seinen partikulären Bedingungen den Sieg zu erringen, ihre Stücke dabei, in den eingangs gewählten Begriffen, funktionieren zu lassen, und zwar besonders gut funktionieren zu lassen. Der Aspekt der Rezeption wird von dieser Unter‐ suchung nun, konkretisiert zur Zuschauerinvolvierung, ebenfalls betrachtet: Diese erscheint gewissermaßen als übergeordnete Illokution, als übergeord‐ nete Kommunikationsabsicht, 46 auf welche die Stücke als - Kommunikation darstellende - „Makro-Sprechakte“ 47 gerichtet sind. Über diese Orientierung an der Kommunikation zwischen Dichter und Rezipienten, in der, in den 22 1 Einführung <?page no="23"?> 48 Gruber 2009, 25. 49 Hose 1990, bes. 14; Budelmann 2000; Gruber 2009. 50 Vgl. Gruber 2009, 24f. 51 Zum Begriff der ‚Perlokution‘ siehe Austin 2 1975, 101f. 52 Siehe oben Anm. 11. Worten von M. A. Gruber, 48 Produktion und Rezeption „gekoppelt“ sind, nimmt diese Untersuchung also auch die rezeptionsästhetische Betrachtungsweise der attischen Tragödie auf, die in verschiedenen Studien fruchtbar gemacht worden ist; 49 vor allem aber kombiniert sie diese mit der Analyse des internen Kommunikationssystems zu einer kommunikativen Gesamtbetrachtung der Gattung ‚Tragödie‘. 1.5.1.1 Die impliziten Zuschauer Dabei ist insbesondere festzuhalten, dass sie zusammen mit den eben genannten rezeptionsästhetischen Studien nicht den Anspruch erhebt, die konkrete Re‐ aktion eines oder mehrerer ‚empirischer Zuschauer‘ im Dionysostheater des fünften Jahrhunderts zu rekonstruieren, 50 sondern sich auf die im Text greif‐ baren - produktionsästhetisch gesprochen: vom Dichter in diesen gelegten - Signale beschränkt, die an die im Stück impliziten, ‚idealen‘ Zuschauer ergingen. Mithin interessiert sich diese Untersuchung auf der Kommunikationsachse Dichter-Rezipienten nicht für die Perlokutionen, 51 sondern für die Illokutionen. Dagegen soll nicht bestritten werden, dass sich aufgrund der enormen zeitli‐ chen Distanz zu den dramatischen Aufführungen und der Heterogenität des aus psychologisch ganz unterschiedlich disponierten Personen bestehenden Publikums nicht sagen lässt, ob und, wenn ja, in welchem Ausmaß die empiri‐ schen Zuschauer ihre individuellen Perspektiven mit der im Text angelegten Rezeptionsperspektive (der „intendierten Rezeptionsperspektive“ nach Pfister 52 ) in Deckung brachten: Es ist nicht das Ziel dieser Untersuchung, Spekulationen darüber anzustellen, ob eine bestimmte Tragödie, deren Platzierung im Agon nicht überliefert ist, wohl erfolgreich war oder durchfiel. Ein spezifischer Charakterzug muss den impliziten Zuschauern dabei aber natürlich zugeschrieben werden: dass diese in hohem Maß dazu bereit waren, sich involvieren zu lassen. Dies ist nicht so banal, wie man zunächst vielleicht denken könnte. Denn Involvierung, wie sie hier verstanden wird, besteht ja in der Hoffnung der Zuschauer auf einen bestimmten Ausgang, auf ein Happy-End, an dem ein Sympathieträger obsiegt oder eine Spannung sich auflöst. Nun gibt es aber Situationen, in denen eine solche Hoffnung einigermaßen abwegig ist: Die Katastrophe zeichnet sich beispielsweise bereits ab, doch dann retardiert der Dichter, bevor diese dann doch eintritt. Inwieweit konnte ein Dichter, 23 1.5 Resultate und Klärungen <?page no="24"?> 53 Gerrig 1989a und 1989b; siehe Fuchs 2000, 70-75 für eine Diskussion. 54 Ob es gelingt, „anomalous suspense“ zu kreieren, hängt letztlich von der Qualität des literarischen Produkts ab (Gerrig 1989a, 279 f.); unter dem Aspekt der ‚Qualität‘ der Rezipienten ist die hier herausgearbeitete Tatsache bereits im berühmten Gorgias-Frag‐ ment 23 Diels-Kranz behandelt: Im Theater ist derjenige „weiser“ - das heißt, er weist eine angemessenere Rezeptionshaltung auf -, der sich „täuschen“ lässt. Vgl. auch Kranz 1933, 213 f. zur Generierung von Hoffnung wider besseres Wissen beim „naive[n] Hörer, für den das Stück gedichtet ist“, durch retardierende Chorlieder. 55 Die Formulierung stammt von Pfister (1977, 92); siehe Hose 1990, bes. 32-37 und Gruber 2009, bes. 65-70 sowie unten zur Deutung des Chors durch Budelmann (2000). allgemein gefragt, also davon ausgehen, dass seine Zuschauer sich wider eigentlich besseres Wissen involvieren lassen würden? Dies anzunehmen, gibt es einen guten Grund: Menschen haben offenbar ein Interesse daran, Bücher ein zweites Mal zu lesen oder Theaterstücke ein zweites Mal zu sehen, und ebenso vermag sie im ‚echten Leben‘ ein Bericht über Ereignisse, deren schlechten Ausgang sie kennen, in ihren Bann zu ziehen, sie zur ‚irrationalen‘ Hoffnung zu veranlassen, dass es irgendwie doch anders kommen möge - Phänomene, die der Psychologe R.J. Gerrig als „anomalous suspense“ und „anomalous replotting“ theoretisch gefasst und empirisch untersucht hat. 53 Da es keinen Grund gibt, ‚den‘ Griechen - Menschen immerhin, die sich gerne die Dramatisierung von Mythen anschauten, die sie eigentlich kannten - eine grundlegend andere mentale Disposition zuzuschreiben, sollte die Bereitschaft zu einer Involvierung wider besseres Wissen angenommen werden, wobei dies nicht heißt, dass einige oder gar die Mehrheit der empirischen Zuschauer in einem konkreten Fall nicht so ‚klug‘ waren, diese Einladung auszuschlagen. 54 Soviel also zu den impliziten Zuschauern im externen Kommunikations‐ system; in der Verquickung dieses Systems mit dem internen Kommunikati‐ onssystem zu einer kommunikativen Gesamtbetrachtung der Tragödie liegt ein wichtiger dramentheoretischer Gewinn dieser Untersuchung, insofern eine solche Gesamtbetrachtung der Komplexität des Mediums ‚Drama‘, das Sophokles nutzte, gerecht zu werden verspricht, und zwei normalerweise eher disparate literaturwissenschaftliche Betrachtungsweisen zusammenführt. 1.5.1.2 Der Status des Chors Die ‚Patenschaft‘ des rezeptionsästhetischen Erkenntnisinteresses für die vorlie‐ gende Untersuchung ist allerdings auch eine Herausforderung. Betrachtet man nämlich die oben in Anm. 49 genannten Studien, so fällt auf, dass ihr Schwer‐ punkt auf dem Einsatz des Chors liegt. Genauer gesagt, gehen sie sämtlich davon aus, dass der Chor ein privilegiertes Instrument der Zuschauerlenkung gewesen sei, dessen Perspektive einen „höheren Grad an Verbindlichkeit“ besitze. 55 24 1 Einführung <?page no="25"?> 56 Siehe Gould 1996, bes. 231 f. (zu ‚dem‘ tragischen Chor im allgemeinen); zu Sophokles im allgemeinen Kirkwood 1958, bes. 184-186; Gardiner 1987; zur Elektra, zum Philoktet und zum Oidipus auf Kolonos Paulsen 1989; zur Antigone (allerdings teilweise mit allgemein sophokleischem Anspruch) Müller 1961 und 1967, bes. 14-18; Schwinge 1971; Rösler 1983; die Ergebnisse der letztgenannten drei Gelehrten sind allerdings im Einzelnen problematisch, hängt Schwinge doch der Vorstellung von der ‚Tyrannenfurcht‘ des Chors an (siehe dazu unten Anm. 284), während Müller diesen ‚Fehlurteile‘ sprechen sieht und Rösler diesem eine Autoritätsgläubigkeit unterstellt, die er am Ende des Stückes als verkehrt erkenne - Auffassungen, die das Kap. 3 unten hoffentlich insgesamt als unzureichend erweisen wird. 57 Siehe unten 2.2.2 und 2.2.3. 58 Budelmann 2000, 195-272 (bes. 201-206 für die grundsätzlichen Überlegungen). Inwieweit also war es angemessen, von Anfang an von einem Gegen-, Neben- und Miteinander verschiedener und - so wurde impliziert - gleichwertiger Perspektiven auszugehen, statt den Chor a priori gesondert zu betrachten? Eine sprachliche Klärung ist sicher angebracht: Der Chor ist keine Figur, weswegen in dieser Untersuchung, wenn der Chor (mit)gemeint ist, konsequent von ‚Akteuren‘ die Rede sein soll, wie dies bereits bis hierhin gehandhabt worden ist. Doch ist der sophokleische Chor ein Akteur neben anderen? Die Antwort auf diese Frage muss differenziert ausfallen. Dass die Mitglieder des Chors eine bestimmte dramatische Identität besitzen und diese bei der Interpretation ihrer Beiträge - in Sprechversen, Kommoi und Liedern - berücksichtigt werden muss, ist für Sophokles verschiedentlich und insgesamt überzeugend aufgezeigt worden. 56 Diese Tatsache schließt aber eine ‚besondere Verbindlichkeit‘ der Chorperspektive nicht aus, im Gegenteil. Denn die dramatische Identität selbst kann den Chor in die Nähe der Zuschauer rücken, wie zum Beispiel die Seesoldaten im Aias  57 oder die Polisbürger in der Antigone: Bei solchen Chören gilt, dass das Sympathielenkungsmittel der onto‐ logischen Nähe a priori für den Chor arbeitet. Darüber hinaus besitzt der Chor aber auch aufgrund zweier weiterer Merkmale eine apriorische besondere Nähe zu den Zuschauern. Zum einen nämlich handelt es sich bei ihm um ein Kollektiv, er steht also der ‚großen Gruppe‘ der Zuschauer besonders nahe: Wie v. a. Budel‐ mann gezeigt hat, 58 stellt Sophokles den Zuschauern mit dem Chor eine Gruppe zur Verfügung, die im Stückinneren auf das Bühnengeschehen reagiert und so tatsächlich als privilegiertes Instrument der Zuschauerlenkung funktionieren kann. Zum anderen besaßen die tragischen Chöre als Chöre ein grundsätzlich gegebenes Identifikationspotential: Chorische Ausdrucksformen spielten eine zentrale Rolle im Leben einer klassisch-griechischen Polis, insbesondere im religiösen Festkalender, und entsprechend konnte ein Tragödiendichter davon ausgehen, dass ein Chor als Chor ein entsprechendes Identifikationspotential 25 1.5 Resultate und Klärungen <?page no="26"?> 59 Siehe Pickard-Cambridge 2 1988, 75-79; vgl. insgesamt Zimmermann 2005, 48-52; 2016, bes. 253-255; Gruber 2009, 57-65; Reitze 2017, 31-33. 60 Vgl. Reitze 2017, 51-62; diese Funktion hat insbesondere Kitzinger (2008) betont, die dem sophokleischen Chor eine gegenüber den Figuren ‚ganz andere‘ Perspektive zu‐ schreibt, die von dessen Wesen als singender und tanzender, dem Zwang zum Handeln nicht unterworfener Gruppe geprägt sei und den Zuschauern so eine den Figuren nicht zugängliche Wahrnehmung der Situation erschließe. Die Zuschauer seien dann in der Lage, diese beiden unvereinbaren Wahrnehmungen in ihrer Rezipientenperspektive aufzuheben. 61 Vgl. Goldhill 1996, 252-255; dies gilt auch für den oben Anm. 60 referierten Ansatz von Kitzinger (2008): Insofern sie der Chorals ‚ganz anderer‘ eine mehr oder weniger gleichbleibende Distanz zu den Figurenperspektiven zuschreibt und annimmt, die Zuschauer hätten die Differenz zwischen diesen in ihrer eigenen Perspektive letztlich unproblematisch aufheben können, trägt sie der Tatsache zu wenig Rechnung, dass durchaus eine dichterische Gestaltung denkbar ist, in der die beiden Perspektivenarten in Konkurrenz zueinander treten, statt nur im Verhältnis einer Grundspannung zu stehen, die ‚immer schon da‘ ist (vgl. unten Anm. 354). 62 Für eine der hier vorgebrachten ähnlichen ‚echt multiperspektivischen‘ Auffassung der attischen Tragödie, die trotzdem Platz lässt für eine herausgehobene Stellung des Chors, siehe Griffith 1995, 72-74 (anderswo [1998, 42] nimmt Griffith eine deutlichere Privi‐ legierung des Chores an, aber dies ist vielleicht auch nur eine Frage der Formulierung). entwickeln konnte; ferner waren die Choreuten ja selbst Bürger, und außerdem spielten gerade bei dem Polisfest, das den Schwerpunkt der Aufführung und Rezeption von Tragödien darstellte, den Großen Dionysien, Chöre eine zen‐ trale Rolle, da dort Bürger als Vertreter ihrer Phylen den Dithyrambenagon bestritten. 59 Die eben beschriebene Privilegierung kann ferner dadurch verstärkt werden, dass die Chorlieder einen ‚Reflexionsraum‘ darstellen, der Chor dort also auf die von ihm rezipierten Geschehnisse reagieren kann, indem er diese in einen größeren Rahmen einordnet und auf beispielsweise ‚philosophische‘ oder - gerade, aber nicht nur, wenn über die eben beschriebene Rückbindung der Chöre an die Lebenswelt der Zuschauer kultische Formen aufgerufen werden - theologische Implikationen hinweist. 60 Nun ist aber auch eine besonders verbindliche Perspektive eine Perspektive, und es ist durchaus möglich, dass sich ein Dichter entschließt, die dem Chor eigene Fokalisatorfunktion durch die Kontrastierung mit den Deutungsange‐ boten der Figurenperspektiven gewissermaßen zu dekonstruieren. 61 Es ergibt also Sinn, im Rahmen eines Vorverständnisses den Chor als grundsätzlich in die multiperspektivische Textur der sophokleischen Stücke eingebettet (und dessen Perspektive somit als grundsätzlich gleichwertig) zu betrachten, auch wenn mit einer besonderen Verbindlichkeit entlang den oben entworfenen Linien unbedingt zu rechnen ist. 62 Damit scheint ein angemessen nuanciertes und 26 1 Einführung <?page no="27"?> 63 Die hier zum Chor vorgetragenen Überlegungen lassen sich auch auf die Frage nach der „Zentralfigur“ im Sinne von Hose (2000) übertragen: Auch die Vorstellung, die Perspektive einer bestimmten Figur sei a priori besonders verbindlich gewesen, ist natürlich eine Herausforderung für den hier vorgestellten ‚echt multiperspektivischen‘ Ansatz. Es ist jedoch auch unter diesem Gesichtspunkt ratsam, flexibel an die Stücke heranzugehen und damit zu rechnen, dass Sophokles in der Anlage seiner Stücke gerade darauf verzichtet, eine einzige Figurenperspektive als besonders und unproblematisch verbindlich herauszustellen. 64 Vgl. Spira 1960, 12; anders Heath (1987), der die beiden Dimensionen der dramatischen Wirkung und des ‚philosophischen‘ Gehalts getrennt und polemisch gegeneinander ausgespielt hat. Das interpretatorische Potential der Analyse der Multiperspektivität stellen (für erzählende Texte) Nünning und Nünning (2000, 31 f.) heraus. flexibles Verständnis des Phänomens ‚Chor‘ gefunden, das der nachfolgenden Untersuchung zugrunde gelegt werden kann. 63 1.5.2 Praktisch-interpretatorischer Gewinn: Involvierung als Rhetorik Oben 1.5.1 ist von der Involvierung als Kommunikationsabsicht des Dichters die Rede gewesen. Nun liegt allerdings die Frage auf der Hand, ob damit das, was der Dichter mit seinen Stücken ‚tun‘ wollte, ausgeschöpft ist. Diese Frage müsste man verneinen, wenn man davon ausgeht, dass die Werke dieses Dichters literarisch interpretiert werden können und sollen, dass er also etwas gibt, was er seinen Zuschauern ‚sagen‘ wollte und was unser Interesse verdient. Diese Annahme kann bei Sophokles guten Gewissens getroffen werden. Dies bedeutet aber gerade nicht, sich von der Frage nach dem dramatischen Funktionieren zu verabschieden, vielmehr ist davon auszugehen, dass Sophokles dieses Funktio‐ nieren in den Dienst dessen gestellt hat, was er ‚sagen‘ wollte. 64 Entsprechend ist eine Analyse des dramatischen Funktionierens auch eine Analyse der - gewissermaßen rhetorischen, man könnte auch sagen, psychagogischen - Mittel, die ein Dichter einsetzt, um seine ‚Botschaft‘ möglichst effektiv zu vermitteln. Will man sich nun dem entsprechenden Potential der Involvierung nähern, so ist zunächst in Erinnerung zu rufen, was diese leistet: Indem ein Dichter seine Zuschauer in ein Stück involviert, führt er sie der Stückhandlung entlang. Nun ist zu erwarten, dass verschiedene Modi der Involvierung entlang der Handlung eines Stückes aufeinander folgen. Dies bedeutet, dass ein Stück in verschiedene Handlungsbogen zerfällt, an deren Ende jeweils eine Ruhestelle steht, an der das „struggling for more“ der Zuschauer belohnt worden ist. Diese Handlungsbogen kann ein Dichter nun im eben beschriebenen Sinne rhetorisch 27 1.5 Resultate und Klärungen <?page no="28"?> 65 ‚Scheitern‘ ist dabei breit zu verstehen und kann insbesondere auch im externen Kom‐ munikationssystem vorliegen: Einem Akteur ist es zunächst gelungen, die Zuschauer für seine Reaktion zu engagieren, doch dann führt der Dichter diese an eine Situation heran, in der sich bestimmte Mängel dieser spezifischen Reaktion zeigen, wodurch deren Identifikationspotential systematisch reduziert wird. nutzen, um die Zuschauer an eine bestimmte Einschätzung des Bühnengesche‐ hens heranzuführen: Der Eindruck, der am Ende eines Handlungsbogens an der dann erreichten Ruhestelle steht, ist die ‚Belohnung‘ der Zuschauer für ihr „struggling for more“ und wird dadurch besonders markiert, erscheint als ‚Botschaft‘ des vorangegangenen Handlungsbogens oder gar, wenn das Ende des Handlungsbogens mit demjenigen des Stücks zusammenfällt, des ganzen Dramas. Vorab eine Taxonomie der möglichen Szenarien aufzustellen, wie ein Dichter sich dieses grundlegenden Mechanismus bedienen kann, ist dabei wenig sinnvoll, da dieser, so ist zu erwarten, in konkreten Stücken auf ganz unterschiedliche Weisen greifen kann. Hinzuweisen ist aber auf die Tatsache, dass ein Dichter seinen Zuschauern die erwartete ‚Belohnung‘ am Ende eines Handlungsbogens auch bewusst vorenthalten, die erwünschte Auflösung nicht verwirklichen und gerade da‐ durch einen bestimmten rhetorischen Effekt erzielen kann. Dies ist zum einen natürlich dann der Fall, wenn er einen Handlungsbogen direkt, das heißt, ohne Einschub einer Ruhestelle, in einen nächsten überführt: Dann erhalten die Zuschauer keine ‚Belohnung‘, ihr „struggling for more“ wird stattdessen neu ausgerichtet. Dabei gilt, dass ein Dichter mit jeder derartigen Neuausrichtung das Involvierungspotential seines Stückes steigert: Er hält die Zuschauer jeweils zur Hoffnung an, dass ‚jetzt aber‘ endlich eine Auflösung kommen möge, und je öfter er diese Hoffnung enttäuscht, desto erwünschter erscheint die jeweils in Aussicht gestellte Auflösung. Wenn diese dann endlich verwirklicht wird, erscheint sie desto willkommener und desto markierter als ‚Botschaft‘ der gesamten vorangegangenen Stückhandlung. Ebenso kann ein Dichter aber, statt die Stückhandlung in der eben beschrie‐ benen Weise doch noch an ein Happy-End heranzuführen, den Zuschauern die erhoffte ‚Belohnung‘ auch final verweigern, indem er eine davor generierte Spannung unüberwunden stehen- oder aber einen Akteur, dessen Perspektive privilegiert worden ist, in irgendeiner Weise scheitern lässt. 65 Entscheidend ist nun, dass er auch auf diese Weise die Zuschauer mit einer bestimmten ‚Botschaft‘ zurücklässt. Im ersten Fall besteht diese in der endgültigen Einschär‐ fung der Komplexität der dargestellten Situation: Die Hoffnung der Zuschauer auf eine Auflösung ist endgültig enttäuscht worden, und diese können nur feststellen, dass eine solche offenbar nicht möglich ist; vielmehr ist die Stücksitu‐ 28 1 Einführung <?page no="29"?> 66 ‚Ambig‘ wird dabei in dieser Untersuchung nicht im landläufigen Sinn von ‚diffus‘ verwendet (und ist ebenso vom gleich zu beschreibenden eindeutig pessimistischen ‚unhappy ending‘ zu trennen), sondern streng im strukturalistischen Sinn (siehe Vernant 1977), das heißt, als spannungsvolles Nebeneinander verschiedener in der Per‐ spektivenstruktur des Dramas angelegter und darum quantifizierbarer unvereinbarer Reaktionsvorgaben: Wenn eine Tragödie in einer von Ambiguität geprägten Situation endet, dann liegt dieser Entwicklung nicht der Verzicht des Dichters zugrunde, eine klare ‚Botschaft‘ zu vermitteln, vielmehr ist das Herausstellen von Ambiguität die - klare - ‚Botschaft‘ des Dichters. ation offenbar durch eine unüberwindbare Ambiguität geprägt. 66 Im zweiten Fall - einem ‚unhappy ending‘ - ist die ‚Botschaft‘ eine Einladung zu Resignation und Pessimismus: In der Stückwelt ist es offenbar nicht möglich, erfolgreich das Richtige zu tun. Auch eine auf die eben beschriebenen Weisen vergebene letztlich negative ‚Botschaft‘ ist eine ‚Botschaft‘, und ein Dichter kann, wenn er eine solche vergeben will, die Rhetorik der Involvierung im Hinblick auf dieses Ziel nutzen. 1.6 Anlage der Untersuchung und Stückauswahl Die eben angestellten Überlegungen zum interpretatorischen Potential einer Analyse der Involvierung durch Multiperspektivität haben nun für diese Un‐ tersuchung zwei aufeinander aufbauende Konsequenzen. Zum einen nämlich ergibt sich daraus eine interpretatorische Stoßrichtung der gesamten Arbeit: Die Analyse der Involvierung durch Multiperspektivität kann in der Frage nach dem, was Sophokles ‚sagen‘ wollte, neue Anregungen geben und Erkenntnisse erschließen; dass sie dies auch tun soll, ergibt sich aus der Feststellung, dass es Fragen der Interpretation sind, denen das Interesse eines Fachpublikums, ganz zu schweigen von Leserinnen und Lesern außerhalb der Altphilologie, vor allem gilt. Entsprechend verspricht diese Arbeit dann den größten Nutzen, wenn die Analyse, in intensiver Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur, systematisch innerhalb bereits bestehender interpretatorischer Diskussionen kontextualisiert und ihr interpretatorischer Gewinn konsequent herausgear‐ beitet wird. Dieses Erkenntnisinteresse hat nun seinerseits eine Konsequenz: Es sollen Stücke linear in ihrer Gesamtheit besprochen werden, statt stärker syntagma‐ tisch zu arbeiten und primär einzelne Szenen aus verschiedenen Stücken vergleichend zu diskutieren. Diese Entscheidung wird kaum jede Leserin und jeden Leser glücklich machen, doch nach reiflicher Überlegung überwiegen die Vorteile: Die Stücke wurden als Einheiten für eine lineare Rezeption verfasst, 29 1.6 Anlage der Untersuchung und Stückauswahl <?page no="30"?> 67 Winnington-Ingram 1980, 236. 68 Siehe unten 2.1, 3.1 und 4.1 für detailliertere Kontextualisierungen. 69 Lloyd-Jones/ Wilson 1990a. und entsprechend kann man die intendierte Wirkung einer Szene nur ermessen, wenn man in Betracht zieht, wie diese in der vorangegangenen Handlung vorbereitet worden ist, in den hier gewählten Begriffen: wie sich diese in die Bogenarchitektur des Gesamtstücks einfügt. Dass sich daraus, wenn R.P. Win‐ nington-Ingram damit Recht hatte, dass Sophokles keine Verse verschwendet habe, 67 umfassende Diskussionen Szene für Szene ergeben, liegt auf der Hand. In der Frage, an welche Stücke das hier entwickelte Handwerkszeug heran‐ getragen werden sollte, war aus praktischen Gründen eine Entscheidung zu treffen. Die Wahl ist dabei auf drei Tragödien gefallen: den Aias, die Antigone und die Elektra. Zwei Gedanken waren dabei entscheidend: Zum einen decken diese, als gemäß herkömmlicher Chronologie erste, dritte und fünfte vollstän‐ dige Tragödie innerhalb des sophokleischen Korpus, eine weite Zeitspanne ab. Zum anderen handelt es sich bei allen drei um berühmte ‚Problemstücke‘, in deren Interpretationsgeschichte eine Dichotomie fassbar ist: 68 im Aias diejenige zwischen ‚pietists‘ und ‚hero-worshippers‘, in der Antigone diejenige zwischen ‚hegelianischen‘ und ‚orthodoxen‘ Deutungen und in der Elektra diejenige zwischen einem ‚optimistischen‘ und einem ‚pessimistischen‘ Verständnis des Stückendes. Es scheint also, als seien im Text unterschiedliche und unvereinbare Reaktionsvorgaben beschlossen, die von den Interpretinnen und Interpreten unterschiedlich gewichtet werden. Da ‚im Text‘ nun bei der attischen Tragödie bedeutet, innerhalb des dargestellten Gegen-, Neben- und Miteinanders der verschiedenen Akteursperspektiven, verspricht eine Analyse, die nachvollzieht, wie Sophokles diese Reaktionsvorgaben in der multiperspektivischen Struktur seiner Stücke in Beziehung zueinander gesetzt hat, in besonderem Maße neue interpretatorische Impulse und Erkenntnisse oder kann bereits bestehende Deutungen auf eine sicherere Grundlage stellen. 1.7 Technische Vorbemerkungen Textgrundlage ist die Oxoniensis von H. Lloyd-Jones und N.G. Wilson; 69 Abwei‐ chungen werden vermerkt und begründet. Das Ziel ist, eine Benutzung dieser Untersuchung ohne das Beiziehen von Textausgaben - und auch ohne vertiefte Kenntnisse der entsprechenden Plots - zu ermöglichen sowie die Leserinnen und Leser zu befähigen, die Argumente an den Originaltexten nachzuvollziehen und zu prüfen; entsprechend wird ausgedehnt aus den Primärtexten zitiert. Die 30 1 Einführung <?page no="31"?> 70 Auf der Suche nach der treffenden Formulierung sind die Übersetzungen von Willige ( 5 2007) und Schmitz (2016) mit Gewinn herangezogen worden. 71 Tatsächlich nämlich ist es durchaus wahrscheinlich, dass nicht nur Männer, sondern auch Frauen - genauso wie Sklaven und Fremde - den Aufführungen antiker Tragödien beiwohnten (siehe z. B. Gruber 2009, 55 f. mit Anm. 125). Übersetzungen stammen vom Verfasser 70 und erheben keinen künstlerischen Anspruch. Wenn vom tragischen Personal oder vom Publikum die Rede ist, stehen maskuline Formen aus Gründen der Lesbarkeit für Referenten aller Geschlechter, 71 wie dies bereits bis hierhin gehandhabt worden ist. 31 1.7 Technische Vorbemerkungen <?page no="33"?> 72 Winnington-Ingram 1980, 13. 73 Für eine Doxographie siehe Altmeyer 2001, 11-13; den ‚hero-worshippers‘ könnte man March (1991-1993) und Garvie (1998, bes. 11-17) hinzufügen. 74 Siehe Finglass 2011, 44-46 für eine Diskussion des Verständnisses des Aias als des ‚letzten Helden‘. 75 Zu diesem Moment siehe besonders Gardiner 1987, 74-76 und Lefèvre 2001, 47-51. 76 Winnington-Ingram 1980, 1-56; dabei fasst er das Zuviel an heroischer Größe, das Aias charakterisiert, besonders in mentalen Begriffen, als „Größenwahn“; siehe auch Goldhill 1986, 156 sowie Hesk 2003, 140f. 2 Der Aias 2.1 Kontextualisierung und Überblick Beschäftigt man sich mit der Interpretationsgeschichte des sophokleischen Aias, dann lassen sich viele, vor allem ältere, Beiträge zwei Lagern zuordnen, deren Vertreterinnen und Vertreter von Winnington-Ingram 72 berühmterweise als ‚hero-worshippers‘ und ‚pietists‘ bezeichnet worden sind. 73 Jene vertreten dabei die Auffassung, die intendierte Zuschauerreaktion auf Aias bestehe darin, diesen aufgrund seiner über die von den anderen Akteuren vertretene Normalität herausragenden Größe zu bewundern, einer Größe insbesondere, die ihn als Produkt der homerischen Welt und als Anhänger des dort gültigen heroischen Codes ausweise, für den in der Welt des Stückes - bedauerlicherweise - kein Platz mehr sei. 74 Diese sehen den Aias dagegen als Darstellung bestrafter Hybris, nehmen also eine negative Wahrnehmung der Titelfigur an: Aias habe seine menschlichen Grenzen, die Notwendigkeit der ‚vernünftigen‘ Selbstbeschrän‐ kung, der sophrosyne, nicht erkannt und sich so göttlicher Strafe ausgesetzt, wobei sich Aias’ Mangel an sophrosyne besonders in seiner Unfähigkeit zeige, seinen sozialen Verpflichtungen nachzukommen. 75 Zwischen diesen beiden Positionen hat man nun zu vermitteln versucht. Dreh- und Angelpunkt solcher Versuche - ein besonders gelungener und wirkmächtiger ist die Abhandlung von Winnington-Ingram selbst - ist die Betonung von Aias’ Extremismus. 76 Aias gehorcht mit seiner Tat durchaus dem heroischen Code, doch dies in einer übersteigerten Weise, die ihn die berechtigten Ansprüche anderer Akteure - der Götter, aber auch seiner Mitmenschen - verletzen lässt. Dass die Feststellung von Aias’ Extremismus die angemessene Reaktion auf diese Figur ist, dass darin eine sophokleische ‚Botschaft‘ liegt, legt auch die Analyse der multiperspekti‐ <?page no="34"?> 77 Vgl. oben Anm. 9. 78 Die Rede von der ‚Ambiguität des Aias’ ist dabei brachylogisch: Die Figur Aias erscheint, genauer, als Kristallisationspunkt einer ambigen, von der Spannung zwischen den verschiedenen Akteursperspektiven geprägten Reaktion der impliziten Zuschauer (vgl. Anm. 66 oben). vischen Gestaltung des Dramas nahe, wie sie in diesem Kapitel vorgenommen wird. Entscheidend für diese Untersuchung ist jedoch die Nachzeichnung, wie Sophokles die Zuschauer an diese Wahrnehmung heranführt. Dabei zeigt sich nämlich ein paradoxer Befund: Die durch das Stück suggerierte Einschätzung des Aias als extremistisch erscheint nicht so sehr als das Ende, sondern als der Anfang der Probleme. Sophokles nutzt nämlich das spezifische Potential des Dramas, den Zuschauern die Perspektiven verschiedener menschlicher Akteure, Aias selbst eingeschlossen, vorzuführen, die diesen nicht nur beurteilen, ihn also angemessen wahrnehmen, sondern auf die Situation reagieren müssen, in der sie sich befinden, und zeigt so, dass es auf dieser Ebene, der Ebene der praxis sozusagen, 77 nicht genügt, einfach Aias’ Extremismus festzustellen. Denn Sophokles konfrontiert die Akteure mit einem konkreten Problem, demjenigen von Aias’ Suizidalität, das keine Mittelposition zulässt, sondern nur die Mög‐ lichkeiten ‚Selbsttötung‘ oder ‚Weiterleben‘, und auf dieser Ebene führt Aias’ Extremismus notwendig zu einem Dilemma zwischen den eben genannten zwei Möglichkeiten. Auf diese Weise ist die eigentlich entscheidende ‚Botschaft‘ des Stücks die Ambiguität der Figur Aias, die durch die Feststellung von deren Extremismus nur auf einer abstrakten Ebene überwunden werden kann. 78 Konkret präsentiert sich diese Darstellung so, dass Sophokles die Involvie‐ rung im oben 1.5.2 beschriebenen Sinne rhetorisch nutzt und die Zuschauer wiederholt durch die Hoffnung engagiert, Aias möge im Sinne der von ihm abhängigen Gemeinschaft, bestehend aus dem Chor und seiner Konkubine Tek‐ messa, zur ‚Vernunft‘ kommen. Diese Hoffnung auf ein Happy-End enttäuscht Sophokles aber jeweils, indem er am Ende der entsprechenden Handlungsbogen auch Aias’ Perspektive ein Identifikationspotential entwickeln lässt und so die beiden Perspektiven dilemmatisch kontrastiert. Auf diese Weise führt er die Zuschauer immer deutlicher an die eben ausgeführte Erkenntnis von der unüberwindbaren Ambiguität des Aias heran. In einem anderen ‚Phänotyp‘ prägt diese Ambiguität dann auch die zweite Stückhälfte, den Agon von Aias’ Halbbruder Teuker mit den Atriden, wo die davor generierte und aufrechter‐ haltene Spannung fortgeschrieben wird. Denn dort wird die Perspektive des Teuker mit derjenigen des Chors in einer Weise kontrastiert, die der ersten Stückhälfte entspricht: Das Grundproblem wird, mit teilweise verändertem 34 2 Der Aias <?page no="35"?> Personal, fortgeschrieben. Auf diese Weise bleibt die Ambiguität des Aias auch nach dessen Tod indirekt greifbar - ein Zustand, der bis am Stückende nicht überwunden wird. Die unüberwindbare Ambiguität der Figur Aias erweist sich somit als entscheidende einigende ‚Botschaft‘ des gesamten Stücks, dessen Einheit oft bestritten worden ist, und mit dieser werden die Zuschauer am Ende zurückgelassen. 2.2 Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma Der erste Handlungsbogen überführt zum ersten Mal Engagement in ein Di‐ lemma; der Ansatzpunkt dafür ist der Prolog, in dem in der Reaktion der Göttin Athene auf Aias dessen extremistischer Heroismus greifbar wird, Sophokles die Zuschauer jedoch mit der offenen Frage nach der angemessenen Reaktion auf einen so zu verstehenden Aias aus einer menschlichen Perspektive zurücklässt, mithin mit der Frage „Wie beurteile ich Aias? “, und sie dadurch ins Stück involviert. Zur Beantwortung dieser Frage gibt er den Zuschauern im Anschluss daran einen Maßstab an die Hand, nämlich die Frage, ob Aias gegenüber seinen philoi, den ihm nahestehenden und durch wechselseitige Verpflichtung verbun‐ denen Personen, den Mitgliedern des Chors und seiner Konkubine Tekmessa, seiner angestammten Beschützerfunktion nachkommen wird. Durch die mit diesen Akteuren geteilte Hoffnung auf eine positive Antwort auf diese Frage werden die Zuschauer engagiert. Dieses Engagement wird dann allerdings, sobald Aias erscheint, in eine Spannung überführt, indem Aias’ Perspektive dilemmatisch neben diejenige seiner philoi tritt. Auf diese Weise bleiben die Zuschauer am Ende des ersten Epeisodions mit der Erkenntnis zurück, dass eine menschlich angemessene Beurteilung des Aias nur darin bestehen kann, die Ambiguität dieser Figur anzuerkennen, die sich aus dem extremistischen Heroismus des Aias ergibt und so die menschliche Kehrseite der von Athene am Ende des Prologs erschlossenen Wahrnehmung darstellt. 2.2.1 Der Prolog: die offene Frage Die involvierende Wirkung des Prologs beruht auf einer bis zum Ende nicht aufgelösten Spannung zwischen den Perspektiven der Göttin Athene und des Menschen Odysseus, aus der sich die Frage nach der angemessenen Beurteilung der Titelfigur Aias ergibt. Nach dem Auftritt des verblendeten Aias nämlich, der gegenüber der Entsetzen heuchelnden Göttin den Wunsch durchgesetzt hat, den 35 2.2 Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma <?page no="36"?> Widder zu Tode zu misshandeln, den er für seinen Erzfeind Odysseus hält, ergibt sich folgender Austausch zwischen der Göttin und Odysseus, der die Szene, verborgen vor Aias, beobachtet hatte (vv. 118-133): Αϑ. ὁρᾷς, Ὀδυσσεῦ, τὴν ϑεῶν ἰσχὺν ὅση; τούτου τις ἄν σοι τἀνδρὸς ἢ προνούστερος ἢ δρᾶν ἀμείνων ηὑρέϑη τὰ καίρια; 120 . ἐγὼ μὲν οὐδέν’ οἶδ’· ἐποικτίρω δέ νιν δύστηνον ἔμπας, καίπερ ὄντα δυσμενῆ, ὁϑούνεκ’ ἄτῃ συγκατέζευκται κακῇ, οὐδὲν τὸ τούτου μᾶλλον ἢ τοὐμὸν σκοπῶν· ὁρῶ γὰρ ἡμᾶς οὐδὲν ὄντας ἄλλο πλὴν 125 εἴδωλ’ ὅσοιπερ ζῶμεν ἢ κούφην σκιάν. Αϑ. τοιαῦτα τοίνυν εἰσορῶν ὑπέρκοπον μηδέν ποτ’ εἴπῃς αὐτὸς ἐς ϑεοὺς ἔπος, μηδ’ ὄγκον ἄρῃ μηδέν’, εἴ τινος πλέον ἢ χειρὶ βρίϑεις ἢ μακροῦ πλούτου βάϑει. 130 ὡς ἡμέρα κλίνει τε κἀνάγει πάλιν ἅπαντα τἀνϑρώπεια· τοὺς δὲ σώφρονας ϑεοὶ φιλοῦσι καὶ στυγοῦσι τοὺς κακούς. A . Siehst Du, Odysseus, wie groß die Kraft der Götter ist? Wen hättest Du finden können, der klüger war als dieser Mann [120] oder besser darin, das Richtige zu tun? d. Ich kenne keinen; aber ich erbarme mich des Unglücklichen, auch wenn er ein Feind ist, da er von schlimmem Unglück geschlagen ist, wobei ich nicht mehr auf das Seine als auf das Meine blicke. [125] Denn ich sehe, dass wir, wie auch immer wir sind, nichts anderes sind als bloße Abbilder oder nichtige Schatten. A . Da Du solches siehst, sprich niemals selbst ein hochmütiges Wort wider die Götter und werde nicht hochmütig, wenn Du [130] stärker bist als irgendeiner oder irgendeinem an großem Reichtum überlegen. Denn ein einziger Tag bringt all das Menschliche in die Höhe und wieder herunter; die Götter aber lieben die Besonnenen und hassen die Schlechten. Beschränkt man sich zunächst auf die von Athene erschlossene Wahrnehmung des Aias, so fällt auf, dass sie dort zwei verschiedene Bilder des Aias zeichnet: ein positives - keiner war „klüger“ und „tatkräftiger“ als er (vv. 119 f.) - und ein negatives. Denn Athene unterstellt Aias durch ihr αὐτὸς 128 implizit, dass dieser einstmals ein „hochmütiges Wort“ wider die Götter gesprochen und so seine ‚Torheit‘, seinen Mangel an sophrosyne (vgl. τοὺς […] σώφρονας 132), und seine „Schlechtigkeit“ (vgl. τοὺς κακούς 133) gezeigt habe. Der Prolog hat den Zuschauern nun allerdings ein Mittel an die Hand gegeben, diese beiden 36 2 Der Aias <?page no="37"?> Wahrnehmungen zu vereinbaren. Dies leistet das Gespräch Athenes mit Aias (vv. 97-117): Aϑ. ἦ καὶ πρὸς Ἀτρείδαισιν ᾔχμασας χέρα; Α . ὥστ’ οὔποτ’ Αἴανϑ’ οἵδ’ ἀτιμάσουσ’ ἔτι. Αϑ. τεϑνᾶσιν ἅνδρες, ὡς τὸ σὸν ξυνῆκ’ ἐγώ. Α . ϑανόντες ἤδη τἄμ’ ἀφαιρείσϑων ὅπλα. 100 Αϑ. εἶἑν· τί γὰρ δὴ παῖς ὁ τοῦ Λαερτίου; ποῦ σοι τύχης ἕστηκεν; ἦ πέφευγέ σε; Α . ἦ τοὐπίτριπτον κίναδος ἐξήρου μ’ ὅπου; Αϑ. ἔγωγ’· Ὀδυσσέα τὸν σὸν ἐνστάτην λέγω. Α . ἥδιστος, ὦ δέσποινα, δεσμώτης ἔσω 105 ϑακεῖ· ϑανεῖν γὰρ αὐτὸν οὔ τι πω ϑέλω. Αϑ. πρὶν ἂν τί δράσῃς ἢ τί κερδάνῃς πλέον; Α . πρὶν ἂν δεϑεὶς πρὸς κίον’ ἑρκείου στέγης - Αϑ. τί δῆτα τὸν δύστηνον ἐργάσῃ κακόν; Α . μάστιγι πρῶτον νῶτα φοινιχϑεὶς ϑάνῃ. 110 Αϑ. μὴ δῆτα τὸν δύστηνον ὥδέ γ’ αἰκίσῃ. Α . χαίρειν, Ἀϑάνα, τἄλλ’ ἐγώ σ’ ἐφίεμαι, κεῖνος δὲ τείσει τήνδε κοὐκ ἄλλην δίκην. Αϑ. σὺ δ’ οὖν - ἐπειδὴ τέρψις ἥδ’, ‹ἐν› σοὶ τὸ δρᾶν, χρῶ χειρί, φείδου μηδὲν ὧνπερ ἐννοεῖς. 115 Α . χωρῶ πρὸς ἔργον· τοῦτο σοὶ δ’ ἐφίεμαι, τοιάνδ’ ἀεί μοι σύμμαχον παρεστάναι. A . Und, hast Du Deine Hand gegen die Atriden gerüstet? Ai. Ja, und sie werden Aias nie mehr entehren. A . Die Männer sind tot, wie ich Dich verstehe. [100] Ai. Als Tote sollen sie mir meine Waffen rauben! A . Ich verstehe. Und was ist mit dem Kind des Laertes? Wie verhält es sich mit seinem Geschick für Dich? Ist er Dir entkommen? Ai. Du fragst mich, wo der durchtriebene Schurke steckt? A . In der Tat: Von Odysseus spreche ich, Deinem Feind. [105] Ai. Als süßester Gefangener, Herrin, sitzt er drinnen. Dass er sterbe, will ich nämlich noch nicht. A . Was willst Du denn davor tun oder welchen Gewinn Dir verschaffen? Ai. Ich will, dass er, an einen Pfosten unterhalb meines Daches gebunden… A . Was möchtest Du dem Unglücklichen Schlimmes antun? [110] Ai. …sterbe, mit von der Peitsche blutig geprügeltem Rücken. A . Misshandele den Unglücklichen nicht so! Ai. Um das andere, Athene, befehle ich, sollst Du Dich kümmern; er aber wird diese und keine andere Strafe erleiden. A . Du also - wenn es Dir Freude macht, dann magst Du das tun, [115] gehe ans Werk, verzichte auf nichts von Deinem Plan. Ai. Ich mache mich an die Arbeit; Dir aber befehle ich, mir immer als solche Kampfgefährtin zur Seite zu stehen. 37 2.2 Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma <?page no="38"?> 79 Vgl. Heath 1987, 171; die „Hochmütigkeit“ von Aias’ „Wort“ lässt sich dabei mit den Mitteln der modernen linguistischen Pragmatik, genauer der ‚politeness‘-Theorie, be‐ schreiben (siehe für ein klassisches und gut brauchbares Modell Brown/ Levinson 2 1987 sowie für ein konzise Diskussion Zetzmann 2021, 28-30). Diese kennt drei Variablen, welche die relative ‚Höflichkeit‘ oder ‚Unhöflichkeit‘ einer Äußerung bestimmen (siehe Brown/ Levinson 2 1987, 74-76): die soziale Distanz, das Kräfteverhältnis und den Grad der Belastung (d. h. wie viel jemand seinem Gegenüber abverlangt, man denke an den Unterschied zwischen einer Frage nach der Uhrzeit und einer nach der Gewährung eines Gelddarlehens). Je höher der Wert dieser Variablen ist, desto ‚unhöflicher‘ erscheint eine Aussage, wenn sie nicht sprachlich abgemildert wird. Im vorliegenden Fall ist insbesondere die soziale Distanz - es geht um einen Menschen, der mit einer Göttin spricht - durchaus hoch. Entsprechend fällt auf, dass Aias seine Ablehnung mittels des Indikativs Futur τείσει 113 - er sagt nicht, was er gerne tun würde, sondern, was der Fall sein wird, ob Athene dies will oder nicht - denkbar wenig abmildert, diese also durchaus ‚unhöflich‘ formuliert (beachte auch das emphatisch am Versende platzierte ἐφίεμαι - „ich befehle“ - in den vv. 112 und 116; Knox [1961, 8 f.] weist ferner auf die Konnotation der Inferiorität hin, die das von Aias für Athene in v. 117 verwendete σύμμαχος im Athen des fünften Jahrhunderts besaß). Hier spricht Aias, wenn er die - wenngleich heuchlerischen - Einwände der Göttin zurückweist, ein „hochmütiges Wort“ gegen sie, 79 ein „hochmütiges Wort“ allerdings, das Athene in den vv. 127 f. nicht meinen kann, da ihr durch ein solches ausgelöster „Hass“ natürlich vor den Prolog zurückreicht. Athene stellt Aias’ ‚Torheit‘ und „Schlechtigkeit“ also als ein festes Charaktermerkmal dar, indem sie suggeriert, dass dieser schon immer so gewesen sei, wie er in der Begegnung mit ihr erschienen ist. Aias’ „Hochmut“ in dieser Begegnung hat nun einen spezifischen Grund: Wie das Motiv der ‚Ehre‘ zeigt, geht es Aias um die Behauptung seines heroischen Status, den er durch die Entscheidung der Griechen offenbar angegriffen sieht, die Waffen des Achill nicht ihm zuzuspre‐ chen, sondern Odysseus (vv. 98 und 100 mit ἀτιμάσουσ’ 98). Heroismus ist nun grundsätzlich eine positive Eigenschaft, was Aias hier als „schlecht“ erscheinen lässt, ist, dass sein Heroismus übertrieben ist: Er ist in der Affirmation seines Status nicht nur soweit gegangen, den Versuch zu unternehmen, die Anführer der Griechen hinzuschlachten, er wird - was für Athene das eigentlich Schlimme ist - hochmütig gegenüber einer Göttin, die ihn daran hindern will, seine „Ehre“ vollständig wiederherzustellen, indem er ‚Odysseus‘ zu Tode misshandelt. Aias ist also „schlecht“ darin, dass er etwas Positives, seinen Heroismus, ins Extrem treibt, wobei er irgendwie schon immer so gewesen sein muss, da Athene dieses Verhalten mittels der Bezeichnung als ‚töricht‘ und „schlecht“ an seinen Charakter zurückbindet. Darin treffen sich also die beiden auf den ersten Blick unvereinbaren positiven und negativen Beschreibungen des Aias durch Athene - eine Deutung, die dadurch noch bestärkt wird, dass die positive Einschätzung 38 2 Der Aias <?page no="39"?> 80 Vgl. March 1991-1993, 18. 81 Hof 2020, 129-132. 82 Vgl. zum Folgenden auch Hof 2020, 133-136. 83 Vgl. Goldhill 1986, 185; Segal 1995a, 18; Burian 2012, 72. 84 Vgl. Segal 1995a, 18 sowie zum folgernden Charakter von τοίνυν Denniston 2 1954, 569f. des Aias als einzigartig „klug“ und „tatkräftig“ in den vv. 119 f. an klassische homerische Heldentugenden - ‚Exzellenz‘ im Denken und Handeln - anklingt. 80 Nun erschöpft sich die Wirkung des Prologs aber nicht in der Darstellung des Aias als geprägt von einem extremistischen Heroismus. Um nachzuvollziehen, wie der Prolog die Zuschauer zu involvieren vermag, muss man dessen multi‐ perspektivische, typisch sophokleische Gestaltung in Rechnung stellen: Athene ist nicht alleine, sondern hat in Odysseus einen Kommunikationspartner. Unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation ist im Prolog, wie anderswo 81 argumen‐ tiert worden ist, ein ganz bestimmtes Muster greifbar: Athene bemüht sich wiederholt, das für ihr menschliches Gegenüber Relevante zu treffen, doch ist dabei nicht eben erfolgreich, vielmehr korrigiert Odysseus ihre Annahmen jeweils implizit, indem er ihrem göttlichen diskret seinen menschlichen Stand‐ punkt entgegenstellt, was dann Athene wiederum aufgreift, um erneut zu versuchen, Odysseus eine bestimmte Reaktion auf die Situation nahezulegen; kurzum, der Prolog ist geprägt von einer Spannung zwischen göttlicher und menschlicher Perspektive, die sich in der kommunikativen Dynamik mittels einer dialektischen Struktur manifestiert. Diese Dialektik setzt sich nun im hier zu besprechenden Austausch fort. 82 Denn Athene artikuliert in den vv. 118-120 nicht einfach eine bestimmte Wahrnehmung des Aias, sie reagiert auf seinen Auftritt, ja mehr noch, sie versucht Odysseus eine bestimmte Reaktion nahezulegen: Dieser soll sich, wie ihre rhetorische Frage zeigt, von der „Kraft“ (ἰσχὺν 118) seiner göttlichen Be‐ schützerin beeindrucken lassen, vielleicht sogar zusammen mit ihr über seinen besiegten und höhnend vorgeführten Feind triumphieren. Odysseus jedoch tut etwas anderes: Er erbarmt sich des Aias als seines geschändeten Mitmenschen, stellt also Athenes Vorgaben eine Reaktion entgegen, die davon geprägt ist, dass göttliche Allmacht, gewissermaßen von unten betrachtet, auch und vor allem menschliche Hinfälligkeit bedeutet. Auf diese Weise korrigiert er die Vorgaben der Göttin implizit aus seiner menschlichen Perspektive, sprachlich markiert durch die Aufnahme ihres ὁρᾷς…; 118 durch ὁρῶ 125. 83 Diese Dialektik wird nun auch in der nächsten Äußerung der Göttin weitergeführt. Denn dort nimmt diese ihrerseits Odysseus’ Reaktion auf (beachte εἰσορῶν 127 nach ὁρῶ 125 sowie die folgernde Partikel τοίνυν 84 ) und legt ihm, davon ausgehend, die ‚Moral‘ nahe, 39 2.2 Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma <?page no="40"?> 85 Vgl. Diller 1967, 193. kein „hochmütiges Wort“ wider die Götter zu sprechen, wobei auch das oben erwähnte zweite, negative Schlaglicht auf Aias fällt. Entscheidend ist nun, dass die eben beschriebene kommunikative Dialektik nahelegt, dass das von der Göttin erschlossene Bild eines extremistischen Heroismus des Aias sachlich zwar zutrifft, dass es aber eine menschlich ange‐ messenere Deutung dieser Tatsache gibt als eine simple Verurteilung als ‚töricht‘ und „schlecht“, wie sie die Göttin am Ende vornimmt. 85 Diesmal gibt Odysseus den Zuschauern allerdings, im Unterschied zu den vorangegangenen Partien des Prologs, keine solche Reaktion vor, vielmehr endet der Prolog mit v. 133, Athenes Aussage bleibt unkorrigiert stehen. Die Spannung zwischen göttlicher und menschlicher Perspektive bleibt also bis zuletzt gewahrt und lässt die Zuschauer mit dem ‚Auftrag‘ zurück, Odysseus’ Funktion gewissermaßen zu übernehmen und selbst eine menschlich angemessene Beurteilung dessen zu finden, was sie im Prolog über Aias erfahren haben, und die diesen prägende Spannung so zu überwinden. Um dies tun zu können, brauchen sie ein genaueres Bild des Aias, und ein solches können sie sich vom nunmehr beginnenden Drama versprechen. Der Prolog lässt die Zuschauer also mit der Frage „Wie beurteile ich Aias? “ zurück und involviert sie so ins Stück. 2.2.2 Die Parodos: auf dem Weg zu einer Antwort I Zur Beantwortung dieser Frage gibt der nächste Abschnitt des Stücks, der Auftritt des Chors mit seiner Parodos, den Zuschauern einen Maßstab an die Hand und generiert so Engagement durch die mit dem Chor geteilte Hoffnung, dass Aias diesem Maßstab genügen möge. Dies leistet der Chor, bestehend aus Aias’ Seesoldaten, indem er eine Bitte an seinen Herrn formuliert. Dieser möge ihm nämlich zu Hilfe kommen gegen die, wie er meint, Verleumdung des Odysseus, dass er, Aias, das Vieh der Griechen angegriffen habe - eine ‚Verleumdung‘, von der sich der Chor selbst bedroht sieht (vv. 134 f., 141-145, 148-150, 154 f., 158-161, 164-171 und 192-200): Τελαμώνιε παῖ, τῆς ἀμφιρύτου Σαλαμῖνος ἔχων βάϑρον ἀγχίαλον, 135 […] τῆς νῦν φϑιμένης νυκτὸς μεγάλοι ϑόρυβοι κατέχουσ’ ἡμᾶς ἐπὶ δυσκλείᾳ, σὲ τὸν ἱππομανῆ λειμῶν’ ἐπιβάντ’ ὀλέσαι Δαναῶν 40 2 Der Aias <?page no="41"?> βοτὰ καὶ λείαν […] 145 τοιούσδε λόγους ψιϑύρους πλάσσων εἰς ὦτα φέρει πᾶσιν Ὀδυσσεύς, καὶ σφόδρα πείϑει. […] 150 τῶν γὰρ μεγάλων ψυχῶν ἱεὶς οὐκ ἂν ἁμάρτοι· […] 155 καίτοι σμικροὶ μεγάλων χωρὶς σφαλερὸν πύργου ῥῦμα πέλονται· μετὰ γὰρ μεγάλων βαιὸς ἄριστ’ ἂν 160 καὶ μέγας ὀρϑοῖϑ’ ὑπὸ μικροτέρων. […] ϑορυβῇ χἠμεῖς οὐδὲν σϑένομεν πρὸς ταῦτ’ 165 ἀπαλέξασϑαι σοῦ χωρίς, ἄναξ. ἀλλ’ ὅτε γὰρ δὴ τὸ σὸν ὄμμ’ ἀπέδραν παταγοῦσιν ἅτε πτηνῶν ἀγέλαι· μέγαν αἰγυπιὸν ‹δ’› ὑποδείσαντες τάχ’ ἄν, ἐξαίφνης εἰ σὺ φανείης, 170 σιγῇ πτήξειαν ἄφωνοι. […] ἀλλ’ ἄνα ἐξ ἑδράνων ὅπου μακραίωνι στηρίζῃ ποτε τᾷδ’ ἀγωνίῳ σχολᾷ, ἄταν οὐρανίαν φλέγων. 195 ἐχϑρῶν δ’ ὕβρις ὧδ’ ἀτάρβηϑ’ ὁρμᾶται ἐν εὐανέμοις βάσσαις, πάντων βακχαζόντων γλώσσαις βαρυάλγητ’· ἐμοὶ δ’ ἄχος ἕστακεν. 200 Kind des Telamon, der Du den Thron nahe beim Wasser [135] auf dem ringsumflossenen Salamis besitzt […] In der vergangenen Nacht hat uns lautes Gelärm niedergedrückt, das auf unsere Ehre abzielte, dass Du nämlich die Wiese, auf der die wilden Rosse weiden, betreten und das Vieh und die Beute [145] der Danaer niedergemacht habest […] Solche Worte erdichtet Odysseus und zischt sie allen ins Ohr, [150] und man glaubt ihm gerne. […] Wer nämlich auf die großen Seelen abzielt, [155] könnte nicht danebentreffen. […] Trotzdem sind die Kleinen ohne die Großen ein wackliges Bollwerk. [160] Zusammen mit den Großen nämlich steht ein Kleiner am besten, und die Kleineren können Stütze sein für die Großen. […] Du wirst 41 2.2 Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma <?page no="42"?> 86 In diesem Zusammenhang kann man feststellen, dass die Reziprozität, wie sie der Chor artikuliert (vv. 158-161), in einer Situation wie der vorliegenden erst richtig relevant ist: Aias muss seinen Leuten beistehen, aber vielleicht müssen diese ihm ihrerseits helfen; dazu, dass die defizitäre Wahrnehmung der Situation durch einen Akteur das Identifikationspotential von dessen Perspektive nicht automatisch reduziert, siehe oben 1.3.2. 87 Siehe Taplin 2 2003, 13 f. zur der dramatischen Identität entsprechenden Kostümierung der tragischen Chöre. verleumdet, [165] und wir vermögen dem nichts entgegenzusetzen ohne Dich, Herr. Wenn sie nämlich Deinem Auge entkommen sind, schwätzen sie wie Vogelschwärme; erschreckt von einem großen Raubvogel, würden sie aber [170] schnell, wenn Du plötzlich erscheinst, sich in Schweigen wegducken. […] Auf, erheb Dich von Deinem Sitz, wo Du lange schon in einer Pause von der Schlacht verharrst, [195] während die Flammen Deines Verhängnisses himmelhoch brennen; der Hochmut Deiner Feinde aber stürzt so ungebremst durch die windigen Täler, während alle Menschen wie im Wahn mit ihren Zungen ungehemmt rasen; [200] für mich aber ist das Leiden gesetzt. Mit dieser Bitte reagiert der Chor also auf die Situation, mit der er sich konfrontiert glaubt. Fragt man nun nach dem Identifikationspotential dieser Reaktion, so fällt zunächst natürlich auf, dass die Wahrnehmung des Chors, auf der diese basiert, schwer defizitär ist: Nicht nur weiß der Chor nicht, dass Aias das Vieh der Griechen tatsächlich angegriffen hat; die Vorstellung eines Aias, der gewaltig gegen seine Feinde auftrumpft, ist angesichts des hilflosen und erniedrigten Aias, den die Zuschauer aus dem Prolog kennen, vollkommen illusorisch. Diese Tatsachen ändern aber nichts daran, dass der Chor angesichts seiner ausgesprochenen Abhängigkeit von seinem Herrn, wie er sie in der Parodos artikuliert, die gegenwärtige Situation irgendwie zusammen mit ihm wird durchstehen müssen, 86 so dass die Parodos gegenüber den Zuschauern durch den Filter ihres Mehrwissens folgende Frage aufwirft: Wird es Aias unter den gegenwärtigen katastrophalen Umständen gelingen, seinen Untergebenen beizustehen? In dieser Formulierung entwickelt die der Bitte des Chors implizite Frage also durchaus ein Identifikationspotential. Dieses Identifikationspotential wird dabei durch zwei Momente gestützt. Deren erstes ist das Sympathielenkungsmittel des Fokus: Der Chor steht alleine auf der Bühne, ohne Konkurrenz durch eine andere ‚Stimme‘, ihm gilt also die gesamte Aufmerksamkeit der Zuschauer. Das zweite fällt in die Kategorie der ontologischen Nähe: Die Identität des Chors bleibt in der Parodos ein stückweit im Dunkeln - als Marinesoldaten werden seine Mitglieder an ihren Kostümen erkennbar gewesen sein, 87 aber ihre Herkunft beispielsweise nennen sie nicht - und gewinnt vor allem durch 42 2 Der Aias <?page no="43"?> 88 Vgl. Flashar 2000, 45 f.; Scodel 2006, 67. 89 Für die Junktur μέγας Αἴας o.ä. siehe Il. 3,225-227; 5,610 u.ö.; zu Aias als Zweitem nach Achill siehe Il. 2,768f. und vgl. Od. 11,449-451; dazu, dass der Chor in der Parodos besonders deutlich auf Aias’ heroische Größe insistiert, vgl. ferner Zimmermann 2002, 242. seine Abhängigkeit von Aias Konturen. Aias setzt der Chor nun in engen Bezug zu dessen Heimatinsel Salamis (vv. 134 f.), der Insel also, bei der die Griechen im Jahre 480 einen Seesieg gegen die Perser errangen, der besonders für das athenische Selbstverständnis wichtig war und an dem man dem Heroen Aias, der in Salamis einen Schrein besaß, einen wichtigen Anteil zuschrieb. 88 Als Seesoldaten, die den Salaminier Aias um Unterstützung bitten, besaßen die Mitglieder des Chors eine besondere Nähe zu einem athenischen Publikum der 450er Jahre, auch wenn dieses Publikum, wie eben ausgeführt, die Bitte des Chores durch den Filter seines Mehrwissens wahrnahm. Der Prolog hatte die Zuschauer nun mit dem ‚Auftrag‘ zurückgelassen, eine menschlich angemessene Beurteilung von Aias’ extremistischem Heroismus zu finden. Eine solche ermöglicht, wie oben angekündigt, der Einsatz der Perspek‐ tive des Chors. Um dies nachzuvollziehen, ist zunächst festzuhalten, dass auch der Chor Aias als einen Helden kennt, wie das Insistieren auf dessen „Größe“ zeigt (vgl. μεγάλων 154, 158 und 160, μέγας 161 und μέγαν 169), die in der Ilias beinahe ein stehendes Beiwort dieser Figur ist, des Zweiten nach Achill. 89 Dabei fasst der Chor diesen Heroismus in seiner Bitte um Hilfe insbesondere als Fähigkeit und Bereitschaft, ihn zu beschützen: Aias soll sich ihm gegenüber als der Held zeigen, der er immer gewesen ist. Doch die Fortschreibung des Prologs geht noch weiter. Denn das Motiv, auf dem Athenes Verurteilung basiert hatte - Aias habe ein „hochmütiges Wort“ wider die Götter gesprochen und dadurch seinem Charakter entsprechend gehandelt - findet sich hier wieder (vv. 172-186): ἦ ῥά σε Ταυροπόλα Διὸς Ἄρτεμις - ὦ μεγάλα φάτις, ὦ μᾶτερ αἰσχύνας ἐμᾶς - ὥρμασε πανδάμους ἐπὶ βοῦς ἀγελαίας, 175 ἦ πού τινος νίκας ἀκαρπώτου χάριν, ἦρα κλυτῶν ἐνάρων ψευσϑεῖσ’ ἀδώροις εἴτ’ ἐλαφαβολίαις; ἢ χαλκοϑώραξ σοί τιν’ Ἐνυάλιος μομφὰν ἔχων ξυνοῦ δορὸς ἐννυχίοις 180 μαχαναῖς ἐτείσατο λώβαν; 43 2.2 Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma <?page no="44"?> 90 Vgl. Tyler 1974, 30 Anm. 18. 91 Winnington-Ingram 1980, 22. οὔποτε γὰρ φρενόϑεν γ’ ἐπ’ ἀριστερά, παῖ Τελαμῶνος, ἔβας τόσσον ἐν ποίμναις πίτνων· ἥκοι γὰρ ἂν ϑεία νόσος· ἀλλ’ ἀπερύκοι 185 καὶ Ζεὺς κακὰν καὶ Φοῖβος Ἀργείων φάτιν. Hat Dich Artemis Tauropola, die Tochter des Zeus - o großes Gerücht, o Mutter meiner Scham - [175] auf die Rinderherden gehetzt, das Gemeineigentum der Griechen, vielleicht wegen eines Dankopfers für einen Sieg, das ausgeblieben ist, weil sie entweder um ruhmreiche Waffen betrogen worden ist oder aber kein Geschenk erhalten hat nach einer Hirschjagd? Oder hat Dich Enyalios mit dem bronzenen Brustpanzer, [180] weil er Dir etwas vorzuwerfen hatte aufgrund eines gemeinsamen Kampfeinsatzes, mit nächtlichen Listen für eine Zurücksetzung bestraft? Niemals nämlich hättest Du Dich, wärst Du bei klarem Verstand, derart verrannt, Kind des Telamon, Dich auf die Herden zu stürzen; [185] es könnte Dich also eine göttliche Krankheit befallen haben; aber es sollen abwehren Zeus und Phoibos das schlimme Gerücht der Argiver. Der Chor hält Aias also dessen durchaus für fähig, was ihm Athene vorgeworfen hat, nämlich, die Götter zu beleidigen. 90 Entscheidend ist aber, dass ihn dies nicht interessiert, der er diesen Gedanken nicht einmal zu Ende denkt, sondern seine Überlegungen mit dem „striking para prosdokian“ 91 in den vv. 185 f. abbricht: Zeus und Apollon möchten nicht die Krankheit abwehren, sondern - das Gerücht. Was für den Chor also zählt, ist das positive Potential des Aias als seines heroischen Beschützers, und unter diesem Gesichtspunkt soll er sich gerade als der Alte zeigen, als der, welcher er immer gewesen ist. Aias’ Heroismus wird aus der menschlichen Perspektive des Chors somit zu etwas Positivem, zu etwas, von dem man hoffen muss, dass es nach wie vor vorhanden sei, während die Problematisierung ebendieses Heroismus durch die Göttin Athene in den Hin‐ tergrund tritt. Die Frage „Wird es Aias unter den gegenwärtigen katastrophalen Umständen gelingen, seinen Untergebenen beizustehen? “ lässt sich also auch formulieren als „Wird Aias unter den gegenwärtigen katastrophalen Umständen so heroisch sein, seinen Untergebenen beizustehen? “ und gibt den Zuschauern einen Maßstab an die Hand, die Frage „Wie beurteile ich Aias? “ zu beantworten, mit der sie am Ende des Prologs zurückgelassen worden waren. Durch die mit dem Chor geteilte Hoffnung, dass Aias, sobald er diesem begegnet, sich zu einem derartigen Verhalten bringen lassen möge, werden die Zuschauer engagiert. 44 2 Der Aias <?page no="45"?> 92 Vgl. Hesk 2003, 49; Scodel 2006, 65-67; zur Verbindung von Erechtheus mit der Autochthonie im Allgemeinen siehe Rosivach 1987a, 295 und zur Relevanz für die athenische Identität im fünften Jahrhundert S. 305. 2.2.3 Die Begegnung des Chors mit Tekmessa: auf dem Weg zu einer Antwort II Doch Aias erscheint nicht. Vielmehr tritt eine Frau aus der Hütte, bei der es sich, so erfährt man bald, um Aias’ Sklavin und Konkubine Tekmessa handelt. Ihr Gespräch mit dem Chor schreibt die Frage „Wird Aias unter den gegenwärtigen katastrophalen Umständen so heroisch sein, seinen Untergebenen beizustehen? “ fort und verstärkt so das in der Parodos generierte Engagement - und lässt Athenes Verurteilung ebendieses Heroismus noch weiter in den Hintergrund rücken. Grundlage dieser Entwicklung ist das Wirken von zwei Sympathielenkungs‐ mechanismen: Zum einen desjenigen der ontologischen Nähe, dann aber vor allem ein deutlicher Konvergenzprozess zwischen den Perspektiven des Chors und Tekmessas. Zunächst zur ontologischen Nähe: Oben 2.2.2 ist davon die Rede gewesen, dass die Identität des Chors in der Parodos ein stückweit im Dunkeln geblieben ist. Dies ändert sich hier, mit der Anrede durch Tekmessa (vv. 201 f.): ναὸς ἀρωγοὶ τῆς Αἴαντος, 201 γενεᾶς χϑονίων ἀπ’ Ἐρεχϑειδᾶν [201] Schiffshelfer des Aias, dem erdentsprossenen Erechtheidengeschlecht entstam‐ mend Die Identität der Chormitglieder erscheint hier, wo sie spezifiziert wird, dezidiert athenisch, ja Tekmessa spricht diese, wenn sie sie „Erechtheiden“ nennt, direkt als Athener an; noch verstärkt wird diese große Nähe zu einem zeitgenössi‐ schen Publikum dadurch, dass Tekmessas Rede von der Autochthonie, der Erdentsprossenheit, eine Vorstellung aufruft, die im fünften Jahrhundert für die Athener, ganz ähnlich wie der Sieg über die Perser, identitätskonstituierend war. Dass diese Anrede eine große Nähe zu einem zeitgenössischen athenischen Publikum herstellte, liegt auf der Hand. 92 Wichtiger aber ist das Konvergieren zwischen den beiden Perspektiven. Diese stützt sich zunächst auf die Beseitigung des zentralen Wissensdefizits, das die Perspektive des Chors, wie oben 2.2.2 ausgeführt, in der Parodos geprägt hatte, wo dieser den Bericht von Aias’ Angriff aufs Vieh für eine böswillige Fabrikation des Odysseus gehalten hatte; denn jetzt erkennt er, dass Odysseus Recht hatte (vv. 203-207, 216-226 und 233f.): 45 2.2 Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma <?page no="46"?> . […] ἔχομεν στοναχὰς οἱ κηδόμενοι τοῦ Τελαμῶνος τηλόϑεν οἴκου. νῦν γὰρ ὁ δεινὸς μέγας ὠμοκρατὴς 205 Αἴας ϑολερῷ κεῖται χειμῶνι νοσήσας. […] μανίᾳ γὰρ ἁλοὺς ἡμὶν ὁ κλεινὸς νύκτερος Αἴας ἀπελωβήϑη. τοιαῦτ’ ἂν ἴδοις σκηνῆς ἔνδον χειροδάικτα σφάγι’ αἱμοβαφῆ, κείνου χρηστήρια τἀνδρός. 220 . οἵαν ἐδήλωσας ἀνδρὸς αἴϑονος ἀγγελίαν ἄτλατον οὐδὲ φευκτάν, τῶν μεγάλων Δαναῶν ὕπο κλῃζομέναν, 225 τὰν ὁ μέγας μῦϑος ἀέξει. […] . ὤμοι· κεῖϑεν κεῖϑεν ἄρ’ ἡμῖν 233 δεσμῶτιν ἄγων ἤλυϑε ποίμναν e . Wir haben Grund zur Klage, die wir uns kümmern um das Haus des Telamon, das fernab liegt. [205] Jetzt nämlich liegt der gewaltige, große, mächtige Aias darnieder, nachdem er von einem wirbelnden Sturm mit Krankheit geschlagen worden ist. […] Von Wahnsinn ergriffen, ist uns nämlich der berühmte Aias in der Nacht zuschanden geworden. Von solcher Art sind die Schlachtopfer, die Du in der Hütte sehen könntest, mit eigener Hand hingemetzelt und blutgetränkt, [220] die Opfergaben dieses Mannes. r Was für einen Bericht vom Geschick des glühenden Mannes erstattest Du da, unerträglich und unausweichlich [225] - den, den die großen Danaer verbreiten und den das mächtige Gerücht noch größer macht! […] [233] e . Oh weh mir: Von dort, von dort also ist er zu uns gekommen, als er die Herde gefangen mit sich führte Im eben zitierten Austausch fließen die Informationen aber nicht nur von Tekmessa zum Chor, sondern auch umgekehrt. Denn erst aufgrund der Aussage des Chors ab v. 221 versteht Tekmessa, was in der Nacht außerhalb der Hütte geschehen ist (beachte die explizite Formulierung dieser Erkenntnis durch die Partikel ἄρ’ 233). Die Zuschauer beobachten also, wie beide Akteure, der Chor und Tekmessa, jeweils aus ihren Sphären - Feldlager und Hütte - die ihnen zu‐ 46 2 Der Aias <?page no="47"?> 93 Dies hat schon der Scholiast gesehen (schol. 201,4 Christodulos): ἑκάτερος οὖν παρ’ ἑκατέρου τὸ ἀγνοούμενον μανϑάνει (Jeder der beiden lernt vom anderen, was er nicht weiß). 94 Lloyd-Jones und Wilson (1990a) athetieren nach v. 326 einen Vers. 95 Zum Verhältnis des Aias gegenüber dem Chor und Tekmessa als einem philia-Verhältnis siehe v. 266 mit φίλους ἀνιῶν. 96 Die Zuschauer, denen der Mythos bekannt war, erkannten darin gewiss Aias’ Suizida‐ lität; dass die philoi befürchteten, dass sich ihr Herr umbringe, sagen sie aber nie explizit, gänglichen Informationen beibringen, 93 so eine gemeinsame Wahrnehmung der Situation erreichen und in dieser gemeinsamen, in den hier gewählten Begriffen: konvergierenden Wahrnehmung zu derjenigen der Zuschauer aufschließen. Das Gespräch mit Tekmessa beseitigt dabei auch den zweiten Gesichtspunkt, unter dem die Chorperspektive in der Parodos als defizitär erschienen war: die Tatsache, dass die Vorstellung eines seine Feinde hinwegfegenden Aias durchaus illusorisch ist. Tekmessa macht nämlich, im Rahmen eines langen Berichtes von den Ereignissen der Nacht, deutlich, dass sich Aias in einem besorgniserregenden, ominösen Zustand befindet, nachdem er aus seiner Ver‐ blendung zu sich gekommen ist (vv. 323-332 94 ): . […] νῦν δ’ ἐν τοιᾷδε κείμενος κακῇ τύχῃ ἄσιτος ἁνήρ, ἄποτος, ἐν μέσοις βοτοῖς σιδηροκμῆσιν ἥσυχος ϑακεῖ πεσών, 325 καὶ δἠλός ἐστιν ὥς τι δρασείων κακόν. ἀλλ’, ὦ φίλοι, τούτων γὰρ οὕνεκ’ ἐστάλην, ἀρήξατ’ εἰσελϑόντες, εἰ δύνασϑέ τι. φίλων γὰρ οἱ τοιοίδε νικῶνται λόγοις. 330 . Τέκμησσα, δεινοῖς, παῖ Τελεύταντος, λέγεις ἡμῖν τὸν ἄνδρα διαπεφοιβάσϑαι κακοῖς. e . […] Jetzt aber liegt der Mann da in solch schlimmem Geschick, ohne zu essen und zu trinken, [325] hingefallen inmitten der Tiere, die er mit dem Schwert hingeschlachtet hat, und es ist deutlich, dass er im Begriff ist, etwas Schlimmes zu tun. Aber, o Freunde, deswegen bin ich nämlich gekommen, geht hinein und helft, wenn Ihr irgendwie könnt. [330] Solche Leute lassen sich nämlich durch die Reden von Freunden überzeugen. r Tekmessa, Kind des Teleutas, Du berichtest, wie von schrecklichen Übeln der Mann heimgesucht ist. Damit verändert sich die Situation von Aias’ philoi, des Chors und Tekmessas, 95 grundsätzlich: Aias’ gegenwärtiger Zustand gefährdet auch diese, wie Tek‐ messas Aussage, er scheine im Begriff, „etwas Schlimmes zu tun“, 96 sowie die 47 2.2 Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma <?page no="48"?> bevor dieser auftritt, deswegen soll hier weiterhin Tekmessas Formulierung verwendet werden. 97 Beachte z. B. ἔχομεν στοναχὰς 203 oder den Dativus ethicus ἡμὶν 216 in μανίᾳ γὰρ ἁλοὺς ἡμὶν ὁ κλεινὸς / νύκτερος Αἴας ἀπελωβήϑη 216 f. bestürzte Reaktion des Chores in den vv. 331 f. zeigen. Entsprechend geht es nun nicht mehr darum, dass Aias die Griechen in die Schranken weise, vielmehr muss verhindert werden, dass er „etwas Schlimmes“ tue - ein gemeinsames Ziel, in dem Tekmessa das bisherige Gespräch am Ende ihres Berichts explizit aufhebt, wenn sie den Chor in den vv. 327-329 anweist, seinem Herrn zuzureden. In diesem nunmehr im Vordergrund stehenden Ziel konvergieren die Perspektiven der beteiligten Akteure, und tatsächlich nimmt der Chor diese Aufgabe wenig später, nachdem Aias’ Klagerufe aus der Hütte hörbar geworden sind, in Angriff. In dieser Entwicklung wird dabei die Frage „Wie beurteile ich Aias? “ erneut fortgeschrieben: Diese Frage bezieht sich nun nicht mehr auf Aias’ Bereitschaft und Fähigkeit zur Unterstützung gegen gemeinsame Feinde, sondern lautet „Wird Aias sich davon abhalten lassen, ‚etwas Schlimmes‘ zu tun und so seine philoi zu gefährden? “. Dabei wird diese Frage im ersten Epeisodion, in noch deutlicherer Fortschrei‐ bung der Parodos und somit auch des Prologs, erneut unter dem Gesichtspunkt von Aias’ Heroismus formuliert, also als „Wird Aias so heroisch sein, ‚nichts Schlimmes‘ zu tun und so seine philoi nicht zu gefährden? “. Das Motiv des Heroismus zeigt sich zum einen in den oben bereits zitierten vv. 203-207 und 216 f. Denn dort zeichnet Tekmessa ein Bild des Aias, den sie kannte, in heroischen Begriffen: Dieser war „gewaltig“, „groß“, „mächtig“ und „berühmt“ (δεινὸς μέγας ὠμοκρατὴς 205 und κλεινὸς 216), doch dieser Heroismus ist jetzt, wo er „darniederliegt“ (κεῖται 207) in eine Krise geraten, wobei von dieser Krise auch seine philoi betroffen sind, wie deren bestürzte Aussagen zeigen. 97 Dies wird noch deutlicher in der Passage, in der Tekmessa Aias’ Reaktion beschreibt, nachdem er zu sich gekommen war (vv. 317-322): ὁ δ’ εὐϑὺς ἐξῴμωξεν οἰμωγὰς λυγράς, ἃς οὔποτ’ αὐτοῦ πρόσϑεν εἰσήκουσ’ ἐγώ. πρὸς γὰρ κακοῦ τε καὶ βαρυψύχου γόους τοιούσδ’ ἀεί ποτ’ ἀνδρὸς ἐξηγεῖτ’ ἔχειν· 320 ἀλλ’ ἀψόφητος ὀξέων κωκυμάτων ὑπεστέναζε ταῦρος ὣς βρυχώμενος. Der aber brach plötzlich in schrilles Jammern aus, wie ich es davor nie von ihm gehört hatte. Er hatte nämlich immer gesagt, dass solche Klagen [320] Kennzeichen eines 48 2 Der Aias <?page no="49"?> schlechten und feigen Mannes seien; stattdessen hatte er immer, ohne den Klang durchdringender Klagen, mit tiefer Stimme gebrüllt wie ein Stier. Diese Beschreibung, wie Aias, der einstmals jeweils „brüllte wie ein Stier“, in der Weise eines „schlechten und feigen Mannes“ klagte, für die er früher nur Verachtung übrighatte, führt direkt zur Schilderung seines ominösen, bedrohlichen Zustandes in den oben zitierten vv. 323-326. Auf diese Weise wird deutlich, dass ein Aias, von dem zu befürchten ist, dass er „etwas Schlimmes“ tue, nicht mehr der „große“, „berühmte“, stiergleiche Aias ist, als den Tekmessa ihn kannte. Die Verpflichtung, seine philoi nicht im Stich zu lassen, indem er „etwas Schlimmes“ täte, sondern sich als der Alte zu zeigen, erscheint so umgekehrt als Prüfstein seiner hergebrachten heroischen Statur. Durch die mit Aias’ philoi geteilte Hoffnung, ihr Herr möge dem hier gemeinsam etablierten Maßstab genügen, genauer: sich im jetzt unmittelbar bevorstehenden Gespräch mit dem Chor dazu bringen lassen, diesem zu genügen, verstärkt sich das Engagement der Zuschauer. 2.2.4 Der Auftritt des Aias: vom Engagement zum Dilemma Diese Hoffnung indes zerschlägt sich eklatant, sobald Aias auf der Bühne erscheint (vv. 348-368): Α . ἰὼ φίλοι ναυβάται, μόνοι ἐμῶν φίλων μόνοι ἔτ’ ἐμμένοντες ὀρϑῷ νόμῳ, 350 ἴδεσϑέ μ’ οἷον ἄρτι κῦμα φοινίας ὑπὸ ζάλης ἀμφίδρομον κυκλεῖται. . οἴμ’ ὡς ἔοικας [sc. ὦ Τέκμησσα] ὀρϑὰ μαρτυρεῖν ἄγαν, δηλοῖ δὲ τοὔργον ὡς ἀφροντίστως ἔχει. 355 Α . ἰὼ γένος ναίας ἀρωγὸν τέχνας, ἅλιον ὃς ἐπέβας ἑλίσσων πλάταν, σέ τοι σέ τοι μόνον δέδορκα ποιμένων ἐπαρκέσοντ’. 360 ἀλλά με συνδάιξον. . εὔφημα φώνει· μὴ κακὸν κακῷ διδοὺς ἄκος πλέον τὸ πῆμα τῆς ἄτης τίϑει. Α . ὁρᾷς τὸν ϑρασύν, τὸν εὐκάρδιον, τὸν ἐν δαίοις ἄτρεστον μάχας, 365 49 2.2 Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma <?page no="50"?> 98 Vgl. Blundell 1989, 72. ἐν ἀφόβοις με ϑηρσὶ δεινὸν χέρας; οἴμοι γέλωτος· οἷον ὑβρίσϑην ἄρα. . μή, δέσποτ’ Αἴας, λίσσομαί σ’, αὔδα τάδε. Ai. Io, liebe Seeleute, die Ihr als Einzige von meinen Freunden, [350] als Einzige Euch noch an die richtige Sitte haltet, schaut, was für eine Welle sich, begleitet von einem blutigen Sturm, jetzt sich rings um mich her wälzt. r Oh weh, Du [sc. Tekmessa] scheinst mir allzu Wahres gesagt zu haben, [355] und die Tatsachen zeigen, dass er wahnsinnig ist! Ai. Io, Geschlecht, vertraut mit der Seemannskunst, welches, das Ruder führend, das Meerschiff bestieg, in Dir, in Dir allein sehe [360] ich Hilfe gegen Übel. Komm, töte mich! r Sag so etwas nicht! Heile Übel nicht mit Übel und mache die Medizin nicht schlimmer als die Krankheit! Ai. Siehst Du, wie ich, der Kühne, der Beherzte, der vor keinem Feind zurückschreckt in der Schlacht, [350] meine gewaltige Stärke gezeigt habe als Bezwinger von Tieren, die keinem Angst machen konnten? Oh weh, das Gelächter! Was für eine Demütigung habe ich erlitten! e . Aias, Herr, ich flehe Dich an, sag das nicht! Aias ist entschlossen, das wohl ‚Schlimmste‘ zu tun, was möglich ist: sich umzubringen, und statt dass er sich um seine philoi kümmerte, bedeutet philia für ihn, dass die Mitglieder des Chors ihm dabei helfen (beachte φίλοι und φίλων 349), 98 was diese - und Tekmessa - aber schockiert ablehnen und von dem sie ihn mittels Schweigegeboten abzubringen versuchen. Auf den ersten Blick bleibt hier also das Engagement bestehen, wie es davor kreiert worden war: Aias’ philoi kämpfen zusammen gegen die Absicht ihres Herrn, und die Zuschauer unterstützen diesen Kampf. 2.2.4.1 Das Danebentreten von Aias’ Perspektive Tatsächlich aber hat Sophokles den zweiten Teil des ersten Epeisodions kom‐ plexer gestaltet, indem er das davor generierte Engagement systematisch in eine ‚Involvierung durch Spannung‘ überführt, Aias’ Perspektive dilemmatisch neben die davor von seinen philoi erarbeitete treten lässt und so insgesamt ein Bild des Aias entwirft, das von der Ambiguität dieser Figur gekennzeichnet ist. Dieses Danebentreten setzt Sophokles durch vier Sympathielenkungsme‐ chanismen ins Werk. Deren erster ist ein ausgeprägter emotionaler ‚Sog‘. Denn wenn Aias sichtbar wird, inmitten der hingeschlachteten Tiere wohl auf dem Ekkyklema sitzend, ist dies ohne Frage ein drastisches, pathetisches Bild; wenn er darauf zu einer ausgedehnten lyrischen Klage ansetzt, in der er sein Schicksal bejammert, so geht von seiner Perspektive ein unbestreitbarer emotionaler 50 2 Der Aias <?page no="51"?> 99 Vgl. Heath 1987, 178. 100 Lloyd-Jones und Wilson (1990a) athetieren nach v. 432 einen Vers. ‚Sog‘ aus, 99 rückt sein Leiden in den Fokus, so dass sein Suizidwunsch nachvoll‐ ziehbarer wird: Er ist in einer furchtbaren Situation, geprägt von äußerster Demütigung und Ausweglosigkeit. Der zweite Sympathielenkungsmechanismus ist das Wirken eines intellektu‐ ellen ‚Sogs‘ (vv. 412-417, 432-440, 445-452, 457 f., 466-476 und 479 f. 100 ): ἰὼ πόροι ἁλίρροϑοι πάραλά τ’ ἄντρα καὶ νέμος ἐπάκτιον, πολὺν πολύν με δαρόν τε δὴ κατείχετ’ ἀμφὶ Τροίαν χρόνον· 415 ἀλλ’ οὐκέτι μ’, οὐκέτ’ ἀμπνοὰς ἔχοντα· τοῦτό τις φρονῶν ἴστω. […] νῦν γὰρ πάρεστι καὶ δὶς αἰάζειν ἐμοί, ὅτου πατὴρ μὲν τῆσδ’ ἀπ’ Ἰδαίας χϑονὸς τὰ πρῶτα καλλιστεῖ’ ἀριστεύσας στρατοῦ 435 πρὸς οἶκον ἦλϑε πᾶσαν εὔκλειαν φέρων· ἐγὼ δ’ ὁ κείνου παῖς, τὸν αὐτὸν ἐς τόπον Τροίας ἐπελϑὼν οὐκ ἐλάσσονι σϑένει, οὐδ’ ἔργα μείω χειρὸς ἀρκέσας ἐμῆς, ἄτιμος Ἀργείοισιν ὧδ’ ἀπόλλυμαι. 440 […] νῦν δ’ αὔτ’ Ἀτρεῖδαι φωτὶ παντουργῷ [sc. τῷ Ὀδυσσεῖ] φρένας 445 ἔπραξαν, ἀνδρὸς τοῦδ’ ἀπώσαντες κράτη. κεἰ μὴ τόδ’ ὄμμα καὶ φρένες διάστροφοι γνώμης ἀπῇξαν τῆς ἐμῆς, οὐκ ἄν ποτε δίκην κατ’ ἄλλου φωτὸς ὧδ’ ἐψήφισαν. νῦν δ’ ἡ Διὸς γοργῶπις ἀδάματος ϑεὰ 450 ἤδη μ’ ἐπ’ αὐτοῖς χεῖρ’ ἐπευϑύνοντ’ ἐμὴν ἔσφηλεν ἐμβαλοῦσα λυσσώδη νόσον […] καὶ νῦν τί χρὴ δρᾶν; ὅστις ἐμφανῶς ϑεοῖς 457 ἐχϑαίρομαι […] ἀλλὰ δῆτ’ ἰὼν πρὸς ἔρυμα Τρώων, ξυμπεσὼν μόνος μόνοις καὶ δρῶν τι χρηστόν, εἶτα λοίσϑιον ϑάνω; ἀλλ’ ὧδέ γ’ Ἀτρείδας ἂν εὐφράναιμί που. 51 2.2 Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma <?page no="52"?> οὐκ ἔστι ταῦτα. πεῖρά τις ζητητέα 470 τοιάδ’ ἀφ’ ἧς γέροντι δηλώσω πατρὶ μή τοι φύσιν γ’ ἄσπλαγχνος ἐκ κείνου γεγώς. αἰσχρὸν γὰρ ἄνδρα τοῦ μακροῦ χρῄζειν βίου, κακοῖσιν ὅστις μηδὲν ἐξαλλάσσεται. τί γὰρ παρ’ ἦμαρ ἡμέρα τέρπειν ἔχει 475 προσϑεῖσα κἀναϑεῖσα πλὴν τοῦ κατϑανεῖν; […] ἀλλ’ ἢ καλῶς ζῆν ἢ καλῶς τεϑνηκέναι τὸν εὐγενῆ χρή. πάντ’ ἀκήκοας λόγον. 480 Io, Strömungen des Meeres, Höhlen am Meeresufer, Hain am Strand, lange, lange Zeit habt Ihr mich schon [415] vor Troia festgehalten! Doch nicht mehr, nicht mehr werdet Ihr mich lebendig atmen sehen: Wer verständig ist, mag das einsehen! […] Auch zweimal darf ich jetzt nämlich „ai ai“ rufen, ich, dessen Vater den ersten Preis für seinen Mut im Heer gewann [435] und aus dem Land an der Ida hier nach Hause brachte, nachdem er sich jeden erdenklichen Ruhm verschafft hatte; ich aber, das Kind von diesem, bin in dasselbe Land um Troia gekommen mit nicht geringerer Kraft und habe mit meiner Hand keine unbedeutenderen Taten vollbracht, [440] aber liege darnieder, von den Atriden entehrt. […] [445] Jetzt aber haben die Atriden dem durchtriebenen Kerl [sc. dem Odysseus] willfahren und die mächtigen Taten dieses Mannes zurückgestoßen. Und wären mir Auge und Sinne nie von meiner Absicht abgewichen, würden sie nie mehr über einen anderen ein derartiges Urteil verkünden. [450] Jetzt aber hat die Tochter des Zeus, die schrecklich blickende und unbezähmte Göttin, mich, als ich schon die Hände gegen jene erhob, zu Fall gebracht, indem sie mich mit der Krankheit des Wahnsinns schlug […] [457] Und was soll ich jetzt tun? Ich, der ich den Göttern offensichtlich verhasst bin […] Oder soll ich zum Wall der Troer gehen, einen Einzelkampf austragen, etwas Nützliches tun und so am Ende sterben? Aber auf diese Weise würde ich die Atriden erfreuen. [470] Das geht nicht an. Ich muss vielmehr eine Bewährungsprobe finden, mit der ich dem alten Vater zeigen könnte, dass ich, sein Sohn, keinen feigen Charakter besitze. Schändlich nämlich ist es, wenn ein Mann nach langem Leben strebt, der stets in Übel verstrickt ist. [475] Wie nämlich könnte dies ein Grund zur Freude sein, wenn ein Tag auf den anderen uns dem Tod bald näherbringt, bald ferner von ihm abrückt? […] Vielmehr muss entweder schön leben oder schön sterben, [480] wer ein edler Mann ist. Damit hast Du alles gehört. Dieser intellektuelle ‚Sog‘ basiert darauf, dass Aias explizit und implizit den Anspruch erhebt, ein Suizid sei in seiner Situation der einzige vernünftige Ausweg. Diesen Anspruch formuliert er zunächst ausdrücklich (beachte τοῦτό τις φρονῶν ἴστω 417), bevor er sich dann gegenüber den Mitgliedern des 52 2 Der Aias <?page no="53"?> 101 Dass er sich an diesen richtet, während Tekmessa ihn weit weniger interessiert, ergibt sich aus dem groben Schweigegebot gegenüber dieser in v. 369 (οὐκ ἐκτός; οὐκ ἄψορρον ἐκνεμῇ πόδα; [Gehst Du nicht weg? Willst Du nicht von hier verschwinden? ]). 102 Finglass (2011, ad vv. 545-582) sieht in Aias’ Rede ein Soliloquium, doch dazu gibt es angesichts von πάντ’ ἀκήκοας λόγον 480 keinen Grund. 103 Vgl. zum Folgenden Gill 1996, 206-208 104 Vgl. Gill 1996, 207: „The gesture of dying in an isolated assault on Troy (and thus doing something ‚worthwhile‘, chreston, in the process) is rejected on the ground that Chors 101 offensichtlich darum bemüht, seinen Standpunkt nachvollziehbar zu machen, diesen Einblick in sein Räsonnement zu geben: 102 Er wechselt in ‚diskursive‘ jambische Trimeter und legt seine Motive dar. Besonders deutlich ist das Bemühen um Nachvollziehbarkeit, wenn er gegen das Ende seiner Rede in der Form einer Priamel (oben sind mit den vv. 457 f. und 466-470 Anfang und Ende zitiert) verschiedene Handlungsmöglichkeiten durchgeht, diese aber verwirft und zum Schluss kommt, dass er sterben müsse. Indem Aias hier seinen drameninternen Zuhörern einen Einblick gibt in seine Motivation, erhalten auch die Zuschauer einen solchen, können Aias’ Reaktion auf die Situation besser nachvollziehen. Der dritte Sympathielenkungsmechanismus ist derjenige der ‚Werte‘. Nimmt man Aias’ Räsonnement nämlich nicht nur formal, das heißt, wie eben getan, unter dem Gesichtspunkt seines argumentierenden Charakters, sondern inhalt‐ lich in Augenschein, so zeigt sich, dass die ‚Vernünftigkeit‘ seines Vorgehens für ihn daraus erwächst, dass dieses auf einem bestimmten Fundament ruht: demjenigen der heroischen Ethik, des heroischen Codes. 103 Denn er hat „mit nicht geringerer Kraft keine unbedeutenderen Taten“ vollbracht als sein Vater, doch während dieser „den ersten Preis für seinen Mut im Heer“ erhielt und Ruhm gewann, bevor er nach Hause kam, liegt Aias „entehrt darnieder“ (vv. 434-440). Aias unterstellt den Atriden also, dass diese die ihm zustehende Anerkennung verweigert, seine „mächtigen Taten“ schnöde „zurückgestoßen“ hätten (vv. 445 f.), mithin wirft er ihnen einen Verstoß gegen den Grundsatz der Reziprozität vor und somit, auch wenn das Wort nicht fällt, einen Bruch der philia: Er hatte seine ganze Kraft in deren Dienst gestellt, doch dafür keine Anerkennung erhalten. Diesen Verstoß gegen die philia hat er nun durch seinen nächtlichen Angriff zu ‚korrigieren‘ versucht, doch dabei ist er durch die Intervention der Athene gescheitert, und entsprechend bleibt ihm nun kein anderer Ausweg als der Suizid. Besonders deutlich wird die Auffassung des Aias von einem Verstoß gegen den Grundsatz der Reziprozität in der Priamel am Ende der Rede, wo er erwägt, im Rahmen einer Aristie zu sterben, dies aber verwirft, da er so die Atriden „erfreute“ (vv. 466-470), das heißt, er würde seine Kraft erneut in deren Dienst stellen, kann dafür aber keine Anerkennung erwarten. 104 Entsprechend 53 2.2 Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma <?page no="54"?> it would ‚give pleasure to the Atridae‘ (469) - that is, it would presuppose a framework of reciprocal risk-taking that is no longer intact.“ fügt es sich ins Bild, dass in der ‚peroratio‘ (vv. 473-480) das Vokabular der heroischen Ethik in besonderer Dichte auftritt: Aias kann nicht „schön leben“, also muss er, als „edler Mann“, „schön sterben“, da alles andere „schändlich“ wäre. Aias’ Rede ist also in einer Weise gestaltet, dass sein Vorgehen im Lichte heroischer Ethik durchaus Konsistenz gewinnt. Denn sein Suizid lässt sich dann als symbolischer Akt auffassen, mit dem er seinen heroischen Status gegenüber den Atriden, aber auch gegenüber seinem Vater Telamon (vgl. vv. 470-472) final affirmiert, mithin als ein Akt des Widerstandes gegen den Bruch der philia, mit dem ihm die Atriden den Status eines gleichwertigen Akteurs innerhalb des Rahmens heroischer Reziprozität verweigert haben. Wichtig für das Danebentreten von Aias’ Perspektive ist zuletzt auch ein vierter, intersubjektiver Sympathielenkungsmechanismus: derjenige des Konvergierens. Ein Konvergieren lässt sich nämlich feststellen zwischen der Perspektive des Aias und derjenigen des Chors, der seine Einlassungen mit Kommentaren begleitet (vv. 362, 386, 428 f. und 481-484): εὔφημα φώνει. […] 362 μηδὲν μέγ’ εἴπῃς […] 386 οὔτοι σ’ ἀπείργειν οὐδ’ ὅπως ἐῶ λέγειν 428 ἔχω, κακοῖς τοιοῖσδε συμπεπτωκότα. […] οὐδεὶς ἐρεῖ ποϑ’ ὡς ὑπόβλητον λόγον, 481 Αἴας, ἔλεξας, ἀλλὰ τῆς σαυτοῦ φρενός. παῦσαί γε μέντοι, καὶ δὸς ἀνδράσιν φίλοις γνώμης κρατῆσαι τάσδε φροντίδας μεϑείς. [362] Sag so etwas nicht! […] [386] Sprich kein großes Wort […] [428] Weder vermag ich es Dir zu verbieten, noch vermag ich es, Dich einfach reden zu lassen, der Du von solchen Übeln heimgesucht bist. […] [481] Niemand kann sagen, dass Du ein untergeschobenes Wort, Aias, gesprochen habest: Was Du gesagt hast, ist ein Ausdruck Deines Denkens. Hör trotzdem auf, und gewähre es wohlgesonnenen Männern, Dich zu überzeugen, indem Du diese Gedanken fahren lässt. Hierin zeigt sich eine klare Entwicklung: Versucht der Chor zunächst noch, den suizidalen Aias zum Schweigen zu bringen, so bekennt er am Ende von dessen lyrischer Klage seine Ratlosigkeit, um seinem Herrn nach dessen jambischem Räsonnement ab v. 481 schließlich zu konzedieren, dass es sich bei diesem um den authentischen Ausdruck seines Denkens handele. Der Chor wünscht 54 2 Der Aias <?page no="55"?> 105 Diese Formulierung dessen, was ein Fokalisator leistet, verdankt sich Finglass (2011, ad vv. 1118 f.). sich zwar nach wie vor, Aias möge von seinem Vorhaben ablassen (vv. 483 f.), kann sich diesem aber immer schlechter entziehen, nähert seine Perspektive also derjenigen seines Herrn an. Dabei ratifiziert er insbesondere den Vernünftigkeitsanspruch des Aias: Es ist seine wahre φρήν, sein wahres „Denken“, das aus ihm spricht, wenn er darlegt, warum er als Held sterben müsse. Auf diese Weise fungiert der Chor als Fokalisator, „spiegelt und lenkt“ 105 die Reaktion eines Publikums, welches das Danebentreten von Aias’ Perspektive entlang den hier ausgeführten Linien beobachtet. Nun bedeutet ‚Danebentreten‘ aber natürlich auch, dass Aias’ Perspektive nicht als einzige ein Identifikationspotential bietet, und tatsächlich bleibt auch der vor Aias’ Auftreten etablierte Maßstab präsent. Trägerin dieses Maßstabes ist hauptsächlich Tekmessa, da es innerhalb der Chorperspektive zur eben beschriebenen Entwicklung kommt. Sie argumentiert, dass Aias’ Suizid nicht nur unvernünftig wäre, sondern auch unheroisch (vv. 371, 410 f., 496-499, 505- 507, 510-513 und 520-524): ὦ πρὸς ϑεῶν ὕπεικε καὶ φρόνησον εὖ. 371 […] ὦ δυστάλαινα, τοιάδ’ ἄνδρα χρήσιμον 410 φωνεῖν, ἃ πρόσϑεν οὗτος οὐκ ἔτλη ποτ’ ἄν. […] ᾗ γὰρ ϑάνῃς σὺ καὶ τελευτήσας ἀφῇς, 496 ταύτῃ νόμιζε κἀμὲ τῇ τόϑ’ ἡμέρᾳ βίᾳ ξυναρπασϑεῖσαν Ἀργείων ὕπο ξὺν παιδὶ τῷ σῷ δουλίαν ἕξειν τροφήν. […] σοὶ δ’ αἰσχρὰ τἄπη ταῦτα [sc. der Spott der Feinde über die Versklavung von Kind und Konkubine des Aias, des einstmals „Stärksten“ der Griechen] καὶ τῷ σῷ γένει. ἀλλ’ αἴδεσαι μὲν πατέρα τὸν σὸν ἐν λυγρῷ 506 γήρᾳ προλείπων, αἴδεσαι δὲ μητέρα […] οἴκτιρε δ’, ὦναξ, παῖδα τὸν σόν, εἰ νέας 510 τροφῆς στερηϑεὶς σοῦ διοίσεται μόνος ὑπ’ ὀρφανιστῶν μὴ φίλων, ὅσον κακὸν κείνῳ τε κἀμοὶ τοῦϑ’, ὅταν ϑάνῃς, νεμεῖς. […] 55 2.2 Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma <?page no="56"?> 106 χρήσιμος kommt bei Sophokles sonst nur noch einmal vor (OT 878), das häufige χρηστός erscheint aber bei Sophokles öfter im Zusammenhang mit dem Verhalten eines (homerischen) Kriegers und wird insbesondere von Aias selbst für die von ihm abgelehnte Aristie verwendet (Ai. 468); vgl. auch Altmeyer 2001, 33 zur heroischen Aufladung dieser Verse. 107 Vgl. Di Benedetto 1988, 38f. 108 Vgl. zur Responsion in Tekmessas Rede z. B. Kirkwood 1958, 105 f.; Hesk 2003, 63-67. aidos wird üblicherweise mit „Scham“ übersetzt, doch dies wird der griechischen ἀλλ’ ἴσχε κἀμοῦ μνῆστιν· ἀνδρί τοι χρεὼν 520 μνήμην προσεῖναι, τερπνὸν εἴ τί που πάϑοι. χάρις χάριν γάρ ἐστιν ἡ τίκτουσ’ ἀεί· ὅτου δ’ ἀπορρεῖ μνῆστις εὖ πεπονϑότος, οὐκ ἂν γένοιτ’ ἔϑ’ οὗτος εὐγενὴς ἀνήρ. [371] O bei den Göttern, weiche und komme zur Vernunft! […] [410] O ich Unglück‐ liche, dass ein tauglicher Mann solche Dinge sagt, die ihm früher unerträglich gewesen wären! […] [496] Ab dem Tag nämlich, an dem Du stirbst und mich zurücklässt - sei versichert, dass ab dem Tag auch ich, gewaltsam von den Argivern geraubt, zusammen mit Deinem Kind ein Sklavendasein fristen werde! […] [505] Für Dich aber sind diese Worte [sc. der Spott der Feinde über die Versklavung von Kind und Konkubine des Aias, des einstmals „Stärksten“ der Griechen] schändlich und für Dein Geschlecht. Aber achte Deinen Vater, den Du im elenden Alter zurücklässt, achte Deine Mutter […] [510] Erbarme Dich, o Herr, Deines Sohnes, wenn dieser, der elterlichen Versorgung beraubt, getrennt von Dir, sein Leben fristen wird unter grausamen Waisenpflegern - was für einem Übel wirst Du diesen und mich damit aussetzen, wenn Du stirbst! […] [520] Aber denke auch an mich: Ein Mann muss sich erinnern, wenn er etwas Erfreuliches erlebt hat. Gunst bringt nämlich stets neue Gunst hervor; wer aber die Erinnerung an eine erwiesene Wohltat verblassen lässt, der könnte nicht mehr ein edler Mann werden. Neben ihrem Aufruf, zu weichen und zur Vernunft zu kommen (v. 371), legt Tekmessa den Schwerpunkt auf den Heroismus, dem Aias nun, so denkt sie, nicht mehr genügt: Sie kennt ihn als „tauglichen“ Mann, doch jetzt sagt der klagende Aias Dinge, die diesem Bild nicht entsprechen 106 - ein klarer Verweis auf ihre Schilderung in den oben 2.2.3 besprochenen vv. 317-322, wo er plötzlich in ungewohnter und hinter seinen eigenen früheren Ansprüchen zurückbleibender Weise klagte. 107 Besonders deutlich vertritt Tekmessa ihren Standpunkt in der langen Rhesis, mit der sie auf Aias’ Rede antwortet, in der dieser dargelegt hatte, warum er als Held sterben müsse. Tekmessa nimmt nämlich die Motive, auf die er sich dabei abgestützt hatte - aidos, 108 ‚Freude‘ und 56 2 Der Aias <?page no="57"?> Bedeutung nicht vollständig gerecht: aidos bezeichnet das Bestreben, gesellschaftlich sanktionierten, allgemein anerkannten Werten Genüge zu tun, und die ‚Scham‘, mit der man reagiert, wenn dies nicht gelingt (vgl. auch Anm. 401 unten). 109 Die Reziprozität, der Tekmessa hier das Wort redet, ist im Polyptoton χάρις χάριν 522 besonders effektvoll sprachlich ausgedrückt (vgl. Gygli-Wyss 1966, 86 mit Anm. 2); zur Rolle von geteilter Freude und geteiltem Leid in philia-Beziehungen siehe Arist. Rhet. 1381a1-13. die „edle Natur“ (eugeneia) -, auf und stellt Aias’ Räsonnement so ihren eigenen Standpunkt entgegen (beachte αἰσχρὰ 505 sowie αἴδεσαι 506 und 507 neben αἰσχρὸν 473; τερπνὸν 571 neben τέρπειν 475; εὐγενὴς 524 neben τὸν εὐγενῆ 480). Denn Aias hatte dargelegt, dass es „schändlich“ wäre, wollte er weiterleben; Tekmessa setzt ihm nun auseinander, dass ihn der Wert der aidos gegenüber seinen philoi - seinem Sohn, seinen Eltern, aber auch ihr selbst - verpflichte, so dass es im Gegenteil „schändlich“ - und ein gefundenes Fressen für seine Feinde (v. 505) - wäre, ließe er diese im Stich. Ferner hatte Aias argumentiert, dass er keine Freude mehr am Leben habe, doch dagegen stellt Tekmessa die Erinnerung an die Freuden heraus, die sie ihm gewährt hatte und die ihn ihr gegenüber verpflichteten. Während Aias also gegenüber den Atriden, die er keinesfalls „erfreuen“ will (v. 469 mit εὐφράναιμί), die Reziprozität von Freude und Leid als Basis sozialer Beziehungen, als Basis von philia, zerstört sieht, konzentriert sich Tekmessa auf eine Ebene, auf der er diese selbst zerstörte, nämlich gegenüber seinen philoi, 109 was ihn dann, statt diesen zu bestätigen, seinen Charakter als „edlen Mann“ verlieren ließe. Auf diese Weise kontrastiert Sophokles den Standpunkt der Tekmessa dilemmatisch mit demjenigen des Aias, überführt das Engagement in eine Spannung. Diese Balance bleibt auch im Rest des ersten Epeisodions gewahrt, in dessen Mittelpunkt erneut eine lange Rede des Aias steht, die er an seinen Sohn Eurysakes richtet, den er sich hat bringen lassen (vv. 545-551, 556-570 und 578-585): A . αἶρ’ αὐτόν, αἶρε δεῦρο· ταρβήσει γὰρ οὔ, 545 νεοσφαγῆ τοῦτόν γε προσλεύσσων φόνον, εἴπερ δικαίως ἔστ’ ἐμὸς τὰ πατρόϑεν. ἀλλ’ αὐτίκ’ ὠμοῖς αὐτὸν ἐν νόμοις πατρὸς δεῖ πωλοδαμνεῖν κἀξομοιοῦσϑαι φύσιν. ὦ παῖ, γένοιο πατρὸς εὐτυχέστερος, 550 τὰ δ’ ἄλλ’ ὁμοῖος· καὶ γένοι’ ἂν οὐ κακός. […] ὅταν δ’ ἵκῃ πρὸς τοῦτο [sc. ans Ende der sorgenfreien Kindheit], δεῖ σ’ ὅπως πατρὸς 57 2.2 Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma <?page no="58"?> δείξεις ἐν ἐχϑροῖς οἷος ἐξ οἵου ’τράφης. τέως δὲ κούφοις πνεύμασιν βόσκου, νέαν ψυχὴν ἀτάλλων, μητρὶ τῇδε χαρμονήν. οὔτοι σ’ Ἀχαιῶν, οἶδα, μή τις ὑβρίσῃ 560 στυγναῖσι λώβαις, οὐδὲ χωρὶς ὄντ’ ἐμοῦ. τοῖον πυλωρὸν φύλακα Τεῦκρον ἀμφί σοι λείψω τροφῆς ἄοκνον ἔμπα, κεἰ τανῦν τηλωπὸς οἰχνεῖ, δυσμενῶν ϑήραν ἔχων. ἀλλ’, ἄνδρες ἀσπιστῆρες, ἐνάλιος λεώς, 565 ὑμῖν τε κοινὴν τήνδ’ ἐπισκήπτω χάριν, κείνῳ τ’ ἐμὴν ἀγγείλατ’ ἐντολήν, ὅπως τὸν παῖδα τόνδε πρὸς δόμους ἐμοὺς ἄγων Τελαμῶνι δείξει μητρί τ’, Ἐριβοίᾳ λέγω, ὥς σφιν γένηται γηροβοσκὸς εἰσαεί 570 […] ἀλλ’ ὡς τάχος τὸν παῖδα τόνδ’ ἤδη δέχου [sc. Τέκμησσα] καὶ δῶμα πάκτου, μηδ’ ἐπισκήνους γόους δάκρυε. κάρτα τοι φιλοίκτιστον γυνή. 580 πύκαζε ϑᾶσσον. οὐ πρὸς ἰατροῦ σοφοῦ ϑρηνεῖν ἐπῳδὰς πρὸς τομῶντι πήματι. . δέδοικ’ ἀκούων τήνδε τὴν προϑυμίαν. οὐ γάρ μ’ ἀρέσκει γλῶσσά σου τεϑηγμένη. . ὦ δέσποτ’ Αἴας, τί ποτε δρασείεις φρενί; 585 [545] Ai. Heb ihn hoch, heb ihn hierher! Er wird nämlich nicht schaudern, wenn er sieht, was hier eben mörderisch hingeschlachtet worden ist, wenn er denn wirklich mein Sohn ist. Vielmehr muss er sogleich entsprechend der rohen Natur des Vaters abgerichtet und diesem in seinem Wesen angeglichen werden. [550] O Kind, werde glücklicher als Dein Vater, im Rest aber gleich, so würdest Du kein schlechter Mann. […] Wenn Du aber dorthin gekommen bist [sc. ans Ende der sorgenfreien Kindheit], dann musst Du unter den Feinden zeigen, was für eines Vaters Kind Du bist. Bis dann aber weide Dich an milder Luft und freue Dich am jungen Leben, der Mutter hier zur Freude. [560] Keiner der Achaier, dies weiß ich, wird Dir übel mitspielen durch schrecklichen Hohn, auch nicht dann, wenn Du ohne mich bist. Von solcher Art ist der Wärter, den ich für Dich dalassen werde, nämlich Teuker, unbeugsam in seiner Unterstützung, auch wenn er jetzt abwesend ist, da er Jagd auf Feinde macht. [565] Euch aber, schildtragende Männer, Menschen der See, trage ich diesen gemeinsamen Dienst auf: Ihr sollt jenem meinen Befehl mitteilen, dass er dieses Kind hier, indem er es in mein Haus führt, dem Telamon bringe und der Mutter - ich meine Eriboia -, [570] damit er diese im Alter stets versorge. 58 2 Der Aias <?page no="59"?> 110 Eine Feststellung wie die von Blundell (1989, 79), dass Aias der heroischen Verpflichtung zum Schutz seiner philoi in keiner Weise nachkomme, ist also zu undifferenziert; besser z. B. Easterling (1984, 5) oder Cairns (1993, 234). 111 Vgl. z. B. Hesk 2003, 69-71 sowie zur homerischen Intertextualität im Aias allgemein Easterling 1984; Zimmermann 2002. […] Aber nimm den Knaben so schnell wie möglich von mir [sc. Τekmessa], schließ die Tür der Hütte und weine nicht [580] in ihrer Nähe! Eine Frau ist ein Ding, das zum Jammern neigt! Schneller, die Türe zu! Kein kluger Arzt singt beschwörende Lieder bei einem Leiden, wo zum Messer gegriffen werden muss. r Ich fürchte mich, wenn ich diese begierige Entschlossenheit höre: Deine gewetzte Zunge macht mir große Sorgen! [585] e . O Aias, Herr, was möchtest Du tun? Entscheidend für den Fortbestand der Balance ist dabei die Tatsache, dass Aias hier unbestreitbar ein stückweit auf Tekmessas Argumente eingeht: Er trifft Vorsorge für seinen Sohn und auch für seine Eltern, gelangt also über seine Rede in den vv. 430-480 hinaus. 110 Zugleich indes bleibt er auch hinter dieser Rede zurück. Denn während er dort, im Rahmen eines ruhigen Räsonne‐ ments, versucht hatte, seine Tat im Lichte heroischer Ethik gewissermaßen zu normalisieren, erscheint sein Heroismus hier deutlich weniger ‚normal‘. Diesen Eindruck erweckt Sophokles, wie verschiedentlich beobachtet worden ist, 111 vor allem über das Sympathielenkungsmittel der Intertextualität. Mit Aias’ Rede ruft er nämlich die Abschiedsszene zwischen Hektor und Andromache im sechsten Gesang der Ilias auf, und der Vergleich fällt nicht zu Aias’ Gunsten aus. Denn bei Homer hatte sich Hektors Sohn Astyanax bekanntlich vor dem wogenden Helmbusch seines Vaters gefürchtet, worauf dieser seinen Helm abgenommen hatte (6,467-473): ἂψ δ’ ὃ πάις πρὸς κόλπον ἐυζώνοιο τιϑήνης ἐκλίνϑη ἰάχων, πατρὸς φίλου ὄψιν ἀτυχϑεὶς ταρβήσας χαλκόν τε ἰδὲ λόφον ἱππιοχαίτην, δεινὸν ἀπ’ ἀκροτάτης κόρυϑος νεύοντα νοήσας· 470 ἐκ δ’ ἐγέλασσε πατήρ τε φίλος καὶ πότνια μήτηρ. αὐτίκ’ ἀπὸ κρατὸς κόρυϑ’ εἵλετο φαίδιμος Ἕκτωρ, καὶ τὴν μὲν κατέϑηκεν ἐπὶ χϑονὶ παμφανόωσαν Aber der Knabe lehnte sich zurück in den Schoß der wohlgegürteten Amme und weinte beim Anblick seines Vaters, voll Furcht wegen der Bronze und des Busches aus Pferdehaar, [470] als er erkannte, wie dieser sich schreckenerregend bewegte oben am Helm. Der Vater aber lachte auf und die edle Mutter; sogleich nahm den Helm vom Kopf der glänzende Hektor und legte diesen, den blinkenden, auf den Boden 59 2.2 Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma <?page no="60"?> 112 Vgl. Blundell 1989, 79. Aias indes hat ein anderes Verhältnis zur möglichen „Furcht“ seines Sohnes Eurysakes, wenn er sich auf den Standpunkt stellt, dieser werde sich angesichts der hingeschlachteten Tiere nicht fürchten, wenn er denn wirklich sein Sohn sei (vv. 545-547 mit ταρβήσει γὰρ οὔ 545 neben ταρβήσας Il. 6,469). Während Hektor also die spezifischen, von den seinigen verschiedenen Bedürfnisse seines Sohnes erkannt hatte, betrachtet Aias Eurysakes gewissermaßen als bloße Fortsetzung seiner selbst. 112 Ein solcher Kontrast findet sich auch im Hinblick auf die Zukunft ihrer Söhne, wie sie die beiden Väter imaginieren; Hektor hatte dazu Folgendes gesagt (6,476-481): „Ζεῦ ἄλλοι τε ϑεοὶ δότε δὴ καὶ τόνδε γενέσϑαι παῖδ’ ἐμὸν, ὡς καὶ ἐγώ περ, ἀριπρεπέα Τρώεσσιν ὧδε βίην τ’ ἀγαϑόν, καὶ Ἰλίου ἶφι ἀνάσσειν. καί ποτέ τις εἴποι ‚πατρός γ’ ὅδε πολλὸν ἀμείνων‘ ἐκ πολέμου ἀνιόντα, φέροι δ’ ἔναρα βροτόεντα 480 κτείνας δήιον ἄνδρα, χαρείη δὲ φρένα μήτηρ.“ „Zeus und die anderen Götter, gewährt, dass auch der Knabe hier, so wie ich, herausragend werde unter den Troern, kraftvoll und mächtig, und dass er mit Stärke herrsche über Ilion. Und irgendwann könnte einer sagen: ‚Dieser ist viel besser als sein Vater‘, [480] wenn er aus dem Krieg zurückkommt; und er möge die blutbefleckte Kriegsbeute mit sich bringen, nachdem er einen Feind getötet hat, und die Mutter möge sich darüber freuen in ihrem Gemüt.“ Hektor hatte also darum gebetet, dass die Götter seinen Sohn in Zukunft besser werden ließen als er (6,479); Aias dagegen will seinen Sohn „sofort abgerichtet“ sehen, bis dieser ihm „gleich“ sei (vv. 548-551). Auch hier zeigt sich also aufseiten des Aias keinerlei Bewusstsein für die Individualität und, wenn man so sagen kann, das individuelle Potential seines Sohnes. Ein letzter Unterschied findet sich im Umgang beider Männer mit ihren Frauen: Aias hatte kurz die „Freude“ der Tekmessa am kindlichen Herum‐ springen des Eurysakes anerkannt (vv. 556-559 mit χαρμονήν 559); damit hatte er das Interesse Tekmessas an Eurysakes aber dem Zeitraum von dessen Unmün‐ digkeit zugewiesen, aus der er diesen, wie eben gesehen, „sofort“ ‚heraus-‘ und in die heroische Sphäre ‚hineinerzogen‘ sehen will, die ihn alleine interessiert. In dieser ist konsequenterweise kein Platz für Tekmessa und ihre „Freude“, und so erwähnt Aias seine Konkubine auch mit keinem weiteren Wort, bevor er am Ende seiner Rede ein grobes Schweigegebot an sie richtet (vv. 578-580). Hektor dagegen hatte nicht nur zusammen mit Andromache über das drollige Verhalten 60 2 Der Aias <?page no="61"?> des Astyanax gelacht (6,471), er hatte auch von der „Freude“ gesprochen, die sie an den heroischen Großtaten ihres Sohnes haben möge (6,481). Hektor hatte Andromache also gerade nicht aus der heroischen Welt ausgeschlossen, in der er sich jetzt bewegt und sein Sohn sich einstmals bewegen soll. Auf diese Weise wahrt auch die Fortsetzung des ersten Epeisodions im Anschluss an Tekmessas Gegenrede die Balance zwischen den Perspektiven des Aias und der Tekmessa, und es ist durchaus verständlich, dass diese sich mit Aias’ Rede nicht zufriedengibt, sondern weiterhin Widerstand leistet, wie im oben zitierten v. 585 bereits sichtbar ist. Blickt man an dieser Stelle der Analyse auf das erste Epeisodion zurück, dann lässt sich also feststellen, dass neben die Wahrnehmung der philoi, dass Aias seinem angestammten Selbst untreu werde, wenn er sie im Stich lasse, die Wahrnehmung des Aias tritt, dass er sich umbringen müsse, um seinem angestammten Selbst treu zu bleiben. Die Entwicklung dieses Dilemmas wirft somit die Frage auf, ob die ganz und gar positive Wahrnehmung des ‚alten‘ Aias durch die philoi, wie sie erstmals in der Parodos formuliert wurde und gegenüber den Zuschauern zunächst ein deutliches Identifikationspotential entwickelte, wirklich angemessen ist. In gewissem Umfang muss sie dies sein, hat man doch keinen Grund, daran zu zweifeln, dass Aias in der Vergangenheit seiner Beschützerfunktion in herausragender Weise nachgekommen ist, und dies tut er jetzt offensichtlich nicht mehr. Zugleich allerdings suggeriert Sophokles durch den Einsatz von Aias’ Perspektive, dass der Aias, den die Zuschauer jetzt sehen, durchaus der Aias ist, wie er immer gewesen ist, dass also das aus der Perspektive der philoi problematische Verhalten, das dieser jetzt an den Tag legt, in gewissem Sinne in Kontinuität steht zum ‚alten‘ Aias. Diesen Eindruck verstärkt die zweite Rede des Aias ohne Frage noch, indem dort, wie eben beschrieben, die Balance zwar kunstvoll gewahrt blieb, da Aias ein stückweit auf Tekmessas Forderungen einging, zugleich aber sein Heroismus, den er durch seinen Suizid affirmieren will, grundsätzlich problematisch erschien. Kann der ‚alte‘ Aias also eine Figur mit zugleich positiven wie negativen Eigenschaften gewesen sein? Nun, ein Aias mit zugleich positiven wie ne‐ gativen Eigenschaften ist nichts Unbekanntes, vielmehr war dies genau die Wahrnehmung gewesen, die Athene im Prolog in der Form des extremistischen Heroismus erschlossen hatte: Keiner habe mehr heroische ‚Exzellenz‘ gezeigt, und dennoch sei Aias ‚töricht‘ und „schlecht“ gewesen und sei dies nach wie vor. Diesen Heroismus hatte der Chor dann in der Parodos, wie oben 2.2.2 gezeigt, ausschließlich als etwas Positives verstanden. Diese Wahrnehmung ist es nun, die Sophokles hier als letztlich nicht ganz angemessen erweist, indem er das darauf basierende Engagement in ein Dilemma überführt: Was die philoi an Aias 61 2.2 Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma <?page no="62"?> 113 Vgl. z. B. Biggs 1966, 225f. schätzten, war letztlich nichts anderes als das, was ihn jetzt in für sie negativer Weise auf die Situation reagieren und seiner angestammten Beschützerfunktion untreu werden lässt. 113 Das Dilemma, das Sophokles im Hinblick auf den Suizid des Aias expo‐ niert, erweist sich also als notwendige Konsequenz aus dem extremistischen Heroismus dieser Figur: Insofern Aias gerade dadurch ein besonders fähiger Beschützer war, hatten die philoi keinen Grund, ihn für das zu kritisieren, was er war, und haben jetzt gute Gründe, in der Tatsache, dass er seiner Beschützerfunktion nicht mehr nachkommt, einen Bruch mit seinem Wesen zu sehen. Insofern aber nicht nur die philoi, sondern auch die Griechen von Aias profitierten und ihn entsprechend, so ist anzunehmen, ebenfalls nicht kri‐ tisierten, kann dieser in der Verweigerung der Waffen des Achill und somit der Verweigerung der Anerkennung seiner Unterstützung mit ebenso gutem Grund tatsächlich einen Bruch der Reziprozität sehen, auf den er nur so reagieren kann, wie er dies tut. Die von Sophokles dargestellte Spannung ist also die menschliche Konsequenz des im Prolog von Athene erschlossenen extremistischen Hero‐ ismus. Diese Tatsache hat nun auch Konsequenzen für die Frage „Wie beurteile ich Aias? “. Insofern das Dilemma sich als menschliche Kehrseite der von Athene erschlossenen Wahrnehmung erweist, erhalten die Zuschauer eine Antwort auf diese Frage, und zwar eben in Form dieses Dilemmas: Aias erweist sich auf der Ebene der menschlich angemessenen Beurteilung als eine unüberwindbar ambige Figur, und diese Tatsache macht Sophokles hier deutlich, indem er zeigt, dass es in der durch Aias’ Suizidalität geprägten Stücksituation, in der sich die Akteure befinden, keine Reaktion gibt, die vollständig angemessen ist. Auf diese Weise erweist sich die Feststellung von Aias’ extremistischem Heroismus, wie oben 2.1 angekündigt, nicht als Ende, sondern als Anfang der Probleme, mit denen Sophokles die Zuschauer in seinem Drama konfrontiert: Die positiven und negativen Aspekte lassen sich auf der Ebene eines distan‐ zierten Betrachters, vertreten durch die Göttin Athene oder die Zuschauer, synthetisieren, auf der Ebene der praxis aber führen diese zum von Sophokles exponierten unüberwindbaren Dilemma. Die Tatsache, auf die Sophokles die Zuschauer also vor allem hinweist, ist die unüberwindbare Ambiguität einer ‚übergroßen‘ Figur auf der menschlichen, man könnte auch sagen, der sozialen Ebene: Eine solche besitzt ein besonderes positives Potential für eine Gemein‐ schaft, und diese wäre schlecht beraten, davon nicht zu profitieren; zugleich riskiert diese Gemeinschaft aber immer, dass sich diese Figur gegen sie wendet, und zwar im Rahmen einer Entwicklung, die einen Bruch dieser Figur mit ihrem 62 2 Der Aias <?page no="63"?> Wesen darstellt, insofern dieses vom Positiven ins Negative umschlägt, zugleich aber auch eine konsequente Verwirklichung ebendieses Wesens. In den Dienst der Vermittlung dieser ‚Botschaft‘ hat Sophokles also die involvierende Wirkung des bisherigen Stückverlaufs gestellt, indem er die Zuschauer durch die Überführung des zunächst generierten Engagements in eine dilemmatische Spannung an diese ‚Botschaft‘ herangeführt hat. Endgültig als ‚Botschaft‘ vergeben wird diese aber erst am Ende des ersten Epeisodions. Denn dort endet das Gespräch in endgültiger Entzweiung, markiert durch eine emotionale Antilabe, nach der Aias abgeht, um sich, so muss man annehmen, in seiner Hütte umzubringen. Solange das Gespräch aber noch andauert, kann man noch hoffen, dass das Dilemma irgendwie wird überwunden werden können, bleibt also involviert und blickt, im Sinne eines „struggling for more“, nach vorne. Indem Sophokles die Hoffnung auf eine Auflösung dann nicht erfüllt, sondern die Spannung unüberwunden stehenbleibt, führt er den Zuschauern die Ambiguität der Figur Aias desto deutlicher und finaler vor Augen. Dann nämlich kann man sich der Tatsache endgültig nicht mehr entziehen, dass es aufgrund des spezifischen Heroismus des Aias nicht anders kommen konnte als so, wie es gekommen ist - Tekmessa verzweifelt und „verraten“ draußen vor der Tür, und Aias, in selbsterklärter Übereinstimmung mit seinem „Charakter“, im Begriff, sich umzubringen (vv. 587 f. und 594 f.): . οἴμ’ ὡς ἀϑυμῶ· καί σε πρὸς τοῦ σοῦ τέκνου 587 καὶ ϑεῶν ἱκνοῦμαι, μὴ προδοὺς ἡμᾶς γένῃ. […] Α . μῶρά μοι δοκεῖς φρονεῖν, εἰ τοὐμὸν ἦϑος ἄρτι παιδεύειν νοεῖς. 595 [587] e . Oh weh, wie bin ich verzweifelt! Ich flehe Dich bei Deinem Kind und bei den Göttern an, werde nicht zum Verräter an uns! […] Ai. Töricht denkst Du, meine ich, [595] wenn Du meinen Charakter jetzt noch formen willst. 2.2.5 Das erste Stasimon als Ruhestelle Damit kommt der erste Handlungsbogen an sein Ende: Die Involvierung - zunächst in der Form des Engagements, dann durch eine dilemmatische Spannung - hat die Zuschauer an die ‚Botschaft‘ von der unüberwindbaren Ambiguität des Aias herangeführt, die auf einer abstrakten Ebene - und nur dort - eine Antwort auf die Frage „Wie beurteile ich Aias? “ darstellt. Die Zuschauer überwinden die Spannung also durch eine Synthese, doch diese Synthese stellt gerade keine eigentliche Lösung des durch das Drama präsentierten Problems von Aias’ Suizid dar, sondern 63 2.2 Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma <?page no="64"?> 114 Vgl. zur rekapitulierenden Funktion des Stasimons Mambrini 2010, 310. schreibt dieses vielmehr fest. Diese ‚Botschaft‘ unterstreicht Sophokles nach Aias’ Abgang im Modus des Chorlieds, das somit eine rekapitulierende Ruhestelle darstellt, die den ersten Handlungsbogen beschließt: 114 Der Chor hatte, wie oben 2.2.4.1 gezeigt, während der Auseinandersetzung von Aias mit Tekmessa als Fokalisator fungiert, indem er sich Aias’ Reaktion immer schlechter entziehen konnte und so das Danebentreten von dessen Perspektive begleitete. Die Funktion eines Fokalisators übt er auch hier aus, indem er ein Lied singt, in dem die drei davor greifbaren Wahrnehmungen des Aias - diejenige durch die philoi und diejenige durch Aias selbst, aber auch diejenige durch Athene - noch einmal erscheinen. Der Chor singt nämlich, unter anderem, Folgendes (vv. 609-615, 621-630 und 635-640): καί μοι δυσϑεράπευτος Αἴας ξύνεστιν ἔφεδρος, ὤμοι μοι, 610 ϑείᾳ μανίᾳ ξύναυλος· ὃν ἐξεπέμψω [sc. ὦ Σαλαμίς] πρὶν δή ποτε ϑουρίῳ κρατοῦντ’ ἐν Ἄρει· νῦν δ’ αὖ φρενὸς οἰοβώτας φίλοις μέγα πένϑος ηὕρηται 615 […] ἦ που παλαιᾷ μὲν σύντροφος ἁμέρᾳ, λευκῷ τε γήρᾳ μάτηρ νιν ὅταν νοσοῦν- 625 τα φρενοβόρως ἀκούσῃ, αἴλινον αἴλινον οὐδ’ οἰκτρᾶς γόον ὄρνιϑος ἀηδοῦς σχήσει δύσμορος […] 630 κρείσσων γὰρ Ἅιδᾳ κεύϑων ὁ νοσῶν μάταν, 635 ὃς εἷς πατρῴας ἥκων γενεᾶς ἄριστα πολυπόνων Ἀχαιῶν οὐκέτι συντρόφοις ὀργαῖς ἔμπεδος, ἀλλ’ ἐκτὸς ὁμιλεῖ. 640 Und ich habe den schwierigen Aias [610] als Gefährten, oh weh, oh, von göttlichem Wahnsinn geschlagen; ihn hast Du [sc. ο Salamis] einstmals ausgeschickt, mächtig im grausamen Krieg; jetzt aber irrt sein Geist [615] alleine dahin, und er hat sich als eine Quelle großen Leids für seine Freunde erwiesen. […] Wenn nun die Mutter, die alte Zeiten erlebt hat [625] und sich im weißhaarigen Alter befindet, hört, dass er schwer 64 2 Der Aias <?page no="65"?> 115 αἴδεσαι δὲ μητέρα / πολλῶν ἐτῶν κληροῦχον (zeige Scheu auch gegenüber Deiner Mutter, die reich ist an Jahren). geisteskrank ist, wird sie sich dessen nicht enthalten, „ailinos, ailinos“ auszurufen und zu klagen wie eine unglückliche Nachtigall, [630] die Arme […] [635] Besser nämlich ist’s, dass im Hades liegt, wer geistig krank ist! Er, der als Bester gekommen war aus dem väterlichen Haus unter den kampferprobten Achaiern, ist seinem angestammten Charakter [640] nicht mehr treu, sondern schweift in die Irre. Dies ist ein deutliches Festhalten an der Position, die sich aus dem vor Aias’ Erscheinen und danach besonders von Tekmessa vertretenen Maßstab ergibt, nach dem Aias im gegenwärtigen Zustand, in dem er seine philoi gefährdet (v. 615, beachte auch die imaginierten verheerenden Auswirkungen auf seine Mutter in den vv. 621-630 neben Tekmessas Verweis auf die Reaktion der alten Mutter in den vv. 507f. 115 ), hinter seiner früheren heroischen Statur zurückbleibt (vv. 612 f., 635-637), seinen „angestammten Charakter“ verloren hat (vv. 639 f.) und nicht mehr ‚vernünftig‘ ist (sondern „geistig krank“: vv. 625 f., vgl. 609-611). Nun hatte Aias selbst sich aber auf den Standpunkt gestellt, dass ihm von den Griechen die philia gebrochen worden sei, was ihm keine andere Möglichkeit lasse, als sich umzubringen, da diese die großen „Werke seiner Hand“ (οὐδ’ ἔργα μείω χειρὸς […] ἐμῆς 439) nicht belohnt hätten. Während Tekmessa nun auf dieses Argument nicht eingegangen war, nicht hatte eingehen können, erkennt der Chor im ersten Stasimon den Bruch der philia durch die Atriden an, markiert besonders durch die Aufnahme des Motivs der ‚großen Werke der Hand‘ (vv. 616-620): τὰ πρὶν δ’ ἔργα χεροῖν μεγίστας ἀρετᾶς ἄφιλα παρ’ ἀφίλοις ἔπεσ’ ἔπεσε μελέοις Ἀτρείδαις. 620 Die Werke der beiden Hände, die sich davor durch größte Kraft auszeichneten, [620] haben bei den untreuen, elenden Atriden keine Anerkennung gefunden, keine Anerkennung gefunden. Am Ende seines Liedes singt der Chor nun aber auch Folgendes (vv. 641-645): ὦ τλᾶμον πάτερ, οἵαν σε μένει πυϑέσϑαι παιδὸς δύσφορον ἄταν, ἃν οὔπω τις ἔϑρεψεν αἰὼν Αἰακιδᾶν ἄτερϑε τοῦδε. 645 65 2.2 Der erste Handlungsbogen: vom Engagement zum Dilemma <?page no="66"?> 116 Winnington-Ingram 1980, 36-38. 117 Winnington-Ingram 1980, 37f. O armer Vater, von welchem unerträglichen Verhängnis Deines Sohnes wirst Du erfahren müssen, das genährt hat [645] noch kein Lebensweg irgendeines Aiakiden abgesehen von diesem. Hier lässt sich, wie Winnington-Ingram gezeigt hat, 116 ein ‚Hinübergleiten‘ der Gedanken des Chors zu einer Wahrnehmung finden, dass Aias schon immer eine problematische Figur gewesen sei: Sein „Verhängnis“ (vgl. ἄταν 643) erscheint hier nicht, wie noch unmittelbar davor (vv. 639 f.), als eine Abweichung von seinem angestammten Charakter, sondern als ein Produkt seines bisherigen „Lebenswegs“ (αἰὼν 645). Diese Wahrnehmung einer schon immer vorhandenen Problematik entspricht derjenigen, die Athene im Prolog erschlossen hatte. Die drei davor im Stück greifbaren Wahrnehmungen des Aias werden hier also bestätigt. Die entscheidende Entwicklung innerhalb des ersten Hand‐ lungsbogens hatte nun darin bestanden, dass die Zuschauer befähigt wurden, diese in ein synthetisierendes Gesamtbild des Aias einzupassen, nach dem das Dilemma zwischen Aias und seinen philoi die menschliche Kehrseite von Athenes göttlicher Wahrnehmung war. Diese Entwicklung wird hier zum einen bestätigt. Denn, wie Winnington-Ingram ebenfalls gezeigt hat, 117 erscheint Aias’ „Verhängnis“ am Ende des Liedes, vermittels des Verbs ἔϑρεψεν 644, als ein Prozess, als die Verwirklichung von etwas davor eher als Potential Vorhandenem. Dieses Verständnis ist natürlich besonders angemessen für Aias, der in seiner Reaktion auf das Waffenurteil sein wahres Wesen verwirklicht, paradoxerweise aber gerade dadurch sein Verhalten gegenüber seinen philoi grundlegend ändert und seiner angestammten Beschützerfunktion untreu wird. Zum anderen zeigt sich im ersten Stasimon aber auch die entscheidende Schwäche dieser Synthese: Diese überwindet das Dilemma nicht, das zwischen den menschlichen Perspektiven entwickelt worden ist, sondern schreibt dieses im Gegenteil gerade fest. Denn die menschlichen Akteure, Aias eingeschlossen, mit deren Perspektiven die Zuschauer seit dem Prolog konfrontiert worden sind, müssen Aias nicht primär beurteilen, sie müssen auf die Situation reagieren, in der sie sich befinden, und auf dieser Ebene ist einem mit der Feststellung von Aias’ extremistischem Heroismus gerade nicht geholfen, da dieser notwendig in das Dilemma führt, das Sophokles im ersten Epeisodion exponiert hat. Erst dadurch, dass das Lied auch an diese Tatsache erinnert, erreicht es seine volle Wirkung als Rekapitulation des Vorangegangenen. Diese Erinnerung leistet Sophokles, indem er die Fokalisatorfunktion des Chors so ausgestaltet hat, dass dessen Mitglieder zugleich in ihrer dramatischen Identität als Aias’ philoi 66 2 Der Aias <?page no="67"?> 118 Vgl. Winnington-Ingram 1980, 33. 119 Vgl. Winnington-Ingram 1980, 33. 120 Zum Beispiel von Biggs (1966, 225) oder Finglass (2011, ad vv. 596-645). verhaftet bleiben. Denn obwohl alle drei davor dargestellten Wahrnehmungen im Lied gegenwärtig sind, gibt der Chor die Hoffnung auf eine ‚Heilung‘ und somit einer ‚Normalisierung‘ des Aias nicht auf 118 - etwas, worauf er nicht hoffen könnte, wenn er erkennen würde, dass Aias schon immer so gewesen ist, und worauf er letztlich nicht hoffen dürfte, wenn er die Tatsache zu Ende dächte, dass Aias von den Atriden tatsächlich die philia gebrochen worden ist. Er denkt also zwei von drei Möglichkeiten nicht zu Ende, ja die Vorstellung eines Aias, der schon immer problematisch gewesen ist, präsentiert sich, wie oben gesagt, als ein gedankliches ‚Hinübergleiten‘, gleichsam als psychologische Fehlleistung, wo der Chor mehr singt, als er versteht. 119 Entsprechend überrascht es nicht, dass die ‚Naivität‘ des Chors im ersten Stasimon verschiedentlich festgehalten worden ist. 120 Diese erklärt sich jedoch aus seinem Status als menschlicher Akteur im dramatischen Geschehen. Denn als solcher muss er sich für einen Pol des die Situation prägenden Dilemmas entscheiden und alles beiseiteschieben, was dem entgegensteht, dieses ‚verdrängen‘, also sowohl den anderen Pol wie die Erkenntnis, dass ein Dilemma unausweichlich ist. Dies tut der Chor hier, und indem die Zuschauer dies beobachten, werden sie daran erinnert, dass das differenzierte Gesamtbild, das sie erreicht haben und das im Lied affirmiert wird, gerade keine menschlich befriedigende Lösung des Problems ‚Aias‘ bietet, sondern man als Zuschauer nur die diesbezügliche unüberwindbare Ambiguität feststellen kann - und als menschlicher Akteur im Stück nicht einmal dies. Das erste Stasimon entfaltet seine volle Wirkung als rekapitulierende Ruhestelle also erst durch das kunstvoll gebrochene Identifikationspotential einer vermeintlich ‚naiven‘ Chorperspektive. Erst wenn man sich darüber Rechenschaft ablegt, kann man die Funktion dieses Liedes innerhalb der dramatischen Ökonomie des Aias würdigen. 2.3 Der zweite Handlungsbogen: die Lösung, die keine ist Der weiteren Einschärfung der ‚Botschaft‘ von Aias’ Ambiguität ist der nächste Handlungsbogen gewidmet. Hier arbeitet Sophokles, ähnlich wie im ersten, mit der rhetorischen Funktion der Involvierung, die im Sich-Verlieren von Engagement liegt, also in der systematischen Enttäuschung einer zunächst aufseiten der Zuschauer geweckten Hoffnung, die diesen vor Augen führt, dass in der präsentierten Situation einfache Lösungen nicht möglich sind. Dabei ist es 67 2.3 Der zweite Handlungsbogen: die Lösung, die keine ist <?page no="68"?> 121 Mambrini (2010, 310) beschreibt dieses Erscheinen zurecht als „coup de théâtre“. erneut die Perspektive von Aias’ philoi, die den Weg zu einer einfachen Lösung zu weisen scheint, bevor Sophokles die Zuschauer zurück zur Erkenntnis führt, dass eine solche Lösung nicht möglich ist, zurück also zur Ambiguität des Aias, die dadurch desto unüberwindbarer erscheint. 2.3.1 Das erste Stasimon als Scharnier Ansatzpunkt für den ersten derartigen Ablauf ist das erste Stasimon selbst. Oben 2.2.5 ist herausgearbeitet worden, wie die Mitglieder des Chors in ihrer dramatischen Identität als Aias’ philoi verhaftet blieben und ihre Hoffnung auf eine ‚Normalisierung‘ ihres Herrn nicht aufgaben, was ihnen als ‚Naivität‘ ausgelegt worden ist. Wer sich allerdings während des Liedes in der eigenen Überlegenheit gegenüber dem Chor behaglich eingerichtet haben sollte, wird im unmittelbaren Anschluss effektvoll aus dieser Behaglichkeit gerissen. Denn es geschieht etwas nach Aias’ entschlossenem Abgang mit v. 595 vollkommen Unerwartetes: Er erscheint lebendig auf der Bühne. 121 In diesem Moment, noch bevor die ersten Worte gesprochen sind, verpufft jede Überlegenheit der Zu‐ schauer gegenüber dem Chor: Aias lebt, ist also entweder ‚geheilt‘ oder es wird zumindest möglich, dass er sich vom Chor ‚heilen‘ lässt, eine einfache Lösung in dessen Sinne ist plötzlich denkbar und keine naive Realitätsverweigerung mehr. Auf diese Weise werden die Zuschauer, nachdem die Handlung davor an einen Ruhepunkt gekommen war, erneut involviert, und der Chor entwickelt in seiner dramatischen Identität mit einem Schlag ein unproblematisches Identifi‐ kationspotential: Man kann mit diesem hoffen, dass Aias ‚heilbar‘ sei, und ihn bei seinen ‚Heilungs‘bemühungen gewissermaßen moralisch unterstützen. Auf diese Weise generiert Sophokles von neuem Engagement, und zwar im Hinblick auf das bevorstehende Gespräch des Chors mit seinem Herrn. 2.3.2 Die Trugrede: an der Oberfläche und darunter Und es scheint zu kommen, wie vom Chor - und den impliziten Zuschauern - erhofft. Denn Aias legt in einer langen Rede seinen vermeintlichen Sinnes‐ wandel dar (vv. 650-653, 666-670 und 677-683): κἀγὼ γάρ, ὃς τὰ δείν’ ἐκαρτέρουν τότε, 650 βαφῇ σίδηρος ὥς, ἐϑηλύνϑην στόμα πρὸς τῆσδε τῆς γυναικός· οἰκτίρω δέ νιν 68 2 Der Aias <?page no="69"?> 122 Das Kompositum ὑπείκω findet sich im Aias nur an den drei hier aufgeführten Stellen - eine weitere Markierung der Aufnahme von Tekmessas Plädoyer durch Aias. χήραν παρ’ ἐχϑροῖς παῖδά τ’ ὀρφανὸν λιπεῖν. […] τοίγαρ τὸ λοιπὸν εἰσόμεϑα μὲν ϑεοῖς εἴκειν, μαϑησόμεϑα δ’ Ἀτρείδας σέβειν. ἄρχοντές εἰσιν, ὥστ’ ὑπεικτέον. τί μήν; καὶ γὰρ τὰ δεινὰ καὶ τὰ καρτερώτατα τιμαῖς ὑπείκει […] 670 ἡμεῖς δὲ πῶς οὐ γνωσόμεϑα σωφρονεῖν; ἔγωγ’· ἐπίσταμαι γὰρ ἀρτίως ὅτι ὅ τ’ ἐχϑρὸς ἡμῖν ἐς τοσόνδ’ ἐχϑαρτέος, ὡς καὶ φιλήσων αὖϑις, ἔς τε τὸν φίλον 680 τοσαῦϑ’ ὑπουργῶν ὠφελεῖν βουλήσομαι, ὡς αἰὲν οὐ μενοῦντα· τοῖς πολλοῖσι γὰρ βροτῶν ἄπιστός ἐσϑ’ ἑταιρείας λιμήν. [650] Auch ich, der ich einstmals das Schreckliche unbeugsam betrieb, bin im Hinblick auf meinem Mund weiblich weich geworden wie Stahl im Wasserbad unter dem Einfluss dieser Frau; es reut mich, sie als Witwe unter Feinden und mein Kind als Waise zurückzulassen. […] Deswegen will ich es in Zukunft verstehen, den Göttern zu weichen, und will lernen, die Atriden zu ehren. Sie sind die Herren, und ihnen muss man weichen. Ja was denn? Auch das Gewaltige und Mächtigste [670] weicht den Vorrechten […] Wie soll ich aber nicht lernen, vernünftig zu sein? Dies tue ich; ich weiß nämlich jetzt, dass wir den Feind in solchem Ausmaß hassen müssen, [680] dass wir ihm wieder zum Freund werden können, und dem Freund will ich so helfen, wie wenn er mir nicht immer ein solcher bliebe; für die meisten der Sterblichen ist der Hafen der Freundschaft nämlich unzuverlässig. Dabei präsentiert sich dieser vermeintliche Sinneswandel als ausgedehnte Zustimmung zum vor allem von Tekmessa im ersten Epeisodion vorgebrachten Plädoyer: Er „bemitleidet“ Tekmessa und Eurysakes (vgl. vv. 652 f. mit οἰκτίρω 652 neben vv. 510-513 mit οἴκτιρε 510), ist ‚vernünftig‘ geworden und will „weichen“ (vgl. v. 677 mit σωφρονεῖν, ferner εἰσόμεϑα 666, μαϑησόμεϑα 667 u. a. sowie εἴκειν 667, ὑπεικτέον 668 und ὑπείκει 670 neben ὦ πρὸς ϑεῶν ὕπεικε καὶ φρόνησον εὖ 371). 122 Die Zuschauer könnten also das im ersten Epeisodion entwickelte Dilemma überwunden sehen, ein Happy-End konstatieren. Entscheidend ist nun aber, dass Aias’ Rede, die man nicht umsonst als ‚Trugrede‘ kennt, von einer durchgehenden Doppelbödigkeit geprägt ist: Unter 69 2.3 Der zweite Handlungsbogen: die Lösung, die keine ist <?page no="70"?> 123 Siehe insgesamt z. B. Sicherl 1970, 22-30; die Frage ist natürlich, inwieweit man annehmen kann, die Zuschauer hätten Aias’ Täuschung als solche erkannt. Der im Mythos feststehende Ausgang mit Aias’ Suizid sowie die durchgehende Doppelbödigkeit machen es plausibel, dass sich die originalen Rezipienten von Aias nicht täuschen ließen und zumindest am Ende der Rede seine wahre Absicht durchschauten (vgl. Hillgruber 2000, 19 mit Anm. 44; die von Finglass [2011, ad vv. 646-692] - der diese Deutung auch für wahrscheinlich hält - angeführten Innovationen, die Blendung des Oidipus durch Laios’ Diener bei Euripides im Unterschied zur Selbstblendung bei Sophokles und die wahrscheinliche euripideische Innovation, Medea ihre Kinder töten zu lassen, sind beide keine wirklichen Parallelen: Oidipus ist am Ende blind und Medeas Kinder sind am Ende tot). 124 ἀλλ’ εἶμι πρός τε λουτρὰ καὶ παρακτίους / λειμῶνας, ὡς ἂν λύμαϑ’ ἁγνίσας ἐμὰ / μῆνιν βαρεῖαν ἐξαλύξωμαι ϑεᾶς 654-656 (Aber ich werde gehen zu den Waschstellen und den am Strand gelegenen [655] Wiesen, damit ich mich von meiner Befleckung reinige und dem schlimmen Zorn der Göttin entgehe.). 125 σὺ δὲ / ἔσω ϑεοῖς ἐλϑοῦσα διὰ τέλους, γύναι, / εὔχου τελεῖσϑαι τοὐμὸν ὧν ἐρᾷ κέαρ 684-686 (Du aber [685] geh hinein, Frau, und ohne Unterlass zu den Göttern bete, dass vollendet werde, was mein Herz begehrt.). 126 ὑμεῖς ϑ’, ἑταῖροι, ταὐτὰ τῇδέ μοι τάδε / τιμᾶτε, Τεύκρῳ τ’, ἢν μόλῃ, σημήνατε / μέλειν μὲν ἡμῶν, εὐνοεῖν δ’ ὑμῖν ἅμα· / ἐγὼ γὰρ εἶμ’ ἐκεῖσ’ ὅποι πορευτέον, / ὑμεῖς δ’ ἃ φράζω δρᾶτε, καὶ τάχ’ ἄν μ’ ἴσως / πύϑοισϑε, κεἰ νῦν δυστυχῶ, σεσωμένον 687-692 (Ihr aber, Gefährten, tut mir denselben Gefallen und tragt Teuker auf, wenn er kommt, sich um mich zu kümmern und Euch gegenüber Wohlwollen zu zeigen. [690] Ich nämlich werde dorthin gehen, wohin ich gehen muss, Ihr aber tut, was ich sage, und bald vielleicht könntet Ihr über mich erfahren, dass ich, auch wenn ich mich jetzt im Unglück befinde, gerettet bin.). der Oberfläche seines vermeintlichen Sinneswandels wird deutlich, dass er tat‐ sächlich nach wie vor zum Suizid entschlossen ist. Einige Beispiele genügen: 123 So sagt Aias, dass er weggehen wolle, um sich zu waschen und so dem Zorn der Göttin zu entgehen. 124 Das Wort, das er dabei verwendet, λουτρά 654, bezeichnet aber auch die Totenwäsche, so dass deutlich wird, dass der einzige Weg, Athene zu entkommen, darin besteht, sich umzubringen. Etwas später (vv. 670-676) führt er eine Reihe von Paradigmen für das von ihm beabsichtigte „Weichen“ an: die Schneeschmelze, den Übergang von der Nacht zum Tag, das Sich-Legen der Wellen und den Wechsel zwischen Schlafen und Wachen. Entscheidend ist nun, dass alle diese Dinge mit ihrem Weichen vergehen, weswegen Aias hier andeutet, dass auch er ‚vergehen‘ wird. Gegen das Ende seiner Rede bittet er dann Tekmessa, dass sie darum bete, dass alles komme, wie er wolle 125 - doch wovon er will, dass es komme, ist der Tod. Zuletzt beauftragt er den Chor, Teuker die Sorge um ihn aufzutragen, während er gehe, wohin er gehen müsse; der Chor aber werde vielleicht bald erkennen, dass er gerettet sei. 126 Allein die Sorge des Teuker ist eine um seinen Leichnam und Aias’ Rettung ist der Tod. 70 2 Der Aias <?page no="71"?> 127 Vgl. z. B. Patzer 1978, 81 f.; Winnington-Ingram 1980, 51 f.; Blundell 1989, 84 f.; Flashar 2000, 50f. 128 Sicherl 1970, 25. 129 Vgl. Gill 1996, 209-216 zur Rede des Aias als Entgegnung auf Tekmessas Einwände. 130 So zum Beispiel Knox (1961, 12-14) oder Sicherl (1970, 31 f.); diese Deutung scheitert allerdings an der durchgehaltenen Doppelbödigkeit (Winnington-Ingram 1980, 48: „Why should he [sc. Ajax] waste so much irony on himself […]? “). Die Trugrede hat noch eine unübersehbare Anzahl weiterer Deutungen hervorgebracht (für eine relativ aktuelle Doxographie siehe Davidson 2018, 473-479), so namentlich die als ein Miss‐ verständnis: Aias habe sich zwar an Zuhörer gewendet, diese aber gar nicht täuschen wollen (siehe z. B. Lardinois 2006). Diese Deutung ist, wenngleich „pervers“ (Finglass 2011, ad vv. 646-692), nicht a priori ausgeschlossen; aber man sollte erst dazu Zuflucht nehmen, wenn es keine simpleren Alternativen gibt. Wenn die hier vorgeschlagene Deutung Zustimmung findet, verschwände entsprechend die Notwendigkeit dieser kontraintuitiven Deutung. Gegen die Auffassung, Aias habe tatsächlich seine Meinung Dabei zeigt seine Rede aber nicht nur, dass er sich die Perspektive der philoi nicht zu eigen gemacht hat, sondern auch, warum. 127 Dies wird deutlich, wenn man seine Aussage zu seinem Verhältnis mit den Atriden betrachtet (vv. 666-670): Von seinem Suizid Abstand zu nehmen, bedeutete, sich diesen zu unterwerfen - beachte die „bittere Ironie“ 128 , mit welcher Aias die Verben σέβω und εἴκω vertauscht - und somit zu akzeptieren, dass philia nichts ist, worauf man sich verlassen kann (vv. 678-683). ‚Vernünftig‘ zu werden, hieße also für Aias, die Verletzung der philia durch die Griechen und das schnöde „Wegstoßen“ seiner Großtaten hinzunehmen (beachte τὰ καρτερώτατα / […] ὑπείκει 669 f. neben ἀπώσαντες κράτη 446). Durch die bloß scheinbare Übernahme der Per‐ spektive seiner philoi zeigt Aias’ Rede also, was diese von ihm verlangt hatten: dass er den Bruch der heroischen Reziprozität durch die Atriden hinnehme, und dies ist für Aias offensichtlich ein Ding der Unmöglichkeit, wenn er ein Held bleiben will. Die Rede reaffirmiert also Aias’ bekannten Standpunkt in Ausein‐ andersetzung mit den gegen seine Reaktion vorgebrachten Argumenten und setzt so die Dialektik fort, die das erste Epeisodion geprägt hatte: Tekmessa hatte seinem Standpunkt den ihren entgegengestellt, und jetzt stellt die Rede ihrem Standpunkt wiederum denjenigen des Aias entgegen. 129 Kurzum, Aias’ Rede führt die Zuschauer zurück zum Dilemma, das diese zunächst für überwunden halten konnten: Die ‚Heilung‘, auf welche die Zuschauer mit Aias’ lebendigem Erscheinen zu hoffen angehalten worden waren, erweist sich als allzu simple Lösung. Dieses Dilemma hat Sophokles den Zuschauern dabei besonders deutlich eingeschärft durch die Darstellung der kommunikativen Einbettung von Aias’ Rede. Eine solche ist nämlich vorhanden, es handelt sich bei dieser nicht, wie verschiedentlich behauptet worden ist, um ein Soliloquium, 130 vielmehr 71 2.3 Der zweite Handlungsbogen: die Lösung, die keine ist <?page no="72"?> geändert, bevor er dies erneut tue und sich doch noch umbringe (so in neuerer Zeit Davidson [2018]), spricht, dass diese über die Deutlichkeit hinweggehen muss, mit der Sophokles den Suizid in Aias’ Abschiedsrede als Verwirklichung von dessen wahrem Wesen herausstellt (siehe 2.4.2 unten). 131 Siehe Hillgruber 2000, bes. 18-20. 132 So bekennt sich z. B. Blundell (1989, 82-85) zu Aias’ Betrugsabsicht, doch lässt diese Feststellung gewissermaßen im luftleeren Raum stehen, wenn sie die Trugrede danach als Illustration von Aias’ Unfähigkeit und Unwillen, auf die Standpunkte anderer Men‐ schen einzugehen, ausschließlich im externen Kommunikationssystem deutet - denn im internen Kommunikationssystem hat Aias ja Tekmessas Standpunkt, wenngleich nur zum Schein, übernommen. 133 Vgl. oben 2.2.4.1, besonders Anm. 101 zu den Adressaten des Aias. ist die landläufige Bezeichnung ‚Trugrede‘ zutreffend: Aias trägt vor, was die antike rhetorische Theorie als logos eschematismenos gefasst hat, also eine Rede, mit der er täuscht, ohne zu lügen. 131 Dass Aias täuschen will, wird von der Mehrheit der Interpretinnen und Interpreten akzeptiert; es wird also akzeptiert, dass es sich dabei um einen kommunikativen Akt handelt, den ein Sprecher an Adressaten richtet. Die notwendige Konsequenz dieser Feststellung wird aber nicht gezogen: dass es nicht einfach, wie oben in bewusst unpräziser Formulierung gesagt, ‚die Rede‘ ist, die den Zuschauern zeigt, warum Aias nicht ‚vernünftig‘ werden - und zwar im Sinne Tekmessas ‚vernünftig‘ werden - kann, sondern dass Aias dies zeigt, und zwar seinen fiktiven Zuhörern. 132 Doch warum tut er dies auf so kuriose Weise, nämlich vermittels einer Täuschung? Um eine Antwort auf diese zentrale, bisher nicht befriedigend beantwortete Frage zu geben - und dabei insbesondere zu zeigen, dass gerade diese Form eine zentrale Funktion innerhalb der ‚Involvierungsökonomie‘ des gesamten Stückes erfüllt -, mag eine Art Gedankenexperiment hilfreich sein. Bevor dieses vorgenommen werden kann, sind aber Aias’ dramatische Adres‐ saten zu spezifizieren. Er spricht nämlich nicht gleichermaßen zu Tekmessa und zum Chor: Die dritte Person, in der er in den vv. 651-653 von seiner Konkubine spricht, erweist den Chor - mit der Ausnahme der vv. 684-686, die eine Apostrophe an Tekmessa darstellen - als seinen Hauptadressaten. Ein Aias, der dem Chor darlegt, warum er als Held nicht weiterleben kann, ist nun nichts Unbekanntes, sondern ist im Räsonnement der vv. 430-480 bereits begegnet, in denen sich gezeigt hatte, dass es ihm offenbar wichtig ist, dass der Chor seine Beweggründe nachvollziehen kann. 133 Dieses Bestreben hatte sich nun aber einem Problem gegenübergesehen: Tekmessa hatte dieses in den vv. 485-524 torpediert, indem sie Aias’ Standpunkt den ihren entgegengestellt hatte, und Aias war es tatsächlich nicht endgültig gelungen, den Chor auf seine Seite zu ziehen. Darauf hatte er dann reagiert, indem er am Ende des ersten 72 2 Der Aias <?page no="73"?> 134 Zur Trugrede als ‚Nachtrag‘ gegenüber dem ersten Epeisodion vgl. Gill 1996, 209. 135 Man kann hier also durchaus einen Fall des häufigen sophokleischen Vorgehens sehen, dass der Chor als Zielpublikum einer rhetorischen Auseinandersetzung zwischen Figuren fungiert (zu diesem Vorgehen siehe Hawthorne 2009). 136 Zitiert in Anm. 126 oben. 137 Vgl. oben 2.2.4.1. 138 Dabei hat Aias sich die Chance nicht nehmen lassen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass auch Tekmessa im Angesicht seines vollzogenen Suizids seine Perspektive übernehmen könnte, wenn er sie in den vv. 684-686 anspricht und darum bittet, dafür zu beten, dass sein Wunsch in Erfüllung gehe (siehe oben zu Anm. 125). Dies wäre dann gewissermaßen ein Erfolg auf der ganzen Linie, doch sein primäres Interesse gilt, wie bereits im ersten Epeisodion, dem Chor, während Tekmessa sozusagen als seine Gegenspielerin fungiert, die er vor allen Dingen erst einmal täuschen muss. Epeisodions die Diskussion gewaltsam abbrach. Dieser Zustand scheint ihm dann im Rückblick nicht genügt zu haben, weswegen er zurückgekommen ist, um dem Chor seine Motive noch einmal darzulegen. 134 Hätte er dies nun - und hier beginnt das Gedankenexperiment - offen getan, dann hätte Tekmessa nichts daran gehindert, darauf einfach wieder ihren Standpunkt zu reaffirmieren, Aias’ Räsonnement also erneut zu torpedieren, und er wäre nicht weiter gewesen als davor. Denn er sagt ja in seiner Trugrede nichts, was er nicht bereits davor gesagt hat, nämlich, dass er als Held in dieser Welt nicht bleiben kann, während Tekmessa der Auffassung gewesen ist, dass er als Held in dieser Welt bleiben müsse. Indem Aias eine Trugrede vorträgt, verhindert er, dass Tekmessa die Darlegung seiner Beweggründe gegenüber dem Chor erneut torpediert; 135 doch dies ist nicht alles, vielmehr besitzt der Vortrag einer Trugrede in Aias’ Situation ein positives persuasives Potential. Denn wenn diese glückt, dann werden die Mitglieder des Chors erst in dem Moment, in dem sie von Aias’ Tod erfahren, erkennen, dass er ihnen damals deutlich machen wollte, dass er nicht anders konnte, als sich umzubringen (vgl. vv. 691f. 136 ). Der Suizid besitzt nun, als symbolischer Akt, 137 ein deutliches kommunikatives Potential: Damit zeigt Aias, dass er in dieser Welt nicht bleiben kann, wenn er ein Held bleiben will. Dies bedeutet, die Trugrede mit ihrer Wirkungsverzögerung führt eine Situation herbei, in der sich das kommunikative Potential der in seiner Rede vorgetragenen Argumentation und das kommunikative Potential seines Akts simultan realisieren und sich wechselseitig verstärken, statt dass Tekmessa durch ihren Widerspruch erneut einen Keil zwischen diese beiden treiben könnte: Wenn Aias’ Adressaten im Angesicht von dessen Leichnam erkennen, was er ihnen damals mit seiner Rede mitteilen wollte, dann ist die Chance groß, dass sie sich davon überzeugen lassen, dass ihr Herr tatsächlich nicht anders konnte. 138 Der Akt des Suizids ist gewissermaßen ein Ausrufezeichen hinter der 73 2.3 Der zweite Handlungsbogen: die Lösung, die keine ist <?page no="74"?> durch die Trugrede vermittelten Botschaft, und beide kommunikativen Akte entwickeln erst zusammen ihre maximale Wirkung. Für die dramatische Wirkung entscheidend ist nun die Tatsache, dass eine derart kommunikativ funktionalisierte Trugrede natürlich auch ein Ein‐ geständnis einer Aporie ist. Denn indem Aias sich dafür entscheidet, sich dieses Mittels zu bedienen, verzichtet er darauf, sich auf die Kraft seiner Argumente zu verlassen: Das Dilemma, welches das erste Epeisodion geprägt hatte, kann er offenbar nicht ohne ein äußeres Mittel, eben das Mittel des Suizids, durchbrechen. Dadurch wird die eben beschriebene Situation, dass Tekmessa einer offenen Reaffirmation seines Standpunktes erneut einfach eine des ihren entgegensetzen könnte, festgeschrieben: Aias hat offensichtlich nicht den Eindruck, er habe noch ein argumentatives Ass im Ärmel. Die Trugrede ist also eine Reaktion des Aias auf eine Situation, die geprägt ist von einem Dilemma, das auch er als unüberwindbar wahrnimmt, in ihrer Form bleibt Tekmessas Widerspruch sozusagen konserviert. Dass dieser Situation eine Tragik innewohnt, liegt auf der Hand. Denn Aias hat sich offenbar damit abgefunden, dass er zuerst sterben muss, um von seinen philoi verstanden zu werden: Die anfängliche, sich alleine auf die philia-Beziehung abstützende Aufforderung an den Chor, dieser möge ihm beim Suizid helfen (vv. 348-353 und 356-361), scheint weit entfernt. Es sind offenbar nicht nur der unbarmherzige Telamon und die feindlichen Griechen, denen gegenüber er erst im Tod seinen Heroismus behaupten kann, es sind seine eigenen treuen Kampfgenossen. Auf diese Weise führt Sophokles die Zuschauer besonders durch die auf den ersten Blick kuriose Form, in die er Aias seine Rede hat kleiden lassen und die bis jetzt in ihrer dramatischen Funktionalisierung nicht befriedigend hat erklärt werden können, zurück zum unüberwindbaren Dilemma statt zu einer simplen Auflösung. 2.3.3 Die Prophezeiung des Kalchas: die göttliche Perspektive Auf diese Weise nutzt Sophokles die Rhetorik der Involvierung, um den Zuschauern eindringlich vor Augen zu führen, dass man in der Frage nach der angemessenen Reaktion auf den suizidalen Aias nicht über das Dilemma hinauskommt, das durch die Kontrastierung der Perspektiven des Aias auf der einen und seiner philoi auf der anderen Seite geschaffen wird. Die darin liegende Ambiguität ist die Antwort auf die Frage nach der Beurteilung des Aias, mit der die Zuschauer am Ende des Prologs zurückgelassen worden waren. Aufgeworfen worden war diese Frage dort durch den Einsatz der Perspektive der Athene, die den Zuschauern Aias’ extremistischen Heroismus erschlossen hatte, 74 2 Der Aias <?page no="75"?> aus dem sich dieses Dilemma notwendig ergibt. Den Rückbezug auf das Ende des Prologs stellt Sophokles nun, nach einem kurzen Lied des Chors, in dem sich dieser über den ‚Sinneswandel‘ seines Herrn gefreut hat, her, indem er die dort von Athene beigebrachte Information - Aias hat einstmals ein „hochmütiges Wort“ wider die Götter gesprochen und sich so den Zorn der Göttin zugezogen - in bis jetzt noch nicht erreichter Deutlichkeit bestätigt. Auf diese Weise schließt er gewissermaßen die am Ende des Prologs geöffnete Klammer und schließt so die bisherige Stückhandlung, bestehend aus zwei Handlungsbogen, ab. Sophokles lässt nämlich einen Boten aus dem Feldlager auftreten, der mitteilt, was der Seher Kalchas dort gesagt hatte: Aias müsse unbedingt in der Hütte bleiben, in die er nach der Trugrede allerdings gar nicht zurückgekehrt war; schaffe er dies bis zum Abend, entkomme er Athenes Zorn, andernfalls aber sei er verloren. Wichtig sind nun die Gründe, die Kalchas für diesen Zorn angeführt hatte (vv. 758-775): τὰ γὰρ περισσὰ κἀνόητα σώματα πίπτειν βαρείαις πρὸς ϑεῶν δυσπραξίαις ἔφασχ’ ὁ μάντις, ὅστις ἀνϑρώπων φύσιν 760 βλαστὼν ἔπειτα μὴ κατ’ ἄνϑρωπον φρονῇ. κεῖνος δ’ ἀπ’ οἴκων εὐϑὺς ἐξορμώμενος ἄνους καλῶς λέγοντος ηὑρέϑη πατρός. ὁ μὲν γὰρ αὐτὸν ἐννέπει, „τέκνον, δορὶ βούλου κρατεῖν μέν, σὺν ϑεῷ δ’ ἀεὶ κρατεῖν.“ 765 ὁ δ’ ὑψικόμπως κἀφρόνως ἠμείψατο, „πάτερ, ϑεοῖς μὲν κἂν ὁ μηδὲν ὢν ὁμοῦ κράτος κατακτήσαιτ’· ἐγὼ δὲ καὶ δίχα κείνων πέποιϑα τοῦτ’ ἐπισπάσειν κλέος.“ τοσόνδ’ ἐκόμπει μῦϑον. εἶτα δεύτερον 770 δίας Ἀϑάνας, ἡνίκ’ ὀτρύνουσά νιν ηὐδᾶτ’ ἐπ’ ἐχϑροῖς χεῖρα φοινίαν τρέπειν, τότ' ἀντιφωνεῖ δεινὸν ἄρρητόν τ' ἔπος· „ἄνασσα, τοῖς ἄλλοισιν Ἀργείων πέλας ἵστω, καϑ’ ἡμᾶς δ’ οὔποτ’ ἐνρήξει μάχη.“ 775 Übergroße und unverständige Leiber stürzen durch schweres Unglück, das die Götter senden [760] - so sprach der Seher -, wenn einer, obwohl als Mensch geboren, nachher mehr als Menschengemäßes denkt. Jener erwies sich, direkt nach seinem Aufbruch von zuhause, als töricht gegenüber seinem Vater, als dieser ihm einen guten Ratschlag gab. Dieser nämlich sprach: „Kind, im Kampf [765] wolle überlegen sein, aber immer nach dem Willen eines Gottes.“ Er aber erwiderte, dumm und unverständig: „Vater, 75 2.3 Der zweite Handlungsbogen: die Lösung, die keine ist <?page no="76"?> zusammen mit den Göttern könnte auch ein Niemand einen Sieg erringen; ich aber bin überzeugt, dass ich auch ohne diese Ruhm erlangen werde.“ [770] Solch arrogante Worte machte er. Und dann, ein zweites Mal, als die Göttin Athene ihn ermutigte und anwies, die mordende Hand gegen Feinde zu wenden, hielt er ihr ein furchtbares und unsägliches Wort entgegen: „Herrin, den anderen der Argiver [775] stehe bei, bei mir aber wird das Kampfgeschehen nie durchbrechen.“ Darin bestätigt sich die von Athene suggerierte ‚Torheit‘ des Aias, der ein „hochmütiges Wort“ wider die Göttin gesprochen hat (vgl. ὑψικόμπως 766 und δεινὸν ἄρρητόν τ’ ἔπος 773 neben ὑπέρκοπον […] ἔπος 127 f. sowie κἀνόητα 758, ἄνους 763 und κἀφρόνως 766 neben τοὺς […] σώφρονας 132). Entscheidend ist, dass dabei auch deutlich wird, dass es genau Aias’ Heroismus war, der bei diesem Verhalten Pate stand: Aias denkt, er könne auch ohne die Göttin „Ruhm“ (κλέος 769) erlangen, ja sieht durch ihre Hilfsangebote seinen herausragenden Status angegriffen - in der Tat ein Heroismus, der ins Extrem getrieben wird (beachte das Übergröße ausdrückende περισσὰ 758) und sich so ins Negative wendet. Die Göttin Athene hatte also im Prolog - natürlich - ‚Recht‘. Entscheidend ist nun aber, was zwischen dem Prolog und dem Botenbericht, gewissermaßen zwischen der dort geöffneten und hier geschlossenen Klammer, geschehen ist: Dort hat Sophokles über zwei Handlungsbogen die Zuschauer darauf hingewiesen, dass eine simple Verurteilung des Aias entlang den von Athene im Prolog vorgegebenen Linien keine angemessene menschliche Reaktion auf Aias ist. Diese Reaktion besteht vielmehr darin, die Ambiguität dieser ‚übergroßen‘ Figur anzuerkennen. 2.4 Der dritte Handlungsbogen: der Tod eines Helden Diese Ambiguität bleibt auch im weiteren Verlauf der Handlung greifbar, allerdings auf eine ganz spezifische Weise. Der auf den Botenbericht folgende Handlungsbogen ist nämlich von einer Entwicklung gekennzeichnet, in deren Rahmen Aias’ philoi, nachdem dieser seinen Suizid vollzogen hat, die Perspek‐ tive ihres Herrn übernehmen: Aias habe durch diese Tat sein wahres Wesen verwirklicht. Auf diese Weise formuliert Sophokles auf den ersten Blick eine Einladung zum ‚hero-worshipping‘, und es scheint, als sei die über die ersten beiden Handlungsbogen entwickelte Spannung nur dazu da gewesen, um ganz am Ende, und desto deutlicher, im Sinne des Aias überwunden zu werden. Tat‐ sächlich aber ist die sophokleische ‚Botschaft‘ nuancierter. Der Dichter macht nämlich deutlich, dass Aias zuerst sterben musste, um diese uneingeschränkte Ratifikation seines heroischen Anspruchs durch seine philoi - und damit auch 76 2 Der Aias <?page no="77"?> 139 Vgl. Gardiner 1987, 67. durch die Zuschauer - zu erlangen. Damit erscheint die Ambiguität des Aias, welche die ersten beiden Handlungsbogen geprägt hat, in der Bewunderung für einen Aias, der sich bis zum Äußersten treu bleibt, aufgehoben, aber nicht überwunden: Der problematische soziale Status dieser ‚übergroßen‘ Figur tritt dadurch nur noch deutlicher hervor, dass diese die sie umgebende Gemeinschaft erst verlassen musste, um in dieser ‚anzukommen‘. 2.4.1 Die Suche der philoi: die Hoffnung stirbt zuletzt In den Dienst dieser Entwicklung stellt Sophokles dabei erneut die Rhetorik der Involvierung. Denn der Botenbericht markiert nicht nur den Abschluss der ersten zwei Handlungsbogen, er bietet auch - ganz ähnlich wie das erste Stasimon am Ende des ersten Handlungsbogens - den Ansatzpunkt für erneutes Engagement. Beim ersten Stasimon hatte diese Tatsache auf dem unerwarteten lebendigen Erscheinen des Aias beruht, wo eine einfache Lösung im Sinne der philoi plötzlich nicht nur grundsätzlich wünschenswert, sondern denkbar erschien. Beim Botenbericht zeigt sich nun eine ähnliche Entwicklung. Denn die philoi geben jetzt, wo Aias’ Suizidabsicht auch für sie feststeht, nicht auf, sondern vereinen ihre Kräfte und gehen ab, um die Katastrophe zu verhindern, stellen sich also einer gemeinsamen Herausforderung, von der nicht ausgeschlossen ist, dass sie sie bewältigen können. Denn immerhin hat Sophokles mit Aias’ lebendigem Erscheinen nach dem ersten Stasimon schon einmal gezeigt, dass man sich als Zuschauer nicht allzu behaglich einrichten sollte im Gefühl der Überlegenheit gegenüber Aias’ philoi in ihrem eisernen Festhalten an der ‚Heilbarkeit‘ ihres Herrn, 139 und Aias ist jetzt außerhalb der Hütte, seinen philoi also sogar zugänglicher als hinter der verschlossenen Hüttentüre. Natürlich wissen die Zuschauer, dass Aias am Ende sterben wird, und können ahnen, dass Sophokles ‚bloß‘ retardiert, doch hier liegt ein Fall der ‚Involvierung wider besseres Wissen‘ vor, wie sie oben 1.5.1.1 beschrieben worden ist: Die Konvergenz der Perspektiven von Tekmessa und dem Chor im Versuch, die Katastrophe zu verhindern, birgt ein Potential, die Zuschauer zu engagieren, und zwar wiederum für eine einfache Lösung, durch die sich die davor affirmierte Ambiguität der Situation mit einem Schlag bequem in Luft auflösen würde. Denn die Basis des Bemühens der philoi ist natürlich, wie eben bereits angeklungen, dass sie an ihrem Maßstab festhalten, dass also die Trugrede nicht verfangen hat in der kommunikativen Intention, ihre Zuhörer erkennen zu lassen, dass Aias unmöglich anders handeln könne. Entsprechend 77 2.4 Der dritte Handlungsbogen: der Tod eines Helden <?page no="78"?> 140 Die genauen Umstände von Aias’ Suizid sind umstritten (für eine Sammlung von Studien zum Thema siehe Most/ Ozbek 2015); diese sind hier allerdings nicht eigentlich entscheidend, zumal, wie Zeppezauer (2011, 211-213) argumentiert hat, die emotionale Wirkung dieser Abschiedsrede (zu dieser siehe unten) so stark ist, dass die Zuschauer den Eindruck gewinnen konnten, sie sähen Aias ins Schwert stürzen, auch wenn dies nicht der Fall war (so bereits Seale [1982, 165]). überrascht es nicht, dass Tekmessa unmittelbar vor dem Abgang diese Position noch einmal affirmiert (vv. 808 f.): ἔγνωκα γὰρ δὴ φωτὸς ἠπατημένη 808 καὶ τῆς παλαιᾶς χάριτος ἐκβεβλημένη. [808] Ich erkenne nämlich, dass ich vom Mann betrogen worden bin und aus der alten Gunst ausgestoßen. Sie fühlt sich also „betrogen“, statt anzuerkennen, dass Aias mit der Trugrede sein eigentliches Wesen offenbart habe, und sieht in Aias’ Suizidalität immer noch eine Abweichung von dessen angestammtem Wesen, mit der er ihr die vertraute, „alte Gunst“ jetzt plötzlich verweigert (vgl. v. 522). Gelänge es den philoi nun, Aias rechtzeitig zu erreichen und irgendwie von seinem Plan abzubringen, dann hätte sich mit ihnen auch ihre Wahrnehmung der Situation durchgesetzt, Aias hätte sich ‚heilen‘ lassen und wäre von seinem Irrweg abgekommen. Für diese einfache Lösung werden die Zuschauer mit dem Abgang von Aias’ philoi zu ihrer Rettungsmission engagiert. 2.4.2 Der Abschiedsmonolog des Aias Doch natürlich (? ) kommt es anders. Aias erscheint alleine auf der Bühne, nach wie vor entschlossen zum Suizid, und hält seinen Abschiedsmonolog, bevor er sich - auf offener Bühne oder in irgendeiner Weise vor den Blicken der Zuschauer abgeschirmt 140 - in sein Schwert stürzt. An diese Szene sind die Zuschauer, wie eben gesagt, herangeführt worden, indem sie zur Hoffnung veranlasst wurden, ein Suizid möge verhindert werden. Auf den ersten Blick also handelt es sich hier um ein ‚unhappy ending‘. Tatsächlich aber hat Sophokles alles unternommen, um dieser Wahrnehmung entgegenzuwirken, so dass Aias’ Suizid im Gegenteil als der Punkt erscheint, auf den die ganze Handlung - auch die, wie sich jetzt zeigt, falsche, ja etwas kleinmütige Hoffnung auf eine ‚Normalisierung‘ - im Rückblick zugelaufen ist, und zwar als Geschichte eines Mannes, der zu groß war für diese Welt und darum in ihr nicht bleiben konnte, wenn er seinen Frieden finden wollte. Hat er diese dann, im Suizid am Ende seiner Rede, endlich verlassen, so erscheint das zentrale Dilemma des Stücks 78 2 Der Aias <?page no="79"?> 141 Vgl. Zeppezauer 2011, 211 mit Anm. 548. 142 Lloyd-Jones und Wilson (1990a) athetieren nach v. 838 vier und nach v. 853 fünf Verse. überwunden - nicht durch eine intellektuelle Synthese und schon gar nicht durch eine simple Auflösung im Sinne der philoi, sondern im Gegenteil durch die schiere Kraft von Aias’ Abschiedsszene, die den Gedanken gar nicht aufkommen lässt, dass irgendein anderer Ausgang wünschenswert gewesen wäre als genau der, den Sophokles hier verwirklicht hat. Kurzum, ‚hero-worshipping‘ ist nir‐ gendwo so einfach wie in dieser Szene. Dass dies die von Sophokles intendierte Zuschauerreaktion ist, legt zunächst die Tatsache nahe, dass er sich hier für eine Anlage entschieden hat, die in den erhaltenen Tragödien einzigartig ist: An keiner anderen Stelle werden die Zuschauer direkte Zeugen eines Abschiedsmonologs, 141 hier aber hat sich Sophokles entschieden, Aias’ Perspektive maximal in den Fokus zu rücken, einen Fokus zumal, den er mit niemandem sonst teilt, wenn er, vollkommen alleine auf der Bühne stehend, seine Rede hält. Doch auch die Rede selbst - und nicht nur die Umstände ihrer Darbietung - zielt denkbar deutlich darauf ab, die Zuschauer Aias’ Perspektive übernehmen zu lassen (vv. 821-823, 826-830, 831-844 und 852-865 142 ): ἔπηξα δ’ αὐτόν [sc. das Schwert im Boden] εὖ περιστείλας ἐγώ, 821 εὐνούστατον τῷδ’ ἀνδρὶ διὰ τάχους ϑανεῖν. οὕτω μὲν εὐσκευοῦμεν […] πέμψον [sc. ὦ Ζεῦ] τιν’ ἡμῖν ἄγγελον, κακὴν φάτιν Τεύκρῳ φέροντα, πρῶτος ὥς με βαστάσῃ πεπτῶτα τῷδε πέρι νεορράντῳ ξίφει. καὶ μὴ πρὸς ἐχϑρῶν του κατοπτευϑεὶς πάρος ῥιφϑῶ κυσὶν πρόβλητος οἰωνοῖς ϑ’ ἕλωρ. 830 […] καλῶ δ’ ἅμα πομπαῖον Ἑρμῆν χϑόνιον εὖ με κοιμίσαι, ξὺν ἀσφαδᾴστῳ καὶ ταχεῖ πηδήματι πλευρὰν διαρρήξαντα τῷδε φασγάνῳ. καλῶ δ’ ἀρωγοὺς τὰς ἀεί τε παρϑένους 835 ἀεί ϑ’ ὁρώσας πάντα τἀν βροτοῖς πάϑη, σεμνὰς Ἐρινῦς τανύποδας, μαϑεῖν ἐμὲ πρὸς τῶν Ἀτρειδῶν ὡς διόλλυμαι τάλας. ἴτ’, ὦ ταχεῖαι ποίνιμοί τ’ Ἐρινύες, γεύεσϑε, μὴ φείδεσϑε πανδήμου στρατοῦ. […] ἀλλ’ οὐδὲν ἔργον ταῦτα ϑρηνεῖσϑαι μάτην· 852 79 2.4 Der dritte Handlungsbogen: der Tod eines Helden <?page no="80"?> 143 Vgl. dazu und zum Folgenden Zeppezauer 2011, 211. 144 Vgl. die eindringlichen Beschreibungen von Reinhardt ( 4 1976, 36 f.) oder Win‐ nington-Ingram (1980, 55). ἀλλ’ ἀρκτέον τὸ πρᾶγμα σὺν τάχει τινί. ὦ φέγγος, ὦ γῆς ἱερὸν οἰκείας πέδον Σαλαμῖνος, ὦ πατρῷον ἑστίας βάϑρον, κλειναί τ’ Αϑῆναι, καὶ τὸ σύντροφον γένος, κρῆναί τε ποταμοί ϑ’ οἴδε, καὶ τὰ Τρωικὰ πεδία προσαυδῶ, χαίρετ’, ὦ τροφῆς ἐμοί· τοῦϑ’ ὑμὶν Αἴας τοὔπος ὕστατον ϑροεῖ, τὰ δ’ ἄλλ’ ἐν Ἅιδου τοῖς κάτω μυϑήσομαι. 865 [821] Gut befestigt habe ich es [sc. das Schwert im Boden] und ringsum abgesichert, damit es diesem Mann den guten Dienst eines schnellen Todes erweisen kann. So bin ich gut vorbereitet […] Sende aber [sc. o Zeus] einen Boten, damit dieser Teuker die schlimme Nachricht überbringe und dieser mich als Erster hochhebe, wenn ich in dieses blutbenetzte Schwert gestürzt bin. Und nicht, von einem der Feinde davor erspäht, [830] möge ich Hunden und Raubvögeln als Beute zum Fraß vorgeworfen werden. […] Zugleich rufe ich den chthonischen Hermes an, den Geleiter, damit er gut über mich wache, wenn ich mit entschiedenem und schnellem Sprung mir mit diesem Schwert die Seite durchbohrt habe. [835] Ebenso rufe ich als Helferinnen an die ewigen Jungfrauen, die immer alle Leiden unter den Sterblichen sehen, die ehrwürdigen, weit ausschreitenden Erinyen, dass sie von mir erfahren möchten, wie ich elend zugrunde gehe wegen der Atriden. Kommt, o schnell strafende Erinyen, haltet Euch schadlos und schont nicht das gesamte Heer! […] [852] Aber es bringt nichts, dies sinnlos zu bejammern; die Sache ist vielmehr zügig zu erledigen. O Licht, o heiliges Land der Heimaterde, Salamis, o Sitz des väterlichen Herds, und Du, berühmtes Athen und das verwandte Geschlecht, Ihr Quellen hier und Flüsse und das troische Land, Euch alle rufe ich an, lebt wohl, die Ihr mich genährt habt! Dies ist das letzte Wort, das Aias zu Euch spricht, [865] den Rest aber werde ich im Hades denen in der Unterwelt berichten. Ein bezeichnendes Detail ist, dass Aias sich in seinen abschließenden Apo‐ strophen unter anderem an das „berühmte Athen“ wendet, so dass sich die Zuschauer von ihm unmittelbar angesprochen fühlen konnten. 143 Ebenso ver‐ leiht ihre Länge der Rede eine besondere Eindringlichkeit. Ferner erwähnt Aias die philoi an keiner Stelle, so dass die Zuschauer nicht angehalten werden, an die Konsequenzen zu denken, die Aias’ Suizid für diese hat. Entscheidend aber ist die Stimmung, die sie schafft: 144 Aias gibt, beinahe aufgeräumt, im 80 2 Der Aias <?page no="81"?> 145 Sicherl 1970, 26. 146 Vgl. Finglass 2011, ad vv. 843f.: „[M]utual hostility explains, but hardly justifies, his bitter desire for mass carnage.“ vollen Bewusstsein dessen, was er da tut - beachte die plastische proleptische Darstellung seines Leichnams in den vv. 828 und 834 -, mit sich selbst gänzlich im Reinen und ohne jedes Selbstmitleid die „Eintrittskarte“ 145 zu einer Welt zurück, in der ihn nichts mehr hält; er räsoniert und argumentiert nicht mehr, er soll nicht mehr beurteilt werden, vielmehr kann man das, was er tut, nur noch akzeptieren und sich von der ruhigen Entschlossenheit beeindrucken lassen, mit der er hier verwirklicht, was ohne Zweifel sein wahres Wesen ist. Dass er dabei ganz der Alte bleibt, wenn er in den vv. 843 f. um die Vernichtung des gesamten griechischen Heeres betet, also den Plan, die Anführer der Griechen zu töten, in seiner letzten Stunde noch radikalisiert, 146 tut diesem Eindruck keinen Abbruch, im Gegenteil: Aias ist der, der er schon immer gewesen ist, doch dass es für ihn keinen Platz gibt in dieser Welt, ist eher ein Grund für die melancholische Feststellung, dass es nun einmal Menschen gibt, die zu groß sind, um ihren Platz zu finden, als kleinlich mit Athene auf Aias’ ‚Torheit‘ und „Schlechtigkeit“ zu insistieren. Mit dieser ‚Botschaft‘, so scheint es, kommt der Handlungsbogen und damit das gesamte bisherige Stück an ein Ende, effektiv markiert durch den Vollzug des Suizids. 2.4.3 Die Reaktion der philoi Tatsächlich aber endet der dritte Handlungsbogen nicht mit dieser Szene, vielmehr konfrontiert Sophokles die Zuschauer im Anschluss daran mit der Reaktion der philoi, deren Perspektive davor, wie oben 2.4.2 gesagt, aus dem Stück ferngehalten worden war. Diese finden die Leiche auf und sind am Boden zerstört (vv. 896, 900-903 und 944 f.): . οἴχωκ’, ὄλωλα, διαπεπόρϑημαι, φίλοι. 896 […] . ὤμοι ἐμῶν νόστων· 900 ὤμοι, κατέπεφνες, ἄναξ, τόνδε συνναύταν, τάλας· ὢ ταλαίφρων γυνή. […] . οἴμοι, τέκνον, πρὸς οἷα δουλείας ζυγὰ χωροῦμεν, οἷοι νῷν ἐφεστᾶσι σκοποί. 945 81 2.4 Der dritte Handlungsbogen: der Tod eines Helden <?page no="82"?> 147 Vgl. Finglass 2011, ad vv. 879/ 880-973. [896] e . Ich bin zerstört, vernichtet, zerschmettert, Freunde! […] [900] r Oh weh, meine Heimreise; oh weh, Du hast getötet, Herr, diesen Seekampfgefährten hier, Du Elender; o arme Frau! […] e . Oh weh, Kind, zu was für Sklavenjochen [945] gehen wir, was für Wächter bedrücken uns! Dass sie in dieser Situation verzweifelt nach Erklärungen und auch nach Schuldigen suchen, ist durchaus nachvollziehbar und verstärkt den Eindruck ihrer Hilflosigkeit; 147 auffällig ist jedoch, wem sie Schuld zuschreiben und wem nicht (vv. 909-912, 925-932 und 946-960): . ὤμοι ἐμᾶς ἄτας, οἶος ἄρ’ αἱμάχϑης, ἄφαρκτος φίλων· 910 ἐγὼ δ’ ὁ πάντα κωφός, ὁ πάντ’ ἄιδρις, κατημέλησα. […] ἔμελλες, τάλας, ἔμελλες χρόνῳ 925 στερεόφρων ἄρ’ ἐξανύσσειν κακὰν μοῖραν ἀπειρεσίων πόνων· τοῖά μοι πάννυχα καὶ φαέϑοντ’ ἀνεστέναζες ὠμόφρων 930 ἐχϑοδόπ’ Ἀτρείδαις οὐλίῳ σὺν πάϑει. […] ὤμοι, ἀναλγήτων δισσῶν ἐϑρόησας ἄναυδ’ ἔργ’ Ἀτρειδᾶν τῷδ’ ἄχει [sc. ὦ Τέκμησσα]. ἀλλ’ ἀπείργοι ϑεός. . οὐκ ἂν τάδ’ ἔστη τῇδε μὴ ϑεῶν μέτα. 950 . ἄγαν ὑπερβριϑές γε τἄχϑος ἤνυσαν. . τοιόνδε μέντοι Ζηνὸς ἡ δεινὴ ϑεὸς Παλλὰς φυτεύει πῆμ’ Ὀδυσσέως χάριν. . ἦ ῥα κελαινώπᾳ ϑυμῷ ἐφυβρίζει 955 πολύτλας ἀνήρ, γελᾷ δὲ τοῖσδε μαινομένοις ἄχεσιν πολὺν γελῶτα, φεῦ, ξύν τε διπλοῖ βασιλῆς κλύοντες Ατρεῖδαι. 960 r O weh ob meiner Verblendung, alleine bist Du verwundet worden, [910] nicht beschirmt von Freunden; ich aber, ganz taub, ganz unwissend, habe mich 82 2 Der Aias <?page no="83"?> 148 Vgl. Reitze 2017, 229 zum Bezug von ἄφαρκτος φίλων 910 auf Aias’ Bitte unmittelbar nach seinem ersten Erscheinen, die Mitglieder des Chors als seine philoi möchten ihm dabei helfen, sich zu töten (vv. 348-355 und 356-361, vgl. oben 2.2.4). nicht gekümmert. […] [925] Du musstest, Unglücklicher, Du musstest mit der Zeit unbeugsam das schlimme Schicksal vollenden unter unsäglichen Mühen. Solche Klagen hast Du mir Nacht und Tag [930] stöhnend kundgetan, wild in Deiner Sinnesart, voller Hass auf die Atriden, in Deinem furchtbaren Leiden! […] Oh weh, Du [sc. o Tekmessa] hast beklagt die unsäglichen Taten der beiden ruchlosen Atriden in diesem Schmerzensschrei! Aber ein Gott möge das abwenden! [950] e . Dies wäre nicht geschehen, wenn nicht die Götter ihre Hand im Spiel gehabt hätten. r Eine allzu große Last haben sie auferlegt. e . Ein solches Leid hat die Tochter des Zeus, die schreckliche Göttin Pallas, vollendet um des Odysseus willen. [955] r Ja, es höhnt in seiner schwarzen Seele der vielduldende Mann, er lacht über diese rasenden Schmerzen ein lautes Lachen, pheu pheu, und zusammen mit ihm die beiden Könige, [960] wenn sie es hören, die Atriden. Schuld sind also alle, alle außer einem: Aias selbst. Darin liegt eine prononcierte Abkehr von der Reaktion, welche die philoi davor immer gezeigt hatten: Hatten sie sich unmittelbar vor Aias’ Abschiedsmonolog - und sogar unmittelbar vor der Auffindung des Leichnams - noch bemüht, den Suizid zu verhindern, so bedauern sie nun nicht, dass ihnen dies nicht gelungen ist, sondern, dass Aias sich ohne ihre Unterstützung umgebracht hat (vv. 909 f.); 148 sie sehen sich nicht mehr „betrogen“ (vgl. vv. 808 f. ), sondern bedauern ihre ‚Dummheit‘, die sie die Zeichen nicht erkennen ließ (vv. 911-914); sie sehen im Suizid nicht mehr eine Abweichung von Aias’ angestammtem Wesen, sondern dessen Vollendung (vv. 925-932); sie beschuldigen, neben sich selbst, die Atriden und Athene (vv. 946- 960), statt sich auf den Standpunkt zu stellen, dass Aias’ Suizid zumindest auch ein Produkt der ‚Unvernunft‘ ihres Herrn sei. Kurzum, die philoi übernehmen Aias’ Perspektive vollständig. Diese Konvergenz verstärkt auf den ersten Blick die Einladung zum ‚hero-worshipping‘, die Sophokles im Abschiedsmonolog formuliert hatte. Es scheint also, als könne man sich der Feststellung nicht entziehen, dass die ganze davor entwickelte Ambiguität nur dazu da gewesen ist, um am Ende im Sinne des Aias überwunden zu werden. Dies ist nicht ganz falsch: Sophokles hat sich offenbar tatsächlich entschieden, die Zuschauer zum Ende besonders auf Aias’ ‚Größe‘ hinzuweisen. Zugleich aber bleibt in der Auffindungsim Unterschied zur Suizidszene die Erinnerung daran gewahrt, dass diese Größe eine ‚Übergröße‘ war, die ein grundsätzliches soziales Problem darstellt. Die Erinnerung an diese Problematik leistet Sopho‐ kles hier, indem er das Konvergieren der Perspektive der philoi mit derjenigen 83 2.4 Der dritte Handlungsbogen: der Tod eines Helden <?page no="84"?> 149 Die vv. 966-968 sind aus v. a. sprachlichen Gründen verschiedentlich athetiert worden (so von Reeve [1973, 160 f.] oder Finglass [2011, siehe ad vv. 966 f.]). Es ist tatsächlich denkbar, dass ein Interpolator die Reaktion auch der Tekmessa noch deutlicher als Glücken der Trugrede darstellen wollte, doch dieser Eindruck bleibt auch gewahrt, wenn man die Verse tatsächlich athetiert. ihres Herrn als Glücken der Trugrede darstellt (vv. 646-649 und 925-927 sowie 684-686 und 966-968 149 ): Α . ἅπανϑ’ ὁ μακρὸς κἀναρίϑμητος χρόνος 646 φύει τ’ ἄδηλα καὶ φανέντα κρύπτεται· κοὐκ ἔστ’ ἄελπτον οὐδέν, ἀλλ’ ἁλίσκεται χὠ δεινὸς ὅρκος χαἰ περισκελεῖς φρένες. […] . ἔμελλες, τάλας, ἔμελλες χρόνῳ 925 στερεόφρων ἄρ’ ἐξανύσσειν κακὰν μοῖραν ἀπειρεσίων πόνων Α . […] σὺ δὲ ἔσω ϑεοῖς ἐλϑοῦσα διὰ τέλους, γύναι, 685 εὔχου τελεῖσϑαι τοὐμὸν ὧν ἐρᾷ κέαρ. […] . […] ἐμοὶ πικρὸς τέϑνηκεν ᾗ κείνοις [sc. τοῖς Ἀτρείδαις καὶ τῷ Ὀδυσσεῖ] γλυκύς, 966 αὑτῷ δὲ τερπνός· ὧν γὰρ ἠράσϑη τυχεῖν ἐκτήσαϑ’ αὑτῷ, ϑάνατον ὅνπερ ἤϑελεν. [646] Ai. Alles, was unsichtbar ist, bringt die große unzählbare Zeit zum Vorschein, und verbirgt, was sichtbar ist; mit allem muss man rechnen, und auch der mächtige Schwur wird gebändigt und der starre Geist. […] [925] r Du musstest, Unglück‐ licher, Du musstest mit der Zeit unbeugsam das schlimme Schicksal vollenden unter unsäglichen Mühen Ai. Du aber [685] geh hinein, Frau, und ohne Unterlass zu den Göttern bete, dass vollendet werde, was mein Herz begehrt. […] e . […] [966] Für mich ist der Tod von ihm so bitter wie für jene [sc. für die Atriden und Odysseus] süß, für ihn selbst aber erfreulich; wovon er nämlich begehrte, dass er es erlange, dies hat er sich verschafft, den Tod, den er wollte. Αias hatte in der Trugrede gesagt, dass die Zeit alle Wunden heile, aber gemeint, dass dies genau nicht der Fall sei; Aias hatte Tekmessa dort aufgetragen, darum 84 2 Der Aias <?page no="85"?> 150 Zu diesem Bezug vgl. Sicherl 1970, 27; in τερπνός 967 liegt natürlich ferner die Erkenntnis, dass Aias Recht gehabt habe, wenn er in den vv. 475 f. behauptet hatte, „Freude“ nur im Tod finden zu können, und eine Absage Tekmessas an ihr Gegenargu‐ ment, das sie auf die Reziprozität der Freude abstützte (vgl. oben 2.2.4.1). zu beten, dass sich erfülle, was sein Herz „begehrt“ (ἐρᾷ 686), und damit seinen Tod gemeint. Dies erkennen die philoi nun, wenn der Chor sagt, dass es unausweichlich gewesen sei, dass Aias sich „mit der Zeit“ (χρόνῳ 925) umbringen würde, und Tekmessa ausspricht, dass Aias’ Tod sei, was dieser schon immer „begehrt“ habe (ἠράσϑη 967). 150 Nun ist oben 2.3.2 aber gezeigt worden, dass die Trugrede in ihrer Form ein Produkt der Situation war, in der sich Aias befand: Ein Räsonnement allein konnte nicht genügen, um seine philoi zu überzeugen, sondern musste mit der symbolischen Kraft des physischen Akts des Suizids kombiniert werden. Aias musste also, um seinen heroischen Anspruch zu verwirklichen, zuerst sterben. Dies nuanciert nun auch die Reak‐ tion, zu welcher der Abschiedsmonolog die Zuschauer eingeladen hatte: Dessen Wirkung wäre nicht in der oben 2.4.2 beschriebenen Weise eindeutig gewesen, hätte Sophokles dort nicht die symbolische Kraft des (mehr oder weniger) direkt vor den Augen der Zuschauer vollzogenen Suizids genutzt - und letztlich nicht die Kraft des besseren Arguments. Wenn die philoi hier also Aias’ Perspektive übernehmen und Sophokles die Zuschauer so zum ‚hero-worshipping‘ einlädt, dann werden diese zugleich daran erinnert, dass die grundsätzliche Ambiguität der Figur Aias im Akt der Bewunderung für deren Größe aufgehoben, aber nicht überwunden ist: Eine Handlungsanleitung im Hinblick auf den angemessenen sozialen Umgang mit solchen Menschen hat die bisherige Stückentwicklung gerade nicht geliefert. Die ersten beiden Handlungsbogen haben vielmehr gezeigt, dass die distanzierte Feststellung von Aias’ extremistischem Heroismus eine solche nicht bietet, und der dritte Handlungsbogen macht deutlich, dass die - letztlich auch distanzierte, da nur über die Grenze von Leben und Tod hinweg mögliche - Bewunderung eines solchen extremistischen Heroismus dies ebenso wenig tut. Der Hinweis auf eine unüberwindbare Grundspannung zwischen dem herausragenden Individuum Aias und der dieses umgebenden und von diesem abhängigen Gemeinschaft ist also die eigentliche ‚Botschaft‘ des bisherigen Stückverlaufs, an die Sophokles die Zuschauer durch die Rhetorik der Involvierung herangeführt hat und mit der diese nun, im Anblick von Aias’ Leichnam, zurückbleiben. 85 2.4 Der dritte Handlungsbogen: der Tod eines Helden <?page no="86"?> 151 Vgl. Heath 1987, 196 sowie zu den Effekten dieser Vorausblicke auf der Ebene der Sympathielenkung unten 2.5.1. 152 Zum Beispiel von Knox (1961, 27), Stanford (1963, xlv), Winnington-Ingram (1980, 61 f.) oder Lefèvre (2001, 63 f.); dabei ist der Schwerpunkt aber - insbesondere von Knox und Winnington-Ingram und nicht zurecht, wie hier zu zeigen sein wird - darauf gelegt worden, dass Teuker, wenn er sich auf das Niveau der Atriden hinabbegebe, als Negativfolie zum ‚großen‘ Aias fungiere (so z. B. auch Holt [1981, 281-288] oder Taplin [ 2 2003, 149]). 153 Vgl. Ringer 1998, 47. 2.5 Der vierte Handlungsbogen: die Fortschreibung der Spannung Der weiteren Einschärfung dieser nuancierten ‚Botschaft‘ ist auch der Rest des Aias gewidmet, in dem Aias’ Halbbruder Teuker den Leichnam der Titelfigur gegen die Versuche der Atriden verteidigt, eine Bestattung zu verhindern. Die eben diskutierte Reaktion der philoi auf Aias’ Suizid war nämlich keine eigentliche Ruhestelle gewesen, vielmehr hatte sich dort, mit der Klage über das Triumphieren von Aias’ Feinden, bereits die kommende Auseinandersetzung angekündigt. 151 In dieser Auseinandersetzung nun schreibt Sophokles die im Akt von Aias’ Suizid aufgehobene, aber nicht überwundene Spannung fort, wenngleich in einem anderen ‚Phänotyp‘. Dass Teuker bis zu einem gewissen Grade als Substitut des Aias fungiert, ist verschiedentlich erkannt worden, 152 möglicherweise unterstützt durch die Tatsache, dass beide Figuren von der‐ selben Person gespielt wurden. 153 Entscheidend für die hier vorzunehmende Darstellung ist aber die Erkenntnis, dass Teukers Agieren in einer ähnlichen Spannung steht wie dasjenige des Aias. In der ersten Stückhälfte war diese Spannung unter dem Gesichtspunkt des Heroismus entwickelt worden: Darf sich Aias als Held nicht umbringen, oder muss er dies im Gegenteil tun? Die - partielle - Plausibilität von Aias’ Position hatte dabei darauf beruht, dass er auf einen realen Bruch der heroischen Reziprozität reagierte; zugleich war aber auch die Reaktion seiner philoi plausibilisiert worden, die in Aias’ Reaktion einen Bruch mit seiner angestammten Rolle als ihr Beschützer sahen, und entsprechend von ihm verlangten, dass er sich zurückhalte - „weiche“ -, wobei dieses „Weichen“ aber für Aias wiederum nichts anderes bedeutet hätte, als hinzunehmen, was ihm angetan worden ist. Dieser dilemmatische Konflikt lässt sich nun auch unter einem anderen Schlagwort fassen: demjenigen der Gerechtigkeit, das heißt als Verhandlung der Frage, wie weit man gehen soll und darf im Widerstand gegen Unrecht, wie es Aias widerfahren ist. Das Motiv der Gerechtigkeit spielt nun im ersten Teil 86 2 Der Aias <?page no="87"?> 154 δικ-Wörter kommen in der ersten Stückhälfte lediglich an zwei Stellen vor: In v. 113 bezeichnet Aias die geplante Misshandlung des ‚Odysseus‘ als δίκη (d. h. „Strafe“) und in v. 449 verwendet er diesen Begriff für das (seiner Ansicht nach falsche) Waffenurteil: Es ist möglich, Aias’ Vorgehen als Kampf gegen Unrecht zu fassen - ansonsten hätte Sophokles dieses in der zweiten Stückhälfte nicht unter diesem Gesichtspunkt aufnehmen können -, doch dieses Potential war in der ersten Hälfte nicht realisiert worden. 155 Siehe Encinas Reguero 2018, 416 mit Anm. 5, 6 und 9. des Aias kaum eine Rolle; 154 wohl aber tut es dies im zweiten Teil, und zwar so, dass die Zuschauer konfrontiert werden mit einem Dilemma zwischen dem kompromisslosen, maximal aggressiven Widerstand gegen Unrecht, wie ihn Teuker vertritt, und den damit spannungsvoll kontrastierten Mahnungen des Chors zu einem konzilianteren Vorgehen, wobei aber diese Konzilianz, genau wie das „Weichen“, das die philoi von Aias verlangten, letztlich auf nichts anderes hinausliefe, als Unrecht hinzunehmen. Diese durchgehaltene Spannung ist also ein zentrales einigendes Thema der Tragödie Aias, deren Einheit ja bekanntlich oft als Problem betrachtet worden ist: 155 Sophokles behält, mit Teuker als Substitut, die Ambiguität des Aias präsent und bereitet so die Entwicklung ganz am Stückende vor, wo diese Ambiguität, wie unten 2.6 zu zeigen sein wird, noch deutlicher wieder in den Vordergrund rückt und unüberwunden stehenbleibt. Auf diese Weise schafft der Dichter es also, das ganze Stück ein Stück ‚über Aias‘ sein zu lassen, obwohl die Titelfigur sich nach der ersten Hälfte tötet. Doch der Effekt dieser Fortschreibung ist nicht nur ‚technisch‘, der Erkenntnisgewinn der hier vorgenommenen Diskussion lediglich negativ - der Aias ist kein disparates Stück -, entscheidend ist vielmehr, dass gezeigt werden kann, was Sophokles durch die Substitution des Teuker für Aias gewinnt: eine besondere Relevanz seines Stückes ‚über Aias’ für die Zuschauer. Denn indem er die erste Hälfte des Stücks unter dem Gesichtspunkt heroischer ‚Übergröße‘ entwickelt hat, bestand bei aller partiellen Nachvollziehbarkeit von Aias’ Reaktion eine gewisse Distanz zwischen diesem und den Zuschauern: Aias ist kein ‚gewöhnlicher‘ Mensch, seine Situation - die Vorenthaltung der Waffen eines gefallenen Troiakämpfers, die Intervention der Athene, der Suizid als Reaktion auf den Bruch heroischer Reziprozität - ist keine, die ein zeitgenössischer Zuschauer tel quel in seinem eigenen Leben wiederfinden konnte. Bei Teuker liegen die Dinge etwas anders: Natürlich ist auch diese Figur aus der Ilias bekannt und bewegt sich im homerischen Setting des Stücks. Gleichwohl ist Teuker den Zuschauern insofern näher, als er bei seinem ersten Auftritt entschieden nicht als ‚übergroße‘ Figur eingeführt wird, sondern, ähnlich wie der Chor und Tekmessa, als Figur, die durch Aias’ Suizid in einen Zustand der Hilflosigkeit und 87 2.5 Der vierte Handlungsbogen: die Fortschreibung der Spannung <?page no="88"?> 156 Vgl. die lange Rhesis in den vv. 902-1027. Der Unterschied zwischen Teuker und Aias sowie die ‚Gewöhnlichkeit‘ des Ersteren zeigt sich, wie March (1991-1993, 13) argumentiert hat, besonders im Verhältnis zum gemeinsamen Vater Telamon: Während Aias den Zorn seines Vaters über den Verlust seines heroischen Status gefürchtet hatte, da er so dessen eigenen heroischen Status beschäme, sieht Teuker in Telamon einen jähzornigen alten Mann, der ihn, den „Bastard“ (νόϑον 1013), verstoßen könnte, da er Aias nicht beschützt hat - nicht eben ‚heroische‘ Sorgen. 157 Siehe unten 2.7; dass die zweite Hälfte einen Übergang vom fernen homerischen in ein stärker polisgebundenes, einem zeitgenössischen Publikum näheres Milieu darstellt, ist verschiedentlich festgestellt worden (so von Altmeyer [2001, 47 f.]); dennoch sollte man diesem Kontrast nicht übertrieben viel Gewicht einräumen: Die das ganze Stück prägende Spannung erscheint eher als ein Grunddatum der condicio humana, das aller‐ dings für ein zeitgenössisches, in den Rahmen der Polis eingebettetes Publikum eine besondere Relevanz besaß, auf die besonders in der zweiten Stückhälfte hingewiesen wird (siehe auch dazu 2.7 unten). Verzweiflung versetzt wird. 156 Teuker erscheint also als ‚gewöhnlichere‘ Figur. Indem Sophokles nun aber im weiteren Verlauf des Stückes Teuker ganz ähnlich wie seinen Halbbruder reagieren lässt - und diese Reaktion mit der Reaktion des Chors in Kontrast setzt -, vermindert er die Distanz auch zwischen Aias und den Zuschauern: Aias’ Situation, die in der ersten Stückhälfte dargestellt worden ist, ist grundsätzlich eine, in die jeder - beispielsweise der ‚gewöhnliche‘ Teuker - kommen kann, wenn er sich mit Ungerechtigkeit konfrontiert sieht; jeder kann grundsätzlich in die Lage gelangen, ‚übergroß‘ zu werden, über sich selbst hinauswachsen zu müssen, doch ein derartiges Verhalten konfrontiert eine von einer solchen Person abhängige Gemeinschaft - jede Gemeinschaft, also potentiell auch diejenige der Zuschauer, die Polis 157 - immer mit besonderen Herausforderungen. 2.5.1 Der Agon mit Menelaos: Kampf gegen Ungerechtigkeit, aber wie? I Zum ersten Mal spürbar wird die eben beschriebene Spannung im Agon des Teuker mit Menelaos. Nachdem jener nämlich die Bühne betreten und bestürzt vom Suizid seines Halbbruders erfahren hat, erscheint der Atride und will ihm die Bestattung verbieten. Damit verwirklicht sich eine Möglichkeit, die sowohl Aias wie die philoi bereits davor geahnt hatten. Denn Aias hatte in seinem Abschiedsmonolog darum gebetet, dass Teuker die Bestattung seines Leichnams gegen seine Feinde durchsetzen möge (vv. 826-830), und die philoi hatten damit gerechnet, dass der Suizid ihres Herrn sie und Aias dem höhnischen Triumphieren ihrer Feinde - des Odysseus und der Atriden - aussetzen werde (vv. 955-960). Diese Vorausblicke haben einen auf der Hand liegenden Effekt 88 2 Der Aias <?page no="89"?> im Bereich der Sympathielenkung: Insofern in ihnen mit Aias und den philoi Feinde der Atriden als Fokalisatoren erschienen waren, wurden die Zuschauer gegenüber diesen negativ disponiert, die Perspektive des Menelaos sieht sich also mit negativen Rezeptionsvorprägungen konfrontiert, die ihr Träger über‐ winden muss, wenn er im externen Kommunikationssystem die Sympathie der Zuschauer gewinnen will; kurzum, er muss der Erwartung entgegentreten, dass er die Situation nutzt, um höhnisch über Aias zu triumphieren und sich dabei, wie von Aias’ philoi befürchtet, der hybris schuldig zu machen (vgl. ἐφυβρίζει 955). Diese Herausforderung wird unmittelbar vor Menelaos’ Auftritt noch einmal formuliert, wenn der Chor Teuker mit folgenden Worten auf dessen Kommen hinweist (vv. 1040-1043): μὴ τεῖνε μακράν, ἀλλ’ ὅπως κρύψεις τάφῳ 1040 φράζου τὸν ἄνδρα, χὤ τι μυϑήσῃ τάχα. βλέπω γὰρ ἐχϑρὸν φῶτα, καὶ τάχ’ ἂν κακοῖς γελῶν ἃ δὴ κακοῦργος ἐξίκοιτ’ ἀνήρ. [1040] Sprich nicht lange, sondern überlege, wie Du den Mann in einem Grab bergen kannst, und überlege, was Du gleich sagen willst. Ich sehe nämlich einen feindlichen Mann, und er kommt, um über unsere Übel zu lachen, wie dies ein Übeltäter tut. Entscheidend ist nun, dass Menelaos diese Herausforderung nicht besteht, sondern eindeutig negativ dargestellt ist (vv. 1047-1054, 1062 f., 1066-1076 und 1085-1090): M . οὗτος, σὲ φωνῶ τόνδε τὸν νεκρὸν χεροῖν μὴ συγκομίζειν, ἀλλ’ ἐᾶν ὅπως ἔχει. . τίνος χάριν τοσόνδ’ ἀνήλωσας λόγον; . δοκοῦντ’ ἐμοί, δοκοῦντα δ’ ὃς κραίνει στρατοῦ. 1050 . οὔκουν ἂν εἴποις ἥντιν’ αἰτίαν προϑείς; . ὁϑούνεκ’ αὐτὸν ἐλπίσαντες οἴκοϑεν ἄγειν Ἀχαιοῖς ξύμμαχόν τε καὶ φίλον, ἐξηύρομεν ξυνόντες ἐχϑίω Φρυγῶν […] ὧν οὕνεκ’ αὐτὸν οὔτις ἔστ’ ἀνὴρ σϑένων 1062 τοσοῦτον ὥστε σῶμα τυμβεῦσαι τάφῳ, […] πρὸς ταῦτα μηδὲν δεινὸν ἐξάρῃς μένος. εἰ γὰρ βλέποντος μὴ ’δυνήϑημεν κρατεῖν, πάντως ϑανόντος γ’ ἄρξομεν, κἂν μὴ ϑέλῃς, χερσὶν παρευϑύνοντες. οὐ γὰρ ἔσϑ’ ὅπου 89 2.5 Der vierte Handlungsbogen: die Fortschreibung der Spannung <?page no="90"?> λόγων ἀκοῦσαι ζῶν ποτ’ ἠϑέλησ’ ἐμῶν. 1070 καίτοι κακοῦ πρὸς ἀνδρὸς ὄντα δημότην μηδὲν δικαιοῦν τῶν ἐφεστώτων κλύειν. οὐ γάρ ποτ’ οὔτ’ ἂν ἐν πόλει νόμοι καλῶς φέροιντ’ ἄν, ἔνϑα μὴ καϑεστήκοι δέος, οὔτ’ ἂν στρατός γε σωφρόνως ἄρχοιτ’ ἔτι, 1075 μηδὲν φόβου πρόβλημα μηδ’ αἰδοῦς ἔχων. […] καὶ μὴ δοκῶμεν δρῶντες ἃν ἡδώμεϑα 1085 οὐκ ἀντιτείσειν αὖϑις ἃν λυπώμεϑα. ἕρπει παράλλαξ ταῦτα. πρόσϑεν οὗτος ἦν αἴϑων ὑβριστής, νῦν δ’ ἐγὼ μέγ’ αὖ φρονῶ. καί σοι προφωνῶ τόνδε μὴ ϑάπτειν, ὅπως μὴ τόνδε ϑάπτων αὐτὸς ἐς ταφὰς πέσῃς. 1090 Men. Du da, Dir befehle ich, beweg den Leichnam nicht mit Deinen Händen, sondern lass ihn, wie er ist. eu. Zu welchem Zweck verschwendest Du Deinen Atem mit einer solchen Rede? [1050] Men. Weil ich’s will und weil der’s will, der das Heer befehligt. eu. Möchtest Du nicht sagen, welchen Grund Du vorbringst? Men. Nun, nachdem wir gehofft hatten, dass wir von zuhause ihn mitbrächten als einen Kampfgenossen und Freund für die Achaier, haben wir herausgefunden, dass wir mit jemandem Umgang hatten, der feindlicher war als die Phryger […] [1062] Deswegen gibt es keinen Mann, dessen Stärke so groß ist, dass er den Leib in ein Grab legen könnte. […] Gegen dies erhebe nicht Deinen schlimmen Zorn. Wenn wir nämlich ihn nicht bezwingen konnten, solange er am Leben war, so werden wir ihn wenigstens als Leichnam beherrschen, auch wenn Du es nicht willst, indem wir ihn mit unseren Händen auf die rechte Bahn bringen. Er wollte nämlich, [1070] solange er lebte, nicht auf meine Worte hören. Aber es ist die Eigenschaft eines schlechten Mannes, wenn er, obwohl er ein einfacher Mann aus dem Volk ist, nicht auf die Oberen hören will. Weder nämlich würden in einer Stadt die Gesetze gut eingehalten, wenn dort keine Furcht vorhanden ist, [1075] noch würde ein Heer besonnen kommandiert, wenn es nicht den Schutz hätte, den Angst und Respekt ermöglichen. […] [1085] Und wir wollen nicht glauben, dass wir, wenn wir tun, was immer wir wollen, niemals wiederum eine Strafe leisten, die uns bedrückt. Diese Dinge verlaufen im Wechsel: Früher war der hier brennend in seinem Hochmut, jetzt aber denke ich groß. Und Dir befehle ich: Bestatte ihn nicht, damit Du [1090] nicht, wenn Du ihn bestattest, selbst ins Grab fallest. Menelaos betont den Wert des Gehorsams - ein Wert, der grundsätzlich kaum bestritten werden kann; entscheidend ist aber, dass er nicht deutlich macht, 90 2 Der Aias <?page no="91"?> 158 Beachte auch die verallgemeinernde erste Person Plural in den vv. 1085f. 159 Vgl. Cairns 1996, 12f. warum dieser Wert ein Bestattungsverbot rechtfertige. Denn diese beiden Momente verknüpft er in der auf unangenehme Weise absurden Behauptung, dass Aias jetzt, als Leichnam, ihm endlich den Gehorsam erweisen müsse, den er zu Lebzeiten verweigert habe (vv. 1067-1070). Auf diese Weise erweckt Menelaos’ Rhesis, statt dieser Erwartung entgegenzutreten, den Eindruck, dass er die Situation tatsächlich nutzt, um im Tod über einen Feind zu triumphieren, den er im Leben nicht besiegen konnte, so dass sich die Befürchtungen der philoi bestätigen. Besonders verräterisch sind die vv. 1087 f., in denen er Aias der hybris bezichtigt; denn wenn er sagt, dass „diese Dinge im Wechsel“ verliefen und jetzt er an der Reihe sei, „groß zu denken“, dann gerät das „Groß-Denken“, das er hier für sich in Anspruch nimmt, in gefährliche Nähe zur hybris, derer er seinen Feind beschuldigt. 158 Kurzum, Menelaos erhebt hier, inmitten wohlklingender Grundsätze über den Wert des Gehorsams, den Anspruch auf ein ‚Recht auf hybris‘, entspricht also bis aufs Wort dem negativen Bild einer Person, deren Handeln von hybris geprägt ist, das davor von ihm gezeichnet worden ist. 159 Diese Implikation macht der Chor im Anschluss an Menelaos’ Standpunktrhesis explizit (vv. 1091 f.): Μενέλαε, μὴ γνώμας ὑποστήσας σοφὰς 1091 εἶτ’ αὐτὸς ἐν ϑανοῦσιν ὑβριστὴς γένῃ. [1091] Menelaos, trage keine weisen Sentenzen vor, um dann selbst Hochmut zu üben gegenüber Toten. Indem der Chor hier einen Gedanken ausspricht, zu dem die Zuschauer bereits während der vorangegangenen Rede durch Menelaos’ Formulierung eingeladen worden waren, steht am Ende dieser Rede nicht nur eine eindeutig negative Wahrnehmung des Menelaos, der Chor entwickelt aufgrund dieser Fokalisation auch ein markiertes Identifikationspotential. Auf diese Weise verteilt Sophokles die Sympathien klar zugunsten von Aias’ Verteidigern, die Zuschauer werden engagiert für den Kampf gegen Menelaos’ hybris und für die Bestattung des Aias. Dieses klare Engagement wird jedoch im weiteren Verlauf des Agons unterlaufen, indem, wie oben 2.5 angekündigt, eine Spannung innerhalb der Gruppe von Aias’ Verteidigern spürbar wird im Hinblick auf das angemessene Vorgehen bei einem solchen Kampf. Diese Entwicklung beginnt mit Teukers Erwiderung auf Menelaos’ Rede sowie dem zugehörigen Chorkommentar (vv. 1093-1102, 1107-1110 und 1115-1119): 91 2.5 Der vierte Handlungsbogen: die Fortschreibung der Spannung <?page no="92"?> . οὐκ ἄν ποτ’, ἄνδρες, ἄνδρα ϑαυμάσαιμ’ ἔτι, ὃς μηδὲν ὢν γοναῖσιν εἶϑ’ ἁμαρτάνει, ὅϑ’ οἱ δοκοῦντες εὐγενεῖς πεφυκέναι 1095 τοιαῦϑ’ ἁμαρτάνουσιν ἐν λόγοις ἔπη. ἄγ’, εἴπ’ ἀπ’ ἀρχῆς αὖϑις, ἦ σὺ φὴς ἄγειν τόνδ’ ἄνδρ’ Ἀχαιοῖς δεῦρο σύμμαχον λαβών; οὐκ αὐτὸς ἐξέπλευσεν ὡς αὑτοῦ κρατῶν; ποῦ σὺ στρατηγεῖς τοῦδε; ποῦ δὲ σοὶ λεὼν 1100 ἔξεστ’ ἀνάσσειν ὧν ὅδ’ ἤγετ’ οἴκοϑεν; Σπάρτης ἀνάσσων ἦλϑες, οὐχ ἡμῶν κρατῶν […] ἀλλ’ ὧνπερ ἄρχεις ἄρχε, καὶ τὰ σέμν’ ἔπη κόλαζ’ ἐκείνους· τόνδε δ’, εἴτε μὴ σὺ φὴς εἴϑ’ ἅτερος στρατηγός, ἐς ταφὰς ἐγὼ ϑήσω δικαίως, οὐ τὸ σὸν δείσας στόμα. 1110 […] πρὸς ταῦτα πλείους δεῦρο κήρυκας λαβὼν 1115 καὶ τὸν στρατηγὸν ἧκε· τοῦ δὲ σοῦ ψόφου οὐκ ἂν στραφείην, ἕως ἂν ᾖς οἷός περ εἶ. . οὐδ’ αὖ τοιαύτην γλῶσσαν ἐν κακοῖς φιλῶ· τὰ σκληρὰ γάρ τοι, κἂν ὑπέρδικ’ ᾖ, δάκνει. eu. Niemals, Männer, werde ich mich mehr über einen Mann wundern, der, wenn er ein Nichts ist hinsichtlich seiner Herkunft, sich vergeht, [1095] wenn die, die hochgeboren zu sein scheinen, derartige Aussagen verbrechen in ihren Reden! Auf, sag mir nochmal von Anfang an, sagst Du, Du habest diesen Mann als einen Kampfgenossen für die Achaier mit Dir mitgebracht? Ist er nicht selbst als sein eigener Herr losgesegelt? [1100] Wo ist Deine Befehlsgewalt ihm gegenüber? Wo ist der Grund, dass Du den Männern befehlen darfst, die er von zuhause hierhergeführt hat? Als Herr von Sparta bist Du gekommen, nicht als Herrscher über uns […] Aber gebiete denen, denen Du gebietest, und tadle diese mit geschwollenen Reden; diesen aber, ob Du’s nun willst oder der andere Feldherr oder nicht, werde ich ins Grab [1110] legen, und das mit Recht, ohne mich vor Deinem Mund zu fürchten. […] [1115] Gegen dies bringe noch mehr Herolde hierher, ja den Feldherrn selbst; ich könnte mich nicht um Dein Geschwätz bekümmern, solange Du so bist, wie Du bist. r Auch eine solche Rede mag ich nicht unter üblen Umständen; das Starrsinnige nämlich beißt, und ist es noch so gerecht. Teuker nimmt die Verteidigung des Aias an die Hand, indem er sich gegen Menelaos’ Bestattungsverbot zur Wehr setzt. Die intendierte Wirkung seiner Rede lässt sich am besten nachvollziehen, wenn man zunächst den Kommentar 92 2 Der Aias <?page no="93"?> 160 Finglass 2011, ad vv. 1118f.: „a startling intervention“. 161 Siehe Hawthorne 2009, bes. 30f. 162 Vgl. Heath 1987, 127 f. 163 Siehe Pfeiffer-Petersen (1996, 24: „Er [sc. Teuker] nennt [sc. in v. 1125] gleichzeitig zum ersten Mal in diesem Gespräch die Grundlage seines Selbstbewusstseins: ξὺν τῷ δικαίῳ vermag er sich sogar gegen die Atriden zu behaupten“), Blaise (1999, 397: „Teucros attaque enfin [sc. in v. 1125] Ménélas sur un autre terrain important que l’Atride n’a pas occupé, comme il l’aurait dû en tant que gouvernant, celui de la justice“; beachte indes auch Menelaos’ Erwähnung der Gesetze in v. 1073) oder Finglass (2011, ad v. 1125: „Teucer at last raises the notion of justice“), die alle das Thema der Gerechtigkeit erst in v. 1125 eingeführt sehen; vgl. ferner Finglass 2011, ad vv. 1316-1373: „Teucer made a single reference to justice in his stichomythia with Menelaus [sc. in v. 1125]“ - das stimmt, doch dieser ging eine Erwähnung der Gerechtigkeit in seiner Standpunktrhesis voran. des Chors in den vv. 1118 f. betrachtet. Dieser ist angesichts der Situation - Teuker und der Chor stehen ja auf derselben Seite - überraschend 160 kritisch: Was Teuker sage, sei zwar „gerecht“ - beachte, dass in οὐδ’ 1118 auch die Kritik des Chors an Menelaos greifbar bleibt -, aber die „Härte“ oder „Unnach‐ giebigkeit“, die er dabei an den Tag lege, missfällt dem Chor. Auch wenn diese Kritik des Chors überraschend ist, so hat Sophokles diese doch mit einem hohen Maß an Plausibilität versehen, und zwar auf zwei Weisen: Zum einen hatte Teuker - gemäß einem in sophokleischen Agonen häufigen Verfahren 161 - zu Beginn seiner Rede den Chor und nicht seinen Kontrahenten Menelaos direkt angesprochen, so dass die Funktion des Chors als Fokalisator deutlich beglaubigt wurde. Die Zuschauer haben mit dem Chor als dem Adressaten von Teukers Rede einen Vertreter im internen Kommunikationssystem, und seine Reaktion ist entsprechend besonders verbindlich. Zum anderen zeichnet sich die Kritik des Chors, ähnlich wie bereits im Anschluss an Menelaos’ Rede, durch einen hohen Grad an Spezifizität aus, ist also mehr als ein stereotyper, wenig relevanter Einwurf, wie Chorkommentare in tragischen Agonen - ob zurecht oder nicht - häufig betrachtet werden. 162 Denn einen - in der Sekundärliteratur kurioserweise nicht gewürdigten 163 - Anspruch auf Gerechtigkeit hatte Teuker tatsächlich erhoben, wenn er Menelaos in den vv. 1108-1110 versicherte, dass er Aias „mit Recht“ (δικαίως 1110) bestatten werde. Diesen Anspruch erkennt der Chor also an, doch er macht zugleich deutlich, dass ihm die sprachliche „Härte“ und „Unnachgiebigkeit“ missfällt, mit der Teuker diesen verfolgt. Auch damit spricht er etwas an, was in Teukers Rede ohne Frage greifbar gewesen war: Teukers Rede war in der Tat durch ein hohes Maß an Aggressivität und durch ein Fehlen jeden Bemühens um Verständigung gekennzeichnet. Dies lässt sich am besten nachvollziehen, wenn man einen Blick auf die moderne linguistische Pragmatik wirft, genauer die ‚politeness‘-Theorie, welche die Mittel entwickelt 93 2.5 Der vierte Handlungsbogen: die Fortschreibung der Spannung <?page no="94"?> 164 Vgl. oben Anm. 79. 165 Siehe Brown/ Levinson 2 1987, 61-64; für eine Anpassung dieses Modells auf die ‚Unhöf‐ lichkeit‘ siehe Culpeper 1996. 166 Konkret handelt es sich dabei um eine ostentative Verweigerung der ‚Höflichkeitsstra‐ tegie‘, die darin liegt, Gründe für ein Anliegen vorzubringen (siehe Brown/ Levinson 2 1987, 128 f.). hat, die intuitiv spürbare ‚Höflichkeit‘ (und, e negativo, ‚Unhöflichkeit‘) von kommunikativen Akteuren zu beschreiben. 164 Das zentrale Konzept dabei ist dasjenige des ‚Gesichts‘, das jeder kommu‐ nikative Akteur gewahrt sehen und das er nicht verlieren möchte, also des positiven Selbstbildes eines Gesprächspartners, das man, wenn man ‚höflich‘ sein will, bestätigen und nicht angreifen sollte - und das man umgekehrt, wenn man ‚unhöflich‘ sein will, bewusst bestreiten und angreifen kann. 165 Fragt man nun nach Menelaos’ Selbstbild, dann fällt auf, dass er sich ostentativ auf die Macht seines Wortes als Befehlshaber des griechischen Heeres verlassen hatte: Aias darf nicht bestattet werden, da er (und Agamemnon, der Oberfeldherr) dies nun einmal so wollen (vv. 1050 f.), und entsprechend leitet er seine Wiederho‐ lung des Bestattungsverbotes am Ende seiner Rhesis ostentativ nicht aus dem Vorangegangenen ab, sondern beginnt diese mit „Und Dir befehle ich…“ (vv. 1089 f.). Auch wenn es sich bei dieser Sit-pro-ratione-voluntas-Attitüde natürlich ihrerseits um bewusste ‚Unhöflichkeit‘ gegenüber Teuker handelt, 166 so ist es kein grundsätzlich undenkbares kommunikatives Vorgehen, im Interesse einer Verständigung darauf abzuzielen, Menelaos’ ‚Gesicht‘ zu wahren, also zum Beispiel auf seine Situation als Befehlshaber einzugehen und seine Autorität grundsätzlich anzuerkennen. Entscheidend ist, dass Teuker das Gegenteil dessen tut, also strategisch ‚unhöflich‘ ist. Auffällig an seiner Rede ist nämlich die hohe Dichte an metakommunikativen Aussagen, mit denen Teuker sich zu Menelaos als ‚Sprechakteur‘ äußert und damit den von diesem erhobenen Anspruch auf Gehorsam kraft seines Wortes aufnimmt, doch dies, um diesen zu bestreiten, also auf das Herz des von Menelaos entworfenen Selbstbildes zielt, dessen ‚Gesicht‘ bedroht: Dessen „Vergehen“ ist eines „in Worten“ (v. 1096), er solle Teuker „noch einmal sagen“, welche Verfügungsgewalt er über Aias habe (vv. 1097 f.), und die Spartaner - nicht aber andere, denen er nichts zu sagen habe - mit „wohlklingenden Worten“ tadeln (vv. 1107 f.), er, Teuker, fürchte Menelaos’ „Mund“ nicht (v. 1110) und dieser solle „noch mehr Herolde“, ja seinen Bruder mitbringen, sein „Geschwätz“ werde ohne Wirkung bleiben (vv. 1115-1117). Statt Menelaos’ Anspruch auf Gehorsam kraft seines Wortes als Befehlshaber zu bestätigen, stellt Teuker dessen Worte also als bloße Worte dar, die ihn nicht beeindrucken könnten, unternimmt also offensichtlich gar keinen Versuch zur 94 2 Der Aias <?page no="95"?> 167 Siehe Anm. 152 oben. 168 Vgl. Hawthorne 2009, 31. Verständigung, sondern greift das ‚Gesicht‘ seines Kontrahenten frontal und maximal aggressiv an. Dies kritisiert der Chor nun, da er es offensichtlich für das falsche Vorgehen im Streben nach Gerechtigkeit hält, und diese Reaktion erscheint, wie gesagt, grundsätzlich durchaus plausibel; entsprechend hat es auch nicht an Verurteilungen des Teuker entlang den vom Chor vorgegebenen Linien gemangelt. 167 Entscheidend ist nun aber, dass das Identifikationspotential der Chorreaktion nicht derart unproblematisch bleibt, sondern Teukers weitere Äußerungen deutlich machen, dass seine Aggressivität für ihn eine bewusste kommunikative Strategie im Kampf für Gerechtigkeit ist und nicht, wie vom Chor impliziert, ein Zeichen von Unzulänglichkeit. Auf diese Weise tritt sein spezifischer Hand‐ lungsansatz, seine Reaktion, spannungsvoll neben die Perspektive des Chors und dessen Mahnung zu einem konzilianteren Vorgehen. Entscheidend dafür ist folgende Passage in der Konfliktstichomythie, die an den Chorkommentar anschließt (vv. 1120-1125): M . ὁ τοξότης ἔοικεν οὐ σμικρὸν φρονεῖν. 1120 . οὐ γὰρ βάναυσον τὴν τέχνην ἐκτησάμην. . μέγ’ ἂν τι κομπάσειας, ἀσπίδ’ εἰ λάβοις. . κἂν ψιλὸς ἀρκέσαιμι σοί γ’ ὡπλισμένῳ. . ἡ γλῶσσά σου τὸν ϑυμὸν ὡς δεινὸν τρέφει. . ξὺν τῷ δικαίῳ γὰρ μέγ’ ἔξεστιν φρονεῖν. 1125 [1120] Men. Der Bogenschütze, so scheint es, denkt ganz schön groß. eu. Ja, denn es ist keine unqualifizierte Tätigkeit, in der ich mich ausgebildet habe. Men. Große Töne würdest Du spucken, wenn Du einen Schild führtest. eu. Auch leichtbewaffnet könnte ich mich gegen Dich verteidigen in Deiner vollen Rüstung. Men. Deine Zunge lässt Deinen Mut gewaltig schwellen. [1125] eu. Ja, denn wenn man die Gerechtigkeit auf seiner Seite hat, ist es erlaubt, groß zu denken. Wie die dritte Person in v. 1120 zeigt, nimmt Menelaos hier Teukers Strategie auf, den Chor als Adressaten anzusprechen. 168 Dies hat den Effekt, dass die Per‐ spektive des Chors - und damit auch sein Urteil über die Unzulänglichkeit des Teuker als eines ‚Sprechakteurs‘ - präsent bleibt. In dieser Situation sagt Teuker nun, dass es, wenn man die Gerechtigkeit auf seiner Seite habe, erlaubt sei, „groß zu denken“. Dabei bezeichnet er mit diesem „Groß-Denken“ das Vorgehen, als ‚bloßer Bogenschütze‘ dem Heerführer Menelaos zu widersprechen, also das Vorgehen, auf dem, wie oben gesehen, die Aggressivität seiner Standpunkt- 95 2.5 Der vierte Handlungsbogen: die Fortschreibung der Spannung <?page no="96"?> 169 Vgl. Cairns 1996, 12 f. zum Bezug des hier verhandelten „Groß-Denkens“ auf das spezifisch sprachliche Agieren des Teuker. rhesis beruht hatte, in der er den Statusansprüchen des Atriden widersprochen hatte. 169 Kurzum, Teuker macht hier deutlich, dass sein sprachliches Agieren kein ‚Unfall‘ ist, sondern eine bewusste kommunikative Strategie im Kampf um Gerechtigkeit, konkret in seinem Bestreben, die Bestattung seines Halbbruders „gerechterweise“ ins Werk zu setzen. Entscheidend ist nun, dass der weitere Verlauf der Konfliktstichomythie zeigt, dass er damit erfolgreich ist, Sophokles also deutlich macht, dass es gute Gründe für ein Vorgehen wie das von Teuker gewählte gibt (vv. 1126-1136, 1147-1155 und 1159-1163): . δίκαια γὰρ τόνδ’ εὐτυχεῖν κτείναντά με; . κτείναντα; δεινόν γ’ εἶπας, εἰ καὶ ζῇς ϑανών. . ϑεὸς γὰρ ἐκσῴζει με, τῷδε γ’ οἴχομαι. . μὴ νυν ἀτίμα ϑεούς, ϑεοῖς σεσωμένος. . ἐγὼ γὰρ ἂν ψέξαιμι δαιμόνων νόμους; 1130 . εἰ τοὺς ϑανόντας οὐκ ἐᾷς ϑάπτειν παρών. . τούς γ’ αὐτὸς αὐτοῦ πολεμίους· οὐ γὰρ καλόν. . ἦ σοὶ γὰρ Αἴας πολέμιος προὔστη ποτέ; . μισοῦντ’ ἐμίσει· καὶ σὺ τοῦτ’ ἠπίστασο. . κλέπτης γὰρ αὐτοῦ ψηφοποιὸς ηὑρέϑης. 1135 . ἐν τοῖς δικασταῖς, οὐκ ἐμοί, τόδ’ ἐσφάλη. […] οὕτω [sc. wie bei einem großsprecherischen Matrosen, der sich im Sturm plötzlich wegduckt und schweigt] δὲ καὶ σὲ καὶ τὸ σὸν λάβρον στόμα σμικροῦ νέφους τάχ’ ἄν τις ἐκπνεύσας μέγας χειμὼν κατασβέσειε τὴν πολλὴν βοήν. . ἐγὼ δέ γ’ ἄνδρ’ ὄπωπα μωρίας πλέων, 1150 ὃς ἐν κακοῖς ὕβριζε τοῖσι τῶν πέλας. κᾆτ’ αὐτὸν εἰσιδών τις ἐμφερὴς ἐμοὶ ὀργήν ϑ’ ὁμοῖος εἶπε τοιοῦτον λόγον, „ὤνϑρωπε, μὴ δρᾶ τοὺς τεϑνηκότας κακῶς· εἰ γὰρ ποήσεις, ἴσϑι πημανούμενος.“ 1155 […] . ἄπειμι· καὶ γὰρ αἰσχρόν, εἰ πύϑοιτό τις λόγοις κολάζειν ᾧ βιάζεσϑαι πάρα. 1160 . ἄφερπέ νυν. κἀμοὶ γὰρ αἴσχιστον κλύειν ἀνδρὸς ματαίου φλαῦρ’ ἔπη μυϑουμένου. . ἔσται μεγάλης ἔριδός τις ἀγών. 96 2 Der Aias <?page no="97"?> 170 Siehe van Erp Taalman Kip 1996, 524-526. Men. Wäre es denn gerecht, dass es diesem gut erginge, nachdem er mich getötet hat? eu. Getötet? Wundersames berichtest Du, wenn Du lebst, nachdem Du gestorben bist. Men. Ein Gott nämlich hat mich gerettet, seinetwegen bin ich am Leben. eu. Beleidige die Götter nicht, nachdem Du von Göttern gerettet worden bist! [1130] Men. Störe ich mich etwa an den Gesetzen der Götter? eu. Ja, wenn Du hier bist, um die Bestattung von Toten zu verbieten. Men. Die Bestattung meiner eigenen Kriegsgegner? Ja, denn diese ist schlecht! eu. Ist Dir Aias jemals als Kriegsgegner gegenübergetreten? Men. Ich habe ihn gehasst und er mich; das wusstest Du doch auch. [1135] eu. Ja, denn es hat sich gezeigt, dass Du ein Stimmendieb und -fälscher bist. Men. Das Urteil ist durch die Richter gefällt worden, nicht durch mich. […] So [sc. wie bei einem großsprecherischen Matrosen, der sich im Sturm plötzlich wegduckt und schweigt] wird auch bei Dir und Deinem losen Mundwerk ein aus einer kleinen Wolke entstandener großer Sturm das laute Geschrei wegfegen. [1150] eu. Ich aber habe einen Mann gesehen, einen rechten Toren, der sich hochmütig zeigte angesichts des Leidens seiner Nachbarn. Dann aber hat ihm einer, der mir ähnlich ist und gleich an Charakter, folgendes Wort gesagt: „Mensch, tue nicht Unrecht an den Toten; [1155] wenn Du dies nämlich tust, dann, so sei versichert, wirst Du es bereuen.“ […] Men. Ich gehe weg; denn es ist beschämend, wenn einer erfahren sollte, [1160] dass mit Worten tadelt, wer doch Gewalt anwenden könnte. eu. Verschwinde bloß! Auch für mich ist es nämlich äußerst beschämend, einem Schwätzer zuzuhören, der dummes Zeug redet! r Das wird ein Streit werden, voll von Gezänk. Teuker hält an seinem Gerechtigkeitsanspruch fest, ja lädt diesen religiös auf, wenn er betont, dass es gegen die göttlichen Gesetze verstoße, Aias nicht zu bestatten (v. 1129), und sieht sich ausdrücklich im Kampf gegen Menelaos’ hybris (vv. 1150 f.). Dabei aber ist Aggressivität nach wie vor ein prägendes Merkmal von Teukers sprachlichem Agieren, man kann sogar sagen, dass er geradezu eristisch wird: In den vv. 1127 und 1133 hängt er Menelaos an dessen Wortwahl auf, und in v. 1135 erhebt er einen Schiebungsvorwurf, der einer Grundlage entbehrt. 170 Doch er ist erfolgreich, wie der Abschluss des Gesprächs zeigt: Nachdem Menelaos Teuker erneut als bloßen Maulhelden angegriffen hat, der ihn nicht beeindrucken könne, also das Thema der Effektivität von Teukers sprachlichem Agieren erneut aufgekommen ist, kontert dieser den ainos, die Beispielgeschichte, des Atriden vom feigen Matrosen (siehe oben vv. 1146-1149) - und Menelaos geht mit den vv. 1159 f. ab. Indem er dabei mit Gewalt droht und es als „schändlich“ bezeichnet, „mit Worten zu tadeln“, wo er doch Gewalt brauchen könne, gibt er den Anspruch auf Gehorsam kraft seines Wortes auf, den er zu Beginn des Gesprächs so aufreizend vor sich her getragen 97 2.5 Der vierte Handlungsbogen: die Fortschreibung der Spannung <?page no="98"?> und den Teuker durchgehend angegriffen hatte. Dadurch wird deutlich, dass der Agon mit einem Sieg des Teuker endet: Dessen Strategie, sich gar nicht um Verständigung zu bemühen, sondern Menelaos mit maximaler Aggressivität zu begegnen, hat sich ausgezahlt. Es gibt also offenbar gute Gründe für eine Strategie wie die seine; insbesondere wirft Teukers Erfolg natürlich die Frage auf, ob er einen solchen auch mit der vom Chor angemahnten Konzilianz, dem Verzicht auf „Unnachgiebigkeit“ und „Härte“, hätte erreichen können: Welche Möglichkeit gibt es, gegenüber jemandem wie Menelaos konziliant aufzutreten, außer der, effektiv zu akzeptieren, was dieser tut? Dennoch hat Sophokles dafür gesorgt, dass die kritische Reaktion des Chors nicht einfach verdrängt wird, und zwar dadurch, dass er diesen ganz am Ende des Agons kritisch-distanziert den eristischen Charakter der Auseinandersetzung feststellen lässt (v. 1163), an dem Teuker, wie eben gezeigt, wesentlichen Anteil gehabt hat. Insbesondere das Futur in der Chorreplik richtet den Blick dabei in die Zukunft und erinnert die Zuschauer daran, dass Teukers Sieg im Moment nur vorläufig ist und es im Gegenteil zu einer weiteren Eskalation kommen könnte, wie sie Menelaos bei seinem Abgang angekündigt hatte und an der Teukers Aggressivität nicht ohne Schuld wäre. Der Agon kreiert also eine die Zuschauer involvierende Spannung zwischen zwei unterschiedlichen Vorgehensweisen im Kampf für die gerechte Bestattung des Aias, für die es jeweils gute Gründe gibt, die aber jeweils auch spezifische Defizite aufweisen: Aggressivität und Konzilianz, vertreten durch Teuker auf der einen und den Chor auf der anderen Seite. Diese Spannung wird im weiteren Verlauf des Stückes, genauer im Agon mit Agamemnon, an das zentrale Dilemma der ersten Stückhälfte zurückgebunden. 2.5.2 Die Vorbereitung der Bestattung: engagiert für die gerechte Sache Bevor dies der Fall ist, steht indes ein Einschub, der die Vorbereitung der Bestat‐ tung des Aias durch Teuker und den Chor darstellt. Der Effekt dieses Einschubs besteht darin, die Zuschauer daran zu erinnern, dass die Spannung, die im Agon mit Menelaos generiert worden ist, eine ist bezüglich der angemessenen Mittel im Kampf für die gerechte Bestattung des Aias, aber keineswegs in Frage stellt, dass eine Bestattung unbedingt wünschenswert ist. Der Einschub hebt also die davor generierte Spannung im Modus des Engagements auf, bereitet aber zugleich ihr Wiederauftreten im anschließenden Agon mit Agamemnon vor. Entscheidend dafür, dass die Zuschauer hier noch deutlicher für das Ziel der Bestattung des Aias engagiert werden, sind drei Sympathielenkungsme‐ 98 2 Der Aias <?page no="99"?> chanismen. Der erste ist derjenige der Konvergenz. Die Replik des Chors im Anschluss an Menelaos’ Abgang war nämlich mit der oben 2.5.1 besprochenen kritisch-distanzierten Feststellung des eristischen Charakters des vorangegan‐ genen Streitgesprächs nicht zu Ende gewesen, vielmehr hatte er unmittelbar danach den Blick auf das gerichtet, was in der aktuellen Situation getan werden kann und soll (vv. 1164-1175 und 1182-1184): . […] ἀλλ’ ὡς δύνασαι, Τεῦκρε, ταχύνας σπεῦσον κοίλην κάπετόν τιν’ ἰδεῖν 1165 τῷδ’, ἔνϑα βροτοῖς τὸν ἀείμνηστον τάφον εὐρώεντα καϑέξει. . καὶ μὴν ἐς αὐτὸν καιρὸν οἵδε πλήσιοι πάρεισιν ἀνδρὸς τοῦδε παῖς τε καὶ γυνή, τάφον περιστελοῦντε δυστήνου νεκροῦ. 1170 ὦ παῖ, πρόσελϑε δεῦρο, καὶ σταϑεὶς πέλας ἱκέτης ἔφαψαι πατρός, ὅς σ’ ἐγείνατο. ϑάκει δὲ προστρόπαιος ἐν χεροῖν ἔχων κόμας ἐμὰς καὶ τῆσδε καὶ σαυτοῦ τρίτου, ἱκτήριον ϑησαυρόν. […] 1175 ὑμεῖς τε μὴ γυναῖκες ἀντ’ ἀνδρῶν πέλας 1182 παρέστατ’, ἀλλ’ ἀρήγετ’, ἔστ’ ἐγὼ μόλω τάφου μεληϑεὶς τῷδε, κἂν μηδεὶς ἐᾷ. r […] Auf jetzt, Teuker, beeil Dich, so gut Du kannst, [1165] um Dich um eine hohle Grube zu kümmern für ihn, wo er das modrige Grab besitzen wird, ein ewiges Denkmal für die Sterblichen. eu. Zur richtigen Zeit sind diese gekommen, das Kind und die Frau dieses Mannes, [1170] um das Grab des unglücklichen Toten zu umfassen. O Kind, komm her, stell Dich nahe hin und berühre als ein Schutzflehender den Vater, der Dich gezeugt hat. Sitze hier als Bittflehender und halte in den Händen Haar von mir, von ihr hier und von Dir selbst als Drittem, [1175] einen Schutzflehenden-Schatz. […] [1182] Ihr aber stellt Euch - nicht wie Frauen, sondern wie Männer - nahe hin und leistet Hilfe, bis ich komme, nachdem ich mich um ein Grab für ihn hier gekümmert habe, auch wenn man es mir verbieten will. Der eben zitierte Austausch zeigt nun, wie Teuker den Auftrag des Chors an‐ nimmt und diesem seinerseits Anweisungen gibt, Aias’ Leichnam zu bewachen. Die Zuschauer beobachten also, wie Teuker und der Chor ihr Agieren auf das gemeinsame Ziel ausrichten, die Bestattung des Aias zu sichern, für die somit auch die Zuschauer von neuem deutlich engagiert werden. Diesem Effekt dient auch der zweite Sympathielenkungsmechanismus, derjenige der Schaffung 99 2.5 Der vierte Handlungsbogen: die Fortschreibung der Spannung <?page no="100"?> 171 Vgl. zur pathosgeladenen Wirkung dieses Tableaus z. B. Finglass 2011, ad vv. 1163-1167 sowie zum spezifischen Supplikationscharakter Burian 1972, 152. 172 Vgl. Henrichs 1993, 171-175; Burian (1972) weist zurecht darauf hin, dass sich die rituelle Dynamik der Supplikation und die rituelle Dynamik der vorweggenommenen Heroisierung des Aias wechselseitig verstärken. 173 Vgl. Henrichs 1993, 175 f. mit Anm. 39 f. eines emotionalen ‚Sogs‘. Denn eine Maßnahme, die Teuker trifft, besteht darin, Tekmessa und Eurysakes als Supplikanten beim Leichnam des Aias zu arrangieren, womit auf der Bühne ein Tableau entsteht, das eine sehr starke pathetische Wirkung gehabt haben muss. 171 Der dritte Sympathielenkungsme‐ chanismus besteht darin, dass die Vorbereitungen für die Bestattung des Aias die Zuschauer in ihrer lebensweltlichen athenischen Identität ansprachen. Denn der Chor beschreibt das Grab, in dem Aias bestattet werden soll, als „ewiges Denkmal für die Sterblichen“ (vv. 1166 f.); zusammen mit dessen Benennung als „hohle Grube“ (v. 1165), womit in der Ilias das Grab des Achill bezeichnet wird (Il. 24,798), sowie der Verwendung des Verbes κατέχω in v. 1167, das den Besitz eines Kultgrabes durch einen Heroen beschreiben kann, verweist Sophokles auf die Heroisierung des Aias. 172 Wenn man nun bedenkt, dass der Heros Aias, wie oben 2.2.2 bereits gesagt, für die Athener eine besondere Bedeutung, ja in der Stadt selbst einen Schrein besaß, auch wenn sein eigentliches Grab in der Troas verortet wurde, 173 dann wird deutlich, dass Sophokles den Bogen von der hier betriebenen Bestattung des Aias in die Lebenswelt der Zuschauer schlägt. Auf diese Weise können sich die Zuschauer noch besser mit dem gemeinsamen Ziel der auf der Bühne anwesenden Akteure identifizieren und werden so noch deutlicher dafür engagiert. 2.5.3 Der Agon mit Agamemnon: Kampf gegen Ungerechtigkeit, aber wie? II Dieses Engagement führt jedoch im weiteren Verlauf des Stückes erneut in eine Fortsetzung der davor generierten Spannung zwischen unterschiedlichen Reaktionen auf die Bedrohung des gemeinsamen Ziels durch die Atriden. Dies leistet der Agon Teukers mit Agamemnon, der nach einem Lied, in dem der Chor seine Verlorenheit angesichts des nicht enden wollenden Kriegs vor Troia besungen hat, erscheint und eine Standpunktrhesis hält (vv. 1226-1263): σὲ δὴ τὰ δεινὰ ῥήματ’ ἀγγέλλουσί μοι τλῆναι καϑ’ ἡμῶν ὧδ’ ἀνοιμωκτεὶ χανεῖν. σέ τοι, τὸν ἐκ τῆς αἰχμαλωτίδος λέγω· 100 2 Der Aias <?page no="101"?> ἦ που τραφεὶς ἂν μητρὸς εὐγενοῦς ἄπο ὑψήλ’ ἐφώνεις κἀπ’ ἄκρων ὡδοιπόρεις, 1230 ὅτ’ οὐδὲν ὢν τοῦ μηδὲν ἀντέστης ὕπερ, κοὔτε στρατηγοὺς οὔτε ναυάρχους μολεῖν ἡμᾶς Ἀχαιῶν οὔτε σοῦ διωμόσω, ἀλλ’ αὐτὸς ἄρχων, ὡς σὺ φής, Αἴας ἔπλει. ταῦτ’ οὐκ ἀκούειν μεγάλα πρὸς δούλων κακά; 1235 ποίου κέκραγας ἀνδρὸς ὧδ’ ὑπέρφρονα, ποῦ βάντος ἢ ποῦ στάντος οὗπερ οὐκ ἐγώ; οὐκ ἆρ’ Ἀχαιοῖς ἄνδρες εἰσὶ πλὴν ὅδε; πικροὺς ἔοιγμεν τῶν Ἀχιλλείων ὅπλων ἀγῶνας Ἀργείοισι κηρῦξαι τότε, 1240 εἰ πανταχοῦ φανούμεϑ’ ἐκ Τεύκρου κακοί, κοὐκ ἀρκέσει ποϑ’ ὑμὶν οὐδ’ ἡσσημένοις εἴκειν ἃ τοῖς πολλοῖσιν ἤρεσκεν κριταῖς, ἀλλ’ αἰὲν ἡμᾶς ἢ κακοῖς βαλεῖτέ που ἢ σὺν δόλῳ κεντήσεϑ’ οἱ λελειμμένοι. 1245 ἐκ τῶνδε μέντοι τῶν τρόπων οὐκ ἄν ποτε κατάστασις γένοιτ’ ἂν οὐδενὸς νόμου, εἰ τοὺς δίκῃ νικῶντας ἐξωϑήσομεν καὶ τοὺς ὄπισϑεν εἰς τὸ πρόσϑεν ἄξομεν. ἀλλ’ εἰρκτέον τάδ’ ἐστίν· οὐ γὰρ οἱ πλατεῖς 1250 οὐδ’ εὐρύνωτοι φῶτες ἀσφαλέστατοι, ἀλλ’ οἱ φρονοῦντες εὖ κρατοῦσι πανταχοῦ. μέγας δὲ πλευρὰ βοῦς ὑπὸ σμικρᾶς ὅμως μάστιγος ὀρϑὸς εἰς ὁδὸν πορεύεται. καὶ σοὶ προσέρπον τοῦτ’ ἐγὼ τὸ φάρμακον 1255 ὁρῶ τάχ’, εἰ μὴ νοῦν κατακτήσῃ τινά· ὃς τἀνδρὸς οὐκέτ’ ὄντος, ἀλλ’ ἤδη σκιᾶς, ϑαρσῶν ὑβρίζεις κἀξελευϑεροστομεῖς. οὐ σωφρονήσεις; οὐ μαϑὼν ὃς εἶ φύσιν ἄλλον τιν’ ἄξεις ἄνδρα δεῦρ’ ἐλεύϑερον, 1260 ὅστις πρὸς ἡμᾶς ἀντὶ σοῦ λέξει τὰ σά; σοῦ γὰρ λέγοντος οὐκέτ’ ἂν μάϑοιμ’ ἐγώ· τὴν βάρβαρον γὰρ γλῶσσαν οὐκ ἐπαίω. Man meldet mir, dass Du es wagest, den Mund weit gegen uns aufzureißen, und das ungestraft. Dich mein ich, den Sohn einer Kriegsgefangenen; stammtest Du von einer adligen Mutter ab, [1230] wie würdest Du dann erst hochfahrend sprechen und stolz 101 2.5 Der vierte Handlungsbogen: die Fortschreibung der Spannung <?page no="102"?> 174 So z. B. Winnington-Ingram (1980, 65). umhergehen, der Du Dich erhoben hast, ein Nichts für ein Nichts, und geschworen hast, dass wir als Heer- und Schiffsführer keinerlei Gewalt hätten über die Achaier oder Dich und dass Aias stattdessen als sein eigener Anführer gekommen sei, wie Du sagst. [1235] Ist es nicht ein großes Übel, dies von Sklaven zu hören? Im Interesse was für eines Mannes schreist Du derart hochmütige Dinge herum? Wo ist dieser hingegangen und wo hat er gestanden, wo ich nicht hinging und stand? Haben die Achaier keine Männer außer diesem? Bitter scheinen wir um die Waffen des Achill [1240] damals Wettkämpfe ausgerufen zu haben für die Achaier, wenn wir dank Teukers überall als schlecht erscheinen und Ihr, auch wenn Ihr verloren habt, nicht bereit seid, zuzugestehen, was der Mehrzahl der Richter gut schien, und stattdessen immerzu uns mit Schmutz bewerft [1245] oder Betrugsvorwürfe vorbringt, Ihr, die Ihr verloren habt. Solch ein Verhalten kann niemals eine Basis sein für irgendein Gesetz, wenn wir die, die gerechterweise gewonnen haben, disqualifizieren und die, welche die hinteren Plätze belegt haben, nach vorne rücken. [1250] Dem muss Einhalt geboten werden; nicht nämlich sind die kräftigen und breitschultrigen Männer am zuverlässigsten, vielmehr obsiegen überall die Vernünftigen. Ein Ochse mit mächtigen Flanken lässt sich nämlich sehr wohl mit einer kleinen Geißel auf den rechten Weg bringen, [1255] und ich sehe, dass dieses Heilmittel bald auch bei Dir Wirkung entfalten wird, wenn Du nicht etwas zu Sinnen kommst - Du, der Du für einen Mann, der nicht mehr lebt, sondern schon ein Schatten ist, kühnen Hochmut zeigst und freiheraus redest. Willst Du nicht vernünftig werden? Wirst Du nicht, wenn Du Dir über Deine Abstammung klar wirst, [1260] einen anderen Mann herbeibringen, einen freien, der an Deiner Stelle das Deine zu uns sagt? Wenn Du nämlich redest, ich könnt’s nicht einmal verstehen, denn die Barbarensprache beherrsch ich leider nicht. Agamemnon weiß offensichtlich vom Streit seines Bruders mit Teuker, und ent‐ sprechend ist seine Absicht nach wie vor, die Bestattung des Aias zu verbieten; diese erwähnt er allerdings mit keinem Wort. Dass er keine Argumente für das vorbringt, was er verfolgt, kann man kritisieren; 174 versteht man Agamemnon jedoch als kommunikativen Akteur, so wird deutlich, dass es sich dabei auch um eine bewusste Strategie handeln kann: Menelaos hat die Situation bei seinem Abgang in den vv. 1159 f. als eine beschrieben, in der Worte - genauer ange‐ sichts von κολάζειν 1160: Argumente - nichts mehr nützten, sondern Gewalt das Mittel der Wahl sei. Die dieser Feststellung implizite Drohung vollzieht Agamemnon nun, statt Argumente vorzubringen. Zunächst nämlich versucht er Teuker grob mundtot zu machen, indem er diesen als kommunikativen Akteur attackiert, der ihm als „Sklave“ nichts zu sagen habe (v. 1235, beachte auch τὰ δεινὰ ῥήματ’ 1226, ὧδ’ ἀνοιμωκτεὶ χανεῖν 1227, ὑψήλ’ ἐφώνεις 1230). Im 102 2 Der Aias <?page no="103"?> 175 Hesk (2003, 114-117 und 120 f.) hat überzeugend auf Parallelen des Menelaos- und des Agamemnon-Agons zur Praxis des ‚flyting‘ hingewiesen, d. h. einer (u. a. aus den homerischen Gedichten bekannten) ritualisierten Form sprachlichen Kampfes, die als Substitution von, aber auch als Präludium zu physischer Gewalt fungieren kann. 176 Zur Tatsache, dass Agamemnon das Thema der Gerechtigkeit in den Vordergrund rückt, vgl. Blaise 1998, 398. 177 Vgl. Blaise 1998, 398 f.; Barker 2009, 304f. Anschluss daran überführt er diese verbale dann deutlich in die Androhung physischer Gewalt (vv. 1255 f.). Will man die Situation nachvollziehen, mit der Agamemnon seinen Kontra‐ henten Teuker konfrontiert, so ist der Charakter seiner Rede als Androhung von - und gewissermaßen verbaler ‚Vorgeschmack‘ auf - Gewalt unbedingt in Rechnung zu stellen. 175 Doch damit ist noch nicht alles gesagt, denn Agamemnon hat für Teuker - und für die Zuschauer - eine zusätzliche Erschwernis in seine Rede eingebaut. Ein Argument bringt er nämlich vor, allerdings nicht, um direkt das Bestattungsverbot, sondern, um seinen ‚Gewaltdiskurs‘ zu legitimieren, und dieses Argument ist, auf den ersten Blick, außerordentlich stark: Er hebt auf die unbestreitbare Tatsache ab, dass Teuker sich durch seinen Schiebungsvorwurf weigert, eine zumindest formal korrekte Mehrheitsentscheidung zu akzeptieren, und behauptet, dass solches Verhalten nicht toleriert werden könne, da sonst keinerlei politische oder soziale Stabilität - Agamemnon spricht von der „Basis für irgendein Gesetz“ (vv. 1246 f.) - möglich sei, also auch keine „Gerechtigkeit“ (vv. 1236-1254 mit τοὺς δίκῃ νικῶντας 1248). 176 Dieses Argument basiert nun auf einer zutreffenden Tatsache - das Urteil war formal korrekt, die „Mehrzahl der Richter“ (v. 1243) hat so entschieden -, und es ist anzunehmen, dass Agamemnons Betonung der Notwendigkeit des Gehorsams gegenüber einer einmal regelrecht festgelegten und somit ‚gerechten‘ Ordnung gerade für ein zeitgenössisches Publikum im demokratischen Athen eine besondere Plausibi‐ lität besaß. 177 Auf diese Weise versucht Agamemnon, sowohl seine verbale wie auch, sollte Teuker nicht klein beigeben, die dann erfolgende physische Gewalt zu legitimieren: als Verteidigung der Gerechtigkeit gegen die von seinem Kontrahenten ausgehende Bedrohung. Fragt man nun nach der Sympathielenkung in Agamemnons Auftritt, so scheint angesichts der vorangegangenen Ausführungen eine Situation vorzu‐ liegen, die durch die oben 1.3.2 beschriebene Entkopplung der emotionalen von der intellektuell-normativen Dimension der Sympathie gekennzeichnet ist: Agamemnon ist denkbar negativ dargestellt, da er die unmittelbar vor seinem Auftritt noch einmal als unbedingt wünschenswert dargestellte Bestattung des Aias mit Gewalt zu verhindern versucht und da seine Anwürfe gegen Teuker 103 2.5 Der vierte Handlungsbogen: die Fortschreibung der Spannung <?page no="104"?> 178 Vgl. Hesk 2003, 123: „Agamemnon’s argument should make us uneasy.“ 179 Siehe unten z. B. 3.6.2. 180 Blaise (1998, 399 f.) verweist darauf, dass Agamemnons Beschreibung auf ein spezifi‐ sches Vorbild in der Ilias verweist (das Wagenrennen des 23. Gesangs), in dem Betrug die Rangierung der Kontrahenten nach ihrer natürlichen ‚Exzellenz‘ - durch Achill! - nötig machte: Dass beim Waffenurteil Betrug im Spiel gewesen sei, kann man nicht sagen, aber Sophokles erinnert daran, dass eine simple Siegerliste durchaus dabei versagen kann, der Realität gerecht zu werden. und Aias äußerst grob und streckenweise grotesk sind; doch ihm effektiv zu widersprechen, erscheint auf den ersten Blick quälend schwierig, müsste man dazu doch den Wert der Stabilität sowie des Gehorsams gegenüber Regeln und damit letztlich auch der Gerechtigkeit bestreiten. 178 Muss man also das widerwärtige Handeln dieser Figur zähneknirschend hinnehmen? Nun, nicht ganz, denn Sophokles hat in ihr Argument eine entscheidende Schwäche eingebaut. Dessen Stärke liegt nämlich in seinem formalen Charakter: Einmal ergangene, formal korrekte Entscheidungen sind - unabhängig von ihrem Inhalt - zu respektieren, und wer dies nicht tut, kann oder muss, gegebenenfalls mit Gewalt, zum Schweigen gebracht werden, da ansonsten Chaos und Gesetzlo‐ sigkeit Tür und Tor geöffnet ist - eine Position, die ähnlich der Chor in der Antigone vertreten wird. 179 Nun gibt sich Agamemnon aber selbst nicht mit einer solchen formalen Verankerung zufrieden, sondern behauptet, Aias sei ‚nichts Besonderes‘ gewesen, stellt sich also auf den Standpunkt, das Waffenurteil sei auch inhaltlich korrekt gewesen (vv. 1236-1238): Warum Aias die Waffen zusprechen und nicht einem anderen der „Männer der Achaier“ oder - ihm selbst, der er alles, was dieser getan hat, selbst auch geleistet habe? Kurzum, Agamemnon bezeichnet mit δίκῃ in τοὺς δίκῃ νικῶντας 1248 nicht nur die formale, sondern auch die inhaltliche Korrektheit des Waffenurteils. Die inhaltliche Korrektheit einer Entscheidung fällt also, folgt man Aga‐ memnon, durchaus ins Gewicht, Gehorsam und Gerechtigkeit sind somit nicht notwendig deckungsgleich. 180 Damit aber wird er angreifbar, denn wenn es nicht stimmen sollte, dass Aias ‚nichts Besonderes‘ gewesen sei, dann fällt sein Gerechtigkeitsargument und somit auch die Legitimation seines ‚Gewalt‐ diskurses‘ in sich zusammen. Denn dieser ‚Gewaltdiskurs‘ zielt dann nicht auf die Verwirklichung von - allein formal zu verstehender - Gerechtigkeit, sondern auf die Durchsetzung einer zwar formal korrekten, aber tatsächlich ungerechten Entscheidung ab. Dass diese Möglichkeit im Stück nun verwirklicht wird, liegt auf der Hand, und zwar schlicht aufgrund von Agamemnons mit Händen zu greifender Widerwärtigkeit. Denn diese lässt es abwegig erscheinen, dass Aias um keinen Deut besser gewesen sei als Agamemnon; kurzum, Agamemnons Gerechtigkeitsargument leistet keine Legitimation seines ‚Gewaltdiskurses‘, 104 2 Der Aias <?page no="105"?> sondern erscheint tatsächlich als eine bloße - und ungenügende - Bemäntelung des Versuches, berechtigten Widerspruch zu unterdrücken. Die Zuschauer sehen sich also mit einer Situation konfrontiert, in der Widerspruch gegen Agamemnon nicht nur wünschenswert, sondern grundsätzlich auch möglich ist, und bleiben entsprechend, in Fortsetzung des Einschubs nach Menelaos’ Abgang, für die Sache von Aias’ Verteidigern engagiert. Dieses Engagement indes führt, wie bereits im Agon mit Menelaos, in eine Spannung zwischen dem Chor und Teuker im Hinblick auf die Frage, wie solcher Widerspruch auszusehen hat (vv. 1264-1315): . εἴϑ’ ὑμὶν ἀμφοῖν νοῦς γένοιτο σωφρονεῖν· τούτου γὰρ οὐδὲν σφῷν ἔχω λῷον φράσαι. 1265 . φεῦ, τοῦ ϑανόντος ὡς ταχεῖά τις βροτοῖς χάρις διαρρεῖ καὶ προδοῦσ’ ἁλίσκεται, εἰ σοῦ γ’ ὅδ’ ἁνὴρ οὐδ’ ἐπὶ σμικρὸν λόγον, Αἴας, ἔτ’ ἴσχει μνῆστιν, οὗ σὺ πολλάκις τὴν σὴν προτείνων προὔκαμες ψυχὴν δορί· 1270 ἀλλ’ οἴχεται δὴ πάντα ταῦτ’ ἐρριμμένα. ὦ πολλὰ λέξας ἄρτι κἀνόητ’ ἔπη, οὐ μνημονεύεις οὐκέτ’ οὐδέν, ἡνίκα ἑρκέων ποϑ’ ὑμᾶς οὗτος ἐγκεκλῃμένους, ἤδη τὸ μηδὲν ὄντας ἐν τροπῇ δορός, 1275 ἐρρύσατ’ ἐλϑὼν μοῦνος, ἀμφὶ μὲν νεῶν ἄκροισιν ἤδη ναυτικοῖς ‹ϑ’› ἑδωλίοις πυρὸς φλέγοντος, ἐς δὲ ναυτικὰ σκάφη πηδῶντος ἄρδην Ἕκτορος τάφρων ὕπερ; τίς ταῦτ’ ἀπεῖρξεν; οὐχ ὅδ’ ἦν ὁ δρῶν τάδε, 1280 ὃν οὐδαμοῦ φής, οὗ σὺ μή, βῆναι ποδί; ἆρ’ ὑμὶν οὗτος ταῦτ’ ἔδρασεν ἔνδικα; χὤτ’ αὖϑις αὐτὸς Ἕκτορος μόνος μόνου, λαχών τε κἀκέλευστος, ἦλϑεν ἀντίος, οὐ δραπέτην τὸν κλῆρον ἐς μέσον καϑείς, 1285 ὑγρᾶς ἀρούρας βῶλον, ἀλλ’ ὃς εὐλόφου κυνῆς ἔμελλε πρῶτος ἅλμα κουφιεῖν; ὅδ’ ἦν ὁ πράσσων ταῦτα, σὺν δ’ ἐγὼ παρών, ὁ δοῦλος, οὑκ τῆς βαρβάρου μητρὸς γεγώς. [Teuker hält Agamemnon dessen zweifelhafte Abkunft vor und verteidigt seine eigene.] ἆρ’ ὧδ’ ἄριστος ἐξ ἀριστέοιν δυοῖν βλαστὼν ἂν αἰσχύνοιμι τοὺς πρὸς αἵματος, 1305 105 2.5 Der vierte Handlungsbogen: die Fortschreibung der Spannung <?page no="106"?> οὓς νῦν σὺ τοιοῖσδ’ ἐν πόνοισι κειμένους ὠϑεῖς ἀϑάπτους, οὐδ’ ἐπαισχύνῃ λέγων; εὖ νυν τόδ’ ἴσϑι, τοῦτον εἰ βαλεῖτέ που, βαλεῖτε χἠμᾶς τρεῖς ὁμοῦ συγκειμένους. ἐπεὶ καλόν μοι τοῦδ’ ὑπερπονουμένῳ 1310 ϑανεῖν προδήλως μᾶλλον ἢ τῆς σῆς ὑπὲρ γυναικός, ἢ τοῦ σοῦ γ’ ὁμαίμονος λέγω; πρὸς ταῦϑ’ ὅρα μὴ τοὐμόν, ἀλλὰ καὶ τὸ σόν. ὡς εἴ με πημανεῖς τι, βουλήσῃ ποτὲ καὶ δειλὸς εἶναι μᾶλλον ἢ ’ν ἐμοὶ ϑρασύς. 1315 r Kämt Ihr doch beide zur Vernunft! [1265] Etwas Besseres als das kann ich Euch beiden nicht sagen. eu. Pheu, wenn einer gestorben ist, wie schnell zerrinnt dann die Dankbarkeit der Sterblichen für ihn und wird verraten, wenn dieser Mann hier sich nicht ein bisschen an Dich, Aias, erinnert, für den Du oft [1270] unter Mühen Dein Leben riskiert hast im Kampf; aber all das ist dahin! O der Du eben viele dumme Reden gehalten hast, erinnerst Du Dich keineswegs mehr daran, wie dieser Euch, als Ihr von Wällen eingeschlossen [1275] und zunichte gemacht worden wart durch das gewendete Kriegsglück, rettete, indem er alleine kam, als rundherum um die Schiffe und die Anlegestellen das Feuer weit nach oben loderte und Hektor alleine hoch über die Gräben zu den Schiffsrümpfen sprang? [1280] Wer hat dies abgewehrt? War nicht er der, der dies tat, von dem Du sagst, dass er nirgendwohin seinen Fuß gesetzt habe, wohin nicht auch Du Deinen Fuß gesetzt hast? Hat dieser Mann das nicht gerecht an Euch getan? Und dann wiederum ist er Hektor im Kampf Mann gegen Mann entgegengetreten aufgrund eines Losentscheids und ohne dass man es ihm hätte befehlen müssen, [1285] da der Losstein, den er in die Mitte legte, keiner war, der rasch zerfiel, ein Klumpen feuchten Lehms, sondern einer, der aus dem schönbuschigen Helm in leichtem Satz als erster heraussprang. Dieser hat dies getan, und ich mit ihm, der Sklave, der Sohn einer Barbarenmutter! [Teuker hält Agamemnon dessen zweifelhafte Abkunft vor und verteidigt seine eigene.] Soll ich also, der ich als herausragender Mensch zweier herausragender Menschen [1305] Nachkomme bin, meine Blutsverwandten beschämen, die Du nun, wo sie daliegen, durch solche Übel niedergestreckt, unbestattet ausstößt und Dich nicht schämst, dies zu sagen? Sei Dir bewusst: Wenn Ihr diesen Mann ausstoßt, werdet Ihr auch uns drei ausstoßen, die wir hier mit ihm liegen. [1310] Denn schön ist es für mich, vor aller Augen zu sterben, indem ich für ihn hier kämpfe statt für Deine Frau - oder soll ich sagen, die Deines Bruders? Betrachte in dieser Hinsicht also nicht nur meinen Fall, sondern auch Deinen eigenen! Denn wenn Du mich bedrückst, dann wirst Du Dir irgendwann wünschen, [1315] im Umgang mit mir ein Feigling gewesen zu sein statt mutig! 106 2 Der Aias <?page no="107"?> Der Chor reagiert mit einer Aufforderung an beide Kontrahenten, „Vernunft“ walten zu lassen, kritisiert also Agamemnon, fordert aber zugleich Teuker präventiv auf, nicht weiter an der Eskalationsschraube zu drehen. Seine Reak‐ tion ist also, wie bereits im Agon mit Menelaos, vom Streben nach Konzilianz geprägt, und als solche schlüssig: Ohne Deeskalation von beiden Seiten kann die vorliegende Situation nur in eine Katastrophe führen, unter der auch der hilflose Chor leiden wird, dessen Verzweiflung besonders in v. 1265 eindringlich spürbar ist; ferner verleiht Sophokles der Kritik an Teuker, sollte sich dieser erneut ‚unvernünftig‘ zeigen, besonderes Gewicht, da er die entsprechende Bemerkung des Chors vor dessen Einlassung platziert hat. Betrachtet man nun Teukers Rede, so liegt auf der Hand, dass er dem im Chorkommentar impliziten Maßstab in eklatanter Weise nicht genügt, vielmehr ist seine Rede von der bekannten Aggressivität geprägt, wenn er Agamemnons Anwürfe bezüglich seiner Herkunft ausführlich kontert und am Ende unmittelbar davorsteht, seine verbale Aggressivität in physische Gewalt münden zu lassen. Dabei ist Teukers Reaktion aber - und dies ist entscheidend - so gestaltet, dass sie durchaus auch ein Identifikationspotential entwickelt. Denn die „Ver‐ nunft“, zu der ihn der Chor auffordert, ist nach Agamemnons Rede ein belas‐ teter Begriff, da er diesen prominent verwendet hatte, um die Unterwerfung unter seine Ungerechtigkeit einzufordern (beachte οἱ φρονοῦντες εὖ 1252, εἰ μὴ νοῦν κατακτήσῃ τινά 1256 und οὐ σωφρονήσεις; 1259). Es gibt in Teukers Situation also gute Gründe, gerade nicht ‚vernünftig‘ zu handeln, und diese Tatsache zeigt seine Rede eindrücklich. Denn während Agamemnons Gerechtigkeitsargument bloß zur Bemäntelung von Gewalt gedient hatte, ist bei Teuker das Verhältnis umgekehrt: Seine ‚unvernünftige‘ Aggressivität steht im Dienst der gerechten Sache. Dass er die Gerechtigkeit auf seiner Seite habe, behauptet er gleich zu Beginn, wenn er Agamemnons Behauptung bestreitet, dass Aias ‚nichts Besonderes‘ und das Waffenurteil entsprechend nicht bloß formal, sondern auch inhaltlich korrekt gewesen sei. Denn er arbeitet die herausragenden Verdienste des Aias um die Griechen heraus, der eben nicht bloß getan habe, was jeder andere - zum Beispiel Agamemnon - hätte tun können, doch dem die Anerkennung dafür versagt geblieben sei: Er hat seine Pflicht „gerecht“ erfüllt (vgl. ἆρ’ ὑμὶν οὗτος ταῦτ’ ἔδρασεν ἔνδικα; 1282), nicht aber die anderen die ihre. Diese Argumentation ist von Sophokles so gestaltet worden, dass sie höchst plausibel erscheint, Teuker also den Eindruck in aller Deutlichkeit bestätigt, den man bereits während Agamemnons Rede aufgrund von dessen Widerwärtigkeit hatte gewinnen können: dass es abwegig ist, dass Aias ‚nichts Besonderes‘ gewesen sei. Entscheidend dafür ist der Einsatz zweier textlicher Rahmen, der 107 2.5 Der vierte Handlungsbogen: die Fortschreibung der Spannung <?page no="108"?> 181 Vgl. Barker 2009, 307 f.; dass Teuker Aias hier noch positiver darstellt als im Hypotext, ist kein Grund, die Wahrhaftigkeit dieser Schilderung in Zweifel zu ziehen, sondern bewirkt genau dies: ein noch positiveres Bild des Aias (vgl. Finglass 2011, ad vv. 1272-1279; ähnlich verhält es sich mit Elektras Darstellung des Agamemnon in der gleichnamigen sophokleischen Tragödie, wozu siehe unten zu Anm. 428). 182 Zum Beispiel von Finglass (2011, ad vv. 1266-1315: „By deigning to answer in such detail an irrelevant charge, Teucer allows himself to be dragged down somewhat to Agamemnon’s level.“); vgl. z. B. auch Holt 1981, 285. eine inter-, der andere intratextuell. Der intertextuelle Rahmen ist derjenige der Ilias, in der die von Teuker hier geschilderten Großtaten des Aias ebenfalls erzählt wurden, die also Teukers positive Schilderung deckt und hier in bis jetzt nicht erreichter Konkretheit aufgerufen wird. 181 Der intratextuelle Rahmen ist das Plädoyer der Tekmessa in der ersten Stückhälfte. Denn dieses ruft Teukers Klage, wie schnell die „Dankbarkeit“ Aias gegenüber und die „Erinnerung“ an ihn „zerronnen“ sei, eindeutig in Erinnerung (beachte χάρις διαρρεῖ 1267 und μνῆστιν 1269 neben χάρις 522 und ἀπορρεῖ μνῆστις 523). Dies hat nun einen auf der Hand liegenden Effekt: Aias’ Wahrnehmung, dass die Atriden ihm die philia gebrochen und insofern ungerecht gehandelt hätten, war in der ersten Stückhälfte dilemmatisch mit den Ansprüchen kontrastiert worden, welche die philoi an ihn hatten und denen er nicht genügte. Hier nun arbeiten die Begriffe, in denen Tekmessa ihren Standpunkt demjenigen des Aias entgegengestellt hatte, für diesen, das heißt, die Auffassung, dass die Atriden Aias die philia gebrochen hätten, kann so unproblematisch und vollumfänglich übernommen werden, wie dies bisher noch nie der Fall gewesen ist. Ein, ja das zentrale Problem bleibt allerdings natürlich auch nach Teukers Argument bestehen: Agamemnons ‚Gewaltdiskurs‘. Diesem widmet sich Teuker nun im weiteren Verlauf der Rede, der in zwei Teile zerfällt. Im ersten kontert er Agamemnons Versuche, ihn als „Sklaven“ und „Barbaren“ herabzusetzen, der ihm nichts zu sagen habe. Für die aggressive Detailliertheit, mit der er hier auf Agamemnons „irrelevante“ Aussagen eingeht, ist Teuker getadelt worden. 182 Nun ist oben aber gezeigt worden, dass Agamemnons Aussagen auf der pragma‐ tischen Ebene nicht irrelevant gewesen waren, sondern einem bestimmten Ziel gedient hatten: Teuker mit verbaler Gewalt mundtot zu machen. Wenn Teuker hier nun Agamemnons Anwürfe widerlegt, dann kämpft er also gegen genau diesen Versuch an, ihn zum Schweigen zu bringen, womit er gewissermaßen die Voraussetzung für die vorangegangene kraftvolle Verteidigung des Aias erst sichert. Teukers Aggressivität steht hier erneut im Dienst der gerechten Sache. Nun hatte der gewaltsame Charakter von Agamemnons Rede aber nicht nur im eben erwähnten Versuch bestanden, Teuker mundtot zu machen, vielmehr hatte er auch mit physischer Gewalt gedroht; auch dieses Problems nimmt sich 108 2 Der Aias <?page no="109"?> Teuker hier an, indem er diese Entwicklung am Ende seiner Rede nachvollzieht und seinerseits mit Gewalt droht. Hier erinnert Sophokles also daran, dass Teuker sich durch Agamemnon mit einer Situation konfrontiert sieht, in der er die Gerechtigkeit gegen jemanden verteidigen muss, der sich von Anfang an nicht auf Argumente, sondern auf nackte Gewalt gestützt und von ihm verlangt hatte, dass er sich ‚vernünftig‘ seiner Ungerechtigkeit unterwerfe. Diese Unterwerfung verweigert Teuker hier nun eklatant, indem er das Einzige tut, was in einer solchen Situation dann noch möglich ist: mit Gewaltandrohung auf Gewaltandrohung zu reagieren. Zugleich ist aber natürlich deutlich, dass Teuker gegen die restlichen Griechen keine Chance hat, sondern kämpfend untergehen wird - er selbst erklärt seine Bereitschaft, zu sterben (vv. 1310 f.) -, so dass die Verzweiflung des Chors angesichts der Eskalation durchaus nachvollziehbar bleibt. Auf diese Weise zeigt sich, wie oben angekündigt, erneut eine Spannung zwischen den Perspektiven des Chors und Teukers im Hinblick auf den angemessenen Umgang mit Unrecht: eine Spannung zwischen einer Strategie der maximalen Aggressivität auf der einen und der Verständigung auf der anderen Seite, für die es jeweils gute Gründe gibt, die aber auch spezifische Defizite haben, kann doch dort die Konsequenz letztlich nur der suizidale Kampf gegen überlegene Feinde sein, hier aber effektiv die Unterwerfung unter Unrecht. Diese Ambiguität bindet Sophokles dabei an die erste Stückhälfte zurück. Zunächst nämlich hatte Agamemnon Aias ja nicht nur angegriffen, indem er behauptet hatte, dieser sei ‚nichts Besonderes‘ gewesen. Vielmehr hatte sein Gerechtigkeitsargument indirekt auch auf Aias abgezielt: Dieser hatte sich, wie die zweite Person Plural in den vv. 1242-1245 zeigt, nicht anders als Teuker geweigert, eine einmal ergangene Mehrheitsentscheidung zu akzeptieren, und dadurch einen Mangel an sophrosyne an den Tag gelegt. Wenn hier nun deutlich wird, dass gegenüber einer Figur wie Agamemnon sophrosyne der Unterwerfung unter Unrecht gleichkäme, so werden die Zuschauer daran erinnert, dass Aias gute Gründe hatte, sich dieser sozialen ‚Tugend‘ nicht zu befleißigen, ohne dass diese ihren Status als Tugend grundsätzlich verlöre: Es sind, wie oben gesagt, nicht Agamemnons Prinzipien, die problematisch sind, sondern seine Anwendung derselben mit dem Ziel, Ungerechtigkeit zu bemänteln. Vor allem aber führt das eben ausgeführte Dilemma zwischen den Reaktionen des Teuker und des Chors das zentrale Dilemma der ersten Stückhälfte fort. Diese Wirkung erreicht Sophokles, indem er am Ende von Teukers Rede zwei Motive erscheinen lässt, die bereits früher eine Rolle gespielt hatten: dasjenige der aidos und dasjenige des „schönen Todes“ (beachte αἰσχύνοιμι 1305 und καλόν […] ϑανεῖν 1310 f.). Aias hatte nämlich gegenüber seinen philoi, als 109 2.5 Der vierte Handlungsbogen: die Fortschreibung der Spannung <?page no="110"?> 183 Vgl. Hesk (2003, 122), der in Aias’ und Teukers Mangel an sophrosyne eine gegen Unrecht gerichtete und im Angesicht von Unrecht unausweichliche Form der hybris sieht. diese von ihm ein ‚vernünftiges‘ „Weichen“ vor den Atriden gefordert hatten, das aber aus seiner Sicht einer Unterwerfung gleichgekommen wäre, deutlich gemacht, dass eine solche Reaktion „schändlich“ wäre und er als „edler Mann“ „schön sterben“ müsse (vv. 473-480 mit αἰσχρὸν 473, καλῶς τεϑνηκέναι 479 und τὸν εὐγενῆ 480). Wenn Teuker hier nun deutlich macht, dass er, wenn er, wie von Agamemnon verlangt, „wiche“ (beachte εἴκειν 1243), seine unmittelbar davor ausgeführte edle Abkunft „beschämen“ würde, und deswegen bereit ist, „schön zu sterben“, dann wird endgültig deutlich, dass beide Halbbrüder sich in identischen Situationen befinden und identisch darauf reagieren: mit der Bereitschaft, bis zum Äußersten zu gehen, statt sich zu unterwerfen. 183 Zugleich wird aber Teukers Reaktion, nicht anders als diejenige des Aias, dilemmatisch mit einer anderen Reaktion kontrastiert, nämlich eben der Mahnung zu Konzi‐ lianz und ‚Vernunft‘, wie sie der Chor artikuliert - eine Kontrastierung, welche die Zuschauer jeweils daran erinnert, dass diese Unnachgiebigkeit verheerende Konsequenzen hat: Suizid im Falle des Aias, suizidaler Kampf gegen überlegene Feinde in demjenigen des Teuker und, beide Male, eine Gefährdung der philoi. Auf diese Weise setzt die zweite Stückhälfte die Spannung der ersten gewis‐ sermaßen in einem anderen ‚Phänotyp‘ fort und bewahrt so, in impliziter Form, die Ambiguität des Aias, die in der ersten Hälfte herausgearbeitet worden war. Damit erreicht Sophokles die zwei oben 2.5 ausgeführten Ziele: Zum einen haben die Zuschauer verfolgt, wie Teuker, nachdem er als ‚gewöhnliche‘, hilflose Figur eingeführt worden war, in seinem Kampf gegen Unrecht über sich hinausgewachsen ist, bis man darin den heroischen Kampf seines Bru‐ ders wiedererkennen konnte; ebenso hat sich aber gezeigt, dass somit auch Teukers kompromissloses Agieren vom Standpunkt der hier durch den Chor vertretenen von ihm abhängigen Gemeinschaft aus gesehen problematisch ist. Dieses Dilemma zwischen herausragendem Einzelnem und Gemeinschaft ist also offensichtlich kein Phänomen eines für Sophokles’ Zeitgenossen fernen, homerischen Milieus, sondern ein Grunddatum der condicio humana. Zum anderen bereitet die sophokleische Darstellung in der zweiten Hälfte den Stückschluss vor, an dem zwar eine Auflösung erreicht wird, dies jedoch in einer Weise, dass Aias in seiner Ambiguität noch deutlicher wieder in den Vordergrund tritt, statt dass man diese bequem unter den Tisch fallen lassen könnte. Auf die endgültige Affirmation dieser ‚Botschaft‘ ist somit das gesamte Stück zugelaufen, sie ist es, in deren Dienst Sophokles die Involvierung durch Multiperspektivität gestellt hat. 110 2 Der Aias <?page no="111"?> 2.6 Der fünfte Handlungsbogen: die unvollständige Auflösung Dieser Stückschluss ist zunächst geprägt von einer Neuausrichtung der Invol‐ vierung. Denn nachdem die Zuschauer am Ende von Teukers Rede mit der oben 2.5, 2.5.1 und 2.5.3 beschriebenen Spannung konfrontiert worden waren, wird diese nun im - dadurch desto größeren - Engagement für das Agieren einer neu erschienenen Figur aufgehoben, und zwar des Odysseus (vv. 1316-1327): . ἄναξ Ὀδυσσεῦ, καιρὸν ἴσϑ’ ἐληλυϑώς, εἰ μὴ ξυνάψων, ἀλλὰ συλλύσων πάρει. . τί δ’ ἔστιν, ἄνδρες; τηλόϑεν γὰρ ᾐσϑόμην βοὴν Ἀτρειδῶν τῷδ’ ἐπ’ ἀλκίμῳ νεκρῷ. Α . οὐ γὰρ κλυόντες ἐσμὲν αἰσχίστους λόγους, 1320 ἄναξ Ὀδυσσεῦ, τοῦδ’ ὑπ’ ἀνδρὸς ἀρτίως; . ποίους; ἐγὼ γὰρ ἀνδρὶ συγγνώμην ἔχω κλύοντι φλαῦρα συμβαλεῖν ἔπη κακά. Α . ἤκουσεν αἰσχρά· δρῶν γὰρ ἦν τοιαῦτά με. . τί γάρ σ’ ἔδρασεν, ὥστε καὶ βλάβην ἔχειν; 1325 Α . οὔ φησ’ ἐάσειν τόνδε τὸν νεκρὸν ταφῆς ἄμοιρον, ἀλλὰ πρὸς βίαν ϑάψειν ἐμοῦ. r Herr Odysseus, wisse, dass Du zum richtigen Zeitpunkt gekommen bist, wenn Du nicht hier bist, um den Streit noch verwickelter zu machen, sondern um zur Lösung beizutragen. d. Was ist, Ihr Männer? Von fern habe ich nämlich das Geschrei der Atriden bei diesem wehrhaften Toten gehört. [1320] A . Haben wir denn nicht eben äußerst hässliche Worte gehört, Herr Odysseus, die gesprochen wurden für diesen Mann? d. Was für welche? Ich nämlich kann einem Mann verzeihen, wenn er, nachdem er dumme Reden gehört hat, mit schlimmen Reden dagegenhält. A . Er hat Schlimmes zu hören bekommen; solches hat er mir nämlich angetan. [1325] d. Was hat er Dir angetan, dass Du einen Schaden davon hast? A . Er weigert sich, zu akzeptieren, dass dieser Leichnam ohne Bestattung bleibe, und will ihn mit Gewalt gegen meinen Willen bestatten. Die Aufhebung der Spannung leistet Sophokles dabei dadurch, dass er deutlich macht, dass sowohl der Chor wie auch Teuker in ihren jeweiligen spezifischen Reaktionen - Konzilianz und Aggressivität - den Boden für Odysseus’ Agieren bereiten oder bereitet haben. Der Chor ist es nämlich, der diesen, sobald er erschienen ist, auffordert, sich für eine Lösung einzusetzen. Diese Reaktion ist 111 2.6 Der fünfte Handlungsbogen: die unvollständige Auflösung <?page no="112"?> 184 So meint Barker (2009, 318), dass der Chor hier seine dramatische Identität verlasse und zu einem direkten Vertreter der Zuschauer werde, da seine Reaktion im inneren Kommunikationssystem vollkommen unmotiviert sei. 185 Der mögliche Einwand, dass Odysseus die Bestattung des Aias auch ohne Teuker hätte erreichen können, da ein Bestattungsverbot darin bestehe, Aias’ Leichnam einfach liegenzulassen, so dass man diesen zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt doch noch bestatten könnte, geht am Symbolgehalt des geplanten Vorgehens vorbei: Die Atriden wollten Aias symbolisch unterwerfen (vgl. z. B. vv. 1069 f.), und diese Unterwerfung wäre ihnen gelungen, hätte Teuker sich ihnen nicht entgegengestellt; ferner fasst nicht nur Aias (vv. 829 f.), sondern auch Menelaos das geplante Vorgehen als eine Ausstoßung (ἀλλ’ ἀμφὶ χλωρὰν ψάμαϑον ἐκβεβλημένος / ὄρνισι φορβὴ παραλίοις γενήσεται [sc. ὁ Αἴας] 1064 f. [Aber beim gelben Sand ausgestoßen, wird er [sc. Αias] Futter für die Seevögel werden]), bei der man - zumindest symbolisch, Aias liegt ja schon am Strand - mehr tut, als bloß ‚Leichenschändung durch Unterlassen‘ zu begehen. mit Erstaunen vermerkt worden, 184 hatte der Chor doch davor Odysseus immer entschieden als Feind betrachtet. Für solches Erstaunen gibt es aber keinen Anlass, vielmehr zeigt der Chor darin die gleiche Konzilianz, die er im Agon auch gegenüber den Atriden angemahnt hatte, obwohl er diese davor, wie oben 2.4.3 und 2.5.1 gezeigt, in demselben Atemzug wie Odysseus als Feinde wahr‐ genommen hatte. Diese Konzilianz erleichtert Odysseus sein kommunikatives Agieren enorm, verlieht es ihm doch eine komfortable Ausgangsposition in einer Lage, die für ihn als Todfeind des Aias ansonsten alles andere als einfach gewesen wäre. Zugleich indes wird auch die Effektivität von Teukers Strategie der ma‐ ximalen Aggressivität erneut deutlich. Denn wenn Agamemnon sich eini‐ germaßen larmoyant darüber beklagt, dass Teuker „Schlimmes zu hören be‐ kommen“ habe, da dieser ihm „Schlimmes angetan“ habe (v. 1324), so signalisiert diese Klage mit dem Begriffspaar ἤκουσεν-δρῶν, ganz ähnlich wie die vv. 1159 f. des Menelaos, die Niederlage des Anspruchs auf unbedingten Gehorsam kraft des bloßen Wortes, den sowohl Menelaos wie, implizit in seinem Versuch, Teuker mundtot zu machen, auch Agamemnon erhoben hatte: Es ist Teukers aggressiver verbaler Widerstand, der als ‚Tat‘ gewirkt hat, während die Worte der Atriden tatsächlich nur Worte gewesen sind. Kurzum, es wird daran erin‐ nert, dass ohne Teukers aggressiven, zu allem entschlossenen Widerstand das Bestattungsverbot schon lange durchgesetzt worden wäre. 185 Auf diese Weise wird die davor dargestellte Spannung im Agieren des Odysseus aufgehoben, auf das sich nun das Engagement der Zuschauer uneingeschränkt richtet. Dazu trägt auch bei, dass Odysseus seinen Kampf für die Bestattung des Aias in den Begriffen fasst, in denen Teuker davor die Verteidigung seines Halbbruders gefasst hatte. Eine Bestattung nämlich sei gerecht, da Aias ein großer Mann, eine heroische Figur gewesen sei (vv. 1332-1349): 112 2 Der Aias <?page no="113"?> 186 Vgl. Hawthorne 2012, 392: „The burial could be allowed as a public performance of showing τιμή to a friend rather than as shameful yielding to an enemy.“ . ἄκουέ νυν. τὸν ἄνδρα τόνδε πρὸς ϑεῶν μὴ τλῇς ἄϑαπτον ὧδ’ ἀναλγήτως βαλεῖν· μηδ’ ἡ βία σε μηδαμῶς νικησάτω τοσόνδε μισεῖν ὥστε τὴν δίκην πατεῖν. 1335 κἀμοὶ γὰρ ἦν ποϑ’ οὗτος ἔχϑιστος στρατοῦ, ἐξ οὗ ’κράτησα τῶν Ἀχιλλείων ὅπλων, ἀλλ’ αὐτὸν ἔμπας ὄντ’ ἐγὼ τοιόνδ’ ἐμοὶ οὐ τἂν ἀτιμάσαιμ’ ἄν, ὥστε μὴ λέγειν ἕν’ ἄνδρ’ ἰδεῖν ἄριστον Ἀργείων, ὅσοι 1340 Τροίαν ἀφικόμεσϑα, πλὴν Ἀχιλλέως. ὥστ’ οὐκ ἂν ἐνδίκως γ’ ἀτιμάζοιτό σοι· οὐ γάρ τι τοῦτον, ἀλλὰ τοὺς ϑεῶν νόμους φϑείροις ἄν. ἄνδρα δ’ οὐ δίκαιον, εἰ ϑάνοι, βλάπτειν τὸν ἐσϑλόν, οὐδ’ ἐὰν μισῶν κυρῇς. 1345 Α . σὺ ταῦτ’, Ὀδυσσεῦ, τοῦδ’ ὑπερμαχεῖς ἐμοί; . ἔγωγ’· ἐμίσουν δ’, ἡνίκ’ ἦν μισεῖν καλόν. Α . οὐ γὰρ ϑανόντι προσεμβῆναί σε χρή; . μὴ χαῖρ’, Ἀτρείδη, κέρδεσιν τοῖς μὴ καλοῖς. d. Hör mir zu! Bei den Göttern, bringe es nicht über Dich, diesen Mann so erbarmungslos ohne Bestattung auszustoßen, und rohe Gewalt soll Dich keineswegs verleiten [1335] zu solchem Hass, dass Du die Gerechtigkeit mit Füßen trittst. Auch für mich war dieser einstmals der größte Feind im Heer, nachdem ich die Waffen des Achill errungen hatte, aber ich würde, auch wenn er in einem solchen Verhältnis zu mir steht, ihn nicht entehren und behaupten, [1340] dass ich in ihm nicht den besten Mann unter den Argivern gesehen habe, die wir nach Troia gekommen sind, mit Ausnahme des Achill. Deswegen tätest auch Du nicht das Gerechte, wenn Du ihn entehrtest; nicht ihn nämlich, sondern die Gesetze der Götter griffest Du an, und es ist nicht gerecht, einem Mann, wenn er gestorben ist, [1345] zu schaden, einem edlen, auch nicht, wenn Du ihn hassen solltest. A . Odysseus, führst Du diesen Kampf gegen mich für diesen? d. Ja: Ich habe ihn gehasst, als es gut war, zu hassen. A . Willst Du etwa nicht auf dem Toten herumtrampeln? d. Freue Dich nicht, Atride, an unschönen Gewinnen. Damit jedoch dringt Odysseus nicht durch; Erfolg ist ihm erst beschieden, als er die Strategie ändert und die Erlaubnis, Aias zu bestatten, gegenüber Agamemnon als einen persönlichen Freundschaftsdienst darstellt. 186 Erst dann 113 2.6 Der fünfte Handlungsbogen: die unvollständige Auflösung <?page no="114"?> willigt dieser ein, indem er Odysseus gleichzeitig seiner fortgesetzten Feind‐ schaft gegenüber Aias versichert. Das Stück kommt also an ein Happy-End - ein Happy-End indes, in dem das zentrale Dilemma des Stückes trotzdem nicht überwunden wird, sondern unaufgelöst stehenbleibt. Dies lässt sich nachvollziehen, wenn man den Austausch zwischen dem Chor, Odysseus und Teuker im Anschluss an Agamemnons Zugeständnis betrachtet (vv. 1374-1401): . ὅστις σ’, Ὀδυσσεῦ, μὴ λέγει γνώμῃ σοφὸν φῦναι, τοιοῦτον ὄντα, μῶρός ἐστ’ ἀνήρ. 1375 . καὶ νῦν γε Τεύκρῳ τἀπὸ τοῦδ’ ἀγγέλλομαι, ὅσον τότ’ ἐχϑρὸς ἦ, τοσόνδ’ εἶναι φίλος. καὶ τὸν ϑανόντα τόνδε συνϑάπτειν ϑέλω καὶ ξυμπονεῖν καὶ μηδὲν ἐλλείπειν ὅσων χρὴ τοῖς ἀρίστοις ἀνδράσιν πονεῖν βροτούς. 1380 . ἄριστ’ Ὀδυσσεῦ, πάντ’ ἔχω σ’ ἐπαινέσαι λόγοισι· καί μ’ ἔψευσας ἐλπίδος πολύ. τούτῳ γὰρ ὢν ἔχϑιστος Ἀργείων ἀνὴρ μόνος παρέστης χερσίν, οὐδ’ ἔτλης παρὼν ϑανόντι τῷδε ζῶν ἐφυβρίσαι μέγα, 1385 ὡς ὁ στρατηγὸς οὑπιβρόντητος μολὼν αὐτός τε χὠ ξύναιμος ἠϑελησάτην λωβητὸν αὐτὸν ἐκβαλεῖν ταφῆς ἄτερ. τοιγάρ σφ’ Ὀλύμπου τοῦδ’ ὁ πρεσβεύων πατὴρ μνήμων τ’ Ἐρινὺς καὶ τελεσφόρος Δίκη 1390 κακοὺς κακῶς φϑείρειαν, ὥσπερ ἤϑελον τὸν ἄνδρα λώβαις ἐκβαλεῖν ἀναξίως. σὲ δ’, ὦ γεραιοῦ σπέρμα Λαέρτου πατρός, τάφου μὲν ὀκνῶ τοῦδ’ ἐπιψαύειν ἐᾶν, μὴ τῷ ϑανόντι τοῦτο δυσχερὲς ποῶ· 1395 τὰ δ’ ἄλλα καὶ ξύμπρασσε, κεἴ τινα στρατοῦ ϑέλεις κομίζειν, οὐδὲν ἄλγος ἕξομεν. ἐγὼ δὲ τἄλλα πάντα πορσυνῶ· σὺ δὲ ἀνὴρ καϑ’ ἡμᾶς ἐσϑλὸς ὢν ἐπίστασο. . ἀλλ’ ἤϑελον μέν· εἰ δὲ μή ’στί σοι φίλον 1400 πράσσειν τάδ’ ἡμᾶς, εἶμ’ ἐπαινέσας τὸ σόν. r Wer sagt, Odysseus, dass Du nicht klugen Sinnes [1375] seist, ein solcher, wie Du bist, der ist ein rechter Tor. d. Ja, und ich erkläre Teuker jetzt, dass ich ab nun, so sehr ich ein Feind war, ein Freund bin. Und ich möchte den Toten hier mitbestatten und mit Hand anlegen und nichts auslassen von dem, [1380] was Sterbliche den besten 114 2 Der Aias <?page no="115"?> 187 Vgl. zu diesem Bezug Finglass 2011, ad vv. 1374-1401. Männern schulden. eu. Bester Odysseus, ich habe nur lobende Worte für Dich, und Du hast meine Erwartung aufs deutlichste Lügen gestraft. Obwohl Du nämlich diesem der größte Feind warst unter den Argivern, bist Du ihm tatkräftig zur Seite gestanden und hast es nicht ertragen, dabeizustehen [1385] und als Lebender diesen Toten heftig zu erniedrigen so wie der verrückte Feldherr, der da des Weges kam, er selbst und sein Bruder, die ihn geschändet ausstoßen wollten ohne ein Begräbnis. Deswegen mögen der Vater, der über den Olymp herrscht, [1390] und die Erinye, die sich erinnert, und die Gerechtigkeit, welche die Dinge zu einem Abschluss bringt, diese Übeltäter übel vernichten, so wie diese den Mann würdelos schänden und ausstoßen wollten! Dir aber, Nachkomme des alten Laertes, Deines Vaters, Mitwirkung zu erlauben an der Bestattung, da zögere ich doch, [1395] damit ich den Toten dadurch nicht verärgere; bei allem anderen aber beteilige Dich, und wenn Du einen aus dem Heer mitbringen willst, so soll uns dies keinen Verdruss bereiten. Ich aber werde den ganzen Rest besorgen; Du aber, dies wisse, bist, soweit es mich betrifft, ein edler Mann! [1400] d. Nun, ich hätte dies gerne getan; wenn es Dir aber nicht lieb ist, dass ich dies tue, dann gehe ich weg, ohne mich an Deinem Standpunkt zu stören. Entscheidend für das Wiedererscheinen des zentralen Dilemmas sind zwei Stellen in Teukers Rede, an denen Aias’ Reaktion auf seine Situation erneut ins Bewusstsein der Zuschauer gerufen wird. Die erste ist die Herabbeschwörung der Erinye auf die Atriden (vv. 1389-1391); denn Aias hatte in seiner Abschieds‐ rede einen ähnlichen Wunsch geäußert (vv. 835-838): 187 καλῶ δ’ ἀρωγοὺς τὰς ἀεί τε παρϑένους 835 ἀεί ϑ’ ὁρώσας πάντα τἀν βροτοῖς πάϑη, σεμνὰς Ἐρινῦς τανύποδας, μαϑεῖν ἐμὲ πρὸς τῶν Ἀτρειδῶν ὡς διόλλυμαι τάλας. [838] Ebenso rufe ich als Helferinnen an die ewigen Jungfrauen, die immer alle Leiden unter den Sterblichen sehen, die ehrwürdigen, weit ausschreitenden Erinyen, dass sie von mir erfahren möchten, wie ich elend zugrunde gehe wegen der Atriden. Teukers Verfluchung ist durchaus gerechtfertigt und nachvollziehbar, hatte Agamemnon als Vertreter der Atriden Aias ja bis zuletzt jede Anerkennung versagt und die Bestattung, wie eben gesehen, nur als Freundschaftsdienst gegenüber Odysseus zugelassen. Davon ‚profitiert‘ nun auch Aias’ Reaktion auf die Verweigerung der verdienten Anerkennung seiner Größe durch die Atriden im Waffenurteil: Diese Reaktion entwickelt hier, aufgerufen in derjenigen des Teuker auf die evidente Verworfenheit der Atriden, erneut ein deutliches Iden‐ 115 2.6 Der fünfte Handlungsbogen: die unvollständige Auflösung <?page no="116"?> 188 Vgl. oben zu Anm. 146. 189 Die Betonung des eigenen Unwohlseins mit diesem Vorgehen durch Teuker lässt sich in den Begriffen der ‚politeness‘-Theorie als eine ‚face-saving strategy‘ gegenüber Odysseus auffassen (vgl. Brown/ Levinson 2 1987, 189). tifikationspotential: Der Kampf beider Halbbrüder ist einer für die Gerechtigkeit und gegen Unrecht (beachte die Anrufung der personifizierten Gerechtigkeit durch Teuker in v. 1390). Nun hatte Aias die Erinyen aber nicht nur auf die Atriden, sondern auf das gesamte griechische Heer herabgerufen (vv. 843 f.): ἴτ’, ὦ ταχεῖαι ποίνιμοί τ’ Ἐρινύες, 843 γεύεσϑε, μὴ φείδεσϑε πανδήμου στρατοῦ. [843] Kommt, o schnell strafende Erinyen, haltet Euch schadlos und schont nicht das gesamte Heer! Aias’ Reaktion war eben nicht unproblematisch gewesen, sondern die Tat einer ambigen Figur, die auf eine tatsächlich vorliegende Ungerechtigkeit in einer extremen Weise reagierte - ein Extremismus, der in Aias’ Wunsch nach „Massenmord“ deutlich greifbar ist. 188 Diese Ambiguität hatte Sophokles in der ersten Stückhälfte durch das Dilemma zwischen Aias’ Perspektive und derjenigen seiner philoi und in der zweiten durch die Spannung zwischen der kompromisslosen Aggressivität des Teuker und dem Bemühen des Chors um Konzilianz eingeschärft, und diese bleibt auch am Stückende erhalten. Denn Aias’ Perspektive erscheint, wie oben angekündigt, noch an einer zweiten Stelle, und zwar dort, wo Teuker Odysseus die Bitte abschlägt, an Aias’ Bestattung teilzunehmen, da dieser dies nicht gutgeheißen hätte (vv. 1393- 1395). Diese Unversöhnlichkeit, die Teuker seinem Halbbruder zuschreibt, steht nämlich in einer Spannung zur Reaktion des Teuker selbst, aber auch des Chors. Denn diese loben Odysseus für dessen Einsatz, und es ist Teuker offensichtlich unangenehm, Odysseus die Bitte abschlagen zu müssen. 189 Inmitten der Ver‐ söhnlichkeit des Stückendes erscheint also Aias’ Unversöhnlichkeit erneut und tritt in eine Spannung zur Perspektive seiner philoi, deren positive, versöhnliche Reaktion auf Odysseus ohne Frage durchaus nachvollziehbar ist. Man kann - und soll - Aias’ Unversöhnlichkeit am Stückende zusammen mit Teuker (und Odysseus, so ist anzunehmen, auch wenn er mit eindrücklicher Höflichkeit auf Teukers Zurückweisung reagiert) bedauern, doch ist zugleich unmittelbar davor daran erinnert worden, worauf Aias reagiert hat: auf tatsächlich vorhandenes, nicht wegzudiskutierendes Unrecht, das ihm die Atriden angetan hatten. Auf diese Weise steht Aias’ kompromissloser Kampf für Gerechtigkeit auch am 116 2 Der Aias <?page no="117"?> 190 Vgl. die differenzierte Diskussion von Blaise (1998, 403-408), die auch darauf insistiert, dass Odysseus’ Auftreten die das Stück prägenden Probleme gerade nicht endgültig löst, sondern diese desto ‚tragischer‘, das heißt, unauflöslicher erscheinen lässt. Stückende in einer Spannung zum Bemühen der ihn umgebenden Gemeinschaft um Versöhnung. In diesem Zusammenhang ist auch festzuhalten, dass das Ende des fünften Handlungsbogens mit demjenigen des dritten übereinstimmt, wie es oben 2.4.3 besprochen worden ist. Dort hatte Sophokles gezeigt, dass eine eindeutig positive - bewundernde - Reaktion auf Aias nur darum möglich ist, weil dieser tot ist; dies gilt nun natürlich auch für Odysseus’ auf Aias’ ‚Größe‘ basierende Reaktion: Diese kann ihre eindrückliche positive Wirkung nur entfalten, weil Aias nicht mehr lebt, wobei Odysseus auf diese Tatsache selbst hinweist, wenn er sagt, dass Aias seit dem Waffenurteil sein Feind gewesen sei und er diesen gehasst habe, solange dies „schön“ gewesen sei, aber einen Toten nicht „entehrt“ sehen wolle (vv. 1336-1339 und 1347). Man macht es sich also zu einfach, wenn man, beeindruckt von Odysseus’ großherziger Gesinnung, statt die eben herausgearbeitete Spannung zu konstatieren, Aias bloß verurteilt, da er sozusagen auch nach seinem Tod noch hinter diesem Ideal zurückbleibe: Odysseus’ heilsames Eingreifen funktioniert nur, da jetzt Voraussetzungen gegeben sind, unter denen Aias selbst nicht agieren konnte. 190 2.7 Was am Ende bleibt: der ethische Gehalt Die Zuschauer bleiben mit dem Wissen um die unüberwundene Ambiguität des Aias zurück, das Sophokles ihnen vermittelt hat, wie nur das Drama dies kann: Durch die Darstellung des Gegen-, Neben- und Miteinanders verschiedener Perspektiven hat er, in den oben 1.5.1 verwendeten Begriffen, eine multiperspek‐ tivische ‚Landschaft‘ entworfen und so den Zuschauern vor Augen geführt, dass die distanzierte, sozusagen auktoriale Feststellung von Aias’ extremistischem Heroismus, aber auch die unproblematische Bewunderung desselben keine abschließende menschliche Reaktion auf diese Figur sein kann. Dadurch - und erst dadurch - gewinnt das Stück ferner einen entscheidenden ethischen Gehalt. Denn auf diese Weise schärft der Dichter das Bewusstsein der Zuschauer für die Probleme, die im Spannungsfeld zwischen dem Streben nach persönlicher ‚Exzellenz‘ und Eingebundenheit in die Gemeinschaft entstehen können, und zwar nicht nur in grauer homerischer Vorzeit, sondern, wie besonders der Einsatz des Teuker gezeigt hat, grundsätzlich immer, wenn 117 2.7 Was am Ende bleibt: der ethische Gehalt <?page no="118"?> 191 Vgl. Winnington-Ingram 1980, 311. 192 In dieses Bild fügt sich die Beobachtung von Budelmann (2000, 242-245), dass sich im Verlauf des Stückes eine zunehmende Hinwendung zu den Zuschauern in ihrer lebensweltlichen Identität als Menschen und Griechen (und angesichts des in den vv. 1216-1222 ausgesprochenen Wunsches des Chors, das „heilige Athen anzureden“, könnte man auch sagen: als Athener) findet; ebenso fügt sich in dieses Bild natürlich die oben 2.5.2 getroffene Feststellung, dass die Anklänge an den Heroenkult in der Beschreibung von Aias’ Grab die Zuschauer in ihrer lebensweltlichen Identität als athenische Bürger ansprachen. 193 Diese Tatsache hat ihren beredtsten Ausdruck in der Gefallenenrede des Perikles bei Thukydides gefunden (siehe besonders 2,37,1); dass es sich dabei um ein Ideologem handelte und eine derartige ‚Chancengleichheit‘ in der Praxis nicht gegeben war, liegt auf der Hand (vgl. zum auch im demokratischen Athen sehr ungleich verteilten ‚sozialen Kapital‘ und der Auseinandersetzung mit diesem Problem Ober 1989): Sophokles arbeitet mit dem Selbstbild der Zuschauer. 194 Man muss hier nur an die Institution des Ostrakismos denken, die genau dieser Gefahr entgegenwirken sollte; vgl. zur ambivalenten Natur der philotimia in der attischen Demokratie Deene 2013, 72f. Menschen in eine Gemeinschaft eingebunden sind. 191 Diese Spannung ist also ein Grunddatum der condicio humana; darüber hinaus ist aber durchaus anzu‐ nehmen, dass diese für ein zeitgenössisches Publikum im Athen des fünften Jahrhunderts eine besondere Brisanz besaß. 192 Denn die attische Demokratie lebte besonders davon, dass sie dem Einzelnen - dem ‚Gewöhnlichen‘ in den oben 2.5 verwendeten Begriffen - Möglichkeiten bot, seine Energie in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen und somit Anerkennung zu gewinnen, 193 doch zugleich barg diese Anlage immer auch das Potential, dass individuelle philotimia, das Streben nach persönlicher ‚Exzellenz‘, in Konflikt mit den Ansprüchen der Gemeinschaft geriet. 194 In der Würdigung, wie Sophokles diese Spannung schafft und aufrechterhält, wendet sich also der Befund, dass Sopho‐ kles seine Zuschauer ohne befriedigende Lösung zurücklässt, zur positiven Feststellung des genau durch dieses Vorgehen vermittelten bedeutsamen ethi‐ schen Gehalts des Stückes. Indem Sophokles seinen Zuschauern diesen Gehalt vermittelt, betreibt er gewissermaßen Bewusstseinsbildung: Man kann dieser Grundambiguität nicht entkommen, sondern ist als Mensch und besonders als Bürger einer demokratischen Polis aufgerufen, damit einen angemessenen Umgang zu finden, und der erste Schritt dazu besteht darin, sich dieser Tatsache bewusst zu werden. Dieses Bewusstsein hatte den Griechen im Stück - und auch der Göttin Athene - gefehlt; dass es seinen Zuschauern nicht fehlte, dazu hat Sophokles einen Beitrag geleistet. 118 2 Der Aias <?page no="119"?> 195 Für Überblicke über die ältere Literatur siehe Hester 1971, 48-54 und Patzer 1978, 111- 114 sowie für einen Überblick über die Deutungsrichtungen z. B. Oudemans/ Lardinois 1987, 107-117 oder Lardinois 2012, 59-62. 196 ‚Verbunden‘, da Hegel in der Altphilologie in aller Regel verkürzt rezipiert wird und seine tatsächliche Deutung nuancierter war (vgl. Cairns 2016, 124 f.). 197 Siehe unten 3.2.1.2 u.ö. 3 Die Antigone 3.1 Kontextualisierung und Überblick Die Interpretationsgeschichte der Antigone ist, ähnlich wie diejenige des Aias und ebenfalls vergröbert gesprochen, von einer Zweiteilung geprägt, und zwar in Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis der beiden zentralen Kontrahenten Kreon und Antigone: Sind diese gleich, oder sind sie verschieden? 195 Die Auffassung von der Gleichheit der beiden Figuren ist verbunden mit dem Namen G.W.F. Hegels 196 und sieht im Konflikt dieser Figuren den antithetischen Konflikt zweier (Rechts-)Sphären, derjenigen der Familie, vertreten durch Antigone, und derjenigen der Polis, vertreten durch Kreon. Die andere, sogenannt ‚orthodoxe‘ Deutungsrichtung privilegiert die Perspektive der Antigone: Diese sei im Recht, Kreon aber nicht, sie habe die Götter auf ihrer Seite, Kreon jedoch sei - in unterschiedlichen Ausprägungen - ein Frevler und ein Tyrann. Man kann das Stück im Bestreben lesen, jeweils eine der beiden Deutungen zu bestätigen, und wird weit kommen. Dennoch stoßen entsprechende Versuche auf entscheidende Hindernisse. Die Deutung im Sinne der Verschiedenheit hat nämlich besonders Schwierigkeiten, die Tatsache zu erklären, dass am Ende beide Kontrahenten - also nicht nur Kreon, sondern auch Antigone - durch die Wirkung göttlicher Verblendung vernichtet sind - wennschon ist es Kreon, den das Schicksal weniger hart getroffen hat, da er zumindest am Leben bleibt. Ebenso leiden solche Deutungen häufig daran, dass sie Antigone als eine Widerstandskämp‐ ferin auffassen, manche gar als ‚Märtyrerin‘ im christlichen Sinne, die sich gegen ‚staatliches‘ Unrecht zu Wehr setzt. Denn die Gleichsetzung der antiken Polis mit dem modernen ‚Staat‘ ist ein Anachronismus: Diese war kein fernes, bürokratisches, das Individuum a priori bedrohendes Gebilde, sondern der selbstverständliche Rahmen und die selbstverständliche Garantin des Wohles, ja des Lebens des Einzelnen - und auch der selbstverständliche Rahmen der Religion -, und diese Wahrnehmung wird im Stück selbst deutlich aktiviert. 197 <?page no="120"?> 198 Die Notwendigkeit, eine Entwicklung im Stückverlauf anzunehmen, haben Eberlein (1961, 21-29) oder Liapis (2012) erkannt. 199 Vgl. die Feststellung von Lardinois (2012, 60), dass Deutungen, die durchgehend argumentierten, Antigone sei „um nichts besser“ als Kreon, dann damit endeten, dass sie Antigone doch irgendwie für ‚besser‘ hielten - dies ist genau die Reaktion, die sich einstellt, wenn man den textlichen Signalen gerecht zu werden versucht. Das Ziel muss nun sein, das Setzen dieser textlichen Signale als bewusstes Vorgehen des Dramatikers Sophokles zu erweisen. 200 So von Else (1976, 18) und Rohdich (1980, z. B. 196; eine viel zu wenig gewürdigte oder offenbar auch nur gelesene Studie! ); zur Bedeutung der emotionalen Dimension in der Antigone siehe ferner Nussbaum 1986, 79-82 und 390; Lada 1993, 124 f.; Rohdich 1980, 219. Die Deutung im Sinne der Gleichheit andererseits sieht sich, je länger das Stück voranschreitet, desto deutlicher gezwungen, über dessen emotionale Dynamik hinwegzugehen: Kreon erscheint in der Tat zunehmend deutlich als Tyrann, während Antigone immer klarer die emotionale Sympathie der impliziten Zuschauer auf sich zieht. 198 Man kann somit am Ende immer noch konstatieren, dass beide Figuren bloß die Quittung für ihr Tun erhalten haben, doch dann stellt sich die Frage, warum Sophokles die Zuschauer in der Weise an diesen Eindruck herangeführt hat, in der er dies getan hat. 199 Diese Frage versucht die hier vorzustellende Analyse nun zu beantworten und dadurch die eben dargelegte interpretatorische Dichotomie zu überwinden. Dies tut sie, indem sie argumentiert, dass das dramatische Funktionieren des Stückes entscheidend darauf beruht, dass Sophokles im Verlauf seines Stücks die intellektuell-normative auf die oben 1.3.2 beschriebene Weise bewusst von der emotionalen Dimension entkoppelt, also die Zuschauer beständig daran erinnert, dass Antigone sich nicht weniger als Kreon vergangen hat und dieser jene darum gerechterweise bestrafen darf, dies aber zunehmend unbefriedigend, ja empörend erscheinen lässt. Auf diese Weise rückt die Analyse mit dem emotional zutiefst unbefriedigenden Charakter der im Stück verwirklichten ‚Gerechtigkeit‘ eine Tatsache ins Zentrum, die von verschiedenen besonders gelungenen Deutungen des Stückes erwähnt worden ist, aber nie die Prominenz zugesprochen erhalten hat, die sie verdient. 200 Denn diese Spannung ist nicht nur zentral für das dramatische Funktionieren des Stücks, indem sie entscheidend zur Zuschauerinvolvierung beiträgt; indem Sophokles diese in den Mittelpunkt seines Stückes rückt und bis zum Ende unüberwunden stehenlässt, gewinnt er diesem darüber hinaus eine eminent positive ‚Botschaft‘ ab: dass die beiden Dimensionen ‚Emotion‘ und ‚Vernunft‘ versöhnt werden müssen und auch versöhnt werden können, doch dies nur, wenn die entsprechenden politischen Rahmenbedingungen gegeben sind. Diese Rahmenbedingungen existierten im 120 3 Die Antigone <?page no="121"?> 201 Eine Minderheitsposition besteht darin, Kreon - und nicht Antigone - im Recht zu sehen; so Calder (1968) oder Sourvinou-Inwood (1989b); dass Sophokles bei seinen Zuschauern wohl mit einer solchen Reaktion gerechnet - und diese blockiert - hat, wird besonders unten 3.2.3.2 gezeigt werden. 202 Die entscheidende Ambiguität, die das Stück in dessen Gesamtheit prägt, liegt also (pace Oudemans/ Lardinois 1987) nicht darin, dass Sophokles zwei für sich genommen bereits ambige Reaktionen kontrastiert, nämlich diejenigen Antigones und Kreons, die beide gleichermaßen zwischen Familie und Polis, Natur und Zivilisation etc. stehen; der Kontrast zwischen diesen beiden Figuren lässt sich zwar in diesen Begriffen fassen, aber wenn man die Entwicklung der Handlung und somit das Stück erst richtig als Drama betrachtet, was Oudemans und Lardinois explizit nicht tun (siehe S. 165 zu ihrem „synchronic point of view“), dann erweist sich die Entkopplung der emotionalen von der intellektuellen Dimension als entscheidende Ambiguität, die am Ende des Stücks unüberwunden stehenbleibt. Theben des Stücks offenbar nicht, konnten aber von einem Publikum im zeitgenössischen Athen wiedergefunden werden. 201 Konkret erreicht der Dichter diesen Effekt über vier Handlungsbogen: Im ersten Handlungsbogen führt er die Zuschauer mittels der Rhetorik der Invol‐ vierung an die Wahrnehmung heran, dass Antigone und tatsächlich auch Kreon in idiosynkratischer Weise von der zeitgenössischen polisgebundenen, religiös sanktionierten Normalität abweichen, die Antigones Schwester Ismene und der Chor vertreten. Diese Position ist auf den ersten Blick der oben ausgeführten ‚hegelianischen‘ ähnlich, unterscheidet sich aber darin von dieser, dass sie die spezifischen in deren idiosynkratischem Abweichen von der Normalität liegenden Defizite beider Figuren betont und deren Konflikt nicht primär als Konflikt zweier partiell legitimer Reaktionen fasst, auch wenn dies letztlich nur eine Frage der Formulierung ist, impliziert partielle Legitimität doch partielle Illegitimität und umgekehrt. Aus dieser als angemessen suggerierten Reaktion entwickelt Sophokles im Anschluss daran die oben beschriebene Spannung. 202 Im Agon zwischen Kreon und dessen Sohn Haimon arbeitet die emotionale Dynamik nämlich in aller Deutlichkeit gegen Kreon und für Haimon (und dadurch auch für Antigone), doch das Bewusstsein der Zuschauer dafür wird durchgehend wachgehalten, dass Kreons Reaktion, insofern sich diese gegen Haimon (und gegen Antigone) richtet, durch den normativen Rahmen der oben erwähnten polisgebundenen Normalität gedeckt ist: Antigone hat nun einmal gegen ein Gesetz verstoßen und dafür darf Kreon sie trotz Haimons Einwänden töten, auch wenn er sich dadurch selbst vergeht. War im ersten Handlungsbogen die emotionale mit der intellektuellen Dimension Hand in Hand gegangen, werden diese nun gewaltsam entkoppelt. 121 3.1 Kontextualisierung und Überblick <?page no="122"?> Diese Spannung prägt auch den dritten Handlungsbogen: Im erneuten Auf‐ tritt der Antigone im vierten Epeisodion ist die emotionale erneut von der intellektuellen Dimension entkoppelt: Kreon darf Antigone töten, auch wenn es zutiefst empörend ist, dass man ihm dies zugestehen muss. Diese Spannung wird indes im Anschluss an Antigones Abgang durch eine Neuausrichtung der Involvierung scheinbar überwunden: Der vierte Handlungsbogen beginnt. Denn die Zuschauer werden zunächst durch die Hoffnung engagiert, dass Kreon nun wenigstens auch bestraft werden möge; danach erfährt Kreon einen Sinnes‐ wandel und versucht, die Katastrophe zu verhindern. Auf diese Weise werden die Zuschauer für diese scheinbar vollständig befriedigende Lösung engagiert, für ein Happy-End, in dem alle Probleme verpuffen könnten. Allein diese Hoffnung zerschlägt sich am Stückende mit Antigones und Haimons Suizid sowie Kreons Zerschmetterung, und die Darstellung kehrt, desto deutlicher, zur bekannten quälenden Spannung zwischen Emotion und Vernunft zurück. Diese prägt den abschließenden Eindruck, an den die Zuschauer durch die Rhetorik der Involvierung herangeführt worden sind. 3.2 Der erste Handlungsbogen: auf dem Weg zu einer angemessenen Reaktion Der erste Handlungsbogen führt die Zuschauer, wie oben 3.1 und im Titel dieses Abschnittes erwähnt, durch die Rhetorik der Involvierung an eine als angemessen suggerierte Reaktion heran. Dabei lässt der Prolog die Zuschauer, ähnlich wie im Aias, mit einer Spannung zurück, die den Ansatzpunkt bietet, um die Zuschauer zu engagieren. Dieses Engagement verwirklicht sich dann in der auf den Prolog folgenden Parodos so, dass die Zuschauer dazu angehalten werden, den Chor dabei zu unterstützen, Kreon eine nuanciertere Reaktion auf die Situation als das von ihm erlassene Bestattungsverbot nahezulegen; mit dem oder im Anschluss an den gescheiterten Versuch des Chors, dies zu tun, kommt die Handlung an einen Ruhepunkt, an dem die Zuschauer, angeleitet von den Perspektiven Ismenes und des Chors, nachvollziehen können, dass sich sowohl Antigone wie Kreon in ihrem jeweils gleichermaßen idiosynkratischen und problematischen Verhalten in Gegensatz zur polisgebundenen Normalität stellen. 122 3 Die Antigone <?page no="123"?> 203 Vgl. die oben unter Anm. 201 genannte Literatur, der man, für den Stückbeginn, Liapis 2012, 83-85 hinzufügen kann. 204 So z. B. Heath (1987, 75). 3.2.1 Der Prolog: die offene Frage Der Prolog präsentiert zwei Figuren, Antigone und ihre Schwester Ismene, die sich mit folgender Situation konfrontiert sehen: Ihre Brüder Eteokles und Polyneikes haben sich, jener bei der Verteidigung der Stadt Theben und dieser beim Angriff auf diese, gegenseitig erschlagen; darauf hat der neue König Kreon angeordnet, Eteokles eine ehrenvolle Bestattung zukommen zu lassen, Polyneikes’ Leichnam aber Hunden und Raubvögeln zum Fraß zu überlassen. Darauf reagieren die Schwestern nun ganz unterschiedlich: Antigone ist wild entschlossen, Kreons Edikt zu brechen, Ismene bekennt ihre Unfähigkeit zu einer solchen Tat. Es ist nun behauptet worden, 203 ein zeitgenössisches Publikum habe Antigones Plan schockiert abgelehnt, da es den Prolog - und das Stück als Ganzes - selbstverständlich vom Standpunkt der Polis aus, sozusagen ‚als Bürger‘, rezipiert habe; ebenso hat man aber gemeint, 204 Antigone habe selbstverständlich die uneingeschränkte Sympathie der Zuschauer gegolten, da Sophokles zu Beginn den Fokus auf sie gelegt habe. Tatsächlich liegt die Sache komplizierter, insbesondere, wenn man Ismene nicht übergeht, wie dies häufig getan wird, und somit die multiperspektivische Anlage des Prologs ernstnimmt; erst aus einer Würdigung dieser Komplexität ergibt sich ein angemessenes Verständnis des dramatischen Funktionierens des Prologs. 3.2.1.1 Die Ausgangslage: die Polis als Deutungsrahmen Es stimmt nämlich tatsächlich, dass Sophokles die Zuschauer zunächst dis‐ poniert, den Prolog aus einer ‚Polisperspektive‘ zu rezipieren. Denn in der Antigone, anders als zum Beispiel im Aias, existiert von Anfang an eine Polis, eine Rezeption ‚als Bürger‘ ist also möglich. Diese Möglichkeit auch zu verwirk‐ lichen, dazu hat Sophokles die Zuschauer zu Beginn des Stückes eingeladen, indem er das fiktive Theben, wie es in Antigones eröffnender Replik greifbar wird, dem zeitgenössischen Athen deutlich angenähert hat (vv. 4-8): οὐδὲν γὰρ οὔτ’ ἀλγεινὸν οὔτ’ †ἄτης ἄτερ† οὔτ’ αἰσχρὸν οὔτ’ ἄτιμόν ἐσϑ’, ὁποῖον οὐ 5 τῶν σῶν τε κἀμῶν οὐκ ὄπωπ’ ἐγὼ κακῶν. καὶ νῦν τί τοῦτ’ αὖ φασι πανδήμῳ πόλει κήρυγμα ϑεῖναι τὸν στρατηγὸν ἀρτίως; 123 3.2 Der erste Handlungsbogen: auf dem Weg zu einer angemessenen Reaktion <?page no="124"?> 205 Vgl. Sourvinou-Inwood 1989b, 138. 206 Siehe allerdings unten 3.2.3.1. 207 Vgl. z. B. Sourvinou-Inwood 1989b, 137 f.; Holt 1998, 663-666. Nichts Schmerzhaftes und nichts ohne Verhängnis [5] und nichts Hässliches und nichts Entehrendes gibt es, was ich nicht an Übeln gesehen haben, die Dich und mich ereilt haben. Und welches Edikt, sagen sie jetzt, hat der Stratege eben für die gesamte Bürgerschaft der Stadt erlassen? Wenn Antigone Kreon als einen „Strategen“ bezeichnet, der ein kerygma genanntes Edikt erlassen hat, so ruft dies einen Verwaltungsakt auf, der den Zuschauern vertraut war, konnten doch auch in Athen die Strategen kerygmata erlassen. 205 Ferner ist wichtig, dass, so scheint es im Moment, 206 auch die konkrete von Kreon ergriffene Maßnahme den Zuschauern aus ihrer eigenen Rechtspraxis vertraut war. Denn das attische Recht kannte die Maßnahme, einem Landesverräter die Bestattung zu verweigern. 207 Dieser Bezug hat insbe‐ sondere den Effekt, die Zuschauer auf die grundlegende Verschiedenheit der beiden Brüder hinzuweisen: Polyneikes war beim Angriff auf Theben gefallen, eben als Landesverräter, Eteokles aber bei der Verteidigung dieser Stadt. Das heißt, die Brüder waren nicht nur Todfeinde, ihre Todfeindschaft verwirklichte sich in einem grundlegend anderen Verhältnis zur Stadt, als ihr Freund auf der einen und als ihr Feind auf der anderen Seite. 3.2.1.2 Die weitere Entwicklung: die Polis als Deutungsrahmen? Dennoch greift aber eine Deutung zu kurz, die festhielte, die Wirkung des Prologs erschöpfe sich in einer simplen Einladung an die Zuschauer, sich in die Gemeinschaft der Thebaner einzuordnen und die Wahrnehmung schlechthin zu teilen, die Brüder seien grundverschieden gewesen. Vielmehr hat Sophokles eine solche Einordnung in die Gemeinschaft problematisiert. Denn genau eine solche Einordnung ist es, welche die Zuschauer im weiteren Verlauf des Prologs, nachdem Antigone von Kreons Edikt berichtet hat, beobachten, und zwar durch Ismene. Ihre Ablehnung von Antigones Plan ist nämlich der Tatsache geschuldet, dass sie ihren Platz in der Polisgemeinschaft nicht aufgeben kann (vv. 44-46, 49 f., 58-79 und 84-99): . ἦ γὰρ νοεῖς ϑάπτειν σφ’, ἀπόρρητον πόλει; Α . τὸν γοῦν ἐμόν, καὶ τὸν σόν, ἢν σὺ μὴ ϑέλῃς, 45 ἀδελφόν· οὐ γὰρ δὴ προδοῦσ’ ἁλώσομαι. […] . οἴμοι· φρόνησον, ὦ κασιγνήτη, πατὴρ 124 3 Die Antigone <?page no="125"?> ὡς νῷν ἀπεχϑὴς δυσκλεής τ’ ἀπώλετο 50 […] νῦν δ’ αὖ μόνα δὴ νὼ λελειμμένα σκόπει ὅσῳ κάκιστ’ ὀλούμεϑ’, εἰ νόμου βίᾳ ψῆφον τυράννων ἢ κράτη παρέξιμεν. 60 ἀλλ’ ἐννοεῖν χρὴ τοῦτο μὲν γυναῖχ’ ὅτι ἔφυμεν, ὡς πρὸς ἄνδρας οὐ μαχουμένα· ἔπειτα δ’ οὕνεκ’ ἀρχόμεσϑ’ ἐκ κρεισσόνων, καὶ ταῦτ’ ἀκούειν κἄτι τῶνδ’ ἀλγίονα. ἐγὼ μὲν οὖν αἰτοῦσα τοὺς ὑπὸ χϑονὸς 65 ξύγγνοιαν ἴσχειν, ὡς βιάζομαι τάδε, τοῖς ἐν τέλει βεβῶσι πείσομαι. τὸ γὰρ περισσὰ πράσσειν οὐκ ἔχει νοῦν οὐδένα. A . οὔτ’ ἂν κελεύσαιμ’ οὔτ’ ἄν, εἰ ϑέλοις ἔτι πράσσειν, ἐμοῦ γ’ ἂν ἡδέως δρῴης μέτα. 70 ἀλλ’ ἴσϑ’ ὁποία σοι δοκεῖ, κεῖνον δ’ ἐγὼ ϑάψω. καλόν μοι τοῦτο ποιούσῃ ϑανεῖν. φίλη μετ’ αὐτοῦ κείσομαι, φίλου μέτα, ὅσια πανουργήσασ’· ἐπεὶ πλείων χρόνος ὃν δεῖ μ’ ἀρέσκειν τοῖς κάτω τῶν ἐνϑάδε. 75 ἐκεῖ γὰρ αἰεὶ κείσομαι· σοὶ δ’ εἰ δοκεῖ τὰ τῶν ϑεῶν ἔντιμ’ ἀτιμάσασ’ ἔχε. . ἐγὼ μὲν οὐκ ἄτιμα ποιοῦμαι, τὸ δὲ βίᾳ πολιτῶν δρᾶν ἔφυν ἀμήχανος. […] ἀλλ’ οὖν προμηνύσῃς γε τοῦτο μηδενὶ τοὔργον, κρυφῇ δὲ κεῦϑε, σὺν δ’ αὔτως ἐγώ. 85 Α . οἴμοι, καταύδα· πολλὸν ἐχϑίων ἔσῃ σιγῶσ’, ἐὰν μὴ πᾶσι κηρύξῃς τάδε. . ϑερμὴν ἐπὶ ψυχροῖσι καρδίαν ἔχεις. Α . ἀλλ’ οἶδ’ ἀρέσκουσ’ οἷς μάλισϑ’ ἁδεῖν με χρή. . εἰ καὶ δυνήσῃ γ’· ἀλλ’ ἀμηχάνων ἐρᾷς. 90 Α . οὐκοῦν, ὅταν δὴ μὴ σϑένω, πεπαύσομαι. . ἀρχὴν δὲ ϑηρᾶν οὐ πρέπει τἀμήχανα. Α . εἰ ταῦτα λέξεις, ἐχϑαρῇ μὲν ἐξ ἐμοῦ, ἐχϑρὰ δὲ τῷ ϑανόντι προσκείσῃ δίκῃ. ἀλλ’ ἔα με καὶ τὴν ἐξ ἐμοῦ δυσβουλίαν 95 παϑεῖν τὸ δεινὸν τοῦτο· πείσομαι γὰρ οὐ τοσοῦτον οὐδὲν ὥστε μὴ οὐ καλῶς ϑανεῖν. 125 3.2 Der erste Handlungsbogen: auf dem Weg zu einer angemessenen Reaktion <?page no="126"?> . ἀλλ’ εἰ δοκεῖ σοι, στεῖχε· τοῦτο δ’ ἴσϑ’ ὅτι ἄνους μὲν ἔρχῃ, τοῖς φίλοις δ’ ὀρϑῶς φίλη. . Du willst ihn bestatten, obwohl dies der Stadt verboten ist? [45] An . Meinen Bruder, ja, und auch Deinen, selbst wenn Dir dies nicht gefällt. Ich werde mich nämlich nicht des Verrats schuldig machen. […] . Oh weh, denk doch, Schwester, an unseren Vater, [50] wie er verhasst und verachtet starb. […] Jetzt sinnst Du darauf, dass wir beide, die wir noch übrig sind, schrecklich untergehen, wenn wir, gewaltsam gegen das Gesetz verstoßend, [60] den Beschluss oder die Gewalt von Herrschern übergehen. Man muss aber dies bedenken, dass wir Frauen und zum Kampf gegen Männer nicht geschaffen sind; dann aber auch, dass wir von Stärkeren beherrscht werden sowie diesem und noch Schlimmerem gehorchen müssen. [65] Ich zumindest bitte die unter der Erde um Verzeihung, da ich dazu gezwungen werde, aber den Amtsträgern gehorchen werde. Sinnloses zu tun, ist nämlich nicht vernünftig. An . Ich werde Dich sicherlich nicht drängen, und wenn Du’s irgendwann in Zukunft doch tun wolltest [70] zusammen mit mir, so wäre das nicht zu meiner Freude. Sei, wie Du willst, ich werde diesen bestatten. Schön ist es, wenn ich dabei sterbe, wie ich dies tue. Lieb werde ich mit ihm liegen, dem Lieben, nachdem ich ein heiliges Verbrechen begangen habe; längere Zeit [75] muss ich ja denen unten als denen hier gefallen. Dort nämlich werde ich ewig liegen, Du aber, wenn Du willst, versage den Göttern die Ehren, die diesen geschuldet sind. . Dies tue ich nicht, aber ich bin unfähig, mit Gewalt gegen den Willen der Bürger zu handeln. […] Also sprich wenigstens zu keinem vorab von dieser [85] Tat, halte sie geheim; auch ich werde dies tun. An . Oh weh, mach sie bekannt! Viel verhasster wirst Du sein, wenn Du schweigst und dieses nicht allen verkündest! . Du hast ein heißes Herz bei eisigen Dingen! An . Aber ich weiß, dass ich denen gefalle, denen ich am ehesten gefallen muss. [90] . Wenn Du es wenigsten könntest; aber Du liebst das Unmögliche. An . Wenn - und nur wenn - ich’s nicht vermag, werde ich aufhören. . Es gehört sich gar nicht, dem Unmöglichen nachzujagen. An . Wenn Du dies sagst, bist Du mir verhasst, und verhasst wirst Du zurecht dem Toten sein. [95] Aber lass mich und meine Torheit dieses schreckliche Übel erleiden; denn ich werde sicher nichts so schrecklich Übles erleiden, dass ich nicht schön werde sterben können. . Wenn Du dies denkst, dann geh halt! Wisse aber, dass Du töricht bist, Deine Lieben aber richtig liebst. Betrachtet man Ismenes Plädoyer nämlich genau, so zeigt sich, dass ihre Ableh‐ nung von Antigones Vorhaben nicht allein dessen, wie sie denkt, ‚technischer‘ Undurchführbarkeit geschuldet ist. Diese spielt eine Rolle (beachte vv. 68 f., 90 und 92), doch ihre Ablehnung ist komplexer motiviert, sie kann gewissermaßen nicht mittun wollen, da dies bedeutete, durch einen Verstoß gegen ein Gesetz ihren Platz in der Gemeinschaft, exemplifiziert besonders durch ihre soziale 126 3 Die Antigone <?page no="127"?> 208 Vgl. Patzer 1978, 88; Rohdich 1980, 31-33. 209 Dies wird vollständig klar, wenn man bedenkt, dass sie in ihrem Versuch, ihre Schwester zum Einhalten zu bewegen, die äußeren Umstände, als Beherrschung durch „Stärkere“, auch erwähnt, und zwar in den vv. 63 f., doch dies mittels ἔπειτα δ’ 63 als separates, zusätzliches Argument kennzeichnet. Ismene sagt also nicht nur, dass sie als Frauen zu schwach seien, sich gegen Männer zu wehren, dies aber tun könnten, hätten sie nur die dazu nötigen Ressourcen - die oben erwähnte ‚technische‘ Unfähigkeit; vielmehr hat sie auch gesagt, dass es ihrem Wesen widerspräche, sich zur Wehr zu setzen. 210 Vgl. zum gleich auszuführenden Polisverständnis Knox 1966, 84-86. 211 Vgl. Schadewaldt 1929, 89-91; Sourvinou-Inwood 1989b, 140; dass Ismenes Normalität eine spezifisch weibliche ist, ändert dabei nichts, vielmehr setzte die Unterordnung der Frauen unter die Männer die Unterordnung dieser Männer - als Bürger - unter die „Amtsträger“ (οἱ ἐν τέλει, vgl. v. 67) der Polis fort (vgl. Griffith 1999, ad vv. 639-680; 1998, bes. 35 zur analogen Unterordnung des Sohns unter den Vater), so dass die Polis mit ihren Gesetzen auch der Rahmen weiblichen Lebens war (vgl. auch Patzer 1978, 88; Rohdich 1980, 30 f.). Rolle als Frau, aufzugeben, und dazu ist sie außerstande. 208 Besonders deutlich wird dies über ihren Gebrauch des Verbs φύομαι: Wenn sie in den vv. 61 f. sagt, dass sie und ihre Schwester als Frauen nicht gegen Männer kämpfen könnten, dann bezeichnet sie damit, eben über die Formulierung mit ἔφυμεν 62, eine wesenhafte und keine kontingente Unfähigkeit aufgrund äußerer Umstände, gegen ihre Position aufzubegehren, „mit Gewalt gegen den Willen der Bürger“ (vv. 78 f., beachte ἔφυν 79) zu handeln. 209 Diese Darstellung hat nun eine komplexe Wirkung. An der Oberfläche näm‐ lich wird die Funktion der Polis als Rezeptionsrahmen verstärkt: Die Zuschauer erhalten in der multiperspektivischen ‚Landschaft‘ des Prologs eine Figur vorge‐ führt, welche die Einordnung in die thebanische Gemeinschaft gewissermaßen vorexerziert, und sie brauchen es ihr nur gleichzutun; insbesondere artikuliert Ismene in ihrer Reaktion ein Verständnis der Polis, das auch dasjenige eines zeitgenössischen Publikums war. 210 Die Polis war nämlich, wie oben 3.1 bereits angeklungen, kein ‚Staat‘ im modernen Sinne, sondern der selbstverständliche Rahmen und die selbstverständliche Garantin menschlichen Lebens, und ihre Gesetze besaßen insofern eine unmittelbare Verbindlichkeit. Dieses Verständnis artikuliert Ismene nun, wenn sie sich wesenhaft unfähig zeigt, sich durch einen Gesetzesverstoß aus der Gemeinschaft zu entfernen. Sie erscheint also als Vertreterin der zeitgenössischen polisgebundenen Normalität. 211 Soweit die Oberfläche; betrachtet man nun aber, wie sich Ismene in die Ge‐ meinschaft einordnet, so wird deutlich, dass sie dafür einen hohen Preis bezahlt. Die Wahrnehmung des Eteokles und des Polyneikes als grundverschieden, die sie den thebanischen Bürgern selbstverständlich zuschreibt, wenn sie in einem Verstoß gegen das Bestattungsverbot „einen gewaltsamen Verstoß gegen den 127 3.2 Der erste Handlungsbogen: auf dem Weg zu einer angemessenen Reaktion <?page no="128"?> 212 Es ist behauptet worden, Ismenes Ineinssetzung des Willens der Bürger mit dem Edikt werde durch die Tatsache unterlaufen, dass davor (z. B. vv. 44, 59 f., 67) die Frage, in‐ wieweit dieses dem Willen der Bürger entspreche, systematisch offengelassen worden ist (so Sommerstein [2017, 278 f.]: Ismenes Wahrnehmung sei „konfus“; ähnlich Funke 1966, 39). Tatsächlich ist der Effekt dieser Darstellung ein anderer, wie bereits Rohdich (1980, 30 f.) erkannt hat: Ismenes vv. 78 f. funktionieren als eine Disambiguierung, durch welche die davor geschaffene Unsicherheit desto effektiver aus der Welt geschafft wird: Kreon hat gewiss nicht über sein Edikt abstimmen lassen, aber die Bürger unterstützen dieses, so ist sich Ismene (und Antigone) sicher, vollumfänglich. 213 Vgl. Knox 1966, 79f. Willen der Bürger“ (vv. 79 f.) sieht, 212 ist nämlich nicht die ihre. Vielmehr leidet sie, wie oben bereits deutlich geworden ist (vv. 63-67 mit ἀλγίονα 64 und βιάζομαι 66), offensichtlich unter Kreons Edikt, und der Grund dafür ist, dass sie Eteokles und Polyneikes als Einheit qua philoi, das heißt, qua Brüder wahrnimmt und diese jetzt durch Kreon gewaltsam aufgespalten sieht. Besonders deutlich macht Sophokles dies, indem er sie, nicht anders als Antigone, durchgehend in Dualformen von diesen sprechen lässt (vv. 9-14, 21 f. und 55-57, beachte ferner φίλων 11 sowie das oben zitierte τοῖς φίλοις 99): 213 Α . […] ἔχεις τι κεἰσήκουσας; ἤ σε λανϑάνει πρὸς τοὺς φίλους στείχοντα τῶν ἐχϑρῶν κακά; 10 . ἐμοὶ μὲν οὐδεὶς μῦϑος, Ἀντιγόνη, φίλων οὔϑ’ ἡδὺς οὔτ’ ἀλγεινὸς ἵκετ’ ἐξ ὅτου δυοῖν ἀδελφοῖν ἐστηρήϑημεν δύο, μιᾷ ϑανόντοιν ἡμέρᾳ διπλῇ χερί […] Α . οὐ γὰρ τάφου νῷν τὼ κασιγνήτω Κρέων 21 τὸν μὲν προτίσας, τὸν δ’ ἀτιμάσας ἔχει; […] . […] [sc. φρόνησον ὡς] ἀδελφὼ δύο μίαν καϑ’ ἡμέραν 55 αὐτοκτονοῦντε τὼ ταλαιπώρω μόρον κοινὸν κατειργάσαντ’ ἐπαλλήλοιν χεροῖν. An . Hast Du etwas gehört? Oder ist Dir verborgen, [10] dass die Übel der Feinde unsere Lieben heimsuchen? . Ich habe nichts, Antigone, von den Lieben gehört, weder Gutes noch Schlechtes, seit wir beide unserer beiden Brüder beraubt worden sind, die sich an einem Tag mit doppelter Hand getötet haben. […] [21] An . Hat nicht Kreon von den beiden Brüdern von uns zweien den einen einer Bestattung gewürdigt, diese dem anderen aber versagt? […] . […] [55] [sc. Bedenke, wie] die beiden Brüder 128 3 Die Antigone <?page no="129"?> 214 Vgl. zum gequälten Charakter von Ismenes Reaktion Rohdich 1980, 32. 215 Zur Bedeutung der Bestattung vgl. die Testimonien bei Bowra (1944, 92 Anm. 1-4); Holt (1998, 673 f.) weist auf die anschauliche Schilderung der grausigen Umstände der Behandlung von Polyneikes’ Leichnam hin, wodurch die Empörung und das Leiden einen deutlichen emotionalen ‚Sog‘ entwickelt (vgl. auch Seale 1982, 84). 216 Besonders deutlich zeigt sich Antigones ‚Unrechts‘bewusstsein in ihrer Formulierung „nachdem ich ein heiliges Verbrechen begangen habe“ (ὅσια πανουργήσασ’) in v. 74 an einem Tag sich wechselseitig getötet haben, die zwei Elenden, und ein gemeinsames Todesschicksal sich verschafft haben mit ihren beiden Händen! Ismenes Weigerung, sich der Gemeinschaft zu entziehen, erscheint also unbe‐ streitbar gequält, sie befindet sich im Spannungsfeld zwischen Familie und Polis. 214 Diese Situation ist nun derjenigen der impliziten Zuschauer ähnlich. Denn nicht nur die oben 3.2.1.1 dargelegte Wahrnehmung der Brüder als grund‐ verschieden nach ihrem Verhältnis zur Polis entwickelt Plausibilität, dies tut auch die Wahrnehmung der Brüder als Einheit. Denn diese ist es ja, die Sopho‐ kles den Zuschauern direkt erschlossen hat, indem er sie mit den Perspektiven der beiden Schwestern konfrontierte, die in dieser Wahrnehmung vollumfäng‐ lich konvergent sind. Sophokles hat sich also entschieden, die Wahrnehmung der Familie entschieden in den Fokus zu rücken, und er konnte damit rechnen, dass ein zeitgenössisches Publikum, in dessen Imagination die Bestattung mit bedeutendsten Sensibilitäten aufgeladen war, das Leiden und die Empörung der Schwestern angesichts der Behandlung ihres Bruders nachvollziehen konnte. 215 Auf diese Weise entwickeln die Zuschauer das Bewusstsein, dass auch sie einen Preis dafür bezahlen, wenn sie das Stück weiterhin vollumfänglich aus einer ‚Polisperspektive‘ rezipieren, nämlich den, sich eine Wahrnehmung der beiden Brüder zu eigen zu machen, die den textlichen Signalen nicht gerecht wird. 3.2.1.3 ‚Hero-worshipping‘ als Ausweg? Doch wie sollen sie damit umgehen? Hier greift nun die Spannung, die So‐ phokles zwischen Ismenes und Antigones Reaktionen entwickelt. Denn für Antigone spielt die Polis - ganz anders als für Ismene - keinerlei Rolle, sie weist jede Verpflichtung dieser gegenüber in Bausch und Bogen zurück. Sie geht nämlich davon aus, dass die Toten sie vor die Wahl stellten, entweder, nötigenfalls unter Einsatz ihres Lebens (vgl. die Rede vom „schönen Tod“ in den vv. 72 und 97), gegen Kreons Gesetz zu verstoßen, oder aber ihrem „Hass“ zu verfallen (v. 94), und ihre Entscheidung ist klar: Sie will den Toten „gefallen“ und ihr Leben im ‚Diesseits‘ verliert angesichts dessen jede Relevanz (vv. 74 f. und 89). 216 Besonders eklatant zeigt Antigone die Geringschätzung der Polis, 129 3.2 Der erste Handlungsbogen: auf dem Weg zu einer angemessenen Reaktion <?page no="130"?> (vgl. Knox 1966, 93): Es ist ihr bewusst, dass sie gegen das Gesetz verstößt, allein es ist ihr vollkommen gleichgültig. 217 Vgl. - auch zum Folgenden - Blundell 1989, 113-115. 218 Rohdich 1980, 39 u.ö. 219 Vgl. die sorgfältige Analyse von Pfeiffer-Petersen (1996, 43-46). wenn sie deutlich macht, dass ihr Leben, der zentrale durch die Gemeinschaft garantierte Wert, für sie keinerlei Rolle spielt, indem sie Ismene auffordert, allen von ihrer Tat zu berichten (vv. 86 f.). Es liegt nun nahe, dass ein zeitgenössisches Publikum diese Überzeugung von einer Verpflichtung durch ‚die Toten‘ zum Gesetzesbruch und damit, in Antigones (und Ismenes) Situation, zum („schönen“) Tod, die über die von Ismene geteilte Auffassung hinausgeht, dass eine Bestattung unbedingt wün‐ schenswert und die Verweigerung einer solchen schmerzhaft und empörend sei, als idiosynkratisch empfand. 217 Denn das oben referierte Polisverständnis lässt keine Rechtskonkurrenz - ein auf das ‚Diesseits‘ begrenztes Polisrecht gegen gleichwertige „Hadesgesetze“ 218 beispielsweise - zu, geschweige denn eine Überordnung der „Hadesgesetze“ über das Polisrecht. Besonders deutlich wird Antigones Idiosynkrasie dabei, wenn man ihre Motivation zu Ende denkt. Wenn sie nämlich behauptet, ‚die Toten‘ verpflichteten sie zu ihrer Tat, dann schreibt sie diesen eine uniforme Perspektive zu, für die offenbar die diesseitige Todfeindschaft der Brüder keine Rolle mehr spielt; damit sagt sie noch nichts, was nicht auch Ismenes Wahrnehmung entspräche; diese hatte sich nun aber auf den Standpunkt gestellt, „die unter der Erde“ - gemeint sind die Toten, vielleicht auch die unterweltlichen Götter - könnten ihr verzeihen (vv. 65 f.), doch diese Möglichkeit bestreitet Antigone, wenn sie Ismene nicht nur ihren eigenen „Hass“, sondern auch den des Polyneikes ansagt (vv. 93f.), wobei Ismene, so muss man ergänzen, diesem „Hass“ auch dann nicht entkommen wird, wenn sie dereinst stirbt. Das heißt, die Weigerung, unter Einsatz des eigenen Lebens einen Verwandten zu bestatten, ist der einzige Fall, für den Antigone den Tod nicht als Schlussstrich gegenüber diesseitigen Verwerfungen akzeptiert. Dass sie hier, psychologisch gesprochen, ihre eigenen Prioritäten, insbesondere ihren „Hass“ auf ihre Schwester, auf die Toten projiziert, ist schwer zu bestreiten. Entscheidend ist nun aber, dass im Drama natürlich auch eine idiosynkrati‐ sche Reaktion ein Identifikationspotential entwickeln kann, und genau darauf zielt die sophokleische Gestaltung ab. Dies zeigt sich, wenn man die kommuni‐ kative Dynamik in den Blick nimmt. 219 Denn dann wird deutlich, wie Ismene im Verlauf des Gesprächs vom Versuch abkommt, ihre Schwester von deren Plan abzubringen, und diesen akzeptiert: Versucht sie diese zunächst zu bereden, so bemüht sie sich nach dem Scheitern ihres Plädoyers, die Folgen von Antigones 130 3 Die Antigone <?page no="131"?> 220 δείξεις τάχα / εἴτ’ εὐγενὴς πέφυκας εἴτ’ ἐσϑλῶν κακή 37 f. (Bald wirst Du zeigen, ob Du von edler Natur bist oder schlecht, obwohl Du von Edlen abstammst.). 221 Vgl. die konzise Formulierung von Schadewaldt (1929, 92): „Während [der Polit] Ismene beipflichtet ohne sie zu bewundern, bewundert er Antigone ohne ihr beipflichten zu können.“ Vorgehen abzumildern (vv. 84 f.); als dies ebenso wenig auf Resonanz stößt, stellt Ismene fest, dass Antigone ein „heißes Herz bei eisigen Dingen“ besitze (v. 88), also mit ihrer Tat ihrer spezifischen charakterlichen Disposition entspreche, bevor sie sie abschließend auffordert, ‚dann halt‘ zur Tat zu schreiten, und ihre Hingabe an ihre philoi anerkennt (vv. 98 f.). Damit erkennt sie insbesondere den heroischen Anspruch an, den Antigone im Hinblick auf die geplante Tat formuliert hatte, als sie die Bereitschaft dazu als Prüfstein der eugeneia, der „edlen Natur“, bezeichnet hatte. 220 Kurzum, es ist offenbar Antigones Wesen, Polyneikes zu bestatten, so wie es Ismenes Wesen ist, dabei nicht mittun zu können. Vom Standpunkt ‚vernünftiger‘ polisgebundener Normalität mag ihr Verhalten als „Torheit“ erscheinen, doch in dieser „Torheit“ ist Antigone mit sich im Reinen (vv. 95-99): Anders als Ismene muss sie sich nicht verbiegen. Damit bietet Antigones Perspektive den Zuschauern einen Ausweg aus der oben beschriebenen unbequemen Einordnung in die Gemeinschaft der Thebaner: Mit einem auf Antigone gerichteten ‚hero-worshipping‘, mit einer Konzentration der Identifikation auf eine Figur also, die sich mächtig über die trübe Normalität und die Kompromisse hinwegsetzt, die eine Einordnung in die Gemeinschaft von jedem Menschen verlangt, könnte man der unbefriedigenden Situation entkommen, vor die Sophokles die Zuschauer gestellt hat. Zugleich hätte ein zeitgenössisches Publikum aber auch dafür einen Preis bezahlt, und zwar den einer entschiedenen Abwertung der eigenen Lebensform: Die Polis als Ort für Menschen aufzufassen, die zu feige sind für heroische Selbstaffirmation, ist keine Wahrnehmung, die einem zeitgenössischen Zuschauer leichtgefallen wäre, und tatsächlich hat Sophokles ja mit Ismene eine Figur vorgeführt, die eindringlich aufzeigt, dass Leben selbstverständlich und unausweichlich Leben in Gemeinschaft ist, auch wenn diese Tatsache mitunter schmerzhaft sein kann. Kurzum, Sophokles lässt die Zuschauer am Ende des Prologs mit einer Spannung zwischen Antigones und Ismenes Reaktion zurück. 221 Statt also die Polis als selbstverständlich angemessenen Deutungsrahmen des Stückgeschehens zu etablieren und zu suggerieren, dass eine Wahrnehmung durch die Zuschauer ‚als Bürger‘ zu einer vollkommen befriedigenden Reaktion darauf führen könne, lässt er diese mit der offenen Frage zurück, wie groß das Potential einer ‚Polisperspektive‘ wirklich ist, ihnen eine solche Reaktion zu erschließen. 131 3.2 Der erste Handlungsbogen: auf dem Weg zu einer angemessenen Reaktion <?page no="132"?> 222 Deutlicher spräche der Chor Polyneikes als Aggressor an, wenn man in v. 110 das überlieferte ὃν ἐφ’ ἡμετέρᾳ γῇ Πολυνείκης mit einer danach stehenden Lücke läse, wo etwas wie ἤγαγε· κεῖνος δ’ zu ergänzen wäre (so Griffith [1999, ad vv. 110-112]); entschiede man sich dagegen für die Emendation zu ὃς ἐφ’ ἡμετέρᾳ γῇ Πολυνείκους, die z. B. Lloyd-Jones und Wilson (1990a) drucken, dann würde Polyneikes direkt mit dem „zwisterfüllten Streit“ (νεικέων ἐξ ἀμφιλόγων 111) und nur indirekt mit dem aus diesem „Streit“ hervorgegangenen Krieg in Verbindung gebracht. Auch dann gilt aber, dass der Chor - anders als später im Lied (siehe weiter unten) - nur von Polyneikes und nicht von beiden Brüdern spricht (beachte auch mit Griffith [1999, ad v. 111] das etymologische Wortspiel in Πολυνείκους / ἀρϑεὶς νεικέων 110 f.). 3.2.2 Die Parodos: von der offenen Frage zum Engagement Die Parodos setzt, ähnlich wie im Aias, bei der am Ende des Prologs offengeblie‐ benen Frage an und generiert so Engagement. Grundlage dieser Entwicklung ist, dass die Perspektive des Chors, bestehend aus thebanischen Greisen und somit aus Vertretern der Polis Theben, nicht den im Prolog geweckten Erwartungen entspricht. Dort war, wie oben 3.2.1.2 gesagt, kein Zweifel daran suggeriert worden, dass die Bürger Kreons eklatante Aufspaltung der Brüder Eteokles und Polyneikes nach ihrem Charakter als Verteidiger bzw. Feind der Polis un‐ terstützen würden. Tatsächlich aber ist die Wahrnehmung der Brüder durch den Chor komplexer. Das Lied beginnt zunächst, wie zu erwarten, mit Polyneikes, der, je nach angenommener Textgestalt 222 mehr oder weniger deutlich, als Aggressor angesprochen wird (vv. 100-102 und 106-113): ἀκτὶς ἀελίου, τὸ κάλ- 100 λιστον ἑπταπύλῳ φανὲν Θήβᾳ τῶν προτέρων φάος, […] τὸν †λεύκασπιν Ἀργόϑεν φῶτα βάντα πανσαγίᾳ† φυγάδα πρόδρομον ὀξυτόρῳ κινήσασα χαλινῷ· ὃς ἐφ’ ἡμετέρᾳ γῇ Πολυνείκους 110 ἀρϑεὶς νεικέων ἐξ ἀμφιλόγων ὀξέα κλάζων αἰετὸς ἐς γῆν ὣς ὑπερέπτα [100] Strahl der Sonne, schönstes Licht von denen, die jemals dem siebentorigen Theben geschienen haben […] Du hast den Mann mit dem weißen Schild, der aus Argos kam in voller Rüstung, in die Flucht geschlagen mit scharfem Zaumzeug; [110] 132 3 Die Antigone <?page no="133"?> 223 Die Funktion des Chors als Träger der ‚Polisperspektive‘ wird ferner dadurch verstärkt, dass der Chor hier als Chor eine besondere Nähe zu den Zuschauern als Bürgern der Polis Athen entwickelt (siehe 1.5.1.2 oben): Er will sich am Ende seines Liedes aufmachen, um am Dionysosreigen teilzunehmen (ϑεῶν δὲ ναοὺς / χοροῖς παννύχοις πάντας ἐπέλ- / ϑωμεν, ὁ Θήβας δ’ ἐλελί- / χϑων Βάκχιος ἄρχοι 152-154 [lasst uns alle Göttertempel mit die ganze Nacht andauerndem Tanz besuchen, Bakchos aber, der die Erde Thebens erschüttert, soll uns anführen]); damit schlägt er die Brücke zum Festkontext der Großen Dionysien, an denen die Antigone aufgeführt wurde. dieser hatte sich erhoben gegen unser Land aufgrund des zwisterfüllten Streits des Polyneikes und flog, schrill krächzend wie ein Adler, gegen das Land Der Chor spricht also durchaus für die Polis, die eben erst knapp der Bedrohung entgangen ist, die von Polyneikes’ Angriff ausging. 223 Gegen das Ende seines Liedes kommt er nun erneut auf diesen - und dessen Bruder Eteokles - zu sprechen (vv. 141-151): ἑπτὰ λοχαγοὶ γὰρ ἐφ’ ἑπτὰ πύλαις ταχϑέντες ἴσοι πρὸς ἴσους ἔλιπον Ζηνὶ τροπαίῳ πάγχαλκα τέλη, πλὴν τοῖν στυγεροῖν, ὣ πατρὸς ἑνὸς μητρός τε μιᾶς φύντε καϑ’ αὑτοῖν 145 δικρατεῖς λόγχας στήσαντ’ ἔχετον κοινοῦ ϑανάτου μέρος ἄμφω. ἀλλὰ γὰρ ἁ μεγαλώνυμος ἦλϑε Νίκα τᾷ πολυαρμάτῳ ἀντιχαρεῖσα Θήβᾳ, ἐκ μὲν δὴ πολέμων 150 τῶν νῦν ϑέσϑε λησμοσύναν Denn sieben Kommandeure, die an sieben Toren aufgestellt waren, gleich gegen gleich, ließen ihre Waffen ganz aus Bronze dem Zeus des Sieges - außer den beiden Verhassten, die, zu zweit einem Vater [145] und einer Mutter entstammend, ihre siegreichen Speere in ihre Leiber rammten und zusammen das Schicksal eines gemeinsamen Todes erlangten. Aber Nike mit ihrem großen Namen ist gekommen und hat Theben mit seinen vielen Gespannen Gunst erwiesen; [150] jetzt lasst Vergessen über die eben vergangenen Kriege fallen Die hier artikulierte Wahrnehmung der Brüder unterscheidet sich nun deutlich von den im Prolog bezüglich der Perspektive der Polis geweckten und zu Beginn des Liedes zunächst bestätigten Erwartungen. Statt dass der Chor als Vertreter der Polis die Brüder nämlich unterschiede, Eteokles positiv und/ oder Polyneikes negativ wahrnähme, erscheinen diese vielmehr als eine - angesichts 133 3.2 Der erste Handlungsbogen: auf dem Weg zu einer angemessenen Reaktion <?page no="134"?> 224 Vgl. Griffith 1999, ad v. 144. 225 Vgl. Else 1978, 40; Patzer 1978, 92; Oudemans/ Lardinois 1987, 155-157 sowie Tralau (2008, bes. 247 f.), der allerdings ohne Not annimmt, dass der Chor hier mehr sage, als er verstehe. von στυγεροῖν 144 unheilvolle 224 - Einheit, markiert durch den Dual, den Numerus also, in dem die Schwestern im Prolog, wie oben 3.2.1.2 gesagt, immer von ihren Brüdern gesprochen hatten. Diese Wahrnehmung überrascht auf den ersten Blick; tatsächlich gibt es aber einen guten Grund für eine derartige Wahrnehmung auch aus der Perspektive der Polis, der bereits im Prolog, in Ismenes Plädoyer, angeklungen war (vv. 49-57): οἴμοι, φρόνησον, ὦ κασιγνήτη, πατὴρ ὡς νῷν ἀπεχϑὴς δυσκλεής τ’ ἀπώλετο 50 πρὸς αὐτοφώρων ἀμπλακημάτων, διπλᾶς ὄψεις ἀράξας αὐτὸς αὐτούργῳ χερί· ἔπειτα μήτηρ καὶ γυνή, διπλοῦν ἔπος, πλεκταῖσιν ἀρτάναισι λωβᾶται βίον· τρίτον δ’ ἀδελφὼ δύο μίαν καϑ’ ἡμέραν 55 αὐτοκτονοῦντε τὼ ταλαιπώρω μόρον κοινὸν κατειργάσαντ’ ἐπαλλήλοιν χεροῖν. Oh weh, bedenk doch, Schwester, unseren Vater, [50] wie er verhasst und verachtet starb durch die Verbrechen, die er selbst entdeckt hatte, nachdem er sich beide Augen ausgestochen hatte mit eigener Hand; und dann, wie die Mutter und die Ehefrau - zwei Bezeichnungen für eine Person - mit gedrehter Schlinge ihrem Leben Gewalt antat; [55] als Drittes aber, wie die beiden Brüder an einem Tag sich wechselseitig getötet haben, die zwei Elenden, und ein gemeinsames Todesschicksal sich verschafft haben mit ihren beiden Händen. Innerhalb der Familie der Labdakiden ist es nämlich nicht so einfach, zwischen Gut und Böse zu scheiden, vielmehr ist diese Familie geprägt von weit zurück‐ reichenden Verwicklungen, deren letzte der Zwist der beiden Brüder gewesen ist, der in der wechselseitigen Tötung seinen Höhe-, aber möglicherweise auch Endpunkt gefunden hat. Das heißt, die eben überwundene Bedrohung ging in letzter Konsequenz nicht ausschließlich von Polyneikes aus, sondern von beiden Brüdern, die Gefahr für die Polis kam letztlich aus dieser selbst, 225 und darauf wird die Aufmerksamkeit in der Parodos gelenkt. In dieser Wahrnehmung nun knüpft die Parodos an den Prolog an. Denn auf diese Weise verliert die Spannung, mit der die Zuschauer dort zurückgelassen wurden, entscheidend an Brisanz: Die Zuschauer können sich mit der Perspek‐ 134 3 Die Antigone <?page no="135"?> 226 Vgl. Rohdich 1980, 52. tive der thebanischen Bürger, wie sie hier greifbar wird, unproblematischer identifizieren, da eine solche Identifikation sie hier nun nicht mehr dazu zwingt, eine verkürzte Wahrnehmung der beiden Brüder als ausschließlich grundverschieden zu übernehmen. Auf diese Weise schwindet die Attraktivität einer Reaktion, wie sie Antigone an den Tag gelegt hatte, wenn sie einer Einordnung in die Gemeinschaft verächtlich jeden Wert abgesprochen hatte, während andererseits Ismenes Einordnung in diese gewissermaßen validiert wird: In diese Gemeinschaft können sich die Zuschauer einfacher einordnen. Auf dieser Entwicklung basiert nun die Art und Weise, wie die Parodos die Zuschauer zu engagieren vermag. Insbesondere nämlich konvergieren die Perspektiven der Ismene und des Chors im Hinblick auf die Wahrnehmung eines Edikts wie desjenigen des Kreon: Diese radikale Aufspaltung hatte Ismene als unangemessen und schmerzhaft empfunden, und eine negative Wahrnehmung lässt sich auch aus der Chorperspektive erschließen. Denn die Situation, wie sie der Chor wahrnimmt, bietet eine einmalige Chance für die Polis: Mit dem Sieg und dem Tod beider Brüder könnte die eben dargelegte verhängnisvolle Ereigniskette endlich an ihr Ende gekommen sein, es könnte endlich ein Schlussstrich gezogen werden. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Wunsch in Erfüllung geht, mit dem der Chor auf die Situation reagiert, wie er sie wahrnimmt: dass man die unheilvoll verstrickte Vergangenheit, die ihren - hoffentlich - letzten Ausdruck im eben gewonnenen Krieg gefunden hat, „vergisst“, statt diese fortzusetzen (vv. 150 f.). Genau diesem Wunsch nach Vergessen steht nun aber Kreons Edikt entgegen, mit dem dieser die Differenz zwischen den Brüdern - Eteokles, der Verteidiger, ist ‚gut‘, Polyneikes, der Angreifer, ist ‚böse‘ - festschreibt, statt einen Schlussstrich zu ziehen. 226 Auf diese Weise ist die Parodos als Fortsetzung des Prologs nun geeignet, die Zu‐ schauer - durch den Filter ihres Mehrwissens um Kreons Edikt - zu engagieren. Wenn sich nämlich am Ende des Liedes die Begegnung des Chors mit Kreon ankündigt, ist zu erwarten, dass die eben artikulierte nuancierte Wahrnehmung mit dessen radikaler Differenzierung der Brüder kontrastiert werden wird, und entsprechend wird die Hoffnung geweckt, dass dieser im Austausch mit dem Chor zu einer nuancierteren Reaktion gelangen möge. 3.2.3 Das Ende der Involvierung: die angemessene Reaktion Der nächste Abschnitt, das erste Epeisodion, führt die Zuschauer an eine angemessene Reaktion auf die Stücksituation heran. Diese Reaktion besteht 135 3.2 Der erste Handlungsbogen: auf dem Weg zu einer angemessenen Reaktion <?page no="136"?> 227 Nach v. 167 nehmen Lloyd-Jones und Wilson (1990a) eine Lücke an; sprachlich lässt sich der Text - unter Inkaufnahme einer (inhaltlich allerdings sogar begründbaren) Vagheit - jedoch halten (siehe Griffith 1999, ad vv. 165-169), deswegen ist hier auf die Angabe einer Lücke verzichtet worden. darin, sowohl Kreons wie Antigones Vorgehen als von der polisgebundenen Normalität abweichend problematisiert zu sehen, wie sie Ismene und der Chor vertreten. Dabei eröffnet Sophokles seinen Zuschauern zwei Wege, um zu dieser Reaktion zu gelangen, unterschieden durch die Art und Weise, wie in ihnen die Involvierung rhetorisch funktionalisiert ist. 3.2.3.1 Weg 1: das Ende des Engagements Der Bezug der Positionen: der Chor in der Mitte Der erste Weg besteht aus drei Schritten, die in diesem und den nächsten beiden Abschnitten nachvollzogen werden sollen. Zunächst also zum ersten Schritt, dem endgültigen Bezug ihrer Positionen durch die Akteure Chor und Kreon: Das durch die Parodos geweckte Engagement der Zuschauer hatte darauf basiert, dass deutlich wurde, dass die radikale Scheidung der beiden Brüder in ‚gut‘ und ‚böse‘ auch aus einer ‚Polisperspektive‘, wie sie der Chor vertritt, hinter der Komplexität der Situation zurückbleibt. Nun hatte dieses Engagement natürlich auf einer Inferenz beruht, da der Chor noch gar nicht um Kreons Edikt wusste. Tatsächlich aber bestätigt sich diese Inferenz hier, wenn man Kreons kommunikatives Agieren mit der Entgegnung des Chors zusammensieht; die einschlägigen Aussagen sind folgende (vv. 164-169, 173- 193, 198 und 203-214 227 ): . […] ὑμᾶς δ’ ἐγὼ πομποῖσιν ἐκ πάντων δίχα ἔστειλ’ ἱκέσϑαι, τοῦτο μὲν τὰ Λαίου 165 σέβοντας εἰδὼς εὖ ϑρόνων ἀεὶ κράτη, τοῦτ’ αὖϑις, ἡνίκ’ Οἰδίπους ὤρϑου πόλιν, κἀπεὶ διώλετ’, ἀμφὶ τοὺς κείνων ἔτι παῖδας μένοντας ἐμπέδοις φρονήμασιν. […] ἐγὼ κράτη δὴ πάντα καὶ ϑρόνους ἔχω γένους κατ’ ἀγχιστεῖα τῶν ὀλωλότων. ἀμήχανον δὲ παντὸς ἀνδρὸς ἐκμαϑεῖν 175 ψυχήν τε καὶ φρόνημα καὶ γνώμην, πρὶν ἂν ἀρχαῖς τε καὶ νόμοισιν ἐντριβὴς φανῇ. 136 3 Die Antigone <?page no="137"?> ἐμοὶ γὰρ ὅστις πᾶσαν εὐϑύνων πόλιν μὴ τῶν ἀρίστων ἅπτεται βουλευμάτων, ἀλλ’ ἐκ φόβου του γλῶσσαν ἐγκλῄσας ἔχει, 180 κάκιστος εἶναι νῦν τε καὶ πάλαι δοκεῖ· καὶ μεῖζον’ ὅστις ἀντὶ τῆς αὑτοῦ πάτρας φίλον νομίζει, τοῦτον οὐδαμοῦ λέγω. ἐγὼ γάρ, ἴστω Ζεὺς ὁ πάνϑ’ ὁρῶν ἀεί, οὔτ’ ἂν σιωπήσαιμι τὴν ἄτην ὁρῶν 185 στείχουσαν ἀστοῖς ἀντὶ τῆς σωτηρίας, οὔτ’ ἂν φίλον ποτ’ ἄνδρα δυσμενῆ χϑονὸς ϑείμην ἐμαυτῷ, τοῦτο γιγνώσκων ὅτι ἥδ’ ἐστὶν ἡ σῴζουσα καὶ ταύτης ἔπι πλέοντες ὀρϑῆς τοὺς φίλους ποιούμεϑα. 190 τοιοῖσδ’ ἐγὼ νόμοισι τήνδ’ αὔξω πόλιν, καὶ νῦν ἀδελφὰ τῶνδε κηρύξας ἔχω ἀστοῖσι παίδων τῶν ἀπ’ Οἰδίπου πέρι […] τὸν δ’ αὖ ξύναιμον τοῦδε, Πολυνείκη λέγω, 198 […] τοῦτον πόλει τῇδ’ ἐκκεκήρυκται τάφῳ μήτε κτερίζειν μήτε κωκῦσαί τινα, ἐᾶν δ’ ἄϑαπτον καὶ πρὸς οἰωνῶν δέμας 205 καὶ πρὸς κυνῶν ἐδεστὸν αἰκισϑέν τ’ ἰδεῖν. τοιόνδ’ ἐμὸν φρόνημα, κοὔποτ’ ἔκ γ’ ἐμοῦ τιμῇ προέξουσ’ οἱ κακοὶ τῶν ἐνδίκων. ἀλλ’ ὅστις εὔνους τῇδε τῇ πόλει, ϑανὼν καὶ ζῶν ὁμοίως ἐκ γ’ ἐμοῦ τιμήσεται. 210 . σοὶ ταῦτ’ ἀρέσκει, παῖ Μενοικέως, ποεῖν τὸν τῇδε δύσνουν καὶ τὸν εὐμενῆ πόλει· νόμῳ δὲ χρῆσϑαι παντί, τοῦτ’ ἔνεστί σοι καὶ τῶν ϑανόντων χὠπόσοι ζῶμεν πέρι. r. […] Nach Euch habe ich, getrennt vom Rest, Boten [165] ausgeschickt und Euch kommen lassen, da ich dies wohl weiß, dass Ihr der Herrschaft des Laios immer treu ergeben wart, und auch dies, dass Ihr, als Oidipus die Stadt aufrichtete sowie nachdem er zugrunde gegangen war, mit beständigem Sinn auch dessen Kinder loyal begleitet habt. […] Ich besitze alle Macht und die Throne durch die Nähe zu den Verstorbenen. [175] Unmöglich aber ist es, den Geist und die Denkungsart und die Disposition irgendeines Mannes zu erkennen, bevor er in Αmtsausübung und Gesetzgebung tätig 137 3.2 Der erste Handlungsbogen: auf dem Weg zu einer angemessenen Reaktion <?page no="138"?> 228 Zur kommunikativen Dynamik zwischen Kreon und dem Chor und deren gleich darzulegenden Implikationen vgl. Eucken 1992, 77-79. 229 Die Reserviertheit des Chores sehen z. B. Jebb (1900, ad vv. 211 f.), Kamerbeek (1978, ad vv. 213 f.), Patzer (1978, 52), Griffith (1999, ad vv. 211-214 und ad v. 213) oder Sommerstein (2017, 280). gewesen ist. Für mich gilt, dass, wer eine ganze Polis lenkt, dabei aber nicht die besten Ratschlüsse zieht, [180] sondern sich aus irgendeinem Grund fürchtet und den Mund geschlossen hält, der Schlechteste ist, jetzt und schon lange! Und wer irgendeinen größeren Freund hat als das eigene Vaterland, den halte ich für nichts. Ich nämlich, dies wisse Zeus, der immer alles sieht, [185] könnte nicht schweigen, wenn ich sehe, dass Verhängnis droht für die Bürger und ihr Heil gefährdet ist, und ich würde nie einen Feind des Landes zu meinem Freund machen, da ich erkenne, dass dieses uns rettet [190] und dass wir uns Freunde machen, wenn dieses auf dem richtigen Kurs segelt. Durch diese Grundsätze fördere ich diese Polis, und mit diesen verwandt sind die Dinge, die ich den Bürgern verkündet habe über die Kinder des Oidipus. […] [198] Den Bruder aber von diesem - ich spreche von Polyneikes - […], was diesen betrifft, ist dieser Stadt durch ein Dekret verboten worden, ihn zu bestatten und zu beklagen; [205] stattdessen soll sein Leib unbestattet gelassen, Raubvögeln und Hunden zum Fraß vorgeworfen und geschändet sichtbar behalten werden. Von solcher Art ist mein Denken, und niemals werden wenigstens von mir die Schlechten mehr geehrt werden als die Gerechten. Vielmehr wird, wer dieser Stadt wohl gesonnen ist, tot [210] wie lebendig wenigstens von mir gleichermaßen geehrt werden. r Dir gefällt es, Kind des Menoikeus, dies zu tun mit dem, welcher der Stadt wohl-, und dem, der ihr übelwollte; jedes Gesetz zu erlassen, dies ist Dir erlaubt sowohl im Hinblick auf die Toten wie auf uns, die wir leben. Wenn Kreon, nach der captatio benevolentiae der vv. 164-169, zunächst sein ‚Regierungsprogramm‘ darlegt, mit dem er die Polis „fördern“ (vgl. αὔξω 191) will, um dann daraus sein Edikt abzuleiten (vgl. vv. 192 f.), dann wirbt er offensichtlich um die Zustimmung des Chors. 228 Entsprechend kann es der Aufmerksamkeit nicht entgehen, dass der Chor zwar anerkennt, dass der eine Bruder der Stadt feindlich, der andere aber freundlich gesonnen war, aber die von Kreon erheischte Zustimmung zurückhält, wenn er diesem mit auffälliger Wortstellung bescheidet, dass sein Vorgehen ihm gefalle, zu sich selbst aber schweigt, und dem neuen König zugesteht, er könne „jedes Gesetz“ erlassen, nachdem dieser die konkreten „Grundsätze“ dargelegt hatte, die ihn leiten (beachte τοιοῖσδ’ […] νόμοις 191 neben νόμῳ […] παντί 213). 229 Kurzum, der Chor sieht die Polis durch Kreons Maßnahme offensichtlich nicht „gefördert“, und dies ist durchaus nachvollziehbar, bleibt der König damit doch hinter der 138 3 Die Antigone <?page no="139"?> Komplexität der Situation zurück, die der Chor in der Parodos vom Standpunkt der Polis aus formuliert hatte. In der Wahrnehmung des Edikts als unangemessen war, wie oben 3.2.2 gezeigt, die Perspektive des Chors mit derjenigen der Ismene konvergiert. Nun hatte aber Ismene im Prolog nicht nur Kreons Edikt als unangemessen wahrgenommen, sondern aufgrund ihres polisgebundenen „Wesens“ zugleich auch einen Verstoß dagegen, wie ihn Antigone begehen will: Gesetze müssen unbedingt eingehalten werden. Auch unter diesem Gesichtspunkt konvergieren nun die Perspektiven der beiden Akteure, und zwar, indem die Aussagen des Chores im Hinblick auf Antigone eine Inferenz ermöglichen (vv. 215-222): . ὡς ἂν σκοποί νυν ἦτε τῶν εἰρημένων - 215 . νεωτέρῳ τῳ τοῦτο βαστάζειν πρόϑες. . ἀλλ’ εἴσ’ ἑτοῖμοι τοῦ νεκροῦ γ’ ἐπίσκοποι. . τί δῆτ’ ἂν ἄλλο τοῦτ’ ἐπεντέλλοις ἔτι; . τὸ μὴ ’πιχωρεῖν τοῖς ἀπιστοῦσιν τάδε. . οὔκ ἔστιν οὕτω μῶρος ὃς ϑανεῖν ἐρᾷ. 220 . καὶ μὴν ὁ μισϑός γ’ οὗτος· ἀλλ’ ὑπ’ ἐλπίδων ἄνδρας τὸ κέρδος πολλάκις διώλεσεν. [215] r. Ihr mögt Wächter des Gesagten sein… r Übertrage diese Aufgabe einem Jüngeren. r. Aber es stehen Aufpasser für den Leichnam bereit. r Welche andere Sache könntest Du uns dann noch auftragen? r. Dass Ihr nicht gemeinsame Sache macht mit denen, die diesen Dingen nicht Folge leisten. [220] r Keinen gibt es, der so töricht ist, das Sterben zu lieben. r. Und in der Tat ist dies der Lohn! Aber die Hoffnung auf Gewinn hat Männer oft verdorben. Dass die Verkehrtheit von Kreons Edikt an der Problematik von Antigones Vorgehen nichts ändert, diese Tatsache tritt hier wieder in den Vordergrund. Denn bereits die vv. 213 f. waren natürlich auch eine Absage an jeden Versuch gewesen, gegen Kreons Gesetz zu verstoßen - er kann „jedes Gesetz“ erlassen -, und dies macht der Chor am Ende des kurzen stichomythischen Austausches noch einmal deutlich, wenn er sagt, niemand sei so töricht, das Sterben zu „lieben“. Denn damit hat er Unrecht, der Prolog hatte mit Antigone eine Figur vorgeführt, welche die Toten und nicht die Lebenden liebt - Ismene „hasst“ sie ja (vv. 93 f.) - und sich das Etikett der „Torheit“ stolz an die Brust heftet, als die ihr „schöner Tod“ anderen erscheinen muss. Dass sich der Chor ein derartiges Verhalten nicht vorstellen kann, legt nahe, dass er schockiert wäre, wenn er von Antigones Tat erführe, und diese nicht guthieße, da Antigone damit den entscheidenden durch die Polis garantierten Wert geringschätzt: denjenigen des eigenen Lebens. Wenn der Chor nämlich von der törichten „Liebe 139 3.2 Der erste Handlungsbogen: auf dem Weg zu einer angemessenen Reaktion <?page no="140"?> 230 Diesen ethischen Gehalt haben Patzer (1978, 94) und Rohdich (1980, 32 f.; 55) erfasst; Letzterer hat auch auf die Wiederaufnahme von Ismenes Haltung hingewiesen, die darin liegt. 231 Vgl. zur Mittelposition des Chors zwischen Kreon und Antigone Rohdich 1980, 55. 232 Siehe Calder 1968, 394, Sourvinou-Inwood 1989b, 141 f.; Liapis 2012, 87 f.; in diesem Zusammenhang wird häufig darauf hingewiesen, dass Demosthenes Kreons Rede zustimmend zitierte (19,247). Betrachtet man das Zitat allerdings genau, dann sind es ausschließlich Kreons Grundsätze und nicht die daraus abgeleitete Maßnahme, die er wiedergibt, d. h. ausschließlich die vv. 175-190. Diese Feststellung fügt sich ausgezeichnet in das unten vorzustellende Argument, dass Kreons Maßnahme eine idiosynkratische Übersteigerung ist, die vom üblichen Polisverständnis ausgeht, den Boden des Konventionellen dann aber verlässt; der von Kreon affirmierten Priorität der Polis über jede persönliche philia-Beziehung (vv. 182 f. und 189 f.) hat auch der Redner Lykurg das Wort geredet (Leocr. 6). Gegenüber den eben erwähnten Gelehrten etwas ins andere Extrem gerutscht ist Connor (1971, 52), wenn er schreibt, Kreons Auffassung von philia sei einem zeitgenössischen Publikum „radikal“ erschienen. Radikalität und Konventionalität gehen vielmehr, wie eben gesagt worden ist und gleich gezeigt werden wird, Hand in Hand. zum Sterben“ spricht, dann geht es ihm nicht primär um die ‚Dummheit‘ eines Gesetzesbrechers, der sich dem Risiko einer Entdeckung und eines Todesurteils aussetzt - dass auf einen Bruch des Edikts die Todesstrafe steht, hat Kreon zu diesem Zeitpunkt ja noch gar nicht gesagt -, sondern um die Geringschätzung des zentralen Wertes des Lebens, die jemand an den Tag legt, der gegen ein Gesetz verstößt und sich so der Gemeinschaft entzieht. 230 Kurzum, die Perspektive des Chors holt Ismenes Reaktion auch im Hinblick auf Antigone ein und zeigt, dass sowohl Kreon wie Antigone in ihrem jeweiligen Vorgehen von der differenzierten Mittelposition abweichen, die Ismene und der Chor vertreten, in der die Zuschauer ihre polisgebundene Normalität wiederfinden konnten und die als angemessene Reaktion auf das Bühnengeschehen suggeriert wird. 231 Nun scheint indes ein Einwand auf der Hand zu liegen, und die Diskussion dieses Einwandes ermöglicht es, Kreons Perspektive noch genauer zu fassen. Denn die Feststellung, dass Kreon, nicht anders als die Polisverächterin Anti‐ gone, von der polisgebundenen Normalität abweiche, vermag auf den ersten Blick zu irritieren, steht am Ursprung von Kreons Maßnahme doch gerade ein Bewusstsein für die enorme Wichtigkeit der Polis, deren Funktion, den Einzelnen zu beschützen, er mit im Stück noch nie dagewesener Explizitheit affirmiert (vv. 184-190). Tatsächlich hat man nun versucht, Kreons Verhalten vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Polisauffassung zu normalisieren. 232 Insbesondere ist argumentiert worden, dass ein sophokleisches Publikum in Kreons Maßnahme die aus dem attischen Recht bekannte und oben 3.2.1.1 bereits erwähnte Ausstoßung von Landesverrätern und Frevlern erkannt und 140 3 Die Antigone <?page no="141"?> 233 So namentlich von Calder (1968, 392 Anm. 19 und 393), Sourvinou-Inwood (1989b, 137 f.) und Liapis (2012, 89 f.). 234 Vgl. Flashar 2000, 64; Scodel 2017, 31f. 235 Zum Beispiel von Hester (1971, 20 f.). 236 Vgl. Rosivach 1983, 207-211. 237 Vgl. zum Folgenden Patzer 1978, 78; Schmitt 1988, 9f.; Scodel 2017, 30-32. 238 Calder (1968, 392 f.) hat, offenbar mit einem gewissen Bewusstsein für dieses Problem, von einem fortexistierenden Not- und Kriegszustand gesprochen, u. a., da noch kein diese entsprechend gutgeheißen habe. 233 Diese Normalisierungsbemühungen haben das Verdienst, dass sie es erschweren, Kreon von Anfang an als simplen ‚Tyrannen‘ zu apostrophieren; dennoch vermögen sie aufs Ganze gesehen nicht zu befriedigen, da hier, im Unterschied zum Prolog, deutlich wird, dass Kreons Maßnahme nicht auf eine Ausstoßung von Polyneikes’ Leichnam abzielt, son‐ dern darauf, diesen „geschändet sichtbar“ zu behalten (αἰκισϑέν τ’ ἰδεῖν 206). 234 Dies bedeutet nicht, das längst widerlegte 235 Argument wiederzubeleben, dass ein zeitgenössisches Publikum Kreons Maßnahme deswegen selbstverständlich abgelehnt habe und dass dieser richtig gehandelt hätte, hätte er Polyneikes’ Leichnam ausgestoßen, aber es bedeutet, dass die Identität von Kreons Maß‐ nahme mit der dem Publikum bekannten Rechtspraxis nicht mehr gegeben ist: Ein zeitgenössisches Publikum erkannte darin etwas anderes als das, was es aus seiner Lebenswelt kannte und - so muss man annehmen - akzeptierte. Ferner weist die Beschreibung von Kreons Vorgehen - die Überlassung des Leichnams an Hunde und Raubvögel sowie die Betonung der „Ehre“ (τιμῇ 208, τιμήσεται 210) - deutliche Anklänge an den Umgang eines homerischen Krie‐ gers mit einem erschlagenen Feind auf und rückt dieses so vom zeitgenössischen Polis-Rahmen ab. 236 Der angemessene Umgang mit diesen Normalisierungsbemühungen besteht nun darin, diese sozusagen vom Kopf auf die Füße zu stellen; zu diesem Zweck muss man Kreons Rede als kommunikativen Akt deuten und fragen, was Kreon in seiner Situation mit seiner Rede - und der darin verkündeten Maßnahme - bewirken will. Dabei zeigt sich, dass Kreons Maßnahme nicht nur, wie eben gezeigt, nicht durch die stückexterne juristische Praxis gedeckt ist, sondern er diese stückintern selbst als innovativ und - man kann ergänzen: nicht anders als Antigones Auffassung von der Verpflichtung zum Gesetzesbruch durch ‚die Toten‘ - idiosynkratisch darstellt. 237 Zunächst einmal nämlich hat sein Edikt schlicht keinen Anlass: Kreon sagt, dass er nie schweigen werde, wenn er Gefahr für die Polis im Verzug sehe (vv. 185 f.). Das Edikt erlässt er aber in einer Situation, in der die Gefahr gebannt ist, 238 der Nexus zwischen Grundsatz und Maßnahme ist also prekär: Was 141 3.2 Der erste Handlungsbogen: auf dem Weg zu einer angemessenen Reaktion <?page no="142"?> Friedensvertrag geschlossen sei, doch dies hat keinen Anhaltspunkt im Text: Die Götter haben die Stadt „aufgerichtet“ (ὤρϑωσαν 163, gesprochen von Kreon). 239 Dass Kreons Rede vom Bestreben eines neuen Königs geprägt ist, sich die Unterstützung seiner Zuhörer zu sichern, hat bereits der Scholiast erkannt (schol. 164-169,3f. Xenis ἀναγκαῖον δὲ τῷ παριόντι πρῶτον ἐπὶ πολιτικὴν ἀρχὴν εὔνους ἑαυτῷ καταστῆσαι τοὺς ὑπηκόους [Es ist notwendig, dass einer, der zum ersten Mal ein politisches Amt antritt, sich die Untertanen gewogen macht.]). 240 Es ist fraglich, inwieweit diese verwandtschaftliche Beziehung bereits vor der Antigone ein etabliertes Mythenfaktum war: Ch. Zimmermann (1993, 119 mit Anm. 119) verneint dies, doch Pherekydes scheint eine solche Beziehung anzunehmen (in fr. 95 Fowler scheint Kreon als kyrios der Iokaste zu agieren, d. h. die Funktion als Vormund auszuüben, die sich aus dem Status als nächster lebender männlicher Verwandter ergab), könnte allerdings auch jünger sein als die Antigone (zum floruit des Pherekydes - ca. 465, vielleicht aber auch später - siehe Fowler 2013, 708 f. und zur Datierung der Antigone - wohl auf das Ende der 440er Jahre - Cairns 2016, 1-3). Hätte das Publikum dies bereits vor dem Prolog gewusst, wäre der oben 3.2.1.2 dargelegte verkürzende Charakter von Kreons Aufspaltung der Brüder natürlich noch prononcierter gewesen, doch ein solides Argument lässt sich darauf nicht abstützen (für die vorsophokleischen Belege für Kreon - nirgendwo lässt sich ein Verwandtschaftsverhältnis vollkommen sicher feststellen - siehe Cairns 2016, 159 Anm. 43). gewinnt die Polis dadurch an zusätzlicher Sicherheit? Offensichtlich nichts. Ferner begründet er sein Edikt mit einer Ausführlichkeit, die zeigt, dass er seine Maßnahme nicht als herkömmlich voraussetzt. Vor allem aber stellt er sogar seinen Grundsatz, einen Schlechten nicht mehr als einen Gerechten und einen Übelnicht mehr als einen Wohltäter zu ehren, mittels des zweimaligen ἔκ γ’ ἐμοῦ 207 und 210 als ein Produkt seiner „Denkungsweise“ dar (vgl. τοιόνδ’ ἐμὸν φρόνημα 207) und nicht als etwas, auf das seine Zuhörer von alleine hätten kommen können: Er wenigstens wird es so halten. Er besteht also vielmehr auf der Exzeptionalität seines Vorgehens als darauf, dass dieses der stückinternen Normalität entspreche. Die Versuche, Kreons Verhalten als dasjenige eines Polisführers zu normalisieren, haben also das Verdienst, darauf hingewiesen zu haben, dass Kreon in seiner Rede durchaus ein Polisverständnis artikuliert, das für ein zeitgenössisches Publikum plausibel war; aber sie gehen am Kern seines kommunikativen Agierens vorbei, nimmt er Normalität für seine aus diesem Verständnis abgeleitete Maßnahme doch gerade nicht in Anspruch, sondern besteht auf deren Exzeptionalität. Die Motivation für diese ‚stolze Idiosynkrasie‘ liegt dabei auf der Hand: Identitätskonstruktion. Kreons Rede ist sein erster Auftritt als neuer König, er befindet sich also in einer Situation, in der er zeigen muss, dass er seinem Amt als Anführer der Polis gewachsen ist. 239 Dabei befindet er sich in einer besonders delikaten Lage, da er, wie zu Beginn seiner Rede deutlich wird (beachte v. 174), den beiden Brüdern auch familiär verbunden ist. 240 Indem Kreon nun die 142 3 Die Antigone <?page no="143"?> Brüder trotzdem radikal scheidet, zeigt er, wie einzigartig wichtig ihm die Polis ist, wie vollkommen er bereit ist, dieser alles andere, zum Beispiel familiäre Verpflichtungen, unterzuordnen, also dem in den vv. 187 f. ausgesprochenen Grundsatz von deren kardinaler Wichtigkeit und Priorität über jede philia-Be‐ ziehung nachzuleben. Kreon produziert sich also als einzigartig geeigneter Herrscher, der bereit ist, über kurzsichtige Empfindlichkeiten - seine eigenen, aber potentiell auch diejenigen der Bürger - rücksichtslos hinwegzugehen und sich so ausschließlich und vollständig am Wohl der Gemeinschaft zu orientieren. Darin liegt also der Nexus zwischen seinem Anspruch, nicht zu schweigen, wenn er Gefahr im Verzug sehe, und dem Edikt: Mit diesem als einem symbolischen Akt zeigt er, dass sein Wesen von solcher Art ist, dass er bereit ist, alles für die Polis zu tun, also eben auch sicher nicht zu schweigen, sollte die Polis irgendwann einmal wieder gefährdet sein. Die Zustimmung, die er von seinen Zuhörern erheischt, lässt sich somit ungefähr mit einem begeisterten „Genau so einen braucht’s! “ paraphrasieren. Allein diese Reaktion verweigert ihm der Chor, und dafür hat er einen guten Grund, bleibt Kreon doch mit seiner radikalen, idiosynkratischen Scheidung der Brüder hinter der Komplexität der Situation zurück, mit der diese die Polis konfrontieren, insbesondere natürlich, insofern sein Vorhaben, Polyneikes’ Leichnam „geschändet sichtbar“ zu behalten, das vom Chor in der Parodos erwünschte „Vergessen“ denkbar deutlich verunmöglicht. Ja man kann sogar sagen, dass, nachdem Kreon sich in seiner Rede als Erbmonarch indirekt in das Haus des Labdakos eingereiht hat (vv. 173 f.), er selbst als Akteur innerhalb der verwickelten Geschichte dieser Familie greifbar wird, unter die, so scheint es, in der Antigone gerade kein Schlussstrich gezogen wird. Das Ende des Engagements Derart beziehen also die Akteure ihre Positionen; dieser Positionsbezug bereitet nun den nächsten Schritt vor. Der Chor wird nämlich aus seiner Position aktiv und versucht, Kreon von einer nuancierteren Reaktion zu überzeugen, zeigt also das Verhalten, auf das in der Parodos das Engagement der Zuschauer gerichtet wurde. Relevant in diesem Zusammenhang ist ein Austausch zwischen dem Chor und Kreon, nachdem einer der zur Bewachung des Leichnams abgestellten Wächter berichtet hat, dass das Edikt gebrochen worden ist (vv. 278-289): . ἄναξ, ἐμοί τοι μή τι καὶ ϑεήλατον τοὔργον τόδ’ ἡ ξύννοια βουλεύει πάλαι. . παῦσαι, πρὶν ὀργῆς καί με μεστῶσαι λέγων, 280 μὴ ’φευρεϑῇς ἄνους τε καὶ γέρων ἅμα. λέγεις γὰρ οὐκ ἀνεκτὰ δαίμονας λέγων 143 3.2 Der erste Handlungsbogen: auf dem Weg zu einer angemessenen Reaktion <?page no="144"?> 241 Vgl. Patzer 1978, 92. πρόνοιαν ἴσχειν τοῦδε τοῦ νεκροῦ πέρι. πότερον ὑπερτιμῶντες ὡς εὐεργέτην ἔκρυπτον αὐτόν, ὅστις ἀμφικίονας 285 ναοὺς πυρώσων ἦλϑε κἀναϑήματα καὶ γῆν ἐκείνων καὶ νόμους διασκεδῶν; ἢ τοὺς κακοὺς τιμῶντας εἰσορᾷς ϑεούς; οὔκ ἔστιν. r Herr, ich habe schon eine ganze Weile überlegt, ob die Götter bei dieser Tat nicht ihre Hände im Spiel gehabt haben könnten. [280] r. Hör auf, bevor Du mich wirklich mit Zorn erfüllst, damit Du nicht töricht und alt zugleich erscheinest. Du sagst nämlich Unerträgliches, wenn Du sagst, dass die Götter Vorsorge träfen für diesen Leichnam. Haben sie etwa, indem sie ihm als Wohltäter hohe Ehren erwiesen, [285] ihn verborgen, der er kam mit dem Ziel, die rundum von Säulen umgebenen Tempel zu verbrennen sowie die Heiligtümer und ihr Land und ihre Gesetze zu vernichten? Oder siehst Du, wie die Götter die Schlechten ehren? Das kann nicht sein! Die Äußerung seines „Gedankens“ durch den Chor, dass die Götter beim Bruch des Bestattungsverbotes ihre Hand im Spiel gehabt haben könnten, lädt das davor bereits greifbare Unwohlsein des Chors mit Kreons Edikt religiös auf: Dieses läuft offensichtlich seinen religiösen Empfindungen zuwider. 241 Sein Kommentar ist entsprechend ein Versuch, Kreon eine von dieser radikalen Scheidung abweichende Reaktion zu empfehlen, indem er ihn auffordert, zu bedenken, dass die Götter damit nicht einverstanden sein könnten. Kreon indes will davon nichts wissen, und der Chor wird angesichts der Aggressivität des Königs gut daran tun, keinen weiteren Versuch in diese Richtung zu unternehmen. Das Bemühen des Chors, für das die Zuschauer in der Parodos en‐ gagiert worden waren, scheitert also; mit dem Ende von Kreons Rede, die auf die vv. 280-289 noch folgt, gelangt die Handlung entsprechend an eine Ruhestelle: Der Chor hat versucht, Kreon zu bremsen, doch dieser will sich nicht bremsen lassen. Damit liegen gewissermaßen alle Karten auf dem Tisch: Nachdem man erfahren hat, dass Antigone ihr Vorhaben umgesetzt hat, wird deutlich, dass auch Kreon an seinem Vorgehen nichts mehr ändern, auf die Verweigerung der Bestattung nicht zurückkommen wird. Insofern der bisherige Stückverlauf mittels der Involvierung als Hinführung an diese Ruhestelle fungiert hat, stellt Sophokles die den Zuschauern in diesem Verlauf suggerierte Reaktion als der Stücksituation angemessen dar: Kreon und Antigone weichen in ihrer idiosynkratischen Radikalität beide von der polisgebundenen Normalität ab, 144 3 Die Antigone <?page no="145"?> 242 Vgl. Winnington-Ingram 1980, 122f. die Ismene und insbesondere der Chor vertreten und welche die intendierte Rezeptionsperspektive darstellt. Der Auftritt des Wächters: ein einzigartig schlechter Herrscher Die Wächterszene stellt aber auch insofern den Schlusspunkt des vorangegan‐ genen Handlungsbogens dar, als darin, in einem dritten Schritt, die Problematik des Kreon noch einmal deutlich herausgearbeitet und um eine Dimension angereichert wird: diejenige der Religion. Zunächst also zu Kreons Problematik. Indem dieser sich als jemand produ‐ ziert hat, der aufgrund seiner radikalen Priorisierung der Polis für sein Amt einzigartig geeignet ist, und zugleich die Funktion der Polis als „Retterin“ des Einzelnen affirmiert hat (vgl. vv. 180-190 mit ἡ σῴζουσα 189), hat er einen hohen Anspruch an sich selbst formuliert: dass er einzigartig fähig sei darin, die Menschen in Theben zu beschützen; er muss und (so denkt er) er kann die „Rettung“ (τῆς σωτηρίας 186) der „Retterin“ garantieren. Der von ihm ausgesprochene Grundsatz, dass sich die Qualität eines Menschen in dessen politischem Agieren zeige (vv. 175-177), stellt also eine Herausforderung an ihn selbst dar 242 - und seine lange Rede, die er im Anschluss an den Chorkommentar der vv. 278 f. an den Wächter richtet, zeigt, wie er an diesem Anspruch scheitert (vv. 289 f., 293 f. und 302-314): ἀλλὰ ταῦτα καὶ πάλαι πόλεως ἄνδρες μόλις φέροντες ἐρρόϑουν ἐμοὶ 290 […] ἐκ τῶνδε τούτους [sc. τοὺς φύλακας] ἐξεπίσταμαι καλῶς 293 παρηγμένους μισϑοῖσιν εἰργάσϑαι τάδε. […] ὅσοι δὲ μισϑαρνοῦντες ἤνυσαν τάδε, χρόνῳ ποτ’ ἐξέπραξαν ὡς δοῦναι δίκην. ἀλλ’ εἴπερ ἴσχει Ζεὺς ἔτ’ ἐξ ἐμοῦ σέβας, εὖ τοῦτ’ ἐπίστασ’, ὅρκιος δέ σοι λέγω, 305 εἰ μὴ τὸν αὐτόχειρα τοῦδε τοῦ τάφου εὑρόντες ἐκφανεῖτ’ ἐς ὀφϑαλμοὺς ἐμούς, οὐχ ὑμὶν Ἅιδης μοῦνος ἀρκέσει, πρὶν ἂν ζῶντες κρεμαστοὶ τήνδε δηλώσηϑ’ ὕβριν, ἵν’ εἰδότες τὸ κέρδος ἔνϑεν οἰστέον 310 τὸ λοιπὸν ἁρπάζητε, καὶ μάϑηϑ’ ὅτι 145 3.2 Der erste Handlungsbogen: auf dem Weg zu einer angemessenen Reaktion <?page no="146"?> 243 Pace Sourvinou-Inwood (1989b, 142), die Kreon hier dem Wächter nur eine Strafe für dessen mangelhafte Pflichterfüllung androhen sieht. οὐκ ἐξ ἅπαντος δεῖ τὸ κερδαίνειν φιλεῖν. ἐκ τῶν γὰρ αἰσχρῶν λημμάτων τοὺς πλείονας ἀτωμένους ἴδοις ἂν ἢ σεσωσμένους. Schon lange haben sich Männer [290] der Polis, die dies schlecht ertrugen, gegen mich empört […] [293] ich weiß sehr gut, dass diese [sc. die Wächter], von jenen bestochen, dies getan haben […] Diejenigen, die dies für Lohn getan haben, haben dafür gesorgt, dass sie dereinst büßen werden. Aber wenn denn Zeus noch Verehrung von mir hat, [305] dann wisse dies gut, ich sag’s Dir unter Eid, dass, wenn Ihr nicht denjenigen, der diese Bestattung eigenhändig vollzogen hat, ergreift und mir vor die Augen schleift, Euch Hades nicht helfen wird, bevor Ihr, bei lebendigem Leibe aufgehängt, gezeigt habt, was Euch dieser Hochmut gebracht hat, [310] damit Ihr wisst, woher Ihr Euren Gewinn erhalten werdet, wenn Ihr in Zukunft plündert, und erkennt, dass man den Verdienst nicht über alles andere lieben soll. Du könntest nämlich sehen, dass die schlechten Absichten den meisten eher schaden als ihnen Rettung bringen. Denn diese Rede zeigt ihn im Umgang mit seinen Untertanen, als politischen Akteur, und in ihr erscheint, markiert als letztes Wort, das Motiv der ‚Rettung‘ erneut. Dadurch wird die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass Kreon dem Wächter gerade nicht geholfen, sondern diesen mit grausamer Bestrafung bedroht hat, wobei dieser diese Tatsache später explizit machen wird, wenn er abgeht, vor Kreon „gerettet“ (vv. 330 f.): καὶ νῦν γὰρ ἐκτὸς ἐλπίδος γνώμης τ’ ἐμῆς 330 σωϑεὶς ὀφείλω τοῖς ϑεοῖς πολλὴν χάριν. [330] Und jetzt, wider die Hoffnung und meine vernünftige Erwartung gerettet, schulde ich den Göttern großen Dank. Kreons Vorgehen wäre dann kein Problem, wenn der Wächter tatsächlich ein Feind der Gemeinschaft wäre oder er zumindest innerhalb der Fiktion gute Gründe hätte, dies anzunehmen. Doch dies ist nicht der Fall. Denn Kreons Verschwörungstheorie entbehrt jeder Grundlage, und dies nicht nur, weil die Zuschauer wissen, dass Antigone das Edikt gebrochen hat. Vielmehr ist Kreons Umgang mit dem Wächter in sich inkohärent. 243 Er behauptet nämlich zunächst, dass dieser, von Frondeuren bestochen, das Edikt zusammen mit seinen Kame‐ raden selbst gebrochen habe (vv. 293 f.); dann droht er ihm für den Fall mit schwerer Bestrafung, dass er ihm den Täter - wohlgemerkt, den αὐτόχειρ, das 146 3 Die Antigone <?page no="147"?> 244 Das Verb εὑρίσκω („finden“) in v. 307 schließt dabei eine Deutung aus, nach der die Wächter sich vom αὐτόχειρ hätten bestechen lassen, wegzuschauen, während dieser das Edikt brach: Selbst wenn man alle interpretatorischen Hebel in Bewegung setzt, um Kreon zu ‚retten‘, kann man sich der Feststellung seiner Inkohärenz nicht entziehen (vgl. Else 1976, 90 zu Kreons „Unlogik“ und Brown 1987, ad vv. 306-309). 245 Zu Kreons problematischem Umgang mit dem Wächter vgl. z. B. Bowra 1944, 72; Funke 1966, 34; Blundell 1989, 126; Sommerstein 2017, 280. 246 Vgl. Reinhardt 4 1976, 82; Rohdich 1980, 59; Winnington-Ingram 1980, 126. heisst, nicht einen eventuell vorhandenen Auftraggeber, sondern die Person, welche das Edikt „eigenhändig“ gebrochen hat - nicht finden und ausliefern könne (vv. 302-309), verhält sich also plötzlich so, wie wenn der Wächter selbst nicht an der Tat beteiligt wäre; 244 zuletzt aber spricht er als Ziel der Bestrafung aus, dass die Wächter lernten, dass es ein Fehler gewesen sei, sich bestechen zu lassen und, so muss man ergänzen, das Edikt zu brechen (vv. 309-312; in v. 309 verschwimmen die beiden Möglichkeiten). Kreon gefährdet also das Wohl des Wächters, und dies ohne Not und Veranlassung, sondern in evidentermaßen irrationaler Weise. 245 Vor allem aber ist er mit seiner Verschwörungstheorie alleine, wie die Reaktion des Chors auf den Bericht des Wächters in den vv. 278 f. gezeigt hatte, der an dessen Wahrhaftigkeit nicht gezweifelt hatte. Kurzum, Sophokles führt hier einen Kreon vor, der entgegen seiner Selbst‐ darstellung nicht einzigartig gut ist darin, seine Untertanen zu beschützen und somit die Polis in ihrer Funktion als „Retterin“ zu unterstützen und zu „fördern“, sondern einzigartig schlecht. Kreon bewährt sich bei seiner ersten ‚Amtshandlung‘ nicht, der von ihm in der Auftrittsrede erhobene Anspruch wird durch sein Handeln widerlegt. Entscheidend ist nun, dass er darin von genau der Haltung geleitet ist, auf die er in seiner Auftrittsrede seinen Anspruch auf Einzigartigkeit abgestützt hatte: der Auffassung von der absoluten Priorität des Politischen (‚politisch‘ hier verstanden als Adjektiv zu ‚Polis‘). Denn er kann den vom Wächter berichteten Geschehnissen nur in politischen Begriffen Sinn abgewinnen, als Verschwörung von „Männern der Polis“ (vv. 289 f.), 246 und geht darin auf eine Weise fehl, dass sich am Ende der Wächter als sein Untertan vor ihm „retten“ muss, statt dass Kreon dessen Sicherheit garantierte. Auf diese Weise wird die Skepsis des Chors gegenüber Kreon als einem politischen Akteur gerechtfertigt, der seine spezifische Herangehensweise an die Erfüllung seiner Amtspflichten in einem Edikt symbolisch vorgeführt hatte, mit dem er zeigen wollte, wie für ihn in einzigartiger Weise nur die Polis zählt. Kreon setzt sich also paradoxerweise durch seine selbstbewusst radikale Priori‐ sierung der Polis in Gegensatz zu dieser. Um dies darstellen zu können, braucht Sophokles aber eine Ebene, auf der ein solches Paradoxon möglich ist; diese findet er, wie ebenfalls die Wächterszene zeigt, in der Religion. Denn die Polis war in 147 3.2 Der erste Handlungsbogen: auf dem Weg zu einer angemessenen Reaktion <?page no="148"?> 247 Die kanonische Formulierung der ‚Polisreligion‘ verdankt sich Sourvinou-Inwood (2000a und 2000b; siehe auch Burkert 2 2011, 413); auch wenn diese Position vielleicht zu wenig Raum für ‚private‘ Religion lässt (oder die beiden Sphären sich gar nicht so klar trennen lassen: Kindt 2015), so trifft sie grundsätzlich zu. 248 Vgl. auch unten 3.4.2. 249 Vgl. Seale 1982, 87f.; Flashar 2000, 64f. 250 Vgl. Griffith 1999, ad vv. 278f. 251 Vgl. Brown (1987, ad vv. 280-289), der in Kreons Aussagen konventionelle „Frömmig‐ keit“ sieht, doch zugleich darauf hinweist, dass es notorisch gefährlich ist, sich als Mensch des Wissens über die Wünsche der Götter allzu sicher zu sein. der antiken Vorstellung nicht nur der selbstverständliche Rahmen menschlichen Lebens, sie war - dadurch bedingt - auch der selbstverständliche Rahmen der Religion, eine moderne Trennung dieses Bereichs von der Sphäre des ‚Staates‘ war dem klassisch-griechischen Verständnis aufs Ganze gesehen fremd. 247 Dies bedeutet nicht nur, dass ein Verstoß gegen die Gesetze der Polis oder ein Angriff auf diese frevelhaft ist, 248 sondern auch, dass, wer gegen den Willen der Götter verstößt, sich ebenfalls gegen die Polis stellt. Das entsprechende konzeptionelle Reservoir wird hier nun aktiviert, um den impliziten Zuschauern den frevelhaften Charakter von Kreons Reaktion zu suggerieren. Zunächst findet der Bruch des Bestattungsverbots im Bericht des Wächters unter unbestreitbar numinosen Umständen statt: Es waren keine Fußspuren sichtbar und der Leichnam war unberührt von Raubtieren (vv. 257f.). 249 Die Zuschauer wissen zwar um Antigones Täterschaft, doch der Bericht des Wächters vermochte durchaus zur Überlegung anzuregen, ob nicht Götter am Bruch des Bestattungsverbots zumindest beteiligt gewesen seien. Genau diesen Gedanken äußert nun im Anschluss an den Bericht der Chor, wenn er in den vv. 278f. die Möglichkeit aufbringt, dass die eben berichtete Tat von Göttern verursacht oder mitverursacht sei - ϑεήλατον 278 gibt beide Bedeutungen her. 250 In der Frage nach einer möglichen Beteiligung der Götter entwickelt er ein Identifikationspotential, und sein Kommentar ist, wie weiter oben gesagt, der Versuch, dem König Kreon eine religiös angemessene Reaktion auf die Situation nahezulegen. Doch Kreon weist diesen Versuch zurück. Diese Zurückweisung besitzt grundsätzlich durchaus eine gewisse Plausibilität, gerade im Lichte der eben dargestellten ‚Polisreligion‘: Polyneikes hatte die Stadt angegriffen und war darum auch ein Frevler. Zugleich indes verweist Kreons Formulierung zurück auf die Idiosynkrasie, die er in seiner Auftrittsrede an den Tag gelegt hatte. 251 Dort nämlich hatte er sich als jemand produziert, der weiß, was gut ist für die Bürger - notfalls besser als diese selbst. Eine ähnliche Haltung zeigt er nun gegenüber den Göttern, von denen er genau weiß, wie diese zu denken hätten, und zwar genau wie er selbst, nämlich in Begriffen der „Ehre“ (beachte ὑπερτιμῶντες 284, τιμῶντας 288 neben τιμῇ 208 und τιμήσεται 210): Er zielt mit 148 3 Die Antigone <?page no="149"?> 252 Vgl. Blundell 1989, 129. 253 Dabei ist zu beachten, dass sich Kreon durch seine Formulierung in einer Weise, die angesichts des eben Gesagten äußerst charakteristisch ist, selbst zum Maßstab seiner „Ehrerbietung“ gegenüber Zeus macht. seiner Maßnahme auf die „Entehrung“ oder „Schändung“ (vgl. αἰκισϑέν 206) des Polyneikes ab, also stellte ein Missfallen der Götter an dieser Maßnahme eine ‚Ehrung‘ des Polyneikes dar. 252 Wenn Sophokles nun Kreons diesbezüglichen Anspruch gegenüber den Menschen in der Wächterszene dekonstruiert - und ihn auf dem Höhepunkt seines problematischen Umgangs mit dem Wächter Zeus anrufen lässt (v. 304) 253 -, dann suggeriert er gewissermaßen als Korollar, dass Kreon natürlich auch den Willen der Götter verfehlt, wenn er Polyneikes’ Leichnam „geschändet sichtbar“ behalten will. 3.2.3.2 Weg 2: die Schaffung einer Spannung — und ihr Ende Nun gibt es aber auch einen zweiten Weg, die Zuschauer an die Reaktion heranzuführen, die Sophokles ihnen hier suggeriert. Dieser Weg lässt sich nachzeichnen, wenn man an eine strukturelle Beobachtung anknüpft: Sophokles kontrastiert die Träger der in problematischer Weise von der polisgebundenen Normalität abweichenden Reaktionen jeweils mit einem Akteur, der ebendiese Normalität vertritt, Ismene im Falle der Antigone, der Chor im Falle Kreons. Dennoch ist das erste Epeisodion komplexer als der Prolog, insofern an die Begegnung des Chors mit Kreon der Auftritt des Wächters anschließt, der Kreons politisches Agieren vorführt. Ein Grund für dieses Aufbrechen der Parallelstruktur könnte nun darin liegen, dass Sophokles bei seinen Zuschauern damit gerechnet hat, dass diese ein hohes Maß an Sympathie für Kreon entwi‐ ckeln würden: Kreon erheischt die Reaktion eines begeisterten „Genau so einen braucht’s! “, indem er sich als Herrscher produziert, der bereit ist, in seiner unbedingten Hochschätzung der Polis über die eigenen Empfindlichkeiten, aber auch diejenigen der Bürger, rücksichtslos hinwegzugehen. Diese Reaktion verweigert ihm der Chor, aber es ist durchaus denkbar, dass ein zeitgenössisches Publikum nicht so zurückhaltend war; es ist also möglich, dass das in der Parodos generierte Engagement mit Kreons Auftritt, gleich wie im Aias, in eine Spannung überging, Kreons Perspektive in seiner Reaktion auf den Tod der beiden Brüder dilemmatisch neben diejenige des Chors trat. Vorbereitet wird diese Möglichkeit am Anfang von Kreons Auftrittsrede (vv. 170-172): ὅτ’ οὖν ἐκεῖνοι πρὸς διπλῆς μοίρας μίαν 170 καϑ’ ἡμέραν ὤλοντο παίσαντές τε καὶ πληγέντες αὐτόχειρι σὺν μιάσματι 149 3.2 Der erste Handlungsbogen: auf dem Weg zu einer angemessenen Reaktion <?page no="150"?> 254 Vgl. Griffith 1999, 58-66. 255 Vgl. Loraux 1980, 282 zum in diesen Reden vertretenen Aufgehen der Einzelnen im Kollektiv der Polis. 256 3,37-40. [170] Als also jene mit doppeltem Schicksal an einem Tag zugrunde gingen, schlagend und geschlagen mit eigenhändiger Befleckung… Denn hier zeigt sich, dass Kreon durchaus um die Verwicklung weiß, die in der wechselseitigen Tötung der beiden Brüder kulminierte, ja er spricht die darin liegende „Befleckung“, im Unterschied zum Chor in der Parodos, sogar explizit aus; allein es interessiert ihn nicht. Man kann also Kreon nur schwer eine insofern defizitäre, mit einem von Anfang an reduzierten Identifikations‐ potential ausgestattete Perspektive unterstellen, als sein Bild der Vergangenheit unvollständig sei, er reagiert bloß anders auf eine Situation, die er durchaus angemessen wahrnimmt. Nun zu seiner Reaktion an sich: Drama bietet die Möglichkeit, Phantasien auf Figuren zu projizieren. 254 Dies ist bereits bei der Diskussion des Prologs gezeigt worden, wo Antigones Reaktion deutlich machte, was man gewinnt, wenn man sich von den Zwängen der Gemeinschaft befreit. Die Möglichkeit einer solchen Projektion bietet nun, unter umgekehrten Vorzeichen, auch Kreon, der die Komplexität des menschlichen Daseins im Spannungsfeld von Familie und Polis in die andere Richtung radikal reduziert und sich so als ‚Super-Patriot‘ zeigt. Während Antigones Reaktion also die Phantasie bedient, den Zwängen der Polis zu entfliehen, indem man dieser eine radikale Absage erteilt, bedient diejenige des Kreon die komplementäre, sich ebenso aus dem spezifischen antiken Verständnis der Polis ergebende Phantasie, mit dieser ganz eins zu werden - eine Phantasie, der die Prominenz sicher Vorschub leistete, welche die Aufopferung im Interesse der Gemeinschaft in der zeitgenössischen atheni‐ schen, namentlich in den Gefallenenreden greifbaren Polisideologie besaß. 255 Ferner scheint es, als sei ein zeitgenössisches Publikum für den ‚Populismus des Antipopulismus‘ durchaus empfänglich gewesen, den Kreon an den Tag legt, wenn er seine Bereitschaft demonstriert, im Interesse der Polis über mögliche Empfindlichkeiten der Bürger radikal hinwegzugehen, und genau für diese Bereitschaft um Zustimmung wirbt, potentiell ‚unpopuläre‘ Entscheidungen zu treffen. Dies legt zum Beispiel die ‚Publikumsbeschimpfung‘ des Kleon bei Thukydides nahe, in der dieser sich als aggressiver Kritiker seiner athenischen Zuhörer geriert und explizit darauf verzichtet, diesen zu schmeicheln, obwohl er sich de facto ja durchaus in einer Situation befindet, in der er um die Zustimmung seines Publikums wirbt. 256 Wenn dieser nicht nur der „Heftigste der Bürger“, 150 3 Die Antigone <?page no="151"?> 257 καὶ ἐς τὰ ἄλλα βιαιότατος τῶν πολιτῶν τῷ τε δήμῳ παρὰ πολὺ ἐν τῷ τότε πιϑανώτατος 3,36,6. 258 Siehe auch Altmeyer (2001, 100) zu performativem Patriotismus mit dem Ziel der ‚Imagepflege‘ im politischen Betrieb, wie er in der Komödie parodiert wird; perfor‐ mativer Patriotismus scheint also ein Vorgehen gewesen zu sein, dessen sich zeitge‐ nössische Politiker bedienten, mithin eines, das durchaus erfolgversprechend war; entsprechend könnte auch Kreons performativ patriotische Selbstdarstellung durchaus verfangen haben. sondern auch der „gegenüber dem Volk Überzeugendste“ war, 257 dann spricht nichts gegen die Möglichkeit, dass Zuschauer der Antigone Kreons kompromiss‐ loser, von jeder Lauheit freien ‚Heftigkeit‘ mit Sympathie begegneten, mit dem erwünschten begeisterten „Genau so einen braucht’s! “ reagierten. 258 Kurzum, es ist durchaus möglich, dass Sophokles damit rechnen musste, dass in der Wahrnehmung zumindest von Teilen des Publikums Kreons Perspektive mit seiner Auftrittsrede spannungsvoll neben die Skepsis des Chors treten könnte, also die Bereitschaft bestand, Kreon als politischem Akteur durchaus Kredit zu geben. In diesem Fall erhielte Kreon mit seiner Auftrittsrede die Chance, die Per‐ spektive des Chors gewissermaßen zu verdrängen, alle Identifikation auf sich zu vereinigen; nutzt er diese Chance indes nicht, dann wäre die Spannung zu‐ ungunsten Kreons überwunden und die skeptische Reaktion des Chors - desto deutlicher - bestätigt. Und genau so kommt es dann auch, wenn, wie oben 3.2.3.1 gezeigt worden ist, Kreon in seiner Reaktion auf das Erscheinen des Wächters an seinem eigenen Anspruch scheitert, mit seiner spezifischen „Denkungsart“ ein einzigartig fähiger politischer Akteur zu sein. Die sophokleische Gestaltung des ersten Epeisodions lässt also Raum für zwei verschiedene Involvierungsmecha‐ nismen, die aber beide an die gleiche Reaktion heranführen: an die Feststellung, dass nicht nur Antigone, sondern auch Kreon in ihren idiosynkratischen und einseitigen Reaktionen von der polisgebundenen Normalität abweichen. 3.2.4 Der Abschluss des ersten Handlungsbogens: ein Hymnus auf die Normalität Sophokles hat also durch die Rhetorik der Involvierung die Zuschauer an eine Reaktion herangeführt, die in der Validierung der polisgebundenen Normalität besteht und der Problematisierung der davon idiosynkratisch abweichenden Re‐ aktionen der Antigone und des Kreon. Der Validierung der Polis als Lebensform ist nun auch das erste Stasimon gewidmet, das berühmte ‚Lied vom Menschen‘. Dieses beschließt somit den ersten Handlungsbogen, indem es die Grundlage der davor durch den Einsatz der Multiperspektivität vermittelten ‚Botschaft‘, 151 3.2 Der erste Handlungsbogen: auf dem Weg zu einer angemessenen Reaktion <?page no="152"?> 259 Vgl. zu dieser ethischen Indifferenz z. B. Utzinger 2003, 35. 260 Zum ersten Stasimon als einem ‚Hymnus‘ auf die Polis vgl. Rohdich 1980, 65-74. eben den kardinalen Wert der Polis, im monologischen, a priori verbindlichen Modus des Chorliedes bestätigt. Dieses Lied schildert in klimaktischer Aneinanderreihung verschiedene Mittel, mit deren Hilfe der Mensch sich in einer feindlichen Umwelt behaupten kann und so seine „Gewaltigkeit“ zeigt. Den Höhepunkt erreicht das Lied mit der zweiten Antistrophe (vv. 365-375): σοφόν τι τὸ μηχανόεν τέχνας ὑπὲρ ἐλπίδ’ ἔχων 365 τοτὲ μὲν κακόν, ἄλλοτ’ ἐπ’ ἐσϑλὸν ἕρπει [sc. ὁ ἄνθρωπος], νόμους παρείρων χϑονὸς ϑεῶν τ’ ἔνορκον δίκαν, ὑψίπολις· ἄπολις ὅτῳ τὸ μὴ καλὸν 370 ξύνεστι τόλμας χάριν. μήτ’ ἐμοὶ παρέστιος γένοιτο μήτ’ ἴσον φρονῶν ὃς τάδ’ ἔρδοι. 375 [365] Im Besitz seiner Kunst, die in ihrer klugen Gewandtheit die Hoffnung übertrifft, geht er [sc. der Mensch] bald zum Üblen, bald zum Guten; wenn er die Gesetze des Landes dazunimmt und die bei den Göttern beschworene Gerechtigkeit, [370] ist er hoch in der Stadt und erhöht die Stadt; stadtlos aber ist, der mit dem, was nicht schön ist, Umgang pflegt in Überkühnheit. Nicht möge mein Herdgenosse sein oder mit mir Umgang haben, [375] der dies tut. Hier zeigt sich nämlich, dass die davor besungene „Gewaltigkeit“ des Menschen ethisch indifferent ist, „bald zum Schlechten, bald zum Edlen“ führen kann. 259 Der Mensch wird sich also selbst zur Herausforderung. Gegen diese Gefahr hat er sich indes durch seine ‚gewaltigste‘ Erfindung gewappnet: diejenige der Polis mit ihren Gesetzen. 260 Denn diese geben einen Maßstab an den Hand, um das ethisch indifferente menschliche Handeln zu beurteilen: Derjenige ist „hoch in der Stadt“ und „erhöht die Stadt“, der sich an die „Gesetze des Landes“ und die „bei den Göttern beschworene Gerechtigkeit“ hält, „stadtlos“ aber ist, wer, „überkühn“, das heißt, allzu „gewaltig“, „das Unschöne“ pflegt. Kurzum, die zeitgenössische Auffassung von der Polis als dem ‚natürlichem‘ Rahmen und der Garantin des menschlichen Lebens, deren Gesetze darum unbedingten Gehorsam verdienen, wird hier denkbar eindringlich affirmiert und gleichsam kosmologisch begründet: Die Gesetze sind es, welche der Selbstverwirklichung des Menschen Grenzen setzen und so verhindern, dass seine „Gewaltigkeit“ 152 3 Die Antigone <?page no="153"?> 261 Vgl. dazu z. B. Flashar 2000, 68; Utzinger 2003, 35 f.; Reitze 2017, 679. 262 Vgl. Oudemans/ Lardinois 1987, 179f. die paradoxe Konsequenz hat, jeden zivilisatorischen Fortschritt zu annullieren. Von großer Wichtigkeit ist dabei, dass der Chor die Ordnung der Polis durch die Parallelisierung der „Gesetze des Landes“ mit der „bei den Göttern beschwo‐ renen Gerechtigkeit“ im oben 3.2.3.1 beschriebenen Sinne als selbstverständlich religiös sanktioniert wahrnimmt, 261 also auch diesen spezifischen Aspekt des zeitgenössischen Verständnisses der Polis affirmiert, der für die Beurteilung besonders des Kreon, aber auch der Antigone (siehe unten 3.4.2) zentral ist. 3.3 Das zweite Epeisodion als Ruhestelle Mit dieser Normalität liegen nun sowohl Antigone wie Kreon in ihrem Ver‐ trauen allein auf ihre ganz persönliche, idiosynkratische Überzeugung, was falsch und was richtig sei, was ‚die Toten‘ wollten und was im Interesse der Polis zu liegen habe, über Kreuz, weichen zu unterschiedlichen Seiten davon ab. Die Idiosynkrasie beider Figuren schärft Sophokles im ersten Teil des zweiten Epeisodions noch einmal ein, indem er ihre Perspektiven nunmehr in direkter Begegnung kontrastiert. 262 Dieser Abschnitt präsentiert sich somit als ausgedehnte Ruhestelle, an welcher der Dichter die davor suggerierte Wahrnehmung der beiden Figuren weiter plausibilisiert, die auf diese Weise aber auch, wie unten ab 3.4.1 zu zeigen sein wird, die Voraussetzungen dafür schafft, um die Zuschauer im weiteren Verlauf des Stückes erneut zu involvieren. Der erste Schritt dieser Entwicklung besteht darin, dass eine letzte Inferenz bestätigt wird: Oben 3.2.3.1 ist festgestellt worden, dass der Chor wohl scho‐ ckiert und ablehnend reagieren würde, wenn er von Antigones Gesetzesbruch erführe, mit der sie sich „töricht“ (vgl. μῶρος 220) in Gegensatz zur Polis gestellt hat. Sobald der Chor im Anschluss an sein Lied von Antigones Täterschaft erfährt, reagiert er nun tatsächlich so, wie zu erwarten, indem er ungläubig die „Torheit“ feststellt, die in ihrem Verstoß gegen die „königlichen Gesetze“ liege (vv. 376-383): εἰ δαιμόνιον τέρας ἀμφινοῶ τόδε· πῶς ‹δ’› εἰδὼς ἀντιλογήσω τήνδ’ οὐκ εἶναι παῖδ’ Ἀντιγόνην; ὦ δύστηνος καὶ δυστήνου πατρὸς Οἰδιπόδα, 380 τί ποτ’; οὐ δή που σέ γ’ ἀπιστοῦσαν 153 3.3 Das zweite Epeisodion als Ruhestelle <?page no="154"?> τοῖς βασιλείοισιν ἀπάγουσι νόμοις καὶ ἐν ἀφροσύνῃ καϑελόντες; Ich weiß nicht, ob dies nicht eine übermenschliche Erscheinung ist! Aber wie könnte ich, da ich es doch weiß, bestreiten, dass dieses Kind Antigone ist? O Unglückliche und Tochter eines unglücklichen [380] Vaters, des Oidipus, was ist? Bringen sie Dich etwa hierher, da sie Dich beim Verstoß gegen die königlichen Gesetze ergriffen und bei dieser Torheit gefasst haben? Damit holt die Reaktion des Chors auf Antigone diejenige der Ismene im Prolog vollständig ein. Gegenüber dieser Reaktion hatte Antigone nun aber deutlich gemacht, dass ihr die von ihrer Schwester an sie herangetragenen Ansprüche vollkommen gleichgültig sind angesichts der Verpflichtung zum Gesetzesbruch, der von den Toten ausgehe. Dies tut sie auch hier, wenn sie Kreon im Gespräch direkt gegenübertritt, wodurch auch sie ihre Position noch einmal in aller Deutlichkeit bezieht (vv. 446-470): . σὺ δ’ εἰπέ μοι μὴ μῆκος, ἀλλὰ συντόμως, ᾔδησϑα κηρυχϑέντα μὴ πράσσειν τάδε; Α . ᾔδη· τί δ’ οὐκ ἔμελλον; ἐμφανῆ γὰρ ἦν. . καὶ δῆτ’ ἐτόλμας τούσδ’ ὑπερβαίνειν νόμους; Α . οὐ γάρ τί μοι Ζεὺς ἦν ὁ κηρύξας τάδε, 450 οὐδ’ ἡ ξύνοικος τῶν κάτω ϑεῶν Δίκη τοιούσδ’ ἐν ἀνϑρώποισιν ὥρισεν νόμους, οὐδὲ σϑένειν τοσοῦτον ᾠόμην τὰ σὰ κηρύγμαϑ’ ὥστ’ ἄγραπτα κἀσφαλῆ ϑεῶν νόμιμα δύνασϑαι ϑνητά γ’ ὄνϑ’ ὑπερδραμεῖν. 455 οὐ γάρ τι νῦν γε κἀχϑές, ἀλλ’ ἀεί ποτε ζῇ ταῦτα, κοὐδεὶς οἶδεν ἐξ ὅτου ’φάνη. τούτων ἐγὼ οὐκ ἔμελλον, ἀνδρὸς οὐδενὸς φρόνημα δείσασ’, ἐν ϑεοῖσι τὴν δίκην δώσειν· ϑανουμένη γὰρ ἐξῄδη, τί δ’ οὔ; 460 κεἰ μὴ σὺ προὐκήρυξας. εἰ δὲ τοῦ χρόνου πρόσϑεν ϑανοῦμαι, κέρδος αὔτ’ ἐγὼ λέγω. ὅστις γὰρ ἐν πολλοῖσιν ὡς ἐγὼ κακοῖς ζῇ, πῶς ὅδ’ οὐχὶ κατϑανὼν κέρδος φέρει; οὕτως ἔμοιγε τοῦδε τοῦ μόρου τυχεῖν 465 παρ’ οὐδὲν ἄλγος· ἀλλ’ ἄν, εἰ τὸν ἐξ ἐμῆς μητρὸς ϑανόντ’ ἄϑαπτον ‹ὄντ’› ἠνεσχόμην, κείνοις ἂν ἤλγουν· τοῖσδε δ’ οὐκ ἀλγύνομαι. 154 3 Die Antigone <?page no="155"?> 263 Vgl. Schmitt 1988, 12; Antigones Erwähnung der „Ehren der Götter“ in den vv. 76 f. fällt allein dadurch auf, dass sie, nachdem Ismene den entsprechenden Vorwurf ohne Angabe von Gründen bestritten hat, nicht darauf zurückkommt. σοὶ δ’ εἰ δοκῶ νῦν μῶρα δρῶσα τυγχάνειν, σχεδόν τι μώρῳ μωρίαν ὀφλισκάνω. 470 r. Sag mir nicht lange, sondern schnell: Wusstest Du, dass ein Verbot verkündet worden ist, dies zu tun? An . Gewiss; wie hätt ich’s auch nicht wissen sollen? Es war doch alles ganz deutlich. r. Und doch hast Du es gewagt, diese Gesetze zu übertreten? [450] An . Sicher; es war ja nicht Zeus, der dies verkündet hat, und auch nicht hat Dike, die Wohngenossin der unteren Götter, solche Gesetze unter den Menschen erlassen, und so glaubte ich auch nicht, dass Deine Erlasse solche Kraft besäßen, dass sie den ungeschriebenen und unfehlbaren göttlichen [455] Gesetzen - sie, die sie sterblich sind - übergeordnet werden könnten. Nicht heute nämlich nur und gestern, sondern immer lebt dies, und keiner weiß, woher es gekommen ist. Dafür wollte ich nicht, weil ich irgendeines Menschen Denkungsart gefürchtet hätte, eine Strafe vor den Gerichten der Götter [460] leisten; ich wusste ja, dass ich sterben würde - Wie denn auch nicht? -, auch wenn Du kein Edikt verkündet hättest. Wenn ich aber vor der Zeit sterbe, nenne ich dies einen Gewinn. Wer nämlich, so wie ich, in vielen Übeln lebt, wie könnte ein solcher keinen Gewinn machen, wenn er stirbt? [465] So ist für mich wenigstens, wenn ich dieses Schicksal ergreife, dies keinerlei Leiden; dagegen würde ich, wenn ich hinnähme, dass der Sohn meiner Mutter ohne Bestattung bleibt, aufgrund dessen leiden; aufgrund der Dinge hier leide ich aber nicht. Wenn Dir nun scheint, ich täte törichte Dinge, [470] dann werde ich wohl durch einen Toren der Torheit überführt. Es ist ihr vollkommen bewusst, dass sie gegen das Gesetz verstoßen hat, aber dies kümmert sie nicht, da die „ungeschriebenen und unfehlbaren Gesetze der Götter“ ihre Tat von ihr verlangt hätten. Diese Begründung ist für moderne Ohren äußerst attraktiv, doch die sophokleische Gestaltung macht deutlich, dass diese „Gesetze“, insofern sie einen Verstoß gegen Kreons Edikt fordern, nicht als ein in der Fiktion fixierter normativer Rahmen betrachtet werden sollten, sondern letztlich Antigones Imagination entspringen, die entsprechende Vorstellung idiosynkratisch ist. Zum einen nämlich hatte Ismene im Prolog offenbar nichts von solchen „Gesetzen“ gewusst und war von Antigone auch nicht darauf hingewiesen worden, dass sie etwas vergessen hätte, was sie doch sozusagen aus dem Religionsunterricht (oder, was das Gleiche gewesen wäre, dem Staatskundeunterricht) hätte kennen müssen; 263 zum anderen aber lässt Sophokles Antigone ihre Vorstellung etwas später im Text nur noch als Frage 155 3.3 Das zweite Epeisodion als Ruhestelle <?page no="156"?> 264 Vgl. Blundell 1989, 114. 265 Vgl. Holt (1999, 681), der feststellt, dass in Antigones Rede prinzipielle neben per‐ sönlichen Motiven stehen; Riemer (1991, 41-44) betrachtet Antigones Handeln als „hauptsächlich menschlich [Kursivierung im Original, S.H.] motiviert“; dies geht in die richtige Richtung, doch die Trennung in Menschliches und Göttliches ist nicht ganz zutreffend; das Verhältnis dieser beiden Motivationen ist vielmehr so, dass Antigones göttliche Motivation ihrer menschlichen Auffassung dessen entspringt, was die Götter von ihr wollten. 266 Vgl. Segal 1981, 34. formulieren, was keinen Sinn ergäbe, wenn er davon ausgegangen wäre, dass seine Zuschauer davor Antigones Vorstellung als in der Fiktion normativ fixiert betrachtet hätten (vv. 519-521) 264 : Α . ὅμως ὁ γ’ Ἅιδης τοὺς νόμους τούτους ποϑεῖ. . ἀλλ’ οὐχ ὁ χρηστὸς τῷ κακῷ λαχεῖν ἴσος. 520 Α . τίς οἶδεν εἰ κάτω ’στιν εὐαγῆ τάδε; An . Gleichwohl wünscht Hades sich diese Gesetze. [520] r. Aber nicht verdient der Taugliche das Gleiche wie der Üble. An. Wer weiß, ob dies unter der Erde als richtig gilt? Dass Kreon gegen den Willen - gegen die ‚Gesetze‘, wenn man so will - der Götter verstößt, ist im ersten Epeisodion, wie oben 3.2.3.1 gezeigt, deutlich suggeriert worden; dass es aber eine göttliche Verpflichtung gebe, wiederum gegen Kreons Gesetz zu verstoßen, ist, wie gesagt, ein Produkt von Antigones Idiosynkrasie, wobei diese Idiosynkrasie auch dann zu spüren ist, wenn Anti‐ gone in ihrer Tat nicht nur von ihren Grundsätzen, sondern deutlich auch von Lebensüberdruss motiviert scheint (vv. 461-466). 265 Die Reaktion des Chors bestätigt diese Wahrnehmung (vv. 471 f.): δῆλον· τὸ γέννημ’ ὠμὸν ἐξ ὠμοῦ πατρὸς 471 τῆς παιδός· εἴκειν δ’ οὐκ ἐπίσταται κακοῖς. [471] Klar ist es: Roh und von einem rohen Vater abstammend ist das Wesen des Kindes; es versteht es nicht, Übeln zu weichen. Er erkennt nämlich an, dass Antigone sich „Übeln“ gegenübersieht; zugleich verwendet er, wenn er sie als ὠμός, „wild, roh“, bezeichnet, eine Vokabel, die besonders bei Sophokles häufig gebraucht wird, um den ‚unzivilisierten‘, sich der Gemeinschaft verweigernden Charakter einer Figur zu beschreiben. 266 Auf diese Weise hebt er Antigones Geringschätzung der Ordnung der Polis kritisch hervor und weist ihre Berufung auf die „Gesetze der Götter“, die sie zum Verstoß gegen das Edikt verpflichteten, implizit zurück. 156 3 Die Antigone <?page no="157"?> 267 Vgl. Winnington-Ingram 1980, 125. Der Chor erscheint also erneut als Sprecher der polisgebundenen Normalität, aus deren Warte Antigones Gesetzesbruch und ihre stolze Zurückweisung jeder Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft abzulehnen ist. Wer dagegen viel weniger als Sprecher dieser Normalität erscheint, ist Kreon (vv. 473-490): 267 ἀλλ’ ἴσϑι τοι τὰ σκλήρ’ ἄγαν φρονήματα πίπτειν μάλιστα, καὶ τὸν ἐγκρατέστατον σίδηρον ὀπτὸν ἐκ πυρὸς περισκελῆ 475 ϑραυσϑέντα καὶ ῥαγέντα πλεῖστ’ ἂν εἰσίδοις. σμικρῷ χαλινῷ δ’ οἶδα τοὺς ϑυμουμένους ἵππους καταρτυϑέντας· οὐ γὰρ ἐκπέλει φρονεῖν μέγ’ ὅστις δοῦλός ἐστι τῶν πέλας. αὕτη δ’ ὑβρίζειν μὲν τότ’ ἐξηπίστατο, 480 νόμους ὑπερβαίνουσα τοὺς προκειμένους· ὕβρις δ’, ἐπεὶ δέδρακεν, ἥδε δευτέρα, τούτοις ἐπαυχεῖν καὶ δεδρακυῖαν γελᾶν. ἦ νῦν ἐγὼ μὲν οὐκ ἀνήρ, αὕτη δ’ ἀνήρ, εἰ ταῦτ’ ἀνατὶ τῇδε κείσεται κράτη. 485 ἀλλ’ εἴτ’ ἀδελφῆς εἴϑ’ ὁμαιμονεστέρα τοῦ παντὸς ἡμῖν Ζηνὸς ἑρκείου κυρεῖ, αὐτή τε χἠ ξύναιμος οὐκ ἀλύξετον μόρου κακίστου· καὶ γὰρ οὖν κείνην ἴσον ἐπαιτιῶμαι τοῦδε βουλεῦσαι τάφου. 490 Aber wisse, dass die allzu starren Geister am ehesten stürzen und dass man das stärkste [475] Eisen, erhitzt und gehärtet im Ofen, am häufigsten nachgeben und brechen sieht. Ich weiß aber, dass mit einem kleinen Zaumzeug die feurigen Pferde gebändigt werden; nicht nämlich steht es dem an, groß zu denken, der Sklave seiner Nächsten ist. [480] Diese verstand es damals, Hochmut zu üben, als sie die vorhandenen Gesetze übertrat; der zweite Akt des Hochmuts ist es aber, nachdem sie gehandelt hat, sich damit zu brüsten und über ihre Tat zu lachen. Ja ich bin kein Mann, sie aber ist ein Mann, [485] wenn sie ihre Macht ungestraft genießt! Aber ob sie mir näher verwandt ist als meine Schwester oder als die Familie, die mir vom Zeus des Herdes her verbunden ist, sie und ihre Schwester werden beide das äußerst üble Schicksal nicht vermeiden können. Auch diese nämlich [490] beschuldige ich, diese Bestattung geplant zu haben. Kreon nämlich stellt zwar Antigones Gesetzesbruch fest; was er aber nicht tut, ist, dessen Problematik herauszuarbeiten; stattdessen sieht er in der höhnischen 157 3.3 Das zweite Epeisodion als Ruhestelle <?page no="158"?> 268 Zu Antigones Orientierung am Chor als ihrem „rhetorischen Publikum“ vgl. Hawthorne 2009, 36. Gelassenheit, mit der diese zu ihrer Tat steht, einen persönlichen Angriff, und konzentriert sich darauf, sich dagegen zu verteidigen, indem er seine Entschlossenheit bestätigt, Antigone zu „brechen“ - und Ismene gleich mit zum Tode verurteilt. Damit bleibt auch er sich treu, ist die eben beschriebene Personalisierung doch nur die Kehrseite der ‚Politisierung‘, mit der er im ersten Epeisodion dem Wächter begegnet war. Denn wer seinen eigenen mit dem Willen der Polis ineinssetzt, hat am Ende auch im Politischen keine anderen Maßstäbe als persönliche, und die Konsequenz ist jeweils die gleiche, nämlich, dass Kreon in seinem Zorn wider jede Notwendigkeit eine unschuldige Figur gefährdet: im ersten Epeisodion den Wächter, hier Ismene. Ironischerweise ist es nun Antigone, die, mit sicherem Instinkt, die Problematik des Kreon als eines politischen Akteurs explizit anspricht, wobei sie den Chor für ihre Deutung zu mobilisieren versucht (vv. 502-507): 268 καίτοι πόϑεν κλέος γ’ ἂν εὐκλεέστερον κατέσχον ἢ τὸν αὐτάδελφον ἐν τάφῳ τιϑεῖσα; τούτοις τοῦτο πᾶσιν ἁνδάνειν λέγοιμ’ ἄν, εἰ μὴ γλῶσσαν ἐγκλῄοι φόβος. 505 ἀλλ’ ἡ τυραννὶς πολλά τ’ ἄλλ’ εὐδαιμονεῖ κἄξεστιν αὐτῇ δρᾶν λέγειν ϑ’ ἃ βούλεται. Und woraus könnte ich glänzenderen Ruhm gewinnen als daraus, meinen eigenen Bruder ins Grab gelegt zu haben? Dass diesen hier dies gefalle, [505] könnte ich sagen, wenn sie sich nicht fürchteten und den Mund geschlossen hielten. Aber das Glück eines Tyrannen besteht, neben vielem anderen, darin, dass er tun und sagen kann, was er will. Ihre Beschreibung trifft zu. Denn Kreon hatte im ersten Epeisodion, als der Chor ihm zurückhaltend riet, einen anderen Umgang mit dem Leichnam des Angrei‐ fers Polyneikes in Erwägung zu ziehen, diesem grob den Mund verboten und so seinem eigenen Herrschaftsgrundsatz widersprochen, es nicht gutzuheißen, dass jemand den Mund im Interesse der Polis nicht aufmache (vv. 178-181; die Verwendung der nur dort und hier belegten Junktur γλῶσσαν ἐγκλῄω ist nicht zufällig). Dass Kreon tut und sagt, was er will, ist in der Tat der Kern seiner Problematik. Doch diese problematische Idiosynkrasie gibt Antigone nicht das Recht, ihrerseits aufgrund idiosynkratischer Auffassungen von einer entsprechenden göttlichen Verpflichtung gegen die Gesetze zu verstoßen: Wenn sie den „ruhmvollen“ Charakter ihrer Tat betont und den Anspruch erhebt, 158 3 Die Antigone <?page no="159"?> 269 Siehe oben zu Anm. 220. 270 Vgl. Rohdich 1980, 23 f. zur Unterscheidung von Zustimmung und Bewunderung, die bei der Deutung der Reaktionen des Chors oft vergessen geht. dass diese dem Chor „gefällt“, dann trifft dies, wie die Chorkommentare in den vv. 376-383 und vor allem 471 f. gezeigt haben, nicht zu. Oder genauer: Dass der Chor sie für die Unbeugsamkeit bewundert, mit der sie „Übeln“ nicht weichen kann, ist durchaus denkbar. Denn nicht nur hatte Ismene ja in ihrer Abschlussbemerkung Antigones Hingabe an ihre philoi anerkannt und damit ihren heroischen Anspruch auf eugeneia ratifiziert; 269 der Chor selbst hatte sie bei ihrem Auftreten als ehrfurchterweckend-verängstigende, ‚gewaltige‘ Erscheinung bezeichnet (v. 376 mit δαιμόνιον τέρας), nachdem er unmittelbar davor im ersten Stasimon die Zurückweisung der Regeln der Gemeinschaft als, wenngleich eben schrankenlose und dadurch problematische, „Gewaltigkeit“ gefasst hatte; allein Bewunderung für hypertrophe „Gewaltigkeit“ bedeutet nun einmal keine Zustimmung. 270 Auf diese Weise also stehen sich mit Antigone und Kreon zwei von der po‐ lisgebundenen Normalität idiosynkratisch abweichende Figuren gegenüber. Dieser Eindruck wird in der abschließenden Stichomythie besiegelt, in der ins‐ besondere die grundverschiedenen und gleichermaßen verkürzenden Wahr‐ nehmungen der Brüder Eteokles und Polyneikes - vollkommene Identität qua Brüder und vollkommene Differenz qua Feinde - wieder in den Vordergrund rücken und so der Bogen zurück zum Beginn des Stücks geschlagen wird (vv. 511-525): A . οὐδὲν γὰρ αἰσχρὸν τοὺς ὁμοσπλάγχνους σέβειν. . οὔκουν ὅμαιμος χὠ καταντίον ϑανών; Α . ὅμαιμος ἐκ μιᾶς τε καὶ ταὐτοῦ πατρός. . πῶς δῆτ’ ἐκείνῳ δυσσεβῆ τιμᾷς χάριν; Α . οὐ μαρτυρήσει ταῦϑ’ ὁ κατϑανὼν νέκυς. 515 . εἴ τοί σφε τιμᾷς ἐξ ἴσου τῷ δυσσεβεῖ. Α . οὐ γάρ τι δοῦλος, ἀλλ’ ἀδελφὸς ὤλετο. . πορϑῶν δὲ τήνδε γῆν· ὁ δ’ ἀντιστὰς ὕπερ. Α . ὁμῶς ὅ γ’ Ἅιδης τοὺς νόμους τούτους ποϑεῖ. . ἀλλ’ οὐχ ὁ χρηστὸς τῷ κακῷ λαχεῖν ἴσος. 520 Α . τίς οἶδεν εἰ κάτω ’στιν εὐαγῆ τάδε; . οὔτοι ποϑ’ οὑχϑρός, οὐδ’ ὅταν ϑάνῃ, φίλος. Α . οὔτοι συνέχϑειν, ἀλλὰ συμφιλεῖν ἔφυν. . κάτω νυν ἐλϑοῦσ’, εἰ φιλητέον, φίλει κείνους· ἐμοῦ δὲ ζῶντος οὐκ ἄρξει γυνή. 525 159 3.3 Das zweite Epeisodion als Ruhestelle <?page no="160"?> An . Es ist nämlich nicht unschön, die Blutsverwandten zu ehren. r. War nicht auch der getötete Gegner blutsverwandt? An . Blutsverwandt und derselben Mutter und demselben Vater entstammend. r. Warum also erweist Du jemandem Gunst, der sich diesem gegenüber als treulos erwiesen hat? [515] An . Nicht würde dies der Tote bezeugen. r. Aber wenn Du ihn doch gleich dem Treulosen ehrst! An . Nicht als Sklave, sondern als Bruder ist er gestorben! r. Ja, beim Versuch, dieses Land zu zerstören! Der andere aber erhob sich für dieses. An . Gleichwohl wünscht Hades sich diese Gesetze. [520] r. Aber nicht verdient der Taugliche das Gleiche wie der Üble. An. Wer weiß, ob dies unter der Erde als richtig gilt? r. Niemals kann der Feind, auch nicht, wenn er stirbt, das Gleiche erlangen wie einer, der sich nützlich gemacht hat! An . Ich bin nicht geboren, um Gemeinschaft im Hass zu pflegen, sondern in der Liebe. r. Dann geh in die Unterwelt, wenn Du lieben musst, und liebe [525] diese dort! Mich wird, solange ich lebe, keine Frau beherrschen! 3.4 Der zweite Auftritt der Ismene und das zweite Stasimon als Scharnier Soweit die Diskussion des ersten Epeisodions als Ruhestelle, an der die spezifi‐ sche Idiosynkrasie der Antigone und des Kreon noch einmal eingeschärft wird; das erste Epeisodion ist für Sophokles nun aber auch der Ansatzpunkt, um die Zuschauer erneut zu involvieren. Entscheidend dafür ist die Entwicklung einer Spannung aus der davor als angemessen suggerierten Reaktion im Sinne der polisgebundenen Normalität, und zwar einer Spannung zwischen Emotion und Vernunft, einer Entkopplung der emotionalen von der intellektuell-normativen Dimension der Sympathie innerhalb der Perspektivenstruktur. Den Übergang zu dieser neuen Spannung, die das dritte und das vierte Epeisodion sowie den Stückschluss prägen wird, leistet der zweite Auftritt der Ismene, der das zweite Epeisodion beschließt, sowie das daran anschließende zweite Stasimon. 3.4.1 Ismenes Verwandlung: einmal Torheit und zurück Ismene, die im Prolog den Zuschauern als erste Figur die polisgebundene Nor‐ malität als angemessene Rezeptionshaltung erschlossen hatte, erscheint erneut, und sie ist gleichsam verwandelt. Denn hatte sie sich im Prolog außerstande gezeigt, es Antigone gleichzutun und aus Hingabe an ihre philoi „töricht“ ihr Leben wegzuwerfen, so ist sie nun genau zu einem solchen Verhalten entschlossen: Sie kann ohne ihre geliebte Schwester Antigone nicht mehr leben und wünscht sich den Tod. Dieser Entschluss wird dabei als Abweichung 160 3 Die Antigone <?page no="161"?> von ihrem angestammten ‚vernünftigen‘ Wesen erfahrbar, wenn sie Kreons ‚Diagnose‘ zustimmt, dass sie in ihrem Entschluss ihr angestammtes Wesen verloren habe und „töricht“ geworden sei (vv. 561-564): . τὼ παῖδέ φημι τώδε τὴν μὲν ἀρτίως 561 ἄνουν πεφάνϑαι, τὴν δ’ ἀφ’ οὗ πρῶτ’ ἔφυ. . οὐ γάρ ποτ’, ὦναξ, οὐδ’ ὃς ἂν βλάστῃ μένει νοῦς τοῖς κακῶς πράσσουσιν, ἀλλ’ ἐξίσταται. [561] r. Ich sage, dass von den beiden Kindern das eine sich eben erst als töricht erwiesen hat, das andere aber seit seiner Geburt! . Niemals nämlich, o Herr, bleibt der angeborene Sinn denen, denen es übel ergeht, vielmehr verlässt er sie dann. Es scheint also, als sei Ismene zu einer zweiten Antigone geworden, wenn sie, im Bewusstsein der darin liegenden „Torheit“, nicht mehr leben will, also, statt sich ‚vernünftig‘ zu disziplinieren, der emotionalen Bindung an ihre Schwester den Vorzug gibt, wie diese dies gegenüber Polyneikes getan hatte. Tatsächlich aber hat Sophokles Ismenes zweiten Auftritt komplexer gestaltet (vv. 540-560, 566-570 und 573): . ἀλλ’ ἐν κακοῖς τοῖς σοῖσιν οὐκ αἰσχύνομαι 540 ξύμπλουν ἐμαυτὴν τοῦ πάϑους ποιουμένη. Α . ὧν τοὔργον Ἅιδης χοἰ κάτω ξυνίστορες· λόγοις δ’ ἐγὼ φιλοῦσαν οὐ στέργω φίλην. . μήτοι, κασιγνήτη, μ’ ἀτιμάσῃς τὸ μὴ οὐ ϑανεῖν τε σὺν σοὶ τὸν ϑανόντα ϑ’ ἁγνίσαι. 545 Α . μὴ ’μοὶ ϑάνῃς σὺ κοινά, μηδ’ ἃ μὴ ’ϑιγες ποιοῦ σεαυτῆς. ἀρκέσω ϑνῄσκουσ’ ἐγώ. . καὶ τίς βίου μοι σοῦ λελειμμένη πόϑος; Α . Κρέοντ’ ἐρώτα· τοῦδε γὰρ σὺ κηδεμών. . τί ταῦτ’ ἀνιᾷς μ’ οὐδὲν ὠφελουμένη; 550 Α . ἀλγοῦσα μὲν δῆτ’, εἰ γελῶ γ’, ἐν σοὶ γελῶ. . τί δῆτ’ ἂν ἀλλὰ νῦν σ’ ἔτ’ ὠφελοῖμ’ ἐγώ; Α . σῶσον σεαυτήν. οὐ φϑονῶ σ’ ὑπεκφυγεῖν. . οἴμοι τάλαινα, κἀμπλάκω τοῦ σοῦ μόρου; Α . σὺ μὲν γὰρ εἵλου ζῆν, ἐγὼ δὲ κατϑανεῖν. 555 . ἀλλ’ οὐκ ἐπ’ ἀρρήτοις γε τοῖς ἐμοῖς λόγοις. Α . καλῶς σὺ μὲν τοῖς, τοῖς δ’ ἐγὼ ’δοκοῦν φρονεῖν. . καὶ μὴν ἴση νῷν ἐστιν ἡ ’ξαμαρτία. Α . ϑάρσει· σὺ μὲν ζῇς, ἡ δ’ ἐμὴ ψυχὴ πάλαι τέϑνηκεν, ὥστε τοῖς ϑανοῦσιν ὠφελεῖν. 560 161 3.4 Der zweite Auftritt der Ismene und das zweite Stasimon als Scharnier <?page no="162"?> […] . [zu Kreon] τί γὰρ μόνῃ μοι τῆσδ’ ἄτερ βιώσιμον; . ἀλλ’ ἥδε μέντοι - μὴ λέγ’· οὐ γὰρ ἔστ’ ἔτι. . ἀλλὰ κτενεῖς νυμφεῖα τοῦ σαυτοῦ τέκνου; . ἀρώσιμοι γὰρ χἀτέρων εἰσὶν γύαι. . οὐχ ὥς γ’ ἐκείνῳ τῇδέ τ’ ἦν ἡρμοσμένα. 570 […] . ἄγαν γε λυπεῖς καὶ σὺ καὶ τὸ σὸν λέχος. 573 [540] . Aber ich schäme mich nicht, zusammen mit Dir Deine Übel zu durchleiden. An . Hades und die unteren Götter wissen, wem diese Tat gehört; ich aber nehme niemanden an, der nur in Worten liebt. . Schwester, enthalte mir nicht die Ehre vor, [545] zu sterben zusammen mit Dir und dem Toten die rechtmäßigen Bräuche zukommen zu lassen! An . Stirb nicht zusammen mit mir und mach, was Du nicht an die Hand genommen hast, Dir nicht zu eigen! Es genügt, dass ich sterbe. . Und welches Verlangen habe ich noch, zu leben, wenn ich von Dir verlassen bin! An . Frag Kreon! Seine Anwältin bist Du nämlich! [550] . Was quälst Du mich, obwohl es Dir nichts nützt? An . Es schmerzt mich, dass ich, wenn ich höhne, Dich verhöhne. . Aber wie könnte ich Dir noch helfen? An . Rette Dich selbst. Ich missgönne es Dir nicht, wenn Du entfliehst. . Oh ich Unglückliche, kann ich Dein Schicksal nicht teilen? [555] An . Du hast Dich fürs Leben entschieden, ich für den Tod. . Aber nicht, ohne dass ich etwas gesagt hätte! An . Einige sind der Auffassung, dass Du recht denkest, andere, dass ich recht dächte. . Aber unser beider Vergehen ist gleich! An . Sei guten Mutes! Du lebst, meine Seele aber ist lange schon [560] gestorben in Hingabe an die Toten. […] . [zu Kreon] Was soll ich alleine ohne diese leben? r. Was, sie - sag nichts! Denn sie ist nicht mehr. . Aber wirst Du die Braut Deines eigenen Kindes töten? r. Es können auch anderer Frauen Furchen bestellt werden! [570] . Aber es wäre keine so passende Verbindung wie zwischen diesem und ihr! […] [573] r. Allzu lästig bist Du mir und Dein Gerede vom Ehelager! Der Austausch zeigt nämlich bei genauer Betrachtung, wie Ismene schrittweise von ihrer Entschlossenheit zum Sterben Abstand nimmt: Affirmiert sie diese zunächst wiederholt (vv. 540 f. und 544 f.), formuliert sie sie danach nur mehr noch als Fragen (vv. 548 und 554); darauf bescheidet sie Antigone, dass sie sich an der Entscheidung ihrer Schwester zum Sterben immerhin beteiligt habe, indem sie ihre Meinung geäußert habe (v. 556); zuletzt kehrt sie vollständig zu konventionellen Prioritäten zurück, indem sie Kreon fragt, ob dieser Antigone, die Verlobte seines Sohnes, töten wolle, obwohl diese beiden doch so gut zusammenpassten (v. 570): Ismene ist auch jetzt keine Antigone. 162 3 Die Antigone <?page no="163"?> Mit dieser Entwicklung bestätigt sich die Einschätzung, die Antigone in diesem Austausch formuliert. Denn sie stellt sich auf den Standpunkt, dass Ismenes Wesen von dem ihren grundverschieden, ihre Schwester also für eine Tat wie die ihre nicht geschaffen sei: Ismene habe das Leben gewählt, sie das Sterben (v. 555), den einen scheine die eine, den anderen die andere Entscheidung gut (v. 557), und ihre Seele - nicht aber die Ismenes - sei „lange schon gestorben aus Hingabe an die Toten“ (vv. 559 f.). Wenn Ismene sich dann tatsächlich von ihrer Entschlossenheit zum Sterben abbringen lässt, dann zeigt sich, dass die von Antigone formulierte Einschätzung ihres Wesens zutrifft. Am Ende des Auftrittes der zunächst zum Sterben entschlossenen Ismene steht somit paradoxerweise eine Bestätigung ihrer im Prolog eindrücklich artikulierten Unfähigkeit, ihr Leben wegzuwerfen, durch die sie sich so grundlegend von Antigone unterscheidet, und es wird deutlich, dass ihr ‚natürlicher‘ Ort tatsäch‐ lich die Normalität ist und somit, wie der erste Handlungsbogen gezeigt hat, die Polisgemeinschaft. Mit dieser Darstellung wird nun eine Tatsache entwickelt, die im Prolog bereits angelegt war: Oben 3.2.1.2 ist gezeigt worden, dass Ismenes Einordnung in die Gemeinschaft eine gequälte war, sie sich im Spannungsfeld zwischen Familie und Polis befindet. Diese Tatsache tritt hier wieder in den Vordergrund, nachdem ihre Brisanz seit der Parodos systematisch reduziert worden war: Ismene befindet sich offensichtlich in einer Spannung zwischen der ‚vernünf‐ tigen‘ Orientierung am Wert des Lebens, den sie nicht verleugnen kann, und der spontanen, sie unvermittelt packenden Hingabe an ihre Schwester Antigone, die sie genau diese ‚Vernunft‘ zunächst hatte über Bord werfen lassen, kurzum, in einer Spannung zwischen ‚Vernunft‘ und Emotion: In ihrem Inneren, selbst in ihrem Innern, die sie die paradigmatische Verkörperung der Normalität ist und bleibt, wirkt also unter der Oberfläche die ‚Torheit‘, die ‚unvernünftige‘ Hingabe an ihre philoi. Dies hat nun einen deutlichen Effekt auf die Wahrnehmung der polisgebundenen Normalität, die Sophokles den Zuschauern davor sorgfältig als angemessenen Deutungsrahmen des Bühnengeschehens suggeriert hatte: Dieser polisgebundenen Normalität wird hier keineswegs die Grundlage ent‐ zogen - Ismene kann sich ihr ja gerade nicht verleugnen -, aber sie wird als potentiell unbefriedigend erfahrbar. Diese Spannung zwischen Emotion und polisgebunden-normaler ‚Vernunft‘ ist nun, was Sophokles im weiteren Verlauf des Stückes systematisch entwickeln und durch deren Darstellung er die Zuschauer von neuem involvieren wird, und die Grundlage dafür hat er, wie eben gezeigt, hier gelegt, indem er diese Spannung den Zuschauern durch den erneuten Einsatz von Ismenes Perspektive erschlossen hat. 163 3.4 Der zweite Auftritt der Ismene und das zweite Stasimon als Scharnier <?page no="164"?> 271 Siehe oben, bes. 3.3. 272 Vgl. Rosivach 1979, 19-21 dazu, dass Antigone und Kreon unter verschiedensten Parametern dichotomisch kontrastiert werden (vgl. auch Winnington-Ingram 1980, 147; Altmeyer 2001, 103-111). 273 Die Formulierung erinnert an Aias’ grobes ἄγαν γε λυπεῖς (Ai. 589) gegenüber Tekmessa. Dabei leistet der zweite Auftritt der Ismene auch noch auf einer zweiten Ebene eine Erschütterung des bisher Erreichten, die im weiteren Verlauf des Stückes ebenfalls von großer Wichtigkeit sein wird. Denn die polisgebundene Normalität war ja im ersten Handlungsbogen keine isolierte Größe gewesen, vielmehr wurden die Perspektiven ihrer Träger, Ismenes und des Chors, mit den Perspektiven von zwei Figuren kontrastiert, die sozusagen zu zwei Seiten idiosynkratisch von dieser Normalität abweichen: Antigone und Kreon. 271 Der Eindruck, der entstand, war also derjenige, dass diese beiden Figuren in ihrer Problematik gleich waren: Antigone sieht nur die Familie, Kreon nur die Polis, Antigone fasst die Brüder nur als Einheit auf, Kreon nur als Zweiheit - ein Entweder-oder, das keinen Hinweis darauf gab, dass man die Figuren anders sehen könnte denn als identisch in ihrer Problematik, und auch kein Bedürfnis weckte, dies zu tun. 272 Dieser selbstverständliche Eindruck der Gleichheit ist es nun, der hier ebenfalls erschüttert wird. Oben ist nämlich die Rede davon gewesen, dass es Antigone ist, die Is‐ mene dazu bringt, sich ihrem Wesen entsprechend zu verhalten. In ihrem kommunikativen Agieren zeigt sich also eine Entwicklung: Zu Beginn ist ihr Umgang mit ihrer Schwester von Grobheit, ja Grausamkeit geprägt. Nachdem sich Ismene indes bitter über diese Grausamkeit beklagt hat (v. 550), ändert Antigone ihr Verhalten: Sie erklärt ihrer Schwester entschuldigend, dass diese gewissermaßen ein ‚Kollateralschaden‘ ihres gegen Kreon gerichteten Hohns sei (v. 551), und bringt sie, wie oben beschrieben, davon ab, etwas zu tun, wofür sie nicht geschaffen ist. Antigone legt also durchaus Empathie an den Tag, wo sie diese für angebracht hält, und trägt der spezifischen Situation und dem Wesen ihrer Schwester Rechnung. Darin liegt nun ein entscheidender Unterschied zu Kreon, der keinerlei Verständnis für Ismene und ihre spezifischen Prioritäten aufbringt, sondern ihr mit gleichbleibender Grobheit begegnet (beachte zum Beispiel den oben zitierten v. 573 273 ), bevor er am Ende befiehlt, „diese Frauen“ nicht frei herumlaufen zu lassen (vv. 576-581): . δεδογμέν’, ὡς ἔοικε, τήνδε κατϑανεῖν. . καὶ σοί γε κἀμοί. μὴ τριβὰς ἔτ’, ἀλλά νιν κομίζετ’ εἴσω, δμῶες· ἐκ δὲ τοῦδε χρὴ 164 3 Die Antigone <?page no="165"?> 274 Man könnte behaupten, die Tatsache, dass Kreon auch Ismene töten lassen will, rücke im eben zitierten Austausch in den Hintergrund; vergegenwärtigt man sich jedoch - wie man dies immer tun sollte - die nonverbale Dimension, dann bleibt in der physischen Wegführung beider Frauen durch die Wächter diese Tatsache deutlich genug greifbar, und die Auffassung, die Zuschauer hätten diese ‚vergessen‘ können - und sollen -, erweist sich als verfehlt. 275 Vgl. Pfeiffer-Petersen 1996, 55-59. γυναῖκας εἶναι τάσδε μηδ’ ἀνειμένας. φεύγουσι γάρ τοι χοἰ ϑρασεῖς, ὅταν πέλας 580 ἤδη τὸν Ἅιδην εἰσορῶσι τοῦ βίου. . Es scheint beschlossen zu sein, dass diese sterben müsse. r. Von Dir und mir wenigstens! Jetzt trödelt nicht, sondern führt sie hinein, Diener! Von nun an dürfen diese Frauen sich nicht mehr frei herumtreiben! [580] Es fliehen nämlich auch die Mutigen, wenn sie in der Nähe schon den Hades sehen, der ihr Leben beendet. Kreon hält also an seinem Todesurteil auch gegen Ismene fest - „diese Frauen“ sollen weggesperrt werden, damit sie nicht fliehen, wenn der Tod bevorsteht (vv. 579-581) 274 - und erkennt somit nicht, dass ihre Unfähigkeit, ihr Leben wegzuwerfen, der schlagende Beweis für den Wert der Polisgemeinschaft ist, von dem er sich doch in einzigartiger Weise geleitet sieht, ja er will ihr genau das nehmen, was sie in dieser Gemeinschaft verankert: eben ihr Leben. Dass Kreons Umgang mit Ismene vor dem Hintergrund der Empathie der Antigone negativ dargestellt ist, liegt auf der Hand. 275 Auf diese Weise läuft die zweite Ismene-Szene dem davor geschaffenen Eindruck zweier gleichermaßen problematischer Figuren entgegen. Entscheidend ist aber, dass sich faktisch natürlich an Antigones Proble‐ matik nichts ändert, da sie ja gerade an ihrem Gesetzesbruch festhält, der ihrem Wesen durchaus entspreche. Die Spannung zwischen Emotion und Vernunft, die in dieser Szene entwickelt wird, lässt sich also auch betrachten als eine zwischen den Wahrnehmungen ‚Differenz‘ und ‚Gleichheit‘ in der Beurteilung Kreons und Antigones: Die beiden Figuren sind nach wie vor gleich problematisch, doch diese Feststellung läuft der emotionalen Dynamik der zweiten Ismeneszene zuwider, in der Sophokles Antigone gegenüber Kreon eindeutig positiv darstellt. Dass sich die Zuschauer nicht von dieser emotionalen Dynamik mitreißen lassen, statt die eben beschriebene Spannung als Spannung zu würdigen, hat Sophokles nun sichergestellt, indem er im Anschluss an Ismenes zweiten Auftritt ein Chorlied eingeschoben hat, das die Problematik noch einmal autoritativ affirmiert, die in Antigones Zurückwei‐ sung der ‚vernünftigen‘ Normalität liegt. 165 3.4 Der zweite Auftritt der Ismene und das zweite Stasimon als Scharnier <?page no="166"?> 276 Vgl. Patzer 1978, 96 f. zur göttlichen Sanktionierung der Polisordnung, gegen die Antigone verstößt. 3.4.2 Die Reaffirmation der Normalität im zweiten Stasimon Oben 3.2.3.1 ist die Rede davon gewesen, dass die Bereiche ‚Polis‘ und ‚Religion‘ in der Antigone, in Übereinstimmung mit zeitgenössischen Vorstellungen, nicht im modernen Sinne zu trennen sind. Eine Implikation dieser Tatsache hat bis jetzt noch nicht im Mittelpunkt gestanden: dass somit auch Antigones Verstoß gegen die Gesetze der Polis ein religiöses Vergehen ist, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass sie sich gegen ein ebensolches des Kreon zur Wehr setzt. 276 Der Herausarbeitung dieser Tatsache ist die erste Hälfte des zweiten Stasimons gewidmet. Diese lässt sich als eine ausführliche, mit den Mitteln des Chorliedes gestaltete Elaboration zweier Bemerkungen des Chores deuten, die oben 3.3 bereits zusammengesehen worden sind: zum einen der Feststellung von Antigones „Torheit“ in den vv. 381-383, zum anderen der Zurückführung ihres „rohen Wesens“ auf ihren Vater Oidipus (vv. 471 f.). Das Lied beginnt nämlich mit einer Reflexion über ererbtes, gottgesendetes „Verhängnis“, ate (vv. 582-585): εὐδαίμονες οἷσι κακῶν ἄγευστος αἰών. οἷς γὰρ ἂν σεισϑῇ ϑεόϑεν δόμος, ἄτας οὐδὲν ἐλλείπει γενεᾶς ἐπὶ πλῆϑος ἕρπον 585 Glücklich sind die, deren Leben nicht von Übeln gekostet hat! Denen nämlich, denen die Götter das Haus erschüttert haben, fehlt nichts [585] von der Menge des Unglücks, wenn es gegen die Familie herankriecht Diese Überlegungen konkretisiert der Chor dann, in der ersten Antistrophe, auf das Verhalten der Antigone als Spross des Labdakidenhauses, wobei er dieses, wie bereits in den vv. 381-383, explizit in mentalen Begriffen - gewichtig formuliert als „Torheit im Sprechen und Verblendung im Denken“ - fasst (vv. 594-603): ἀρχαῖα τὰ Λαβδακιδᾶν οἴκων ὁρῶμαι πήματα φϑιτῶν ἐπὶ πήμασι πίπτοντ’, 595 οὐδ’ ἀπαλλάσσει γενεὰν γένος, ἀλλ’ ἐρείπει ϑεῶν τις, οὐδ’ ἔχει λύσιν. νῦν γὰρ ἐσχάτας ὑπὲρ ῥίζας ἐτέτατο φάος ἐν Οἰδίπου δόμοις· 600 κατ’ αὖ νιν φοινία 166 3 Die Antigone <?page no="167"?> 277 Vgl. z. B. Else 1976, 15-18 oder Cairns 2016, 66-70. 278 Diesen für das moderne Verständnis kontraintuitiven Ablauf hat Müller (1967, 135) konzis formuliert: „[D]iese Sühnung der Schuld vergangener Generationen vollzieht sich […] durch gottgesandte Verblendung, die zu neuer Schuld treibt, in der die göttliche Strafe bereits eingehüllt liegt.“ 279 Zu dieser Funktion chorischen Sprechens vgl. allgemein 1.5.1.2 oben sowie konkret zu den ersten vier Stasima der Antigone 3.7.1 unten. ϑεῶν τῶν νερτέρων ἀμᾷ κοπίς, λόγου τ’ ἄνοια καὶ φρενῶν Ἐρινύς. Ich sehe von alters her die von den Toten des Labdakidengeschlechts herkommenden [595] Leiden sich auf Leiden türmen, und eine Generation lässt die nächste Generation nicht unbelastet, vielmehr zerschmettert sie einer der Götter, und es gibt keine Erlösung. Jetzt aber ist auf die letzte [600] Wurzel das Licht gefallen im Haus des Oidipus; auch diese mäht nieder die blutige Schneide der Götter, die Torheit im Sprechen und Verblendung im Denken. Indem der Chor Αntigones Verhalten als ererbtes, gottgesendetes „Verhängnis“ versteht, deutet er dieses nach einem konventionellen, für die Gattung Tragödie geradezu konstitutiven Muster, nämlich demjenigen des Geschlechterfluchs, das, besonders bei Aischylos, immer wieder vorgeführt wird. 277 Dieses besteht darin, dass die Götter Menschen bestrafen für die Verfehlungen ihrer Vorfahren, indem sie diese dazu bringen, sich selbst zu vergehen, wobei dieses Vergehen, durch das sich der Betroffene vernichtet, gewissermaßen Schuld und Strafe zugleich ist. 278 Auf diese Weise ergänzt der Chor die wuchtige kulturanthropolo‐ gisch-‚philosophisch‘ fundierte Reflexion des ersten Stasimons durch eine nicht weniger autoritative theologische Reflexion 279 - eine theologische Reflexion, die ferner natürlich an die erste Äußerung des Chors in der Parodos anklingt, wo dieser die Verwicklungen innerhalb des Labdakidengeschlechts zum ersten Mal angesprochen hatte: Wer in der zweiten Ismeneszene die Problematik von Antigones „Torheit“ aus lauter unmittelbarer Sympathie mit ihr vergessen haben sollte, wird hier entschieden an diese erinnert. Dabei sind die Bezüge zwischen dem ersten und dem zweiten Stasimon aber noch enger, und diese muss man nachvollziehen, wenn man die Chor‐ perspektive erfassen will, wie sie hier greifbar wird. Auf den ersten Blick nämlich scheint der Ton jeweils ein anderer zu sein - optimistisch im ersten, pessimistisch im zweiten. Dieser Eindruck ist jedoch zu relativieren: Tatsächlich besingt das erste die Entwicklung des Menschen hin zu einem Stadium, wo er sich selbst zur Gefahr wird, wobei er diese Gefahr dann durch die ‚Erfindung‘ der Polisordnung gebannt hat. Der Höhepunkt der 167 3.4 Der zweite Auftritt der Ismene und das zweite Stasimon als Scharnier <?page no="168"?> 280 Zu Textgestalt und Bedeutung siehe unten Anm. 283. menschlichen Entwicklung liegt also in der Selbstbeschränkung, gerade darin, dass es der Einzelne aufgibt, souveräner Meister seines Handelns sein zu wollen, sich in die Gemeinschaft einfügt und dadurch sein Leben meistert: Für Idiosynkrasie ist kein Platz. Dies ist eine optimistische Botschaft, gewiss, aber der Optimismus ist in der beschriebenen Weise qualifiziert. Ähnlich qualifiziert ist der Pessimismus des zweiten Stasimons. Denn dass der Chor nicht der Auffassung ist, ausnahmslos jeder Mensch falle dem „Verhängnis“ zum Opfer, zeigt der eröffnende Makarismos, wo er diejenigen glücklich preist, die davor verschont blieben. Diese ist allerdings nicht die einzige Stelle, an der das Thema der Verschonung erscheint, vielmehr findet sich an zwei Stellen im Lied (vv. 614 und 625) die Wendung ἐκτὸς ἄτας, „außerhalb“ oder „frei von Verderben“ (vv. 604 f. und 611-625 280 ): τεάν, Ζεῦ, δύνασιν τίς ἀνδρῶν ὑπερβασία κατάσχοι; 605 […] τὸ τ’ ἔπειτα καὶ τὸ μέλλον καὶ τὸ πρὶν ἐπαρκέσει νόμος ὅδ’· οὐδὲν ἕρπει ϑνατῶν βιότῳ πάμπολύ γ’ ἐκτὸς ἄτας. ἁ γὰρ πολύπλαγκτος ἐλ- 615 πὶς πολλοῖς μὲν ὄνησις ἀνδρῶν, πολλοῖς δ’ ἀπάτα κουφονόων ἐρώτων· εἰδότι δ’ οὐδὲν ἕρπει, πρὶν πυρὶ ϑερμῷ πόδα τις προσαύσῃ. σοφίᾳ γὰρ ἔκ του 620 κλεινὸν ἔπος πέφανται, τὸ κακὸν δοκεῖν ποτ’ ἐσϑλὸν τῷδ’ ἔμμεν ὅτῳ φρένας ϑεὸς ἄγει πρὸς ἄταν· πράσσει δ’ ὀλίγος τὸν χρόνον ἐκτὸς ἄτας. 625 Deine Macht, Zeus, welche mensch- [605] liche Übertretung könnte sie niederhalten? […] Für Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit gilt dieses Gesetz: Nichts sehr Großes kommt sterblichem Leben zu frei von Verhängnis. Die vielumherschweifende Hoff- [615] nung ist für viele Menschen Hilfe, viele aber täuscht sie durch leichtsinnige Leidenschaften; wissen aber tut niemand etwas, bevor er sich den Fuß im Feuer 168 3 Die Antigone <?page no="169"?> 281 Siehe hierzu unten Anm. 283. 282 Vgl. Rohdich 1980, 118 f. verbrannt hat. [620] Weise ist von irgendjemandem das berühmte Wort gesprochen, dass das Übel edel scheine dem, dem den Geist ein Gott verhängnisvoll verwirrt hat; [625] es verlebt aber ein Kleiner seine Zeit frei von Verhängnis. Die Wendung ἐκτὸς ἄτας könnte relevant sein, will man die Frage nach dem Grad an Pessimismus beurteilen, der das zweite Stasimon kennzeichnet. Zwi‐ schen den beiden - textlich umstrittenen 281 - Stellen, an denen diese Wendung vorkommt, findet sich nun ein weiteres Motiv, dasjenige der Hoffnung: Hoff‐ nung ist für viele Menschen „Hilfe“, andere aber täuscht sie „mit leichtsinnigen Leidenschaften“, und zwar dann, wenn ein Gott einen Menschen ins Verderben führt, indem er ihn das Schlechte für „edel“ halten lässt. Hoffnung bringt also Unsicherheit, Sicherheit bringt entsprechend der Verzicht auf Hoffnung. Doch was heißt das, nicht zu hoffen? Von was für einer Art Hoffnung ist hier die Rede? Nun, in der zweiten Strophe hatte der Chor von der „Übertretung“ gesprochen, für die Zeus den Menschen bestraft. Die Hoffnung, von welcher der Chor singt, sollte also als handlungsleitend verstanden werden, da sie nur dann zu einer aktiven „Übertretung“ führen kann. Um sich also der Gefahr des Verhängnisses auszusetzen, muss man hoffen und entsprechend handeln, mit einem Wort, streben, wobei dieses Streben offensichtlich auf das „Edle“ aus v. 622 gerichtet ist, in dem sich der Gottverblendete täuscht; 282 wer dagegen nicht strebt, wer passiv bleibt, ist auf der sicheren Seite, „außerhalb von Verderben“. Damit ist klar, wo das ‚pessimistische‘ zweite das ‚optimistische‘ erste Stasimon berührt: in der Feststellung, dass für Sicherheit der Preis der Unterordnung, der Abgabe von Souveränität zu bezahlen ist. Wer sich der Ordnung der Polis fügt, verzichtet darauf, seine individuelle „Gewaltigkeit“ vollständig zu realisieren (erstes Stasimon), und wer „außerhalb des Verderbens“ bleiben will, verzichtet darauf, nach dem zu streben, was er für „edel“ hält, und damit von Anfang auch auf das positive Potential der Hoffnung, von welcher der Chor sagt, dass sie 169 3.4 Der zweite Auftritt der Ismene und das zweite Stasimon als Scharnier <?page no="170"?> 283 Auf diese Weise lassen sich vielleicht die oben erwähnten textlichen Schwierigkeiten überwinden: Gesteht man dem Chor einen realistischen Blick zu (was man tun sollte), dann könnte überliefertes ὀλίγοστον 625 als ὀλίγος τὸν gelesen werden (so bereits Lloyd-Jones 1957, 21) und besagte, dass der Preis für die Sicherheit darin besteht, „klein“ zu bleiben (den von Lloyd-Jones [1957, 21] genannten Belegen für ὀλίγος in der Bedeutung „klein“ könnte man vielleicht Hom. Od. 9,515f. νῦν δέ μ’ ἐὼν ὀλίγος τε καὶ οὐτιδανὸς καὶ ἄκικυς / ὀφϑαλμοῦ ἀλάωσεν [Aber jetzt hat mich einer, der klein ist, wertlos und schwach, des Auges beraubt] hinzufügen): „Ein Kleiner aber bringt sein Leben außerhalb des Verderbens zu“. Im Lichte dieser Bedeutung von ὀλίγος könnte dann überliefertes, aber unverständliches πάμπολις 614 zu παμπολύ γ’ in der Bedeutung „sehr groß“ emendiert werden (die Emendation geht zurück auf Heath [1762, ad vv. 620-624], der allerdings, neben „abundans“, auch die Bedeutungen „nimium“ oder „extremum“ für möglich hält, d. h. „allzu groß“), aber das überlieferte βιότῳ 614 gehalten und die gesamte Aussage als Komplement zu v. 625 verstanden werden: „Nichts sehr Großes“ kommt dem menschlichen Leben zu, ohne dass dabei die Gefahr des „Verhängnisses“ besteht, während man als „Kleiner“ „außerhalb des Verderbens“ bleibt (Der Versuch von Rohdich [1980, 114 mit Anm. 210], πάμπολις 614 durch die Übersetzung als „erzpolitisch“ zu halten, geht fehl. Denn das Hinterglied -πολις heißt nicht „-politisch“: ἄπολις bedeutet nicht „unpolitisch“, sondern „stadtlos“.). 284 Diese Übereinstimmung zwischen dem ersten, in Kreons Abwesenheit gesungenen Stasimon und dem zweiten, während dessen Vortrag der König anwesend ist, entkräftet auch das populäre Argument von der ‚Tyrannenfurcht‘ des Chors (so z. B. Schwinge [1971] oder Petersmann [1982]). dem Menschen „Hilfe“ sein könne (zweites Stasimon). In beiden Fällen ist also kein Platz für ungebändigte Selbstaffirmation, für Idiosynkrasie. 283 Auf diese Weise ist das zweite Stasimon eine Bestätigung des davor als ‚ver‐ nünftige‘, polisgebundene Normalität gefassten Konzepts, wobei sein Schwer‐ punkt auf der religiösen Seite dieser Medaille liegt, während im ersten Stasimon der im engeren Sinne ‚politische‘ Aspekt im Vordergrund stand: zwei Dimen‐ sionen, die eben nicht zu trennen sind. 284 Dabei wird dieses Konzept im zweiten Teil des Liedes mit aus dem ersten Stasimon bekannter Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit formuliert, während in der ersten Hälfte der Chor die Implikationen für Antigone explizit macht: Man kann ihre Problematik eben nicht einfach so unter den Tisch fallen lassen, wenn sie sich der Gemeinschaft verweigert. Insofern das zweite Stasimon also, im Anschluss an die Erschütterung der Selbstverständlichkeit der ‚vernünftigen‘ polisgebundenen Normalität in Ismenes zweitem Auftritt, deren Unüberwindbarkeit erneut und noch deutlicher affirmiert, trägt es zur zentralen Spannung der zweiten Stückhälfte bei, die Sophokles im Folgenden weiterentwickelt und an die Perspektivenstruktur zurückbindet. 170 3 Die Antigone <?page no="171"?> 3.5 Der zweite Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft I Diese Entwicklung leistet zunächst der zweite Handlungsbogen, der den Agon zwischen Kreon und Haimon sowie, als Abschluss, das dritte Stasimon umfasst. Die Art und Weise, in der er diese Entwicklung leistet, ist dabei aus dem Aias bekannt: Sophokles konfrontiert die Zuschauer mit einer Spannung, generiert dann Engagement, indem er die Möglichkeit einer Überwindung dieser Spannung durch eine einfache Lösung suggeriert, bevor er diese, desto deutlicher, zurückkehren lässt. Im Unterschied zum Aias ist diese Spannung aber, wie angekündigt, durch eine Entkopplung der emotionalen von der intellektuell-normativen Dimension geprägt: Sophokles lässt die emotionale Dynamik für Haimon arbeiten, macht dabei aber ebenso deutlich, dass sich das Vorgehen des Kreon, insofern es sich gegen seinen Sohn (und gegen Antigone) richtet, von einem im Stück affirmierten und stabilisierten normativen Rahmen gedeckt ist: demjenigen der ‚vernünftigen‘ polisgebundenen Normalität, der ‚polismenschlichen Vernunft‘, die keine Möglichkeit lässt, sich der Verpflich‐ tung zum Gehorsam gegenüber Kreon zu entziehen. 3.5.1 Haimons Nähe zu Antigone Um nachzuvollziehen, wie Sophokles diese Spannung generiert, ist zunächst aufzuzeigen, was Haimon durch sein kommunikatives Agieren zu erreichen versucht. Dies zeigt Sophokles ab dem Beginn von dessen Auftritt. Sobald Haimon nämlich erscheint, stellt sich der Chor die Frage nach seiner Motivation und erwägt die Möglichkeit, dass er „leidet“ angesichts des Schicksals der Antigone und des Verlustes seines „Ehelagers“ (vv. 628-630): ἆρ’ ἀχνύμενος τάλιδος ἥκει μόρον Ἀντιγόνης, ἀπάτης λέχεων ὑπεραλγῶν; 630 Kommt er, betrübt über das Schicksal seiner Verlobten Antigone [630] und leidend angesichts des Verlustes seines Ehelagers? Dieser Gedanke liegt in der Tat nahe, hatte Ismene doch gegen das Ende des zweiten Epeisodions, als Haimon zum ersten Mal erwähnt wurde, gesagt, dass dieser mit seiner Verlobten besonders gut zusammenpasse (v. 570), also die 171 3.5 Der zweite Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft I <?page no="172"?> 285 Vgl. zur Vorbereitung von Haimons Auftritt durch die Suggestion seiner „Liebe“ zu Antigone Winnington-Ingram 1980, 93 f. (vgl. auch Else 1976, 50). Möglichkeit einer besonderen emotionalen Nähe suggeriert. 285 Die Möglichkeit, dass Haimon gekommen sei, um sich irgendwie für seine Verlobte zu verwenden, mit der ihn eine besondere Nahbeziehung verbinde, steht bei seinem Erscheinen im Raum. Nun hatte Kreon allerdings bereits im zweiten Epeisodion deutlich gemacht, dass er nicht gewillt ist, einer solchen Nahbeziehung irgendeinen Raum zuzugestehen, indem er auf die Erwähnung Haimons durch Ismene grob entgegnete, es gebe auch „anderer Frauen Furchen“ zu bestellen (v. 569), eine Frau sei also so gut wie die andere. Diese Haltung zeigt er auch hier, wenn er seinen Sohn mit folgender Aussage empfängt (vv. 631-634): τάχ’ εἰσόμεϑα μάντεων ὑπέρτερον. 631 ὦ παῖ, τελείαν ψῆφον ἆρα μὴ κλυὼν τῆς μελλούμφου πατρὶ λυσσαίνων πάρει; ἢ σοὶ μὲν ἡμεῖς πανταχῇ δρῶντες φίλοι; [631] Das werden wir gleich erfahren, sicherer als wir dies mit der Hilfe von Sehern vermöchten. O Kind, bist Du, nachdem Du vom endgültigen Beschluss gehört hast über die Braut, hierhergekommen, um zu rasen gegen Deinen Vater? Oder sind wir Dir lieb, was immer wir tun? In v. 631 explizit die vom Chor aufgebrachte Möglichkeit eines „Leidens“ seines Sohnes am Schicksal seiner Verlobten aufnehmend, gibt er seinem Sohn gewis‐ sermaßen die ‚Chance‘, den im Raum stehenden Eindruck einer besonderen emotionalen Nähe ein für alle Mal zu widerlegen, indem er sich bedingungslos zu ihm bekennt, und Haimon hätte nichts anderes sagen müssen als „Natürlich Letzteres, Vater! “. Haimon aber reagiert wie folgt (vv. 635-638): πάτερ, σός εἰμι, καὶ σύ μοι γνώμας ἔχων 635 χρηστὰς ἀπορϑοῖς, αἷς ἔγωγ’ ἐφέψομαι. ἐμοὶ γὰρ οὐδεὶς ἀξιώσεται γάμος μείζων φέρεσϑαι σοῦ καλῶς ἡγουμένου. [635] Vater, ich bin der Deine, und Du, wenn Du gute Gedanken vorbringst, hältst mich auf dem richtigen Weg, und ich werde diesen folgen. Mir wird nämlich keine Ehe mehr wert sein als Du, wenn Du mich gut anleitest. Statt etwas in der Art von „Natürlich Letzteres, Vater! “ zu äußern, versichert er seinen Vater zwar sehr wohl seiner Bereitschaft, sich ihm, wie implizit gefordert, gewissermaßen zu eigen zu geben, doch er versieht die entsprechende 172 3 Die Antigone <?page no="173"?> 286 Es stimmt zwar, dass die Partizipien in den vv. 635 und 638 auch bloß kausal verstanden werden könnten, doch angesichts der lauernden Frage des Kreon ist eine „restriktive Reserve“ (Rohdich 1980, 123; siehe ferner z. B. Müller 1967, 150) unüberhörbar. Entschei‐ dend ist also (pace Zetzmann 2021, 125 Anm. 468), dass Haimons Formulierung keine unbedingte Absage an die ‚Liebe‘ zu Antigone ist, und nicht, dass diese keine unbedingte Affirmation derselben darstellt: Die Vorstellung, dass seine ‚Liebe‘ zu Antigone Haimon motiviere, steht bei dessen Erscheinen im Raum, und diese ist es, zu der er sich positionieren muss. 287 Siehe oben Anm. 286. Bereitschaft, unter höchster Diskretion und Zurückhaltung, mit Bedingungen, wie die Partizipien ἔχων 635 und σοῦ καλῶς ἡγουμένου 638 zeigen: Sein Vater muss „gute Gedanken“ vorbringen und ihn „gut führen“, dann wird er ihm „folgen“ und „keine Ehe“ für mehr wert halten. 286 Wenn man nun bedenkt, dass Haimon sich in einer höchst angespannten Situation befindet, sich der lauernden Frage seines Vaters gegenübersieht, so muss seine Antwort den Eindruck erwecken, dass seine Nähe zu Antigone tatsächlich eine Rolle für ihn spielt und dass er aufgrund dessen seinem Vater mit einiger Vorsicht begegnet, statt die Forderung nach der Zusicherung unbedingten Gehorsams tel quel zu ratifizieren. Dieser Eindruck wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass Haimon, statt zumindest dazu zu schweigen, das Thema seiner Beziehung zu Antigone weiterführt: Insbesondere ist er bereit, die Wünsche seines Vaters „keiner Ehe“ unterzuordnen (vv. 637 f. mit οὐδεὶς […] γάμος 637), allein dies heißt, dass die „restriktive Reserve“ 287 σοῦ καλῶς ἡγουμένου, mit der er seine Bereitschaft versieht, auch für diese seine Beziehung gilt: Antigone ist ihm, anders als von seinem Vater gefordert, nicht egal, er ist nicht ohne weiteres bereit, „anderer Frauen Furchen zu bestellen“, sondern möchte dafür Gründe hören. 3.5.2 Kreons ‚Vernunft‘ Solche Gründe liefert Kreon denn auch, allerdings auf ganz bestimmte Weise. Er bemüht sich in der langen Rede, zu der er im Anschluss an Haimons Replik an‐ setzt, nämlich keineswegs, seinem Sohn aufzuzeigen, warum dieser ein direktes Interesse an Antigones Hinrichtung haben und diese darum gutheißen sollte. Dass er Antigone tatsächlich töten wird, begründet er nämlich ausschließlich von seinem ganz persönlichen Standpunkt aus, denn täte er dies nicht, verlöre er sein Gesicht, zumal er dann einer Frau unterlegen wäre (vv. 655-658 und 678-680): ἐπεὶ γὰρ αὐτὴν εἷλον ἐμφανῶς ἐγὼ 655 πόλεως ἀπιστήσασαν ἐκ πάσης μόνην, 173 3.5 Der zweite Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft I <?page no="174"?> 288 Die Versreihenfolge ist die von Griffith (1999) gedruckte und beruht auf einer Umstel‐ lung gegenüber den Handschriften; ein solcher Eingriff scheint hier unausweichlich, da ansonsten der Referent von τοῦτον […] τὸν ἄνδρα 663 und ὃν 670 identisch wäre, was insbesondere aufgrund des Passivs ἄρχεσϑαι 664 keinen Sinn ergibt (vgl. Griffith 1999, ad vv. 661-680); gegen Lloyd-Jones und Wilson (1990a; 1990b, 132; beachte die dortige ‚may‘-Formulierung) sind ferner die vv. 671 f. (bei Lloyd-Jones und Wilson 666 f.) beibehalten worden, da sich für die Syntax durchaus Parallelen beibringen lassen (siehe Griffith 1999, ad vv. 670f. [666 f.]). ψευδῆ γ’ ἐμαυτὸν οὐ καταστήσω πόλει, ἀλλὰ κτενῶ. […] κοὔτοι γυναικὸς οὐδαμῶς ἡσσητέα. κρεῖσσον γάρ, εἴπερ δεῖ, πρὸς ἀνδρὸς ἐκπεσεῖν, κοὐκ ἂν γυναικῶν ἥσσονες καλοίμεϑ’ ἄν. 680 [655] Da ich sie ja ergriffen habe, wie sie offen als Einzige aus der ganzen Stadt keine Folge leistete, werde ich meinem Wort gegenüber der Stadt nicht untreu werden, sondern sie töten. […] Und auf keinen Fall darf man gegen eine Frau verlieren! Besser ist es nämlich, wenn es denn sein muss, einem Mann zu unterliegen; [680] dann würde man nicht von uns sagen, wir seien schwächer als Frauen. Das ‚Interesse‘, das er Haimon unterstellt, ist vielmehr indirekt, wie folgende Aussagen zeigen (vv. 639 f., 653 f. und 659-677 288 ): οὕτω γάρ, ὦ παῖ, χρὴ διὰ στέρνων ἔχειν, γνώμης πατρῴας παντ’ ὄπισϑεν ἑστάναι. 640 […] ἀποπτύσας οὖν ὥστε δυσμενῆ μέϑες 653 τὴν παῖδ’ ἐν Ἅιδου τήνδε νυμφεύειν τινί. […] εἰ γὰρ δὴ τά γ’ ἐγγενῆ φύσει ἄκοσμα ϑρέψω, κάρτα τοὺς ἔξω γένους. 660 ἐν τοῖς γὰρ οἰκείοισιν ὅστις ἔστ’ ἀνὴρ χρηστός, φανεῖται κἀν πόλει δίκαιος ὤν. καὶ τοῦτον ἂν τὸν ἄνδρα ϑαρσοίμην ἐγὼ καλῶς μὲν ἄρχειν, εὖ δ’ ἄρχεσϑαι ϑέλειν, δορός τ’ ἂν ἐν χειμῶνι προστεταγμένον 665 μένειν δίκαιον κἀγαϑὸν παραστάτην. ὅστις δ’ ὑπερβὰς ἢ νόμους βιάζεται, ἢ τοὐπιτάσσειν τοῖς κρατύνουσιν νοεῖ, οὐκ ἔστ’ ἐπαίνου τοῦτον ἐξ ἐμοῦ τυχεῖν. ἀλλ’ ὃν πόλις στήσειε, τοῦδε χρὴ κλύειν 670 174 3 Die Antigone <?page no="175"?> 289 Zum Bezug dieser Formulierung auf die Position eines ‚ordentlichen‘ Polisbürgers im Gefüge der Stadt siehe Griffith 1999, ad vv. 663-666 [668-671]. καὶ σμικρὰ καὶ δίκαια καὶ τἀναντία. ἀναρχίας δὲ μεῖζον οὐκ ἔστιν κακόν. αὕτη πόλεις ὄλλυσιν, ἥδ’ ἀναστάτους οἴκους τίϑησιν, ἥδε συμμάχου δορὸς τροπὰς καταρρήγνυσι· τῶν δ’ ὀρϑουμένων 675 σῴζει τὰ πολλὰ σώμαϑ’ ἡ πειϑαρχία. οὕτως ἀμυντέ’ ἐστὶ τοῖς κοσμουμένοις Solche Gemütsart muss man zeigen, o Kind, dass nämlich [640] der väterlichen Meinung alles hintanstehen muss! […] [653] Spuck es also aus und lass es, dieses Μädchen, irgendwen im Hades heiraten! […] Wenn ich nämlich das, was mir bluts‐ verwandt ist, [660] zu etwas ohne Ordnung heranwachsen lasse, dann gilt dies doch erst recht für das, was außerhalb des Geschlechts steht! Der Mann nämlich, der in den Angelegenheiten des Hauses tauglich ist, wird sich auch im Bereich der Polis als gerecht erweisen. Und diesem Mann würde ich vertrauen, dass er ein guter Herrscher ist und sich gut beherrschen lässt [665] und dass er, wenn ihm im Speerhagel seine Kampfposition zugeteilt worden ist, als gerechter und guter Kamerad dort aushält. Wer aber Übertretungen begeht, Gewalt übt gegen die Gesetze oder darauf sinnt, denjenigen Befehle zu erteilen, welche die Verfügungsgewalt besitzen, kann kein Lob von mir erwarten. [670] Vielmehr muss man auf den hören, den die Polis in sein Amt eingesetzt hat, und zwar im Kleinen und im Gerechten wie auch im Gegenteil. Als Anarchie aber gibt es kein größeres Übel. Diese vernichtet Städte, bringt Häuser in Unordnung, diese ist es, welche die Schlachtreihen derjenigen, die gemeinsam kämpfen, aufsprengt und diese [675] in die Flucht schlägt; denen aber, die auf geraden Wegen gehen, rettet der Gehorsam gegenüber Herrschenden oft das Leben. So müssen die verteidigt werden, die Ordnung halten. Wenn Haimon also Kreons Vorgehen widerspräche, verweigerte er seinem Vater den bedingungslosen Gehorsam, und dies kann er, so insinuiert Kreon, nicht wollen. Mit der Verweigerung bedingungslosen Gehorsams verletzte Haimon nämlich einen zentralen Grundsatz, den man nicht verletzen darf. Denn „Anarchie“ ist das „größte Übel“, da diese Städte und Häuser zerstört und Schlachtreihen aufsprengt, während andererseits „Gehorsam gegenüber Herrschenden“ die Gehorsamen „rettet“. Haimon wäre also, wenn er Antigone nicht „ausspie“, weil sein Vater dies nun einmal will, ein schlechter Bürger (vgl. die Formulierung mit ἄρχειν-ἄρχεσϑαι in v. 669 289 ) und, was das Gleiche ist (beachte die Engführung von Oikos und Polis in den vv. 659-662), ein 175 3.5 Der zweite Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft I <?page no="176"?> 290 Lloyd-Jones und Wilson (1990a) athetieren v. 687; dafür gibt es aber keinen genügend überzeugenden Grund, wenngleich die Formulierung etwas gewunden wirkt (Griffith 1999, ad v. 687). Ja man könnte sogar sagen, dass sich eine solche Gewundenheit besonders gut in die Rede des Haimon fügt, die, wie unten gezeigt werden wird, vom Bestreben Haimons geprägt ist, sich um die Tatsache herumzudrücken, dass er Kreon de facto sehr wohl widerspricht. schlechter Sohn, der seinen Platz nicht kennt. Grundlage von Kreons politischer ‚Philosophie‘ ist dabei eine entschiedene Abwertung der Emotion gegenüber der ‚Vernunft‘ eines Staatsbürgers (vv. 648-651): μὴ νύν ποτ’, ὦ παῖ, τὰς φρένας γ’ ὑφ’ ἡδονῆς γυναικὸς οὕνεκ’ ἐκβάλῃς, εἰδὼς ὅτι ψυχρὸν παραγκάλισμα τοῦτο γίγνεται, 650 γυνὴ κακὴ ξύνευνος ἐν δόμοις. Niemals, o Kind, sollst Du aus Lust den guten Sinn wegen einer Frau fahren lassen, da Du weißt, [650] dass dies eine frostige Umarmung ist, eine Frau, die eine schlechte Bettgenossin ist im Haus. Wenn Haimon sich von seiner Nähe zu Antigone leiten ließe - charakteristisch vergröbert zu (sexueller? ) „Lust“ -, dann wäre dies ein Verlust seines „guten Sinns“ (φρένας 648) oder, wie davor in v. 633 formuliert, „Raserei“, wobei die ‚Vernunft‘, die Kreon stattdessen von seinem Sohn implizit verlangt, wie oben gezeigt, die eines ‚guten Bürgers‘ ist. Dies sind die Gründe, die Kreon Haimon liefert und mit denen er sich als kommunikativer Akteur auseinandersetzen muss. 3.5.3 Die Hilflosigkeit des Haimon Diese Auseinandersetzung präsentiert sich wie folgt (vv. 683-723 290 ): πάτερ, ϑεοὶ φύουσιν ἀνϑρώποις φρένας, πάντων ὅσ’ ἐστὶ κτημάτων ὑπέρτατον, ἐγὼ δ’ ὅπως σὺ μὴ λέγεις ὀρϑῶς τάδε, 685 οὔτ’ ἂν δυναίμην μήτ’ ἐπισταίμην λέγειν. γένοιτο μεντἂν χἀτέρᾳ καλῶς ἔχον. σὺ δ’ οὐ πέφυκας πάντα προσκοπεῖν ὅσα λέγει τις ἢ πράσσει τις ἢ ψέγειν ἔχει. τὸ γὰρ σὸν ὄμμα δεινὸν ἀνδρὶ δημότῃ 690 λόγοις τοιούτοις οἷς σὺ μὴ τέρψῃ κλυών· ἐμοὶ δ’ ἀκούειν ἔσϑ’ ὑπὸ σκότου τάδε, 176 3 Die Antigone <?page no="177"?> τὴν παῖδα ταύτην οἷ’ ὀδύρεται πόλις, πασῶν γυναικῶν ὡς ἀναξιωτάτη κάκιστ’ ἀπ’ ἔργων εὐκλεεστάτων φϑίνει· 695 ἥτις τὸν αὑτῆς αὐτάδελφον ἐν φοναῖς πεπτῶτ’ ἄϑαπτον μήϑ’ ὑπ’ ὠμηστῶν κυνῶν εἴασ’ ὀλέσϑαι μήϑ’ ὑπ’ οἰωνῶν τινος· οὐχ ἥδε χρυσῆς ἀξία τιμῆς λαχεῖν; τοιάδ’ ἐρεμνὴ σῖγ’ ὑπέρχεται φάτις. 700 ἐμοὶ δὲ σοῦ πράσσοντος εὐτυχῶς, πάτερ, οὐκ ἔστιν οὐδὲν κτῆμα τιμιώτερον. τί γὰρ πατρὸς ϑάλλοντος εὐκλείᾳ τέκνοις ἄγαλμα μεῖζον, ἢ τί πρὸς παίδων πατρί; μή νυν ἓν ἦϑος μοῦνον ἐν σαυτῷ φόρει, 705 ὡς φὴς σύ, κοὐδὲν ἄλλο, τοῦτ’ ὀρϑῶς ἔχειν. ὅστις γὰρ αὐτὸς ἢ φρονεῖν μόνος δοκεῖ, ἢ γλῶσσαν, ἣν οὐκ ἄλλος, ἢ ψυχὴν ἔχειν, οὗτοι διαπτυχϑέντες ὤφϑησαν κενοί. ἀλλ’ ἄνδρα, κεἴ τις ᾖ σοφός, τὸ μανϑάνειν 710 πόλλ’ αἰσχρὸν οὐδὲν καὶ τὸ μὴ τείνειν ἄγαν. ὁρᾷς παρὰ ῥείϑροισι χειμάρροις ὅσα δένδρων ὑπείκει, κλῶνας ὡς ἐκσῴζεται, τὰ δ’ ἀντιτείνοντ’ αὐτόπρεμν’ ἀπόλλυται. αὔτως δὲ ναὸς ὅστις ἐν κράτει πόδα 715 τείνας ὑπείκει μηδέν, ὑπτίοις κάτω στρέψας τὸ λοιπὸν σέλμασιν ναυτίλλεται. ἀλλ’ εἶκε ϑυμοῦ καὶ μετάστασιν διδοῦ. γνώμη γὰρ εἴ τις κἀπ’ ἐμοῦ νεωτέρου πρόσεστι, φήμ’ ἔγωγε πρεσβεύειν πολὺ 720 φῦναι τὸν ἄνδρα πάντ’ ἐπιστήμης πλέων· εἰ δ’ οὖν, φιλεῖ γὰρ τοῦτο μὴ ταύτῃ ῥέπειν, καὶ τῶν λεγόντων εὖ καλὸν τὸ μανϑάνειν. Vater, die Götter geben den Menschen ihren guten Sinn, der das höchste aller Güter ist, die man gewinnen kann; [685] dass Du dies nicht recht sagest, dies könnte ich nicht behaupten und wüsste nicht, wie ich dies tun sollte. Εs könnte aber auch auf eine andere Weise gut sein. Du bist nämlich nicht von solcher Art, dass es Dir möglich ist, alles vorauszusehen, was einer sagt oder tut oder zu bemängeln hat. [690] Dein Auge ist nämlich furchtbar für einen einfachen Mann aus dem Volk, wenn Du Worte von solcher Art hörst, dass Du Dich nicht daran freust; mir aber ist es möglich, im 177 3.5 Der zweite Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft I <?page no="178"?> 291 Vgl. Zetzmann 2021, 122. Dunkeln dies zu hören, wie die Polis dieses Mädchen bedauert, weil sie, die es von allen Frauen am wenigsten verdient habe, [695] furchtbar zugrunde gehe wegen äußerst ruhmwürdiger Taten; denn sie habe ja dies, dass der eigene Bruder, nachdem er durch Mord gefallen ist, unbestattet und von wilden Hunden oder Raubvögeln gefressen, vernichtet werde, nicht hingenommen; sei sie nicht goldener Ehre würdig? [700] Eine solche Rede geht herum im Verborgenen. Für mich aber gibt es, Vater, keinen begehrenswerteren Gewinn als den, dass es Dir wohl ergehe. Welche Auszeichnung nämlich ist größer für Kinder als die, dass der Vater durch Ruhm hervorragt, oder für einen Vater im Hinblick auf dessen Kinder? [705] Lege nun nicht immer eine einzige Wesensart an den Tag, nämlich die, dass es sich so - und nur so - richtig verhalte, wie Du sagst. Derjenige nämlich, der denkt, er sei als Einziger vernünftig oder er habe eine Zunge, die kein anderer habe, oder einen Geist - solche Leute erweisen sich als leer, wenn man in sie hineinschaut. [710] Vielmehr ist es nichts Ehrenrühriges, wenn ein Mann, und sei er weise, viel lernt und nicht stur an seinem Kurs festhält. Du siehst, wie die Bäume, die, wenn im Winter die Flut anschwillt, den Wassern nachgeben, ihre Äste bewahren, die aber, die dagegenhalten, mitsamt ihren Stämmen zugrunde gehen. [715] Ebenso gilt, dass ein Schiffsführer, der das Takelwerk gespannt hält und um nichts nachgibt, über den Haufen geworfen wird und mit den Ruderbänken nach unten weitersegelt. Aber lass ab von Deiner wilden Entschlossenheit und ändere Deine Meinung! Denn wenn ich, obschon jung, doch einigen guten Sinn [720] habe, sage ich, dass es bei weitem am besten sei, dass ein Mann im Vollbesitz des Wissens sei; andernfalls aber - denn so, wie eben gesagt, pflegt es nicht zu sein - ist es schön, von denen zu lernen, die gute Ratschläge erteilen. Haimons Replik erscheint als Ganzes also durchaus als ein Plädoyer für die Be‐ gnadigung der Antigone, ein Plädoyer dafür, dass Kreon in seiner Entschlossen‐ heit „weichen“ (vgl. εἶκε 718) möge, diese zu töten, 291 ja, statt sich seinem Vater zu unterwerfen, stellt Haimon dem von diesem vertretenen unbedingten Gehorsam eines ‚vernünftigen‘ Bürgers eine Alternative entgegen. Auch er argumentiert nämlich politisch, und auch er argumentiert mit den Begriffen der ‚Vernunft‘: Sein Vater ist ein problematischer Herrscher, insofern er auf Widerspruch des „Mannes aus dem Volk“ zornig reagiert (vv. 690 f.) und überzeugt ist, nur er habe Recht, statt dass er auf andere hören, von diesen „lernen“ und Flexibilität zeigen könnte (vv. 705-723). Dieses politische Ideal fasst Haimon dabei in mentalen Begriffen: War es bei Kreon Markstein für den „guten Sinn“ (vgl. φρένας 648) einer Person gewesen, dass diese zu bedingungslosem Gehorsam bereit war, so ist dieser bei Haimon ein gottgeschenktes „Gut“, das jeder besitzt (vv. 683 f. 178 3 Die Antigone <?page no="179"?> 292 Vgl. Griffith 1999, ad vv. 683-687. 293 Siehe Rohdich 1980, 207; Oudemans/ Lardinois 1987, 182 f.; Cropp 1997, 151. 294 Zu Haimons gegenüber derjenigen des Kreon „reichhaltigeren“, der emotionalen Dimension Rechnung tragenden Position vgl. Nussbaum 1986, 79-82; zur Entgegenstel‐ lung einer alternativen politischen ‚Vernunft‘ durch Haimon vgl. Kierstead (2017, 298 f.), der (Kreons) „Vernunft“ („reason“) von Haimons „Vernünftigkeit“ („reasonableness“) unterscheidet; ähnlich Blundell 1989, 138. mit φρένας 683), wobei diese Vorstellung argumentativ direkt in das Ideal des Aufeinander-Hörens führt. 292 Diese alternative ‚politische Vernunft‘ zeichnet sich dabei insbesondere dadurch aus, dass sie einen Platz für die Emotionen lässt: Dass für Haimons Agieren seine emotionale Nähe zu Antigone eine Rolle spielt, hat der Text deutlich suggeriert; dies erwähnt er allerdings nicht, sondern konzentriert sich auf die emotionale Reaktion einer anderen Instanz: der Thebaner. Denn diese bemitleiden Antigone für ihr Schicksal und bewundern sie für ihre „ruhmvolle“ Tat (vv. 692-699) - eine Reaktion, die, wie verschiedentlich festgestellt worden ist, 293 keine differenzierte Beurteilung ihrer Tat ist, sondern von unmittelbarer, instinktiver Sympathie geprägt: Jammerschade, dass so jemand sterben muss. Davon ausgehend argumentiert Haimon nun, dass noch eine weitere Figur ein Interesse daran habe, Antigone ihr Schicksal zu ersparen: Kreon selbst. Hörte er nämlich auf die Bürger, so erwiese er sich als der oben erwähnte bessere Herrscher und gewänne dadurch „Ruhm“ (vv. 701-704 mit εὐκλείᾳ 703), würde also selbst zum Gegenstand der emotionalen Sympathie, die Antigone bereits genießt (vgl. ἀπ’ ἔργων εὐκλεεστάτων 695). Haimon bemüht sich also, der Entkopplung der Emotion von der ‚Vernunft‘ eines guten Bürgers, die Kreon propagiert hatte, eine alternative ‚politische Ver‐ nunft‘ höherer Ordnung entgegenzustellen, die sich als Interessengemeinschaft aller Beteiligter - der Thebaner, Kreons, aber natürlich auch, wenngleich er dies nicht sagt, seiner selbst - präsentiert und deren emotionalen Bedürfnissen Rechnung trägt. 294 Mit diesem Bemühen scheitert er aber, wie der unmittelbare Nachgang seiner Standpunktrhesis zeigt (vv. 726-733): . οἱ τηλικοίδε καὶ διδαξόμεσϑα δὴ φρονεῖν πρὸς ἀνδρὸς τηλικοῦδε τὴν φύσιν; Α . μηδέν γ’ ὃ μὴ δίκαιον· εἰ δ’ ἐγὼ νέος, οὐ τὸν χρόνον χρὴ μᾶλλον ἢ τἄργα σκοπεῖν. . ἔργον γάρ ἐστι τοὺς ἀκοσμοῦντας σέβειν; 730 Α . οὐδ’ ἂν κελεύσαιμ’ εὐσεβεῖν ἐς τοὺς κακούς. . οὐχ ἥδε γὰρ τοιᾷδ’ ἐπείληπται νόσῳ; Α . οὔ φησι Θήβης τῆσδ’ ὁμόπτολις λεώς. 179 3.5 Der zweite Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft I <?page no="180"?> 295 Dieses Bild zeigt auch der zweite Teil der Rede mit Haimons Paradigmen vom Baum und vom Steuermann: Es kann sein, dass unnachgiebige Bäume dem Sturm zum Opfer fallen und zu straff getakelte Schiffe kentern, doch Haimon setzt Kreon nicht auseinander, wie er ‚brechen‘ oder ‚untergehen‘ könnte. Er muss sich offensichtlich auf die rhetorische Kraft des Gemeinplatzes verlassen. r. Soll ich in meinem Alter Vernunft lernen von einem Mann in Deinem Alter? ai. In nichts, was nicht gerecht ist; wenn ich aber jung bin, so muss man nicht die Lebenszeit, sondern die Taten betrachten. [730] r. Ist es eine Tat, diejenigen zu ehren, die gegen die Ordnung verstoßen? ai. Ich würde nicht dazu auffordern, gegenüber Schlechten Ehrerbietung an den Tag zu legen. r. War denn diese nicht von einer solchen Krankheit ergriffen? ai. Das bestreitet das gesamte Volk von Theben. Dieses Scheitern macht eine zentrale Schwäche von Haimons Argument fassbar: Dieses ist zirkulär. Denn Haimon hat in seiner Standpunktrhesis keine konkreten politischen Vorteile namhaft gemacht, die Kreon erringen könnte, wenn er Antigone begnadigte, indem er auf die Thebaner hörte und sich so als besserer Herrscher erwiese, zum Beispiel einen Gewinn an politischer Stabilität und militärischer Schlagkraft dadurch, dass Kreon seine Bürger, die ja auch seine Soldaten sind, nicht desavouiert, vielleicht auch die Sicherung der Gunst der Götter für die Stadt; das letztlich Einzige, was es laut Haimon für seinen Vater zu ‚holen‘ gibt, ist der „Ruhm“ dafür, dass er als beispielhafter Herrscher auf seine Bürger hört: Darin besteht Kreons „Wohlergehen“, das Haimon vor allem an‐ deren umtreibt (vv. 701 f.). Damit Kreon nun aber ein Interesse daran entwickeln kann, ein im Sinne seines Sohnes besserer Herrscher werden zu wollen, muss er dem Ziel irgendeinen Wert zubilligen, zum Gegenstand emotionaler Sympathie zu werden, den eben erwähnten „Ruhm“ zu gewinnen. Dies bedeutet, dass Haimons Propagierung seiner die emotionale Dimension berücksichtigenden Alternative nur gegenüber jemandem plausibel sein kann, der den Wert der emotionalen Dimension bereits anerkennt - in welchem Fall er diese Person aber wohl gar nicht erst von seiner Alternative hätte überzeugen müssen. Wenn jemand dies aber, wie Kreon in seiner Standpunktrhesis, nicht tut, dann hat dieser auch nach Haimons Rede keinen Grund, auf diesen zu hören: Kreons Affirmation der ‚Vernunft‘ eines guten Bürgers immunisiert ihn gewissermaßen gegen Haimons Persuasionsversuche, ja man kann sagen, dass die Reaktion der Thebaner auf Antigone diese als in Kreons Sinne ‚schlechte Bürger‘ erweist, auf die zu hören er keinen Grund hat, oder zumindest von Haimon keinen geliefert bekommt, da dessen ganze Argumentation voraussetzt, dass es eine gute Sache sei, auf die Empfindungen der Bürger zu hören. 295 180 3 Die Antigone <?page no="181"?> 296 Insofern handelt es sich bei Haimons Argumentation natürlich um ein ziemlich unerhörtes ‚face-threat‘ (vgl. oben zu Anm. 165): Er möchte, dass sein Vater am „Ruhm“ einer Gesetzesbrecherin teilhaben wolle, gewissermaßen hoffe, dass für ihn ein paar Brocken abfielen. In dieses Bild fügt sich die Tatsache, dass Haimon sich zwar in seiner Standpunktrhesis ausgesprochen um ‚Höflichkeit‘ bemüht (siehe Zetzmann 2021, 130-132), dabei aber durchaus nicht immer glücklich agiert (siehe Scodel 2017, 35-37): Der gequälte Charakter von Haimons sprachlichem Agieren (siehe dazu unten) ist an solchen Stellen bereits während seiner Rhesis greifbar. Besonders pointiert ist dieser Sachverhalt natürlich durch die Tatsache von Antigones Gesetzesbruch. Denn Haimon verlangt von Kreon nicht einfach eine Begnadigung, sondern eine Sanktionierung dieser Tat, indem er will, dass sein Vater die Maßstäbe einer Instanz, der thebanischen Bürger, für sich als verbindlich anerkenne, die sich der von Antigones Gesetzesbruch ausgehenden positiven emotionalen Dynamik nicht von Anfang an verweigern. 296 Hinter die Setzung, dass diese emotionale Dynamik relevant sei, geht Haimon nicht zurück, diese ist vielmehr die Basis seiner Argumentation. Diese Tatsache macht Sophokles nun zu Beginn der Konfliktstichomythie deutlich. Nachdem Kreon nämlich grob signalisiert hat, dass das Plädoyer seines Sohnes die Aussage eines jungen Mannes sei, der die Autorität eines älteren nicht akzeptiert - eine Variation des ‚vernünftigen‘ Vater-Sohn-Gehorsams -, kommt er auf Antigone zu sprechen und macht durch eine rhetorische Frage explizit, was Haimons Plädoyer tatsächlich gewesen war: eben die Aufforderung, Antigones Verstoß gegen die Ordnung zu sanktionieren (σέβειν 730), und damit seinen eigenen in seiner Standpunktrhesis vertretenen Werten der ‚vernünftigen‘ „Ordnung“ eine Absage zu erteilen (vgl. den kosmos als wichtiges Motiv in Kreons Rhesis: ἄκοσμα 660, τοῖς κοσμουμένοις 677). Haimons Reaktion ist nun bezeichnend: Er nimmt τοὺς ἀκοσμοῦντας durch τοὺς κακούς 731 auf und bestreitet so nicht Antigones Ordnungsverstoß, sondern ihre „Schlechtigkeit“. Er drückt sich also darum herum, dazu zu stehen, dass das, was Antigone ‚gut‘ gemacht hat, gerade ihr Ordnungsverstoß war. Dieses Ausweichen lässt ihm Kreon aber nicht durchgehen, sondern fragt, ob Antigone nicht „von einer solchen Krankheit“ befallen sei, wobei man unter dieser „Krankheit“ die ‚Schlechtigkeit‘ verstehen muss, die für Kreon in Antigones Ordnungsverstoß nun einmal liegt. Hierauf nun zieht sich Haimon auf die Meinung der Thebaner zurück, die dies nicht so sähen. Dies ist jedoch ein hilfloser Zug, müssen die Thebaner sich doch dieselbe Frage gefallen lassen wie Haimon - Was sagen sie zu Antigones Ordnungsverstoß? -, und es ist klar, was die einzige mögliche Antwort ist: dass sie Antigone genau dafür bewundern - eine Empfindung, die Kreon doch bitte zu Ausgangspunkt und Letztbegründung seines politischen Handelns machen möge. Am Ende des bis jetzt besprochenen Austausches wirft Kreon Haimon 181 3.5 Der zweite Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft I <?page no="182"?> 297 Siehe Anm. 296 oben dazu, dass dieser Eindruck bereits während Haimons Rhesis entstand. 298 Erwogen von Sourvinou-Inwood (1989b, 144), doch siehe dagegen van Erp Taalman Kip 1996, 521-524. 299 Zum Chor siehe unten Anm. 300. 300 Um die Verständlichkeit dieser komplexen Analyse nicht noch weiter zu gefährden, ist darauf verzichtet worden, die Chorkommentare an ihrer Stelle zu berücksichtigen; diese bestätigen jedoch das hier entworfene Bild: Auch der Chor kann Kreon nicht widersprechen (er scheint ihm das, was er gesagt hat, „vernünftig“ gesprochen zu haben: ἡμῖν μέν, εἰ μὴ τῷ χρόνῳ κεκλέμμεϑα, / λέγειν φρονούντως ὧν λέγεις δοκεῖς πέρι 681 f.), doch seine unmittelbare Sympathie liegt bei Haimons Betonung des „Lernens“ (ἄναξ, σέ τ’ εἰκός, εἴ τι καίριον λέγει, / μαϑεῖν, σέ τ’ αὖ τοῦδ’· εὖ γὰρ εἴρηται διπλῇ 725 f.; vgl. Griffith 1999 ad vv. 724 f.); im Unterschied zu diesem hat er aber direkt nichts zu verlieren (oder zu gewinnen), weswegen er (wie auch die Thebaner allgemein in ihrer emotionalen Sympathie für Antigone) nicht gezwungen ist, sich der letztendlichen Unvereinbarkeit seiner beiden Reaktionen zu stellen - und kann später, nach Haimons zornigem Abgang, die Problematik von dessen Verhalten nüchtern konstatieren (siehe dazu unten 3.5.6). also unbarmherzig auf die Basis seiner ganzen Argumentation zurück, zwingt ihn, den dieser innewohnenden Regress Schritt für Schritt nachzuvollziehen, und es wird deutlich, dass sein Sohn keinerlei persuasive Handhabe gegen ihn besitzt. Haimons hilflose Reaktionen in der eben besprochenen Stichomythie erscheinen so als gequälte Versuche, der Tatsache auszuweichen, dass er in seiner Situation keine stichhaltigen Argumente hat, und lässt so - mindestens im Rückblick 297 - auch seine ganze Standpunktrhesis in ihrer bemüht kontrollierten ‚Höflichkeit‘ als ein hilfloses Sich-Abarbeiten an einer Situation erscheinen, in der Kreons Vorgaben Haimon von Anfang an zum Scheitern verurteilt hatten. Besonders quälend erscheint Haimons Situation dabei, da er ehrlich über‐ zeugt ist, dass mit seiner Lösung allen Beteiligten - also auch Kreon - geholfen wäre. Es gibt nämlich keinen Grund, Haimon zu unterstellen, er schiebe diese Alternative nur vor, um alleine seine eigene „Lust“ an Antigone befriedigen zu können, ja habe sich die Reaktion der Thebaner vielleicht sogar nur ausge‐ dacht; 298 es liegt kein Signal vor (wie zum Beispiel ein entsprechender Vorwurf des Chors 299 ), das Skepsis gegenüber der Wahrnehmung nahelegte, dass Haimon aufrichtig bemüht erscheint, seinem Vater zu helfen, ein besserer Herrscher zu werden, die von diesem aufgespannte rigide Dichotomie zwischen Emotion und Vernunft zu überwinden und so eine für alle Beteiligten zufriedenstellende Lösung zu erreichen. Wenn er trotzdem auf verlorenem Posten kämpft, dann erscheint seine Situation, sein hilfloses Ausweichen, als ein Leiden an der unbarmherzigen ‚Vernunft‘ seines Vaters, mit der er nicht zufrieden sein, die er aber auch nicht überwinden kann. 300 182 3 Die Antigone <?page no="183"?> 301 Vgl. Zetzmann 2021, 134. 3.5.4 Die Hilflosigkeit der Zuschauer Bis jetzt hat sich die Diskussion auf die pragmatische Dimension konzentriert und die Frage erörtert nach den Möglichkeiten und - vor allem - Einschrän‐ kungen, die Haimons kommunikatives Agieren prägen. Nun wird es aber den textlichen Signalen kaum gerecht, Haimons Hilflosigkeit und sein ‚Leiden an der Vernunft‘ bloß, wie es bis jetzt getan worden ist, neutral zu konstatieren. Vielmehr lässt sich durchaus sagen, dass Haimons Leiden dasjenige der Zu‐ schauer ist. Diese Tatsache beruht darauf, dass es gegenüber dem zweiten Epeisodion zu einer Verschiebung kommt. Dort war, wie zuletzt oben zu Anm. 272 gesagt, ein balanciertes Bild zweier von einer nuancierten Mittelabwei‐ chender Extrempositionen gezeichnet worden, vertreten auf der einen Seite von Antigone, auf der anderen von Kreon. Haimon ist nun aber nicht Antigone: Während diese, wie oben gesehen, den Regeln der geordneten Gemeinschaft gegenüber ihrer Nähe zu ihrem Bruder keinerlei Relevanz zugeschrieben hatte, ist Haimon nicht nur ein Muster an (Bemühung um) Zurückhaltung, sondern versucht, wie oben 3.5.3 gesehen, gerade, für die Emotionen einen Platz in einem ‚vernünftig‘ geordneten politischen Gefüge zu finden. Kreon ist dagegen ganz und gar der Alte: Er versucht gar nicht erst, anderen Standpunkten Rechnung zu tragen, 301 vielmehr ist sein Verhalten nach wie vor von geradezu aufreizender Idiosynkrasie geprägt. Denn Antigone nicht zu töten, bedeutete eine persönliche Niederlage, persönliche „Schande“ - eine Haltung, die Haimon dort zutreffend kritisiert, wo er ihm vorwirft, dass er denke, nur er wisse, was falsch und was richtig sei (vv. 705-709). Die emotionale Dynamik arbeitet in aller Deutlichkeit für Haimon und gegen Kreon. Allein zeigt der Austausch zugleich, wie oben 3.5.3 vorgeführt, dass Haimons Versuch, der Emotion einen Platz zu verschaffen, an der politischen ‚Vernunft‘ seines Vaters scheitern muss; kurzum, Haimon sieht sich der perversen Situation gegenüber, dass Kreon ihm in ein und derselben Rede, in der seine Problematik so deutlich zutage tritt, zugleich jede Handhabe nimmt, etwas dagegen zu tun. Daran leidet er, und dieses Leiden erfahren auch die Zuschauer. Denn es ist gerade die Affirmation des ‚vernünftigen‘ Gehorsams eines guten Bürgers, ba‐ sierend auf der kardinalen Funktion der Gemeinschaft als Garantin des Wohles des Einzelnen (vv. 672-677), in der Kreons Standpunkt nicht idiosynkratisch ist. Diese ‚Vernunft‘ ist vielmehr etwas, was systematisch zu plausibilisieren Sophokles die ersten über 500 Verse des Stücks aufgewendet hat, und das zuletzt im zweiten Stasimon mit der Autorität eines tragischen Chors affirmiert worden ist (vgl. auch die Beglaubigung von Kreons Standpunktrhesis durch den Chor in 183 3.5 Der zweite Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft I <?page no="184"?> 302 Siehe oben Anm. 300. den vv. 681f. 302 ). Sophokles hat also auch die Zuschauer, so könnte man sagen, gegen eine Argumentation immunisiert, die behauptet, dass die emotionale Dimension einen Wert besitze, da sie dies nun einmal tue, und nicht dahinter zurückgeht. Sie sehen sich also, parallel zu Haimon, der perversen Situation gegenüber, dass sie Kreon zugestehen müssen, dass dieser sich nicht überzeugen lassen muss, so sehr sie auch empfinden, dass dieser, als der problematische Herrscher, der er ist, dies unbedingt tun sollte, und entsprechend seine bornierte Weigerung, dies zu tun, als die Reaktion einer einigermaßen widerwärtigen Figur empfinden. Im externen Kommunikationssystem ist somit die Kontrastierung der Per‐ spektiven der beiden Figuren Haimon und Kreon von der Entkopplung der emotionalen und der normativen Dimension gekennzeichnet: Die emotionale Sympathie gilt Haimon, doch Kreons Vorgehen, soweit es sich gegen Antigone (und, in der Form sprachlichen Agierens, gegen Haimon) richtet, ist durch einen im Stück affirmierten und stabilisierten normativen Rahmen gedeckt. Besonders deutlich wird dieses Leiden an der ‚polismenschlichen Vernunft‘ dabei dort nahegelegt, wo Antigones Ordnungsbruch als pièce de résistance wieder in den Vordergrund rückt. Denn von der für Haimon und gegen Kreon arbeitenden emotionalen Dynamik profitiert - sozusagen, ob sie dies will oder nicht - auch Antigone: Der emotional durchaus unsympathische Kreon hält am Vollzug des über sie verhängten Todesurteils fest, weil er sonst sein Gesicht verlöre, Haimon als Träger der emotionalen Sympathie betont dagegen den „ruhmvollen“ Charakter ihrer Tat, wenn er um eine Begnadigung bittet, und kritisiert Kreon für dessen mit Händen zu greifende Problematik; andererseits erinnert, anders als noch im zweiten Epeisodion, Antigone nicht ständig selbst daran, dass ihre Tat natürlich ein Ordnungsverstoß ist, ihr dies jedoch egaler nicht sein könnte. Auch Antigone gewinnt im dritten Epeisodion also an emotionaler Sympathie, doch der Beginn der Konfliktstichomythie erinnert die Zuschauer daran, dass alle emotionale Sympathie mit ihr nun einmal nichts am Faktum ihres Ordnungsverstoßes ändert, dessen Folgen diejenigen, die ihr nahestehen, zu tragen haben: Die emotionale Sympathie der Thebaner muss folgenlos bleiben (ganz zu schweigen von Haimons persönlicher emotionaler Nähe), und dies gilt auch für die emotionale Sympathie der Zuschauer, die so dazu angehalten werden, mit Haimon an der unbefriedigenden, aber un‐ ausweichlichen ‚polismenschlichen Vernunft‘ zu leiden. Diese Tatsache kann, wer will, dabei auch in den oben zu Anm. 272 eingeführten Begriffen von Gleichheit und Differenz fassen, auch wenn diese hier nicht im Vordergrund 184 3 Die Antigone <?page no="185"?> 303 Siehe Hall (2009, 77 f.), die das Fehlen des Begriffs - wie auch des entsprechenden Verbs βουλεύομαι - damit erklärt, dass Haimon möglicherweise vermeiden wollte, als junger einem älteren Mann allzu deutlich Ratschläge zu erteilen - eine Feststellung, die sich sehr gut in die oben 3.5.3, bes. Anm. 296 dargelegte gequälte ‚Höflichkeit‘ des Haimon fügt. stehen: Es ist durchaus unbefriedigend, Antigones fortgesetzte Gleichheit mit Kreon festzustellen, aber sachlich unausweichlich. Auf diese Weise also wird die davor systematisch plausibilisierte ‚vernünftige‘ polisgebundene Normalität im dritten Epeisodion in Spannung zur Emotion gesetzt. 3.5.5 Die positive ‚Botschaft‘ In diesem ‚Leiden an der Vernunft‘ ist jedoch auch das Potential für eine positive ‚Botschaft‘ beschlossen, die das Stück ab dem dritten Epeisodion entwickelt. Beim Aias ist am Ende der Stückanalyse gezeigt worden, wie sich aus der bis zuletzt präsent behaltenen Ambiguität der Titelfigur ein positiver ethischer Gehalt ergab, der für ein zeitgenössisches Publikum in dessen Identität als athenische Bürger eine besondere Relevanz besaß. Eine ähnliche Entwicklung findet sich in der Antigone, und sie ist im eben herausgearbeiteten ‚Leiden an der Vernunft‘ angelegt, in der Entkopplung von Emotion und Vernunft, die, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, bis zum Stückende nicht überwunden werden wird. Um die Anlage zu dieser positiven ‚Botschaft‘ nachvollziehen zu können, ist die Tatsache hervorzuheben, dass Haimon, wie oben 3.5.3 gezeigt, eine Alternative zur Entkopplung von Emotion und Vernunft entwickelt, indem er für emotionale Bindungen einen Platz im Gefüge der Polis zu finden versucht. Haimons Alternative besaß nun das Potential, die Zuschauer in ihrer lebens‐ weltlichen Identität anzusprechen. Diese Möglichkeit beruht zunächst einmal darauf, dass ein zeitgenössisches Publikum darin eine bekannte, ehrenwerte Tugend aufgerufen sehen konnte. Wenn Haimon Kreon nämlich dazu auffor‐ dert, auf andere zu hören, statt anzunehmen, er allein wisse, was falsch und was richtig sei, dann ruft er ihn dazu auf, sich dessen zu befleißigen, was die Griechen als eubulia, zu Deutsch „Wohlberatenheit“, bezeichneten. 303 Denn die Empfehlung, bei der Entscheidungsfindung mit Bedacht zu Werke zu gehen und vor allem die Standpunkte anderer zu berücksichtigen, findet sich bereits bei 185 3.5 Der zweite Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft I <?page no="186"?> 304 Il. 2,360, wo Nestor gegenüber Agamemnon ein entsprechendes Verhalten anmahnt. 305 Derjenige sei der Beste, der alles selbst wisse, der aber der Zweitbeste, der sich beraten lasse (op. 293-297; Haimons Aussage findet sich in den vv. 720-723); vgl. zu diesem Bezug Cropp 1997, 142. 306 Für eine Diskussion der einschlägigen Belege siehe Stevens 1933. 307 Vgl. Flashar 2000, 71; Zimmermann 2005, 56. 308 Hier zeichnet der athenische König Theseus folgendes Bild der ‚Debattenkultur‘ in seiner Stadt: ἔστιν δ’ ἐνισπεῖν τοῖσιν ἀσϑενεστέροις / τὸν εὐτυχοῦντα ταὔϑ’ ὅταν κλύῃ κακῶς, / νικᾷ δ’ ὁ μείων τὸν μέγαν δίκαι’ ἔχων. / τοὐλεύϑερον δ’ ἐκεῖνο· Τίς ϑέλει πόλει / χρηστόν τι βούλευμ’ ἐς μέσον φέρειν ἔχων; / καὶ ταῦϑ’ ὁ χρῄζων λαμπρός ἐσϑ’, ὁ μὴ ϑέλων / σιγᾷ. τί τούτων ἔστ’ ἰσαίτερον πόλει; ([435] Die Schwächeren dürfen gegenüber einem Wohlhabenden die gleiche Sprache benutzen, wenn einer von diesem getadelt worden ist, und es besiegt der Geringere den Großen, wenn er die Gerechtigkeit auf seiner Seite hat. Dies ist der Ruf der Freiheit: „Wer will für die Stadt einen nützlichen Ratschluss zur Diskussion stellen? “ [440] Und wer sich dafür entscheidet, gewinnt Ruhm, der aber nicht will, schweigt. Gibt es größere Gleichheit für eine Stadt als dies? ). 309 Zu eubulia als einer spezifisch demokratischen Tugend siehe auch Hesk 2011. Homer, 304 dann, in einer Formulierung, die in Haimons Rede ohne Frage direkt aufgerufen wird, bei Hesiod, 305 und wurde später zu einem Gemeinplatz. 306 Nun ist oben 3.5.3 aber auch gesagt worden, dass Haimon seine alternative ‚Vernunft‘, seine eubulia, politisch fasst, insofern er Kreon als Herrscher kriti‐ siert: Auf andere zu hören, ist auch und vor allem ein politisches Ideal. Doch für eine Durchsetzung dieses Ideals lässt die im Stück gültige ‚polismenschliche Vernunft‘, wie oben gesehen, keinen Platz, und diese Tatsache hat eine zentrale Konsequenz: Es wird gewissermaßen die Systemfrage gestellt. In der politischen Ordnung, die das Stück präsentiert, sind offenbar die Voraussetzungen für Haimons eubulia nicht gegeben, und diese Tatsache ist, wie oben 3.5.4 gezeigt, durchaus unbefriedigend. Dies wirft die Frage auf, ob es eine andere Ordnung gibt, die eine Lösung, wie sie Haimon vorschlägt, ermöglicht. Diese Frage lässt sich bejahen. Denn Haimon spricht für das Volk und fordert Kreon dazu auf, auf dieses zu hören, während Kreon eine Situation geschaffen hat, in der sich der „einfache Bürger“ nicht zu äußern traut (vgl. vv. 689-691 mit ἀνδρὶ δημότῃ 690). Haimons Alternative besitzt somit deutliche demokratische Anklänge, 307 das persönliche Ideal, das er seinem Vater vor Augen stellt, ist dasjenige eines ‚proto-demokratischen‘ (athenischen) Königs, der isegoria, das Recht aller also, sich gleichberechtigt zu äußern, zulässt und in der Tragödie verschiedentlich begegnet (vgl. z. B. Eur. Suppl. 435-441; 308 ferner allgemein die Verwendung von isegorie für ‚Demokratie‘ in Hdt. 5,78, die auf den fundamentalen Wert dieses Konzepts hinweist). 309 Wenn man nun das Ausmaß bedenkt, in dem die Demokratie für die Bürger Athens identitätskonstituierend war, wird deutlich, dass die Zuschauer hier, 186 3 Die Antigone <?page no="187"?> 310 Vgl. Zeitlin 1990. 311 Sourvinou-Inwood 1989b, 136; zu einfach macht es sich Kierstead (2017, 290-296), der von Anfang an eine Distanzierung annimmt, da das fiktive Theben nicht demokratisch sei. Tatsächlich nämlich ist natürlich keine tragische Polis, sofern es sich nicht um eine zeitgeschichtliche Tragödie handelt, demokratisch, allenfalls finden sich die oben erwähnten ‚proto-demokratischen‘ Könige. 312 In anderer Form und in Ansätzen hatte sich eine solche Distanz bereits im Prolog gezeigt, insofern Sophokles eine Rezeption des Stückes durch die Zuschauer ‚als Bürger‘ problematisierte (siehe oben 3.2.1.2); diese war dann aber, wie oben 3.2.2 dargelegt, mit der Parodos geschwunden. vor der Negativfolie von Haimons quälender Hilflosigkeit angesichts der in der Stückwelt herrschenden normativen Rahmenbedingungen - übrigens gemäß der durchaus häufigen Funktion von Theben als ‚Anti-Athen‘ in der Tragödie 310 -, in ihrer lebensweltlichen Identität als athenische Bürger ange‐ sprochen werden und das positive Potential ihrer spezifischen Lebensform hervorgehoben wird: In Athen wäre eine quälende Hilflosigkeit, wie sie das dritte Epeisodion Haimon, aber auch die Zuschauer erfahren lässt, vermeidbar gewesen, da Kreon auf die Thebaner hätte hören müssen. In der Haimon-Szene kommt es somit, in den Begriffen von Ch. Sourvinou-Inwood, 311 zu einer Distanzierung des fiktiven Theben vom Athen der Zuschauer: Davor war auf die Verschiedenheit der beiden Städte nicht hingewiesen worden, vielmehr wurden die Zuschauer angehalten, ihre lebensweltliche Normalität auf das Stück zu projizieren; jetzt tut sich aber ein Graben auf zwischen der Polis des Dramas und der Polis von dessen Rezipienten. 312 Dabei affirmiert Sophokles aber nicht einfach ein Selbstbild, das die Zu‐ schauer ohnehin schon besaßen, sondern ist durchaus innovativ, man könnte auch sagen, paränetisch. Um dies zu zeigen, ist es unvermeidlich, etwas auszu‐ holen. Zunächst ist daran zu erinnern, dass Haimon seine eubulia hier nicht nur, wie eben erneut hervorgehoben, politisch fasst, sondern damit besonders einer Überwindung der Dichotomie von Emotion und Vernunft das Wort redet, der er sich gegenübersieht: Er versucht, wie oben gesagt, den Emotionen einen Platz im Gefüge der Polis zu sichern. Unter diesem Gesichtspunkt steht sein Ideal in einem komplexen Verhältnis zur Selbstwahrnehmung der impliziten Zuschauer, der Athener, für die Sophokles die Antigone schrieb. Denn dass die Berücksichtigung der Emotion in der Praxis durchaus eine Eigenschaft eines demokratisch verfassten Gemeinwesens ist, liegt auf der Hand: In einer Demokratie ist der Einzelne nicht bloß Teil einer Verfügungs‐ masse, vielmehr kann er - zumindest grundsätzlich - seinen persönlichen Bindungen und Sym-, aber auch Antipathien Beachtung verschaffen, diese po‐ litisch produktiv werden lassen. Auf diese Tatsache weist zum Beispiel einer der 187 3.5 Der zweite Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft I <?page no="188"?> 313 παῖδα δ’ οὔτ’ ἐμὴν κτενῶ / οὔτ’ ἄλλον ἀστῶν τῶν ἐμῶν ἀναγκάσω / ἄκονϑ’· ἑκὼν δὲ τίς κακῶς οὕτω φρονεῖ, / ὅστις τὰ φίλτατ’ ἐκ χερῶν δώσει τέκνα; / […] εἰ δὲ δὴ δράσω τόδε, / οἰκεῖος ἤδη πόλεμος ἐξαρτύεται. / […] οὐ γὰρ τυραννίδ’ ὥστε βαρβάρων ἔχω ([411] Μein Kind werde ich nicht töten und auch keinen meiner Bürger dazu zwingen gegen dessen Willen; wer aber ist freiwillig so von Sinnen, dass er die liebsten Kinder aus der Hand gibt? […] [418] Wenn ich dies aber tue, wird ein Bürgerkrieg ausbrechen. […] [423] Ich besitze nämlich keine Tyrannenherrschaft, wie sie über Barbaren ausgeübt wird). 314 Siehe oben Anm. 232. 315 Siehe Dover 1974, 101 f. (Frauen) und 102-104 (junge Männer); zu den Barbaren Hall (1989, 80 und 121 f.), die zeigt, dass vor der Kontrastfolie unkontrolliert emotionaler Barbaren der „austere and self-disciplined […] character“ hervortrete, den sich die Griechen selbst zuschrieben. 316 Siehe dazu Alexiou 2 2002, 14-23. 317 Loraux (1981, 98-105) spricht von einem prohairesis-artigen Willensakt, „choix du consentement contre l’inclination, du vouloir de raison contre le vouloir d’impulsion“. oben erwähnten ‚proto-demokratischen‘ athenischen Könige hin, Demophon aus den euripideischen Herakliden, wenn er sich, in expliziter Absetzung von einem barbarischen Tyrannen, außerstande zeigt, seine Bürger zu zwingen, ihre Kinder, ihre philoi, zu opfern, also die entsprechende emotionale Bindung zu übergehen (vv. 411-414, 418 f. und 423 mit τὰ φίλτατ’ 414 313 ). Dass ferner in der demokratischen Entscheidungsfindung Emotionen eine große Rolle spielten, ist ebenfalls vielfach bezeugt (und auch nicht anders zu erwarten, wenn man einmal einen modernen Abstimmungskampf verfolgt hat): Es war „Zorn“, der die Athener Perikles mit einer Buße belegen (Thuc. 2,65,3f. mit ἐν ὀργῇ 3) oder die Mytilenäer samt und sonders der Vernichtung überantworten ließ (Thuc. 3,36,1-4 mit ὑπὸ ὀργῆς 2); ebenso war es aber auch eine unmittelbar empfundene Reue, die sie dieses Urteil am Ende wieder aufheben ließ (Thuc. 3,36,4f. mit μεταμέλειά τις εὐϑὺς ἦν καὶ ἀναλογισμὸς 4). Soweit die Praxis; betrachtet man nun aber gewissermaßen die ‚Theorie‘, dann zeigt sich, dass die zeitgenössische politische Ideologie, aber auch die ‚popular morality‘, der Emotion mit Skepsis begegnete: Die Sprachregelung war die ‚polismenschliche Vernunft‘ und die Auffassung von der Gefährlichkeit der Emotion. Dafür kann man neben den Aussagen zur philia von Demosthenes und Lykurg, die oben erwähnt worden sind, 314 auch die Tatsache anführen, dass prononcierte Emotionalität marginalen und dadurch immer auch suspekten Gruppen - namentlich Frauen, Barbaren und jungen Männern - zugeschrieben wurde. 315 Ebenso kann man an die Beschränkungen der Totenklage ab der solonischen Zeit denken 316 oder an den rigiden demokratischen Patriotismus der Gefallenenreden, die das Ideal eines Bürgersoldaten zeichnen, der in einem bewussten Willensakt und fern von jeder Sentimentalität einem ‚schönen Tod‘ entgegengeht. 317 Man kann somit wohl durchaus sagen, dass ein athenischer 188 3 Die Antigone <?page no="189"?> 318 Siehe oben Anm. 315. 319 Siehe Griffith 1999, ad vv. 663-668 für Beispiele. 320 Hierzu findet sich eine interessante Parallele in der modernen Demokratietheorie, wo ebenfalls ‚rationalistische‘ Paradigmen dominieren, sich aber zunehmender Kritik ausgesetzt sehen, die eine Aufwertung der emotionalen Dimension anmahnt (siehe Saam 2017, 755). Bürger, hätte man ihn gefragt, eher stolz auf seine kontrollierte ‚Vernünftigkeit‘, seinen „austere and self-disciplined character“ 318 , gewesen wäre als darauf, dass das von ihm mitgetragene System besonders geeignet ist, Emotionen Rechnung zu tragen. Diese Tatsache erklärt auch, warum sich in Kreons Standpunktrhesis im dritten Epeisodion, wo er, wie oben 3.5.4 gesehen, in den Begriffen der ‚polismenschlichen Vernunft‘ spricht, durchaus Ideologeme finden, die aus dem demokratischen Diskurs bekannt sind, 319 auch wenn seine Praxis, wie oben ebenfalls gesagt, nicht die eines ‚demokratischen Herrschers‘ ist. Die eben dargelegte Skepsis gegenüber der Emotion ist durchaus nicht unbegründet, kann diese ein Gemeinwesen doch in die Irre führen, zum Beispiel zur Bestrafung eines fähigen Staatsmannes oder zu einem grausamen Vernich‐ tungsurteil. Vernunft ist, gerade weil in der Praxis Emotionen in ihr eine so große Rolle spielen, eine unbedingte Voraussetzung für das Funktionieren einer Demokratie - eine Tatsache, die wohl auch am Ursprung der eben referierten Ideologie steht. Eine Demokratie sieht sich also immer der Herausforderung gegenüber, die emotionale Dimension, die nun einmal eine wichtige Triebkraft ist, mit der Notwendigkeit der Vernunft zu versöhnen. Wenn man nun bedenkt, dass die attische Demokratie, zumindest in der Zeit, als die Antigone aufgeführt wurde, eine durchaus erfolgreiche Staatsform war, so liegt die Annahme nahe, dass ihr die Versöhnung der Emotion, die nun einmal da war, mit der Notwen‐ digkeit der Vernunft leidlich gelang. Diese Tatsache hat aber, wie oben gezeigt, kaum ideologischen Niederschlag gefunden, und hier klinkt sich Sophokles gewissermaßen ein: Indem er herausstellt, dass Emotion und Vernunft versöhnt werden können und sollen, suggeriert er, dass der angemessene ideologische Umgang mit der Grundspannung zwischen diesen beiden Größen nicht in einem mehr oder weniger asketischen Rationalismus liegt, sondern eben in dieser Versöhnung, in einer ‚polismenschlichen Vernunft‘ höheren Ordnung, mithin in der von Haimon propagierten eubulia, wie sie die attische Demokratie in der Praxis zu ermöglichen vermochte. 320 Was Sophokles mit der Antigone also tut, ist, die intendierten Rezipienten gewissermaßen bei ihrer ideologischen Normalität zu ergreifen und dann die psychagogischen Mittel, die ihm als Dramatiker zu Gebote stehen, einzusetzen, um sie an ein reichhaltigeres und zugleich 189 3.5 Der zweite Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft I <?page no="190"?> 321 Zu diesem Vorgehen im allgemeinen vgl. Pelling 1997, 219. 322 Zu dieser ‚Botschaft‘ der Mytilene-Debatte vgl. Visvardi (2015, 78-82), die Diodotos allerdings ein bewusstes rhetorisches Agieren zuschreibt; es ist angemessener, den Schwerpunkt auf seine Unzulänglichkeit zu legen, doch dies ist letztlich nicht entschei‐ dend. 323 Siehe Visvardi 2015, 68-70 für eine Deutung des thukydideischen Menschenbildes als Vernunft und Emotion berücksichtigend. Dass das Verhältnis von Emotion und Vernunft jenseits der Komplexitätseinebnungen von ‚popular morality‘ und Ideologie, bei Platon und insbesondere Aristoteles beispielsweise (für Referenzen siehe Goldhill 2000, 36 f. Anm. 9 und 14 sowie 40 Anm. 32), komplexer gesehen wurde - und, wie oben festgestellt, in der Praxis komplexer war! -, sei hier noch einmal betont, um Missverständnisse zu vermeiden. realistischeres Selbstbild heranzuführen 321 und das Potential ihrer Lebensform herauszustellen, die den Zwang der Emotion und den Zwang zur Vernunft in einzigartiger Weise produktiv versöhnen konnte. Mit einer so verstandenen eubulia, doch dies ist nur eine Vermutung, könnte man sogar einem richtiggehenden Konzept aus der Spur sein. Oben ist bereits einmal von der bei Thukydides geschilderten Mytilene-Episode die Rede ge‐ wesen, wo die Athener Mitleid mit den von ihnen zu kollektiver Vernichtung verurteilten Mytilenäerinnen und Mytilenäern empfanden. Interessant - und angesichts des oben zur Ideologie Gesagten bezeichnend - ist nun, dass der Redner Diodotos, der die Sache Mytilenes vertritt, einem skrupulösen Rationa‐ lismus das Wort redet und sich weigert, Emotionen irgendeine Rolle in der Entscheidungsfindung zuzugestehen (3,45). Dabei schadet er seinem Ziel aber mehr, als er ihm nützt. Denn die Entscheidung ist am Ende knapp (3,49,1), obwohl die Reue zu Beginn als eine mehr oder weniger allgemeine geschildert wurde. Diodotos’ Rede hat die Athener auf jeden Fall nicht entscheidend überzeugt, und wenn sie am Ende trotzdem das Richtige tun, dann hat dies wenig mit seiner letztlich hilflosen Argumentation zu tun. Vielmehr führt die Darstellung wieder zum unmittelbar empfundenen Unwohlsein mit dem Vernichtungsurteil zurück, wenn gesagt wird, dass dessen Überbringer langsam zu ihrer „unwillkommenen Aufgabe“, die Boten mit dem revidierten Verdikt aber mit aller Kraft gesegelt seien (3,49,2-4 mit ἐπὶ πρᾶγμα ἀλλόκοτον 4): Am Anfang und am Ende der erfolgreichen Abkehr der Athener von ihrem verkehrten Vorgehen steht ihr unmittelbares Empfinden. Entscheidend ist dabei, dass Diodotos seine Argumentation unter das Schlagwort der eubulia stellt (3,42,1 und 44,1), so dass sich vor der Negativfolie seines Ungenügens durchaus die Botschaft gewinnen lässt, dass wahre politische eubulia eben Emotionen berücksichtige. 322 Die Übereinstimmung zwischen Sophokles und Thukydides ist auf jeden Fall bemerkenswert. 323 190 3 Die Antigone <?page no="191"?> 324 Vgl. Rohdich (1980, 130-136), der feststellt, dass Sophokles Antigones Gesetzesbruch aus dem Text fernhält, während andererseits Kreon seine „politische Repräsentanz“ verliere. Ob Konzept oder nicht, Sophokles auf jeden Fall legt mit dem Leiden an der im fiktiven Theben herrschenden ‚polismenschlichen Vernunft‘ die Grundlage für die eminent positive, affirmativ-paränetische ‚Botschaft‘, dass Emotion und Vernunft versöhnt werden können und sollen, wenn die systemischen Voraus‐ setzungen dafür gegeben sind. Auf diese Weise also, um den Kreis zu schließen, ergibt sich vor der Negativfolie des Leidens an der Vernunft die Anlage zu einer positiven ‚Botschaft‘, welche die Zuschauer in ihrer lebensweltlichen Identität als Bürger der attischen Demokratie anspricht. Dass es sich dabei um eine Anlage handelt, ist wichtig, die eben ausgeführten Sachverhalte hängen während der bis jetzt besprochenen Partie des dritten Epeisodions gewissermaßen noch in der Luft; diese sozusagen auf den Boden zu bringen, leistet der Rest des Stückes, und zwar, indem Sophokles zeigt, dass die eben besprochene eubulia in Theben tatsächlich nicht möglich ist; an diese Erkenntnis führt er heran durch die Rhetorik der Involvierung, indem er wiederholt die Hoffnung auf eine einfache Lösung in diesem Sinne weckt, diese dann aber zerschlägt und die Zuschauer zurückführt zur quälenden Spannung zwischen Emotion und Vernunft. Zum ersten Mal zeigt sich dieser Ablauf im weiteren Verlauf der Konfliktstichomythie zwischen Haimon und Kreon. 3.5.6 Die doch nicht überwundene Spannung Es wäre Kreon nämlich ein Leichtes gewesen, auf seiner bisherigen, oben 3.5.2 ausgeführten Position zu bleiben und Haimon (und die Zuschauer) so weiterhin zur quälenden Sprachlosigkeit zu verurteilen, wie sie hier besprochen worden ist. Entscheidend ist indes, dass Sophokles ihn dies nicht tun lässt, sondern der König mit keinem Wort auf Antigones Verstoß gegen die Ordnung zurückkommt und den Wert der ‚Vernunft‘ auch nicht mehr allgemein affirmiert wie noch in seiner Standpunktrhesis, sondern in zunehmend empörenden Begriffen einen von allen Überlegungen zum Wert ‚vernünftigen‘ Gehorsams freien Anspruch auf nackte autokratische Herrschaft erhebt (vv. 734-749): 324 . πόλις γὰρ ἡμῖν ἁμὲ χρὴ τάσσειν ἐρεῖ; Α . ὁρᾷς τόδ’ ὡς εἴρηκας ὡς ἄγαν νεός; 735 . ἄλλῳ γὰρ ἢ ’μοὶ χρή με τῆσδ’ ἄρχειν χϑονός; Α . πόλις γὰρ οὐκ ἔσϑ’ ἥτις ἀνδρός ἐσϑ’ ἑνός. . οὐ τοῦ κρατοῦντος ἡ πόλις νομίζεται; 191 3.5 Der zweite Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft I <?page no="192"?> 325 Zu Kreons tyrannischem Charakter in dieser Szene vgl. z. B. Bowra 1944, 74 f.; Funke 1966, 43-45; Knox 1966, 108; Podlecki 1966, 363 f.; Ronnet 1969, 89; Blundell 1989, 126 f.; Flashar 2000, 71; Sommerstein 2017, 283f. Α . καλῶς ἐρήμης γ’ ἂν σὺ γῆς ἄρχοις μόνος. . ὅδ’, ὡς ἔοικε, τῇ γυναικὶ συμμαχεῖ. 740 Α . εἴπερ γυνὴ σύ· σοῦ γὰρ οὖν προκήδομαι. . ὦ παγκάκιστε, διὰ δίκης ἰὼν πατρί; Α . οὐ γὰρ δίκαιά σ’ ἐξαμαρτάνονϑ’ ὁρῶ. . ἁμαρτάνω γὰρ τὰς ἐμὰς ἀρχὰς σέβων; Α . οὐ γὰρ σέβεις, τιμάς γε τὰς ϑεῶν πατῶν. 745 . ὦ μιαρὸν ἦϑος καὶ γυναικὸς ὕστερον. Α . οὔ τἂν ἕλοις ἥσσω γε τῶν αἰσχρῶν ἐμέ. . ὁ γοῦν λόγος σοι πᾶς ὑπὲρ κείνης ὅδε. Α . καὶ σοῦ γε κἀμοῦ, καὶ ϑεῶν τῶν νερτέρων. r. Soll die Polis mir sagen, was ich zu befehlen habe? [735] ai. Siehst Du, wie Du dies wie ein allzu junger Mann gesprochen hast? r. Soll denn ein anderer als ich über dieses Land herrschen? ai. Es gibt doch keine Polis, die das Eigentum eines Einzelnen ist. r. Gehört die Polis denn nicht demjenigen, der herrscht? ai. Schön würdest Du allein über eine Wüste herrschen! [740] r. Dieser, so scheint’s, kämpft für die Frau. ai. Wenn Du eine Frau bist! Um Dich nämlich sorg ich mich! r. O Du Elender, indem Du mit Deinem Vater rechtest? ai. Ich sehe doch, dass Du Dich gegen das vergehst, was gerecht ist. r. Vergehe ich mich etwa, indem ich meine Herrschaft achte? [745] ai. Du zeigst eben keine Achtung, wenn Du die Ehren der Götter mit Füßen trittst! r. O Du verkommener Charakter, wertloser als der einer Frau! ai. Du wirst mich nicht besiegen durch Schändlichkeiten! r. Diese ganze Rede hier von Dir ist gesprochen für diese! ai. Und für Dich und für mich und für die unteren Götter! Sophokles befreit Haimon also aus der quälenden Situation, in der er sich zu Beginn der Stichomythie noch befand, indem er ihn nicht mehr mit pièces de résistance - dem Wert der ‚vernünftigen‘ Ordnung und insbesondere der Tatsache von Antigones Gesetzesverstoß - konfrontiert, die er bloß letztlich hilflos zu umgehen versuchen kann, nicht aber aus dem Weg zu räumen vermag. Diese Befreiung erfahren zusammen mit ihm auch die Zuschauer, die Kreon zusammen mit Haimon endlich ohne Einschränkungen zurückweisen können, wenn dieser den tyrannischen, besonders gegen die göttliche Ordnung verstoßenden Charakter des Handelns seines Vaters kritisiert (vv. 735-745): 325 Die davor greifbare Spannung scheint überwunden, die Zuschauer werden unproblematisch für Haimons Kampf gegen seinen Vater engagiert, wobei sich 192 3 Die Antigone <?page no="193"?> diese Situation, ins Positive gewendet, auch als ein Triumph der eubulia des Haimon deuten lässt. Und tatsächlich affirmiert er in der Stichomythie seine Alternative, wenn er in v. 749 einer universalen, die Interessen aller Beteiligten (Kreons, Haimons, Antigones, der Götter, man kann ergänzen: der Thebaner) aufnehmenden Interessengemeinschaft das Wort redet, wobei er auch bestätigt, was bereits festgestellt worden ist: Er hat ein Interesse an Antigone, das er in diese allgemeine Interessengemeinschaft einbringen möchte (beachte, dass der v. 749 eine Relativierung von Haimons noch in v. 741 erhobenem Anspruch enthält, er interessiere sich für seinen Vater - und nicht für Antigone). Dabei können die Zuschauer Kreon mit Haimon nicht nur zurückweisen, sie können ihn mit ihm hassen; dies ermöglicht der weitere Verlauf der Konfliktstichomy‐ thie (vv. 750 f. und 758-765): . ταύτην ποτ’ οὐκ ἔσϑ’ ὡς ἔτι ζῶσαν γαμεῖς. 750 Α . ἥδ’ οὖν ϑανεῖται καὶ ϑανοῦσ’ ὀλεῖ τινα. […] . ἄληϑες; ἀλλ’ οὐ, τόνδ’ Ὄλυμπον, ἴσϑ’ ὅτι, χαίρων ἔτι ψόγοισι δεννάσεις ἐμέ. ἄγετε τὸ μῖσος, ὡς κατ’ ὄμματ’ αὐτίκα 760 παρόντι ϑνῄσκῃ πλησία τῷ νυμφίῳ Α . οὐ δῆτ’ ἔμοιγε, τοῦτο μὴ δόξῃς ποτέ, οὔϑ’ ἥδ’ ὀλεῖται πλησία, σύ τ’ οὐδαμὰ τοὐμὸν προσόψῃ κρᾶτ’ ἐν ὀφϑαλμοῖς ὁρῶν, ὡς τοῖς ϑέλουσι τῶν φίλων μαίνῃ ξυνών. 765 [750] r. Diese wirst Du unmöglich noch lebendig heiraten! ai. Dann wird sie, wenn sie stirbt, noch einen anderen mit sich in den Tod reißen! […] r. Wirklich? Wisse, beim Olymp, dass Du mich nicht mehr zu Deinem Vorteil mit Tadel überziehen wirst! [760] Bringt die verhasste Kreatur herbei, damit sie vor den Augen des Bräutigams sterbe, ganz in dessen Nähe! ai. Nicht in meiner Nähe, glaub das nicht, wird sie sterben, und Du wirst mein Gesicht nicht mehr mit den Augen sehen, [765] damit Du gegen die von den Freunden rasen kannst, die so etwas mit sich machen lassen! Nachdem nämlich Kreon Haimon grausam angesagt hat, dieser werde Antigone „nicht lebendig“ heiraten, und angekündigt hat, sie vor seinen Augen hinrichten zu lassen, verliert dieser seine Contenance, kündigt seinem Vater die Gemein‐ schaft auf, indem er ihm mit Tötung oder Suizid droht, und geht etwas später zornig ab. Haimon gewichtet also, nachdem es ihm nicht gelungen ist, für seine Bindung an Antigone einen Platz in der Polisordnung zu sichern, die Hingabe 193 3.5 Der zweite Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft I <?page no="194"?> 326 Vgl. Winnington-Ingram (1980, 94), der darauf hinweist, dass es Antigones Behandlung - und nicht Kreons Tyrannei - ist, die Haimon am Ende die Contenance verlieren lässt, sowie Else 1976, 50-52 zu Haimons „wahnsinniger Liebe“, die sich am Ende des Austausches zeige (zum darin liegenden ‚Wahnsinn‘ siehe unten 3.5.7). 327 Siehe oben Anm. 315. an sie höher als den Gehorsam gegenüber seinem Vater: 326 eine Reaktion, geprägt von ‚gerechtem Zorn‘, die angesichts der durch nichts gemilderten Widerwärtigkeit des Kreon voll und ganz nachvollziehbar ist. Doch diese unproblematische Identifikation mit Haimon bleibt nicht das letzte Wort. Sophokles hätte die eben beschriebene emotionale Dynamik näm‐ lich unwidersprochen stehenlassen können. Dies hat er aber nicht getan. Stattdessen kehrt unmittelbar nach Haimons Abgang eine ihr entgegenstehende ‚Vernunft‘ ins Stück zurück (vv. 766-768): . ἁνήρ, ἄναξ, βέβηκεν ἐξ ὀργῆς ταχύς· 766 νοῦς δ’ ἐστὶ τηλικοῦτος ἀλγήσας βαρύς. . δράτω, φρονείτω μεῖζον ἢ κατ’ ἄνδρ’ ἰών [766] r Der Mann, Herr, ist schnell gegangen aus Zorn; in diesem Alter ist der Sinn unversöhnlich, wenn er Leid erfahren hat. r. Lasst ihn machen, lasst ihn mehr als Menschengemäßes denken, wenn er weggeht Die Feststellung des Chors ist nämlich nicht so unschuldig, wie man vielleicht denken könnte, denn die in der Antike sprichwörtliche Neigung junger Männer zu besonderer Emotionalität war keine moralisch neutrale Feststellung, sondern wurde in der ‚popular morality‘ negativ gesehen: Junge Männer neigen dazu, es am positiv besetzten Wert der Besonnenheit, man kann auch sagen, der Vernunft, fehlen zu lassen. 327 Entscheidend ist nun, dass diese Auffassung einige Verse zuvor im Text selbst aktiviert worden ist, wo Haimon die tyrannischen Äußerungen seines Vaters damit kommentierte, dass er „allzu sehr“ spreche „wie ein junger Mann“ (v. 735). Kurzum, die Bemerkung des Chores erschließt die Problematik, die bei aller unmittelbaren emotionalen Nachvollziehbarkeit in Haimons Verhalten liegt, mit dem er seine Hingabe an Antigone über den Gehorsam gegenüber seinem Vater privilegiert und sich so aus der Gemein‐ schaft entfernt, exemplifiziert durch seine Tötungs- oder Suiziddrohung: Die ‚polismenschliche Vernunft‘ kehrt ins Stück zurück und wirkt einer uneinge‐ schränkten Privilegierung von Haimons Perspektive entgegen, zu welcher der Agon davor eingeladen hatte; da diese Reaktion jedoch emotional durch und durch nachvollziehbar bleibt, tritt die Vernunft erneut in eine quälende Spannung zur Emotion. Die Situation ist auch deswegen besonders quälend, da 194 3 Die Antigone <?page no="195"?> unmittelbar nach der eben referierten Feststellung des Chors auch Kreon grob Haimons „mehr als menschliche Gedanken“ feststellt - eine Feststellung, in der man ihm nach dem Chorkommentar bei aller Widerwärtigkeit des Feststel‐ lenden nur schwer widersprechen kann. Haimon mag also dem Leiden an der Vernunft entflohen sein, indem er sich gewaltsam für die emotionale Nähe zu Antigone entschieden hat, doch Sophokles hält die impliziten Zuschauer davon ab, selbst zu dieser einfachen Lösung Zuflucht zu nehmen, zu der Haimon selbst in seiner Standpunktrhesis und zu Beginn der Stichomythie noch keine Zuflucht hatte nehmen wollen, und führt sie zurück zum Leiden an der Vernunft. Nun mag diese Deutung, basierend auf einem kurzen Chorkommentar, als allzu sehr zwischen den Zeilen gelesen erscheinen, und tatsächlich gilt, dass So‐ phokles auch hier, wie bereits beim zweiten Auftritt der Ismene, gewissermaßen sichergegangen ist, indem er dem Austausch erneut ein Chorlied nachgestellt hat, das den Wert der Vernunft sowie hier besonders die Gefährlichkeit der Emotion und die Problematik von Haimons Reaktion autoritativ affirmiert. 3.5.7 Die Reaffirmation der Vernunft im dritten Stasimon Ähnlich wie das zweite Stasimon eine Elaboration der vom Chor getroffenen Feststellung von Antigones ererbter ‚Torheit‘ (vv. 381-383 und 471 f.) gewesen war, lässt sich das dritte, das ‚Lied vom Eros‘, als Entwicklung einer im vorangegangenen Epeisodion gemachten Feststellung des Chors deuten, und zwar der Bemerkung in den eben besprochenen vv. 766 f., wo er mit kritischer Distanz auf Haimons Abgang reagiert hatte, nachdem dieser seine Hingabe an Antigone auf Kosten des Gehorsams gegenüber seinem Vater privilegiert hatte. Die verderbliche Wirkung der Leidenschaft, des eros, ist nämlich das zentrale Thema des Liedes. Dabei fasst der Chor dieses fast ausschließlich in sexuellen Begriffen (vv. 781, 783 f. und 787-798): Ἔρως, […] 781 ὃς ἐν μαλακαῖς παρειαῖς 783 νεάνιδος ἐννυχεύεις, […] σ’ οὔτ’ ἀϑανάτων φύξιμος οὐδεὶς οὔϑ’ ἁμερίων σέ γ’ ἀνϑρώπων, ὁ δ’ ἔχων μέμηνεν. 790 σὺ καὶ δικαίων ἀδίκους φρένας παρασπᾷς ἐπὶ λώβᾳ· σὺ καὶ τόδε νεῖκος ἀνδρῶν ξύναιμον ἔχεις ταράξας· 195 3.5 Der zweite Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft I <?page no="196"?> 328 Vgl. zum Bezug auch auf Kreon z. B. Oudemans/ Lardinois 1987, 144; Griffith 1999, ad vv. 791-793 und v. a. Kitzinger 2008, 46: „Though Haemon’s sexual passion may be one aspect of Eros’ power in the last scene, the chorus sees the god’s presence also in Creon’s attitude towards his own power and in the struggle over whose words carry authority.“ νικᾷ δ’ ἐναργὴς βλεφάρων 795 ἵμερος εὐλέκτρου νύμφας [781] Eros, […] [783] der Du auf weichen Mädchenwangen die Nacht verbringst, […] Dir kann keiner der Unsterblichen entkommen und auch keiner der sterblichen Men- [790] schen, und wer Dich hat, ist der Raserei verfallen. Du aber reißt hin zur Ungerechtigkeit gerechter Menschen Sinn und machst diese zuschanden; Du hast auch diesen Streit der Männer, einen Streit unter Blutsverwandten, in Gang gesetzt; [795] es siegt aber der sinnliche Reiz, der von den Augen einer liebesbereiten jungen Frau ausgeht Auf diese Weise ist ein Bezug auf Haimon, auch ohne explizite Namensnennung, mit Händen zu greifen, und diese Bezugnahme ist durchaus kritisch, wenn der Chor singt, wie die Leidenschaft die Menschen in den „Wahnsinn“ treibe und von der Gerechtigkeit zur Ungerechtigkeit entarten lasse: Die Problematik der Privilegierung von Haimons Hingabe an Antigone wird in aller Deutlichkeit ausgesprochen. Zuschauer, die diese im dritten Epeisodion aus lauter emotio‐ naler Sympathie mit Haimon und aus lauter Abscheu gegenüber Kreon ignoriert haben sollten, werden hier, ähnlich wie im zweiten Stasimon, entschieden an den „Wahnsinn“ erinnert, das heißt, an den Verstoß gegen die ‚Vernunft‘, der in Haimons Verhalten liegt. Dabei affirmiert das dritte Stasimon aber nicht nur die Problematik des Haimon, sondern auch diejenige des Kreon, erinnert also an die Tatsache, dass auch er gegen den Wert der Vernunft verstößt. Der Chor formuliert im dritten Stasimon weniger allgemein als im zweiten und vor allem im ersten, sondern verengt die problematische Leidenschaft, wie gesagt, fast durchgehend auf die sexuelle Spielart. Dies wird aber ausbalanciert, indem sich hier - im Unterschied zu den vorangegangenen Stasima - ein expliziter Bezug auch auf Kreon findet, und zwar dort, wo der Chor singt, die Leidenschaft stehe am Ursprung „dieses Streits der Männer“, also auch Kreon von dieser irregeleitet sieht (vv. 793 f.). 328 Dies trifft natürlich vollkommen zu, war das Leiden an der Vernunft im dritten Epeisodion doch, wie oben 3.5.4 gezeigt, wesentlich dadurch bedingt, dass Kreons Problematik durchgehend mit Händen zu greifen 196 3 Die Antigone <?page no="197"?> 329 Zur leidenschaftsgesteuerten Natur von Kreons Verhalten allgemein vgl. Blundell 1989, 130-132. 330 Zur Möglichkeit, die Aussagen des dritten Stasimons indirekt auch auf Antigone zu beziehen, siehe Mc Devitt/ Clayton 1990, 33. war, man aber, soweit sich sein Agieren gegen Haimon und Antigone richtete, dagegen machtlos war. Dabei ist es besonders angemessen, diese Problematik als leidenschaftsgeleitet zu verstehen: Kreon stellt sich auf den Standpunkt, er allein wisse, was falsch und was richtig sei, und entsprechend muss er jede Kritik und jede Anfechtung als persönlichen Angriff wahrnehmen und darauf mit Zorn reagieren, wie er ihn gegenüber dem Wächter zeigt, dann gegenüber Ismene, wenn er diese zum Tode verurteilt, und zuletzt und besonders deutlich im Umgang mit Haimon. 329 Der Chor affirmiert also die Gefahr der Leidenschaft und damit den Wert der Vernunft, gegen den Haimon und Kreon gleichermaßen verstoßen haben. Das Verhältnis der Gleichheit, in dem Antigone und Kreon davor zueinander standen, 330 wird auf Haimon ausgedehnt. Doch der Chor blickt nicht nur zurück, unmittelbar nach dem Ende seines Liedes, im anapästischen Übergang zum vierten Epeisodion, wo Antigone die Bühne betritt, wird die Aufmerksamkeit aufs Kommende gewendet (vv. 801-805): νῦν δ’ ἤδη ’γὼ καὐτὸς ϑεσμῶν ἔξω φέρομαι τάδ’ ὁρῶν, ἴσχειν δ’ οὐκέτι πηγὰς δύναμαι δακρύων, τὸν παγκοίτην ὅϑ’ ὁρῶ ϑάλαμον τήνδ’ Ἀντιγόνην ἀνύτουσαν. 805 Jetzt aber werde ich selbst aus der Bahn des Zulässigen geworfen, wenn ich dies sehe, und kann den Quellen meiner Tränen nicht mehr Einhalt gebieten, wenn ich sehe, wie zum Brautgemach, in dem alle zur Ruhe kommen, [805] Antigone hier schreitet. Antigone löst also offenbar beim Chor eine heftige emotionale Reaktion aus, die jedoch unstatthaft ist, ihn - ergänze angesichts von καὐτὸς 801: wie Haimon und Kreon - „aus der Bahn des Zulässigen wirft“. Auf diese Weise erhalten die Aussagen zur Gefahr der Leidenschaft, die der Chor davor getätigt hat, eine direkte Relevanz für die Zuschauer: Auch diese müssen sich davor hüten, sich der emotionalen Dynamik des Stücks ungebremst hinzugeben. Denn selbst wenn Antigones Auftritt Emotionen zu ihren Gunsten wecken sollte, so wird man deswegen den Boden der ‚Vernunft‘ nicht verlassen, also namentlich die Tatsache vergessen dürfen, dass sie sich nun einmal vergangen hat und die Folgen tragen muss. Denkt man nun an Antigones Auftreten zurück und vergleicht es mit demjenigen des Haimon, so erschließt sich die 197 3.5 Der zweite Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft I <?page no="198"?> Notwendigkeit einer solchen Mahnung im externen Kommunikationssystem nicht direkt. Denn Antigone war, im Unterschied zu ihrem Verlobten, alles andere als eine unproblematische Figur. Ihre Gleichheit mit Kreon festzustellen, bedurfte keiner gewaltsamen Entkopplung von Emotion und Vernunft, ihre Problematik konnte man im dritten Epeisodion nur darum - und selbst dort, wie oben 3.5.4 gezeigt, nur fast - vergessen, da sie mit Haimon einen emotional so sympathischen Fürsprecher hatte. Dies könnte sich nun, wo sie selbst wieder erscheint, durchaus ändern. 3.6 Der dritte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft II Tatsächlich aber geschieht das Unerwartete: Sophokles entkoppelt im Anschluss an das dritte Stasimon auch in der Kontrastierung von Antigones und Kreons Perspektiven Emotion und Vernunft, macht die ‚vernünftige‘ Feststellung ihrer Schuld quälend und schärft so das durch das dritte Epeisodion bereits suggerierte ‚Leiden an der Vernunft‘ weiter ein. Diesem Ziel dient dann auch der Rest des Stückes im Anschluss an Antigones Abgang, der vierte Handlungsbogen, wobei dort erneut das bekannte Vorgehen erscheint. Denn die davor eingeschärfte Spannung scheint zunächst plötzlich überwindbar, und zwar in zwei Schritten: Zunächst richtet sich das Engagement, nachdem Antigone abgegangen ist, auf die Bestrafung des Kreon, die nun, wenn alles seine Richtigkeit hat, bevorstehen sollte und im Wunsch nach welcher Emotion und Vernunft gewissermaßen am selben Strick ziehen; in einem zweiten Schritt weckt Sophokles dann sogar die Hoffnung auf eine vollkommen befriedigende Lösung, indem er Kreon seine Meinung ändern und versuchen lässt, die Katastrophe zu verhindern. Diese Hoffnung auf ein Happy-End enttäuscht der Dichter dann aber, da die Katastrophe eintritt und die Darstellung zur Spannung zwischen Emotion und Vernunft zurückkehrt, die nun endgültig unüberwindbar erscheint. 3.6.1 Antigones Verwandlung Im Auftritt des Haimon war für die Entkopplung von Emotion und Vernunft entscheidend gewesen, dass Haimon, anders als Antigone im Verhältnis zu ihren toten philoi, die emotionale Nähe zu Antigone nicht hochmütig und radikal gegenüber der Gemeinschaft privilegiert hatte, sondern einen Ausgleich zwischen diesen beiden Ansprüchen gesucht hatte - ein Bestreben, das indes zum Scheitern verurteilt war, da er über das Faktum von Antigones Ordnungs‐ 198 3 Die Antigone <?page no="199"?> 331 Zu dieser Verwandlung vgl. Rohdich 1980, 145-168. verstoß nicht hinweggehen konnte. Einen solchen Ausgleich zwischen den Ansprüchen der Gemeinschaft und der emotionalen Bindung an ihre philoi strebt nun im vierten Epeisodion auch Antigone plötzlich an, wenn sie erscheint, um zu ihrer lebendigen Einmauerung weggeführt zu werden, zu der Kreon sein Steinigungsurteil am Ende des dritten Epeisodions umgewandelt hatte. Kurzum, sie erscheint gegenüber ihrem früheren Selbst verwandelt. 331 Denn Antigone leidet jetzt plötzlich an ihrem Schicksal und beklagt dieses (vv. 806-826 und 832-852): A . ὁρᾶτέ μ’, ὦ γᾶς πατρίας πολῖται, τὰν νεάταν ὁδὸν στείχουσαν, νέατον δὲ φέγγος λεύσσουσαν ἀελίου, κοὔποτ’ αὖϑις· ἀλλά μ’ ὁ παγ- 810 κοίτας Ἅιδας ζῶσαν ἄγει τὰν Ἀχέροντος ἀκτάν, οὔϑ’ ὑμεναίων ἔγκληρον, οὔτ’ ἐπὶ νυμφείοις πώ μέ τις ὕμνος ὕ- 815 μνησεν, ἀλλ’ Ἀχέροντι νυμφεύσω. . οὔκουν κλεινὴ καὶ ἔπαινον ἔχουσ’ ἐς τόδ’ ἀπέρχῃ κεῦϑος νεκύων; οὔτε φϑινάσιν πληγεῖσα νόσοις οὔτε ξιφέων ἐπίχειρα λαχοῦσ’, 820 ἀλλ’ αὐτόνομος ζῶσα μόνη δὴ ϑνητῶν Ἀίδην καταβήσῃ. A . ἤκουσα δὴ λυγρότατον ὀλέσϑαι τὰν Φρυγίαν ξέναν Ταντάλου Σιπύλῳ πρὸς ἄ- 825 κρῳ, […] ᾇ με δαίμων ὁμοιοτάταν κατευνάζει. . ἀλλὰ ϑεός τοι καὶ ϑεογεννής, ἡμεῖς δὲ βροτοὶ καὶ ϑνητογενεῖς. 835 καίτοι φϑιμένῃ μέγα κἀκοῦσαι 199 3.6 Der dritte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft II <?page no="200"?> τοῖς ἰσοϑέοις σύγκληρα λαχεῖν ζῶσαν καὶ ἔπειτα ϑανοῦσαν. A . οἴμοι γελῶμαι. τί με, πρὸς ϑεῶν πατρῴων, οὐκ οἰχομέναν ὑβρίζεις, 840 ἀλλ’ ἐπίφαντον; ὦ πόλις, ὦ πόλεως πολυκτήμονες ἄνδρες· ἰὼ Διρκαῖαι κρῆναι Θήβας τ’ εὐαρμάτου ἄλσος, ἔμ- 845 πας ξυμμάρτυρας ὔμμ’ ἐπικτῶμαι, οἵα φίλων ἄκλαυτος, οἵοις νόμοις πρὸς ἕρμα τυμβόχωστον ἔρχομαι τάφου ποταινίου· ἰὼ δύστανος, βροτοῖς 850 οὔτε ‹νεκρὸς› νεκροῖσιν μέτοικος, οὐ ζῶσιν, οὐ ϑανοῦσιν. An . Schaut mich an, o Bürger der väterlichen Erde, wie ich den letzten Weg gehe, wie ich das letzte Mal Sonnenlicht sehe, [810] und dann nie wieder; denn vielmehr führt mich der, der Schlaf auf alle kommen lässt, der Hades, lebendig zum Ufer des Acheron, unteilhaftig der Hochzeit, und bei meiner Hei- [815] rat ist kein Lied gesungen worden, vielmehr werde ich den Acheron heiraten. r Gehst Du nicht berühmt und ruhmvoll ein in diese Höhle der Toten? Nicht bist Du geschlagen von auszehrenden Krankheiten [820] oder hast den Schwertern ihren Preis bezahlt, vielmehr als Einzige der Sterblichen lebendig nach Deinem eigenen Willen steigst Du hinab in den Hades. An . Ich habe gehört, dass auf elendeste Weise zugrunde ging die phrygische Fremde, [825] die Tochter des Tantalos, im hohen Sipylos; […] dieser äußerst ähnlich lässt mich ein Gott entschlafen. r Aber diese war eine Göttin und Kind von Göttern, [835] wir aber sind sterblich und Kinder von Sterblichen; dennoch ist es eine ruhmvolle Sache, wenn man, gestorben, ein Schicksal erlost hat, das wie das von Gottgleichen ist, im Leben wie im Tod. An . Oh weh, ich werde verlacht! Warum, bei den Göttern der Väter, verhöhnst Du mich, [840] wenn ich noch nicht einmal gegangen bin, sondern noch vor Deinen Augen stehe? O Polis, o der Polis wohlhabende Männer! Io, dirkäische Quellen und The- [845] bens, des wagenreichen, Hain, Euch wenigstens habe ich zu Zeugen, wie ohne Freundesklage und nach welchen Gesetzen ich zum aufgehäuften Hügel meines ungewöhnlichen Grabes gehe! [850] Io ich Unglückliche, die ich nicht 200 3 Die Antigone <?page no="201"?> 332 Vgl. Rohdich 1980, 150 f.; diese kommunikative Dynamik ist ein deutliches Beispiel für die oben 1.5.1 vorgenommene Feststellung, dass sich tragische Akteure an dem orientieren, was sie über das ‚Innenleben‘ ihrer Gesprächspartner zu wissen glauben, für die Verfügbarkeit intentionaler Denkmuster; entsprechend greift auch eine Deutung wie die von Neuburg (1990) zu kurz, der die vorliegende Szene auf der Basis interpretiert, dass es methodisch verfehlt sei, die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität zu stellen: Man kommt nicht darum herum, hier eine Verwandlung der Antigone festzu‐ stellen (siehe auch Schmitt 1988, 14). mit Sterblichen und auch nicht als Tote mit den Toten wohne, nicht mit Lebenden und nicht mit Toten! Die Verwandlung, die Antigone offensichtlich erfahren hat, zeigt sich besonders deutlich in ihrer Interaktion mit dem Chor. Dieser versucht nämlich, Antigone zu trösten, indem er sie auf den einzigartigen, heroischen Charakter ihres Todes hinweist (vv. 817-822 und 836-838). Der Wunsch nach einem ‚schönen Tod‘ hatte Antigone nun davor immer geleitet, und diesen Anspruch ratifiziert der Chor hier. 332 Entscheidend ist aber, dass sich Antigone dadurch nicht geschmei‐ chelt und bestätigt sieht, sondern im Gegenteil „verlacht“ (v. 839). Antigone leidet also jetzt an genau dem Schicksal, das ihr früher nicht schnell genug hatte kommen können. Diese veränderte Reaktion auf ihre Situation geht einher mit einem veränderten Verhältnis zur polisgebundenen Normalität. Hatte sie dieser davor jede Relevanz für sich selbst abgesprochen, leidet sie nun darunter, die Polis zurücklassen zu müssen (beachte die Rede von Theben als „väterlicher Erde“ in v. 806 sowie die pathoserfüllte Apostrophe in den vv. 842-845) und kein normales Leben, versinnbildlicht durch Heirat und Mutterschaft, führen zu können. 3.6.2 Die Hilflosigkeit der Antigone Dabei zeigt sich Antigone aber in einer Hinsicht nicht verwandelt: Sie hält nach wie vor an der Richtigkeit ihrer Tat fest, zu der sie die Hingabe an ihre philoi veranlasst hat. Besonders deutlich zeigt sich dies in der langen Rhesis, zu der sie im Anschluss an ihren Kommos mit dem Chor ansetzt (vv. 897-915): ἐλϑοῦσα μέντοι κάρτ’ ἐν ἐλπίσιν τρέφω φίλη μὲν ἥξειν πατρί, προσφιλὴς δὲ σοί, μῆτερ, φίλη δὲ σοί, κασίγνητον κάρα. ἐπεὶ ϑανόντας αὐτόχειρ ὑμᾶς ἐγὼ 900 ἔλουσα κἀκόσμησα κἀπιτυμβίους χοὰς ἔδωκα· νῦν δέ, Πολύνεικες, τὸ σὸν 201 3.6 Der dritte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft II <?page no="202"?> 333 Siehe zu Anm. 264 oben und vgl. erneut Blundell 1989, 114. δέμας περιστέλλουσα τοιάδ’ ἄρνυμαι. καίτοι σ’ ἐγὼ ’τίμησα τοῖς φρονοῦσιν εὖ. οὐ γάρ ποτ’ οὔτ’ ἄν, εἰ τέκν’ ὧν μήτηρ ἔφυν 905 οὔτ’ εἰ πόσις μοι κατϑανὼν ἐτήκετο, βίᾳ πολιτῶν τόνδ’ ἂν ᾐρόμην πόνον. τίνος νόμου δὴ ταῦτα πρὸς χάριν λέγω; πόσις μὲν ἄν μοι κατϑανόντος ἄλλος ἦν, καὶ παῖς ἀπ’ ἄλλου φωτός, εἰ τοῦδ’ ἤμπλακον, 910 μητρὸς δ’ ἐν Ἅιδου καὶ πατρὸς κεκευϑότοιν οὐκ ἔστ’ ἀδελφὸς ὅστις ἂν βλάστοι ποτέ. τοιῷδε μέντοι σ’ ἐκπροτιμήσασ’ ἐγὼ νόμῳ, Κρέοντι ταῦτ’ ἔδοξ’ ἁμαρτάνειν καὶ δεινὰ τολμᾶν, ὦ κασίγνητον κάρα. 915 Ich hoffe sehr, dass ich, wenn ich komme, meinem Vater lieb und Dir lieb sein werde, Mutter, und lieb Dir, Haupt des Bruders. [900] Denn als Ihr gestorben wart, habe ich mit eigener Hand Euch gewaschen, hergerichtet und die Grab-Trankopfer vorgenommen; jetzt aber, Polyneikes, wo ich Deinen Leib begraben habe, erhalte ich dies. Trotzdem verstehen vernünftige Leute, dass ich Dir einen Dienst erwiesen habe. [905] Niemals nämlich, wenn Kinder, die ich geboren hätte, oder wenn ein Gatte mir gestorben wäre, hätte ich, mit Gewalt gegen den Willen der Bürger handelnd, diese Aufgabe auf mich genommen. Aufgrund welchen Grundsatzes sage ich dies? Wäre mir ein Gatte gestorben, hätte ich einen anderen gefunden, [910] und ein Kind hätte ich bekommen können von einem anderen Mann, wenn ich eines verloren hätte; aber jetzt, wo Mutter und Vater im Hades sind, ist es nicht möglich, dass ich erneut einen Bruder bekomme. Nach diesem Grundsatz habe ich Dir besondere Ehre erwiesen, Kreon aber dachte, ich hätte mich dadurch vergangen [915] und Furchtbares gewagt, o brüderliches Haupt. Antigones Bruch des Bestattungsverbots ist, wie davor, ein Produkt der Hingabe an ihre philoi; dieser emotionale Charakter ihrer Motivation wird deutlich, wenn man bedenkt, dass sie dafür, wie davor, keinen fixierten normativen Rahmen namhaft machen kann, sondern von ihrer ganz persönlichen, idiosynkratischen Überzeugung geleitet ist. Im zweiten Epeisodion hatte namentlich die Frageform des v. 521 diesen Sachverhalt deutlich gemacht, hier tut dies ihre Rede von der „Hoffnung“ in den vv. 897-899. 333 Der entscheidende Unterschied zur ‚alten‘ Antigone liegt nun aber darin, dass sie für ihre Tat nunmehr einen Platz in der ‚vernünftigen‘ Polisordnung sucht, als deren Vertreter sie den Chor 202 3 Die Antigone <?page no="203"?> 334 Cropp (1997, 148) stellt zurecht fest, dass ihre Worte zwar nicht direkt, aber indirekt an den Chor gerichtet sind. 335 Vgl. zum konzedierenden Charakter von Antigones Argument Cropp 1997, 150f. 336 Beachte das Priorisierung ausdrückende -προin ἐκπροτιμήσασ’ 913. ansieht und deren Wert sie nunmehr erkannt hat. Dies zeigt sich darin, dass sie in ‚diskursive‘ jambische Trimeter wechselt, explizit den Anspruch erhebt, „vernünftige Menschen“ würden verstehen, dass sie ihren Bruder „geehrt“ habe (v. 904), und dann den „Grundsatz“, den νόμος, darlegt, nach dem sie gehandelt habe. 334 Sie hätte nämlich nicht „mit Gewalt gegen den Willen der Bürger“ (βίᾳ πολιτῶν 907) gehandelt - eine wortwörtliche Aufnahme von Ismenes zentraler Formulierung aus v. 79 -, wäre ihr ein Kind oder ein Ehemann gestorben, da diese ersetzbar gewesen wären. Eine solche Ersetzbarkeit liegt im Falle des Polyneikes indes, nach dem Tod der gemeinsamen Eltern, nicht vor, weswegen sie getan hat, was sie getan hat. Antigone kommt den Ansprüchen der Polis also soweit entgegen, wie sie dies irgendwie kann, ohne die Richtigkeit ihrer Tat zu bestreiten. 335 Dadurch ermöglicht sie einen neuen Blick auf ihre Tat: Diese erscheint nunmehr als Produkt einer abwägenden Wahl zwischen zwei Ansprüchen, die sie beide anerkennt, demjenigen der Polis auf der einen und demjenigen ihrer philoi - später in ihrer Rhesis wird sie auch noch die Götter erwähnen - auf der anderen Seite. 336 Wenn sie irgendwie gekonnt hätte, wäre sie beiden Ansprüchen gerecht geworden, doch dies hat Kreon durch sein Edikt verunmöglicht, auf den sie im Anschluss an ihr Räsonnement zu sprechen kommt (vv. 914 f.). Denn dieses ließ keinerlei Raum für ihre Hingabe gegenüber ihrem Bruder, so dass sie dagegen verstoßen, die Ansprüche der Polis in diesem einen Fall zurückstellen musste. Indem Antigone dafür beim Chor als dem Vertreter der Polis um Verständnis wirbt, versucht sie also, die beiden Ansprüche doch noch zu versöhnen, die Folgen ihrer Tat gewissermaßen ‚einzufangen‘. In ihrem Bemühen um Verständnis vonseiten des Chors kämpft sie indes auf verlorenem Posten. Der Chor hatte nämlich bereits während des Kommos auf ihre Problematik hingewiesen; denn nachdem sich Antigone von seinen Zusicherungen heroischer Größe „verlacht“ gesehen hatte, hatte er ihr nüchtern die Problematik ihrer Tat auseinandergesetzt (vv. 853-856 und 872-875): προβᾶσ’ ἐπ’ ἔσχατον ϑράσους ὑψηλὸν ἐς Δίκας βάϑρον προσέπεσες, ὦ τέκνον, ποδί. 855 πατρῷον δ’ ἐκτίνεις τιν’ ἆϑλον. […] 203 3.6 Der dritte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft II <?page no="204"?> 337 Mit Rohdich (1980, 165) kann man sagen, dass es Ismene war, die mit ihrer Weigerung, Kreons Edikt zu brechen, bei gleichzeitiger Bitte an „die unter der Erde“, ihr dies nachzusehen, das nach Maßgabe des Chores angemessene Vorgehen an den Tag gelegt hat; zur religiösen Aufladung des Gehorsams in dieser Aussage siehe ferner Jebb 1900, ad v. 872; Patzer 1978, 97; Lefèvre 2001, 115f. σέβειν μὲν εὐσέβειά τις, κράτος δ’, ὅτῳ κράτος μέλει, παραβατὸν οὐδαμᾷ πέλει, σὲ δ’ αὐτόγνωτος ὤλεσ’ ὀργά. 875 Zur äußersten Kühnheit voranschreitend bist gegen das hohe Podest der Gerechtigkeit Du [855] gestoßen, o Kind, mit Deinem Fuß. Darin aber bezahlst Du für ein Vergehen Deines Vaters. […] Eine gewisse Gottesfurcht hast Du gezeigt, aber die Macht dessen, dem diese gehört, kann unmöglich missachtet werden; [875] Dich aber hat Dein eigenmächtiger Charakter vernichtet. Diese Aussagen stimmen vollkommen mit den Reaktionen überein, die der Chor davor jeweils gezeigt hatte: In den vv. 471 f. sowie im zweiten Stasimon hatte er Antigones Gesetzesverstoß als Produkt ihrer von ihrem Vater Oidipus ererbten, „rohen“ Disposition, ja ihres ererbten „Wahnsinns“ bezeichnet, und darauf hebt er auch hier ab, wenn er ihren Verstoß gegen das Recht nüchtern feststellt und auf ihren Vater zurückführt. Im ersten Stasimon hatte er ferner die Notwendigkeit unbedingten Gehorsams gegenüber den Gesetzen der Polis begründet und jeden Versuch problematisiert, sich idiosynkratisch über die Regeln hinwegzusetzen, und dies nimmt er hier ebenfalls auf, wenn er Antigone kühl darauf hinweist, dass dem jeweiligen Träger der Autorität unbedingter Gehorsam geschuldet ist, Antigone diesen Gehorsam aber in eigenmächtiger Weise verweigert und so ihren Untergang selbst verursacht hat. Wenn er ihr dabei eine „gewisse“ (vgl. τις 872), das heißt, eine bedingte „Gottesfürchtigkeit“ zugesteht, dann erinnert er daran, dass Antigone sich gegen Kreons Verstoß gegen den Willen der Götter gewehrt, eine Bestattung also göttlich gewollt war, doch dadurch dennoch ihre Gehorsamspflicht verletzt hat, die nicht verletzt werden kann, wobei in diesem Verhalten, wie namentlich das zweite Stasimon gezeigt hat, seinerseits ein religiöses Vergehen lag. 337 Damit kreiert der Chor eine Situation, in der Antigone mit ihrem Räsonne‐ ment nicht durchdringen kann - und dies ist nur folgerichtig. Denn es ist natürlich ein Ding der Unmöglichkeit, den Ansprüchen der Polis auf unbedingte Einhaltung der Gesetze, nachdem sie diese mit ihrer Tat - wie bedauernd auch immer - zurückgewiesen hat, nun doch noch Rechnung zu tragen, 204 3 Die Antigone <?page no="205"?> 338 Zum Beispiel von Blundell (1989, 133 f.). 339 Blundell 1989, 134: „spurious rationality“. 340 Vgl. Rohdich 1980, 168. die Folgen ihrer Tat ‚einzufangen‘. Besonders deutlich macht dies Sophokles, indem er Antigone mit dem Argument von der Ersetzbarkeit ein Argument vorbringen lässt, das, wie verschiedentlich beobachtet worden ist, 338 nicht taugt, hat doch die Frage nach der Ersetzbarkeit nichts mit der Frage nach dem Bruch eines Bestattungsverbotes zu tun. Antigones Räsonnement ist also ‚pseudo-rational‘, 339 doch genau darin liegt dessen entscheidende Wirkung: Man beobachtet Antigone, wie sie hilflos versucht, dem ‚vernünftigen‘ Polis-Diskurs gerecht zu werden, ihr kommunikatives Agieren erscheint als ein gequältes Sich-Winden im Bemühen, Ansprüche zu versöhnen, die nicht versöhnt werden können. Kurzum, sie leidet an der unbarmherzigen ‚Vernunft‘, die der Chor vertritt, und entsprechend nimmt es nicht wunder, wenn dieser nach ihrer Rhesis ihr Räsonnement mit leichter Hand sozusagen wegschnippt, indem er konstatiert, sie sei von den gleichen „geistigen Turbulenzen“ heimgesucht wie ehedem. Insofern sie nämlich an der Richtigkeit ihrer Tat festhält, ist eben auch eine verwandelte Antigone so ‚töricht‘ wie eh und je (vv. 929 f.): ἔτι τῶν αὐτῶν ἀνέμων αὑταὶ ψυχῆς ῥιπαὶ τήνδε γ’ ἔχουσιν. 930 Dieselben Turbulenzen derselben Winde [930] wüten noch immer in ihrem Geist. 3.6.3 Die Hilflosigkeit der Zuschauer Soweit der Austausch Antigones mit dem Chor. Fragt man nun nach der Wirkung auf die impliziten Zuschauer, so gilt auch hier, wie bereits bei Haimon, dass diese dazu angehalten werden, mit Antigone zu leiden. Dies lässt sich nachvollziehen, wenn man in Rechnung stellt, dass Antigones Perspektive nicht nur mit derjenigen des Chors kontrastiert wird, sondern der Gegenspieler, der für ihr Schicksal in entscheidender Weise Verantwortung trägt, natürlich Kreon ist. Dieser hat hier nun allen Grund zum Triumphieren: Waren seine Waffen gegenüber dem Hohn einer Antigone davor stumpf gewesen, die den Tod nicht fürchtete, so hat sich jetzt seine Überzeugung bestätigt, dass die Aussicht auf den Tod noch jeden „gebrochen“ habe. 340 Entsprechend schaltet er sich ins Gespräch ein mit dem ungeduldigen Befehl an seine Diener, Antigone jetzt endlich wegzuführen (vv. 883-890 und 931-936): 205 3.6 Der dritte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft II <?page no="206"?> . ἆρ’ ἴστ’ ἀοιδὰς καὶ γόους πρὸ τοῦ ϑανεῖν ὡς οὐδ’ ἂν εἷς παύσαιτ’ ἄν, εἰ χρείη, χέων; οὐκ ἄξεϑ’ ὡς τάχιστα, καὶ κατηρεφεῖ 885 τύμβῳ περιπτύξαντες, ὡς εἴρηκ’ ἐγώ, ἄφετε μόνην ἐρῆμον, εἴτε χρῇ ϑανεῖν εἴτ’ ἐν τοιαύτῃ ζῶσα τυμβεύειν στέγῃ· ἡμεῖς γὰρ ἁγνοὶ τοὐπὶ τήνδε τὴν κόρην· μετοικίας δ’ οὖν τῆς ἄνω στερήσεται. 890 […] τοιγὰρ τούτων τοῖσιν ἄγουσιν κλαύμαϑ’ ὑπάρξει βραδυτῆτος ὕπερ. Α . οἴμοι, ϑανάτου τοῦτ’ ἐγγυτάτω τοὔπος ἀφῖκται. . ϑαρσεῖν οὐδὲν παραμυϑοῦμαι 935 μὴ οὐ τάδε ταύτῃ κατακυροῦσϑαι. r. Wisst Ihr, dass mit Liedern und Klagen vor dem Tod keiner einhalten würde, wenn es nötig wäre? [885] Führt sie so schnell wie möglich weg und, nachdem Ihr sie im überhängenden Grab eingeschlossen habt, so, wie ich es befohlen habe, lasst sie alleine zurück, ob sie nun sterben muss oder eingeschlossen leben in einem solchen Gehäuse; wir aber sind rein, soweit es dieses Mädchen betrifft; [890] des Wohnsitzes oben aber wird sie beraubt werden. […] Deswegen wird es für die, die sie wegführen, Grund zum Klagen geben wegen ihrer Langsamkeit! An . Oh weh, dieses Wort ist dem Tod nahe! [935] r. Ich kann Dir keine Hoffnung machen, dass dies nicht so vollzogen werden wird. Damit entspricht die Anlage derjenigen des dritten Epeisodions: Antigone beklagt in ergreifender lyrischer Sprache ihr Schicksal und bemüht sich, den Ansprüchen der Gemeinschaft Rechnung zu tragen, gewinnt also gegenüber ihrem hochmütig-höhnenden früheren Selbst entschieden an emotionaler Sym‐ pathie. In Kreons Darstellung hat sich dagegen keine Veränderung ergeben, und dennoch muss man ihm seinen Triumph über Antigone zugestehen, da sein Vorgehen gegen sie nach wie vor durch die ‚polismenschliche Vernunft‘ gedeckt ist: Antigone hat sich nun einmal vergangen, wie der Chor kühl, aber unbestreitbar festhält. Es liegt auf der Hand, dass diese Situation durchaus em‐ pörend ist: In der Kontrastierung von Antigones und Kreons Perspektiven ist die emotionale erneut von der normativen Dimension spannungsvoll entkoppelt. 206 3 Die Antigone <?page no="207"?> 341 Vgl. Oudemans/ Lardinois 1987, 186. 3.6.4 Gleichheit, Differenz und positive ‚Botschaft‘ Diese Entkopplung kann man dabei erneut in den Begriffen von Gleichheit und Differenz fassen. Dabei ist zu bedenken, dass Antigones Verwandlung natürlich zu einer entscheidenden Verschiebung innerhalb der Figurenkonstellation führt: War sie davor Kreon gleich gewesen, dann steht sie nunmehr in einem Identitäts‐ verhältnis zu Haimon, der sich, genau wie sie, bemüht hatte, einen Platz für die Emotion innerhalb der ‚vernünftigen‘ politischen Ordnung zu finden, dann aber, nachdem Kreon dies verhindert hatte - und erst dann - jene gegenüber dieser privilegiert hatte, wenn er seinem Vater zornig die Gemeinschaft aufkün‐ digte - genauso, wie Antigone dann eben doch Kreons Gesetz brach, da dieses keinerlei ‚legalen‘ Raum bot, ihre Hingabe an Polyneikes auszuleben. Haimon und Antigone erscheinen also als gleich und in dieser Gleichheit von Kreon verschieden, zeigt dieser doch keinerlei Bereitschaft, der emotionalen Dimension Rechnung zu tragen, und bringt dadurch die anderen Figuren erst dazu, ihre jeweilige Hingabe gewaltsam gegenüber ihrer Gehorsamspflicht zu privilegieren und sich dadurch zu vergehen. Allein vergangen haben sie sich, und darin liegt natürlich eine unbestreitbare, wenngleich durchaus unbefriedigende Gleichheit beider Figuren gegenüber Kreon. 341 Was Haimon betrifft, so hatte diese Gleichheit das dritte Stasimon gezeigt, das beide gleichermaßen als Opfer der Leidenschaft ansprach, ganz ungeachtet der Tatsache, dass Kreon seinen Sohn durch seine eigene Problematik erst zu dessen seinerseits problematischem Verhalten getrieben hatte. Was Antigone betrifft, so erschient das Motiv von Gleichheit und Differenz am Ende ihrer Rede, wo sie sich unter dem Gesichtspunkt göttlicher Gerechtigkeit mit ihrem Onkel vergleicht. Dabei postuliert sie eine Wahl - entweder, die Götter halten für ‚in Ordnung‘, was sie erleidet, oder aber ihre Gegner (gemeint ist Kreon) „vergehen“ sich, und dann möchten sie für den ungerechten Umgang mit ihr bestraft werden (vv. 921-928): ποίαν παρεξελϑοῦσα δαιμόνων δίκην [sc. ζῶσ’ εἰς ϑανόντων ἔρχομαι κατασκαφάς]; τί χρή με τὴν δύστηνον ἐς ϑεοὺς ἔτι βλέπειν; τίν’ αὐδᾶν ξυμμάχων; ἐπεί γε δὴ τὴν δυσσέβειαν εὐσεβοῦσ’ ἐκτησάμην. ἀλλ’ εἰ μὲν οὖν τάδ’ ἐστὶν ἐν ϑεοῖς καλά, 925 παϑόντες ἂν ξυγγνοῖμεν ἡμαρτηκότες· εἰ δ’ οἵδ’ ἁμαρτάνουσι, μὴ πλείω κακὰ πάϑοιεν ἢ καὶ δρῶσιν ἐκδίκως ἐμέ. 207 3.6 Der dritte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft II <?page no="208"?> Für die Übertretung was für eines Gesetzes [sc. gehe ich lebendig ins die Höhle der Toten ein]? Was soll ich Unglückliche auf die Götter noch blicken? Welchen Helfer anrufen? Denn ich werde nun des Frevels geziehen aufgrund meiner Gottesfurcht. [925] Aber wenn dies den Göttern als schön gilt, dann wollen wir durch unser Leiden lernen, dass wir uns vergangen haben; wenn aber diese sich vergehen, dann möchten sie schauen, dass sie nicht mehr Übel leiden, als sie mir ungerechterweise zufügen! Prüft man nun ihre Disjunktion, so wird deutlich, dass beide Optionen zutreffen: Antigone hat sich vergangen, doch dies hat ihr Gegenspieler Kreon auch, sie sind identisch. Emotional plausibel ist aber Antigones verzweifeltes Unverständnis, warum die Götter sie so leiden lassen, da sie - ergänze: im Unterschied zu Kreon - doch gottgefällig gehandelt habe (vv. 921-924), kurzum, das Unverständnis angesichts des von ihr erfahrenen Unrechts, in das man gerne einstimmen würde, wenn man es denn nicht besser wüsste. Der emotional plausiblen Wahrnehmung einer Differenz zwischen Haimon bzw. Antigone und Kreon steht also die durchaus unbefriedigende Tatsache entgegen, dass sich alle Figuren gleichermaßen vergangen haben. Anhand dieser Feststellung lässt sich nun ebenfalls zeigen, wie auch das vierte Epeisodion der Affirmation der oben 3.5.5 ausgeführten positiven ‚Botschaft‘ dient. Denn die Gleichheit der verwandelten Antigone mit Haimon liegt darin, dass beide Figuren, wie eben gesagt, versuchen, die Dichotomie von Emotion und Vernunft zu überwinden und einen Platz für ihre Hingabe im Gefüge der Polis zu finden, und in beiden Fällen scheitert diese Alternative nicht an inneren Widersprüchen, sondern alleine an den äußeren Umständen: direkt an Kreons Problematik und indirekt an den im fiktiven Theben herrschenden, durch die ‚polismenschliche Vernunft‘ bestimmten Rahmenbedingungen, die dazu führen, dass man sich nicht anders gegen Kreon wehren kann, als dass man sich seinerseits vergeht - und ihm insofern gleich wird. Denn dies ist natürlich das eigentliche Problem der Gleichheit: dass diese keine abstrakte Feststellung ist, die in der Praxis ein nuanciertes ethisches Abwägen zulässt, sondern eine durchaus im Wortsinne blutige, konkrete Realität ohne Platz für ein Weniger oder Mehr - entweder man unterwirft sich seinem Vater völlig, oder man kündigt ihm völlig die Gemeinschaft und gleitet dadurch, in den Worten des dritten Stasimons, von der „Gerechtigkeit“ in die „Ungerechtigkeit“ ab (vv. 791 f.); entweder man unterwirft sich den Gesetzen völlig, oder man weist diese vollständig zurück und entscheidet sich damit ‚töricht‘ und „eigenmächtig“ gegen das Leben und für den Tod. Insofern die Alternative aber nur an den äußeren Umständen scheitert, fungiert das fiktive Theben auch im vierten Epeisodion als Negativfolie zu einer anderen, möglichen ‚Welt‘, in der andere Rahmenbedingungen herrschen, nämlich die oben 3.5.5 beschriebene eubulia, 208 3 Die Antigone <?page no="209"?> 342 Vgl. Markantonatos (2002, 161-165), der den Umgang des Theseus mit Antigone im Oidipus auf Kolonos so deutet, dass darin genau diese Tatsache deutlich werde: Die Katastrophe der Antigone, auf die der Oidipus auf Kolonos vorausblickt, hätte sich in Athen verhindern lassen, wo es einer balancierteren politischen Ordnung gelingt, Antigones Emotionalität zu kontrollieren. Den im Oidipus auf Kolonos aufgenommenen Faden legt Sophokles hier aus. in der es zu den ganzen trostlosen schuldhaften Verstrickungen, welche die Zuschauer beobachten, nicht hätte kommen müssen und die diese, wie ebendort gezeigt, in ihrer eigenen Lebenswelt wiederfinden konnten. 342 3.7 Der vierte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft III Die Zuschauer bleiben also bei Antigones Wegführung am Ende des vierten Epeisodions mit einer Spannung zwischen Antigones und Kreons Perspektive zurück, die geprägt ist von einer Entkopplung der emotionalen von der intellek‐ tuellen Dimension. Zugleich verliert diese mit Antigones Wegführung das Po‐ tential, die Zuschauer zu involvieren, denn eine Überwindung dieser Spannung, eine irgendwie geartete Lösung ist nun, mit Antigones vermeintlich sicherem Tod, nicht mehr zu erwarten. Sophokles hört aber nicht auf, die Zuschauer zu involvieren, vielmehr überführt er die davor dominierende Spannung mit Antigones Abgang in Engagement, lässt einen neuen Handlungsbogen aus dem vorangegangenen erwachsen, und zwar in zwei Schritten. Der zweite findet im fünften Epeisodion statt und wird unten 3.7.2.1 besprochen werden, der erste aber ereignet sich in dem Moment, in dem Antigone die Bühne verlässt und Kreon zurückbleibt. In den vv. 921-928 war, wie oben 3.6.4 gezeigt, Antigones Gleichheit mit Kreon noch einmal in Erinnerung gerufen worden. Diese Gleich‐ heit hat nun natürlich eine zentrale Konsequenz: Nachdem Antigone, so scheint es, nicht mehr zu retten ist, hat man Grund zur Hoffnung, dass Kreon, wenn alles seine Richtigkeit hat, immerhin auch die Quittung für sein Tun erhalten, die von Antigone bei ihrem Abgang erwünschte Bestrafung verwirklicht werden möge. In diesem Wunsch nach Bestrafung, in dem Emotion und Vernunft plötzlich am selben Strick ziehen, entwickelt Antigones Perspektive ein Identifikations‐ potential und die Zuschauer werden dazu angehalten, ihre Hoffnung zu teilen, verlöre damit die Dramensituation doch wenigstens ein stückweit ihren zutiefst unbefriedigenden Charakter. Durch die Hoffnung, dass Antigone, wenngleich tot, im unter den Stückumständen möglichen Ausmaß sozusagen Satisfaktion 209 3.7 Der vierte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft III <?page no="210"?> erlangen möge, werden die Zuschauer am Ende des vierten Epeisodions erneut involviert. 3.7.1 Der problematisierte Chordiskurs im vierten Stasimon Dieses Engagement verstärkt das auf Antigones Abgang folgende vierte Sta‐ simon. Dies leistet es, indem es - als Fortsetzung der vom Chor während des vorangegangenen Epeisodions getätigten Einlassungen - die Zuschauer noch einmal abschließend mit dem zutiefst unbefriedigenden Charakter der Stücksituation konfrontiert, zugleich aber die Möglichkeit affirmiert, dass Kreon nun auch erhalten wird, was er verdient. Indem Sophokles den Chor ein solches Lied singen lässt, kommt eine Entwicklung an ihren Höhepunkt, die das Stück frühestens seit dem zweiten Stasimon geprägt hatte: die Problematisierung des autoritativen Chordiskurses. Oben 1.5.1.2 ist die Rede davon gewesen, dass die Perspektive des Chors häufig eine besondere Verbindlichkeit besitze. Um nachzuvollziehen, dass dies in der Antigone der Fall ist, muss man nur an die philosophische Wucht des ersten Stasimons denken, an die Tatsache, dass der Chor im zweiten Stasimon mit dem Wirken des Geschlechterfluchs ein von Ais‐ chylos bekanntes, für die Gattung Tragödie geradezu konstitutives Theologem ausgesprochen hatte, oder daran, wie der Chor im dritten Stasimon die kon‐ ventionelle, allgemeingültige ‚Weisheit‘ von der Gefährlichkeit ungebremster Emotionalität affirmiert hatte. Dass dies im vierten Stasimon ebenso der Fall ist, wo der Chor keinen primär philosophischen oder theologischen, dafür aber einen mythologischen Deutungsrahmen artikuliert, liegt nahe. Ebenso ist aber gesagt worden, dass die Autorität des Sprechens des Chors durch die Kontrastierung mit den Perspektiven der Figuren unterlaufen werden könne. Dies ist nun, was im vierten Stasimon geschieht (vv. 944-954 und 966-987): ἔτλα καὶ Δανάας οὐράνιον φῶς ἀλλάξαι δέμας ἐν χαλκοδέτοις αὐλαῖς· 945 κρυπτομένα δ’ ἐν τυμβήρει ϑαλάμῳ κατεζεύχϑη· καίτοι ‹καὶ› γενεᾷ τίμιος, ὦ παῖ παῖ, καὶ Ζηνὸς ταμιεύεσκε γονὰς χρυσορύτους. 950 ἀλλ’ ἁ μοιριδία τις δύνασις δεινά· οὔτ’ ἄν νιν ὄλβος οὔτ Ἄρης, οὐ πύργος, οὐχ ἁλίκτυποι κελαιναὶ νᾶες ἐκφύγοιεν. […] 210 3 Die Antigone <?page no="211"?> παρὰ δὲ κυανεᾶν †πελαγέων πετρῶν† διδύμας ἁλὸς ἀκταὶ Βοσπόριαι ‹ ˘ ˘ ¯ › ὁ Θρηίκων Σαλμυδησσός, ἵν’ ἀγχίπτολις Ἄ- 970 ρης δισσοῖσι Φινείδαις εἶδεν ἀρατὸν ἕλκος τυφλωϑὲν ἐξ ἀγρίας δάμαρτος ἀλαὸν ἀλαστόροισιν ὀμμάτων κύκλοις ἀραχϑέντων ὑφ’ αἱματηραῖς 975 χείρεσσι καὶ κερκίδων ἀκμαῖσιν. κατὰ δὲ τακόμενοι μέλεοι μελέαν πάϑαν κλαῖον, ματρὸς ἔχοντες ἀνύμφευτον γονάν· 980 ἁ δὲ σπέρμα μὲν ἀρχαιογόνων ‹ἦν› ἄνασσ’ Ἐρεχϑειδᾶν, τηλεπόροις δ’ ἐν ἄντροις τράφη ϑυέλλαισιν ἐν πατρῴαις Βορεὰς ἅμιππος ὀρϑόποδος ὑπὲρ πάγου 985 ϑεῶν παῖς· ἀλλὰ κἀπ’ ἐκείνᾳ Μοῖραι μακραίωνες ἔσχον, ὦ παῖ. Es hat auch der Leib Danaes dies erlitten, dass sie das Himmelslicht [945] eintauschen musste gegen erzumschlossene Hallen; eingeschlossen im grabähnlichen Gemach, wurde sie unterjocht; doch auch sie war edel an Abkunft, o Kind, Kind, [950] und hat sich um den im Goldregen gekommenen Samen des Zeus gekümmert. Aber die Macht des Schicksals ist gewaltig: Weder Reichtum noch Kriegstüchtigkeit noch ein Turm noch meerdurchfahrende schwarze Schiffe könnten diesem entfliehen. […] Bei den schwarzen [? ? ? ] des doppelten Meeres sind die Felsen des Bosporos und das thrakische [970] Salmydessos, wo Ares, dessen Stadt in der Nähe ist, die den beiden Phineiden beigebrachte unselige Wunde der Blendung durch die wilde Gattin sah, beigebracht an den rächenden Augen, [975] die ausgestochen wurden mit blutiger Hand und Spindelspitzen. Verschmachtend erhoben die Elenden über ihr elendes Leiden [980] ihre Klage, sie, die Kinder einer zu ihrem Unglück verheirateten Mutter; diese aber war nach ihrer Abkunft eine Prinzessin aus dem altehrwürdigen Geschlecht der Erechtheiden, war aufgewachsen in fernen Grotten unter väterlichen Winden und schoss, [985] eine Boreade, die dahinritt mit den anderen, über den hochaufragenden Hügel, ein Kind der Götter; aber auch sie ergriffen die uralten Moiren, o Kind. Dieses Lied unterscheidet sich von den vorangegangenen durch seine expli‐ zite kommunikative Einbettung - wohl in der Art eines ‚Hinterherrufens‘ - gegenüber der abgehenden oder eben abgegangenen Antigone (vgl. ὦ παῖ παῖ 211 3.7 Der vierte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft III <?page no="212"?> 343 λεύσσετε, Θήβης οἱ κοιρανίδαι, / τὴν βασιλειδῶν μούνην λοιπήν, / οἷα πρὸς οἵων ἀνδρῶν πάσχω, / τὴν εὐσέβειαν σεβίσασα (Seht, Ihr Herren Thebens, die verlassene Königstochter, was ich von was für Menschen erleide dafür, dass ich Gottesfurcht gezeigt habe). 949 und ὦ παῖ 987). Auf diese Weise führt das Lied, wiewohl im Modus des Chorliedes, den vorangegangenen Austausch des Chors mit Antigone fort. Dies bedeutet aber auch, dass, wenn der Chor an seiner dort artikulierten Wahrnehmung von Antigones Schicksal als letztlich verdienter Strafe festhalten sollte, dieses Festhalten, nicht anders als im vorangegangenen Epeisodion, zutiefst unbefriedigend erscheinen würde: Die Autorität des Sprechens des Chors würde unterlaufen. Denn dass dieser ‚Recht‘ hat mit allem, was er singt, läge auf der Hand; da diese Tatsache indes durchaus unbefriedigend erschiene, hätte der Chor endgültig die Position verloren, eine angemessene Reaktion auf die Stücksituation zu erschließen. Und dies ist genau, wie es kommt. Denn das vierte Stasimon ist in der Tat eine Reaffirmation der ‚polismenschlichen Vernunft‘, gegen die Antigone verstoßen hat, wofür sie zurecht bestraft wird. Dies lässt sich nachvollziehen, wenn man zunächst nach der Illokution des Chors fragt: Diese changiert irgendwo zwischen Trost und Tadel. Betrachtet man nämlich die Umgebung der beiden eben besprochenen Vokative in den vv. 949 und 987, so fällt auf, dass dort jeweils die herausgehobene Stellung der Paradigmenfiguren - Danae und Kleopatra - betont wird: Danae war edel und wurde zur Mutter von Zeus’ Sohn (vv. 949 f.); Kleopatra war ein Kind der Götter (v. 986). Diese herausgehobene Stellung wird nun an beiden Orten mit dem Wirken des Schicksals kontrastiert: Aber dieses sei gewaltig (v. 951), aber auch Kleopatra sei von den „uralten Moiren“ erfasst worden (vv. 986 f.). Es geht also um Fallhöhe im Angesicht des Schicksals. Nun hatte Antigone selbst in ihrer letzten Äußerung vor dem Beginn ihres Abgangs ihr Ergehen mit ihrer herausgehobenen Stellung protestierend verglichen: Der Chor und die Götter möchten sehen, was sie, die Prinzessin, erleide, obwohl sie gottesfürchtig gehandelt habe (vv. 940-943 343 ). Genau eine solche Aussage hatte der Chor davor aber kritisiert, indem er Antigone, nachdem sie sich mit Niobe verglichen hatte, darauf hinwies, diese sei „eine Göttin oder göttergleich“ gewesen, sie aber bloß ein Mensch (vv. 834-838). Auf Antigones Festhalten an der Unangemessenheit ihres Schicksals kommt der Chor nun also zurück, der Ton ist auch hier derjenige einer durchaus tadelnden Reaktion auf ihre Klage: Selbst Danae und Kleopatra haben sich dem Schicksal nicht entziehen können, und so möge doch auch Antigone ihre Schicksalsunterworfenheit nicht 212 3 Die Antigone <?page no="213"?> 344 Vgl. Rohdich 1980, 187f. 345 So z. B. von Sourvinou-Inwood (1989a, 143), die von Danae als einem „Schatzhaus“ spricht. 346 ταμίας bezeichnet metaphorisch nie einen Aufbewahrungsort (in Pind. O. 6,25f. ist der οἶκος, der als ταμίας στεφάνων bezeichnet wird, nicht oder nicht ausschließlich als das Haus, sondern als die Familie zu verstehen). 347 Ζu einem möglichen Bezug auf die zweite Einschließung siehe Müller 1967, 215 f. und Oudemans/ Lardinois 1987, 147. 348 Siehe Sourvinou-Inwood 1989a, 146. 349 Siehe OT 1173; die Tatsache, dass im König Oidipus bald von Laios (vv. 718 f.), bald von Iokaste gesagt wird, er bzw. sie habe das Kind zur Aussetzung übergeben, zeigt, beklagen oder - aus Tadel kann in gewissem Sinne auch Trost folgen - nicht daran leiden. 344 Das eben besprochene Motiv des Schicksals ist dabei mit demjenigen der ‚po‐ lismenschlichen Vernunft‘ verbunden. Dieser Tatsache kann man sich nähern, indem man zunächst eine scheinbare Inkonsistenz registriert: Der Chor scheint im vierten Stasimon einem blinden Schicksal das Wort zu reden, das Unschuldige und Schuldige - man denke an das mittlere Paradigma vom eingesperrten Frevler Lykurg (siehe dazu weiter unten) - gleichermaßen treffe. Davor war er aber durchgehend von einer Möglichkeit ausgegangen, auf der sicheren Seite zu bleiben, nämlich, ‚vernünftig‘ oder, in den Begriffen des zweiten Stasimons, passiv zu bleiben, sich der Ordnung der Polis zu unterwerfen, und hatte entsprechend Antigones ‚Schuld‘ betont. Nun sind aber auch Danae und Kleopatra nicht so unterwürfig, passiv und letztlich ‚schuldlos‘ geschildert, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte. Bei Danae liegt diese Charakterisierung im Verb ταμιεύεσκε 950, „sie kümmerte sich“, beschlossen. Dieses wird in der Regel so verstanden, als habe sie als ‚Gefäß‘ für Zeus’ Samen fungiert, sei also ein passives Objekt der Schwängerung gewesen. 345 Nun ist ein ταμίας, das Nomen zu ταμιεύεκσε, aber kein Gefäß, sondern ein Verwalter, das heißt, jemand, der etwas in einem Gefäß verwahrt, und somit kein bloß passiver Empfänger. 346 ταμιεύεσκε sollte also durchaus so verstanden werden, als habe sich Danae eben aktiv um ihren Nachwuchs „gekümmert“ - man denke nur an Danaes zweite Einschließung, die nicht nötig gewesen wäre, hätte sie ihren nunmehr geborenen Sohn Perseus wider‐ standslos ausgeliefert, sich eben nicht um diesen „gekümmert“. 347 Dass derart ‚tätige Mutterliebe‘ in einer solchen Situation nicht die einzige Möglichkeit ist, zeigt das - in diesem Lied aufgerufene 348 - Labdakidenhaus selbst, in dem es Iokaste mehr oder weniger passiv hingenommen hatte, als Laios sich einer ganz ähnlichen Gefahr wie Danaes Vater Akrisios durch Kindesaussetzung ent‐ ledigen wollte: 349 So passiv-kooperativ hat man sich die Danae des Paradigmas 213 3.7 Der vierte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft III <?page no="214"?> dass Sophokles bei seinen Zuschauern die Kooperation der Mutter selbstverständlich voraussetzen konnte (zur „Trivialität“ dieser scheinbaren Inkonsistenz siehe Finglass 2018, ad v. 1173). nicht vorzustellen, und somit besteht zwischen ihrer offenbar von Akrisios festgestellten entsprechenden Disposition, der ihn sie einsperren ließ, und Antigones „eigenmächtigem Temperament“ (vgl. αὐτόγνωτος […] ὀργά 875), ihrer eigenmächtigen Hingabe an ihre philoi, kein qualitativer Unterschied. Danae hätte sich, spätestens nach Perseus’ Geburt, unterwerfen können und wäre dann nicht, zumindest kein zweites Mal, eingesperrt worden; da sie dies aber nicht getan hat, ist ihre Einsperrung, auch wenn sich Akrisios dadurch selbst schuldhaft gegen sein Schicksal wehrt (zu ihm siehe weiter unten), in einem gewissen Sinne berechtigt. Dies alles bedeutet nun auch, dass zwischen der ‚Schuld‘ der ‚guten‘ Danae und der Schuld einer denkbar ‚bösen‘ Figur kein qualitativer Unterschied be‐ steht, und tatsächlich präsentiert der Chor nach Danae eine andere eingesperrte Figur, die aber eindeutig negativ gezeichnet ist, nämlich den „jähzornigen“ Frevler Lykurg (vv. 955-965): ζεύχϑη δ’ ὀξύχολος παῖς ὁ Δρύαντος, 955 Ἠδωνῶν βασιλεύς, κερτομίοις ὀργαῖς ἐκ Διονύσου πετρώδει κατάφαρκτος ἐν δεσμῷ· οὕτω τᾶς μανίας δεινὸν ἀποστάζει ἀνϑηρόν τε μένος. κεῖνος ἐπέγνω μανίαις 960 ψαύων τὸν ϑεὸν ἐν κερτομίοις γλώσσαις. παύεσκε μὲν γὰρ ἐνϑέους γυναῖκας εὔιόν τε πῦρ, φιλαύλους τ’ ἠρέϑιζε μούσας. 965 [955] Es wurde auch unters Joch gezwungen das jähzornige Kind des Dryas, der König der Edonen, wegen seines wilden Charakters von Dionysos in einem felsigen Ge‐ fängnis eingeschlossen; so tropfte des Wahnsinns schreckliche, [960] wild wuchernde Gewalt von ihm ab. Dieser erkannte, dass er durch seinen Wahnsinn dem Gott zu nahe getreten war unter wilden Reden. Er hatte nämlich unterdrückt die gottbesessenen Frauen sowie das bakchische Feuer [965] und die flötenliebenden Musen erzürnt. Dieses Paradigma bringt dabei insbesondere das Motiv des „Wahnsinns“ und, e negativo, dasjenige der Vernunft bei: Lykurg und Antigone sind grundsätzlich identisch in ihrer ‚Torheit‘ und wurden dafür identisch bestraft, nämlich durch Einsperrung. Doch inwieweit kann man auch Kleopatra als in dieser Weise cha‐ 214 3 Die Antigone <?page no="215"?> 350 Vgl. zu diesem beim vierten Stasimon besonders akuten Problem Winnington-Ingram 1980, 98 f. und 105 f.; Zimmermann 2005, 58. 351 Sourvinou-Inwood 1989a, 156 (vgl. auch Oudemans/ Lardinois 1987, 148 zu Kleopatras „Marginalität“); im Lichte des hier Ausgeführten besteht allerdings keine Notwendig‐ keit, mit ihr (S. 156-159) Kleopatra mit der „wilden Gattin“ des v. 973 zu identifizieren, welche die Phineiden geblendet hat, oder sie zumindest in ihre Nähe zu rücken, auch wenn dies möglich ist. 352 Vgl. z. B. Sourvinou-Inwood 1989a, 143f. 353 Phineus’ Beteiligung an der Blendung ist nicht gesichert, vgl. Winnington-Ingram 1980, 105. rakterisiert betrachten? Hier zeigt sich das Problem, dass sich heute nicht genau sagen lässt, welches mythologische Material Sophokles bei seinen Zuschauern voraussetzte. 350 Eine Sache aber lässt sich mit einiger Sicherheit feststellen: dass Kleopatra, ebenfalls e negativo, den ‚politischen‘ Aspekt beibringt. Denn das erste Stasimon hatte, wie oben 3.2.4 gezeigt, die Unterwerfung unter die Ordnung als zivilisatorische Errungenschaft ausgezeichnet - eine Unterwerfung, zu der, alle jeweils auf ihre spezifische Weise, weder Danae noch Lykurg noch Antigone disponiert waren. Auch zu Kleopatras Disposition äußert sich der Chor nun, wenn er sie, wie Sourvinou-Inwood gezeigt hat, 351 als prononciert ‚unzivilisiertes‘ Wesen darstellt, eine in entfernten Höhlen unter „väterlichen Winden“ ausgewachsene, pferdegleich dahinschießende Boreade. Kleopatra wird als zivilisierter Unterwerfung denkbar fernstehende, ‚naturwüchsige‘ Frau (auch ihr Geschlecht rückt sie bereits von der ‚Zivilisation‘ ab - die Unterdrückung gefährlicher Sexualität ist ein zentrales Thema des Liedes 352 ) beschrieben, und entsprechend verfällt sie dem Schicksal. Wie man sich diesen Ablauf genau vorzustellen hat, lässt sich aufgrund des eben erwähnten Problems des mythologischen Materials nicht sagen; denkbar wäre aber zum Beispiel ein Szenario, dass sie ihre Verstoßung durch ihren Mann Phineus nicht angemessen demütig hingenommen hatte, weswegen dieser und/ oder 353 seine neue Frau in ihren Söhnen, welche die Verstoßung ihrer Mutter hätten rächen können, eine Gefahr sahen, der sie durch deren Blendung beikommen wollten. Für die Gefahr, dass sich eine verstoßene Frau rächen könnte, lässt sich immerhin eine Parallele namhaft machen, und zwar Medea, eine andere paradigmatisch ‚unzivilisierte‘ Gestalt. Die Darstellung, wie Danae zurecht für ihre Mutterliebe bestraft wurde und wie die ungebunden-wilde Kleopatra zurecht irgendwie die drastisch ge‐ schilderte Blendung ihrer Söhne auf sich gezogen hat, wodurch sich beide Frauen letztlich nicht entscheidend von einem klassischen Frevler wie Lykurg unterschieden, ist nun natürlich zutiefst unbefriedigend, doch genau darum geht es, wie bereits oben gesagt: Die ‚vernünftige‘ Feststellung, dass der Chor Recht 215 3.7 Der vierte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft III <?page no="216"?> 354 Hier zeigen sich die oben Anm. 61 kurz besprochenen Schwierigkeiten der Deutung der Funktion des Chors durch Kitzinger (2008) beispielhaft. Denn sie sagt, die Affirmation des Wirkens des Schicksals könne nur dann als Tröstung versagen, wenn die Zuschauer, wie Antigone, für ihr spezifisches Schicksal getröstet werden wollten (S. 61) - aber genau darauf kommt es Sophokles an: Die Zuschauer sind dazu angehalten worden, sich mit Antigones Leiden zu identifizieren, und sollen das Wirken des Schicksals als zutiefst unbefriedigend empfinden, statt die Perspektive des Chors bloß als zwar ‚ganz anders‘, aber balanciert komplementär zu derjenigen der Figur Antigone aufzufassen (in diesem Zusammenhang ist es eher wenig hilfreich, dass Kitzinger [2008, 48-57] den das vierte Stasimon vorbereitenden Kommos zwischen Antigone und dem Chor wesentlich als „Kampf um die Kontrolle über die Nutzung von Gesang“ deutet und so die dort aufgerufenen ethischen Probleme zu wenig gewichtet, die letztlich kein ‚Sowohl als auch‘ zulassen). 355 Vgl. z. B. Griffith 1999, ad vv. 951-954. 356 Zu Kreons Misogynie siehe Blundell 1989, 131. 357 Vgl. Zimmermann 2005, 58; 2016, 258f. hat mit allem, was er zu Antigones berechtigter Bestrafung sagt, wird denkbar deutlich von alledem entkoppelt, was man als richtig und falsch, gerecht und ungerecht empfindet, der ‚verbindliche‘ Chordiskurs erscheint in seiner Vertre‐ tung der ‚polismenschlichen Vernunft‘ diskreditiert, aber unausweichlich. 354 Nun ist oben 3.7 gesagt worden, dass die Zuschauer mit Antigones Abgang zur Hoffnung angehalten worden waren, gemäß dem Grundsatz der Gleichheit möge nun wenigsten auch Kreon die Quittung für sein Tun erhalten. Entspre‐ chend ist anzunehmen, dass eine besondere Empfänglichkeit für mögliche entsprechende Hinweise in den Gedanken des Chors bestand, die dieser im vierten Stasimon äußert - und äußern sollte, wenn seine Perspektive konsistent ist. Solche Hinweise finden sich tatsächlich. Dies beginnt bereits im ersten Paradigma, wenn, wie verschiedentlich beobachtet worden ist, in einer Liste der Mittel, mit denen man dem Schicksal nicht entkommen kann - Reichtum, Kriegstüchtigkeit, ein „Turm“ und meerdurchfahrende schwarze Schiffe -, plötzlich diejenigen des Akrisios erscheinen 355 und somit daran erinnert wird, dass natürlich auch Danaes Peiniger sich gegen sein Schicksal gewehrt, sich dadurch vergangen und am Ende den Preis dafür bezahlt hat. Der gemäß eigenem Anspruch die Polis über alles stellende, misogyne, 356 gegen den Willen der Götter verstoßende Kreon lässt sich darauf auch in Lykurg wiedererkennen, der den weiblich konnotierten, ‚unzivilisierten‘ Dionysoskult „wahnsinnig“ unterdrückte und dafür bestraft wurde. 357 Viel nebulöser liegen die Dinge zuletzt allerdings im Kleopatra-Paradigma. Ein denkbarer Bezug auf Kreon liegt darin, dass Phineus möglicherweise die Blendung seiner Söhne akzeptiert oder vielleicht sogar selbst ausgeführt, also seinen eigenen Nachwuchs ins Verderben gestürzt hat. Etwas Ähnliches hat 216 3 Die Antigone <?page no="217"?> 358 τῷ παιδοκτόνῳ 1305; Οudemans und Lardinois (1987, 151) erwägen einen Bezug von Kleopatra auf Kreon unter dem Gesichtspunkt des Verlustes von Kindern (Kreon hatte, wie in den vv. 1302 f. deutlich werden wird, möglicherweise in irgendeiner Weise zum Tod seines Sohnes Megareus beigetragen). 359 Vgl. Winnington-Ingram 1980, 105. 360 Vgl. Winnington-Ingram 1980, 107. nämlich auch Kreon getan, wenn er Haimon, nachdem dieser mit Suizid gedroht hatte, hatte gehen lassen, damit er tue, was immer er wolle, also dessen Tod billigend in Kauf genommen hatte, und tatsächlich wird er am Stückende ja sogar als dessen „Mörder“ bezeichnet werden. 358 Nun scheint es eine mytholo‐ gische Tradition zu geben, nach der Phineus bestraft wurde, auch wenn unklar ist, wofür; 359 wäre er für eine - wie auch immer geartete - Beteiligung an der Blendung seiner Söhne bestraft worden, dann könnte man diese Bestrafung im vierten Stasimon dort aufgerufen sehen, wo die Blendung der Söhne über das Adjektiv ἀλαστόροισιν 974 als „fluchbeladen“ bezeichnet wird. 360 Auch wenn die Dinge also im letzten Paradigma eingestandenermaßen sehr unklar sind, so lässt sich doch sagen, dass im vierten Stasimon insgesamt nicht nur der sachlich zutreffende Chordiskurs erneut als unbefriedigend erscheint, sondern auch die Hoffnung der Zuschauer auf eine Bestrafung des Kreon bestärkt wird, mit der dem unbefriedigenden Charakter der präsentierten Situation zumindest ein stückweit abgeholfen, zumindest im in der Stückwelt möglichen Umfang Gerechtigkeit geschaffen werden könnte. 3.7.2 Die Hoffnung auf ein glückliches Ende und ihr Scheitern Nun ist das Wecken dieser Hoffnung aber erst der erste Schritt in der Neuaus‐ richtung des Engagements, die Sophokles im Anschluss an Antigones Abgang vornimmt. Der zweite Schritt folgt im fünften Epeisodion mit dem Auftritt des Teiresias. Denn hier scheint es plötzlich möglich, alle Probleme zum Ver‐ schwinden zu bringen, also auch unter den Stückbedingungen eine vollständig befriedigende Lösung zu erreichen. Das dadurch generierte noch stärkere Engagement führt allerdings erneut in eine Situation, in der die Problematik aller beteiligten Figuren zurückkehrt. 3.7.2.1 Die scheinbare Lösung Im Anschluss an das vierte Stasimon erscheint der Seher Teiresias und spricht aus, was seit dem ersten Epeisodion deutlich suggeriert worden ist: Kreons Maßnahme verstößt gegen den Willen der Götter, und zwar, da Polyneikes’ Leichnam die Stadt ‚befleckt‘. Davon soll Kreon nun, so fordert Teiresias, 217 3.7 Der vierte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft III <?page no="218"?> Abstand nehmen, wobei er diese Aufforderung in die aus dem dritten Epeisodion bekannten Begriffe der eubulia kleidet, des „Lernens“ von anderen (vv. 1023- 1032): ταῦτ’ οὖν, τέκνον, φρόνησον. ἀνϑρώποισι γὰρ τοῖς πᾶσι κοινόν ἐστι τοὐξαμαρτάνειν· ἐπεὶ δ’ ἁμάρτῃ, κεῖνος οὐκέτ’ ἔστ’ ἀνὴρ 1025 ἄβουλος οὐδ’ ἄνολβος, ὅστις ἐς κακὸν πεσὼν ἀκεῖται μηδ’ ἀκίνητος πέλει. αὐϑαδία τοι σκαιότητ’ ὀφλισκάνει. ἀλλ’ εἶκε τῷ ϑανόντι, μηδ’ ὀλωλότα κέντει. τίς ἀλκὴ τὸν ϑανόντ’ ἐπικτανεῖν; 1030 εὖ σοι φρονήσας εὖ λέγω· τὸ μανϑάνειν δ’ ἥδιστον εὖ λέγοντος, εἰ κέρδος λέγοι. Dies also, Kind, bedenke. Den Menschen nämlich ist allen gemein, dass sie sich vergehen können; [1025] nach einem Vergehen ist der Mann aber nicht mehr töricht und unselig, der, nachdem er ins Übel gefallen ist, sich heilen lässt und nicht unbeweglich ist. Sturheit setzt einen dem Vorwurf des Fehlgehens aus. Aber gib dem Toten nach, und keinen zugrunde Gegangenen [1030] bedrücke. Was ist das für ein Mut, einen Toten nochmals zu töten? Ich bin Dir gut gesonnen und rate Dir gut; zu lernen von einem, der guten Rat erteilt, ist am angenehmsten, wenn dieser Dir etwas Nützliches sagt. Kreons Reaktion ist jedoch, wie nicht anders zu erwarten, geprägt von Idiosyn‐ krasie und Tyrannei. Denn Teiresias sei selbstverständlich bestochen und er, Kreon, wisse selbst am besten, wie die Götter funktionierten - diese könnten von Menschen unmöglich befleckt werden -, und sei nun einmal der Herrscher. Darauf reagiert Teiresias, indem er Kreons Untergang voraussagt und zornig abgeht; dabei hebt er auch die Problematik seines Umgangs mit Antigone hervor (vv. 1067-1073): νέκυν νεκρῶν ἀμοιβὸν ἀντιδοὺς ἔσῃ, ἀνϑ’ ὧν ἔχεις μὲν τῶν ἄνω βαλὼν κάτω, ψυχήν γ’ ἀτίμως ἐν τάφῳ κατοικίσας, ἔχεις δὲ τῶν κάτωϑεν ἐνϑάδ’ αὖ ϑεῶν 1070 ἄμοιρον, ἀκτέριστον, ἀνόσιον νέκυν. ὧν οὔτε σοὶ μέτεστιν οὔτε τοῖς ἄνω ϑεοῖσιν, ἀλλ’ ἐκ σοῦ βιάζονται τάδε. Du wirst für die Toten einen Toten hergeben, da Du etwas, dessen Platz oben ist, nach unten gestoßen hast, indem Du eine Seele ehrlos in ein Grab gesperrt hast, 218 3 Die Antigone <?page no="219"?> 361 Zu zurückhaltend Gardiner (1987, 95 mit Anm. 22) oder Cairns (2016, 24; positiver äußert er sich auf S. 75): Wie oben 1.5.1.1 gesagt, annulliert die Unwahrscheinlichkeit eines Happy-Ends das Potential nicht, die Zuschauer zu engagieren (vgl. zur Wirkung dieser Szene auch Rohdich 1980, 207; Seale 1982, 103 f.). [1070] andererseits aber hierbehalten hast, was den unteren Göttern gehört, einen beraubten, unbestatteten, unheiligen Leichnam! Dieser kommt weder Dir noch den oberen Göttern zu, aber Du hast ihnen dies aufgezwungen. Damit erfüllen sich die davor geweckten Hoffnungen: Kreons Problematik wird vom Seher autoritativ affirmiert, doch jetzt steht seine Bestrafung unmittelbar bevor. Dann indes geschieht das Unerwartete: Kreon wird unsicher, lässt sich vom Chor zur eubulia bekehren und erkennt, dass er mit seiner Idiosynkrasie gegen die „bestehenden“ - das heißt angesichts von Teiresias’ Aussagen, die göttlichen - Gesetze verstoßen hat. Darauf geht er ab, um Antigone zu befreien sowie Polyneikes zu bestatten (vv. 1098 und 1108-1114): . εὐβουλίας δεῖ, παῖ Μενοικέως, †λαβεῖν†. 1098 […] . […] ἐγὼ δ’, ἐπειδὴ δόξα τῇδ’ ἐπεστράφη, 1111 αὐτός τ’ ἔδησα καὶ παρὼν ἐκλύσομαι. δέδοικα γὰρ μὴ τοὺς κεϑεστῶτας νόμους ἄριστον ᾖ σῴζοντα τὸν βίον τελεῖν. [1098] r Der Wohlberatenheit musst Du Dich, Kind des Menoikeus, befleißigen. […] r. […] [1111] Ich aber, dessen Meinung sich so geändert hat, habe sie selbst gefesselt und werde sie mit eigener Hand erlösen. Ich denke nämlich, dass unter Be‐ achtung der bestehenden Gesetze das Leben zu retten und dieses sicher abzuschließen das Beste ist. Darin liegt nun der zweite Schritt in der Neuausrichtung des Engagements: Die Zuschauer beobachten, wie die Perspektiven des Chors und des Kreon im Hinblick auf das gemeinsame Ziel konvergieren, die Katastrophe abzuwenden, und werden entsprechend für dieses Bemühen engagiert. 361 Kurzum, eubulia scheint plötzlich auch in Theben nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich. Die Lösung, nach der Kreon nunmehr strebt, ist dabei besonders attraktiv, würden darin doch alle Schwierigkeiten mit einem Schlag verpuffen. Der Grund nämlich, warum die Hoffnung auch auf eine Bestrafung des Kreon nur ein stückweit befriedigend sein konnte, lag darin, dass man Antigones Problematik nicht bestreiten konnte, sondern anerkennen musste, dass Kreon sie hat in den Tod schicken dürfen, auch wenn er sich selbst vergeht. Hier 219 3.7 Der vierte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft III <?page no="220"?> 362 So Brown (1987, 207 f.), Oudemans und Lardinois (1987, 198), Sourvinou-Inwood (1989b, 147) und Riemer (1991, 29 f.); Sourvinou-Inwood weist auch darauf hin, dass Teiresias kein ‚ordentliches‘ Begräbnis für Polyneikes fordert, sondern irgendeines; auch dafür gilt, was unten zu zeigen sein wird: dass dies zu abstrakt gedacht ist. nun aber wird eine Befreiung der lebendig eingemauerten Antigone plötzlich Teil der Lösung. Es stimmt zwar, dass Teiresias, wie verschiedentlich festge‐ stellt worden ist, 362 Antigone nicht rehabilitiert und sich nur daran stört, dass Kreon sie falsch bestraft hat: Hätte er sie, wie ursprünglich geplant, steinigen (und dann natürlich begraben) lassen, hätte der Seher, so ist anzunehmen, keinen Anstoß genommen. Man könnte also in der suggerierten Reaktion auf Antigone Emotion und Vernunft nach wie vor getrennt sehen, insofern ihre Problematik als pièce de résistance nicht beseitigt wird. Entscheidend ist indes, dass Teiresias ihre Problematik auch nicht affirmiert, so dass das eben referierte interpretatorische Vorgehen zu abstrakt bleibt. Denn praktisch präsentiert sich die Situation so, dass Antigone von Kreon eingesperrt worden ist, dies aber nicht sein sollte. Pointiert könnte man also sagen, dass ein Insistieren auf Antigones Problematik es als folgerichtig erwiese, sie zu befreien, dann aber zu steinigen oder auf andere Weise hinzurichten (und natürlich zu begraben), zugleich aber das Bestattungsverbot aufzuheben, gegen das sie verstoßen hat - ein absurdes Szenario. Vielmehr kann man in der Hoffnung auf Antigones Befreiung endlich, zum ersten Mal im gesamten Stück, ihre Problematik bequem unter den Tisch fallen lassen, die Spannung zwischen Emotion und Vernunft scheint endgültig und vollständig überwunden. Dabei ist die nunmehr denkbare und im Stück angestrebte Lösung emotional sogar besonders befriedigend, da man bei einem Erfolg des Kreon auch die quälende Tatsache der Gleichheit der beiden Figuren komfortabel vergessen könnte: Antigone verließe ihren Kerker als Siegerin, in dem sie - wenngleich nur im eben beschriebenen Sinne - zu Unrecht festgehalten worden ist, Kreon hingegen bliebe als gerade noch einmal davon‐ gekommener und zurechtgestutzter Verlierer zurück. Doch nicht nur das: Auch Haimons Problematik, seinen ‚Wahnsinn‘, kann man bequem vergessen, wenn er nach Antigones Befreiung mit seiner Verlobten wieder vereint wird, nachdem die von ihm so entschieden vertretene eubulia triumphiert hat. Antigone und Haimon wären sich also nicht mehr darin gleich, dass man sich mit ihren Perspektiven in quälender Weise nicht vollständig identifizieren kann, sondern wären gleichermaßen Sieger über Kreon. Für diese Lösung, in der sich alle Pro‐ bleme in Luft auflösten, werden die Zuschauer am Ende des fünften Epeisodions engagiert. Dieses Engagement bestätigt darauf auch das fünfte Stasimon, in dem 220 3 Die Antigone <?page no="221"?> 363 Vgl. Segal (1981, 200) und Seale (1982, 104) dazu, dass das Lied die Bewegung in Richtung Hoffnung nachvollzieht, die das vorangegangene Epeisodion prägte. Ferner entwickelt ein Chor, der einen kletischen Hymnos auf Dionysos singt, natürlich aufgrund der Zurückbindung an den Festkontext ein besonderes Identifikationspotential (vgl. 1.5.1.2 oben sowie Zimmermann 2005, 59; 2016, 259). der Chor um die „Reinigung“ der Stadt bittet: Auch mit seiner Perspektive als des Vertreters der Polis kann man sich wieder unproblematisch identifizieren. 363 3.7.2.2 Die doch nicht überwundene Spannung Doch diese Hoffnung zerschlägt sich. Die Art und Weise, in der Sophokles die Hoffnung auf eine Lösung sich zerschlagen lässt, ist dabei dadurch gekenn‐ zeichnet, dass er die beiden oben 3.7 und 3.7.2.1 beschriebenen Schritte hin zu einer vollständig befriedigenden Lösung systematisch zurück geht. Der zweite Schritt hatte darin bestanden, dass die emotionale Dynamik endlich nicht mehr durch den ‚vernünftigen‘ Hinweis auf Antigones (und Haimons) Problematik gewissermaßen übersteuert wurde. Diese Problematik kehrt hier nun aber zurück. Was Haimon betrifft, zeigt dies der Bericht eines Boten, der Folgendes meldet: Nachdem Kreon Polyneikes ordnungsgemäß, ja ehrenvoll bestattet hatte, eilte er zu Antigones Felsengefängnis, fand dort seine Nichte aber erhängt vor, im Beisein Haimons. Dieser stürzte sich auf seinen Vater und versuchte ihn zu töten, doch dies gelang ihm nicht, und so brachte er sich selbst um; Kreon seinerseits ist durch den Verlust seines Sohnes ebenfalls zerschmettert. Dabei äußert der Bote sich an zwei Stellen zur Frage nach der Verantwortung für das Geschehene (vv. 1173 und 1231-1243): τεϑνᾶσιν [sc. ὁ Αἵμων]· οἱ δὲ ζῶντες [sc. ὁ Κρέων] αἴτιοι ϑανεῖν. 1173 […] τὸν δ’ ἀγρίοις ὄσσοισιν παπτήνας ὁ παῖς, πτύσας προσώπῳ κοὐδὲν ἀντειπών, ξίφους ἕλκει διπλοῦς κνώδοντας, ἐκ δ’ ὁρμωμένου πατρὸς φυγαῖσιν ἤμπλακ’· εἴϑ’ ὁ δύσμορος αὑτῷ χολωϑείς, ὥσπερ εἶχ’, ἐπενταϑεὶς 1235 ἤρεισε πλευραῖς μέσσον ἔγχος, ἐς δ’ ὕγρον ἀγκῶν’ ἔτ’ ἔμφρων παρϑένῳ προσπτύσσεται· καὶ φυσιῶν ὀξεῖαν ἐκβάλλει ῥοὴν λευκῇ παρειᾷ φοινίου σταλάγματος. κεῖται δὲ νεκρὸς περὶ νεκρῷ, τὰ νυμφικὰ 1240 τέλη λαχὼν δείλαιος ἔν γ’ Ἅιδου δόμοις, 221 3.7 Der vierte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft III <?page no="222"?> 364 Vgl. Griffith 1999, ad vv. 1242f. 365 Vgl. Di Benedetto 1988, 13. δείξας ἐν ἀνϑρώποισι τὴν ἀβουλίαν ὅσῳ μέγιστον ἀνδρὶ πρόσκειται κακόν. [1173] Sie sind tot [sc. Haimon]; die Lebenden [sc. Kreon] aber sind schuld daran. […] Den aber blickte das Kind mit wilden Augen an und spuckte ihm ins Gesicht; dann, ohne eine Antwort zu geben, zog er sein doppelschneidiges Schwert, da sich dieser aber zurückzog, verfehlte er den Vater; der Unglückliche, [1235] da er mit sich selbst zornig war, lehnte sich, so, wie er gerade war, auf das Schwert, trieb es bis zur Mitte in seine Seite und nahm in seinen schwachen Arm, noch bei Sinnen, das Mädchen und umfasste es; er gab von sich einen scharfen Strahl von Blut und befleckte ihre weiße Wange. [1240] Dann lag er tot bei einem Leichnam, nachdem er die Hochzeitsriten im Haus des Hades vollzogen hatte, der Unglückliche; dadurch zeigte er, dass Torheit für die Menschen das größte Übel ist, das einen Mann ereilen kann. Die zweite Schilderung kompliziert dabei die zunächst geäußerte Schuldzuwei‐ sung an Kreon. Unter dem „Mann“, für den, wie Haimons Suizid zeigt, „Torheit“ das größte Übel ist, sollte man gewiss auch Kreon verstehen, doch der Bote spricht „Torheit“ hier Haimon ebenfalls zu, dem Subjekt des Partizips δείξας 1242. 364 Diese Wahrnehmung fügt sich nun in die Beschreibung der Umstände seines Suizids, der er sich zuerst mit „wilden Augen“ auf seinen Vater gestürzt habe, bevor er sich umbrachte: Haimon war wahnsinnig, und dieser Wahnsinn ist die Kulmination der Lossagung von seinem Vater und der Privilegierung seiner Hingabe an Antigone, mit der er im dritten Epeisodion abgegangen war: Hatte ihn Kreon dort aufgefordert, Antigone „auszuspeien“ (vv. 653 f.), spuckt er nun seinen Vater an und entscheidet sich - in der pervertierten Form einer ‚Heirat im Hades‘ - in der Art eines Fanals für seine Verlobte, für die „Ehe“, die er im dritten Epeisodion verzweifelt vor seinem Vater hatte retten wollen. In dieser Beschreibung des Wahnsinns des Haimon kehrt nun die ‚polis‐ menschliche Vernunft‘ zurück, besonders die im dritten Stasimon gemachte Feststellung, dass die Privilegierung seiner Hingabe an Antigone problematisch sei (vgl. ὁ δ’ ἔχων μέμηνεν 790), und tatsächlich ist er am Ende, nicht weniger als sein Vater, vernichtet; die ate, so könnte man in Begriffen des zweiten Stasimons sagen, hat ihr Werk getan. 365 Haimons Suizid ist eine problematische, ‚unpolismenschlich-törichte‘ Privilegierung seiner Leidenschaft, wobei sich der ‚politische‘ Aspekt e negativo in der Beschreibung der „Wildheit“ seiner Augen mittels des Adjektivs ἀγρίοις 1231 findet, das, ähnlich wie das von Antigone 222 3 Die Antigone <?page no="223"?> 366 Vgl. Segal 1981, 32f. 367 Vgl. Else 1976, 70; Oudemans/ Lardinois 1987, 181; Griffith 1999, ad vv. 1233f. 368 Zum Wiedererscheinen der Antigone in Eurydike siehe insgesamt Segal 1995b. in den vv. 471 f. ausgesagte ὠμός, die Konnotation des ‚Unzivilisierten‘ hat: 366 Haimon wurde zum Tier. 367 Diesen Suizid hat Kreon verursacht, gewiss, er hat ihn „getötet“ (v. 1173), indem er ihn dazu zwang, sich gewaltsam für die Leidenschaft zu entscheiden, doch am Ende stehen mit Vater und Sohn zwei unterschiedslos durch ihre „Torheit“ vernichtete Figuren, sinnfällig ausgedrückt in ἀνδρὶ 1243 mit seinem doppelten Referenten. In Kreons Veranlassung des Haimon zur Schuld sind also erneut die in unüberwindbarer Spannung stehenden Momente ‚Differenz‘ und ‚Gleichheit‘ greifbar, und die Feststellung auch von Haimons Problematik kehrt zurück, statt dass man seine Perspektive unproblematisch privilegieren und feststellen könnte, dass alle Schuld an der Katastrophe bei Kreon liege und keine bei ihm. Bei Antigone ist die Rückkehr ihrer Problematik indirekt. Natürlich, sie ist es, die am Ende durch ihren Suizid die Katastrophe zwar nicht verursacht, aber ausgelöst hat, doch darauf wird direkt keine Aufmerksamkeit gelenkt. Viel wichtiger ist, dass Antigone in einer anderen Figur erneut erscheint, die am Stückende ins Spiel kommt: Eurydike, Gattin des Kreon und Mutter des Haimon. 368 Diese betritt nämlich nach der Ankündigung des Boten die Bühne und lauscht dann, zusammen mit dem Chor, seinem Bericht, bevor sie schweigend abgeht. Dieses ominöse Schweigen löst Spekulationen zwischen dem Boten und dem Chor über ihren mentalen Zustand aus (vv. 1246-1256): Α . […] ἐλπίσιν δὲ βόσκομαι ἄχη τέκνου κλυοῦσαν ἐς πόλιν γόου οὐκ ἀξιώσειν, ἀλλ’ ὑπὸ στέγης ἔσω δμωαῖς προσϑήσειν πένϑος οἰκεῖον στένειν. γνώμης γὰρ οὐκ ἄπειρος, ὥσϑ’ ἁμαρτάνειν. 1250 . οὐκ οἶδ’· ἐμοὶ δ’ οὖν ἥ τ’ ἄγαν σιγὴ βαρὺ δοκεῖ προσεῖναι χἠ μάτην πολλὴ βοή. Α . ἀλλ’ εἰσόμεϑα, μή τι καὶ κατάσχετον κρυφῇ καλύπτει καρδίᾳ ϑυμουμένῃ, δόμους παραστείχοντες· εὖ γὰρ οὖν λέγεις. 1255 καὶ τῆς ἄγαν γάρ ἐστί που σιγῆς βάρος. B e […] Ich hoffe sehr, dass sie, nachdem sie vom Leiden des Kindes gehört hat, gegenüber der Stadt keine Klage vorbringen wird, sondern drinnen im Haus den Dienerinnen auftragen wird, privat ihr Leid zu bejammern. [1250] Sie ist nämlich 223 3.7 Der vierte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft III <?page no="224"?> 369 λοίσϑιον δέ σοι κακὰς / πράξεις ἐφυμνήσασα τῷ παιδοκτόνῳ 1304 f. (…nachdem sie als letztes Deine üblen [1305] Taten verflucht hatte, die Taten eines Kindermörders). 370 Zum Suizid als Verwirklichung ihrer „Autonomie“ - das heißt, ihrer vom Chor in v. 875 problematisierten Eigenschaft - vgl. Riemer 1991, 40 f.; ähnlich Lefèvre 2001, 107. 371 Vgl. Lefèvre 2001, 114. guten Sinnes nicht unteilhaftig, so dass sie sich vergehen könnte. r Ich weiß nicht; für mich erscheint übertriebenes Schweigen ebenso ominös wie sinnloses, lautes Geschrei. B e Wir werden erfahren, ob sie nicht eine heimliche Absicht verborgen hält in ihrem aufgewühlten Herzen, [1255] indem wir ins Haus gehen; Du sprichst nämlich recht. Auch das übertriebene Schweigen hat etwas Ungutes. Entscheidend ist nun, dass hier die beiden Akteure gemeinsam einen Maßstab für Eurydikes und allgemein für angemessenes (weibliches) Verhalten formu‐ lieren: maximale, ‚vernünftige‘ (vgl. γνώμης ἄπειρος 1250) Zurückhaltung auch im Angesicht des Verlusts von philoi - alles andere ist ein „Vergehen“ (vgl. ἁμαρτάνειν 1250). Eurydike allerdings genügt diesem Maßstab in eklatanter Weise nicht. Denn etwas später, nachdem Kreon mit dem Leichnam seines Sohnes die Bühne betreten hat, meldet der Bote, der in den Palast abgegangen war, um nach ihr zu sehen, ihren Suizid aufgrund des Verlusts ihres Sohnes, wobei sie insbesondere Kreon, den „Kindermörder“, verfluchte. 369 Dieser Suizid ist emotional durch und durch verständlich und durch Kreons „Kindermord“ herbeigeführt, doch eben nicht frei von Problemen, sondern gemäß dem unmit‐ telbar vor ihrem Abgang formulierten Maßstab ein „Vergehen“. Auf diese Weise erscheint in Eurydike, die aus Hingabe an ihre philoi den Tod gewählt und sich so „vergangen“ hat, statt sich ‚vernünftig‘ zu disziplinieren, die andere weibliche Figur, auf die diese Beschreibung bis ins Letzte auch zutrifft: Antigone, die sich aus Hingabe an ihren Bruder ‚unvernünftig‘ für den Tod entschieden und diese Entscheidung mit ihrem Suizid realisiert hat. 370 Entsprechend tritt der Vergehenscharakter dieses Verhaltens wieder ins Bewusstsein: Wie Eurydikes (und Haimons) Suizid ist auch derjenige der Antigone von Kreon herbeigeführt worden (auch sie hat er „ermordet“: vgl. πατρὶ μηνίσας φόνου 1177) und unbedingt nachvollziehbar, doch zugleich eine problematische Privilegierung der emotionalen Bindung, und tatsächlich sind auch die Frauen am Ende, nicht weniger als der König, vernichtet durch ihr „Vergehen“. 371 Diese Gleichheit unterstreicht Sophokles dabei, indem er auch Kreons Geschick mit Wörtern der ἁμαρτία-Familie beschreibt (vv. 1257-1262): . καὶ μὴν ὅδ’ ἄναξ αὐτὸς ἐφήκει μνῆμ’ ἐπίσημον διὰ χειρὸς ἔχων, εἰ ϑέμις εἰπεῖν, οὐκ ἀλλοτρίαν 224 3 Die Antigone <?page no="225"?> ἄτην, ἀλλ’ αὐτὸς ἁμαρτών. 1260 . ἰὼ φρενῶν δυσφρόνων ἁμαρτήματα στερεὰ ϑανατόεντ’ r Und der Herr selbst kommt herbei, ein Mahnmal in Händen haltend, wenn man dies sagen kann, kein fremdes [1260] Verhängnis, sondern Ergebnis seines eigenen Vergehens. r. Io, Vergehen des törichten Geistes, starr und tödlich Auf diese Weise führt Sophokles die Zuschauer durch ihre Engagierung nicht an die erhoffte unproblematische Lösung heran, sondern im Gegenteil zurück zur Spannung zwischen Emotion und unüberwindbarer Vernunft, zwischen Differenz und Gleichheit: Diese kann im Stück, unter den dort herrschenden Rahmenbedingungen, nicht überwunden werden, die Illusion, dass auch in Theben erfolgreiche eubulia möglich sei, zerschlägt sich. Kreon hatte sich zwar zu diesem Wert bekehrt, doch dies war zu spät gewesen, die thebanischen Au‐ toritätsträger Teiresias und Chor haben ihn mit ihren entsprechenden Appellen nicht retten können, und am Ende steht, wie oben gezeigt, allseitige „Torheit“. Dadurch, dass die Illusion zerstört wird, in Theben sei eubulia doch möglich, steht am Ende der Katastrophe endgültig die Affirmation einer eubulia, die Emotion und Vernunft verbindet, die Katastrophe verhindert hätte und welche die Zuschauer, wie oben 3.5.5 ausgeführt, in ihrer Lebenswelt, im Unterschied zum Theben des Stückes, als verwirklicht oder zumindest verwirklichbar be‐ trachten konnten. Dies ist das Resultat, an das Sophokles die Zuschauer durch die Rhetorik der Involvierung herangeführt hat. Diese positive ‚Botschaft‘ schärft Sophokles noch deutlicher ein, indem er auch den ersten oben beschriebenen Schritt zurückgeht, auch einen einigermaßen befriedigenden Ausgang innerhalb der stückimmanenten Rahmenbedingungen verunmöglicht. Denn die Tatsache, dass man die Problematik von Haimons und Antigones Reaktionen trotz der emotionalen Nachvollziehbarkeit nicht leugnen kann, könnte immerhin dadurch abgemildert werden, dass diese beiden Kräfte zumindest im Hinblick auf Kreon in dieselbe Richtung wirken, die Zuschauer also, wie sie mit Antigones Abgang zu hoffen angehalten worden waren, befriedigt zur Kenntnis nehmen könnten, dass er wenigstens konsequenterweise auch bekommen hat, was er verdient. Diese Reaktion blockiert Sophokles nun aber systematisch. Denn auch in Bezug auf Kreon wirken Emotion und Vernunft nun nicht mehr in dieselbe Richtung. Besonders deutlich wird dies im Austausch des Kreon mit dem Chor, in dem eine Entkopplung vorliegt, wie sie aus dem dritten und dem vierten Epeisodion bekannt ist: Die Reaktion des Chors ist von der sachlich richtigen und innerhalb der Chorperspektive konsistenten Wahrneh‐ 225 3.7 Der vierte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft III <?page no="226"?> 372 Vgl. Seale 1982, 106; Cairns 2016, 34 f. und 55; zu pauschal Patzer 1978, 86. mung geprägt, dass Kreon nur erhält, was ihm zusteht. Diese Reaktion erscheint jedoch emotional unangemessen, da Kreons Perspektive in seinem Leiden ein deutliches Identifikationspotential entwickelt, genauso, wie die nüchterne und sachlich richtige Feststellung von Haimons und Antigones Problematik durch den Chor davor jeweils unangemessen erschienen war. Das Identifikationspotential von Kreons Perspektive basiert dabei auf dem emotionalen ‚Sog‘, der von seinem Leiden ausgeht: Kreons Perspektive steht, wenn er die Bühne mit dem Leichnam seines Sohnes betritt und sein Verhängnis beklagt, deutlich im Fokus. Besonders klar wird dies in der Darstellung des Suizids der Eurydike, in dem Kreons Zerschmetterung kulminiert (vv. 1293- 1295): . ὁρᾶν πάρεστιν· οὐ γὰρ ἐν μυχοῖς ἔτι. . οἴμοι, κακὸν τόδ’ ἄλλο δεύτερον βλέπω τάλας. 1295 r Man kann es sehen; sie ist nämlich nicht mehr im Inneren des Hauses. r. Oh weh mir, [1295] ich sehe ein zweites Übel, ich Elender! Wenn Kreon nämlich auf ihr Erscheinen hingewiesen wird und auf ihren Leichnam blickt, der, wahrscheinlich auf dem Ekkyklema, sichtbar wird, dann werden die Zuschauer, wie verschiedentlich festgestellt worden ist, 372 dazu angehalten, zusammen mit Kreon darauf hinzublicken, unterstützt durch die Betonung des visuellen Moments (ὁρᾶν 1293, βλέπω 1295). Kreon reagiert nun auf diese Situation, in einem Kommos mit dem Chor, durch erneute lyrische Klage bis hin zum Todeswunsch (vv. 1317-1346): . ὤμοι μοι, τάδ’ οὐκ ἐπ’ ἄλλον βροτῶν ἐμᾶς ἁρμόσει ποτ’ ἐξ αἰτίας. ἐγὼ γάρ σ’, ἐγώ σ’ ἔκανον, ὢ μέλεος, ἐγώ, φάμ’ ἔτυμον. ἰὼ πρόσπολοι, 1320 ἄγετε μ’ ὅτι τάχιστ’, ἄγετε μ’ ἐκποδών, τὸν οὐκ ὄντα μᾶλλον ἢ μηδένα. 1325 . κέρδη παραινεῖς, εἴ τι κέρδος ἐν κακοῖς. βράχιστα γὰρ κράτιστα τἀν ποσὶν κακά. . ἴτω ἴτω φανήτω μόρων ὁ κάλλιστ’ ἔχων 226 3 Die Antigone <?page no="227"?> 373 Vgl. Di Benedetto 1988, 9f. ἐμοὶ τερμίαν ἄγων ἁμέραν 1330 ὕπατος· ἴτω ἴτω, ὅπως μηκέτ’ ἆμαρ ἄλλ’ εἰσίδω. . μέλλοντα ταῦτα. τῶν προκειμένων τι χρὴ πράσσειν. μέλει γὰρ τῶνδ’ ὅτοισι χρὴ μέλειν. 1335 . ἀλλ’ ὧν ἐρῶ μέν, ταῦτα συγκατηυξάμην. . μή νυν προσεύχου μηδέν· ὡς πεπρωμένης οὐκ ἔστι ϑνητοῖς συμφορᾶς ἀπαλλαγή. . ἄγοιτ’ ἂν μάταιον ἄνδρ’ ἐκποδών, ὃς, ὦ παῖ, σέ τ’ οὐχ ἑκὼν κατέκτανον 1340 σέ τ’ αὖ τάνδ’ [sc. ὦ Ἀντιγόνα], ὤμοι μέλεος, οὐδ’ ἔχω πρὸς πότερον ἴδω, πᾷ κλιϑῶ· πάντα γὰρ λέχρια τἀν χεροῖν, τὰ δ’ ἐπὶ κρατί μοι 1345 πότμος δυσκόμιστος εἰσήλατο. r. Oh weh mir, dies kann nie auf einen anderen Sterblichen übertragen werden, sondern ist meine Schuld. Ich nämlich habe Dich, ich habe Dich getötet, oh Du Unglücklicher, [1320] ich, ich sage die Wahrheit! Io Diener, führt mich so schnell wie möglich, führt mich weg, [1325] der ich nicht mehr als ein Niemand bin! r Nützliches mahnst Du an, wenn es einen Nutzen gibt inmitten der Übel. Wenn man sich nämlich Übeln gegenübersieht, ist das Schnellste das Beste. r. Es komme, es komme, es erscheine der beste Tod [1330] für mich, der den letzten Tag bringt, das Ende! Er komme, er komme, damit ich keinen Tag mehr sehe! r Dies liegt in der Zukunft. Man muss aber das unmittelbar vor unseren Füßen Liegende [1335] betreiben. Jenes nämlich wird die kümmern, die dies kümmern muss. r. Um das, was ich mir wünsche, habe ich bereits gebetet! r Bete nun um nichts! Vom verhängten Schicksal gibt es kein Entkommen für die Sterblichen. r. Führt den wertlosen Mann weg, [1340] der, o Kind, Dich nicht absichtlich tötete, und auch Dich nicht [sc. o Antigone], oh weh mir Armem, und ich weiß nicht, wohin ich blicken soll, wohin mich lehnen! [1345] Denn zerronnen ist alles in den Händen, und auf meinen Kopf hat sich gestürzt ein schwer zu bewältigendes Schicksal. Auffällig daran ist, dass der Chor, anders als in solchen Kommoi üblich, die klagende Figur nicht tröstet, sondern Kreons heftiger Emotionalität entgegen‐ tritt. 373 Dabei weist er in den vv. 1337 f. auf die Tatsache hin, dass Kreons Leiden schicksalhaft ist, ganz gleich also, wie er Antigones Klage im vierten Stasimon unter Verweis auf das Wirken des Schicksals kühl getadelt hatte: Er 227 3.7 Der vierte Handlungsbogen: die Spannung zwischen Emotion und Vernunft III <?page no="228"?> hat sich durch sein idiosynkratisches, ‚törichtes‘ Verhalten, genau gleich wie seine Nichte, gegen den Willen der Götter vergangen, und dafür hat ihn nun die ate heimgesucht. Dass er von einem Chor, der durchgehend die ‚vernünftige‘ Normalität vertreten hat, nicht auf Verständnis hoffen kann, liegt nahe, und tatsächlich hatte dieser Kreons Schuld, für die er nun die Strafe erhalten hat, etwas früher bereits explizit festgestellt (v. 1270): οἴμ’ ὡς ἔοικας ὀψὲ τὴν δίκην ἰδεῖν. 1270 [1270] Oh weh, wie spät scheinst Du die Gerechtigkeit zu erkennen. Die von Kreons Leiden ausgehende emotionale Dynamik wirkt nun aber einer Reaktion entgegen, damit zufrieden zu sein, dass nun der Abschluss erreicht ist, auf den man im Anschluss an das vierte Epeisodion zu hoffen angehalten worden war. Vielmehr kommt es hier, in der Kontrastierung der Perspektiven des Chors und Kreons, erneut zu einer Entkopplung der emotionalen von der intellektuell-normativen Dimension, wie sie das dritte und das vierte Epeisodion präsentiert hatte, nur dass die emotionale Dynamik nunmehr für Kreon arbeitet, während der Chor ohne Frage ‚Recht‘ hat, seine Reaktion aber emotional durchaus unangemessen erscheint. Sophokles lässt die Spannung zwischen Emotion und Vernunft also im Stück vollkommen ohne Auflösung. 3.8 Was am Ende bleibt: die positive ‚Botschaft‘ In diese Situation hinein spricht der Chor seine Schlussgnome (vv. 1347-1353): πολλῷ τὸ φρονεῖν εὐδαιμονίας πρῶτον ὑπάρχει· χρὴ δὲ τά γ’ ἐς ϑεοὺς μηδὲν ἀσεπτεῖν· μεγάλοι δὲ λόγοι 1350 μεγάλας πληγὰς τῶν ὑπεραύχων ἀποτείσαντες γήρᾳ τὸ φρονεῖν ἐδίδαξαν. Bei weitem ist Vernunft des Glücks erste Voraussetzung; man darf aber auch den Göttern [1350] die Ehre nicht verweigern; große Reden bringen große Strafen für die, die ihren Mund aufreißen, und so lernen diese mit der Zeit Vernunft. Am Ende steht also eine erneute Affirmation der „Vernunft“ als ‚Botschaft‘, welche die Gnome gewichtig rahmt. Das ganze vorangegangene Stück ab dem zweiten Auftritt der Ismene hat indes, wie in diesem Kapitel gezeigt, gerade nicht dazu hingeführt, sich mit dieser ‚Botschaft‘ des Chors zufriedenzugeben. 228 3 Die Antigone <?page no="229"?> 374 Zur Schlussgnome vgl. Segal 1995b, 136 f. 375 Vgl. oben Anm. 342; zur optimistischen Zeitstimmung, in der die Antigone in Athen aufgeführt wurde, vgl. Flashar 2000, 58f. 376 Siehe dazu oben Anm. 16. 377 Siehe Lada 1993, 130 Anm. 84 für Referenzen sowie 124 f. zur Antigone; ferner Goldhill (2000, 40 f.), der die Parallelität beider Sphären als Orte von Vernunft und Emotion Vielmehr ist in der auf Kreon bezogenen Schlussgnome die Spannung zwischen Emotion und Vernunft gleichsam beschlossen und somit auch die fundamentale Unzulänglichkeit des im Stück herrschenden autoritativen Diskurses, gerade, weil die Schlussgnome natürlich ein Ort ist, an dem das Sprechen des Chors grundsätzlich besonders autoritativ ist - oder dies sein sollte. 374 Sophokles lässt also in der Antigone, ganz ähnlich wie im Aias, die Zuschauer am Stückende mit einer unaufgelösten Spannung zurück. In beiden Stücken indes lässt sich aus dieser Tatsache eine positive ‚Botschaft‘ gewinnen, welche die Zuschauer besonders in ihrer lebensweltlichen Identität als athenische Bürger anspricht. Denn im demokratischen Athen kann die eubulia verwirklicht werden, die im Stück in so quälender Weise nicht hat verwirklicht werden können. In Athen nämlich kann man nicht nur durch seine vollständige Zerschmetterung, „mit der Zeit“, von anderen „lernen“, vielmehr besteht die dort mögliche eubulia darin, von Anfang an auf andere zu hören, so die Spannung zwischen Emotion und Vernunft produktiv aufzuheben und es gar nicht erst zur Katastrophe kommen zu lassen, wie dies Theseus dann im Oidipus auf Kolonos nahelegen wird. 375 Indem Sophokles die Zuschauer mit dieser ‚Botschaft‘ aus dem Stück entlässt, beansprucht er zuletzt auch einen Platz für seine dramatische Kunst im Gefüge der demokratischen Polis. Denn mit seiner Schlussgnome affirmiert er die Fähigkeit des Dramas, zu lehren (beachte ἐδίδαξαν 1353, das letzte Wort). Das Stück hat dabei aber deutlich gemacht, dass diese Belehrung eben nicht darin besteht, ex cathedra Wahrheiten zu verkünden, wie dies der Chor am Ende tut. Diese besteht vielmehr in der gekonnten Ausübung der für das Drama konstitutiven Tätigkeit, der Erregung von Sym- und Antipathie als eines komplexen, die Dimensionen ‚Emotion‘ und ‚Intellekt‘ (oder, in den hier verwendeten Begriffen, ‚Vernunft‘) umfassenden ‚Gesamtpaketes‘. Sophokles stellt dem politischen Wert der eubulia hier also das ‚empathetic understanding‘ des Tragödienzuschauers zur Seite, das ebenfalls Emotion und Vernunft verei‐ nigt. 376 Denn nur, wer diesen beiden Dimensionen Rechnung getragen hat, hat die im Stück beschlossenen Signale angemessen gewürdigt, insbesondere sich in angemessener Weise in dieses involvieren lassen. Auf diese Weise erweist Sophokles, gemäß der immer wieder festgestellten Parallele zwischen Theater und im engen Sinne politischen Institutionen, 377 seine dramatische Kunst als 229 3.8 Was am Ende bleibt: die positive ‚Botschaft‘ <?page no="230"?> feststellt: „As with rhetoric in the assembly or lawcourts, emotional, political and intellectual responses intertwine in intricate manners, for which a single model, which aggressively privileges one strand of response, is unlikely to be sufficient to the complexity of how meanings and feelings are produced in the theatre.“ 378 Siehe oben 3.5.5. 379 Siehe z. B. Heath 1987, 38-44; Taplin 2 2003, 166. 380 T. Gb. 25 Radt. durch und durch ‚politisch‘, ohne dass sie deswegen sozusagen zur Predigt würde und aufhörte, dramatische Kunst zu sein. Dabei lässt sich sagen, dass Sophokles auch in dieser Hinsicht das Selbstbild seiner intendierten Rezipienten nicht bloß bestätigt, sondern erweitert. Denn die übliche zeitgenössische Wahrnehmung der Funktion tragischer Kunst bestand, in auffälliger Parallele zum eher dürren Rationalismus im Politischen, 378 in der Betonung einer für heutige Begriffe irritierend banalen Didaxe, dem oben erwähnten Verkünden von Wahrheiten ex cathedra.  379 Sophokles weist also hier auch, was seine dramatische Kunst betrifft, auf eine reichhaltigere Realität hin, für die in der konventionellen Ideologie zu wenig Platz war. Die Antigone prä‐ sentiert sich somit als kraftvolle Affirmation der Lebensform seiner Zuschauer in ihrer ganzen, die im engen Sinne politischen Institutionen und das Theater umfassenden Breite und ihrem ganzen positiven Potential. Die berühmte Anek‐ dote, Sophokles sei aufgrund der Antigone ins Strategenamt gewählt worden, 380 lässt sich zwar nicht belegen, aber eine verständliche Reaktion auf dieses Stück wäre dies auf jeden Fall gewesen. 230 3 Die Antigone <?page no="231"?> 381 Für eine Doxographie siehe MacLeod 2001, 4-18; Wright 2005, Anm. 1 und 3 (Kitzinger [1991] ist allerdings falsch zugeordnet) sowie Schmitz 2016, 24-27. 4 Die Elektra 4.1 Kontextualisierung und Überblick Die Zweiteilung innerhalb der Interpretationsgeschichte, die beim Aias und bei der Antigone konstatiert wurde, findet sich auch bei der Elektra. Der Streitpunkt ist dabei die Beurteilung des Vollzugs der Rache an Agamemnons Mördern: Stellt diese, immerhin durch den Gott Apollon gedeckt, einen befriedigenden Abschluss dar, oder ist das Ende vielmehr ‚pessimistisch‘, zeigt also, dass die Rächer durch ihre Tat in irgendeiner Weise moralisch kompromittiert sind? 381 Die hier vorgeschlagene Antwort auf diese Frage stellt, ähnlich wie bei der Analyse des Aias und der Antigone, das Vorhandensein von Anhaltspunkten für beide Deutungen fest. Dabei konzentriert sie sich aber besonders auf deren Anordnung entlang des übergeordneten Handlungsbogens des Stücks, denn diesbezüglich lässt sich Sophokles ein Vorgehen zuschreiben, das einem bereits bekannten Muster entspricht: Sophokles hat die Signale durch den Einsatz der verschiedenen Akteursperspektiven dergestalt im Text platziert, dass immer wieder - konkret vier Mal - durch die Überwindung einer vorangegangenen Spannung die Hoffnung auf eine unproblematische Verwirklichung der vom Gott Apollon sanktionierten Gerechtigkeit im Sinne eines bestimmten Akteurs (oder einer Akteursgruppe) geweckt wird. Die Zuschauer werden also mit ganz verschiedenen Ansätzen konfrontiert, um der göttlichen Gerechtigkeit einen menschlichen Sinn abzugewinnen, und können deswegen wiederholt von Neuem hoffen, dass es jetzt aber endlich funktionieren könnte. Dieses Engagement führt die Zuschauer aber nicht an die erhoffte unproblematische Lösung heran, sondern jeweils an Situationen, in denen sie auf die spezifischen Probleme des Ansatzes gestoßen werden, für den sie davor engagiert worden waren: Das Engagement verliert sich also jeweils in einem moralischen Vakuum, so dass sich die vier Handlungsbogen zu einer übergeordneten Entwicklung fügen, in deren Verlauf die Rächer am Ende jede mögliche Chance bekommen haben, ihren Anspruch auf die Verwirklichung einer unproblematischen göttlichen Gerechtigkeit einzulösen, doch dabei gescheitert sind: Eine solche ist offensichtlich nicht möglich. Die <?page no="232"?> hier vorgestellte Analyse der Elektra unterscheidet sich also von denjenigen des Aias und der Antigone, insofern sie argumentiert, dass die Zuschauer nicht mit einer unaufgelösten Ambiguität, sondern mit einer klaren - pessimistischen - ‚Botschaft‘ zurückbleiben. Die Herausarbeitung dieses Pessimismus basiert aber gerade darauf, dass das bewusste Setzen von optimistischen Signalen entlang der Dramenhandlung als ein bewusstes Vorgehen des Dramatikers Sophokles gedeutet wird: Wären diese Signale nicht vorhanden, dann wäre der pessimis‐ tische Eindruck am Stückende weniger deutlich; statt also die optimistischen Signale im Interesse einer ‚pessimistischen‘ Deutung wegzudiskutieren, weist sie diesen eine zentrale Funktion im Stück zu und gelangt so über die eingangs geschilderte interpretatorische Dichotomie hinaus. 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag Der erste Handlungsbogen engagiert die Zuschauer für Elektras Agieren. Dieses ist davon gekennzeichnet, dass sie das spezifische Mittel ihrer ununterbro‐ chenen Klage einsetzt, um eine Rache zu befördern, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die ‚Hässlichkeit‘ von Agamemnons Ermordung auf dessen Mörder zurückgeworfen wird. Darin entwickelt Sophokles ein Motiv weiter, das bei Aischylos eine große Rolle gespielt hatte: das Talionsprinzip, das auch einen möglichen Schlüssel darstellt zu einem menschlich angemessenen Verständnis der im Stück wirkenden göttlichen Gerechtigkeit. Denn bei Sophokles steht zwar nicht Recht gegen Recht, aber es steht ‚Hässlichkeit‘ gegen ‚Hässlichkeit‘. Genau diese Tatsache problematisiert der Dichter dann am Ende des Handlungs‐ bogens, in Elektras Agon mit Klytaimestra, indem er die Titelfigur in einer Weise argumentieren lässt, die deutlich macht, dass sie sich der Implikationen ihres spezifischen Verständnisses von Gerechtigkeit nicht vollumfänglich bewusst ist: dass eine in ihrem Sinne verwirklichte Gerechtigkeit, entgegen ihrem Anspruch, kein menschlich angemessenes, beispielhaftes Vorgehen ist. Das auf Elektras spezifisches Agieren gerichtete Engagement führt also die Zuschauer nicht an eine Lösung in ihrem Sinne heran, sondern an eine Situation, in der die spezifischen Defizite ihres Ansatzes deutlich werden. 232 4 Die Elektra <?page no="233"?> 382 In der Regel wird Elektras Auftrittsthrenos (vv. 86-120) auch zum Prolog gezählt; hier soll aus praktischen Gründen der Einteilung von Flashar (2000, 125) gefolgt werden, also nur die vv. 1-85 als ‚Prolog‘ bezeichnet werden. 383 Zum Verhältnis der Elektra zu den Choephoren vgl. Schmitz 2016, 11-14. 4.2.1 Der Prolog als Ansatzpunkt Vorbereitet wird diese Entwicklung im Prolog, 382 indem dieser die Zuschauer, ähnlich wie im Aias und in der Antigone, mit einer Spannung und einer offenen Frage zurücklässt. Das Stück beginnt nämlich nicht mit der Exposition des oben 4.2 beschriebenen spezifischen Ansatzes der Elektra, sondern desjenigen des Orest und seines alten Erziehers, der in einem Verhältnis maximaler ‚otherness‘ zum Vorgehen Elektras steht und für diese entsprechend auch keinen Platz lässt. Diesen Ansatz präsentiert Sophokles jedoch im Prolog in einer Weise, dass er durch eine spannungsvolle Kontrastierung der Perspektive des Orest mit derjenigen des Alten die Frage aufwirft, wie selbstverständlich befriedigend dieser Ansatz wirklich ist, und insbesondere Zweifel aufkommen lässt an dessen Eignung, der göttlichen Gerechtigkeit des Apollon einen menschlichen Sinn abzugewinnen. Auf diese Weise stellt die Spannung am Ende des Prologs den Ansatzpunkt dar, um das Engagement der Zuschauer auf Elektras gegenüber dem Prolog ‚ganz anders‘ verstandene Gerechtigkeit zu richten, die Sophokles im weiteren Verlauf des Stückes exponiert. 4.2.1.1 Sophokles und Aischylos Die Involvierungswirkung des Elektra-Prologs basiert wesentlich auf Sophokles’ intertextueller Arbeit mit den aischyleischen Choephoren. 383 Ein Unterschied zum Hypotext liegt in der Darstellung der Motivation des Orest, Gerechtigkeit durch Täuschung zu verwirklichen, genauer durch das Vortäuschen seines eigenen Todes. Bei Aischylos hatte sich dieses Vorgehen aus dem Talionsprinzip ergeben - Agamemnon wurde durch Betrug zu Tode gebracht, entsprechend ist er auch durch Betrug zu rächen - und wurde von einem Orakel des Apollon gedeckt (vv. 555-559): αἰνῶ δὲ κρύπτειν τάσδε συνϑήκας ἐμάς, 555 ὡς ἂν δόλῳ κτείναντες ἄνδρα τίμιον δόλῳ γε καὶ ληφϑῶσιν, ἐν ταὐτῷ βρόχῳ ϑανόντες, ᾗ καὶ Λοξίας ἐφήμισεν, ἄναξ Ἀπόλλων, μάντις ἀψευδὴς τὸ πρίν. [555] Ich mahne dazu, diese meine Pläne nicht zu verraten, damit diese, nachdem sie einen ruhmvollen Mann durch Betrug getötet haben, auch selbst durch Betrug über‐ 233 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="234"?> wunden werden und durch dieselbe Schlinge sterben, wie auch Loxias es aufgetragen hat, der Herr Apollon, der davor immer ein unfehlbarer Seher war. Hatte Apollon bei Aischylos also sanktioniert, was Orest ohnehin zu tun ent‐ schlossen war (beachte „wie auch Loxias es aufgetragen hat“, v. 558), so steht bei Sophokles das Orakel am Ursprung des Täuschungsplans: Orest hatte gefragt, wie er Gerechtigkeit schaffen solle, und dann vom Gott den Befehl erhalten, dies mittels Täuschung zu tun. Dies konkretisiert er dann zur Vortäuschung seines eigenen Todes und legt diesen Plan seinem alten Erzieher dar, der ihn und seinen Freund Pylades nach Argos begleitet hat (vv. 35-38, 44-50, 59-66 und 73-76): χρῇ μοι τοιαῦϑ’ ὁ Φοῖβος ὧν πεύσῃ τάχα· 35 ἄσκευον αὐτὸν ἀσπίδων τε καὶ στρατοῦ δόλοισι κλέψαι χειρὸς ἐνδίκου σφαγάς. ὅτ’ οὖν τοιόνδε χρησμὸν εἰσηκούσαμεν, […] λόγῳ δὲ χρῶ τοιῷδ’, ὅτι ξένος μὲν εἶ Φωκέως παρ’ ἀνδρὸς Φανοτέως ἥκων· ὁ γὰρ 45 μέγιστος αὐτοῖς τυγχάνει δορυξένων. ἄγγελλε δ’ ὅρκον προστιϑείς, ὁϑούνεκα τέϑνηκ’ Ὀρέστης ἐξ ἀναγκαίας τύχης, ἄϑλοισι Πυϑικοῖσιν ἐκ τροχηλάτων δίφρων κυλισϑείς· ὧδ’ ὁ μῦϑος ἑστάτω. 50 […] τί γάρ με λυπεῖ τοῦϑ’, ὅταν λόγῳ ϑανὼν ἔργοισι σωϑῶ κἀξενέγκωμαι κλέος; 60 δοκῶ μέν, οὐδὲν ῥῆμα σὺν κέρδει κακόν. ἤδη γὰρ εἶδον πολλάκις καὶ τοὺς σοφοὺς λόγῳ μάτην ϑνῄσκοντας· εἴϑ’, ὅταν δόμους ἔλϑωσιν αὖϑις, ἐκτετίμηνται πλέον· ὣς κἄμ’ ἐπαυχῶ τῆσδε τῆς φήμης ἄπο 65 δεδορκότ’ ἐχϑροῖς ἄστρον ὣς λάμψειν ἔτι. […] εἴρηκα μέν νυν ταῦτα· σοὶ δ’ ἤδη, γέρον, τὸ σὸν μελέσϑω βάντι φρουρῆσαι χρέος. νὼ δ’ ἔξιμεν· καιρὸς γάρ, ὅσπερ ἀνδράσιν 75 μέγιστος ἔργου παντός ἐστ’ ἐπιστάτης. [35] Phoibos trägt mir solches auf, von dem Du gleich erfahren sollst: Ohne Schutz durch Schilde oder ein Heer soll ich durch Betrug mir stehlen die Abschlachtung mit gerechter Hand. Da wir also ein solches Orakel gehört haben, […] benutze Du eine 234 4 Die Elektra <?page no="235"?> 384 Vgl. Winnington-Ingram 1980, 236; MacLeod 2001, 35-37. 385 Pace Horsley 1980, 21; Blundell 1989, 150; siehe auch 4.2.2.3 unten. solche Rede, dass Du ein Gastfreund seist, der komme [45] von Phanoteus, einem Mann aus Phokien; dieser nämlich ist der größte ihrer Kriegsverbündeten. Melde unter Hinzufügung eines Eides, dass Orest gestorben sei durch unausweichliches Schicksal, als er bei den Pythischen Spielen aus dem beräderten [50] Wagen gestürzt sei; so soll die Rede sein. […] Was nämlich betrübt mich dies, wenn ich in Worten gestorben bin, [60] tatsächlich aber gerettet werde und mir Ruhm verschaffe? Ich denke, kein Wort ist schlecht, wenn es Gewinn bringt. Schon oft nämlich habe ich gesehen, dass auch die Klugen in Worten ihren Tod vorgetäuscht haben; dann aber, als sie wieder nach Hause kamen, wurden sie desto mehr geehrt; [65] so bin ich guter Dinge, dass auch ich, wenn ich aus dieser Rede lebendig erscheine, den Feinden leuchten werde wie ein Stern. […] Dies habe ich jetzt gesagt; Dir, Alter, sei es angelegen, hinzugehen und Deine Aufgabe zu erfüllen. [75] Wir beide aber wollen weggehen; es ist nämlich der richtige Zeitpunkt gekommen, der für Menschen am wichtigsten ist, um jedes Werk richtig zu vollbringen. Auffällig an Orests Rede ist, dass er in den vv. 59-66 einen Schritt zurück tut und über sein Vorgehen räsoniert. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, dass das Vorgehen mittels des Vortäuschens des eigenen Todes nicht den Grad an Selbst‐ verständlichkeit besitzt, den es bei Aischylos besessen hatte: 384 Der göttliche Auftrag sanktioniert nicht ein auf der Hand liegendes Vorgehen, vielmehr muss diesem Auftrag aus einer menschlichen Perspektive erst Sinn abgewonnen, Selbstverständlichkeit sozusagen verliehen werden. Doch Sophokles entfernt sich noch einen Schritt weiter von Aischylos. Orest schlägt nämlich nicht den angesichts der Choephoren auf der Hand liegenden Weg ein, dem göttlichen Auftrag als Verwirklichung des Talionsprinzips Sinn abzugewinnen; 385 vielmehr sieht er die Situation als eine Gelegenheit, „Ruhm“ und „Ehre“ (vv. 59 f. und 63 f.) zu gewinnen: Offenbar denkt er, dass seine lebendige Rückkehr, nachdem er vermeintlich gestorben ist, desto bemerkenswerter und darum ruhmesträch‐ tiger sei. Auf diese Weise entfernt Sophokles Orests Reaktion gleich zu Beginn deutlich von derjenigen seines aischyleischen Pendants. Die Frage ist nun, welche Signale zur Bewertung dieser Reaktion er im Text beschlossen hat, mit anderen Worten, welches Potential Orests Wahrnehmung seiner Tat als einer Gelegenheit zum Gewinn von Ruhm und Ehre besitzt, dem göttlichen Auftrag zur Schaffung von Gerechtigkeit gewissermaßen Selbstverständlichkeit zu verleihen. Bei der Beantwortung dieser Frage kommt die Multiperspektivität ins Spiel. 235 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="236"?> 386 Zu diesem Sprachverständnis vgl. Woodard 1964, 174-177; Kitzinger 1991, 302-304. Der Einwand, dass die hier vorgelegte Diskussion der Sprache einen unbotmäßig prominenten Platz einräume, lässt sich dabei leicht entkräften. Denn wenn dieses Sprachverständnis sich, wie gleich zu zeigen sein wird, durch eine Einebnung des Unterschieds zwischen Worten und Taten auszeichnet, dann folgt logischerweise, dass Sophokles hier anhand der Sprache eine grundlegende Weltsicht oder Mentalität ‚bloß‘ exemplifiziert: Wenn es keinen Unterschied gibt zwischen Worten und Taten, dann gilt alles, was man über Worte sagt, auch für alle anderen Bereiche menschlichen Tuns. Der Instrumentalismus, das Effizienzdenken, das, wie gleich zu zeigen sein wird, dieses Sprachverständnis prägt, ist entsprechend eben ein Aspekt der grundlegenden Mentalität der Prologfiguren, die sich auch in jedem anderen Bereich ihres Agierens zeigen kann. 4.2.1.2 Von der Antwort zur offenen Frage Diesbezüglich lässt sich nämlich eine Entwicklung feststellen von markierter Konvergenz hin zu einer Spannung, von einer Antwort zu einer offenen Frage und damit zur Involvierung. Denn Orests Wahrnehmung der von ihm göttlicherseits verlangten Täuschung in den Begriffen von Ruhm und Ehre ist mit einem bestimmten Verständnis von Sprache verknüpft: 386 „Kein Wort ist schlecht, wenn es Gewinn bringt“ (v. 61) - ein „Gewinn“, der eben in Ruhm und Ehre besteht. Das heißt, Sprache ist ein Instrument, das nach der Maßgabe des kairos, des „richtigen Moments“, einzusetzen ist: Am Ende von Orests Rede sind der Worte genug gewechselt (v. 73), diese haben ihre Funktion erfüllt, nun ist der „richtige Moment“ für „Taten“ gekommen (vv. 75 f.), wobei es sich bei der „Tat“, zu der Orest den Alten auffordert, nämlich der Überbringung des Berichts von seinem ‚Tod‘, wiederum um Worte handelt. Unter dem Gesichtspunkt dieses instrumentellen Sprachverständnisses besteht nun eine markierte Konvergenz zur Perspektive der anderen im Prolog sprechenden Figur, des alten Erziehers (vv. 15 f. und 20-22): νῦν οὖν, Ὀρέστα καὶ σὺ φίλτατε ξένων 15 Πυλάδη, τί χρὴ δρᾶν ἐν τάχει βουλευτέον· […] πρὶν οὖν τιν’ ἀνδρῶν ἐξοδοιπορεῖν στέγης, 20 ξυνάπτετον λόγοισιν· ὡς ἐνταῦϑ’ †ἐμὲν ἵν’ οὐκέτ’ ὀκνεῖν καιρός, ἀλλ’ ἔργων ἀκμή. [15] Jetzt also, Orest und Du, Bester der Gastfreunde, Pylades, muss schnell beraten werden, was zu tun ist; […] [20] bevor also ein Mensch aus dem Haus kommt, beratet Euch mit Reden; denn wir sind in einer Lage, wo die Berücksichtigung des richtigen Moments das Zögern verbietet und hohe Zeit für Taten ist. 236 4 Die Elektra <?page no="237"?> 387 Zur Einordnung von Orests Agieren, wie es im Prolog dargestellt wird, in den Rahmen der Polis Argos siehe MacLeod 2001, 31-33. Wenn der Alte nämlich dazu auffordert, sich jetzt mittels Worten zu beraten, da der „richtige Moment“ für Taten gekommen sei, so zeigt auch er ein instrumentelles Sprachverständnis: Sprache hat eine klar bestimmte, durch die Anforderungen der Situation bestimmte Funktion, bald ist es Zeit für Worte, bald für andere ‚Taten‘. Diese vollständige, markierte Konvergenz ist ein deutliches Sympathielenkungsmittel: Alle Figuren, deren Perspektiven Sophokles vorge‐ stellt hat, sind sich vollkommen einig. Entsprechend hat der Dichter keinerlei Anhaltspunkt gegeben, Orests Versuch für irgendetwas anderes als gelungen zu halten, dem göttlichen Auftrag als Gelegenheit zum Gewinn von Ruhm und Ehre Selbstverständlichkeit zu verleihen, also Sprache als ein beliebig manipu‐ lierbares Instrument zu verwenden, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen: Die Zuschauer können diesen Ansatz unproblematisch übernehmen, indem sie sich die diesem zugrundeliegende Mentalität zu eigen machen. Sophokles wirft also die Frage auf, wie selbstverständlich man sich mit Orests spezifischem Vorgehen identifizieren soll, doch beantwortet diese Frage im selben Atemzug, und zwar zugunsten des Orest. Wäre der Prolog also nach den ersten beiden Repliken zu Ende, dann wäre dessen Wirkung klar: Die Zuschauer wären unproblematisch für das spezifische Streben des Orest nach Ruhm und Ehre engagiert. Besonders ausgeprägt wäre das Engagement der Zuschauer dabei, da Orests Agieren durchaus eine ethische Qualität besitzt. Denn Ruhm, wie ihn sich Orest verspricht, ist, wie bereits im Aias gesehen, ein essentiell soziales Phänomen, die Belohnung eines herausragenden Einzelnen durch die Gemeinschaft, der dieser einen Dienst geleistet hat. Das heißt, Orest setzt in seinem Räsonnement selbst‐ verständlich das Vorhandensein eines ‚Publikums‘ für sein Agieren voraus, und bei diesem Publikum handelt es sich zumindest auch um die ‚zuhause‘ (vgl. v. 63), das heißt, in Argos, existierende menschliche Gemeinschaft. 387 Insbesondere geht Orest dabei selbstverständlich davon aus, dass seine Tötung von Agamemnons Mördern im Interesse dieser Gemeinschaft sei, und bringt auf diese Weise die göttliche Perspektive des Apollon nicht nur mit seiner ganz persönlichen Perspektive in Deckung, sondern auch mit derjenigen der im Stück existierenden menschlichen Gemeinschaft. Auf diese Weise gewinnt ein Engagement der Zuschauer im Hinblick auf Orests Agieren eine besondere Qualität: Die menschliche Gruppe der Athener, die Orest Erfolg wünschen, gewinnt eine Nähe zur menschlichen Gruppe der Argiver. Nun ist der Prolog aber nach den ersten beiden Repliken nicht zu Ende. Vielmehr wird nach Orests Rede eine klagende Frauenstimme aus dem Palast 237 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="238"?> 388 Vgl. Kitzinger 1991, 304. 389 Vgl. zu expressiven Sprechakten insgesamt Searle 1976, 12f. hörbar, von der man später erfahren wird, dass sie Elektra gehört; darauf reagieren die beiden Männer (vv. 77-86): . ἰώ μοί μοι δύστηνος. . καὶ μὴν ϑυρῶν ἔδοξα προσπόλων τινὸς ὑποστενούσης ἔνδον αἰσϑέσϑαι, τέκνον. . ἆρ’ ἐστὶν ἡ δύστηνος Ἠλέκτρα; ϑέλεις 80 μείνωμεν αὐτοῦ κἀπακούσωμεν γόων; . ἥκιστα. μηδὲν πρόσϑεν ἢ τὰ Λοξίου πειρώμεϑ’ ἕρδειν κἀπὸ τῶνδ’ ἀρχηγετεῖν, πατρὸς χέοντες λουτρά· ταῦτα γὰρ φέρειν 85 νίκην τέ φημι καὶ κράτος τῶν δρωμένων. . Oh weh, oh weh ich Unglückliche! A er Ich denke, ich habe hinter den Türen eine Sklavin drinnen klagen hören, Kind. [80] r. Ist die Unglückliche etwa Elektra? Möchtest Du, dass wir hierbleiben und uns die Klagen anhören? A er Keineswegs! Nichts eher als das des Loxias lasst uns vollziehen und damit unseren Anfang machen, [85] indem wir Trankopfer für den Vater ausgießen; dies nämlich, so sage ich, bringt Sieg und Erfolg in den Dingen, die wir tun. Um die Wirkung dieses Austausches zu ermessen, ist zunächst in Rechnung zu stellen, dass es sich beim Erklingen der Frauenstimme um das Eindringen des ‚ganz anderen‘ in die geschlossene Welt des Prologs handelt, die in den ersten beiden Repliken entworfen wurde. 388 Dies macht bereits die metrische ‚Disso‐ nanz‘ deutlich zwischen ‚prosaischen‘ jambischen Trimetern und schweren Anapästen. Doch die grundlegende Verschiedenheit geht weiter: Die Welt der ersten beiden Repliken ist, wie oben gezeigt, geprägt von Effizienzdenken, von der Auswahl der Mittel - insbesondere der sprachlichen - nach der Maßgabe des entsprechenden Zwecks, radikalisiert zur Manipulation, zum Betrug. Klage funktioniert dagegen grundlegend anders. Denn bei der Klage handelt es sich um einen expressiven Sprechakt, mit dem eine sprechende Person ihr Inneres nach außen trägt. Klage setzt also eine vollständige Übereinstimmung von Innenleben und sprachlichem Ausdruck voraus, die sie natürlich von einer Art des Sprechens grundlegend unterscheidet, in der jede Äußerung allein danach zu beurteilen ist, ob sie ein bestimmtes, außerhalb ihrer selbst liegendes Ziel erreicht. 389 Ferner ist die Welt der ersten beiden Repliken natürlich eine prononciert männliche, soldatische, geprägt vom Streben nach Ruhm und Ehre 238 4 Die Elektra <?page no="239"?> 390 Vgl. Woodard 1964, 165-167. 391 Für Testimonien zur vermeintlich natürlichen Klagefreudigkeit von Frauen siehe Dover 1974, 98-102; zur Unvereinbarkeit der Klage mit militärischer Tüchtigkeit Foley 2001, 43-45 392 Vgl. Foley 2001, 148. 393 Dieser Nachvollzug wird effektvoll dargestellt durch die Aufnahme von δύστηνος 77 in v. 80 (vgl. Finglass 2007, ad v. 77). 394 Zum Bezug auf Aischylos vgl. Friis Johansen 1964, 12 mit Anm. 13. Es stimmt natürlich, dass die Zuschauer sich im Prolog im Hinblick auf die Identität der Klagenden nicht sicher sein konnten, immerhin schreibt der Alte die Klage doch einer Sklavin zu (vv. 78 f.; dabei ist allerdings nicht sicher, ob wider besseres Wissen oder aus ehrlicher Überzeugung). Angesichts der Choephoren, in denen Orest zu Beginn des Stückes auch die Klage der Elektra hörte, bevor er sich dieser zu erkennen gab, warf Sophokles gegenüber den Zuschauern aber auf jeden Fall die Frage auf, ob es sich bei der Klagenden um Elektra handeln könnte, und eine Klärung dieser Frage und damit bereits die Möglichkeit einer Begegnung des Orest mit Elektra ist es, die der Alte verhindert. im Kampf; 390 die Klagende dagegen ist nicht nur eine Frau, der von ihr vollzogene Sprechakt der Klage war in der griechischen Antike gewissermaßen generisch mit Weiblichkeit assoziiert und beispielhaft ‚unkriegerisch‘. 391 Doch man muss sich für die Feststellung, dass für die Klage und ihre Urheberin in der Welt der ersten beiden Repliken kein Platz ist, nicht auf Inferenzen verlassen. Vielmehr macht dies die Reaktion des Alten selbst deutlich, wenn er Orest in den vv. 83-86 befiehlt, sich davon nicht beirren zu lassen, und ihn unter Verweis auf die ganz der angestammten Sphäre angehörenden Werte ‚Sieg‘ und ‚Erfolg‘ auf Linie bringt. 392 Damit ist allerdings das Entscheidende auch schon gesagt: Orest muss auf Linie gebracht werden, er hat sich durch die Klage beirren lassen, indem er das Unglück der Klagenden nachvollzog 393 und sich fragte, ob es sich dabei um seine Schwester Elektra handeln könnte und ob man diese Möglichkeit nicht prüfen solle, indem man erst einmal abwarte. Es kommt also zu einem Kontrast in den Reaktionen der beiden Männer auf die Klage, und dieser Kontrast kann nicht als irrelevant abgetan werden, da Orest nur kurz zögere, um dann weiterzufahren wie geplant. Denn in den vv. 77-86 gabelt sich der Weg in entscheidender Weise. Die von Orest eröffnete Möglichkeit, abzuwarten, ist nämlich nichts anderes als die Möglichkeit der Rückkehr zu Aischylos, hatten sich in den Choephoren die Geschwister doch früh im Stück getroffen und die Rache gemeinsam ins Werk gesetzt, während die Antwort des Alten in den vv. 83-86 deutlich macht, dass für Elektra in der sophokleischen Version des Planes kein Platz ist, sie selbst also auch von der Täuschung betroffen sein wird. 394 Dass Orests Zögern als Möglichkeit der Rückkehr zum Bekannten sich der Aufmerksamkeit der Zuschauer sicher sein konnte, liegt auf der Hand. 239 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="240"?> 395 Vgl. zum verunsichernden Effekt von Orests Zögern MacLeod 2001, 37 f.; im Rückblick lässt sich dabei würdigen, wie Sophokles dieses bereits in den ersten beiden Repliken vorbereitet hat. Entscheidend dafür ist, dass er Orest als Produkt seiner Erziehung durch den Alten darstellt: Dieser hat ihn als kleines Kind von Elektra übernommen und dann auf das Ziel hin erzogen, seinen Vater zu rächen (σε πατρὸς ἐκ φόνων ἐγώ ποτε / πρὸς τῆς ὁμαίμου καὶ κασιγνήτης λαβὼν / ἤνεγκα κἀξέσωσα κἀξεϑρεψάμην / τοσόνδ’ ἐς ἥβης, πατρὶ τιμωρὸν φόνου 11-14 [Dich habe ich einstmals, weggebracht vom Mord am Vater, von Deiner blutsverwandten Schwester erhalten, weggetragen, gerettet und aufgezogen bis in dieses Alter, als Rächer des Vatermordes]). Orests ganzes bisheriges Leben war also geprägt durch eine von außen kommende Abrichtung, und entspre‐ chend liegt es nahe, dass auch sein Selbstbild ein Produkt externer Vorgaben ist (vgl. Kitzinger 1991, 302-304): Orest hat gelernt, dass Sprache ein beliebig manipulierbares Mittel ist, und seine Affirmation dieses Grundsatzes präsentiert sich entsprechend als „Schülervortrag“, bei der er eifrig wiedergibt, was ihm beigebracht worden ist (Kitzinger 1991, 303: „a self-conscious recital“). Sein Zögern ist somit das Zögern einer Figur, der die ihr anerzogenen Werte und Auffassungen noch nicht komplett in Fleisch und Blut übergegangen sind. Die Wirkung des Kontrasts dieser Reaktion zu derjenigen des Alten besteht nun darin, dass dieser den oben beschriebenen Effekt entscheidend relativiert, die Zuschauer nicht mit der dort besprochenen Antwort, sondern mit einer offenen Frage zurücklässt. 395 Hatte mit v. 76 nämlich markierte Konvergenz vor‐ gelegen, die das gewählte Vorgehen als vollkommen unproblematisch auszeich‐ nete, so zeigt Sophokles nun, wie vier Klageworte genügen, um Orest auf dem eingeschlagenen Weg zögern zu lassen, obwohl er selbst davor das vom Alten hier gegenüber ihm reaffirmierte Selbstverständnis wesentlich mitentworfen hatte, das für ein Zögern wie das seine eigentlich keinen Anlass geben sollte. Der Kontrast zwischen Orest und dem Alten am Ende des Prologs wirft somit gegenüber den Zuschauern die Frage auf, wie selbstverständlich befriedigend das dort exponierte und am Ende vom Alten affirmierte spezifische Vorgehen wirklich ist. Damit wird insbesondere unsicher, wie sehr dieses als Ansatz taugt, um dem Täuschungsauftrag des Apollon, auf den in der abschließenden Replik des Alten die Aufmerksamkeit noch einmal gelenkt wird (vv. 82 f.), aus einer menschlichen Perspektive Selbstverständlichkeit abzugewinnen: Können sich die Zuschauer wirklich uneingeschränkt damit identifizieren, wenn dies nicht einmal Orest selbst so richtig gelingen will? Auf diese Weise involviert Sophokles die Zuschauer ins nunmehr beginnende Stück, das ihnen, so können sie hoffen, eine Antwort auf diese Frage ermöglichen wird. 240 4 Die Elektra <?page no="241"?> 4.2.2 Εlektra und der Chor: von der offenen Frage zum Engagement Diese offene Frage bietet nun den Anknüpfungspunkt für eine Engagierung der Zuschauer. Diese Frage hatte sich nämlich, wie oben 4.2.1.2 gezeigt, ergeben aus zwei kontrastierten Reaktionen auf die Klage: die eine, diejenige des Alten, konform mit den ersten beiden Repliken, hatte darin bestanden, Elektras ‚ganz anderem‘ Sprechen keinen Platz zuzugestehen; die andere Reaktion, diejenige des Orest, war dagegen von solcher Art gewesen, dass er sich der Klage als dem Ausdruck des Unglücks seiner Schwester nicht hatte entziehen können, sondern dieses anerkannte und nachvollzog, statt sich von dem ‚ganz anderen‘, das diese darstellt, nicht beirren zu lassen. Diese Spannung löst Sophokles nun nach und nach auf, allerdings nicht, indem er die Reaktion einer der beiden Prologfiguren direkt als unangemessen herausstellte, sondern indem er die Zuschauer die eben beschriebene Reaktion des Orest nachvollziehen lässt, so ihre Aufmerksamkeit auf das ‚ganz andere‘ sprachliche Agieren der Elektra konzentriert und sie im Hinblick auf dieses Agieren engagiert. 4.2.2.1 Elektras Threnos: die Waffen einer Frau Den ersten Schritt in diese Richtung tut er im Threnos, der auf den Prolog folgt und in dem die Stimme der Elektra ausführlicher hörbar wird (vv. 92-120): τὰ δὲ παννυχίδων κήδη στυγεραὶ ξυνίσασ’ εὐναὶ μογερῶν οἴκων, ὅσα τὸν δύστηνον ἐμὸν ϑρηνῶ πατέρ’, ὃν κατὰ μὲν βάρβαρον αἶαν 95 φοίνιος Ἄρης οὐκ ἐξένισεν, μήτηρ δ’ ἡμὴ χὠ κοινολεχὴς Αἴγισϑος ὅπως δρῦν ὑλοτόμοι σχίζουσι κάρα φονίῳ πελέκει. κοὐδεὶς τούτων οἶκτος ἀπ’ ἄλλης 100 ἢ ’μοῦ φέρεται, σοῦ, πάτερ, οὕτως αἰκῶς οἰκτρῶς τε ϑανόντος. ἀλλ’ οὐ μὲν δὴ λήξω ϑρήνων στυγερῶν τε γόων, ἔστ’ ἂν παμφεγγεῖς ἄστρων 105 ῥιπάς, λεύσσω δὲ τόδ’ ἦμαρ, μὴ οὐ τεκνολέτειρ’ ὥς τις ἀηδὼν ἐπὶ κωκυτῷ τῶνδε πατρῴων πρὸ ϑυρῶν ἠχὼ πᾶσι προφωνεῖν. ὦ δῶμ’ Ἀίδου καὶ Περσεφόνης, 110 241 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="242"?> 396 Zur lyrischen Qualität von Elektras Threnos siehe Kitzinger 1991, 304 f. sowie Finglass 2007, ad vv. 86-120 (zur Metrik sowie besonders zu den Anklängen an euripideische Monodien). ὦ χϑόνι’ Ἑρμῆ καὶ πότνι’ Ἀρὰ σεμναί τε ϑεῶν παῖδες Ἐρινύες, αἳ τοὺς ἀδίκως ϑνῄσκοντας ὁρᾶϑ’, αἳ τοὺς εὐνὰς ὑποκλεπτομένους, ἔλϑετ’, ἀρήξατε, τείσασϑε πατρὸς 115 φόνον ἡμετέρου, καί μοι τὸν ἐμὸν πέμψατ’ ἀδελφόν. μούνη γὰρ ἄγειν οὐκέτι σωκῶ λύπης ἀντίρροπον ἄχϑος. 120 Meine nächtlichen Leiden kennt das elende Lager im furchtbaren Haus, wie ich beklage meinen unglücklichen [95] Vater, den im Barbarenland der blutige Ares nicht besiegt hat, dem meine Mutter aber und ihr Bettgenosse Aigisth, so wie die Holzfäller eine Eiche, den Kopf gespalten haben mit mordendem Beil. [100] Und keine Klage darüber wird von einer anderen als mir vorgebracht um Dich, Vater, der Du so schändlich und elend zu Tode gekommen bist. Aber gewiss nicht werde ich aufhören mit den Klagen und dem elenden Jammer; [105] solange ich die leuchtenden Bahnen der Sterne, solange ich dieses Tageslicht sehe, werde ich nicht aufhören, so wie eine Nachtigall, die ihre Jungen getötet hat, unter Jammer vor diesen väterlichen Türen gegenüber allen meine Klage ertönen zu lassen. [110] O Haus des Hades und der Persephone, o chthonischer Hermes und edler Fluch und o Ihr Erinyen, ehrwürdige Kinder der Götter, die Ihr auf die blickt, die ungerecht zu Tode gekommen sind, und auf besudelte Ehelager, [115] kommt, helft, rächt den Mord an unserem Vater, und schickt mir meinen Bruder! Alleine nämlich vermag ich es nicht mehr, zu tragen [120] die bedrückende Last des Leides. Elektras Threnos erscheint dabei nach wie vor als das gegenüber dem Prolog ‚ganz andere‘, und zwar unter verschiedenen Gesichtspunkten. Bereits im Prolog greifbar gewesen war der Gesichtspunkt der ‚Gattung‘: Elektra hatte geklagt, das Sprechen der Männer - sowohl im Umgang miteinander wie im geplanten Betrug - war strikt zweckrational gewesen; Klage ist nun, wie der Name bereits sagt, auch Elektras Threnos. Ebenso ist oben 4.2.1.2 der Kontrast zwischen schweren Anapästen und den ‚prosaischen‘ jambischen Trimetern der Männer vermerkt worden; in Anapästen spricht Elektra auch hier, wobei der Unterschied zum ‚prosaischen‘ Sprechen der Männer durch die lyrischen Anklänge des Threnos noch verstärkt wird. 396 Und es finden sich 242 4 Die Elektra <?page no="243"?> 397 Vgl. insgesamt Kitzinger 1991, 302-305. weitere Gesichtspunkte: 397 Elektra erscheint in Lumpen; die Männer waren wohl gewöhnlich, sicher nicht ärmlich gekleidet; das Agieren der Männer war geprägt von einem linearen Zeitverständnis: Der Alte hatte Orest aufgenommen, auf den aktuellen „richtigen Zeitpunkt“ der Rächung hin erzogen, auf den dann Orests ruhm- und ehrenvolle Rückkehr folgt. Elektras Zeitverständnis ist dagegen zyklisch: Die Nächte vergehen ihr immerzu in gleichbleibender Klage, und in Zukunft wird sich daran wohl nichts ändern (vv. 92-99 und besonders 103-109). Dass Sophokles das Verhältnis der ‚otherness‘ aus dem Prolog mit äußerster Deutlichkeit weitergeführt hat, liegt auf der Hand. Entscheidend war nun im Prolog gewesen, dass Orest sich Elektras Sprechen als dem ‚ganz anderen‘ nicht hatte entziehen können, und die Zuschauer mit der Frage zurückgeblieben waren, wie angemessen diese Reaktion war. Die Gestaltung des Threnos macht es den Zuschauern nun denkbar einfach, es Orest gleichzutun und Elektras Leiden nachzuvollziehen, da ihre Perspektive ein aus‐ geprägtes Identifikationspotential entwickelt. Dies leistet Sophokles über den Sympathielenkungsmechanismus des Fokus: Elektra steht alleine auf der Bühne, wenn sie ihr Unglück beklagt. Die Zuschauer erhalten also privilegierten Zu‐ gang zu ihrem Innenleben und zu ihrem Leiden am Schicksal ihres Vaters, dessen Ermordung sie drastisch und eindringlich schildert. Dies hat einen deutlichen Effekt: Der Vollzug der Rache, der im Prolog angekündigt wurde, gewinnt eine unmittelbare Dringlichkeit und Nachvollziehbarkeit, und zwar als Befreiung der Elektra von ihrem Leiden, das sie in ihrer Klage darstellt. Insbesondere macht Elektras Threnos deutlich, dass die Rache gerecht ist, wenn sie die von ihr beklagte Ermordung ihres Vaters als „ungerecht“ herausstellt (v. 113). Auf diese Weise rückt das Potential von Elektras Perspektive in den Vordergrund, der Rache, der „gerechten Abschlachtung“ von Agamemnons Mördern (vgl. χειρὸς ἐνδίκου σφαγάς 37), Sinn und Dringlichkeit abzugewinnen, während die Vorstellung, dass diese eine Gelegenheit für Orest sei, Ruhm und Ehre zu erlangen, in den Hintergrund tritt; ja diese kann sogar kritisch gesehen werden, insofern dieses Vorgehen, wie bereits im Prolog deutlich wurde, keinen Platz lässt für Elektra und ihr Leiden noch verlängert (vgl. vv. 118-120): Elektras Perspektive, und nicht mehr diejenige des Orest, ist jetzt das Vehikel, durch das Sophokles die Zuschauer im Hinblick auf die Verwirklichung der Gerechtigkeit im Stück engagiert. Zentral ist nun, dass sich Elektra der Funktion ihrer Klage, der von ihr er‐ wünschten Rache Sinn und Dringlichkeit abzugewinnen, durchaus bewusst ist, diese nicht nur gegenüber den Zuschauern gegeben ist, sondern auch gegenüber 243 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="244"?> 398 Zu diesem Vorgehen und dem diesem zugrundeliegenden, einem zeitgenössischen Publikum vertrauten sozialen Skript vgl. Alexiou 2 2002, 22 sowie, spezifisch zur Elektra, Foley 2001, 151-171. 399 Vgl. zu diesem Ablauf insgesamt Kitzinger 1991, 305-311. anderen Adressaten im Stück. Denn wie die vv. 103-109 zeigen, sucht sie mit ihrer Klage die Öffentlichkeit, hält also die Erinnerung an Agamemnons Leiden und die Verworfenheit seiner Mörder wach und sichert so die Voraussetzungen dafür, dass die Rache, sollte sie einstmals vollzogen werden, als gerechtfertigt er‐ scheinen kann. 398 Sophokles rückt also im Threnos gegenüber den Zuschauern, die wissen, dass Orest gekommen ist, um Rache zu üben, den spezifischen Beitrag in den Vordergrund, den Elektra mit ihrer Klage zum Gelingen dieser Rache geleistet hat und, solange Orest noch nicht zur Tat geschritten ist, immer noch leistet: Die Klage der Elektra wird als zielgerichtetes sprachliches Agieren erfahrbar, und für dieses Agieren werden die Zuschauer, durch den Filter ihres Mehrwissens um Orests Ankunft, engagiert. Auf diese Weise tritt die spezifische Instrumentalität von Elektras Sprechen in den Vordergrund und führt die Aufmerksamkeit der Zuschauer weg von der ‚ganz anderen‘ Instrumentalität, die im Prolog dominiert hatte: Wenn Orest die Rache dereinst vollziehen wird, dann wird das Identifikationspotential dieses Vorgehens, so erscheint es im Moment, nicht mehr darauf basieren, dass er dadurch seinen spezifischen Ruhm und seine spezifische Ehre gewinnt, die für Elektra keinen Platz lassen, sondern darauf, dass er seine Schwester von ihrem Leiden befreit und so ihren Kampf für Gerechtigkeit zum notwendigen, aber ohne ihren Beitrag nicht hinreichend befriedigenden Abschluss bringt. 4.2.2.2 Elektras Doppelsieg Dieses Engagement im Hinblick auf Elektras spezifisches Agieren wird im weiteren Verlauf des ersten Handlungsbogens weiter verstärkt, und zwar durch zwei Konvergenzprozesse, in deren Verlauf es Elektra gelingt, Einwände verschiedener Akteure gegen ihr sprachliches Agieren zu überwinden und diese für ihren Kampf zu mobilisieren. 399 Der erste dieser Akteure ist der Chor, der sich, nicht weniger als Elektra, eine Bestrafung von Agamemnons Mördern wünscht, ihre Klage aber als zwecklos bezeichnet (vv. 121-127 und 137-144): ὦ παῖ παῖ δυστανοτάτας Ἠλέκτρα ματρός, τίν’ ἀεὶ λάσκεις ὧδ’ ἀκόρεστον οἰμωγὰν τὸν πάλαι ἐκ δολερᾶς ἀϑεώτατα ματρὸς ἁλόντ’ ἀπάταις Ἀγαμέμνονα 125 244 4 Die Elektra <?page no="245"?> κακᾷ τε χειρὶ πρόδοτον; ὣς ὁ τάδε πορὼν ὄλοιτ’, εἴ μοι ϑέμις τάδ’ αὐδᾶν. […] ἀλλ’ οὔτοι τόν γ’ ἐξ Ἀίδα παγκοίνου λίμνας πατέρ’ ἀνστάσεις οὔτε γόοισιν, οὐ λιταῖς· ἀλλ’ ἀπὸ τῶν μετρίων ἐπ’ ἀμήχανον 140 ἄλγος ἀεὶ στενάχουσα διόλλυσαι, ἐν οἷς ἀνάλυσίς ἐστιν οὐδεμία κακῶν. τί μοι τῶν δυσφόρων ἐφίῃ; O Kind, Kind einer äußerst unglücksseligen Mutter, Elektra, mit welcher so unersätt‐ lichen Klage bejammerst Du immer den vor langer Zeit auf frevelhafteste Weise von der betrügerischen [125] Mutter durch Täuschung erschlagenen Agamemnon, mit schlimmer Hand verraten? Wenn, wer dies getan hat, doch zugrunde ginge, wenn ich dies sagen darf! […] Aber nicht wirst Du aus dem Hades, der aller Menschen Zielhafen ist, den Vater auferstehen lassen, weder durch Klagen noch durch Bitten; [140] aber über das Maß in sinnlosem Leiden klagst Du immerzu und richtest Dich zugrunde; dadurch gibt es keine Erlösung von Übeln. Warum verlangt es Dich nach Dingen, die man nicht ertragen kann? Der Chor kritisiert also Elektras Klage, mithin genau die Reaktion, womit die Zuschauer sich zu identifizieren davor, während des Threnos, angehalten worden waren: Die Perspektive des Chors tritt spannungsvoll neben die der Elektra. Nun gilt bei Spannungen, wie schon häufig gesagt, dass diese, wenn sie zugunsten eines Akteurs überwunden werden, das Identifikationspotential von dessen Reaktion desto stärker erscheinen lassen. Dies geschieht nun auch hier, denn nachdem Elektra es in einem Kommos mit dem Chor wiederholt abgelehnt hat, mit ihrer Klage innezuhalten, und stattdessen ihre jämmerlichen Lebensumstände eindringlich geschildert hat, singt der Chor Folgendes (vv. 193-200): οἰκτρὰ μὲν νόστοις αὐδά, οἰκτρὰ δ’ ἐν κοίταις πατρῴαις, ὅτε οἱ παγχάλκων ἀνταία 195 γενύων ὡρμάϑη πλαγά. δόλος ἦν ὁ φράσας, ἔρος ὁ κτείνας, δεινὰν δεινῶς προφυτεύσαντες 245 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="246"?> 400 Vgl. Kitzinger 1991, 306. μορφάν, εἴτ’ οὖν ϑεὸς εἴτε βροτῶν ἦν ὁ ταῦτα πράσσων. 200 Jammervoll war der Schrei bei der Heimkehr, jammervoll im väterlichen Lager, [195] als gegen ihn des ehernen Rachens Schlag geführt wurde! Betrug war es, der sich dies ausdachte, Leidenschaft war, was tötete, indem sie schrecklich annahmen eine schreckliche Gestalt, ob es ein Gott oder einer der Sterblichen war, [200] der dies tat. Der Chor kritisiert Elektra also nicht nur nicht mehr, sondern vollzieht ihr Leiden - wie dies bereits Orest getan hatte - nach, indem er dieses selbst beklagt. Elektra gelingt es also, den Chor ihre Perspektive übernehmen, ja diesen das seine an ihr spezifisches Sprechen, die Klage, assimilieren zu lassen. 400 Dieses Konvergieren ist aber noch nicht vollständig, vielmehr kommt es im weiteren Verlauf des Kommos erneut zu einem Kontrast im Rahmen eines Konfliktes. Elektra nämlich stellt ihr Sprechen - vielleicht ermutigt von der Reaktion des Chors in den vv. 193-200 - erneut deutlich in den Dienst der Gerechtigkeit, indem sie, die Gebetsform des Threnos aufnehmend, ihren Wunsch formuliert, Agamemnons Mörder möchten von Zeus bestraft werden; der Chor aber kritisiert sie für das Risiko, dass sie durch die Äußerung eines solchen Wunsches in ‚törichter‘ Weise eingehe (vv. 201-220): . ὦ πασᾶν κείνα πλέον ἁμέρα ἐλϑοῦσ’ ἐχϑίστα δή μοι· ὦ νύξ, ὦ δείπνων ἀρρήτων ἔκπαγλ’ ἄχϑη· τοὺς ἐμὸς ἴδε πατὴρ 205 ϑανάτους αἰκεῖς διδύμαιν χειροῖν, αἳ τὸν ἐμὸν εἷλον βίον πρόδοτον, αἵ μ’ ἀπώλεσαν· οἷς ϑεὸς ὁ μέγας Ὀλύμπιος ποίνιμα πάϑεα παϑεῖν πόροι, 210 μηδέ ποτ’ ἀγλαίας ἀποναίατο τοιάδ’ ἀνύσαντες ἔργα. . φράζου μὴ πόρσω φωνεῖν. οὐ γνώμαν ἴσχεις ἐξ οἵων τὰ παρόντ’; οἰκείας εἰς ἄτας 215 ἐμπίπτεις οὕτως αἰκῶς; 246 4 Die Elektra <?page no="247"?> πολὺ γάρ τι κακῶν ὑπερεκτήσω, σᾷ δυσϑύμῳ τίκτουσ’ ἀεὶ ψυχᾷ πολέμους· τάδε - τοῖς δυνατοῖς οὐκ ἐριστά - τλᾶϑι. 220 . O dieser Tag, der mehr als alle mir als größter Feind kam! O Nacht, o des unsäglichen Mahles schreckliche Last! [205] Mein Vater sah die scheußlichsten Tode mit doppelter Hand, die mein Leben raubten, die mich verraten und vernichtet haben! Diesen soll der große olympische Gott [210] zur Strafe Leiden auferlegen, und nie mögen sie Anteil haben am festlichen Glanz, nachdem sie solche Taten vollbracht haben! r Sei vernünftig und sprich nicht weiter! Verstehst Du denn nicht, weswegen Du bist [215] in der gegenwärtigen Lage? Willst Du in selbstverschuldetes Unglück fallen auf so elende Weise? Übermäßig viel hast Du nämlich erhalten von den Übeln, indem Du immer mit Deiner unglücklichen Seele Dir Kämpfe verschaffst; dies - mit den Machthabern [220] kann man nicht streiten - ertrage! Elektra reagiert auf diese Kritik, indem sie an ihrem Klagen festhält - sie kann in einer Situation wie der ihren nicht anders reagieren (vv. 221-225, 236-258 und 307-309): . ἐν δεινοῖς δείν’ ἠναγκάσϑην· ἔξοιδ’, οὐ λάϑει μ’ ὀργά. ἀλλ’ ἐν γὰρ δεινοῖς οὐ σχήσω ταύτας ἄτας, ὄφρα με βίος ἔχῃ. 225 […] καὶ τί μέτρον κακότατος ἔφυ; φέρε, πῶς ἐπὶ τοῖς φϑιμένοις ἀμελεῖν καλόν; ἐν τίνι τοῦτ’ ἔβλαστ’ ἀνϑρώπων; μήτ’ εἴην ἔντιμος τούτοις μήτ’, εἴ τῳ πρόσκειμαι χρηστῷ, 240 ξυνναίοιμ’ εὔκηλος, γονέων ἐκτίμους ἴσχουσα πτέρυγας ὀξυτόνων γόων. εἰ γὰρ ὁ μὲν ϑανὼν γᾶ τε καὶ οὐδὲν ὢν 245 κείσεται τάλας, οἱ δὲ μὴ πάλιν δώσουσ’ ἀντιφόνους δίκας, ἔρροι τ’ ἂν αἰδὼς ἁπάντων τ’ εὐσέβεια ϑνατῶν. 250 247 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="248"?> 401 aidos wird üblicherweise als „Scham“ übersetzt, eusebeia als „Frömmigkeit“; diese deut‐ schen Wiedergaben decken aber nur einen Teil dieser beiden Tugenden ab: Zur aidos siehe Anm. 108 oben; eusebeia bezeichnet den ‚Respekt‘ gegenüber autoritätstragenden . ἐγὼ μέν, ὦ παῖ, καὶ τὸ σὸν σπεύδουσ’ ἅμα καὶ τοὐμὸν αὐτῆς ἦλϑον· εἰ δὲ μὴ καλῶς λέγω, σὺ νίκα· σοὶ γὰρ ἑψόμεσϑ’ ἅμα. . αἰσχύνομαι μέν, ὦ γυναῖκες, εἰ δοκῶ πολλοῖσι ϑρήνοις δυσφορεῖν ὑμῖν ἄγαν. 255 ἀλλ’ ἡ βία γὰρ ταῦτ’ ἀναγκάζει με δρᾶν, σύγγνωτε. πῶς γὰρ, ἥτις εὐγενὴς γυνή, πατρῷ’ ὁρῶσα πήματ’, οὐ δρῴη τάδ’ ἄν[; ] […] ἐν οὖν τοιούτοις οὔτε σωφρονεῖν, φίλαι, 307 οὔτ’ εὐσεβεῖν πάρεστιν· ἀλλ’ ἔν τοῖς κακοῖς πολλή ’στ’ ἀνάγκη κἀπιτηδεύειν κακά. . Durch Furchtbares werde ich zu Furchtbarem gezwungen; ich weiß es, der Zorn ist mir nicht verborgen. Aber ich werde inmitten des Furchtbaren dieses Verhängnis nicht hemmen, [225] solange ich lebe. […] Und ist das Übel nicht maßlos? Sag, wie kann es schön sein, sich nicht um die Verstorbenen zu kümmern! Welcher Mensch tut so etwas? Ich möchte bei diesen nicht in Ehren stehen [240] noch, wenn mir irgendetwas Angenehmes zukommt, ruhig darin mein Leben verbringen, während ich die Flügel der um die Eltern vorgebrachten Klage ohne Ehre halte. Wenn nämlich der Tote als Erde und Nichts daliegt, der Elende, diese aber nicht wiederum Strafe für den Mord leisten, ist dahin die Scham [250] und die Ehrfurcht aller Sterblichen. r Ich für meinen Teil bin um des Deinen willen wie um des Meinen gekommen; wenn ich nicht gut spreche, dann trage Du den Sieg davon; wir werden Dir folgen. . Ich schäme mich, Ihr Frauen, wenn es scheint, [255] dass ich Euch mit vielen Klagen allzu sehr zur Last falle. Aber mit Gewalt werde ich gezwungen, dies zu tun, verzeiht. Wie nämlich könnte eine edle Frau dies nicht tun, wenn sie die Leiden des Vaters sieht[? ] […] [307] In einer solchen Lage vernünftig zu sein, Freundinnen, und Ehrfurcht zu üben, dies ist unmöglich; vielmehr gilt, dass inmitten von Übeln ein mächtiger Zwang besteht, Übel zu tun. Dabei affirmiert sie erneut die Funktion ihrer Klage im Dienst der Gerechtigkeit. Dies zeigt sich in aller Deutlichkeit in den vv. 245-250, wo sie die Klage um ihren Vater mittels der Partikel γὰρ 245 eindeutig als Instrument auszeichnet, das verhindert, dass ihr Vater „gestorben und als nichts“ daliege und aidos sowie eusebeia der Sterblichen - die Bereitschaft zu ‚wertegeleitetem‘ Verhalten 401 - 248 4 Die Elektra <?page no="249"?> Instanzen. Zu diesen Instanzen gehören die Götter - hier kommt man der ‚Frömmigkeit‘ am nächsten -, aber auch die Gesetze und Gebräuche der Gemeinschaft, in der sich der Einzelne bewegt, zum Beispiel die Achtung vor Eltern oder Ehegatten (für eine Diskussion dieser Tugenden siehe MacLeod 2001, 48-57). „dahin“ seien, die Mörder aber keine gerechte Strafe leisteten: Die Verknüpfung ihrer Klage mit der Bestrafung von Agamemnons Mördern ist unbestreitbar. Entscheidend ist nun, dass sich die Entwicklung aus dem ersten Teil des Kommos wiederholt. Denn in den vv. 251-253 erklärt sich der Chor bereit, sich von Elektra überzeugen zu lassen, und im Anschluss an ihre jambische Rhesis gebärdet er sich in bis jetzt noch nicht erreichter Deutlichkeit als Mitverschwörer, lässt sich also von Elektra für ihren Kampf für die Gerechtigkeit mobilisieren (vv. 310-323): . φέρ’ εἰπέ, πότερον ὄντος Αἰγίσϑου πέλας 310 λέγεις τάδ’ ἡμῖν, ἢ βεβῶτος ἐκ δόμων; . ἦ κάρτα. μὴ δόκει μ’ ἄν, εἴπερ ἦν πέλας, ϑυραῖον οἰχνεῖν· νῦν δ’ ἀγροῖσι τυγχάνει. . ἦ δὴ ἂν ἐγὼ ϑαρσοῦσα μᾶλλον ἐς λόγους τοὺς σοὺς ἱκοίμην, εἴπερ ὧδε ταῦτ’ ἔχει; 315 . ὡς νῦν ἀπόντος ἱστόρει· τί σοι φίλον; . καὶ δή σ’ ἐρωτῶ, τοῦ κασιγνήτου τί φής, ἥξοντος, ἢ μέλλοντος; εἰδέναι ϑέλω. . φησίν γε· φάσκων δ’ οὐδὲν ὧν λέγει ποεῖ. . φιλεῖ γὰρ ὀκνεῖν πρᾶγμ’ ἀνὴρ πράσσων μέγα. 320 . καὶ μὴν ἔγωγ’ ἔσωσ’ ἐκεῖνον οὐκ ὄκνῳ. . ϑάρσει· πέφυκεν ἐσϑλός, ὥστ’ ἀρκεῖν φίλοις. . πέποιϑ’, ἐπεί τἂν οὐ μακρὰν ἔζων ἐγώ. [310] r Sag, ist Aigisth in der Nähe, während Du dies zu uns sagst, oder befindet er sich außer Haus? . Durchaus! Glaube nicht, dass, wenn er in der Nähe wäre, ich vor die Tür gehen könnte; nun aber ist er auf dem Land. r Soll ich Mut fassen, um zu sprechen [315] mit Dir, wenn dies sich so verhält? . Frag, wie wenn er weg wäre; was liegt Dir auf dem Herzen? r Ich frage Dich, was sagst Du über den Bruder, wird er kommen, oder zögert er? Ich möchte es wissen. . Er sagt, dass er komme; aber, obwohl er dies sagt, tut er nichts von dem, was er sagt. [320] r Ein Mann, der Großes vollbringt, neigt zum Zögern. . Aber ich habe nicht gezögert, als ich ihn gerettet habe! r Sei guten Mutes! Er ist edel und wird den Freunden helfen! . Darauf vertraue ich, da ich sonst nicht so lange am Leben geblieben wäre. 249 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="250"?> Am Ende dieses Austausches sind die Zuschauer durch das eben nachvollzogene Konvergieren in aller Deutlichkeit für Elektras spezifisches Agieren engagiert und vom im Prolog dominierenden ‚ganz anderen‘ Ansatz wegführt. Sopho‐ kles’ Vorgehen ist dabei, wie oben 4.2.2 gesagt, primär positiv: Er stellt den Ansatz des Prologs nicht direkt als unangemessen heraus, sondern lenkt die Aufmerksamkeit und das Engagement der Zuschauer auf Elektras Agieren, das dem physischen Vollzug der Rache durch Orest als der Verwirklichung von Gerechtigkeit eine Notwendigkeit und Dringlichkeit abgewinnt, die dieser ohne sie nicht besäße. Dennoch ist streckenweise eine gewisse Negativität greifbar, zum Beispiel im eben zitierten Austausch, der Elektras Gespräch mit dem Chor abschließt. Denn hier wird die Problematik explizit ausgesprochen, die darin liegt, dass Elektra im Plan der Männer keinen Platz hat: Sie leidet darunter, dass ihr Bruder, so denkt sie, sie im Stich gelassen hat, wobei dieses Vorgehen dadurch bedingt ist, dass Orest sich ihr im Prolog nicht zu erkennen geben, auf ihr „Unglück“ nicht reagieren durfte. Entscheidend ist nun, dass für Elektra - und für die Zuschauer, die ihr Leiden nachvollzogen haben - dadurch, dass er seiner Schwester nicht hilft, Orests „edle“ Gesinnung zweifelhaft wird (vgl. vv. 321- 323), also genau das vom Streben nach Ruhm und Ehre geprägte Selbstbild, das Orest im Prolog entworfen hatte: Die Vorstellung, dass sein Vorgehen, durch das er Elektras Leiden verlängert hat, dieser „desto ehrenvoller“ erscheinen sollte, wenn er dann endlich auftritt, ist zu diesem Zeitpunkt einigermaßen abwegig. Auch diese Negativität trägt dazu bei, dass sich das Engagement der Zuschauer weg vom Ansatz des Prologs auf Elektras Agieren richtet: Man braucht ihre Perspektive, um dem Vollzug der Rache durch Orest Sinn abzugewinnen. Dieses Engagement wird noch weiter verstärkt, wenn Elektra sich mit einer neu auf der Bühne erschienenen Figur konfrontiert sieht, die ihr ebenfalls die vermeintliche Sinnlosigkeit ihres beständigen Klagens vorhält, nämlich ihrer Schwester Chrysothemis (vv. 328-340): τίν’ αὖ σὺ τήνδε πρὸς ϑυρῶνος ἐξόδοις ἐλϑοῦσα φωνεῖς, ὦ κασιγνήτη, φάτιν, κοὐδ’ ἐν χρόνῳ μακρῷ διδαχϑῆναι ϑέλεις 330 ϑυμῷ ματαίῳ μὴ χαρίζεσϑαι κενά; καίτοι τοσοῦτόν γ’ οἶδα κἀμαυτήν, ὅτι ἀλγῶ ’πὶ τοῖς παροῦσιν· ὥστ’ ἄν, εἰ σϑένος λάβοιμι, δηλώσαιμ’ ἂν οἷ’ αὐτοῖς φρονῶ. νῦν δ’ ἐν κακοῖς μοι πλεῖν ὑφειμένῃ δοκεῖ, 335 καὶ μὴ δοκεῖν μὲν δρᾶν τι, πημαίνειν δὲ μή. τοιαῦτα δ’ ἄλλα καὶ σὲ βούλομαι ποεῖν. καίτοι τὸ μὲν δίκαιον οὐχ ᾗ ’γὼ λέγω, 250 4 Die Elektra <?page no="251"?> ἀλλ’ ᾗ σὺ κρίνεις. εἰ δ’ ἐλευϑέραν με δεῖ ζῆν, τῶν κρατούντων ἐστὶ πάντ’ ἀκουστέα. 340 Du, die Du aus dem Hof hinaustrittst, was trägst Du diese Rede vor, o Schwester, [330] und willst dich auch in langer Zeit nicht belehren lassen, dem nutzlosen Zorn nicht sinnlos nachzugeben? Ich weiß dies ja auch, dass ich leide an der gegenwärtigen Lage, und würde, wenn ich die Kraft fände, diesen zeigen, was ich von ihnen halte. [335] Nun aber muss ich mit gerefften Segeln durch die Übel fahren und nicht glauben, dass ich etwas bewirke, obwohl ich keinen Schaden verursache. Ich möchte, dass auch Du Dich anders verhältst, und zwar so wie ich. Dennoch ist das Gerechte nicht so, wie ich sage, sondern so, wie Du es einschätzt. Wenn ich aber in Freiheit [340] leben soll, muss ich in allem auf die Machthaber hören. Hier wiederholt sich der aus dem Austausch mit dem Chor bekannte Ablauf. Denn Elektra hält gegenüber Chrysothemis’ Kritik an ihrer Klage fest, deren spezifischen Charakter sie erneut affirmiert: Dass sie die Gerechtigkeit auf ihrer Seite hat, braucht sie nicht mehr zu sagen, dies hat Chrysothemis ihr in der eben zitierten Replik bereits zugestanden (vv. 338 f.). Was sie aber erneut deutlich hervorhebt, ist das Funktionieren ihrer Klage als Akt, also die spezifische Instrumentalität ihres Sprechens, mit dem sie ihren Vater „rächt“ und „ehrt“ sowie ihren Feinden zuzusetzen versucht (vv. 349 f., 355-358 und 399): ἐμοῦ δὲ πατρὶ πάντα τιμωρουμένης οὔτε ξυνέρδεις τήν τε δρῶσαν ἐκτρέπεις. 350 […] λυπῶ δὲ τούτους, ὥστε τῷ τεϑνηκότι 355 τιμὰς προσάπτειν, εἴ τις ἔστ’ ἐκεῖ χάρις. σὺ δ’ ἡμὶν ἡ μισοῦσα μισεῖς μὲν λόγῳ, ἔργῳ δὲ τοῖς φονεῦσι τοῦ πατρὸς ξύνει. […] πεσούμεϑ’, εἰ χρή, πατρὶ τιμωρούμενοι. 399 Während ich den Vater mit allen Mitteln räche, [350] tust Du nicht mit und stößt die, welche handelt, von Dir. […] [355] Ich setze diesen zu, und dem Toten verschaffe ich Ehren, wenn daraus irgendeine Gunst zu gewinnen ist. Du aber hasst in Worten, tatsächlich aber stehst Du auf der Seite der Mörder des Vaters. […] [399] Ich will zugrunde gehen, wenn es sein muss, während ich den Vater räche. Dass die Zuschauer im Hinblick auf dieses Agieren der Elektra engagiert bleiben, hat Sophokles auf zwei Weisen sichergestellt. Zum einen nämlich berichtet Chrysothemis ihrer Schwester hier vom Plan der Klytaimestra und des 251 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="252"?> 402 Vgl. Kitzinger 1991, 308 f.; MacLeod 2001, 65. Aigisth, sie einzusperren, wenn sie mit ihrer Klage nicht einhalte. Chrysothemis macht also selbst deutlich, dass deren zu Beginn ihres Auftritts behauptete Vergeblichkeit nicht gegeben ist, sondern diese sehr wohl wirkt, Elektras Feinde „betrübt“ (vgl. v. 335). 402 Zum anderen aber kommt es hier erneut zu einem Konvergieren der Perspektiven. Chrysothemis ist nämlich gekommen, um am Grab ihres Vaters im Auftrag der Klytaimestra Opfergaben darzubringen, da diese einen ominösen Traum gehabt hatte. Vom Vollzug dieses pervertierten Rituals bringt sie Elektra nun ab und fordert sie stattdessen auf, eigene Opfer‐ gaben darzubringen, um die Unterstützung Agamemnons für die Rache zu sichern. Diesem Vorgehen stimmt Chrysothemis, angeleitet vom Chor, mit einer bezeichnenden Aussage zu (vv. 464-467): . πρὸς εὐσέβειαν ἡ κόρη λέγει· σὺ δὲ, εἰ σωφρονήσεις, ὦ φίλη, δράσεις τάδε. 465 . δράσω· τὸ γὰρ δίκαιον οὐκ ἔχει λόγον δυοῖν ἐρίζειν, ἀλλ’ ἐπισπεύδει τὸ δρᾶν. r Was das Mädchen sagt, ist moralisch richtig; Du aber, [465] wenn Du vernünftig bist, Du Liebe, wirst dies tun. r. Ich tu’s; bezüglich des Gerechten hat es nämlich keinen Sinn, wenn zwei streiten, vielmehr muss man es verwirklichen. Auch am Ende von Elektras Begegnung mit Chrysothemis ist es ihr also ge‐ lungen, die Kritik ihrer Schwester zu überwinden und diese für ihren Kampf für Gerechtigkeit zu mobilisieren, wobei auch die Unterstützung des Chors deutlich bleibt, also umfassende Konvergenz herrscht. Auf diese Weise werden auch die Zuschauer noch deutlicher als davor im Hinblick auf diesen Kampf engagiert. Dieses Engagement wird im Anschluss an das Gespräch mit Chrysothemis gewissermaßen besiegelt, indem der Chor ein Lied singt, in dem er um das Gelingen der Rache als Verwirklichung der Gerechtigkeit betet, wobei dieses Lied mit seiner Nennung der Erinye den Bogen zurück zum Threnos schlägt, also die Rache und Orests Agieren in den von Elektra verwendeten Begriffen fasst, die im Verlauf des Austausches gewonnene Konvergenz noch einmal bestätigt (vv. 475-477 und 482-491; beachte auch den Anklang an Elektras Darstellung in den vv. 205 f. mit αἰκεῖς 206, der sich in der Beschreibung des Mordes mittels αἰσχίσταις ἐν αἰκείαις 487 wiederfindet): εἶσιν ἁ πρόμαντις 475 Δίκα, δίκαια φερομένα χεροῖν κράτη· μέτεισιν, ὦ τέκνον, οὐ μακροῦ χρόνου. 252 4 Die Elektra <?page no="253"?> 403 Es stimmt zwar, dass es sich beim personifizierten Fluch (Ἀρά) und den Erinyen - im Unterschied zu Hades, Persephone und dem chthonischen Hermes - nicht eigentlich […] οὐ γάρ ποτ’ ἀμναστεῖ γ’ ὁ φύσας σ’ Ἑλλάνων ἄναξ, οὐδ’ ἁ παλαιὰ χαλκόπλη- 485 κτος ἀμφήκης γένυς, ἅ νιν κατέπεφνεν αἰσχίσταις ἐν αἰκείαις. ἥξει καὶ πολύπους καὶ πολύχειρ ἁ δεινοῖς κρυπτομένα λόχοις χαλκόπους Ἐρινύς. 490 [475] Es wird kommen die Prophetin Dika, die gerechte Gewalt in ihren Händen bringt; sie wird kommen, o Kind, in nicht langer Zeit! […] Nicht nämlich hat er vergessen, der Dich gezeugt hat, der Herr der Griechen, [485] und auch nicht der alte, mit einer bronzenen Schneide versehene, doppelt geschärfte Rachen der Axt, der ihn in hässlichster Schändlichkeit getötet hat. Es wird auch kommen die vielfüßige und vielarmige, sich in schrecklichen Hinterhalten versteckende, [490] bronzefüßige Erinye. 4.2.2.3 Göttliche Gerechtigkeit, das Talionsprinzip und die Menschen Soweit also die Entwicklung der Zuschauerinvolvierung ab Elektras Auftritt, mit der Sophokles an die offene Frage anknüpft, mit der die Zuschauer am Ende des Prologs zurückgelassen worden waren: die Frage nach dem Identifikations‐ potential des dort vorgeführten spezifischen Strebens nach Ruhm und Ehre, das für Elektra keinen Platz lässt. Indem Sophokles nämlich das Engagement der Zuschauer auf das ‚ganz andere‘ Agieren der Elektra richtet, hält er diese dazu an, der im Stück verwirklichten Gerechtigkeit nicht über Orests Perspektive Sinn abzugewinnen, sondern dies über diejenige der Elektra zu tun. Die Frage des Prologs war nun insbesondere eine danach gewesen, ob das Vorgehen, das Orest vorführt, ein tauglicher Ansatz ist, um dem göttlichen Auftrag, Gerechtigkeit durch Betrug zu schaffen, aus einer menschlichen Perspektive Sinn abzugewinnen. Durch die bis jetzt seit dem Prolog skizzierte Entwicklung erschließt Elektras Perspektive nun auch unter diesem Gesichtspunkt eine ‚ganz andere‘ Antwort. Um dies nachzuvollziehen, sind zwei Dinge festzuhalten. Deren erstes ist die Tatsache, dass auch Elektra die Gerechtigkeit, für die sie kämpft, als göttliche Gerechtigkeit auffasst. Dies hatte sich bereits in ihrem eröffnenden Threnos gezeigt, der ja wesentlich ein an Toten- und Fluchgötter 403 253 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="254"?> um Götter handelt, doch siehe Zerhoch 2015, 212 zur Tatsache, dass diese hier als „personifizierte, gottgleiche Fluchmächte“ dargestellt sind. 404 Siehe zu Anm. 385 oben sowie unten. 405 Siehe Choeph. 120-123, 142-144, 273 f., 309-314 und 497-499 sowie zum Talionsprinzip allgemein Blundell 1989, 28-30. 406 So z. B. Erbse (1978, 290-293). 407 Vgl. Finglass 2007, ad vv. 577-583 mit Verweis auf die Choephoren; ebenso Allan 2013, 598: „[L]awfulness and payback […] are compatible.“ gerichtetes Gebet um Rache für Agamemnon war, und blieb danach präsent, als sie Zeus aufforderte, die Mörder ihres Vaters zu bestrafen (vv. 209-212): Elektra hat in ihrem Kampf, so ist sie überzeugt, die Götter auf ihrer Seite, und steht selbst aufseiten der Götter. Elektra und das Talionsprinzip Die zweite Tatsache ist der spezifische Charakter von Elektras Kampf für diese göttliche Gerechtigkeit. Dabei spielt nämlich ein Grundsatz eine große Rolle, der für Orest weitgehend ohne Relevanz gewesen war: 404 das Talionsprinzip, das Prinzip also, das in den Choephoren für das Agieren von Agamemnons Rächern Pate gestanden hatte und verlangt, dass Gleiches mit Gleichem ver‐ golten werde. 405 Um dies nachzuvollziehen, kann man von Deutungen ausgehen, die eine Relevanz des Talionsprinzips für das Agieren der sophokleischen Elektra bestritten haben. 406 Basis dieser Deutungen ist eine Trennung zwischen Gerechtigkeit und Talionsprinzip: Da Elektras Kampf als einer für Gerechtigkeit dargestellt sei, könne das Talionsprinzip dafür unmöglich eine Rolle spielen. Dass Elektra für Gerechtigkeit kämpft, steht außer Frage. Es ist jedoch un‐ statthaft, Gerechtigkeit und Talionsprinzip in der beschriebenen Weise als Gegensätze zu behandeln: Das Talionsprinzip ist, wie gerade die aischyleischen Choephoren deutlich gemacht haben, eine Art Gerechtigkeit. 407 Ausgehend von dieser Feststellung lässt sich nun die Tatsache würdigen, dass die Reziprozität in der sophokleischen Darstellung von Elektras Agieren durchaus eine Rolle spielt. Dies zeigt sich bereits im Prolog: Elektra hat Orest seinerzeit dem Alten übergeben, damit dieser ihn zum Rächer seines Vaters erziehe, der dessen Mörder „abschlachte“ (vv. 11-14 und 32-37): . […] σε πατρὸς ἐκ φόνων ἐγώ ποτε 11 πρὸς σῆς ὁμαίμου καὶ κασιγνήτης λαβὼν ἤνεγκα κἀξέσωσα κἀξεϑρεψάμην τοσόνδ’ ἐς ἥβης, πατρὶ τιμωρὸν φόνου. […] 254 4 Die Elektra <?page no="255"?> . […] ἐγὼ γὰρ ἡνίχ’ ἱκόμην τὸ Πυϑικὸν μαντεῖον, ὡς μάϑοιμ’ ὅτῳ τρόπῳ πατρὶ δίκας ἀροίμην τῶν φονευσάντων πάρα, χρῇ μοι τοιαῦϑ’ ὁ Φοῖβος ὧν πεύσῃ τάχα· 35 ἄσκευον αὐτὸν ἀσπίδων τε καὶ στρατοῦ δόλοισι κλέψαι χειρὸς ἐνδίκου σφαγάς. A er […] [11] Dich habe ich einstmals, weggebracht vom Mord am Vater, von Deiner blutsverwandten Schwester erhalten, weggetragen, gerettet und aufgezogen bis in dieses Alter, als Rächer des Vatermordes. […] r. […] Als ich kam zum pythischen Orakel, damit ich erführe, auf welche Weise ich für den Vater gerechte Rache nähme an den Mördern, [35] trug mir Phoibos solches auf, von dem Du gleich erfahren sollst: Ohne Schutz durch Schilde oder ein Heer soll ich durch Betrug mir stehlen die Abschlachtung mit gerechter Hand. Elektra, soweit ihr Agieren im Prolog greifbar geworden war, will also durchaus Blut für Blut vergossen sehen und scheint sich so zunächst in den Bahnen der Choephoren zu bewegen. Zu den Choephoren hin führt dann auch ihr Auftrittsthrenos. Dies wird besonders deutlich im Gebet, das sie dort formuliert (vv. 110-116): ὦ δῶμ’ Ἀίδου καὶ Περσεφόνης, 110 ὦ χϑόνι’ Ἑρμῆ καὶ πότνι’ Ἀρὰ σεμναί τε ϑεῶν παῖδες Ἐρινύες, αἳ τοὺς ἀδίκως ϑνῄσκοντας ὁρᾶϑ’, αἳ τοὺς εὐνὰς ὑποκλεπτομένους, ἔλϑετ’, ἀρήξατε, τείσασϑε πατρὸς 115 φόνον ἡμετέρου O Haus des Hades und der Persephone, o chthonischer Hermes und edler Fluch und o Ihr Erinyen, ehrwürdige Kinder der Götter, die Ihr auf die blickt, die ungerecht zu Tode gekommen sind, und auf besudelte Ehelager, [115] kommt, helft, rächt den Mord an unserem Vater In den Choephoren hatte Elektra ebenfalls zu Persephone gebetet (v. 490), und die Anrufung des chthonischen Hermes durch die sophokleische Elektra entspricht den Worten, mit denen Orest die Choephoren eröffnet hatte (v. 1; beachte auch das Gebet der aischyleischen Elektra an ebendiese Gottheit im unmittelbaren 255 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="256"?> 408 . πότερα δικάστην ἢ δικηφόρον λέγεις; / . ἁπλωστὶ φράζουσ’, ὅστις ἀνταποκτενεῖ. / . καὶ ταῦτά μοὐστὶν εὐσεβῆ ϑεῶν πάρα; / . πῶς δ’ οὔ, τὸν ἐχϑρὸν ἀνταμείβεσϑαι κακοῖς; / . κῆρυξ μέγιστε τῶν ἄνω τε καὶ κάτω / ‹ › Ἑρμῆ χϑόνιε, κηρύξας ἐμοὶ / τοὺς γῆς ἔνερϑε δαίμονας κλύειν ἐμὰς / εὐχάς 120-127 (El. Sprichst Du von einem Richter oder von einem Rächer? Chor Kurz gesagt, von einem, der Mord mit Mord rächt. El. Und ist es richtig, wenn ich die Götter darum bitte? Chor Warum sollte es nicht richtig sein, dem Feind etwas mit Übeln heimzuzahlen? El. Größter Herold derer in der Unter- und derer in der Oberwelt, [125] […] chthonischer Hermes, fordere die Götter unter der Erde dazu auf, meine Gebete anzuhören). Anschluss an die Affirmation des Talionsprinzips durch den Chor 408 ). Ferner besitzen die Erinyen, die Elektra bei Sophokles anruft, eine besondere Nähe zum Talionsprinzip, insofern es, wie ebenfalls die Choephoren zeigen, zu ihren Aufgaben gehört, das Vergießen von Blut mit dem Vergießen von Blut zu strafen (vv. 400-404): ἀλλὰ νόμος μὲν φονίας σταγόνας 400 χυμένας εἰς πέδον ἄλλο προσαιτεῖν αἷμα· βοᾷ γὰρ λοιγὸς Ἐρινὺν παρὰ τῶν πρότερον φϑιμένων ἄτην ἑτέραν ἐπάγουσαν ἐπ’ ἄτῃ. [400] Aber es ist Gesetz, dass Blutstropfen, die auf den Erdboden vergossen worden sind, von Neuem verlangen nach Blut; Zerstörung ruft nämlich eine Erinye herbei, die für die davor Getöteten Rache im Anschluss an Rache herbeiführt. Ebenso zeigt sich die Relevanz der Reziprozität für Elektras spezifisches Agieren, wenn man die Motive der aidos und der eusebeia verfolgt (vv. 221, 245-250, 254-257 und 307-309): ἐν δεινοῖς δείν’ ἠναγκάσϑην 221 […] εἰ γὰρ ὁ μὲν ϑανὼν γᾶ τε καὶ οὐδὲν ὢν 245 κείσεται τάλας, οἱ δὲ μὴ πάλιν δώσουσ’ ἀντιφόνους δίκας, ἔρροι τ’ ἂν αἰδὼς ἁπάντων τ’ εὐσέβεια ϑνατῶν. 250 […] αἰσχύνομαι μέν, ὦ γυναῖκες, εἰ δοκῶ πολλοῖσι ϑρήνοις δυσφορεῖν ὑμῖν ἄγαν. 255 ἀλλ’ ἡ βία γὰρ ταῦτ’ ἀναγκάζει με δρᾶν, 256 4 Die Elektra <?page no="257"?> 409 Vgl. ὕβριν 271, ἐξυβρίζει 293; zu aidos und hybris als Antithesen siehe z. B. Theogn. 1,291f., zu eusebeia und hybris vgl. Aesch. Eum. 534. 410 Vgl. von Erffa 1937, 19f. σύγγνωτε. […] ἐν οὖν τοιούτοις οὔτε σωφρονεῖν, φίλαι, 307 οὔτ’ εὐσεβεῖν πάρεστιν. ἀλλ’ ἐν τοῖς κακοῖς πολλή ’στ’ ἀνάγκη κἀπιτηδεύειν κακά. [221] Durch Furchtbares werde ich zu Furchtbarem gezwungen […] Wenn nämlich der Tote als Erde und Nichts daliegt, der Elende, diese aber nicht wiederum Strafe für den Mord leisten, ist dahin die Scham [250] und die Ehrfurcht aller Sterblichen. […] Ich schäme mich, Ihr Frauen, wenn es scheint, [255] dass ich Euch mit vielen Klagen allzu sehr zur Last falle. Aber mit Gewalt werde ich gezwungen, dies zu tun, verzeiht. […] [307] In einer solchen Lage vernünftig zu sein, Freundinnen, und Ehrfurcht zu üben, dies ist unmöglich; vielmehr gilt, dass inmitten von Übeln ein mächtiger Zwang besteht, Übel zu tun. Elektra fasst in den vv. 245-250 ihren Kampf als einen für aidos und eusebeia: Wenn sie scheitert, dann gibt es keinen Grund mehr für die „Sterblichen“, sich dieser Tugenden zu befleißigen. Dies impliziert nun, dass es ihren Peinigern genau daran mangelt, wie auch Elektras Beschreibung ihrer jämmerlichen Behandlung durch Aigisth und Klytaimestra deutlich macht, obwohl sie diese nicht in den Begriffen eines Mangels an aidos oder eusebeia, sondern zum Beispiel der hybris fasst: 409 Klytaimestra und Aigisth zeigen auf jeden Fall keinerlei Bereitschaft zu ‚wertegeleitetem‘ Verhalten. Nachdem Elektra ihre Feinde so implizit der anaideia und der dyssebeia - des jeweiligen Gegenteils von aidos und eusebeia - geziehen hat, gesteht sie dem Chor zu, dass sie sich „schämt“ (αἰσχύνομαι 254, ein inhaltlich eng mit aidos verwandtes Verb 410 ) für ihre endlose Klage, allein sie könne nicht anders auf die Situation reagieren; und dass ihr Verhalten einen Mangel an eusebeia zeige, doch sie sehe sich gezwungen, den „Übeln“, denen sie ausgesetzt ist, mit „Übeln“ zu begegnen. Elektras Verhalten ist auch hier offensichtlich vom Grundsatz der Reziprozität geprägt: Genauso, wie sie Blut für Blut vergossen sehen will, reagiert sie mit „Furchtbarem“ auf „Fruchtbares“ und mit „Übeln“ auf „Übel“ (vv. 221 und 308 f.), konkret mit einem gegen aidos und eusebeia verstoßenden Verhalten auf die anaideia und dyssebeia ihrer Peiniger. Die eben herausgearbeitete Prominenz der Reziprozität könnte nun zum Schluss verleiten, Sophokles kehre mit dem Elektra-Handlungsbogen voll‐ ständig zu Aischylos zurück. Dies hätte insbesondere eine Konsequenz: Die 257 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="258"?> 411 Siehe für eine solche von Aischylos ausgehende Deutung der sophokleischen Elektra Winnington-Ingram 1980, 217-247, bes. 223-225; ähnlich, allerdings ohne Bezug auf Aischylos, Cairns 1993, 241-249, bes. 247-249; Swift 2010, 336-350, bes. 339-344. 412 Vgl. MacLeod 2001, 56. 413 Vgl. zur Tatsache, dass bei Sophokles nicht Recht gegen Recht steht, MacLeod 2001, 53-60. Das Gegenargument, dass die hier vorgestellte Deutung ‚bloße‘ Sympathie mit ethischen Überlegungen vermische - man empfindet, dass das Recht auf Elektras Seite ist, doch dieser Empfindung nachzugeben, sei verfehlt (so Swift [2010, 349 Anm. 109]) -, basiert auf einem etwas simplistischen Sympathiebegriff (vgl. oben 1.3.2): Wenn die emotionale Dynamik für Elektra arbeitet - und Sophokles dies so intendiert hat -, dann muss erklärt werden, wie sich diese Dynamik in die von ihm vermittelte ethische ‚Botschaft‘ einfügt, und sei es, indem man aufzeigt, dass diese beiden Dimensionen hier gezielt entkoppelt werden (so in Ansätzen Cairns [1993, 245 Anm. 107]). Was kaum angeht, ist, die emotionale Dimension als letztlich irrelevant abzuwerten: Der Eindruck, Rächung des Agamemnon als Vergießen von Blut für Blut wäre dann, nicht anders als in den Choephoren, wo Orest am Ende von den Erinyen verfolgt wird, ihrerseits ein Rechtsbruch, für den eine Strafe geleistet werden müsste, es stünde also Recht gegen Recht. 411 Genau hier liegt nun aber der entscheidende Unter‐ schied zwischen der sophokleischen und der aischyleischen Behandlung des Themas. Denn unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit findet sich, anders als unter demjenigen von aidos und eusebeia, kein Hinweis auf Reziprozität, vielmehr hat Sophokles diese einseitig zugeteilt, und zwar an Elektra. Ihre anaideia besteht nämlich in der gegen die gute Sitte verstoßenden Exzessivität ihrer Klage, und ihre dyssebeia liegt darin, dass sie ihrer Mutter den einer solchen Person geschuldeten Respekt verweigert; 412 Klytaimestras anaideia und dyssebeia hingegen liegen in der jämmerlichen Behandlung der Elektra, in den Dankfesten, die sie an Agamemnons Todestag ausrichten lässt, und darin, dass sie mit Aigisth im Bett des Ermordeten schläft und diesen in dessen Kleider her‐ umlaufen lässt, und gerade dagegen kämpft Elektra durch ihre Verstöße gegen aidos und eusebeia. Das heißt, Elektras anaideia und dyssebeia unterscheiden sich nicht nur unter dem Gesichtspunkt ‚Gerechtigkeit vs. Ungerechtigkeit‘ von Klytaimestras anaideia und dyssebeia, diese sind Mittel im Kampf gegen Klytaimestras in ihrer anaideia und dyssebeia bestehende Ungerechtigkeit; entsprechend wird auch deutlich, dass das Blut, das Elektra für Blut vergossen sehen will, das Blut schuldiger Mörder für das eines unschuldigen Opfers ist. Auf diese Weise kann das zu Beginn dieses Abschnitts bloß negativ - die beiden Größen sind keine Gegensätze - gefasste Verhältnis von Gerechtigkeit und Tali‐ onsprinzip in Elektras Agieren spezifiziert werden: Ihr Kampf für Gerechtigkeit bedient sich der Reziprozität, die von ihr angestrebte Gerechtigkeit erschöpft sich aber nicht darin, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. 413 258 4 Die Elektra <?page no="259"?> dass Elektra im Recht ist, und die für sie arbeitende emotionale Dynamik verstärken sich wechselseitig. 414 Vgl. Anm. 395 oben. 415 Vgl. Di Benedetto 1988, 165: „La tensione che si manifesta nella celebre battuta di Oreste in Aesch. Choeph. 461 Ἄρης Ἄρει ξυμβαλεῖ, Δίκᾳ Δίκα (e quello della giusta retribuzione è, com’è noto, uno dei motivi fondamentali del celebre kommos eschileo tra Oreste, Elettra e il Coro) è ovviamente del tutto assente dal personaggio di Oreste nell’Elettra di Sofocle.“ Orest und das Talionsprinzip Doch damit ist die Argumentation erst halb durchgeführt, ist oben doch auch gesagt worden, dass das Talionsprinzip für Orests Selbstverständnis kaum eine Rolle spiele, wie er es im Prolog exponiert, dass also Elektras Reaktion auch unter diesem Gesichtspunkt ‚ganz anders‘ sei. Elektra hatte das Talionsprinzip, das in ihrem Vorgehen insofern am Werk ist, als sie de facto natürlich Blut für Blut vergossen sehen will, wenn sie ihren Bruder dem Alten übergeben hat, damit dieser Agamemnons Mörder „abschlachte“, durch eine über bloße Talionsge‐ rechtigkeit hinausgehende Gerechtigkeit überformt; das Gleiche gilt für ihren Verstoß gegen aidos und eusebeia, insofern sie dabei aufseiten der Gerechtigkeit und gegen Ungerechtigkeit kämpft. Orest war dagegen einen anderen Weg gegangen, insofern er das Talionsprinzip nicht überformt, sondern, soweit es ging, vermieden hatte, seine Tat überhaupt in Begriffen der Reziprozität zu sehen. Bei der Frage nach dem Modus der Herstellung von Gerechtigkeit - durch Betrug - liegt dies auf der Hand: Orest hatte, wie oben 4.2.1.1 gesagt, im Räsonnement, mit dem er dem entsprechenden göttlichen Auftrag Sinn abzu‐ gewinnen versuchte, gerade nicht den angesichts der Choephoren auf der Hand liegenden Weg eingeschlagen, sich auf den Standpunkt zu stellen, dass Betrug mittels Betrug bestraft werden müsse, sondern die bekannte Argumentation vorgebracht, die sich auf den Gewinn von Ruhm und Ehre abstützte. Doch auch für die Tötung der Mörder des Agamemnon an sich spielt dieser Grundsatz eine nur geringe Rolle: Wie bereits angeklungen, vergießt Orest natürlich Blut für Blut, wenn er die Mörder des Agamemnon „abschlachtet“. Doch dies tun zu müssen (oder zu wollen), ist nicht eine Situation, in die er sich selbst gebracht hat. Verantwortlich dafür ist vielmehr Elektra, die ihn, in Übereinstimmung mit ihrem Bestreben, Blut für Blut vergossen zu sehen, als kleinen Jungen dem alten Erzieher übergeben hat, der ihn auf das Ziel hin aufzog, seinen Vater zu rächen. 414 Betrachtet man nun seinen persönlichen Umgang mit diesen Vorgaben, so fällt auf, wie sehr er den Bezug auf den reziproken Charakter seiner Tat meidet. 415 Dies zeigt sich zunächst darin, dass er von der Tötung, die auf seine Rückkehr folgt und sein eigentliches Ziel ist, 259 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="260"?> 416 Vgl. MacLeod 2001, 145; Dunn 2009, 354. 417 Vgl. Blundell 1989, 28f. gar nicht spricht, sondern nur davon, seinen Feinden leuchten zu wollen „wie ein Stern“: Die Tat selbst bleibt seltsam diffus. 416 Vor allem aber wird dies deutlich, wenn man sich die Frage stellt, inwieweit Orest vom Grundsatz geleitet ist, in dem sich das Talionsprinzip als Vergel‐ tung von Gleichem mit Gleichem konkretisiert: dem Grundsatz, den Freunden zu helfen und den Feinden zu schaden. 417 Für Elektra ist dieser Grundsatz elementar: Sie ist, so sagt sie, die Einzige, die ihren geliebten Vater beklagt und so die gemeinsame Feinde bekämpft. Bei Orest hingegen liegt die Sache anders. Denn wenn er die Frau aus dem Palast klagen hört, ihr „Unglück“ erkennt und fragt, ob man abwarten solle, dann ist dies eine Überlegung, die darauf abzielt, Elektra beizustehen, selbst wenn es sich bei der Klagenden nicht um diese selbst, sondern, wie vom Alten in den vv. 78 f. (wider besseres Wissen oder nicht) suggeriert, um eine Sklavin handeln sollte, denn eine solche hätte man zumindest nach Elektra fragen können. Genau für solchen Beistand ist aber kein Platz, wie die Ermahnung des Alten zeigt, der hier als Sprecher des davor von Orest selbst exponierten Selbstverständnisses fungiert - ganz anders also als in den Choephoren, wo Orest Elektras Trauer erkannt hatte, bevor er ihr gegenübertrat, um die Rache gemeinsam mit ihr als ihr philos ins Werk zu setzen (vv. 16-18 und 219): καὶ γὰρ Ἠλέκτραν δοκῶ 16 στείχειν ἀδελφὴν τὴν ἐμὴν πένϑει λυγρῷ πρέπουσαν. […] ὅδ’ εἰμί· μὴ μάστευ’ ἐμοῦ μᾶλλον φίλον. 219 [16] Ich glaube, dass Elektra kommt, meine Schwester, durch schlimme Trauer ausgezeichnet. […] [219] Ich bin es! Such keinen, der Dir mehr freund ist als ich! Diese Tatsache wird im weiteren Verlauf der Elektra noch deutlicher, wenn Elektra sich in einem bereits oben 4.2.2.2 besprochenen Austausch darüber beklagt, dass sie Orest als ihrem philos geholfen habe, dieser sie aber im Stich lasse (vv. 321 f.). Es liegt auf der Hand, dass hier ein denkbar deutlicher Kontrast hergestellt wird zwischen dem Agieren der Geschwister: Elektra hat ihrem philos Orest geholfen, dieser hilft ihr nicht. Auch die Rolle des Vaters Agamemnon als zu rächendes Opfer - des philos also, dem mit der Tat hauptsächlich geholfen werden soll - ist im Prolog seltsam minimiert, wie erneut ein Vergleich mit den Choephoren besonders klar zeigt. 260 4 Die Elektra <?page no="261"?> Dort nämlich macht Orest deutlich, dass es die „Trauer“ um seinen Vater ist, die ihn wesentlich motiviert (vv. 299-301): πολλοὶ γὰρ εἰς ἓν συμπίτνουσιν ἵμεροι, ϑεοῦ τ’ ἐφετμαὶ καὶ πατρὸς πένϑος μέγα, 300 καὶ πρὸς πιέζει χρημάτων ἀχηνία Viele Wünsche vereinigen sich, [300] die Befehle des Gottes und die große Trauer um den Vater, und daneben bedrückt mich die Armut Im Räsonnement des sophokleischen Orest indes kommt Agamemnon nur dort vor, wo er sich anschickt, Opfergaben an dessen Grab darzubringen (vv. 51-53): ἡμεῖς δὲ πατρὸς τύμβον, ὡς ἐφίετο [sc. ὁ Ἀπόλλων], 51 λοβαῖσι πρῶτον καὶ καρατόμοις χλιδαῖς στέψαντες… [51] Nachdem wir das Grab des Vaters, wie er [sc. Apollon] befiehlt, mit Weihegüssen und vom Kopf geschnittenen Locken geschmückt haben… Entscheidend ist, dass Orest bei Sophokles herausstellt, dass ihm die Opferung seiner Locken vom Gott befohlen worden ist, während die entsprechende Handlung in den Choephoren Orests ureigenem Bedürfnis entsprungen war, der eben genannten Trauer um seinen Vater (vv. 6 f., beachte πενϑητήριον 7 neben dem oben zitierten πένϑος 300): ‹ › πλόκαμον Ἰνάχῳ ϑρεπτήριον, 6 τὸν δεύτερον δὲ τόνδε πενϑητήριον [6] [Ich bringe dar] eine Locke dem Inachos als Dank für die Hilfe, und die zweite hier als Zeichen meiner Trauer Dass andererseits die Feinde des Orest - und der ‚Schaden‘, den er ihnen zufügt, das heißt, ihre Tötung - im Elektra-Prolog ebenso seltsam schattenhaft bleiben, ist oben bereits angeklungen. Auch darin zeigt sich nun ein Unterschied zu den Choephoren (vv. 430-439, 443-445 und 456): ‹ .› ἰὼ ἰὼ δαία πάντολμε μᾶτερ, δαίαις ἐν ἐκφοραῖς 430 ἄνευ πολιτᾶν ἄνακτ’, ἄνευ δὲ πενϑημάτων ἔτλας ἀνοίμωκτον ἄνδρα ϑάψαι. ‹ .› τὸ πᾶν ἀτίμως ἔρεξας, οἴμοι· πατρὸς δ’ ἀτίμωσιν ἆρα τείσει 435 ἕκατι μὲν δαιμόνων, ἕκατι δ’ ἀμᾶν χερῶν. 261 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="262"?> 418 Vgl. zur ‚un-aischyleischen‘ Darstellung des Orest Di Benedetto 1988, 165-167. ἔπειτ’ ἐγὼ νοσφίσας ὀλοίμαν. ‹ .› ἐμασχαλίσϑη δέ γ’, ὡς τόδ’ εἰδῇς, […] κλύει‹ς› πατρῴους δύ‹α›ς ἀτίμους. ‹ .› λέγεις πατρῷον μόρον· ἐγὼ δ’ ἀπεστάτουν ἄτιμος, οὐδὲν ἀξία 445 […] τοιαῦτ’ ἀκούων ‹τάδ’› ἐν φρεσὶν ‹γράφου›. 450 ‹ .› γράφου […] ‹ .› σέ τοι λέγω, ξυγγενοῦ πάτερ φίλοις. 456 [430] . Io io, grausame und schamlose Mutter, eine grausame Bestattung - ein Herr fern von seinen Bürgern, unbetrauert und unbeklagt - hast Du Deinem Mann zu geben gewagt! r. Entehrend hast Du gehandelt, oh weh mir! [435] Aber die Entehrung des Vaters wird sie bezahlen nach dem Willen der Götter, nach dem Willen meiner Hände! Dann, wenn ich sie entfernt habe, mag ich sterben. r Er wurde verstümmelt, damit Du dies weißt, […] Du hörst von entehrenden Leiden Deines Vaters. . Du sprichst vom Tod des Vaters; ich aber war nicht dort, sondern hielt mich fern, [445] ehrlos, wertlos […] [450] Da Du dies gehört hast, schreibe es nieder in Deinem Geist. r Schreibe es nieder […] [456] r. Dich spreche ich an, Vater, steh Deinen Lieben bei. Man ginge zwar fehl, wenn man beim aischyleischen Orest nach leidenschaftli‐ chen Ausdrücken der Empörung über die jämmerliche Behandlung seines Vaters - und seiner Schwester - suchte, die ihn zu einem tief empfundenen Verlangen nach Rache veranlassten. Vielmehr sind es, ähnlich wie bei Sophokles, Elektra und der Chor, die sich entsprechend äußern. Da sich Orest bei Aischylos diesen beiden Akteuren aber nicht verweigert hat, sondern am Kommos teilnimmt, in dem sich die entsprechenden Aussagen finden, entsteht der Eindruck, dass diese Wahrnehmung auch die seine ist (beachte besonders die Aufforderungen in den vv. 450 f.). Wenn er dann abschließend um die Unterstützung seines Vaters bittet bei der Tötung von dessen Mördern, dann unterscheidet sich der sophokleische Orest deutlich genug von seinem aischyleischen Pendant, aber auch von der sophokleischen Elektra, für die das Talionsprinzip, wenngleich in der oben herausgearbeiteten Form, durchaus eine entscheidende Rolle spielt und deren Agieren insofern näher am aischyleischen Hypotext ist. 418 Dieses spezifische Streben nach Gerechtigkeit der Elektra ist es, für das die Zuschauer am Ende der bis jetzt besprochenen Handlung engagiert sind, und entsprechend finden sich auch im ersten Stasimon, das dieses Engagement 262 4 Die Elektra <?page no="263"?> besiegelt, erneut Anklänge an das Talionsprinzip. Das Beil nämlich, mit dem Agamemnon „durch hässlichste Schändung“ getötet wurde, „erinnert sich“, und Orest wird mit einer Erinye verglichen (vv. 482-491): οὐ γάρ ποτ’ ἀμναστεῖ γ’ ὁ φύσας σ’ Ἑλλάνων ἄναξ, οὐδ’ ἁ παλαιὰ χαλκόπληκτος ἀμφήκης γένυς, 485 ἅ νιν κατέπεφνεν αἰσχίσταις ἐν αἰκείαις. ἥξει καὶ πολύπους καὶ πολύχειρ ἁ δεινοῖς κρυπτομένα λόχοις 490 χαλκόπους Ἐρινύς. Nicht nämlich hat er vergessen, der Dich gezeugt hat, der Herr der Griechen, [485] und auch nicht der alte, mit einer bronzenen Schneide versehene, doppelt geschärfte Rachen der Axt, der ihn in hässlichster Schändlichkeit getötet hat. Es wird auch kommen die vielfüßige und vielarmige, sich in schrecklichen Hinterhalten versteckende, [490] bronzefüßige Erinye. Das Talionsprinzip: göttliche Gerechtigkeit, ‚ganz anders‘ Aufgrund der hier herausgearbeiteten Bedeutung des Talionsprinzips ist Elektras Herangehensweise an die Gerechtigkeit also das gegenüber derjenigen des Orest ‚ganz andere‘, so wie ihr sprachliches Agieren ‚ganz anders‘ ist, und es ist diese Herangehensweise, für welche die Zuschauer engagiert werden. Dieses Engagement hat nun einen entscheidenden Effekt, insofern die Zuschauer, wenn sie sich entsprechend den textlichen Signalen engagieren lassen, auch eine ‚ganz andere‘ Antwort erhalten auf die Frage, mit der sie am Ende des Prologs zurückgelassen worden waren: die Frage nach der menschlichen Sinnhaftigkeit der im Stück wirkenden göttlichen Gerechtigkeit. Denn insofern es sich bei der von Elektra erstrebten Gerechtigkeit, wie oben gezeigt, um göttliche Gerechtigkeit handelt, erschließt ihre Perspektive den Zuschauern eine Möglichkeit, dem Funktionieren dieser Gerechtigkeit Sinn abzugewinnen, und zwar, indem man diese so versteht, dass sie verlange, dass die Verworfenheit von Agamemnons Mördern auf diese zurückgespiegelt werde. Apollons Agieren ist dann nicht mehr als eine Gelegenheit zum Gewinn von Ruhm und Ehre in Orests Sinne aufzufassen und das Engagement auf Orests diesbezügliches Streben zu richten; vielmehr besteht das ‚Funktionieren‘ dieses Gottes darin, dass dieser, wie dies Elektra betreibt, Gleiches mit Gleichem vergolten sehen will und entsprechend, wie bei Aischylos, befohlen hat, Betrug durch Betrug zu bestrafen. 263 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="264"?> Diese Wahrnehmung unterstützt Sophokles durch die Suggestionskraft seiner Darstellung. Denn natürlich weiß Elektra nichts von der Realisierung der göttlichen Gerechtigkeit in Apollons Betrugsauftrag, fällt sie ja selbst dem Betrug zum Opfer. Dennoch aber spielt der Betrug, mit dem Agamemnon zu Tode gebracht wurde, eine bedeutende Rolle in ihrer Wahrnehmung, aber auch derjenigen des Chors (vv. 121-126 und 197-206): . ὦ παῖ παῖ δυστανοτάτας Ἠλέκτρα ματρός, τίν’ ἀεὶ λάσκεις ὧδ’ ἀκόρεστον οἰμωγὰν τὸν πάλαι ἐκ δολαρᾶς ἀϑεώτατα ματρὸς ἁλόντ’ ἀπάταις Ἀγαμέμνονα 125 κακᾷ τε χειρὶ πρόδοτον; […] δόλος ἦν ὁ φράσας, ἔρος ὁ κτείνας, δεινὰν δεινῶς προφυτεύσαντες μορφάν, εἴτ’ οὖν ϑεὸς εἴτε βροτῶν ἦν ὁ ταῦτα πράσσων. 200 . ὦ πασᾶν κείνα πλέον ἁμέρα ἐλϑοῦσ’ ἐχϑίστα δή μοι· ὦ νύξ, ὦ δείπνων ἀρρήτων ἔκπαγλ’ ἄχϑη· τοὺς ἐμὸς ἴδε πατὴρ 205 ϑανάτους αἰκεῖς διδύμαιν χειροῖν r O Kind, Kind einer äußerst unglücksseligen Mutter, Elektra, mit welcher so un‐ ersättlichen Klage bejammerst Du immer den vor langer Zeit auf frevelhafteste Weise von der betrügerischen [125] Mutter durch Täuschung erschlagenen Agamemnon, mit schlimmer Hand verraten? […] Betrug war, der sich dies ausdachte, Leidenschaft war, was tötete, indem sie schrecklich annahmen eine schreckliche Gestalt, ob es ein Gott oder einer der Sterblichen war, [200] der dies tat. . O dieser Tag, der mehr als alle mir als größter Feind kam! O Nacht, o des unsäglichen Mahles schreckliche Last! [205] Mein Vater sah die scheußlichsten Tode mit doppelter Hand Die Tatsache, dass Agamemnon durch Betrug zu Tode gebracht wurde, trägt nämlich entscheidend zum ‚hässlichen‘ Charakter von dessen Ermordung bei (beachte δεινὰν δεινῶς προφυτεύσαντες / μορφάν 198 f. sowie ϑανάτους αἰκεῖς 206 in Fortsetzung der vorangegangenen Chorstrophe), ist also ein Aspekt der 264 4 Die Elektra <?page no="265"?> 419 Zur engen konzeptionellen Verwandtschaft des Adjektivs ‚hässlich‘ (üblicherweise αἰσχρός, das in v. 206 verwendete αἰκής ist eine lexikalische Variante dazu) mit der Untugend der anaideia (die zu Anm. 410 oben in der Form des Gegensatzes zwischen aidos und dem zu αἰσχρός gehörigen Verb αἰσχύνομαι bereit begegnet ist) siehe erneut von Erffa 1937, 19 f. (diese Verwandtschaft hatte auch Tekmessa im Aias genutzt, wenn sie Aias’ αἰσχρὸν 473 u. a. durch die Aufforderung αἴδεσαι 506 und 507 aufnahm, siehe 2.2.4.1 oben). 420 Zu Elektras gewissermaßen intuitivem Verständnis der göttlichen Gerechtigkeit vgl. Erbse 1978, 291-293 (ähnlich Altmeyer 2001, 178). anaideia seiner Mörder, 419 und diese anaideia ist es ja, die Elektra auf diese zurückwerfen will. Dass man diese Spiegelung statt durch endlose, ‚schamlose‘ Klage auch erreichen könnte, indem man, wie von Apollon befohlen, Betrug mit Betrug erwidert, liegt auf der Hand: Wenn der Betrug, durch den Agamemnon zu Tode kam, ‚hässlich‘ ist, dann ist die Bestrafung von Betrug durch Betrug, wie sie der Gott befohlen hat, eine Bestrafung von anaideia durch anaideia. 420 Besonders meisterhaft ist die sophokleische Suggestionskraft dabei im abschließenden ersten Stasimon, in dem er den Chor, ohne dass dieser dazu eine ‚realistische‘ Veranlassung hätte, davon ausgehen lässt, dass Orest, wenn er denn komme, im Verborgenen operieren werde (vgl. κρυπτομένα 490). Auf diese Weise gestaltet Sophokles Elektras Perspektive in einer Weise aus, dass diese gegenüber den Zuschauern als Vehikel funktionieren kann, um der im Stück dargestellten göttlichen Gerechtigkeit Sinn abzugewinnen, und zwar eben als Verwirklichung der Reziprozität. Die verschiedenen Aspekte der ‚otherness‘ von Elektras Per‐ spektive gegenüber der im Prolog exponierten - Frau vs. Mann, zirkuläre Zeitlichkeit vs. dynamische Zeitlichkeit, Kampf für Gerechtigkeit mittels Klage vs. Kampf für Gerechtigkeit mittels der Manipulation von Sprache - werden also in einer entscheidenden Differenz aufgehoben: der Differenz zwischen zwei grundverschiedenen Ansätzen, der im Stück verwirklichten göttlichen Gerechtigkeit menschlichen Sinn abzugewinnen, die sich unter dem Schlagwort ‚Verwirklichung von Reziprozität vs. Gelegenheit zum Gewinn von Ruhm und Ehre‘ fassen lässt, und es ist der erste Ansatz, für den die Zuschauer im ersten Handlungsbogen engagiert werden. Göttliche Gerechtigkeit als soziales Desiderat Mit diesen Überlegungen ist jedoch das Zuschauerengagement immer noch nicht ganz ausgeschöpft: Oben 4.2.1.2 ist gezeigt worden, wie die in den ersten beiden Repliken des Prologs zunächst suggerierte unproblematische Identifikation mit Orest auch eine mit einem positiv dargestellten sozialen Akteur gewesen war: Orest kam auch als Befreier der Gruppe der Argiver und brachte so die göttliche nicht nur mit seiner ganz persönlichen Perspektive 265 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="266"?> 421 Vgl. MacLeod 2001, 56-78. in Deckung, sondern auch mit derjenigen des innerdramatischen Kollektivs, von dem er Ruhm und Ehre erwarten kann, und somit auch des Kollektivs der Zuschauer. Eine derartige Identifikation ermöglicht nun auch der ‚ganz andere‘ Ansatz der Elektra. Auch sie sieht sich nämlich als eine soziale Akteurin. 421 Dies zeigt sich bereits in ihrem Auftrittsthrenos, mit dem sie, wie oben 4.2.2.1 gesagt, die Öffentlichkeit sucht, also gegenüber den Menschen, die sie vor dem Palast hören können, die Erinnerung an die Ermordung des Agamemnon wachhält: Wenn die Zuschauer dort ihr Leiden und ihre Empörung nachvollziehen, dann rückt ihre Perspektive in die Nähe der Perspektive der Gruppe von Elektras drameninternen Adressaten. Besonders deutlich aber sind die bereits mehrmals besprochenen, zentralen vv. 245-250. Denn dort hält Elektra fest, dass, wenn Agamemnons Mörder nicht bezahlten, „die Sterblichen“ keinen Grund mehr hätten zu ‚wertegeleitetem‘ Handeln: Sollen die Menschen in tugendhaftem Handeln weiterhin einen Sinn sehen, muss Elektras Kampf belohnt werden. Elektra sieht ihr Agieren also in einem sozialen Kontext, vor einem ‚Publikum‘ stattfinden, das faktisch die Gemeinschaft des Chors und die Gemeinschaft der Einwohner von Argos, potentiell aber alle Menschen umfasst, die ihren Kampf verfolgen. Diesen erweist sie einen Dienst, indem sie durch exemplarisches Handeln zu verhindern versucht, dass diese keinen Sinn mehr darin sehen, gerecht zu handeln. Diese Aussage hat nun gewissermaßen einen metaleptischen Charakter. Durch diese Artikulation ihres Selbstverständnisses kann sich nämlich die Gruppe der Zuschauer, das extradramatische Publikum, vor dem ihr Agieren stattfindet, direkt angesprochen sehen: Auch dieser Gruppe erweist Elektra den eben beschriebenen Dienst. Der menschliche Sinn, den Elektra der Gerechtigkeit ab‐ gewinnt, die, wie oben beschrieben, eine göttliche ist, besteht also nicht einfach darin, dass die Zuschauer passiv zufrieden sein können mit dem Agieren des Apollon, wie es das Stück darstellt, sondern darin, dass sie sich in ihrer Identität als Menschen aktiv am Vorgehen der Elektra orientieren, sich dieses zum Vorbild nehmen können, da sie dadurch befähigt werden, im Einklang mit den Göttern ‚wertegeleitet‘ zu handeln: Die Zuschauer haben ein ganz persönliches Interesse daran, dass Apollon - oder, was hier das Gleiche ist, Sophokles - Elektra nicht scheitern lässt, da sie ansonsten mit der deprimierenden ‚Botschaft‘ aus dem Stück entlassen würden, dass es keinen Sinn hat, ‚wertegeleitet‘ zu handeln, aidos und eusebeia auch für sie „dahin“ wären. 266 4 Die Elektra <?page no="267"?> 4.2.3 Der Agon mit Klytaimestra: die Problematik von Elektras Agieren Genau dazu kommt es nun aber am Ende des ersten Handlungsbogens, im Agon der Elektra mit ihrer Mutter Klytaimestra. Dieser Agon hat zwei aufeinander aufbauende Wirkungsmomente: Zum einen führt Sophokles hier den spezifi‐ schen Kampf der Elektra, für den die Zuschauer engagiert worden sind und der oben 4.2.2.1-4.2.2.3 beschrieben worden ist, noch einmal vor. Zum anderen aber, und dies ist die entscheidende, eben erwähnte Entwicklung in dieser Szene, wird genau dieser Kampf problematisiert, so dass das davor generierte Engagement, in Übereinstimmung mit einem inzwischen vertrauten Ablauf, nicht zu einer Lösung führt, sondern zu einer Situation, in der die Zuschauer desto deutlicher auf die spezifischen Probleme von Elektras Reaktion hingewiesen werden. Diesen beiden Momenten ist jetzt nachzugehen. Die Verdeutlichung liefert Sophokles zunächst, indem er das oben unter 4.2.2.3 Herausgearbeitete noch einmal klar vorführt: Elektra hat die Gerechtigkeit auf ihrer Seite, Klytaimestra aber nicht. Dies macht er deutlich, indem er Klytaimestra zunächst behaupten lässt, sie sei bei der Ermordung des Agamemnon von der personifizierten Gerechtigkeit, Dike, unterstützt worden (vv. 525-546): πατὴρ γάρ, οὐδὲν ἄλλο, σοὶ πρόσχημ’ ἀεὶ, 525 ὡς ἐξ ἐμοῦ τέϑνηκεν. ἐξ ἐμοῦ· καλῶς ἔξοιδα· τῶνδ’ ἄρνησις οὐκ ἔνεστί μοι. ἡ γὰρ Δίκη νιν εἷλεν, οὐκ ἐγὼ μόνη, ᾗ χρῆν σ’ ἀρήγειν, εἰ φρονοῦσ’ ἐτύγχανες. ἐπεὶ πατὴρ οὗτος σός, ὃν ϑρηνεῖς ἀεί, 530 τὴν σὴν ὅμαιμον μοῦνος Ἑλλήνων ἔτλη ϑῦσαι ϑεοῖσιν, οὐκ ἴσον καμὼν ἐμοὶ λύπης, ὅτ’ ἔσπειρ’, ὥσπερ ἡ τίκτουσ’ ἐγώ. εἶἑν· δίδαξον δή με ‹τοῦτο›· τοῦ χάριν ἔϑυσεν αὐτήν; πότερον Ἀργείων ἐρεῖς; 535 ἀλλ’ οὐ μετῆν αὐτοῖσι τήν γ’ ἐμὴν κτανεῖν. ἀλλ’ ἀντ’ ἀδελφοῦ δῆτα Μενέλεω κτανὼν τἄμ’ οὐκ ἔμελλε τῶνδέ μοι δώσειν δίκην; πότερον ἐκείνῳ παῖδες οὐκ ἦσαν διπλοῖ, οὓς τῆσδε μᾶλλον εἰκὸς ἦν ϑνῄσκειν, πατρὸς 540 καὶ μητρὸς ὄντας, ἧς ὁ πλοῦς ὅδ’ ἦν χάριν; ἢ τῶν ἐμῶν Ἅιδης τιν’ ἵμερον τέκνων ἢ τῶν ἐκείνης ἔσχε δαίσασϑαι πλέον; ἢ τῷ πανώλει πατρὶ τῶν μὲν ἐξ ἐμοῦ 267 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="268"?> 422 Vgl. Blundell 1989, 162; Kitzinger 1991, 313. 423 Zum ethischen Gehalt von ἀβούλου 546 siehe Finglass 2007, ad v. 546. 424 Vgl. MacLeod 2001, 83. παίδων πόϑος παρεῖτο, Μενέλεω δ’ ἐνῆν; 545 οὐ ταῦτ’ ἀβούλου καὶ κακοῦ γνώμην πατρός; [525] Immer nur der Vater und sonst nichts, dies ist der Vorwand, den Du vorbringst, dass dieser von mir getötet worden ist. Von mir; durchaus weiß ich dies und kann es nicht leugnen. Dike nämlich hat ihn ergriffen, nicht nur ich alleine, und Du müsstest mir helfen, wenn Du guten Sinns wärst. [530] Denn Dein Vater, den Du immer bejammerst, hat als Einziger der Griechen gewagt, Deine Schwester den Göttern zu opfern, obwohl er nicht gleichviel erlitten hatte an Kummer bei der Zeugung wie ich bei der Geburt. Auf, sag mir dies: Weswegen [535] hat er sie geopfert? Sagst Du, um der Argiver willen? Aber es stand ihnen nicht zu, die Meine zu töten. Oder sollte er, da er sie im Interesse seines Bruders Menelaos getötet hat, mir dafür nicht Strafe leisten? Hatte dieser nicht zwei Kinder, [540] die eher hätten sterben sollen als jene, da sie dem Vater und der Mutter zugehörten, für die dieser See-Kriegszug unternommen wurde? Oder fand Hades einen Gefallen an meinen Kindern, der größer war als der Gefallen daran, sich an den Kindern von dieser zu mästen? Oder hatte der elende Vater nach meinen [545] Kindern keine Sehnsucht, Menelaos aber schon? Ist dies nicht die Tat eines pflichtvergessenen und törichten Vaters? Klytaimestra präsentiert ihren Gerechtigkeitsanspruch dabei zunächst im Sinne des Talionsprinzips: 422 Aufgrund der Schmerzen, die sie bei der Geburt Iphige‐ nies erlitten habe, habe sie ein ‚Vorrecht‘ auf ihre Tochter gehabt, doch dieses habe Agamemnon verletzt (beachte auch die Bezeichnung Iphigenies als „die Meine“ in v. 536), weswegen sie sich an ihm gerechterweise habe rächen dürfen. Im weiteren Verlauf ihrer Rhesis indes überformt sie diese Talionsgerechtigkeit durch im engeren Sinne moralische Überlegungen, indem sie herausstellt, dass Agamemnon nicht einfach nur ihr ‚Vorrecht‘ verletzt, sondern Iphigenie im Interesse seines Bruders Menelaos getötet und sich so als „törichter und pflichtvergessener Vater“ 423 erwiesen habe. Entscheidend ist nun, dass Sophokles deutliche Signale gegeben hat, Klytai‐ mestras Verteidigung der Gerechtigkeit ihrer Position für ungenügend zu halten. Dies zeigt zunächst ihre Rede selbst: Das Argument von einem sich aus den bei der Geburt erlittenen Schmerzen ergebenden ‚Vorrecht‘ ist einigermaßen zwei‐ felhaft, 424 erzeugt also den Eindruck, dass Klytaimestra andere Gründe hatte für ihr Handeln. Den Eindruck, dass sie ihre wahren Motive verschleiere, verstärkt der weitere Verlauf ihrer Rede mit seiner Kaskade von rhetorischen Fragen 268 4 Die Elektra <?page no="269"?> 425 Vgl. MacLeod 2001, 82 mit Anm. 9. 426 Vgl. Blundell 1989, 165. und Hypophoren, 425 während ihre Implikation, man hätte einfach Menelaos’ Kinder opfern sollen, natürlich an den Tatsachen vorbeigeht, hatte Artemis ja nicht irgendein Kind, sondern ein Kind des Agamemnon gefordert. 426 Wenn Elektra dann bei Klytaimestras Motiven ansetzt und herausstellt, was diese wirklich motiviert habe - ihre sexuelle Bindung an Aigisth -, dann erscheint diese Argumentation überzeugend (vv. 560-576): λέξω δέ σοι, 560 ὡς οὐ δίκῃ γ’ ἔκτεινας, ἀλλά σ’ ἔσπασεν πειϑὼ κακοῦ πρὸς ἀνδρός, ᾧ τανῦν ξύνει. ἐροῦ δὲ τὴν κυναγὸν Ἄρτεμιν τίνος ποινὰς τὰ πολλὰ πνεύματ’ ἔσχ’ ἐν Αὐλίδι· ἢ ’γὼ φράσω· κείνης γὰρ οὐ ϑέμις μαϑεῖν. 565 πατήρ ποϑ’ οὑμός, ὡς ἐγὼ κλύω, ϑεᾶς παίζων κατ’ ἄλσος ἐξεκίνησεν ποδοῖν στικτὸν κεράστην ἔλαφον, οὗ κατὰ σφαγὰς ἐκκομπάσας ἔπος τι τυγχάνει βαλών. κἀκ τοῦδε μηνίσασα Λητῴα κόρη 570 κατεῖχ’ Ἀχαιούς, ὡς πατὴρ ἀντίσταϑμον τοῦ ϑηρὸς ἐκϑύσειε τὴν αὑτοῦ κόρην. ὧδ’ ἦν τὰ κείνης ϑύματ’· οὐ γὰρ ἦν λύσις ἄλλη στρατῷ πρὸς οἶκον οὐδ’ εἰς Ἴλιον. ἀνϑ’ ὧν βιασϑεὶς πολλὰ κἀντιβὰς μόλις 575 ἔϑυσεν αὐτήν, οὐχὶ Μενέλεω χάριν. [560] Ich werde Dir sagen, dass Du ihn nicht gerechterweise getötet hast, sondern verführt vom schlechten Mann, mit dem Du nun zusammenlebst. Frag Artemis, die Hundeführerin, was der Grund war für die Bestrafung, als sie die mächtigen Winde in Aulis am Wehen hinderte; [565] oder ich werd’s Dir sagen; von dieser dies zu erfahren, geht nämlich nicht an. Mein Vater also, so höre ich, hat, in der Göttin Hain spazierengehend, mit den Füßen einen gescheckten, gehörnten Hirsch aufgestört und, als er diesen schlachtete, ein übermütiges Wort von sich gegeben. [570] Darob geriet die Tochter der Leto in Zorn und hielt die Achaier fest, damit Vater als Ersatz für das Tier seine eigene Tochter opfere. So kam es zu ihrer Opferung; es gab nämlich kein Loskommen auf eine andere Weise für das Heer, sei es nach Hause, sei es nach Ilion. [575] Deswegen hat er, gezwungen und sich sträubend, mit Mühe sie geopfert, und nicht um des Menelaos willen. 269 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="270"?> 427 Vgl. Finglass (2007, ad vv. 516-633), der darauf hinweist, dass die aischyleische Klytai‐ mestra im Agamemnon durchaus Zeichen mütterlicher Gefühle gegenüber Iphigenie an den Tag gelegt hatte und die Opferung der Tochter dort in bewegender Weise beschrieben worden war, während die sophokleische Klytaimestra diese Tötung aus‐ schließlich als Verletzung ihrer ‚Eigentumsrechte‘ zu betrachten scheint. 428 Vgl. MacLeod 2001, 85-87; die Auffassung, dass ein zeitgenössisches Publikum Elektra nicht geglaubt habe, wird z. B. durch van Erp Taalman Kip (1996, 517-521) widerlegt. Besonders zu beachten ist dabei, dass Elektra nicht nur ihre Mutter kritisiert, sondern auch ihren Vater rechtfertigt, indem sie herausstellt, was in Aulis wirklich geschehen sei: Agamemnon musste, zu seinem Bedauern, eines seiner Kinder opfern, da die Flotte nicht nach Troia, aber auch nicht zurücksegeln konnte. Während Klytaimestra also in diesem Austausch eindeutig negativ dargestellt ist - insbesondere negativer als bei Aischylos 427 -, erscheint Aga‐ memnon gegenüber früheren Darstellungen - in den Kyprien, aber auch bei Aischylos - positiver, da Sophokles mit der Unmöglichkeit nicht nur des Weitersegelns nach Troia, sondern auch der Rückkehr nach Hause (vv. 573 f.) ein Element hinzufügt, das sich davor nicht gefunden hatte. 428 Auf diese Weise macht Sophokles deutlich, dass in seinem Stück eben nicht Recht gegen Recht steht, sondern Recht gegen Unrecht. Oben 4.2.2.3 ist nun ferner gezeigt worden, dass Elektras Kampf gegen das Unrecht ihrer Mutter insofern wesentlich vom Talionsprinzip geprägt ist, als sie die anaideia ihrer Mutter auf diese zurückwirft. Auch dies führt Sophokles im Sinne einer Verdeutlichung des davor Gezeigten hier, am Ende von Elektras Rede, vor (vv. 585-597 und 601-609): εἰ γὰρ ϑέλεις, δίδαξον ἀνϑ’ ὅτου τανῦν 585 αἴσχιστα πάντων ἔργα δρῶσα τυγχάνεις, ἥτις ξυνεύδεις τῷ παλαμναίῳ, μεϑ’ οὗ πατέρα τὸν ἀμὸν πρόσϑεν ἐξαπώλεσας, καὶ παιδοποιεῖς, τοὺς δὲ πρόσϑεν εὐσεβεῖς κἀξ εὐσεβῶν βλαστόντας ἐκβαλοῦσ’ ἔχεις. 590 πῶς ταῦτ’ ἐπαινέσαιμ’ ἄν; ἢ καὶ ταῦτ’ ἐρεῖς ὡς τῆς ϑυγατρὸς ἀντίποινα λαμβάνεις; αἰσχρῶς δ’, ἐάν περ καὶ λέγῃς. οὐ γὰρ καλὸν ἐχϑροῖς γαμεῖσϑαι τῆς ϑυγατρὸς οὕνεκα. ἀλλ’ οὐ γὰρ οὐδὲ νουϑετεῖν ἔξεστί σε, 595 ἣ πᾶσαν ἵης γλῶσσαν ὡς τὴν μητέρα κακοστομοῦμεν. […] ὃ δ’ ἄλλος ἔξω, χεῖρα σὴν μόλις φυγών, τλήμων Ὀρέστης δυστυχῆ τρίβει βίον· ὃν πολλὰ δή μέ σοι τρέφειν μιάστορα 270 4 Die Elektra <?page no="271"?> ἐπῃτιάσω· καὶ τόδ’, εἴπερ ἔσϑενον, ἔδρων ἄν, εὖ τοῦτ’ ἴσϑι· τοῦδέ γ’ οὕνεκα 605 κήρυσσέ μ’ εἰς ἅπαντας, εἴτε χρῇς κακὴν εἴτε στόμαργον εἴτ’ ἀναιδείας πλέαν. εἰ γὰρ πέφυκα τῶνδε τῶν ἔργων ἴδρις, σχεδόν τι τὴν σὴν οὐ καταισχύνω φύσιν. [585] Wenn Du willst, klär mich auf, warum Du jetzt die hässlichsten Taten von allen vollbringst, die Du mit dem Gewalttäter schläfst, mit dem Du davor meinen Vater ermordet hast, und mit ihm Kinder hast, die alten aber, die selbst anständig sind [590] und anständiger Leute Nachkommen, verstoßen hast. Wie könnte ich dies gutheißen? Oder sagst Du auch davon, dass Du dadurch Rache nehmest für die Tochter? Auf hässliche Weise tätest Du dies, wenn Du dies behaupten solltest. Nicht nämlich ist es schön, sich mit Feinden zu verheiraten um der Tochter willen. [595] Und es ist Dir auch nicht erlaubt, mich zu tadeln, die Du ständig behauptest, dass ich die Mutter in Verruf brächte. […] Der andere aber, da draußen, nur mit Glück Deiner Hand entflohen, der elende Orest, fristet ein unglückliches Leben; dass ich ihn zu einem gemacht hätte, der Rache an Dir nehmen würde, hast Du oft mir vorgeworfen; und dies, vermöchte ich es, [605] würde ich selbst tun, wisse wohl; deswegen verkünde allen, dass ich, wie auch immer Du es sagen willst, schlecht sei oder schandmäulig oder voll der Schamlosigkeit. Wenn nämlich diese Dinge in mir sind, dann beschäme ich Deine Natur nicht. Elektra stellt also den „hässlichen“, gegen den Wert der aidos verstoßenden Charakter des Treibens ihrer Mutter fest (αἴσχιστα 585, αἰσχρῶς und οὐ […] καλὸν 593); zugleich gesteht sie dieser aber zu, ihr die anaideia ihres Verhaltens vorzuwerfen, da sie sich dadurch gewissermaßen als ‚wahre Tochter‘ ihrer Mutter zeigt, also deren Verkommenheit auf diese zurückwirft (vv. 605-609 mit ἀναιδείας 607): Dass Elektra mit ihrem „hässlichen“, aber gerechten Vorgehen gegen das „hässliche“ und ungerechte Verhalten ihrer Mutter kämpft, wird erneut deutlich. Der eben besprochene Abschnitt von Elektras Rede bringt aber noch eine weitere Klärung bei, indem Sophokles dort zwei Momente zusammenführt, die bisher eher disparat gewesen waren. Bisher hatte sich nämlich keine explizite Engführung von Elektras Wunsch gefunden, Blut für Blut vergossen zu sehen, und ihrem reziproken Verstoß gegen den Wert der aidos, ja war ersterer alleine indirekt im Prolog greifbar gewesen. Eine solche findet sich aber hier, wenn Elektra zunächst ihren Wunsch nach dem Kommen ihres Bruders als eines Rächers äußert und sagt, dass sie „dies“ (τόδ’ 604) - also die Tötung ihrer Mutter -, wenn sie gekonnt hätte, selbst vorgenommen hätte, bevor sie „deswegen“ (τοῦδε γ’ οὕνεκα 605) den Vorwurf der anaideia auf 271 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="272"?> 429 Knox (1966, 38) hat Elektra bekanntlich als „the most self-analytical of all the Sophoc‐ lean heroes“ bezeichnet. sich nimmt (vv. 603-607). Damit wird eine Konsequenz aus Elektras Agieren deutlich, die bisher implizit gewesen war: Der gerechte Vollzug der Rache durch das Vergießen von Blut für Blut, wie ihn sich Elektra wünscht und durch ihre Klage befördert, ist hässlich. Dies ist eine notwendige Konsequenz, wenn man der Tötung von Agamemnons Mördern über Elektras vom Talionsprinzip geprägte Perspektive Sinn abgewinnt, und diese Konsequenz wird hier eindeutig greifbar. Hätte Sophokles nun Elektras spezifisches Agieren nur in der eben beschrie‐ benen Weise erneut vorgeführt, so hätte der Austausch der beiden Frauen das Engagement der Zuschauer dadurch erneut gesteigert: Diese hätten jetzt noch genauer verstanden, dass Elektra für Gerechtigkeit und gegen Ungerechtigkeit kämpft, und wie sie dies genau tut; die ‚Hässlichkeit‘ der von ihr betriebenen Rache wäre dann entsprechend nur die ausdrückliche Klärung einer Implikation gewesen. Doch die Wirkung des Agons ist eine andere. Denn vor den beiden oben besprochenen Passagen aus Elektras Rede (vv. 560-576; vv. 585-597 und 601-609) finden sich jeweils bis jetzt noch nicht diskutierte Abschnitte, welche die intendierte Wahrnehmung dessen, was Elektra tut, negativ prägen. Auf diese Weise kommt es zu einem Bruch in der bis vor dem Agon ansteigenden Kurve des Engagements; diese hat die Zuschauer somit nicht an eine unproblematische Lösung herangeführt - oder die Hoffnung auf eine unproblematische Lösung verstärkt -, sondern vielmehr an eine Situation, in der sie auf die Defizite von Elektras spezifischer Reaktion auf die Situation gestoßen werden. Entscheidend für diesen Bruch ist dabei, dass, während Elektra bezüglich der ‚Schändlichkeit‘ ihrer Klage im Gespräch mit dem Chor ein bemerkenswertes und durchaus kritisches Bewusstsein für ihre spezifische Situation gezeigt hatte, 429 die jetzt zu besprechenden Abschnitte zeigen, dass ihr ein Problem‐ bewusstsein im Hinblick auf die von ihr angestrebte ‚hässliche‘ Tötung von Agamemnons Mördern abgeht. Sie sagt dort Folgendes (vv. 558-560 und 577- 584): πατέρα φὴς κτεῖναι. τίς ἂν τούτου λόγος γένοιτ’ ἂν αἰσχίων ἔτι, εἴτ’ οὖν δικαίως εἴτε μή; […] 560 εἰ δ’ οὖν, ἐρῶ γὰρ καὶ τὸ σόν, κεῖνον [sc. τὸν Μενέλεων ὁ Ἀγαμέμνων] ϑέλων ἐπωφελῆσαι ταῦτ’ ἔδρα, τούτου ϑανεῖν χρῆν αὐτὸν οὕνεκ’ ἐκ σέϑεν; ποίῳ νόμῳ; 272 4 Die Elektra <?page no="273"?> 430 Vgl. Finglass 2007, ad vv. 558-560 zu den vv. 558-560 und ihren Implikationen. ὅρα τιϑεῖσα τόνδε τὸν νόμον βροτοῖς 580 μὴ πῆμα σαυτῇ καὶ μετάγνοιαν τίϑης. εἰ γὰρ κτενοῦμεν ἄλλον ἀντ’ ἄλλου, σύ τοι πρώτη ϑάνοις ἄν, εἰ δίκης γε τυγχάνοις. ἀλλ’ εἰσόρα μὴ σκῆψιν οὐκ οὖσαν τίϑης. Du sagst, dass Du Vater getötet hast. Welche Aussage könnte hässlicher sein als diese, [560] ob die Tötung nun gerechterweise vollzogen worden ist oder nicht? […] Wenn also, ich spreche nämlich aus Deiner Position, er diesem [sc. Agamemnon dem Menelaos] helfen wollte, als er dies tat, hätte deswegen er durch Dich sterben müssen? Nach welchem Gesetz? [580] Schau zu, dass, wenn Du den Sterblichen dieses Gesetz gibst, Du nicht für Dich selbst Leid und Reue verursachest. Wenn wir nämlich den einen um des anderen willen töten, dann würdest Du als Erste sterben, wenn Dir Gerechtigkeit widerfährt. Aber schau zu, dass Du keine Entschuldigung vorbringst, die keine ist. Elektra hält also fest, dass eine Tötung auch dann, wenn sie gerecht ist, „hässlich“ sein kann, und nimmt dies insbesondere für die Tötung eines Gatten an. Insofern sie nun aber natürlich ihre Mutter getötet sehen will, mit der sie enger verbunden ist, nämlich durch Blut, als dies Klytaimestra Agamemnon war, liegt auf der Hand, dass auch diese Tötung „hässlich“ sein wird. 430 Damit sagt sie nicht mehr, als sie, wie eben gezeigt, in den vv. 605-609 eingestehen wird. Der entscheidende Unterschied liegt aber darin, dass Elektra hier die „Hässlichkeit“ einer möglicherweise gerechten Tötung im Rahmen ihrer Argumentation auf Klytaimestras Tat beschränkt, um diese scharf zu kritisieren. Elektra nimmt also einen Unterschied zwischen ihrer Mutter und sich selbst an, der im Lichte ihrer eigenen Aussagen nicht haltbar ist, da sich das ‚hässliche‘ Agieren der beiden Figuren ja gerade unter dem hier von Elektra explizit beiseitegelassenen Gesichtspunkt ‚Gerechtigkeit vs. Ungerechtigkeit‘ unterscheidet: Die hier an‐ genommene Problematik einer „hässlichen“ Tötung, selbst wenn diese gerecht ist, fällt auf Elektra zurück, ohne dass sie ein Bewusstsein dafür zeigen würde. Wenn sie im Anschluss an die vv. 558-560 überzeugend darlegt, dass sie die Gerechtigkeit auf ihrer Seite hat, so prägen diese Verse ihr spezifisches, ‚hässliches‘ Herangehen an die Verwirklichung dieser Gerechtigkeit negativ. In eine ähnliche Richtung gehen die vv. 577-584, in denen Elektra sogar noch weitergeht: Sie lässt die Frage nach der Gerechtigkeit nicht nur beiseite, sie nimmt sogar ausdrücklich an, Agamemnon habe Iphigenie für Menelaos getötet, sei also ein „schlechter und pflichtvergessener Vater“ (vgl. v. 543- 273 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="274"?> 431 Vgl. die entsprechende Feststellung von Finglass (2007, ad vv. 558-560) zu den vv. 558-560, die sich auf die vv. 577-584 übertragen lässt. 432 Vgl. zur hier fassbaren rhetorischen Eigendynamik z. B. Heath 1987, 137; March 2001, ad vv. 580-583; es gibt allerdings keinen Grund, mit den genannten Beiträgen aus dieser Eigendynamik ein „Denkverbot“ (Schmitz 2016, ad vv. 582 f.) abzuleiten, also zu behaupten, diese mache es unstatthaft, über die Implikationen von Elektras Aussagen für sie selbst nachzudenken. 433 So von Friis Johansen (1964, 18 f.), Kells (1973, ad vv. 582 f.), Winnington-Ingram (1980, 221 f.), Blundell (1989, 168) oder Cairns (1993, 244-246). 434 Alexanderson 1966, 87 f.; Erbse 1978, 290 f.; Swart 1984, 26; Stinton 1990, 467 f.; Kitzinger 1991, 315 f.; MacLeod 2001, 87-89. 435 Vgl. Finglass 2007, ad vv. 573-583; Schmitz 2016, ad vv. 582f. 546) gewesen und habe entsprechend unrecht und Klytaimestra entsprechend gerecht gehandelt. Selbst dann, fährt sie fort, gehe es nicht an, „den einen um des anderen willen“ zu töten, da Klytaimestra, wenn dieses „Gesetz“, also das Talionsprinzip, für die Sterblichen gelte, als Erste zu Tode komme, wenn sie Gerechtigkeit erfahre. Dieses Argument hätte Elektra nicht vorbringen müssen, da sie Klytaimestras auf der vermeintlichen Ungerechtigkeit des Agamemnon basierende Überformung des Talionsprinzips bereits demoliert hat; 431 dass sie es dennoch tut, ist im agonalen Kontext, als ein Streben nach rhetorischer Vernichtung ihrer Gegnerin, aber durchaus nachvollziehbar. 432 Welche Konsequenzen dieses Argument nun für die von Sophokles sug‐ gerierte Wahrnehmung der Elektra hat, ist umstritten: Zum einen ist, von pessimistischer Seite, behauptet worden, Elektras Argument falle auf sie selbst zurück, die sie ja auch - gerechterweise - Blut für Blut vergossen sehen wolle. 433 Zum anderen ist aber ebenso der Standpunkt vertreten worden, dies geschehe gerade nicht, da Elektra sich hier nur gegen Klytaimestras fadenscheinige, da ihre Ungerechtigkeit bemäntelnde, Anwendung des Talionsprinzips wende. 434 Diese Deutung gibt indes Elektras Argument nicht angemessen wieder, sagt diese doch in den vv. 577 f. explizit, dass das Talionsprinzip auch dann nicht tauglich sei, wenn jemand gerechterweise um eines anderen willen getötet werde. 435 Es kann also kaum bestritten werden, dass Elektras Argument auf sie zurückfällt. Der genaue Charakter dieses Zurückfallens ist aber schwer zu fassen. Die bestehenden pessimistischen Deutungen der Elektra insgesamt und damit auch dieser Stelle haben nämlich ein zentrales Problem. Denn bei Aischylos war die Problematik der Tötung von Agamemnons Mördern sehr klar fassbar geworden, und zwar in Gestalt von Klytaimestras Erinyen, die Orest verfolgen. Bei Sophokles finden sich nun aber keine Erinyen - und schon gar nicht wird Elektra getötet, wie sie es in den vv. 582 f. Klytaimestra anzu‐ kündigen scheint. Deswegen ist es schwierig, festzustellen, worin genau eine 274 4 Die Elektra <?page no="275"?> 436 Winnington-Ingram 1980, 225-239. 437 So von Stinton (1990, 466-479). 438 Siehe Friis Johansen 1964, 31 f.; Segal 1966, 543; Kells 1973, 10 f. u.ö.; Kamerbeek 1974, 20; Horsley 1980, 27; Schein 1982, 71; in Ansätzen Wright 2005. 439 Vgl. Stevens 1978, 116-118 und bes. 119; MacLeod 2001, 16. durch Sophokles vorgenommene Problematisierung der Rache an Agamemnons Mördern besteht, die, wenn sie effektiv sein soll, bereits vor dem Stückende vorbereitet werden müsste. Mit dieser Tatsache ist nun auf wesentlich zwei Weisen umgegangen worden: Zum einen ist, namentlich von Winnington-Ingram, 436 argumentiert worden, dass Sophokles das Kommen der Erinyen am Stückende suggeriere und diese Suggestion im Stück selbst vorbereite; diese Deutung ist jedoch mit guten Gründen kritisiert worden. 437 Zum anderen hat man eine psychologische oder gar ‚psychiatrische‘ Deutung vorgeschlagen: Elektras Seele habe durch den jah‐ relangen Hass Schaden genommen und entsprechend bleibe sie am Stückende als gebrochene Frau zurück; 438 der ‚Tod‘, den sie in den vv. 582 f. ihrer Mutter anzukündigen scheint, wird also in ihr Seelenleben verlegt. Ein derartiges Verständnis ist jedoch problematisch, da sich auch dafür eigentlich keine Anhaltspunkte namhaft machen lassen, und die grundsätzliche Frage im Raum steht, ob ein derartiges psychologisches oder gar ‚psychiatrisches‘ Interesse nicht anachronistisch ist. 439 Wenn man das Zurückfallen von Elektras Argument auf dessen Urheberin also angemessen deuten will, muss man an einer anderen Stelle ansetzen, an der bis jetzt noch nicht angesetzt worden ist. Wo, zeigt eine genaue Betrachtung von Elektras Artikulation des Talionsprinzips: Sie präsentiert dieses hier nicht als ein kosmisches Prinzip, nach dem vergossenes Blut notwendig zum Vergießen neuen Blutes führt; sie sagt Klytaimestra nicht ihre unausweichliche Tötung voraus - und prophezeit entsprechend auch nicht ihre unausweichliche eigene Bestrafung oder gar Tötung, zum Beispiel durch Klytaimestras Erinyen. Was sie sagt, ist, dass Klytaimestra, wenn das Talionsprinzip unter den Menschen allgemeine Gültigkeit besäße, gerechterweise getötet werden dürfe, selbst wenn sie gerecht gehandelt hätte: Erschiene ein Ankläger und verlangte, dass sie mit dem Tod bestraft werde (vgl. den Konditionalsatz εἰ δίκης γε τυγχάνοις), dann hätte sie diesem keinerlei Argumente entgegenzusetzen. Was Elektra also am Talionsprinzip kritisiert, ist, dass dieses keine taugliche Basis menschlichen Zusammenlebens ist, kein „Gesetz“, das für die „Sterblichen“ vernünftigerweise allgemeine Gültigkeit haben darf (v. 580). Entsprechend erscheint das Zurück‐ fallen als eine Kompromittierung der Elektra als einer sozialen Akteurin: Ihr Vorgehen kann, genauso wie das ihrer Mutter, unmöglich als taugliches soziales 275 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="276"?> Verhalten verstanden werden, an dem sich „Sterbliche“ - die Menschen in Argos, aber auch die Zuschauer - orientieren sollten, das (gewissermaßen im Sinne des kategorischen Imperativs) zu einem menschlichen „Gesetz“ verallgemeinerbar ist. Entscheidend für die Problematisierung von Elektras Agieren ist nun, dass sie selbst genau diesen Anspruch erhoben hatte, und zwar, wie oben 4.2.2.3 gezeigt, in den vv. 245-250, wo sie ihr Agieren als einen Dienst an der Aufrechterhaltung von aidos und eusebeia unter den „Sterblichen“ (! ) aufgefasst hatte: Würden Agamemnons Mörder nicht bestraft, dann wären diese Tugenden dahin. Dieser Anspruch ist es, den Sophokles durch Elektras Argument problematisiert: Dieses ist keine scheinbare Prolepse, die sich, wenn am Stückende keine Erinyen erscheinen und Elektra auch nicht ‚innerlich tot‘ ist, als ‚red herring‘ erweist, sondern schließt den vorangegangenen Handlungsbogen ab, indem es zeigt, dass Elektras Vorstellung, sie könne die sozialen Tugenden der aidos und der eusebeia durch ihre anaideia und dyssebeia fördern, nicht haltbar ist. Voraussetzung für diese Dekonstruktion ist dabei, wie bereits bei den vv. 558- 560, die kommunikative Einbettung dieses Arguments: Man kann Elektra nicht unter Verweis darauf ‚retten‘, dass sich auch pro-soziales Agieren manchmal unvermeidlich auf antisoziales Verhalten abstützen muss - was sie vor dem Agon ja selbst eingestanden hatte und in den vv. 605-609 eingestehen wird -, vielmehr weist Elektra hier das Talionsprinzip grundsätzlich zurück, um ihre Mutter zu kritisieren, und nimmt so eine Unterscheidung zwischen dieser und sich selbst an, die nicht haltbar ist. Auf diese Weise komplettiert Elektras Argument die vv. 558-560, indem es deutlich macht, warum eine gerechte, aber reziprok ‚hässliche‘, das heißt, gegen den Wert der aidos verstoßende Tötung problematisch ist: Mit einem solchen Vorgehen ist sozusagen kein Staat zu machen. Zusammen prägen nun die vv. 558-560 (Thema: ‚Hässlichkeit‘) und vv. 577-584 (Thema: Blut für Blut) Elektras im Anschluss an die zweite Passage formuliertes und weiter oben besprochenes Eingeständnis negativ, dass die von ihr erwünschte und unterstützte gerechte Tötung ihrer Mutter „hässlich“ sei: Sophokles reduziert das Identifikationspotential ihrer Perspektive, und es kommt so zum oben beschriebenen Bruch mit dem bisherigen, sozusagen aufsteigenden Verlauf des Stückes: Elektra kämpft für die Gerechtigkeit, doch dieser Kampf, für den die Zuschauer davor engagiert worden waren, ist als beispielhaftes soziales Agieren problematisch. Ein deutliches Signal in diese Richtung vergibt auch der Einsatz der Perspek‐ tive des Chors durch Sophokles, der als Kollektiv argivischen Frauen am ehesten 276 4 Die Elektra <?page no="277"?> 440 Vgl. Gardiner 1987, 160 und 162 f.; Budelmann 2000, 252-254. 441 Zur notwendigen Zuschreibung dieser Verse an den Chor und zu Elektra als Adressatin sowie zu deren Veranlassung durch Elektras Rede siehe Finglass 2007, ad vv. 610 f.; Lloyd-Jones und Wilson (1990a; siehe Lloyd-Jones/ Wilson 1990b, 53 f.) nehmen vor v. 610 eine Lücke an, wo Text ausgefallen sei, in dem der Chor Klytaimestra als Adressatin ausgewiesen habe; dafür gibt es aber keine Veranlassung, und wenn sich der Text, wie hier der Fall, ohne textkritische Eingriffe inhaltlich halten lässt, dann dürfen inhaltliche Überlegungen nicht zur Basis eines solchen Eingriffs werden. 442 Vgl. Jebb 1894, ad vv. 610f. 443 . […] εἰ δὲ σοὶ δοκῶ φρονεῖν κακῶς, / γνώμην δικαίαν σχοῦσα τοὺς πέλας ψέγε. / . ἐρεῖς μὲν οὐχὶ νῦν γέ μ’ ὡς ἄρξασά τι / λυπηρὸν εἶτα σου τάδ’ ἐξήκουσ’ ὕπο· / ἀλλ’ ἢν ἐφῇς μοι, τοῦ τεϑνηκότος ϑ’ ὕπερ / λέξαιμ’ ἂν ὀρϑῶς τῆς κασιγνήτης ϑ’ ὁμοῦ. / . καὶ μὴν ἐφίημ’· εἰ δέ μ’ ὧδ’ ἀεὶ λόγους / ἐξῆρχες, οὐκ ἂν ἦσϑα λυπηρὰ κλύειν. 550-557 ([550] Kl. […] wenn Du aber denkst, dass ich schlechten Sinnes bin, dann tadele Deine Verwandten, da Du zu gerechter Urteilskraft gelangt bist. El. Jetzt wenigsten wirst Du nicht sagen, dass ich, nachdem ich zuerst etwas Quälendes gesagt hätte, deswegen dies von Dir hören würde. Aber wenn Du es mir gestattest, [555] will ich für den Toten die im Stück greifbare menschliche Gemeinschaft repräsentiert 440 und somit auch als primäres ‚Publikum‘ von Elektras sozialem Agieren fungiert. Dieser reagiert nämlich auf Elektras Standpunktrhesis wie folgt (vv. 610 f.): 441 ὁρῶ μένος πνέουσαν· εἰ δὲ σὺν δίκῃ 610 ξύνεστι, τοῦδε φροντίδ’ οὐκέτ’ εἰσορῶ. [610] Ich sehe, dass sie vor Wut schnaubt; wenn die Gerechtigkeit auf ihrer Seite ist, sehe ich sie nicht mehr daran denken. Der Chor stellt also nicht notwendig in Abrede, dass Elektra die Gerechtigkeit auf ihrer Seite hat, aber er macht deutlich, dass er diese gewissermaßen nicht mehr erkennt, wobei sich diese Aussage als Reaktion darauf verstehen lässt, dass im Verlaufe von Elektras Rhesis die ‚Hässlichkeit‘ der von ihr betriebenen Gerechtigkeit immer deutlicher hervorgetreten ist, bis diese jene sozusagen überdeckte. 442 Wenn nun das Identifikationspotential von Elektras Perspektive vor dem Agon mit Klytaimestra, wie oben 4.2.2.2 gezeigt, wesentlich durch deren schrittweises Konvergieren mit der Perspektive des Chors generiert worden war, dann ist die überraschend kritische, kontrastierte Stellungnahme der Chorgemeinschaft ein nicht wegzudiskutierendes Signal für den eben beschriebenen Bruch gegenüber dem Vorangegangenen und für die Problema‐ tisierung der Elektra als einer vorbildlichen sozialen Akteurin. Entsprechend gilt, dass dieser Kommentar, zusammen mit Elektras Rhesis, auf die der Chor hier reagiert, die daran anschließende Stichomythie prägt: Wenn Elektra dort Klytaimestra kritisiert, dass die ‚Ergebnisoffenheit‘ bezüglich der Frage nach der Gerechtigkeit, die diese zu Beginn des Agons an den Tag gelegt hatte, 443 eine 277 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="278"?> recht sprechen und ebenso für die Schwester. Kl. Ich gestatte es; wenn Du die Gespräche mit mir immer so begännest, dann wäre es nicht quälend, Dir zuzuhören.). Farce gewesen sei (vv. 628 f.), hat sie Recht: Sie steht aufseiten der Gerechtigkeit, Klytaimestra steht gegen diese. Wenn Elektras Kampf für die Gerechtigkeit dort erneut und in besonderer Prominenz als Reziprozierung des ‚hässlichen‘ Vorgehens ihrer Mutter erscheint (vv. 619-621; 624 f.), dann ist jetzt allerdings ebenso deutlich geworden, dass darin eine Elektra nicht bewusste und somit das uneingeschränkte Identifikationspotential ihrer Perspektive reduzierende Problematik liegt (vv. 614-629): . [zum Chor] […] ἆρά σοι δοκεῖ χωρεῖν ἂν εἰς πᾶν ἔργον αἰσχύνης ἄτερ; 615 . εὖ νυν ἐπίστω τῶνδέ μ’ αἰσχύνην ἔχειν, κεἰ μὴ δοκῶ σοι· μανϑάνω δ’ ὁϑούνεκα ἔξωρα πράσσω κοὐκ ἐμοὶ προσεικότα. ἀλλ’ ἡ γὰρ ἐκ σοῦ δυσμένεια καὶ τὰ σὰ ἔργ’ ἐξαναγκάζει με ταῦτα δρᾶν βίᾳ· 620 αἰσχροῖς γὰρ αἰσχρὰ πράγματ’ ἐκδιδάσκεται. . ὦ ϑρέμμ’ ἀναιδές, ἦ σ’ ἐγὼ καὶ τἄμ’ ἔπη καὶ τἄργα τἀμὰ πόλλ’ ἄγαν λέγειν ποεῖ. . σύ τοι λέγεις νιν, οὐκ ἐγώ. σὺ γὰρ ποεῖς τοὔργον· τὰ δ’ ἔργα τοὺς λόγους εὑρίσκεται. 625 . ἀλλ’ οὐ μὰ τὴν δέσποιναν Ἄρτεμιν ϑράσους τοῦδ’ οὐκ ἀλύξεις, εὖτ’ ἂν Αἴγισϑος μόλῃ. . ὁρᾷς; πρὸς ὀργὴν ἐκφέρῃ, μεϑεῖσά με λέγειν ἃ χρῄζοιμ’, οὐδ’ ἐπίστασαι κλύειν. . [zum Chor] […] Scheint es Dir nicht, dass sie bereit sei, [615] jedes Werk frei von Scham in Angriff zu nehmen? . Wisse wohl, dass ich mich dafür schäme, auch wenn dies Dir nicht so scheint; ich verstehe, dass ich Unangemessenes tue und solches, das mir nicht gut ansteht. Aber Deine Feindschaft und Deine [620] Taten zwingen mich mit Gewalt, dies zu tun. Durch Hässliches nämlich lernt man hässliche Dinge. . O schamlose Kreatur, ich bin es also und meine Worte und meine Taten, die Dich dazu bringen, allzu viel zu reden! . Du sagst diese Dinge, nicht ich. Du nämlich vollbringst [625] die Tat; die Taten aber finden die Worte für sich. . Bei der Herrin Artemis, den Folgen dieser Kühnheit wirst Du Dich nicht entziehen, wenn Aigisth kommt! . Siehst Du? Du gerätst in Zorn, nachdem Du mir erlaubt hattest, zu sagen, was ich wolle, und kannst nicht zuhören! 278 4 Die Elektra <?page no="279"?> 444 Vgl. zu dieser Wirkung des Gebets z. B. MacLeod 2001, 104f. Soviel also zur Problematisierung von Elektras Agieren im Agon; diese hat nun auch eine wichtige Implikation innerhalb der Gesamtarchitektur der bisherigen Stückhandlung. Oben 4.2.2.3 ist nämlich gezeigt worden, wie die systematische Generierung eines Identifikationspotentials im Hinblick auf Elektras Perspek‐ tive insbesondere eine menschlich befriedigende Antwort auf die am Ende des Prologs aufgeworfene Frage nach der Sinnhaftigkeit göttlicher Gerechtigkeit ermöglichte, und zwar, indem man Apollon den Wunsch zuschreibt, Gleiches durch Gleiches vergolten zu sehen. Wenn nun der Agon das spezifische Agieren der Elektra problematisiert, dann hat dies natürlich auch negative Konsequenzen für das Potential ihrer Perspektive, die göttliche Gerechtigkeit menschlich nachvollziehbar zu machen: Wenn die göttliche Gerechtigkeit auf dem Grundsatz der Reziprozität basiert, dann kann diese nur schwer menschlich befriedigend sein. Auf diese Tatsache lenkt Sophokles die Aufmerksamkeit, indem er ganz am Ende der Elektra-Klytaimestra-Szene das Thema der göttli‐ chen Gerechtigkeit wieder in den Vordergrund rückt. Dort betet Klytaimestra nämlich in nur notdürftig verhüllter Weise zu Apollon um den Tod des Orest. Nun wissen die Zuschauer aber seit dem Prolog, dass Apollon tatsächlich Orest geschickt hat, um die Tötung der Klytaimestra ins Werk zu setzen; das Gebet fällt also auf seine Urheberin zurück, und die Zuschauer werden daran erinnert, dass hinter all dem, was sie sehen, der Gott Apollon steht. 444 Entscheidend ist, dass Elektras Anwesenheit Klytaimestras pervertiertes Gebetsritual stört und diese zwingt, ihren Wunsch in der beschriebenen unbequemen Weise zu verhüllen (vv. 637-642): κλύοις ἂν ἤδη, Φοῖβε προστατήριε, κεκρυμμένην μου βάξιν. οὐ γὰρ ἐν φίλοις ὁ μῦϑος, οὐδὲ πᾶν ἀναπτύξαι πρέπει πρὸς φῶς παρούσης τῆσδε πλησίας ἐμοί, 640 μὴ σὺν φϑόνῳ τε καὶ πολυγλώσσῳ βοῇ σπείρῃ ματαίαν βάξιν εἰς πᾶσαν πόλιν. Höre, Beschützer Phoibos, meine verborgene Rede an! Nicht nämlich unter Wohlge‐ sonnenen wird die Rede ausgesprochen, und es ziemt sich nicht, alles offen darzulegen [640] gegen das Tageslicht, solange diese in meiner Nähe ist, damit sie nicht mit Neid und vielzüngigem Geschrei ein leeres Gerede ertönen lasse gegenüber der gesamten Stadt. Damit wird erneut deutlich, dass Elektra als sprachliche Akteurin (beachte vv. 641 f.) gegen Klytaimestras Ungerechtigkeit kämpft und damit aufseiten der 279 4.2 Der erste Handlungsbogen: Orestes’ Werk und Elektras Beitrag <?page no="280"?> 445 Vgl. MacLeod 2001, 105: „Though unaware of it, Elektra moves in a direction parallel to that of the gods.“; dazu, dass es sich dabei nicht nur um paralleles Agieren handelt, sondern Elektra als sprachliche Akteurin Klytaimestras pervertiertes Ritual torpediert, vgl. Kitzinger 1991, 317. göttlichen Gerechtigkeit steht 445 - ganz genau so also, wie sie in den Szenen vor dem Agon eingeführt worden war. Allein die Implikation dieser Tatsache, dass der Gott, wenn man dessen ‚Funktionieren‘ über Elektras spezifischen Ansatz Sinn abgewinnt, wünscht, dass Hässliches mit Hässlichem vergolten wird, hat diese im Agon selbst in der eben beschriebenen Weise als unbefriedigend erwiesen. Die Zuschauer werden also zum Schluss des ersten Handlungsbogens daran erinnert, dass die spezifischen Probleme von Elektras Agieren auch und besonders das Potential ihrer Perspektive beeinträchtigen, der im Stück wirkenden göttlichen Gerechtigkeit einen menschlich befriedigenden Sinn abzugewinnen. 4.3 Der zweite Handlungsbogen: kein Platz für Helden In der eben beschriebenen Entwicklung liegt nun allerdings auch die Grundlage für eine Neuausrichtung des Engagements in einem nächsten Handlungsbogen. Denn all das, was die Zuschauer bei der Verfolgung des Elektra-Handlungsbo‐ gens seit dem Prolog gesehen haben, hat sich in der Sphäre des gegenüber dem Prolog ‚ganz anderen‘ bewegt. Im Anschluss an das Gebet der Klytaimestra erscheint nun der Alte auf der Bühne und setzt so den Prolog gewissermaßen fort. Im Prolog hatte Elektra und ihr spezifisches Agieren keinen Platz gehabt, doch dies erweist sich hier plötzlich als Chance. Denn insofern die Zuschauer auf die spezifischen Probleme von Elektras Agieren gestoßen worden sind, gewinnt ein Blick auf Orests Vorgehen, der nicht von ihr angeleitet ist, neue Attraktivität: Dass er und der Alte Elektra von Anfang an aus ihrem Plan ausgeschlossen haben und sich davon fernhielten, ihrem Vorgehen, so wie sie dies tut, über das Talionsprinzip Sinn abzugewinnen, eröffnet plötzlich den Weg zu einer einfa‐ chen Lösung. Natürlich, die Frage ist, inwieweit Orest sich dem factum brutum wird entziehen können, dass er nun einmal seine Mutter töten will, doch wenn es irgendjemanden gibt, dessen Agieren Sophokles so darstellen könnte, dass er alle Problematik und Verwicklung davon fernhält, dann ist es Orest. Denn durch dessen Darstellung im Prolog hat sich Sophokles die Möglichkeit vorbehalten, die Handlung ‚ganz anders‘ darzustellen, nämlich als unproblematischen, ruhm- und ehrenvollen Sieg, also sozusagen ‚heroisch schön‘ statt ‚hässlich‘, heiter „leuchtend“ (vgl. vv. 65 f.) statt aischyleisch verwickelt, im Zeichen nüchterner 280 4 Die Elektra <?page no="281"?> 446 Vgl. MacLeod 2001, 1 f. und 5 f. zur homerischen Behandlung des Themas und zu ‚homerischen‘ Deutungen der Elektra. 447 Zum Beispiel von MacLeod (2001, 112 mit Anm. 19). 448 So z. B. Horsley (1980, 25), Seale (1981, 63) oder Schein (1982, 66f.). 449 Siehe dazu weiter unten. Effizienz statt verbissenen Hasses, und an diese Möglichkeit könnte er hier anzuknüpfen: Homer hat gezeigt, dass eine unproblematische Darstellung der Rächung des Agamemnon möglich ist, 446 und zu einer stärker ‚homerischen‘ Darstellung könnte Sophokles nun, nachdem die Probleme von Elektras stärker ‚aischyleischem‘ Ansatz deutlich geworden sind, zurückkehren. Insofern der Alte dabei im Anschluss an Klytaimestras Gebet auftritt, er‐ scheint er ferner, wie immer wieder festgestellt worden ist, 447 als Agent der göttlichen Gerechtigkeit, so dass die Zuschauer hier auch an das Potential von Orests Selbstverständnis erinnert werden, dem Agieren Apollons menschlichen Sinn abzugewinnen, und zwar eben nicht als - wie man jetzt weiß, proble‐ matischer - Verwirklichung von Reziprozität, sondern als einer Gelegenheit zum unkomplizierten Gewinn von Ruhm und Ehre. Auf das entsprechende Agieren des Alten richtet sich also mit dessen Erscheinen das Engagement der Zuschauer. Allein auch dieser Weg erweist sich als eine Sackgasse, auch dieses Enga‐ gement führt die Zuschauer an die spezifischen Probleme des nunmehr im Vordergrund stehenden Ansatzes heran. Dies leistet die längste Rhesis im er‐ haltenen sophokleischen Korpus, der ‚Botenbericht‘, in dem der Alte inkognito und auftragsgemäß vom ‚Tod‘ des Orest berichtet. Dass dieser Bericht in seiner schieren Länge, aber auch aufgrund seines Charakters als einer wuchtigen tour de force und seiner Position in der Mitte des Stücks irgendwie von zentraler Bedeutung für die Elektra sein muss, ist immer wieder empfunden worden. Nicht angemessen gewürdigt worden ist aber bis jetzt der Beitrag, den eine Deutung dieser Rede als eines kommunikativen Akts leisten kann, um zu verstehen, welche Funktion sie in der dramatischen Ökonomie des Stücks genau erfüllt. Die Diskussionen konzentrieren sich nämlich in der Regel auf die verheerende Wirkung, die der Alte mit seinem Bericht auf Elektra ausübt. 448 Diese Wirkung ist unbedingt in Rechnung zu stellen, 449 allein ist Elektra nicht die eigentliche Adressatin des Berichts. Diese ist vielmehr Klytaimestra, und entsprechend sollte der gegenüber dieser Figur beabsichtigten und der dann tatsächlich gezeitigten Wirkung auch Aufmerksamkeit geschenkt werden, will man die im externen Kommunikationssystem intendierte Wirkung des ‚Botenberichts‘ ermessen. Angesetzt werden kann dabei beim Prolog, wo Orest dem Alten 281 4.3 Der zweite Handlungsbogen: kein Platz für Helden <?page no="282"?> 450 Vgl. MacLeod 2001, 113 mit Anm. 22 zu Klytaimestras Reaktion. eine explizite Vorgabe im Hinblick auf die zu erzielende Wirkung des Berichts gegenüber den Zuhörern gemacht hatte (vv. 56-58): ὅπως λόγῳ κλέπτοντες ἡδεῖαν φάτιν 56 φέρωμεν αὐτοῖς, τοὐμὸν ὡς ἔρρει δέμας φλογιστὸν ἤδη κἀτηνϑρακωμένον. [56] …damit wir, mit einer Rede betrügend, einen süßen Bericht ihnen bringen, dass mein Leib dahin sei und bereits verbrannt und eingeäschert. Dass der Alte sein Agieren in den Dienst der kommunikativen Intention stellt, Orests Feinden einen „süßen Bericht“ zu überbringen, zeigt sich gleich zu Beginn seines Auftritts, wo er Klytaimestra „süße Worte“ ankündigt, und es scheint, als gelinge ihm dies, wenn Klytaimestra begierig und ohne jedes Aufscheinen mütterlicher Gefühle nachfragt (vv. 666 f., 673, 675 und 678 f.): 450 . ὦ χαῖρ’, ἄνασσα. σοὶ φέρων ἥκω λόγους 666 ἡδεῖς φίλου παρ’ ἀνδρὸς Αἰγίσϑῳ ϑ’ ὁμοῦ. […] τέϑηνκ’ Ὀρέστης· ἐν βραχεῖ ξυνϑεὶς λέγω. 673 […] . τί φής, τί φής, ὦ ξεῖνε; 675 […] ἐμοὶ δὲ σύ, ξένε, 678 τἀλϑηὲς εἰπέ, τῷ τρόπῳ διόλλυται; [666] A er Sei gegrüßt, o Herrin. Ich komme, um Dir Worte zu bringen, die süß sind, von einem befreundeten Mann, und ebenso dem Aigisth. […] [673] Orest ist tot, ich mach’s kurz. […] [675] . Was sagst Du, was sagst Du, o Fremder? […] [678] Mir aber, Fremder, sag die Wahrheit, auf welche Weise ist er umgekommen? Im Anschluss an die Rede indes wird, entgegen dem davor geweckten Eindruck, deutlich, dass der Alte Orests Vorgabe nicht erfüllt hat, einen „süßen Bericht“ zu überbringen (vv. 766-775, 799 f. und 802 f.): . ὦ Ζεῦ, τί ταῦτα, πότερον εὐτυχῆ λέγω, ἢ δεινὰ μέν, κέρδη δέ; λυπηρῶς δ’ ἔχει, εἰ τοῖς ἐμαυτῆς τὸν βίον σῴζω κακοῖς. . τί δ’ ὧδ’ ἀϑυμεῖς, ὦ γύναι, τῷ νῦν λόγῳ; . δεινὸν τὸ τίκτειν ἐστίν· οὐδὲ γὰρ κακῶς 770 πάσχοντι μῖσος ὧν τέκῃ προσγίγνεται. 282 4 Die Elektra <?page no="283"?> 451 Vgl. Kells 1973, ad v. 769: „This is not according to plan! “ 452 Dazu, dass man Klytaimestras unmittelbare Reaktion nicht als irrelevante Episode übergehen kann, siehe auch Anm. 454 unten. 453 σὺ μὲν μολών, ὅταν σε καιρὸς εἰσάγῃ, / δόμων ἔσω τῶνδ’, ἴσϑι πᾶν τὸ δρώμενον, / ὅπως ἂν εἰδὼς ἡμὶν ἀγγείλῃς σαφῆ 39-41 (Wenn Dich der richtige Moment hineinführt, dann geh [40] in dieses Haus und erfasse alles, was getan wird, damit Du aufgrund dieses Wissens uns genau Mitteilung machen kannst). . μάτην ἄρ’ ἡμεῖς, ὡς ἔοικεν, ἥκομεν. . οὔτοι μάτην γε· πῶς γὰρ ἂν μάτην λέγοις, εἴ μοι ϑανόντος πίστ’ ἔχων τεκμήρια προσῆλϑες […] 775 . οὔκουν ἀποστείχοιμ’ ἄν, εἰ τάδ’ εὖ κυρεῖ; . ἥκιστ· […] 800 ἀλλ’ εἴσιϑ’ εἴσω 802 . O Zeus, was bedeutet dies, soll ich dies glücklich nennen oder schrecklich, wenngleich einen Gewinn? Traurig ist es, wenn ich mein Leben rette durch mein eigenes Unglück. A er Was bist Du so niedergeschlagen, o Frau, aufgrund dieser Rede? [770] . Mutterschaft ist etwas Mächtiges. Nicht einmal nämlich, wenn es einem schlecht geht, entsteht einem Hass auf das, was man geboren hat. A er Vergebens sind wir also, so scheint es, gekommen. . Vergebens - nein! Wie könntest Du „vergebens“ sagen, wenn Du mit vertrauenswürdigen Zeugnissen des Todes zu mir [775] gekommen bist […] A er Soll ich also weggehen, wenn dies gut ist? [800] . Keineswegs! […] [802] Tritt vielmehr ein Denn Klytaimestra freut sich zunächst nicht - eine Tatsache, die der Alte mit deutlicher Irritation zur Kenntnis nimmt und die ihn zwingt, Klytaimestra erst dazu zu bringen, sich zu freuen, indem er ihr bescheidet, dass er „vergebens“ gekommen sei, wenn sie so reagiere, wie sie dies tut. 451 Die Kommunikations‐ absicht, Freude aufseiten Klytaimestras auszulösen, hat der ‚Botenbericht‘ also offenbar nicht erfüllt, und das Bemühen des Alten, dieses Ziel im Nachgang doch noch zu erreichen, zeigt, dass dieser Fehlschlag offenbar nicht irrelevant ist. 452 Die große Wichtigkeit, die das Auslösen von Freude für ihn besitzt, zeigt sich ferner darin, dass er sich, nachdem Klytaimestra ihrer Freude doch noch Ausdruck verliehen hat, bereit zeigt, wegzugehen (v. 799). Das von Orest im Prolog für das Agieren des Alten ebenfalls formulierte Ziel, die Situation im Palast auszuspähen (vv. 39-41 453 ), hat er offenbar vergessen - ob Aigisth anwesend ist oder nicht, weiß er zum Beispiel nicht - und erweist so das Auslösen von Freude als seine eigentliche Absicht. 283 4.3 Der zweite Handlungsbogen: kein Platz für Helden <?page no="284"?> 454 Diese Tatsache ist, entsprechend dem oben erwähnten geringen Interesse an der Rede als einem an Klytaimestras gerichteten kommunikativen Akt, kaum diskutiert worden. Soweit gesehen, hat dies nur MacLeod (2001, 113-118) getan. Ihre Deutung, dass der Alte Klytaimestra als Agent des Apollon prüfen wolle, verträgt sich aber kaum mit der Tatsache, dass er Klytaimestra dazu drängt, sich zu freuen. Der Befund, dass der Alte seine Rede im Ziel aufhebt, Klytaimestra zu betrüben, entkräftet ferner den möglichen Einwand gegen die hier vorgetragene Deutung, Klytaimestras Betroffenheit dauere nur einen flüchtigen Moment lang und sei darum kaum relevant. Denn dieser Einwand bedeutet, nicht nur über Klytaimestras vv. 766-768 und 770 f. hinwegzulesen, sondern eben auch über die Rede des Alten, deren ganze Wucht am Ende explizit auf eine Reaktion abzielt, wie sie Klytaimestra an den Tag legt. Für dieses Ziel gibt es nun einen sehr guten Grund, der sich aufgrund von Klytaimestras Reaktion e negativo würdigen lässt: Das Ausbleiben der Freude seiner Feinde gefährdet Orests Erfolg, wie dieser ihn im Prolog imaginiert hat. In dem Moment nämlich, in dem diese sich nicht freuen, sondern ihn, wie dies Klytaimestra tut, bedauern, ja bekennen, dass sie ihn nicht „hassen“, ist die im Prolog selbstverständlich vorausgesetzte ethische Klarheit des Unternehmens gefährdet: Wenn die Feinde sich an Orests Schaden nicht freuen, in den Worten der Athene aus dem Aias (v. 79), „das süßeste Lachen“ über das Unglück ihres Feindes lachen, dann wird ihr Status als Feinde überhaupt zweifelhaft, Orest riskiert, dass es niemanden gibt, dem er „leuchten könnte wie ein Stern“ (vv. 65 f.). Dass ein Sieg über eine Klytaimestra, wie sie sich unmittelbar nach dem ‚Botenbericht‘ präsentiert, besonders ‚ruhmesträchtig‘ und ‚ehrenhaft‘ sein könnte, liegt einigermaßen fern, und so tut der Alte gut daran, die gewünschte Reaktion zu provozieren. Zugleich indes muss er sich über Klytaimestras Reaktion, so könnte man sagen, nicht wundern. Denn er selbst war es gewesen, der am Ende seiner Rede nicht mehr zu Freude, sondern zu Betroffenheit eingeladen hatte (vv. 761-763): τοιαῦτά σοι ταῦτ’ ἐστίν, ὡς μὲν ἐν λόγοις 761 ἀλγεινά, τοῖς δ’ ἰδοῦσιν, οἵπερ εἴδομεν, μέγιστα πάντων ὧν ὄπωπ’ ἐγὼ κακῶν. [761] So verhält sich dies für Dich, dass es, wenn es berichtet wird, schmerzlich ist, für uns aber, die wir es gesehen haben, war es das größte von allen Übeln, die ich je gesehen habe. Der Alte hatte also die ganze Wucht, die seine Rede auszeichnet (beachte den expliziten Bezug auf die enargeia, die Anschaulichkeit, in den vv. 762f.: μὲν ἐν λόγοις-τοῖς δ’ ἰδοῦσιν sowie εἴδομεν und ὄπωπ’), in der Illokution aufgehoben, Betrüben aufseiten Klytaimestras auszulösen (beachte ebenfalls den expliziten Bezug auf die Reaktion seiner Zuhörerin durch σοι 761). 454 284 4 Die Elektra <?page no="285"?> 455 Tatsächlich hätte er eine solche Identität gehabt, wie die vv. 159-163 und 320-322 zeigen, wo der Chor in ‚heroischen‘ Begriffen von Orest spricht (als „Sohn eines guten Vaters“, εὐπατρίδαν 162, und „edel“, ἐσϑλός 322), doch dieser ‚Heroismus‘ wird gerade deshalb dubios, weil Orest sich Elektra nicht zu erkennen gibt (vgl. oben 4.2.2.2 sowie Blundell 1989, 174 mit Anm. 87). Bereits hier zeigt sich also, was unten vorgeführt werden soll: dass der Betrug Orests heroischem Status eher schadet als nützt. Dabei lässt sich natürlich nicht sagen, dass Klytaimestra nicht auch betrübt hätte reagieren können, wenn der Alte diese Aufforderung nicht formuliert hätte, ja strenggenommen nicht einmal, dass sie wegen der Rede so reagiert, wie sie reagiert, doch ihre Reaktion und der Umgang des Alten damit lenkt die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass dieser durch sein kommunikatives Agieren von der Verfolgung des selbsterklärten Ziels, Freude auszulösen - und damit des Ziels, den im Prolog imaginierten Erfolg des Orest zu sichern - abgerückt war. Dieses Verhalten lässt sich jedoch nicht einfach sprachlichem Unvermögen des Alten zuschreiben, entscheidend dafür ist vielmehr ein ‚Zielkonflikt‘. Denn der Grund für das Abrücken vom Ziel, Orests ‚ruhm-‘ und ‚ehrenvolle‘ Rückkehr zu betreiben, liegt paradoxerweise genau darin, dass der Alte seine ganze Rede, die vv. 761-763 eingeschlossen, in den Dienst einer ‚ruhm-‘ und ‚ehrenvollen‘ Rückkehr des Orest gestellt, ja Orests Auftrag erst dadurch vollständig ausge‐ führt hatte. Oben 4.2.1.2 ist gezeigt worden, wie Orest sein Agieren in den sozialen Kontext der in Argos existierenden menschlichen Gemeinschaft ein‐ ordnete und sich dafür mit Menschen verglich, die, vermeintlich ‚auferstanden‘, „desto mehr“ geehrt wurden, wenn sie „wieder nach Hause“ kamen (vv. 62-64). Diese Analogie ist jedoch nicht frei von Problemen. Denn während diese Figuren eine - offenbar bereits positive - Identität ‚zuhause‘ hatten, an die sie anknüpfen konnten, ist Orests Status prekärer: Argos ist nicht einfach sein ‚Zuhause‘, vielmehr ist er noch nie dort gewesen - und auch der Alte nie seit Agamemnons Ermordung. Die beiden Männer haben also keine Kontrolle über die dortige Wahrnehmung des Orest, dieser kann sich nicht sicher sein, dass er dort eine Identität hat, an die er bei seiner Rückkehr anknüpfen kann. 455 Deswegen führt der Alte Orests Auftrag erst in dem Moment vollständig aus, wo er für Orest eine Identität in dessen eigenen Begriffen konstruiert, nämlich in den Begriffen von ‚Ruhm‘ und ‚Ehre‘, ihm also eine Geschichte gibt, an die er bei seiner Rückkehr ‚von den Toten‘ anknüpfen kann. Dies tut er nun, indem er seinen Bericht fest in der heroischen Sphäre verankert, Orest als klassischen Helden beschreibt, also als eine paradigmatisch ‚ruhmreiche‘ Figur: Wer in Argos vom vermeintlichen Geschick des Orest hört, kann glauben, dass dieser absolut in der Lage gewesen wäre, die dortigen Menschen zu befreien, kann darum dieses Geschick bedauern 285 4.3 Der zweite Handlungsbogen: kein Platz für Helden <?page no="286"?> 456 Vgl. für Details Finglass 2007, ad vv. 680-763. 457 κεῖνος γὰρ ἐλϑὼν ἐς τὸ κλεινὸν Ἑλλάδος / πρόσχημ’ ἀγῶνος Δελφικῶν ἄϑλων χάριν […] εἰσῆλϑε λαμπρός, πᾶσι τοῖς ἐκεῖ σέβας· / δρόμου δ’ ἰσώσας τῇ φύσει τὰ τέρματα / νίκης ἔχων ἐξῆλϑε πάντιμον γέρας. […] τούτων ἐνεγκὼν πάντα τἀπινίκια / ὠλβίζετ’, Ἀργεῖος μὲν ἀνακαλούμενος, / ὄνομα δ’ Ὀρέστης, τοῦ τὸ κλεινὸν Ἑλλάδος / Ἀγαμέμνονος στράτευμ’ ἀγείραντός ποτε. 681 f., 685-687 und 692-695 ([681] Jener kam nämlich in Griechenlands berühmtes Schaustück wegen des Wettkampfes an den Spielen in Delphi […] [685] Er betrat leuchtend die Szenerie, bewundert von allen, die dort waren; nachdem er im Ausgang des Rennens seine Naturanlagen bestätigt hatte, erhielt er das Ehrengeschenk des Sieges. […] Als er in alledem den Sieg davontrug, wurde er glücklich gepriesen, als Argiver ausgerufen und bei seinem Namen Orest, der Sohn des Agamemnon, [695] der das gemeingriechische Heer einstmals vereinigt hatte.). 458 Zur ‚heroischen‘ Aufladung der Betonung des Status des Orest als Sohn des Aga‐ memnon vgl. Di Benedetto 1988, 161f. 459 Dass es sich dabei um eine homerische Wendung handelt (siehe Finglass 2007, ad v. 66), unterstreicht die ‚heroische‘ Aufladung noch weiter. 460 Siehe Pfeijffer 1999, ad N. 5,8 ἐγέραιρεν. und sein Kommen dann als desto größere Erleichterung empfinden und Orest „desto mehr ehren“. Die eben erwähnte Verankerung in der heroischen Sphäre leistet, neben einer allgemeinen Nähe zu homerischem Epos und Epinikion, 456 die Beschreibung, wie er nach Delphi, ins „berühmte Schaustück Griechenlands“, kam, dort „leuch‐ tend“ auftrat, das „Ehrengeschenk des Sieges“ errang und als Sohn des Aga‐ memnon gepriesen wurde, der einstmals „das berühmte Heer Griechenlands“ gesammelt hatte. 457 Besonders deutlich knüpfen dabei Orests Beschreibung als „leuchtend“ (λαμπρός 685) und seine Inbezugsetzung mit seinem Vater Agamemnon an den Prolog und die dort exponierte Identität des Orest an. Denn schließlich hatte der Alte Orest dort im ersten Vers als Sohn des Agamemnon, der das Heer in Troia angeführt habe, angesprochen, 458 und dass Orest seine Rückkehr als „leuchtend“ auffasst, und zwar „leuchtend wie ein Stern“ (vv. 65 f. mit λάμψειν 66), ist inzwischen einige Male gesagt worden. 459 Besonders zu beachten ist im Zusammenhang mit der Konstruktion einer Identität in Argos für Orest, dass der Alte die Siegerehrung direkt ‚wiedergibt‘ und somit auch, wie Orest als Vertreter seiner Heimatstadt als Sieger ausgerufen wurde (Ἀργεῖος μὲν ἀνακαλούμενος 693): Indem er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörerinnen auf die Tatsache lenkt, dass ein Sieg für Orest auch ein Sieg für Argos ist - ein üblicher Topos des Epinikions 460 -, affirmiert er natürlich im Gegenzug den Anspruch des Siegers auf besondere Ehre in - und eine besondere Nahbeziehung zu - seiner Heimatstadt. Diese Identitätskonstruktion durch den Alten hat nun allerdings eine ent‐ scheidende Konsequenz. Denn wenn Orest ein ‚großer‘ Mann war, wird es 286 4 Die Elektra <?page no="287"?> 461 Zum Geschick des Orest als einer ‚Tragödie‘ vgl. MacLeod 2001, 117. 462 Zur Brillanz dieser Rede vgl. z. B. die eindringliche Beschreibung von Reinhardt ( 4 1976, 162), ferner Flashar 2000, 131f. schwierig, seinen Fall als erfreulich darzustellen, vielmehr wird dieser durch die darin fast notwendig wirkende Fallhöhe beinahe unausweichlich zu einem ‚tragischen‘ - und genau so kommt es denn auch (vv. 749-751): στρατὸς δ’ ὅπως ὁρᾷ νιν ἐκπεπτωκότα δίφρων, ἀνωτότυξε τὸν νεανίαν, 750 οἷ’ ἔργα δράσας οἷα λαγχάνει κακά Als die Zuschauerschar aber sah, wie er stürzte [750] aus dem Wagen, beklagte sie den jungen Mann, der, nachdem er solche Taten vollbracht hatte, solche Übel erlitt Wenn die Zuschauer in Delphi, die hier als Fokalisatoren im narratologischen Sinne funktionieren, beklagen, dass jemand, der solches geleistet habe, ein solches Schicksal erleide, dann stellt der Alte den Fall in der Tat als einen ‚tragischen‘ dar, und somit ist es nichts als konsequent, wenn er im Anschluss an die Beschreibung von Orests Sturz Klytaimestra den betrüblichen Charakter der berichteten Geschehnisse vermittelt. 461 Die intendierte Wirkung der Rede des Alten, die er an deren Ende formuliert, ergibt sich also mit voller Konsequenz aus seinem Bestreben, für Orest eine Identität in dessen Begriffen zu konstruieren und so dessen ruhm- und ehrenvolle Rückkehr vorzubereiten. Allein liegt genau in dieser intendierten Wirkung, wie oben gezeigt, zugleich ein Abrücken des Alten vom Ziel, Orests ruhm- und ehrenvolle Rückkehr dadurch vorzubereiten, dass er Freude aufseiten der Feinde auslöst. Darin liegt der oben erwähnte ‚Zielkonflikt‘: Der Alte verfolgt mit in seinem sprachlichen Agieren zwei Ziele, die sich aus dem von Orest im Prolog formulierten Ziel einer ‚ruhm-‘ und ‚ehrenvollen‘ Rückkehr ergeben - Identitätskonstruktion und das Hervorrufen von Freude aufseiten der Feinde -, und es erweist sich als äußerst schwierig, beide zugleich zu erreichen, ja man kann sagen, dass er das eine desto schlechter erreichen kann, je besser er auf das andere hinarbeitet. Darauf lenkt Sophokles die Aufmerksamkeit besonders, indem er den Alten so unglaublich ‚gut‘ für das eine - und gegen das andere - der zwei Ziele arbeiten, ihn eine derart brillante Rede vortragen lässt, die Orests ‚tragisches‘ Geschick so uneingeschränkt glaubhaft und berührend darstellt. 462 Sophokles zeigt also, wie das Stück den Alten in eine Situation gebracht hat, in der das simple zweckrationale Sprachverständnis, das im Prolog exponiert wurde, versagt, und macht deutlich, dass unter den gegebenen Umständen ein einfacher, unproblematischer Kampf für Ruhm und Ehre mit größten 287 4.3 Der zweite Handlungsbogen: kein Platz für Helden <?page no="288"?> 463 Vgl. Horsley 1980, 23. 464 Kitzinger (1991, 318 Anm. 51) argumentiert, dass im ‚Botenbericht‘ ein bewusst gegen Orest gerichtetes, zynisches Vorgehen des Gottes greifbar werde: „In fact Apollo uses Orestes to reveal the inadequacy of the human struggle to perform the task demanded of them.“ Auch wenn sich dies nicht belegen lässt, ist es ein attraktiver Gedanke. Schwierigkeiten behaftet ist. Versteht man die Rede also als kommunikativen Akt im Dienst von Orests heroischer Rückkehr, so zeigt sich, dass Sophokles durch seine Darstellung Orests heroischen Anspruch dekonstruiert. Nachdem die Zuschauer also mit dem Auftritt des Alten für den im Prolog exponierten spezifischen Ansatz engagiert worden waren, führt dieses Engagement die Zu‐ schauer - nicht anders als im Elektra-Handlungsbogen - nicht zur erwünschten Lösung, sondern stößt sie auf die diesem Ansatz inhärente Problematik. Nun ist es aber nicht einfach ‚das Stück‘, das die Männer in die eben beschrie‐ bene Situation gebracht hat, in der ihr Ansatz ungenügend erscheint, es ist der Gott Apollon mit seinem Befehl, Gerechtigkeit durch Betrug zu verwirklichen, der es Orest verunmöglichte, in offenem, ehrlichem Kampf heroisch zu glänzen. Wenn man nun bedenkt, dass der Alte, wie weiter festgehalten, in seinem sprachlichen Handeln als Agent der göttlichen Gerechtigkeit erscheint und Apollon durch das delphische Setting des ‚Botenberichts‘ durchgehend präsent geblieben ist, 463 dann wird deutlich, dass der Ansatz des Prologs insbesondere dabei versagt, die göttliche Gerechtigkeit menschlich nachvollziehbar zu ma‐ chen: Orests Vorstellung, dass er im Befehl des Gottes Raum für sein Streben nach Ruhm und Ehre finden könne, erweist sich als hilflose Rationalisierung von Unverstandenem und Unverständlichem. Vielmehr ist es dem Gott offensicht‐ lich vollkommen gleichgültig, ob die Menschen Sinn in dem sehen, was er ihnen befiehlt: Diese sollen exekutieren, was er ihnen aufträgt, nicht verstehen, was sie da tun 464 - eine Haltung, die ironischerweise von genau dem Instrumentalismus gekennzeichnet ist, dem die Männer im Prolog das Wort geredet hatten, wodurch noch deutlicher wird, dass diesen ihr Effizienzdenken offensichtlich nicht hilft, um mit der Situation zurechtzukommen, in der sie sich befinden. Orests Zögern im Prolog erscheint auf diese Weise nachträglich gerechtfertigt, Sophokles hat eine negative Antwort auf die durch die Darstellung dieses Zögerns aufgeworfene Frage gegeben, ob der dort exponierte Ansatz wirklich befriedigend sei und ob dieser wirklich tauge, um der göttlichen Gerechtigkeit menschlichen Sinn abzugewinnen. Mit diesen Überlegungen zum Austausch zwischen dem Alten und Klytai‐ mestra ist die Problematisierung des spezifischen Ansatzes des Prologs aber noch nicht ausgeschöpft. Denn das diesen prägende Effizienzdenken - das, wie oben 4.2.1.2 gezeigt, ein spezifisch männlich-soldatisches Effizienzdenken ist - 288 4 Die Elektra <?page no="289"?> 465 Beachte, dass Elektra sich in ihrer Reaktion auf den ‚Tod‘ des Orest erneut als „unglücklich“ (δύστηνος 677) bezeichnet, also die Vokabel verwendet, mit der sie bei ihrem ersten Erscheinen im Stück (v. 77) ihre Situation charakterisiert und Orest diese hatte nachvollziehen lassen (siehe oben zu Anm. 393). 466 Vgl. Wright (2005, 187), der feststellt, dass es keinen faktischen Grund gab, Elektra aus dem Plan auszuschließen. nützt nicht nur nichts, es hat verheerende Konsequenzen, und zwar gegenüber der anderen internen Rezipientin, Elektra. Diese ist am Boden zerstört und be‐ gleitet den vermeintlichen Triumph der Klytaimestra mit ihrer Klage, während der Alte ihr gegenüber vollkommen gleichgültig ist (vv. 797-799): . πολλῶν ἂν ἥκοις, ὦ ξέν’, ἄξιος φίλος, 797 εἰ τήνδ’ ἔπαυσας τῆς πολυγλώσσου βοῆς. . οὔκουν ἀποστείχοιμ’ ἄν, εἰ τάδ’ εὖ κυρεῖ; [797] . Als hochverdienter Freund bist Du, o Fremder, gekommen, wenn Du dem vielzüngigen Geschrei von der da ein Ende setzt! A er Soll ich also weggehen, wenn dies gut ist? Die Lüge des Alten stürzt Elektra also in größtes Leid und liefert sie dem Triumphieren der Klytaimestra schutzlos aus. Diese Wirkung ist nun zwar vom Alten nicht beabsichtigt, aber sie ist in dem Moment im Prolog in Kauf genommen worden, in dem er deutlich machte, dass für Elektra kein Platz ist im geplanten Unternehmen. 465 Würde nun der Alte den im Prolog erhobenen Anspruch einlösen, mit seinem spezifischen Vorgehen maximal effizient auf die Verwirklichung göttlicher Gerechtigkeit hinzuarbeiten, so könnte man, wenn man wollte, Elektras Leid als ‚Kollateralschaden‘ schulterzuckend zur Kenntnis nehmen: Das Verhältnis der ‚otherness‘, in dem sie zu den Männern steht, wäre dann die ‚otherness‘ zwischen ineffizientem und effizientem Vor‐ gehen, zwischen einem Missverstehen des göttlichen ‚Funktionierens‘ durch Elektra und einer angemessenen Auffassung davon aufseiten der Männer. Da Sophokles aber genau diesen Anspruch der Männer dekonstruiert, erscheint die Behandlung der Elektra als sinnlose Grausamkeit, als Ausdruck von Borniertheit gegenüber dem ‚ganz anderen‘, man könnte auch sagen, als nackte Ideologie: Eine klagende Frau hat keinen Platz in der Männerwelt des Alten und des Orest, doch diese Auffassung beruht alleine darauf, dass sie eine klagende Frau ist, und nicht auf einer realen Differenz zwischen weiblicher Ineffizienz und männlicher Effizienz. 466 Schaut man also die beiden bisher besprochenen Handlungsbogen zu‐ sammen, so zeigt sich, dass Sophokles zweimal, jeweils über die spezifischen Perspektiven bestimmter Akteure, die Möglichkeit eröffnet hat, der im Stück 289 4.3 Der zweite Handlungsbogen: kein Platz für Helden <?page no="290"?> verwirklichten Gerechtigkeit, die insbesondere göttliche Gerechtigkeit ist, menschlichen Sinn abzugewinnen. Die auf diese Weise geweckte Hoffnung auf eine einfache Lösung hat er aber beide Male enttäuscht, indem das Engage‐ ment für die jeweilige Lösung die Zuschauer an eine Problematisierung des jeweils im Vordergrund stehenden Ansatzes herangeführt hat. Da diese beiden Ansätze aufgrund ihrer ‚otherness‘ komplementär sind, weckt Sophokles somit den Eindruck, dass es in der Stückwelt überhaupt unmöglich sei, der dort verwirklichten göttlichen Gerechtigkeit einen menschlich befriedigenden Sinn abzugewinnen. Der Vergabe dieser pessimistischen Botschaft vermittels der Rhetorik der Involvierung sind auch die verbleibenden zwei Handlungsbogen des Stücks gewidmet. 4.4 Der dritte Handlungsbogen: die Wendung ins Positive und zurück Der nächste Handlungsbogen zerfällt zunächst in zwei identische Abschnitte, die jeweils ihrerseits zweigeteilt sind; diese vier Teilabschnitte werden hier als 4.4.1-4.4.4. besprochen. In beiden übergeordneten Abschnitten steht zu Beginn, im jeweils ersten Teilabschnitt, eine Entkopplung der emotionalen von der intellektuellen Dimension der Sympathie, die, dem Funktionieren der Involvierung entsprechend, die Hoffnung auf eine Überwindung der darin liegenden Spannung weckt. Diese Hoffnung erfüllt Sophokles dann im jeweils zweiten Teilabschnitt, indem er die Involvierung durch Spannung in Engage‐ ment überführt, den Weg zu einer vermeintlich befriedigenden Lösung aufzeigt, die den Zuschauern, da darin eine davor generierte Spannung aufgehoben wird, desto wünschenswerter erscheinen muss. Beschlossen wird der dritte Hand‐ lungsbogen jedoch, wie unten 4.4.5 gezeigt werden wird, in einer Weise, dass das davor generierte Engagement die Zuschauer erneut nicht an eine Lösung heranführt, sondern zu einer Situation, in der die spezifischen Probleme des Lösungsansatzes deutlich werden, mit dem sich zu identifizieren die Zuschauer davor angehalten worden waren: Das Engagement führt in ein moralisches Vakuum. 4.4.1 Die Entkernung von Elektras Perspektive Die erste Entkopplung der emotionalen von der intellektuellen Dimension der Sympathie setzt dort ein, wo der Alte zusammen mit Klytaimestra den Palast betritt und Elektra klagend zurücklässt. Wenn die Zuschauer also mit der 290 4 Die Elektra <?page no="291"?> 467 Vgl. Hose 2000, 42. 468 Vgl. insgesamt Kitzinger 1991, 319-322. am Boden zerstörten Elektra zurückbleiben, deren Behandlung eine sinnlose Grausamkeit ist, dann gilt ihr das Mitleid der Zuschauer, und der Alte erscheint ein stückweit als ihr Gegenspieler. 467 Zugleich indes können sie eine Sache nicht bestreiten: Der Alte gelangt am Ende irgendwie - wenn auch eher trotz als wegen seines Agierens - in den Palast und befördert dort, so muss man annehmen, die Verwirklichung der göttlich sanktionierten Gerechtigkeit, während Elektra ihrer Fähigkeit beraubt worden ist, diese auf ihre spezifische Weise zu unterstützen. Die Zuschauer wissen also, dass eigentlich alles so verläuft, wie es verlaufen soll; die emotionale Dynamik indes arbeitet nicht für den Alten, sondern für dessen ‚Opfer‘ Elektra, da die Zuschauer direkt mit den verheerenden Folgen konfrontiert werden, die das Vorgehen des Alten für diese hat. Kurzum, die intellektuelle steht in einem Spannungsverhältnis zur emotionalen Dimension, und diese Spannung prägt die folgenden Szenen bis zur Anagnorisis der Elektra und des Orest. Greifbar wird diese Spannung dabei durch eine Darstellung, die man mit einer aus der Architektur stammenden Metapher als ‚Entkernung‘ von Elektras Perspektive bezeichnen kann: Oberflächlich, gewissermaßen an der Fassade, hat ihr sprachliches Agieren nichts von seiner Kraft verloren. Zugleich aber sind sich die Zuschauer bewusst, dass diese Kraft natürlich tatsächlich vollkommen geschwunden ist, da Elektras Reaktion auf die Situation nun von der unzutref‐ fenden Wahrnehmung geprägt ist, ihr Bruder sei tot: Hinter der Fassade herrscht Leere. 468 Zum ersten Mal greifbar wird diese Entkernung, wenn Elektra, wie bereits zu Beginn des ersten Handlungsbogens, in einen Kommos mit dem Chor eintritt. Im ersten Kommos hatte der Chor, nachdem er Elektra zunächst von ihrer Klage abzubringen versucht hatte, in diese eingestimmt, sich von Elektra überzeugen lassen. Dies geschieht auch hier: Elektra beklagt ihr Schicksal, doch der Chor versucht sie zu trösten, indem er das Paradigma des Amphiaraos beibringt, der auch nach seinem Tod in der Unterwelt herrsche. Gegenüber diesem - offensichtlich auf Agamemnon bezogenen - Paradigma stellt Elektra jedoch als entscheidenden Unterschied heraus, dass Amphiaraos gerächt worden, der Rächer des Agamemnon aber tot sei. Darauf ergibt sich folgender Austausch (vv. 849-870): . δειλαία δειλαίων κυρεῖς. . κἀγὼ τοῦδ’ ἴστωρ, ὑπερίστωρ, 850 πανσύρτῳ παμμήνῳ πολλῶν 291 4.4 Der dritte Handlungsbogen: die Wendung ins Positive und zurück <?page no="292"?> 469 Vgl. Nooter 2011, 410. δεινῶν στυγνῶν τ’ αἰῶνι. . εἴδομεν ἃ ϑροεῖς. . μή μή νυν μηκέτι παραγάγῃς, ἵν’ οὐ - . τί φής; 855 . πάρεισιν ἐλπίδων ἔτι κοινοτόκων εὐπατριδᾶν ἀρωγαί. . πᾶσιν ϑνατοῖς ἔφυ μόρος. 860 . ἦ καὶ χαλάργοις ἐν ἁμίλλαις οὕτως, ὡς κείνῳ δυστάνῳ, τμητοῖς ὁλκοῖς ἐγκῦρσαι; . ἄσκοπος ἁ λώβα. . πῶς γὰρ οὔκ; εἰ ξένος 865 ἄτερ ἐμᾶν χερῶν - . παπαῖ. . κέκευϑεν, οὔτε του τάφου ἀντιάσας οὔτε γόων παρ’ ἡμῶν. 870 r Unglückliche, Du hast Unglück erfahren! [850] . Auch ich weiß dies, weiß dies nur allzu gut in meinem nicht enden wollenden, von allen Seiten durch Schrecken und Leid belagerten Leben! r Wir wissen, was Du sagst. . Nicht also, nicht mehr [855] lenke mich ab, da keine… r Was sagst Du? . …Hoffnung mehr da ist, dass die Geschwister, die wohlgeborenen, mir helfen könnten! [860] r Alle Sterblichen müssen ihr Leben irgendwann beenden. . Auch in Wettkämpfen mit behänden Hufen so, wie es diesem geschah, dass er geschleift wurde von aus Leder geschnittenen Zügeln? r Ein unsägliches Leid! [865] . Wie denn auch nicht? Wenn er als Fremder, fern von meinen Händen… r Papai! . …bestattet worden ist, ohne ein Grab zu erhalten [870] oder Klagen von mir! Hier signalisiert Sophokles über den Einsatz des Wortfeldes des Wissens (ἴστωρ und ὑπερίστωρ 850 sowie εἴδομεν 853) ein Konvergieren in der Wahrnehmung der Situation: Der Chor erkennt Elektras Leiden an, das keinen Trost zulässt. In einem nächsten Schritt konvergiert nun auch die Reaktion, indem der Chor, wie im ersten Kommos, in Elektras Klage einstimmt, ja seine Aussagen syntaktisch mit den ihren verschränkt (vv. 865-870; vorangegangen war ein erneuter Trostversuch): Elektra gelingt es erneut, den Chor vollständig auf ihre Seite zu ziehen. 469 Von der in dieser Entwicklung greifbaren gemeinsamen Per‐ spektive müsste normalerweise ein unproblematisches Identifikationspotential ausgehen. Hier nun wissen die Zuschauer aber, dass die Wahrnehmung, von 292 4 Die Elektra <?page no="293"?> der Elektra den Chor mittels ihrer an der Oberfläche unverändert kraftvollen Klage überzeugt, fehlerhaft ist: Das Pathos ist echt, die von Elektras Leiden ausgehende emotionale Dynamik denkbar stark, aber zugleich schafft Sophokles intellektuelle Distanz zwischen der Perspektive der Akteure und derjenigen der Zuschauer. Nachdem Sophokles also den Kommos aus dem ersten Handlungsbogen in der eben beschriebenen Weise wiederaufgenommen hat, tut er dies auch mit der Szene, die dort auf den Kommos gefolgt war: Elektras Begegnung mit Chryso‐ themis. Besonders eindrücklich an der ersten Begegnung war die Darstellung gewesen, wie es Elektra gelang, den ominösen Traum der Klytaimestra richtig zu deuten. Hier nun deutet Elektra erneut Zeichen. Denn Chrysothemis hat die von Orest an Agamemnons Grab dargebrachten Opfergaben entdeckt, und ordnet diese ihrem Urheber zu. Elektra indes, im vermeintlichen Wissen um Orests Tod, bestreitet diese Zuordnung, und es gelingt ihr, Chrysothemis davon zu überzeugen, genauso also, wie sie dies in der ersten Begegnung getan hatte. Der entscheidende Unterschied liegt nun allerdings darin, dass die von Elektra erfolgreich vertretene Deutung nicht zutrifft, die Opfergaben sehr wohl von Orest stammen und Chrysothemis’ Deutung richtig war. Elektras sprachliches Agieren verliert also auch hier gegenüber den Zuschauern die Fähigkeit, diese zu einer Reaktion anzuleiten, die ein unproblematisches Identifikationspotential entwickeln könnte. Das Gleiche gilt für das, was Elektra als Nächstes unternimmt: den Versuch, Chrysothemis für die Verwirklichung der Rache zu mobilisieren, wie er ihr bei der ersten Begegnung gelungen war. Dabei passt Elektra hier ihre Reaktion an die scheinbar veränderte Situation an: Ohne einen Orest, dessen Kommen sie vorbereiten könnte, geht sie den nächsten Schritt, überführt ihr sprachliches in nonverbales Agieren und entschließt sich, die Rache selbst zu verwirklichen, und zwar zusammen mit Chrysothemis, der sie das glückliche, ruhmreiche Leben in Aussicht stellt, dass sie beide dadurch gewinnen könnten. Im Unter‐ schied zum ersten Gespräch gelingt ihr eine Mobilisierung ihrer Schwester aber nicht, denn diese weist ihr Vorhaben als ‚törichtes‘ Himmelfahrtskommando zurück, das nur in der Katastrophe enden könne (vv. 992-994, 997 f. und 1005 f.): καὶ πρίν γε φωνεῖν, ὦ γυναῖκες [sc. des Chors], εἰ φρενῶν 992 ἐτύγχαν’ αὕτη μὴ κακῶν, ἐσῴζετ’ ἄν τὴν εὐλάβειαν, ὥσπερ οὐχὶ σῴζεται. […] οὐκ εἰσορᾷς; γυνὴ μὲν οὐδ’ ἀνὴρ ἔφυς, 997 σϑένεις δ’ ἔλασσον τῶν ἐναντίων χερί. […] 293 4.4 Der dritte Handlungsbogen: die Wendung ins Positive und zurück <?page no="294"?> 470 Vgl. im Gegenteil die vv. 604 f., in denen Elektra sagt, dass sie die Rache selbst vollziehen würde, wozu natürlich zu ergänzen ist: wenn sie dies denn könnte. 471 Vgl. Woodard 1964, 188f. 472 Die Zuschreibung dieser Verse an den Chor ist (zum ersten Mal von Petropoulou [1979]; gefolgt ist ihr z. B. Schmitz [2016, siehe ad vv. 1015 f.]) bestritten worden, da hier eine scheinbare Inkonsistenz mit dem folgenden Chorlied vorliegt; weiter unten wird gezeigt werden, dass eine solche Annahme nicht nötig ist. λύει γὰρ ἡμᾶς οὐδὲν οὐδ’ ἐπωφελεῖ 1005 βάξιν καλὴν λαβόντε δυσκλεῶς ϑανεῖν. [992] O Frauen [sc. des Chors], wenn sie vernünftig gewesen wäre, hätte sie, bereits bevor sie ihren Mund öffnete, die Vorsicht bewahrt, so wie sie dies nun nicht tut. […] [997] Siehst Du nicht? Du bist eine Frau und kein Mann, Du bist schwächer als die Feinde mit Deiner Hand. […] [1005] Es bringt und nützt uns nämlich nichts, einen guten Ruf zu gewinnen, wenn wir dabei ruhmlos sterben. Dass die Reaktion der Chrysothemis dabei als sachlich angemessen erscheint, liegt auf der Hand: Es gibt keinen Hinweis im Text, dass Elektra irgendwann in der Vergangenheit daran gedacht hatte, die Gerechtigkeit in die eigene Hand zu nehmen, obwohl sie immer deutlicher daran zweifelte, dass Orest noch kommen werde. Dies ist also bisher nie als ein Weg dargestellt worden, den man in Erwägung ziehen könnte, 470 so dass es nun durchaus abwegig erscheint, wenn Elektra Chrysothemis eine glückliche Zukunft ausmalt, die sich so erreichen lasse. 471 Ein deutliches Signal in diese Richtung gibt Sophokles dabei durch den Kommentar, mit dem der Chor auf Chrysothemis’ Gegenrede reagiert (vv. 1015 f.): πείϑου [sc. ὦ Ἠλέκτρα]. προνοίας οὐδὲν ἀνϑρώποις ἔφυ 1015 κέρδος λαβεῖν ἄμεινον οὐδὲ νοῦ σοφοῦ. [1015] Lass Dich überzeugen [sc. o Elektra]. Es gibt für die Menschen als Vorbedacht keinen besseren Gewinn und als einen klugen Geist. Hatte der Chor im Kommos also Elektras Perspektive zunächst übernommen, so schlägt er sich nun auf die Seite von Chrysothemis’ Kritik, indem er in Über‐ einstimmung mit dieser implizit die ‚Torheit‘ von Elektras Plan feststellt. 472 Wie bereits in den vv. 610 f. nutzt Sophokles also eine Kontrastierung der Perspektive der Elektra mit derjenigen des Chors, um ihre Reaktion zu problematisieren. Auf diese Situation reagiert Elektra nun nicht, indem sie von ihrem Plan Abstand nimmt. Wovon sie dagegen implizit Abstand nimmt, ist die Aussicht auf ein glückliches Leben. Denn sie weist, ähnlich wie Antigone gegenüber Ismene 294 4 Die Elektra <?page no="295"?> im Prolog des gleichnamigen Stückes, die - auf das eigene Überleben bedachte (vgl. vv. 992-994, 997 f. und 1005 f.) - „Vernunft“ ihrer Schwester emphatisch zurück und erweckt damit den Eindruck, den Tod in Kauf zu nehmen (vv. 1026 f., 1031-1033 und 1037-1043): . εἰκὸς γὰρ ἐγχειροῦντα καὶ πράσσειν κακῶς. 1026 . ζηλῶ σε τοῦ νοῦ, τῆς δὲ δειλίας στυγῶ. […] ἄπελϑε· σοὶ γὰρ ὠφέλησις οὐκ ἔνι. 1031 . ἔνεστιν· ἀλλὰ σοὶ μάϑησις οὐ πάρα. . ἐλϑοῦσα μητρὶ ταῦτα πάντ’ ἔξειπε σῇ. […] τῷ σῷ δικαίῳ δῆτ’ ἐπισπέσϑαι με δεῖ; . ὅταν γὰρ εὖ φρονῇς, τόϑ’ ἡγήσῃ σὺ νῷν. . ἦ δεινὸν εὖ λέγουσαν ἐξαμαρτάνειν. . εἴρηκας ὀρϑῶς ᾧ σὺ πρόσκεισαι κακῷ. 1040 . τί δ’; οὐ δοκῶ σοι ταῦτα σὺν δίκῃ λέγειν; . ἀλλ’ ἔστιν ἔνϑα χἠ δίκη βλάβην φέρει. . τούτοις ἐγὼ ζῆν τοῖς νόμοις οὐ βούλομαι. [1026] r. Es ist wahrscheinlich, dass es dem, der Schlimmes versucht, auch schlimm ergeht. . Ich beneide Dich um Deinen Verstand, hasse Dich aber für Deine Feigheit! […] [1031] Geh weg! Von Dir ist nämlich keine Hilfe zu erwarten! r. Solche ist zu erwarten! Aber Du willst ja nichts lernen! . Geh zu Deiner Mutter und sag ihr all das! […] Soll ich Deiner ‚Gerechtigkeit‘ folgen? r. Ja, denn wenn Du klug bist, kannst Du uns anführen. . Furchtbar ist es, wenn man sich vergeht, obwohl man gut spricht! [1040] r. Richtig hast Du das Übel ausgesprochen, das Dich heimsucht. . Was denn? Glaubst Du nicht, dass ich dies im Sinne der Gerechtigkeit sage? r. Manchmal bringt auch die Gerechtigkeit Schaden. . Nach diesen Grundsätzen will ich nicht leben! Das Gespräch endet in Entzweiung, Chrysothemis geht ab. Zu einer eigentlichen Entkernung von Elektras Perspektive kommt es aber erst, wenn man das Stasimon einbezieht, das auf diese Szene folgt (vv. 1074-1097): πρόδοτος δὲ μόνα σαλεύει ἁ παῖς, οἶτον ἀεὶ πατρὸς 1075 δειλαία στενάχουσ’ ὅπως ἁ πάνδυρτος ἀηδών, οὔτε τι τοῦ ϑανεῖν προμηϑὴς τό τε μὴ βλέπειν ἑτοίμα, 295 4.4 Der dritte Handlungsbogen: die Wendung ins Positive und zurück <?page no="296"?> 473 Siehe oben Anm. 472. 474 So Finglass (2007, ad vv. 1058-1097). διδύμαν ἑλοῦσ’ Ἐρινύν. 1080 τίς ἂν εὔπατρις ὧδε βλάστοι; οὐδεὶς τῶν ἀγαϑῶν ‹ἂν› ζῶν κακῶς εὔκλειαν αἰσχῦναι ϑέλοι νώνυμος, ὦ παῖ παῖ […] ζῴης μοι καϑύπερϑεν 1090 χειρὶ καὶ πλούτῳ τεῶν ἐχϑρῶν ὅσον νῦν ὑπόχειρ ναίεις· ἐπεί σ’ ἐφηύρηκα μοίρᾳ μὲν οὐκ ἐν ἐσϑλᾷ βεβῶσαν, ἃ δὲ μέγιστ’ ἔβλα- 1095 στε νόμιμα, τῶνδε φερομέναν ἄριστα τᾷ Ζηνὸς εὐσεβείᾳ. Verraten geht alleine dahin [1075] das Kind, das immer um den Vater Klage erklingen lässt, die Unglückliche, wie die immerzu jammernde Nachtigall, und nicht kümmert sie sich um das Sterben und ist bereit, die Augen im Tod zu schließen, [1080] nachdem sie die doppelte Erinye besiegt hat. Wer könnte so edel sein? Niemand von den Guten wollte, indem er schlecht lebt, seine Ehre beschämen ohne großen Namen, o Kind, Kind […] [1090] Mögest Du leben, so sehr überlegen an Kraft und Reichtum Deinen Feinden, wie Du nun von ihnen unterdrückt wirst; denn ich habe gesehen, dass Du in einem einer edlen Frau unwürdigen Schicksal [1095] einhergehst; welche Gesetze aber die größten sind, von denen gewinnst Du das Beste im Respekt vor Zeus. Die hier vom Chor an den Tag gelegte Reaktion hat für einige Irritation gesorgt, ist diese doch ausgesprochen positiv gegenüber Elektra - und kritisch gegenüber Chrysothemis -, scheint also inkonsistent mit der in den vv. 1015 f. geäußerten Kritik. Dieser Tatsache hat man abzuhelfen versucht, indem man die eben genannten Verse entgegen der Überlieferung dem Chor abgesprochen 473 oder indem man darauf verwiesen hat, dass Sophokles hier die Konsistenz der Chorperspektive dramatischen Erfordernissen untergeordnet habe. 474 Beide Vorgehensweisen sind nicht a priori problematisch, aber wenn sich eine Deu‐ tung finden lässt, die keinen Eingriff in die Überlieferung nötig macht und die Konsistenz wahrt, sollte dieser der Vorzug gegeben werden. Eine solche lässt 296 4 Die Elektra <?page no="297"?> sich nun tatsächlich formulieren. Denn eine Voraussetzung für Elektras vom Chor affirmierten „Ruhm“ ist ihre Bereitschaft, zu sterben (vv. 1078 f.), auch wenn dieser sich natürlich wünscht, dies möge nicht geschehen (vv. 1090-1092). Diese Bereitschaft hatte Elektra nun, wie eben gezeigt, erst nach den vv. 1015 f. signalisiert, wo sie von der abwegigen Vorstellung eines glücklichen Fortlebens Abstand nahm. Trägt man dieser Entwicklung Rechnung, dann lässt sich sagen, dass es Elektra erneut gelingt, den Chor für ihr Vorgehen einzunehmen, aber nur unter der Voraussetzung, dass sie ihren Tod in Kauf nimmt. Darin liegt nun die Entkernung von Elektras Perspektive. Denn die Wahrnehmung ihres Agierens durch den Chor entspricht präzis ihrer Darstellung im ersten Handlungsbogen - sie steht aufseiten der eusebeia und der göttlichen Gerechtigkeit (vv. 1095- 1097), und der darin liegende ‚Heroismus‘ (vgl. εὔπατρις 1081, εὔκλειαν 1083 etc.) äußert sich wesentlich im Akt ihrer Klage (vv. 1075-1077) -, und ihre Überzeugungskraft bleibt oberflächlich unverändert. Tatsächlich aber ist nun nicht nur ihre Wahrnehmung defizitär, vielmehr entschließt sich Elektra jetzt, ausgehend von ihrer defizitären Wahrnehmung, zu einer Reaktion, die darin besteht, dass sie sich in tödliche Gefahr begibt, und dies, wie die Zuschauer wissen, in sinnloser Weise. Durch diese Entwicklung verschärft Sophokles die Konsequenzen, denen die Männer sie durch ihren Betrug ausgesetzt haben, und erhöht so das Pathos ihrer Situation weiter, schärft die Spannung noch klarer ein zwischen der emotionalen Dynamik des Stückes und dem Wissen der Zuschauer darum, dass Elektras Bemühungen von der dramatischen Realität entkoppelt sind. Diese Entwicklung ist dabei insbesondere auf der Ebene der Funktion des Chors greifbar. Denn dieser tut im zweiten Stasimon an der Oberfläche genau das, was er bereits im ersten Stasimon getan hatte: Er besiegelt, nachdem er sich von Elektra hat überzeugen lassen, das Engagement der Zuschauer im Hinblick auf ihren spezifischen Kampf für Gerechtigkeit; tatsächlich aber sind die Zuschauer hier, anders als im ersten Handlungsbogen, durch ihr Mehrwissen außerstande, sich engagieren zu lassen. Auch der Rolle des Chors als eines privilegierten Instruments der Zuschauerlenkung ist also der Boden entzogen. 4.4.2 Elektras Befreiung Diese Darstellung einer zutiefst unbefriedigenden Situation lässt nun aber eine mögliche Auflösung desto willkommener erscheinen und erhöht das Potential einer solchen Auflösung, die Zuschauer zu engagieren. Zu einer solchen Auflö‐ sung kommt es dann tatsächlich. Denn es erscheint Orest, in Begleitung des Pylades, mit der Urne, die angeblich seine Asche enthält; nachdem der Chor 297 4.4 Der dritte Handlungsbogen: die Wendung ins Positive und zurück <?page no="298"?> ihm Elektras Identität verraten hat, gibt er sich ihr zu erkennen (vv. 1160-1164, 1171, 1174-1181, 1184 f. und 1218-1231): . […] οἴμοι μοι. 1160 ὦ δέμας οἰκτρόν. φεῦ φεῦ. ὦ δεινοτάτας, οἴμοι μοι, πεμφϑεὶς κελεύϑους, φίλταϑ’, ὥς μ’ ἀπώλεσας· ἀπώλεσας δῆτ’, ὦ κασίγνητον κάρα. […] . ϑνητοῦ πέφυκας πατρός, Ἠλέκτρα, φρόνει 1171 […] . φεῦ φεῦ. τί λέξω; ποῖ λόγων ἀμηχανῶν ἔλϑω; κρατεῖν γὰρ οὐκέτι γλώσσης σϑένω. 1175 . τί δ’ ἔσχες ἄλγος; πρὸς τί τοῦτ’ εἰπὼν κυρεῖς; . ἦ σὸν τὸ κλεινὸν εἶδος Ἠλέκτρας τόδε; . τόδ’ ἔστ’ ἐκεῖνο, καὶ μάλ’ ἀϑλίως ἔχον. . οἴμοι ταλαίνης ἆρα τῆσδε συμφορᾶς. . οὐ δή ποτ’, ὦ ξέν’, ἀμφ’ ἐμοὶ στένεις τάδε; 1180 . ὦ σῶμ’ ἀτίμως κἀϑέως ἐφϑαρμένον. […] . τί δή ποτ’, ὦ ξέν’, ὧδ’ ἐπισκοπῶν στένεις; . ὅσ’ οὐκ ἄρ’ ᾔδη τῶν ἐμῶν ἐγὼ κακῶν. 1185 […] . ποῦ δ’ ἔστ’ ἐκείνου τοῦ ταλαιπώρου τάφος; . οὐκ ἔστι· τοῦ γὰρ ζῶντος οὐκ ἔστιν τάφος. . πῶς εἶπας, ὦ παῖ; . ψεῦδος οὐδὲν ὧν λέγω. 1220 . ἦ ζῇ γὰρ ἁνήρ; . εἴπερ ἔμψυχός γ’ ἐγώ. . ἦ γὰρ σὺ κεῖνος; . τήνδε προσβλέψασά μου σφραγῖδα πατρὸς ἔκμαϑ’ εἰ σαφῆ λέγω. . ὦ φίλτατον φῶς. . φίλτατον, συμμαρτυρῶ. . ὦ φϑέγμ’, ἀφίκου; . μηκέτ’ ἄλλοϑεν πύϑῃ. 1225 . ἔχω σε χερσίν; . ὡς τὰ λοίπ’ ἔχοις ἀεί. . ὦ φίλταται γυναῖκες, ὦ πολίτιδες, ὁρᾶτ’ Ὀρέστην τόνδε, μηχαναῖσι μὲν ϑανόντα, νῦν δὲ μηχαναῖς σεσωσμένον. . ὁρῶμεν, ὦ παῖ, κἀπὶ συμφοραῖσί μοι 1230 γεγηϑὸς ἕρπει δάκρυον ὀμμάτων ἄπο. 298 4 Die Elektra <?page no="299"?> 475 Vgl. Nooter 2011, 412f. 476 Vgl. Gardiner (1987, 154 f.) zur Tatsache, dass die Anagnorisisdie ‚Botenberichts‘-Szene spiegelt, das Resultat aber natürlich komplett gegensätzlich ist: Statt dass Elektra getäuscht wird, befreit sie sich von ihrer Täuschung. Diese Parallelisierung verstärkt den Eindruck, dass man mit der Anagnorisis vor den ‚Botenbericht‘ zurückkehrt und der erste Handlungsbogen fortgesetzt wird. . […] [1160] Oh weh mir! O bedauernswerter Leib! Pheu pheu! O der Du schreck‐ lichste Wege hast gehen müssen, Liebster, wie hast Du mich vernichtet! Denn Du hast mich vernichtet, o brüderliches Haupt! […] [1171] r Du entstammst einem sterblichen Vater, Elektra, denk daran […] r. Pheu pheu! Was soll ich sagen? Wohin soll ich mich, da mir die Worte fehlen, [1175] wenden? Ich kann nämlich die Zunge nicht mehr kontrollieren. . Welcher Schmerz hat Dich gepackt? Weswegen sagst Du dies? r. Bist Du wirklich die berühmte Gestalt der Elektra? . Ja, ich bin diese, und es geht mir elend. r. Oh weh, welch grausames Unglück! [1180] . O Fremder, Du beklagst doch nicht etwa mich? r. O Leib, ehr- und gottlos zugerichtet! […] . Warum, o Fremder, jammerst Du bei diesem Anblick? [1185] r. Wie wenig kannte ich mein Elend! . […] Wo ist das Grab des Unglücklichen? r. Es gibt keines. Wer lebt, hat nämlich kein Grab. [1220] . Wie sprichst Du, o Kind? r. Nichts von dem ist Lüge, was ich sage. . Also lebt der Mann? r. Wenn ich am Leben bin! . Du bist jener? r. Schau diesen Siegelring von meinem Vater an, und stelle fest, ob ich klar spreche. . O liebstes Licht! r. Liebstes, ich stimme Dir zu! [1225] . O Stimme, Du bist gekommen? r. Suche sie nie mehr anderswo! . Halte ich Dich in den Händen? r. Wie Du mich fürderhin immer halten mögest! . O liebste Frauen, o Bürgerinnen, schaut Euch Orest hier an, der durch Kunstgriffe gestorben war, jetzt aber durch Kunstgriffe gerettet ist! [1230] r Wir sehen ihn, o Kind, und ob diesem Geschick tropft uns eine quellende Träne von den Augen! Durch seine Darstellung rückt Sophokles die davor herausgearbeiteten Pro‐ bleme systematisch in den Hintergrund; dies geschieht auf drei Ebenen: Erstens hat Elektras Sprache hier ihre alte Kraft wiedergefunden. 475 Es ist nämlich die eindringliche Darstellung ihrer jämmerlichen Lebensumstände, die Orest ihre Behandlung bedauern (v. 1181) und ihre Leiden als die seinen erkennen lässt (v. 1185), so dass er ihr seine Identität enthüllt: Elektras sprachliches Agieren zeigt, wie bereits im ersten Handlungsbogen, sein Potential, Konvergenz zu schaffen, und wenn sie am Ende ihr Sprechen in der Antilabe der vv. 1220-1226 mit dem ihres Bruders verschränkt und den Chor in die Wiedersehensfreude aufnimmt, dann können die Zuschauer zusammen mit allen auf der Bühne anwesenden Akteuren engagiert nach vorne blicken, auf die unbedingt wünschenswerte Erlösung der Elektra von ihren Leiden. 476 299 4.4 Der dritte Handlungsbogen: die Wendung ins Positive und zurück <?page no="300"?> 477 Zur Auffälligkeit des Wortes πολίτιδες 1227 siehe Budelmann 2000, 258 mit Anm. 103. 478 Vgl. Budelmann 2000, 257-259; ferner MacLeod 2001, 57 zu Aigisth und Klytaimestra als Tyrannen; das Engagement der Zuschauer wird durch die Aufforderung zum Hinsehen (ὁρᾶτ’ 1228) verstärkt: Die „Bürgerinnen“ sind das drameninterne Publikum, der Chor fungiert als Fokalisator. Was indes nicht zurückkehrt - dies ist die zweite Ebene -, sind die spezifi‐ schen Probleme von Elektras Ansatz, die am Ende des ersten Handlungsbogens, wie oben 4.2.3 gezeigt, herausgearbeitet worden waren. Diese spezifische Problematik hatte insbesondere auf der wichtigen Rolle beruht, die das Talions‐ prinzip für Elektras Agieren spielt; hier nun besitzt dieses, als Vergießen von Blut für Blut oder als Spiegelung von ‚Hässlichkeit‘ durch ‚Hässlichkeit‘, keinerlei Prominenz, ja Sophokles geht sogar noch einen Schritt weiter. Die Problema‐ tisierung von Elektras Ansatz war nämlich, wie oben 4.2.3 ebenfalls gezeigt, insbesondere auf der sozialen Ebene vollzogen worden: Sophokles hatte deutlich gemacht, dass dieser Ansatz kein „Gesetz“ ist, an dem sich eine Gemeinschaft sinnvollerweise orientieren sollte, und entsprechend war der Chor als drameninternes Kollektiv auf überraschend deutliche Distanz zu Elektra gegangen. Hier nun fungiert der Chor erneut als drameninternes Kollektiv, und zwar dort, wo Elektra dessen Mitglieder in auffälliger Weise als „Bürgerinnen“ anspricht, also als Vertreterinnen einer spezifischen Gemeinschaft, derjenigen der Polis Argos (vv. 1227-1229) 477 - doch diesmal stimmen die Mitglieder des Chors in ihre Freude ein (vv. 1230 f.). Dadurch wird explizit ausgesprochen, dass es im Stück nicht nur um die Erlösung der Elektra von ihren Leiden geht, sondern auch um die Befreiung der innerdramatischen Gemeinschaft. War die soziale Eingebundenheit von Elektras Agieren also im Agon mit Klytaimestra die Voraussetzung dafür gewesen, die spezifischen Probleme dieses Agierens zu würdigen, so können die Zuschauer nun den erwünschten Ausgang insbeson‐ dere als für eine Gemeinschaft wünschenswert wahrnehmen, man könnte auch sagen, ihr Engagement ist eines in ihrer Identität als Bürger, die um den Wert der Freiheit von Tyrannen wissen, als die man Klytaimestra und Aigisth ohne Frage wahrnehmen konnte, wenn man, wie hier, durch textliche Signale angehalten wird, die Stücksituation in ihren politischen Implikationen zu deuten. 478 Auf der dritten Ebene verschwinden in der Anagnorisis-Szene auch die spezifischen Probleme des von Orest und dem Alten im Prolog exponierten Ansatzes, die seit dem ‚Botenbericht‘ vorgeführt worden waren. Ein stückweit ist dies oben bereits aufgezeigt worden, wo deutlich gemacht wurde, dass Elektra sich aus der Situation befreit, in welche die kalte Ignoranz und sinnlose Grausamkeit der Männer sie gestürzt hatte. Doch es ist nicht nur Elektra, die sich befreit, bis zu einem gewissen Grad befreit sich auch Orest. Denn bereits 300 4 Die Elektra <?page no="301"?> 479 Zur Anagnorisis als Zu-sich-selbst-Finden des Orest vgl. Reinhardt 4 1976, 169 f.; ähnlich Woodard (1964, 190), der feststellt, dass Orest hier die Unangemessenheit seines davor eingenommenen ‚vernünftigen‘ Standpunktes erkenne. 480 Vgl. Woodard 1964, 192f. im Prolog war durch sein Zögern die Frage aufgeworfen worden, wie sehr Orest die ihm anerzogene Identität eines ‚effizienten Soldaten‘, der keine Rücksicht auf jemanden wie Elektra nehmen darf, wirklich entspricht. Dass dies nicht der Fall ist, wird hier endgültig deutlich, wo er zunächst noch dagegen ankämpft, sich seiner Schwester zu erkennen zu geben: Der Wert des „Erfolgs“ (κράτος), unter Verweis auf welchen ihn der Alte im Prolog wieder auf Linie gebracht hatte (vv. 83-86), präsentiert sich hier als ‚Gewalt‘, die Orest sich selbst antun müsste, um seine Schwester weiterhin zu ignorieren (vv. 1174 f. mit κρατεῖν 1175). Der ihn nicht befriedigende, ihm letztlich fremd gebliebene Charakter des von ihm verlangten Verhaltens ist in dieser Szene mit Händen zu greifen. 479 Wenn er dann, wo kein Alter in der Nähe ist, um ihn an das zu erinnern, was er wollen muss, aufgibt, dann erscheint diese Aufgabe auch als Befreiung des Orest von den Zwängen einer Ideologie, die der Realität seines Wesens nicht gerecht geworden ist und die auch den Zuschauern seit dem ‚Botenbericht‘ als unbefriedigend erscheinen musste. Auf diesen drei Ebenen also führt Sophokles die Aufmerksamkeit der Zuschauer systematisch weg von den ‚pessimistischen‘ Signalen, die er davor vergeben hatte, und erlaubt es diesen, sich erneut für eine scheinbar unproblematische Lösung engagieren zu lassen. 4.4.3 Elektras erneute Unterdrückung Statt dass nun aber die Geschwister den wünschenswerten Vollzug der Gerech‐ tigkeit in Angriff nähmen, konfrontiert Sophokles die Zuschauer erneut mit einer Spannung, die der oben 4.4.1 beschriebenen ähnlich ist: Der oben 4.4 besprochene zweite Abschnitt des dritten Handlungsbogens beginnt. Elektra ergeht sich nämlich in ausufernden Freudebekundungen über ihre Rettung, doch Orest und später der aus dem Palast getretene Alte versuchen sie zum Schweigen zu bringen, da sie das Unternehmen gefährde. Die entsprechenden Versuche sind dabei geprägt vom im Prolog exponierten instrumentellen Sprachverständnis, der dort greifbaren selbsterklärt ‚effizienz‘orientierten Men‐ talität, die erneut keinen Platz lässt für Elektras ‚ganz anderes‘, emotionales Sprechen und Reagieren. 480 Das Bestreben, Elektra erneut an den Rand zu drängen, erscheint dabei aber als dubios, da in der sophokleischen Darstellung auch die Problematik der diesem Bestreben zugrunde liegenden Mentalität greifbar bleibt, die im Stück, insbesondere im ‚Botenbericht‘, herausgearbeitet 301 4.4 Der dritte Handlungsbogen: die Wendung ins Positive und zurück <?page no="302"?> 481 Dass sie auf die Gefährdung des Unternehmens durch Elektra nicht eingegangen ist, ist die Schwäche einer Deutung wie der von Kitzinger (1991, 323-325), die argumentiert hat, dass hier Elektras ‚ganz anderes‘ Sprechen in problematischer Weise unterdrückt werde; dass die Männer nämlich entsprechende Versuche unternehmen und dass diese als problematisch erscheinen, trifft, wie hier gezeigt werden soll, unbedingt zu, aber Sophokles hat zugleich Elektras Perspektive kein unproblematisches Identifikationspo‐ tential entwickeln lassen; auch Nooter (2011, 413 f.), die gegen Kitzinger argumentiert, dass die Unterdrückung von Elektras Sprechen gerade nicht gelinge - und dadurch der sophokleischen Darstellung eher gerecht wird -, bespricht die von Elektra ausgehende Gefährdung nicht. worden ist. Die emotionale Dynamik arbeitet also für Elektra und gegen die von den Männern vertretene Wahrnehmung, dass alles bestens wäre, wenn sie nur endlich ihren lästigen Mund hielte. Jedoch ist Sophokles nicht so weit gegangen, Elektra ein unproblematisches Identifikationspotential zuzuschreiben, vielmehr kann man sich der Tatsache nicht verweigern, dass sie das Unternehmen tatsächlich gefährdet: Der im Hintergrund stehende Palast, aus dem, wie die Männer nicht müde werden zu betonen, Gefahr drohe, entwickelt im Verlaufe des Gespräches eine drohende Präsenz, so dass die emotionale Dynamik in Spannung gesetzt wird zur intellektuellen Dimension. Man weiß somit, dass Elektra das Unternehmen möglicherweise gefährdet, ohne dass man sich aber einfach wünschte, sie möge doch endlich schweigen. 481 Zunächst also zu Orests Versuchen, Elektra zum Schweigen zu bringen. Diese kleidet er, wie oben angekündigt, in die Begriffe der bekannten ‚Effizienz‘orien‐ tierung, indem er herausstellt, dass Elektras Freudebekundungen in der jetzigen Situation nicht angezeigt seien (vv. 1232-1238, 1251 f., 1259, 1271 f. und 1288- 1292): . ἰὼ γοναί, γοναὶ σωμάτων ἐμοὶ φιλτάτων, ἐμόλετ’ ἀρτίως, ἐφηύρετ’, ἤλϑετ’, εἴδεϑ’ οὓς ἐχρῄζετε. 1235 . πάρεσμεν· ἀλλὰ σῖγ’ ἔχουσα πρόσμενε. . τί δ’ ἔστιν; . σιγᾶν ἄμεινον, μή τις ἔνδοϑεν κλύῃ. […] ἔξοιδα καὶ ταῦτ [sc. die Verworfenheit der Klytaimestra]· ἀλλ’ ὅταν παρουσία φράζῃ, τότ’ ἔργων τῶνδε μεμνῆσϑαι χρεών. 1252 […] οὗ μή ’στι καιρὸς μὴ μακρὰν βούλου λέγειν. 1259 302 4 Die Elektra <?page no="303"?> 482 Beim zu Beginn von v. 1283 von Lloyd-Jones und Wilson (1990a) ergänzten Text handelt es sich um einen bloßen beispielhaften Vorschlag, der wohl vom Apparat in den Text gelangt ist (vgl. B. Zimmermann 1993, 105); hier kann dieser aber übernommen werden, da er inhaltlich sicher ungefähr das Richtige trifft. […] τὰ μέν σ’ ὀκνῶ χαίρουσαν εἰργαϑεῖν, τὰ δὲ 1271 δέδοικα λίαν ἡδονῇ νικωμένην. […] τὰ μὲν περισσεύοντα τῶν λόγων ἄφες, καὶ μήτε μήτηρ ὡς κακὴ δίδασκέ με, μήϑ’ ὡς πατρῴαν κτῆσιν Αἴγισϑος δόμων 1290 ἀντλεῖ, τὰ δ’ ἐκχεῖ, τὰ δὲ διασπείρει μάτην· χρόνου γὰρ ἄν σοι καιρὸν ἐξείργοι λόγος. . O Spross, Spross des mir liebsten Leibes, Du bist endlich hier, [1235] hast gefunden, bist gekommen, hast gesehen die, die Du begehrtest! r. Ich bin hier; aber schweig und warte ab. . Was ist? r. Es ist besser, zu schweigen, damit niemand drinnen etwas höre. […] Auch ich weiß um dies [sc. die Verworfenheit der Klytaimestra]; aber wann es die Umstände [1252] raten, dann erst sollst Du Dich an diese Taten erinnern. […] [1259] Von dem, wofür nicht der richtige Moment ist, wolle nicht lange reden. […] [1271] Zum einen zögere ich, Dich von Deinen Freudebekundungen abzuhalten, zum anderen aber fürchte ich, dass Du allzu sehr übermannt bist von der Freude. […] Lass die überflüssigen Worte fahren und erzähl mir nicht, wie schlecht die Mutter ist, [1290] und nicht, wie Aigisth den väterlichen Besitz des Hauses verschleudert und anderes verschwendet und weiteres sinnlos vertut! Die Rede trifft Dir nämlich nicht den richtigen Moment. Nun hatten der Prolog und vor allem die Anagnorisis-Szene aber gezeigt, wie wenig gefestigt Orest in seinem ‚effizienz‘orientierten, für Elektra keinen Platz lassenden Selbstbild ist, und dieser Eindruck entsteht auch hier. Denn er hat keinen Erfolg, Elektra setzt sich über die repetitiven Anmahnungen hinweg, den „richtigen Moment“ zu beachten: Orest scheint gegenüber der schieren Sprachgewalt seiner Schwester hilflos, wie besonders die aporetische, an die vv. 1174 f. anklingende Aussage in den vv. 1271 f. zeigt. Doch dass Elektras Sprechen seine angestammte Kraft bewahrt hat, zeigt sich nicht nur in dieser Hilflosigkeit, sie redet Orest nicht einfach nur ‚an die Wand‘ - obwohl sie dies auch tut -, es bleibt ebenfalls die Erinnerung an ihre sprachliche Kompetenz, an die Kraft ihres Sprechens gewahrt, die im Stück so deutlich geworden war. Besonders gut fassbar ist dies an zwei Stellen, den vv. 1273-1287 und den vv. 1322-1325: 482 303 4.4 Der dritte Handlungsbogen: die Wendung ins Positive und zurück <?page no="304"?> . ἰὼ χρόνῳ μακρῷ φιλτάταν ὁδὸν ἐπαξιώσας ὧδέ μοι φανῆναι, μή τί με, πολύπονον ὧδ’ ἰδὼν - 1275 . τί μὴ ποήσω; . μή μ’ ἀποστερήσῃς τῶν σῶν προσώπων ἁδονὰν μεϑέσϑαι. . ἦ κάρτα κἂν ἄλλοισι ϑυμοίμην ἰδών. . ξυναινεῖς; . τί μὴν οὔ; 1280 . ὦ φίλ’, ἔκλυον ἃν ἐγὼ οὐδ’ ἂν ἤλπισ’ αὐδάν. ‹ἀλλ’ ὅμως ἐπ›έσχον ὀργὰν ἄναυδον οὐδὲ σὺν βοᾷ κλύουσ’ ἁ τάλαινα. νῦν δ’ ἔχω σε· προὐφάνης δὲ 1285 φιλτάταν ἔχων πρόσοψιν, ἇς ἐγὼ οὐδ’ ἂν ἐν κακοῖς λαϑοίμαν. […] . […] σιγᾶν ἐπῄνεσ’· ὡς ἐπ’ ἐξόδῳ κλύω τῶν ἔνδοϑεν χωροῦντος. . εἴσιτ’, ὦ ξένοι, ἄλλως τε καὶ φέροντες οἷ’ ἂν οὔτε τις δόμων ἀπώσαιτ’ οὔτ’ ἂν ἡσϑείη λαβών. 1325 . Io, der Du nach langer Zeit auf liebstem Weg es für angemessen befunden hast, mir so zu erscheinen, [1275] dass Du nicht mich, nachdem Du mich so leiden hast sehen… r. Was soll ich nicht tun? . …dass Du nicht mich beraubst, so dass ich die Freude an Deinem Anblick verliere. r. Und sehr zornig wäre ich, sähe ich einen anderen dies tun. [1280] . Versprichst Du es? r. Wie auch nicht? . O Lieber, ich habe die Kunde gehört, auf die ich nicht mehr hoffte! Aber trotzdem habe ich mein Temperament schweigend gezügelt und habe nicht mit Rufen es vernommen, ich Arme! [1285] Jetzt aber habe ich Dich; Du hast Dich mir gezeigt und botest einen hochwillkommenen Anblick, den ich auch in einer schlimmen Lage nicht mehr vergessen könnte! […] r. […] Schweig, sag ich! Denn ich höre beim Ausgang einen von drinnen herauskommen. . Tretet ein, o Fremde, zumal Ihr eine Mitteilung bringt, die keiner [1325] vom Haus zurückweisen könnte und die zu hören er sich nicht freute. In den vv. 1273-1278 bittet Elektra Orest, ihr die Freude an ihm nicht mehr zu nehmen. Als er dem zugestimmt hat, zieht sie die Konsequenzen (vv. 1281- 1287): Sie wird nun, wo Orest gekommen und sie sicher ist, ihn nicht mehr vergessen - und ihn nicht zu vergessen heißt, wie Elektra deutlich macht, ihre Emotionalität nicht mehr zu unterdrücken, wie sie dies davor getan hat. Elektra trotzt Orest also äußerst geschickt die ‚Erlaubnis‘ ab, die Funktion ihres emotionalen Sprechens auszuüben, die darin liegt, Vergessen zu verhindern (v. 304 4 Die Elektra <?page no="305"?> 483 Vgl. oben zu Anm. 398. 484 Vgl. Schmitz 2016, ad vv. 1323-1325 zu Elektras „Geistesgegenwart“. 1287), die Funktion also, die im ersten Handlungsbogen ein zentrales Moment ihres kraftvollen sprachlichen Agierens gewesen war. 483 Am Ende des Kommos, der geprägt war von Orests hilflosen Versuchen, Elektra zum Schweigen zu bringen, beansprucht diese also erfolgreich einen Platz für ihr spezifisches sprachliches Agieren in der Situation, ganz ähnlich, wie sie dies im ersten Handlungsbogen gegenüber dem Chor und Chrysothemis getan hatte. Orest wechselt darauf in jambische Trimeter, verlässt also den lyrischen Modus, in dem ihn Elektra besiegt hatte. Sie ergeht sich jedoch auch hier in einer überbordenden Freudebekundung, die Orest erst dann stoppen kann, als er auf das Kommen irgendeiner Figur aus dem Palast hinweist. Auch hier gehört das letzte Wort allerdings Elektra, denn sie schweigt nicht, wie von ihrem Bruder verlangt, sie spricht. Was sie sagt, ist indes unbestreitbar ‚besser‘, als wenn sie geschwiegen hätte, denn sie spricht Orest und den ihn begleitenden Pylades blitzschnell in ihrer Tarnidentität als „Fremde“ an, befördert also deren Vor‐ haben. 484 Auch hier erscheint es durchaus ungenügend, wenn man zusammen mit Orest der Wahrnehmung anhinge, dass Elektra nur zu schweigen brauche, damit alles in die richtigen Bahnen komme, dass ihr Sprechen grundlegend ‚ineffizient‘ sei. Orests kraftlose Versuche, seine Schwester unter Verweis auf den „richtigen Moment“ zum Schweigen zu bringen, klingen unbestreitbar hohl. Dennoch entwickelt auch Elektras Perspektive, wie oben angekündigt, kein unproblematisches Identifikationspotential. Entscheidend dafür ist eine einzige Textstelle (vv. 1239-1250): . μὰ τὰν Ἄρτεμιν τὰν ἀεὶ ἀδμήταν, τόδε μὲν οὔποτ’ ἀξιώσω τρέσαι, 1240 περισσὸν ἄχϑος ἔνδον γυναικῶν ὂ ναίει. . ὅρα γε μὲν δὴ κἀν γυναιξὶν ὡς Ἄρης ἔνεστιν· εὖ δ’ ἔξοισϑα πειραϑεῖσά που. . ὀττοτοῖ ‹ὀττοτοῖ›, 1245 ἀνέφελον ἐνέβαλες οὔποτε καταλύσιμον, οὐδέ ποτε λησόμενον ἁμέτερον οἷον ἔφυ κακόν. 1250 . Bei Artemis, der immer Unbezwungenen, [1240] nie mehr werde ich es hinnehmen, mich zu fürchten vor der nutzlosen Last der Frauen, die drinnen wohnt! r. Schau, wie auch in Frauen Kriegsgewalt ist; das weißt Du gut, hast Du’s doch selbst erfahren. 305 4.4 Der dritte Handlungsbogen: die Wendung ins Positive und zurück <?page no="306"?> 485 Vgl vv. 516-520. 486 Vgl. zur Realität der Gefahr Gardiner 1987, 156. [1245] . Ottotoi ottotoi, Du hast erwähnt - unverhüllt, niemals lösbar und niemals zu vergessen - das uns belastende [1250] Übel, wie es ist! Elektra stellt sich auf den Standpunkt, sie brauche Klytaimestra nun, mit Orest als ihrem Beschützer, nicht mehr zu fürchten. Dieser verweist demgegenüber auf die Gefahr, die auch von Klytaimestra ausgehe. Es ist nun verführerisch, die Furcht des ‚mannhaften Soldaten‘ Orest vor einer Frau - einer Frau zumal, die offenbar ohne Aigisth nicht einmal Elektra am Verlassen des Palasts hindern kann 485 - so zu verstehen, dass er seinem soldatisch-‚heroischen‘ Selbstbild erneut untreu werde, sich also mit Elektras Wahrnehmung aus den vv. 1239-1242 zu identifizieren, dass Klytaimestra Orest nichts anhaben könne; konsequenterweise erschiene seine Furcht dann als beinahe groteske Feigheit - man stelle sich einen Achill vor, der sich weigert, einer Frau im Kampf gegenüberzutreten, da diese „voll des Ares“ sei -: Elektras emotionales Sprechen wäre vollauf gerechtfertigt, das soldatische Effizienzdenken, wie es Orest hier vertritt, erneut eine bloße Pose, durch nichts in der Situation gedeckt. Allein eine solche Reaktion verhindert Elektras Replik, denn sie kommt dort nicht auf die von ihr behauptete und von Orest bestrittene Machtlosigkeit der Klytaimestra zurück, sondern bestätigt die Warnung ihres Bruders: Sie hatte „vergessen“, wozu ihre Mutter fähig ist. Diese Reaktion verunmöglicht es nun, Elektras davor artikulierte Wahrnehmung zu teilen, dass die von Orest behauptete Gefahr tatsächlich gar keine Gefahr sei. Diese muss vielmehr durchaus real sein, und entsprechend real muss auch die Gefährdung des Unternehmens durch Elektras schrankenlose Freudebekundungen sein. 486 Auf diese Weise entkoppelt Sophokles die für Elektra arbeitende emotionale Dynamik von der situativen, die Orests Warnungen und dessen Schweigegebote unbestreitbar deckt. Ein ähnliches Bild zeigt sich, wenn der Alte erscheint. Dieser ist zornig über Orests (und Pylades’) Trödelei, da diese damit das Scheitern des Unternehmens riskiert hätten (vv. 1326-1338): ὦ πλεῖστα μῶροι καὶ φρενῶν τητώμενοι, πότερα παρ’ οὐδὲν τοῦ βίου κήδεσϑ’ ἔτι, ἢ νοῦς ἔνεστιν οὔτις ὑμὶν ἐγγενής, ὅτ’ οὐ παρ’ αὐτοῖς ἀλλ ἐν αὐτοῖσιν κακοῖς τοῖσιν μεγίστοις ὄντες οὐ γιγνώσκετε; 1330 ἀλλ’ εἰ σταϑμοῖσι τοῖσδε μὴ ’κύρουν ἐγὼ πάλαι φυλάσσων, ἦν ἂν ἡμὶν ἐν δόμοις 306 4 Die Elektra <?page no="307"?> τὰ δρώμεν’ ὑμῶν πρόσϑεν ἢ τὰ σώματα· νῦν δ’ εὐλάβειαν τῶνδε προὐϑέμην ἐγώ. καὶ νῦν ἀπαλλαχϑέντε τῶν μακρῶν λόγων 1335 καὶ τῆς ἀπλήστου τῆσδε σὺν χαρᾷ βοῆς εἴσω παρέλϑεϑ’, ὡς τὸ μὲν μέλλειν κακὸν ἐν τοῖς τοιούτοις ἔστ’, ἀπηλλάχϑαι δ’ ἀκμή. O Ihr Dummköpfe, guten Sinns beraubt, kümmert Ihr Euch nicht mehr um euer Leben, oder habt Ihr keinen angeborenen Verstand, wenn Ihr dies, dass Ihr Euch nicht nur bei, sondern inmitten der Übel, [1330] der allergrößten, befindet, nicht erkennt? Wenn ich aber bei diesen Torpfosten nicht schon lange Wache gehalten hätte, wären im Haus bereits unsere Taten, noch vor den Leibern selbst! Jetzt aber habe ich dagegen Vorsorge getroffen. [1335] Und nun macht Euch beide frei von den langen Reden und von diesem unersättlichen Freudegeschrei und geht hinein, da Zögern schlimm in einer solchen Lage und es hohe Zeit ist, die Sache zu einem Ende zu bringen. Dieser Tadel präsentiert sich als Reaffirmation des im Prolog exponierten ‚Effizienz‘denkens, das keinen Platz für Emotionalität lässt: Orest solle sich „losreißen“ vom „unersättlichem Freudengeschrei“, denn es sei höchste Zeit zum Handeln (vgl. ἀλλ’ ἔργων ἀκμή 22): Elektras ‚ganz anderes‘ Sprechen soll erneut an den Rand gedrängt werden, und der Alte stört sich offensichtlich daran, dass Orest sich ihrer Emotionalität nicht durchgehend verweigert hat. Auch wenn es wohl keinen Grund gibt, die vom Alten behauptete Gefahr zu bestreiten - man hat allerdings auch nur sein Wort dafür, dass er sich nicht bloß aufspielt -, so erscheint er als Prediger der ‚Effizienz‘ dennoch äußerst dubios. Entscheidend dafür sind zwei Passagen; die erste (vv. 1339 und 1343-1345) findet sich im unmittelbaren Anschluss an die Scheltrede des Alten, die andere (vv. 1354-1360 und 1364-1368) folgt auf die Enthüllung von dessen Identität gegenüber Elektra: . πῶς οὖν ἔχει τἀντεῦϑεν εἰσιόντι μοι; 1339 […] χαίρουσιν [sc. meine Feinde] οὖν τούτοισιν; ἢ τίνες λόγοι; . τελουμένων εἴποιμ’ ἄν· ὡς δὲ νῦν ἔχει καλῶς τὰ κείνων πάντα, καὶ τὰ μὴ καλῶς. 1345 […] . ὦ φίλτατον φῶς, ὦ μόνος σωτὴρ δόμων Ἀγαμέμνονος, πῶς ἦλϑες; ἦ σὺ κεῖνος εἶ, 1355 ὃς τόνδε κἄμ’ ἔσωσας ἐκ πολλῶν πόνων; ὦ φίλταται μὲν χεῖρες, ἥδιστον δ’ ἔχων ποδῶν ὑπηρέτημα, πῶς οὕτω πάλαι 307 4.4 Der dritte Handlungsbogen: die Wendung ins Positive und zurück <?page no="308"?> 487 Vgl. Schmitz 2016, ad vv. 1343-1345 zum „ausweichenden“ Charakter der Antwort des Alten sowie Finglass 2007, ad v. 1345 zum „mysteriösen“ Ton, dessen er sich bedient (vgl. ferner Finglass 2007, ad vv. 1344 f. zum abschließenden Charakter des Doppelverses). ξυνών μ’ ἔληϑες οὐδ’ ἔσαινες, ἀλλά με λόγοις ἀπώλλυς, ἔργ’ ἔχων ἥδιστ’ ἐμοί; 1360 […] . ἀρκεῖν δοκεῖ μοι· τοὺς γὰρ ἐν μέσῳ λόγους - πολλαὶ κυκλοῦνται νύκτες ἡμέραι τ’ ἴσαι, 1365 αἳ ταῦτά σοι δείξουσιν, Ἠλέκτρα, σαφῆ. σφῷν δ’ ἐννέπω ’γὼ τοῖν παρεστώτοιν ὅτι νῦν καιρὸς ἔρδειν [1339] r. Wie präsentiert sich mir die Lage, wenn ich hineingehe? […] Freuen sie [sc. meine Feinde] sich an der Lage? Oder wie sieht’s aus? A er Wenn die Dinge vollendet sind, könnte ich’s sagen; für den Moment verhält sich [1345] alles davon schön, auch das, was nicht schön ist. […] . O liebstes Licht, o einziger Retter des Hauses [1355] des Agamemnon, wie bist Du gekommen? Bist Du der, der diesen und mich gerettet hat aus großen Übeln? O liebste Hände, o der Du verrichtet hast süßeste Dienste mit Deinen Füßen, warum hast Du, dass Du so lange in meiner Nähe warst, vor mir verborgen und kein Verlangen verspürt nach mir, sondern mich [1360] mit Worten vernichtet, obwohl Du süßeste Taten für mich hattest? […] A er Ich denke, das genügt; die Berichte von dem, was dazwischen geschehen ist - [1365] viele Nächte und Tage zirkeln vorbei, die Dir dies, Elektra, klar zeigen werden. Euch beiden aber, die Ihr hier danebensteht, sage ich, dass jetzt Zeit ist zum Handeln Der ‚Botenbericht‘ hatte den Alten, wie oben 4.3 dargestellt, als unzulängli‐ chen sprachlichen Akteur gezeigt, der dem eigenen instrumentellen Sprachver‐ ständnis nicht genügte. Insbesondere hatte er dabei versagt, plangemäß auf das Auslösen von Freude aufseiten von Orests Feinden abzuzielen; daran erinnert Sophokles nun hier, wenn er Orest genau danach, nach der Freude seiner Feinde, fragen, den Alten aber eine systematisch verunklarende, jede weitere Diskussion abschneidende Antwort geben lässt: 487 Der Alte will offensichtlich nicht über seinen Auftritt sprechen, und die Zuschauer kennen einen möglichen Grund dafür - er war gar nicht ohne weiteres erfolgreich, sein ‚Meisterstück‘, der ‚Botenbericht‘, hat das Ziel eher gefährdet als befördert. In dem Moment also, in dem die Zuschauer den Alten dabei beobachten, wie er die im Prolog erstmals exponierte Auffassung angemessen ‚effizienten‘ Sprechens reaffirmiert, werden sie zugleich zu der Situation zurückgeführt, in der sich zeigte, dass der Alte dem eigenen Maßstab nicht gerecht wurde, ja dass diese Auffassung überhaupt 308 4 Die Elektra <?page no="309"?> 488 Zu Elektras Worten als Kritik an ihrer grausamen Behandlung vgl. Schein 1982, 77f. 489 Zur Ähnlichkeit dieser beiden Formulierungen vgl. Finglass 2007, ad vv. 1244 f. 490 Vgl. Altmeyer (2001, 185), der zu dieser Szene feststellt, dass „[d]urch die Fixierung auf den καιρός […] das Menschliche zurückgedrängt [wird].“ problematisch ist. Wenn er Elektra nun im Namen genau dieser Auffassung grob zum Schweigen zu bringen versucht, dann erscheint dieses Vorgehen durchaus unbefriedigend: Man kann sich fragen, wieviel am Ärger des Alten Ärger über die Gefährdung des Unternehmens ist und wieviel Ärger über die Tatsache, dass sein Schüler seine Dogmen vergessen hat, dass der Junge, den er zum Mann erzogen hat, sich von einer Frau hat überwältigen lassen. Über eine Frage kommt man indes nicht hinaus; deutlicher ist dann aber die zweite Passage, denn hier verleiht Elektra, nachdem sie von dessen Identität erfahren hat, ihrer Freude überschwänglich Ausdruck, den Alten zu sehen, kritisiert diesen aber auch dafür, dass er sich ihr nicht zu erkennen gegeben, sie also aus dem Plan ausgeschlossen und so den im Stück eindringlich dargestellten verheerenden Folgen ausgesetzt, sie „vernichtet“ hat. 488 Entscheidend ist nun, dass Elektra ihre Kritik mittels λόγοις und ἔργ’ 1360 in die Zentralbegriffe des instrumentellen Sprachverständnisses kleidet, in denen dieses im Prolog exponiert worden war, und dem Alten ein unangemessenes Verhältnis von Worten und Taten vorwirft. Denn dadurch werden die Zuschauer erneut daran erinnert, dass die kalte Ignoranz gegenüber Elektra nicht den situativen Anfor‐ derungen geschuldet war, als ‚Kollateralschaden‘ abgebucht werden konnte - wo ‚effizient‘ gearbeitet wird, da fallen Späne -, sondern einer den eigenen Ansprüchen nicht genügenden Auffassung angemessen ‚effizienten‘ Sprachge‐ brauchs, der für Elektras ‚ganz anderes‘ Sprechen keinen Platz ließ und sie so, als bloße Ideologie, mit unnötiger Grausamkeit den bekannten verheerenden Folgen aussetzte. Wenn der Alte hier gewissermaßen zum Prolog zurückzukehren und Elektra im Namen des dort exponierten Effizienzdenkens erneut an den Rand zu drängen versucht, dann erscheint dies problematisch. Entsprechend nimmt es nicht wunder, dass der Alte auch hier, wie bereits in den vv. 1344 f., 489 keine klare Antwort gibt, sondern Elektra in erneut verunklarender Ausdrucksweise eine Erklärung „später einmal“ in Aussicht stellt, bevor er Orest und Pylades drängt, jetzt endlich zu handeln, da der „richtige Zeitpunkt“ gekommen sei. Auch in seiner Darstellung des Alten macht es Sophokles den Zuschauern also denkbar schwer, sich mit der von diesem vertretenen Wahrnehmung zu identifizieren, dass Elektra nur endlich ihren lästigen Mund zu halten brauche, damit alles seine Ordnung habe. 490 Wenn Orest und Pylades dann trotz alledem auf die Aufforderung des Alten den Palast betreten und Elektra einfach stehenlassen, dann können sie dies 309 4.4 Der dritte Handlungsbogen: die Wendung ins Positive und zurück <?page no="310"?> 491 Vgl. Finglass 2007, ad v. 1375. wahrscheinlich nur tun, weil sie das Glück hatten, dass Elektra das Unternehmen nicht zum Scheitern gebracht hat; zugleich indes erscheint dieses Unternehmen als geistlose Exekution eines einmal gefassten Plans ohne jedes Verständnis für den - und Interesse am - Sinn der Gerechtigkeit, welche die beiden jungen Männer hier verwirklichen: Die Spannung zwischen der emotionalen und der situativ-intellektuellen Dimension prägt den Eindruck des Vollzugs der Rache entscheidend negativ. 4.4.4 Die Wendung ins Positive Dieser Eindruck ist jedoch nicht, was bleibt. Vielmehr verpufft diese Spannung im letzten Moment und eröffnet den Zuschauern den Weg zu einer desto willkommeneren Lösung; dies leistet das Gebet, das die zurückgelassene Elektra an Apollon richtet, nachdem Orest bei seinem Abgang dessen Standbild am Palasteingang einer kurzen gestischen Ehrbezeugung gewürdigt hatte (vv. 1376-1383): 491 ἄναξ Ἄπολλον, ἵλεως αὐτοῖν κλύε, ἐμοῦ τε πρὸς τούτοισιν, ἥ σε πολλὰ δὴ ἀφ’ ὧν ἔχοιμι λιπαρεῖ προύστην χερί. νῦν δ’, ὦ Λύκει’ Ἄπολλον, ἐξ οἵων ἔχω αἰτῶ, προπίτνω, λίσσομαι, γενοῦ πρόφρων 1380 ἡμῖν ἀρωγὸς τῶνδε τῶν βουλευμάτων καὶ δεῖξον ἀνϑρώποισι τἀπιτίμια τῆς δυσσεβείας οἷα δωροῦνται ϑεοί. Herr Apollon, höre geneigt auf diese beiden, und auf mich dazu, die ich Dich oft mit dem, was ich hatte, mit bittender Hand angefleht habe. Jetzt aber, o lykeischer Apollon, mit dem, was ich habe, [1380] bitte, beknie, flehe ich Dich an: Sei ein freundlicher Helfer für uns bei diesen Plänen und zeige den Menschen den Lohn, mit dem die Götter Frevel vergelten. Elektra, deren Perspektive eben noch die Problematik des Agierens der Männer erschlossen hatte, ordnet sich in den Vollzug der Rache ein, schafft also gewis‐ sermaßen Konvergenz im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel. Damit geschieht alles auf einmal, die davor eben noch so deutlich eingeschärfte Spannung verpufft mit einem Schlag. Insofern Elektra nämlich den Vollzug der Rache in aller Eindeutigkeit unterstützt, macht sie deutlich, dass sie das Agieren der Männer braucht, damit die Verbrechen ihrer Feinde bestraft werden und 310 4 Die Elektra <?page no="311"?> 492 Zum Beitrag von Elektras sprachlichem Agieren im Gebet vgl. Nooter 2011, 415. 493 Vgl. das Anm. 478 oben zu ὦ πολίτιδες, / ὁρᾶτ’ 1227 f. Gesagte, einer anderen Stelle, an der das eben erwähnte soziale Moment greifbar ist. 494 Vgl. Mantziou 1995, 194. somit Gerechtigkeit geschaffen wird. Indem er sie dies deutlich machen lässt, zeigt Sophokles andererseits natürlich ipso facto erneut das Potential ihres spezifischen Sprechens - der Unterschied zwischen Orests ‚effizient‘ kurzer Geste und ihrem Gebet ist deutlich -, das genau darin liegt, der im Stück verwirklichten Gerechtigkeit einen Sinn und eine Dringlichkeit abzugewinnen, die diese sonst nicht besäße: Die Zuschauer werden ebenso daran erinnert, dass der Vollzug der Gerechtigkeit Elektras Beitrag als sprachliche Akteurin braucht, wenn es sich dabei nicht um die geistlose Exekution eines einmal gefassten Plans handeln soll, als die dieser eben noch erschien. 492 Mit Elektras Gebet kehrt die sophokleische Darstellung also gewissermaßen zum ersten Handlungsbogen oder auch zur Anagnorisis-Szene zurück, Elektra kann jetzt endlich ihren spezifischen Beitrag leisten, damit die dyssebeia (das Wort fällt in v. 1383) von Agamemnons Mördern bestraft wird. Insbesondere gelingt es ihr natürlich, durch das Gebet an Apollon dem gemeinsamen Plan erneut als der Verwirklichung göttlicher Gerechtigkeit Sinn und Dringlichkeit abzugewinnen. Ferner ist das an ähnlichen Stellen jeweils festzustellende soziale Moment auch hier greifbar, und zwar in Elektras Aufforderung, den Menschen zu zeigen, wie die Götter Verworfenheit bestraften (vv. 1382 f.): Der Vollzug der Gerechtigkeit findet in Elektras Wahrnehmung vor einem kollektiven Publikum statt, für das dieser Vollzug erneut exemplarischen Charakter hat (ϑνατῶν 250 ≈ ἀνϑρώποισι 1382). Auf diese Weise beseitigt das Gebet Elektras im Anschluss an den Abgang des Orest und des Pylades die davor eingeschärfte Spannung äußerst effektvoll und lässt den Zuschauern, die sich natürlich durch Elektras vv. 1382 f. mit der Zeigeaufforderung in v. 1382 direkt als eben erwähntes kollektives Publikum angesprochen sehen können, 493 die Verwirklichung einer nunmehr unproble‐ matischen Gerechtigkeit desto wünschenswerter erscheinen, da deutlich wird, dass dazu alle Beteiligten aus ihren jeweiligen Perspektiven ihren spezifischen Beitrag leisten. Wenn diese Überwindung der Distanz zwischen Elektra und den Männern durch ihr Eintreten in den Palast räumlich besiegelt wird, 494 hat Sophokles erneut eine Spannung in desto größeres Engagement umschlagen lassen. 311 4.4 Der dritte Handlungsbogen: die Wendung ins Positive und zurück <?page no="312"?> 495 Vgl. Ringer 1998, 200 zum Chor als Vertreter der Zuschauer im dritten Stasimon. 4.4.5 Das Ende im moralischen Vakuum Nun gilt aber am Ende des dritten Handlungsbogens, wie bereits davor, dass auch dieses Engagement nicht der letzte Eindruck ist, sondern die Zuschauer an eine Situation herangeführt hat, in der die Problematik des Vorgehens desto deutlicher wird, mit dem sich unproblematisch zu identifizieren Sophokles diese davor angehalten hatte. Diese Entwicklung basiert darauf, dass, wie bereits am Ende des ersten Handlungsbogens, die spezifische Problematik der aus Elektras Perspektive nachvollziehbar gemachten Gerechtigkeit erscheint: die ‚Hässlichkeit‘, die durch die zentrale Rolle begründet ist, die das Talionsprinzip für Elektra spielt. An die Feststellung, dass eine Verwirklichung der Gerechtigkeit, die durch Elektras Perspektive geprägt ist, konsequenterweise in Begriffen des Talions‐ prinzips zu fassen ist, werden die Zuschauer bereits mit dem dritten Stasimon erinnert, das der Chor im Anschluss an Elektras Abgang singt (vv. 1384-1390 und 1395-1397): ἴδεϑ ὅπου προνέμεται τὸ δυσέριστον αἷμα φυσῶν Ἄρης. 1385 βεβᾶσιν ἄρτι δωμάτων ὑπόστεγοι μετάδρομοι κακῶν πανουργημάτων ἄφυκτοι κύνες, ὥστ’ οὐ μακρὰν ἔτ’ ἀμμενεῖ τοὐμὸν φρενῶν ὄνειρον αἰωρούμενον. 1390 […] ὁ Μαίας δὲ παῖς 1395 Ἑρμῆς σφ’ ἄγει δόλον σκότῳ κρύψας πρὸς αὐτὸ τέρμα κοὐκέτ’ ἀμμένει. Seht, wo vorangeht [1385] Ares, unbesiegbares Blut schnaubend. Es sind eben unter das Dach des Hauses getreten, auf der Jagd nach üblen Verbrechen, die unentrinnbaren Hunde, so dass nicht mehr lange warten wird [1390] der Wunsch meines Herzens, in Spannung schwebend. […] [1395] Das Kind der Maia, Hermes, führt sie, indem er im Dunkel den Betrug verbirgt, sofort zum Ziel und wartet nicht mehr. Dieses führt über „Seht“ (v. 1384) das mit „Zeige“ (v. 1382) eingeführte me‐ taleptische Moment weiter. 495 Auf diese Weise unterstreicht Sophokles die Wirkung dieses Liedes: Dieses weist die Zuschauer auf die Implikationen hin, die sich ergeben, wenn man der zu verwirklichenden Gerechtigkeit über Elektras 312 4 Die Elektra <?page no="313"?> 496 Choeph. 937f. 497 Vgl. Finglass 2007, ad v. 1388. 498 Choeph. 924, 1054; Eum. 131 f., 246 f.; für weitere Belege dieser üblichen Metapher siehe Finglass 2007, ad v. 1388. 499 Siehe Schmitz 2016, ad vv. 1395-1397 (gegen Finglass [2007, ad vv. 1395 f.]). 500 Siehe oben zu Anm. 408. 501 Vgl. Schmitz 2016, ad v. 1390. 502 Siehe Schmitz 2016, ad vv. 1384-1397. 503 Zu Elektras Agieren als Realisierung des Talionsprinzips vgl. Horsley 1980, 21 Anm. 16 sowie Blundell 1989, 150. Perspektive Sinn abgewinnt. Eine Implikation ist zentral: Macht man sich Elektras Perspektive zu eigen, dann bedeutet dies, dass man eine Verwirklichung von Gerechtigkeit unterstützt, die vom Talionsprinzip geprägt ist. Dieses war davor, wie oben 4.2.2.3 gezeigt worden ist, wesentlich über aischyleische Bezüge eingeführt worden, und solche finden sich auch hier: Die Beschreibung der Rächung als Vorrücken des blutigen Ares hat eine Parallele in der Beschreibung der Tötung des Agamemnon in den Choephoren; 496 die Bezeichnung des Orest und des Pylades als „Hunde“ - das heißt, als Erinyen 497 - klingt ebenfalls an die Choephoren, aber auch die Eumeniden an; 498 auch die Anrufung des - chthonischen 499 - Hermes, zumal in Verbindung mit dem Motiv der Dunkelheit, erinnert an die Choephoren. 500 Fragt man nun nach der Reaktion des Chors auf die Wahrnehmung, dass hier Blut für Blut vergossen wird, so zeigt sich eine gewisse Zerrissenheit: Der Chor verweist mit der Bezeichnung der Ereignisse als „Wunsch meines Herzens, in Spannung schwebend“ (vv. 1389 f.) auf das erste Stasimon zurück, 501 in dem er die Rache als Wirken der personifizierten Gerechtigkeit aufgefasst hatte (vgl. Δίκα 476), und macht deutlich, dass er sich wünscht, dass diese Gerechtigkeit verwirklicht werde. Durch die andeutungs‐ reiche Bildsprache und die aischyleischen Bezüge lässt der Chor andererseits die unmittelbar bevorstehenden Ereignisse als unheimlich erscheinen, 502 was einen Kontrast zur unproblematischen Zuversicht darstellt, zu der die Zuschauer mit Elektras Gebet gerade noch eingeladen worden waren: Die Problematik des geplanten Vorgehens beginnt, wieder greifbar zu werden. Auch im Anschluss an dieses Lied bleibt nun das Talionsals Leitprinzip greifbar. Denn Elektra verlässt den Palast wieder und verfolgt zusammen mit dem Chor den Vollzug der Rache; dabei tritt sie gleichsam in einen Dialog mit ihrer im Palast befindlichen Mutter ein und macht dieser deutlich, dass sie auf kein Erbarmen hoffen kann, da sie sich Orests und Agamemnons auch nicht erbarmt hatte (vv. 1404-1416): 503 313 4.4 Der dritte Handlungsbogen: die Wendung ins Positive und zurück <?page no="314"?> 504 Zum Beispiel von Nooter (2011, 416). . αἰαῖ. ἰὼ στέγαι φίλων ἐρῆμοι, τῶν δ’ ἀπολλύντων πλέαι. 1405 . βοᾷ τις ἔνδον. οὐκ ἀκούετ’, ὦ φίλαι; . ἤκουσ’ ἀνήκουστα δύστανος, ὥστε φρῖξαι. . οἴμοι τάλαιν’. Αἴγισϑε, ποῦ ποτ’ ὢν κυρεῖς; . ἰδοὺ μάλ’ αὖ ϑροεῖ τις. . ὦ τέκνον τέκνον, 1410 οἴκτιρε τὴν τεκοῦσαν. . ἀλλ’ οὐκ ἐκ σέϑεν ᾠκτίρεϑ’ οὗτος οὐδ’ ὁ γεννήσας πατήρ. . ὦ πόλις, ὦ γενεὰ τάλαινα, νῦν σοι μοῖρα καϑαμερία φϑίνει φϑίνει. . ὤμοι πέπληγμαι. . παῖσον, εἰ σϑένεις, διπλῆν. 1415 . ὤμοι μάλ’ αὖϑις. . εἰ γὰρ Αἰγίσϑῳ ϑ’ ὁμοῦ. . Aiai, io Ihr Häuser, [1405] verlassen von Freunden, voll aber von denen, die Vernichtung bringen! . Irgendwer schreit drinnen. Hört Ihr’s nicht, o Freundinnen? r Ich habe gehört, was ich nicht hätte hören sollen, ich Unglückliche, und ich schaudere. . Oh weh ich Elende! Aigisth, wo bleibst Du? [1410] . Schau an, da schreit schon wieder irgendwer. . O Kind, Kind, erbarme Dich Deiner Mutter! . Aber Du hast Dich seiner auch nicht erbarmt und auch nicht des Vaters, der ihn gezeugt hat. r O Polis, o unglückliches Geschlecht, jetzt vergeht, vergeht Dir das Tag für Tag auf Dir liegende Schicksal! [1415] . Oh weh, ich bin getroffen! . Schlag, wenn Du kannst, noch einmal zu! . Oh weh, schon wieder! . Wenn’s doch nur auch Aigisth träfe! Es wird also Blut für Blut vergossen, und Klytaimestra erhält die ihrer Tat angemessene Strafe. Dabei zeigt sich hier erneut, dass Elektras sprachliches Agieren wesentlich zum Vollzug der Gerechtigkeit beiträgt: Während man von Orest nichts hört, ist sie es, die erklärt, warum Klytaimestra ihre Strafe erleiden muss, also dem Vorgehen ihres Bruders erst einen Sinn abgewinnt; ferner schafft Sophokles, wie verschiedentlich beobachtet worden ist, 504 den Eindruck, dass Elektra mit ihren Zurufen ihren Bruder bei seinem Handeln anleite. Damit füllt Elektra die Funktion aus, in der sie im ersten Handlungsbogen eingeführt worden ist: diejenige als kraftvolle sprachliche Akteurin im Dienst einer vom Talionsprinzip geprägten Gerechtigkeit. Nun hatte dieser Handlungsbogen aber so geendet, dass Sophokles die Zuschauer, wie oben 4.2.3 gezeigt, auf eine zentrale Implikation von Elektras Handeln stieß, nämlich die, dass eine 314 4 Die Elektra <?page no="315"?> 505 Vgl. Finglass 2007, ad vv. 1398-1441. 506 Vgl. zu diesem Eindruck Kells 1973, ad vv. 1415 f.; Winnington-Ingram 1980, 234; Schein 1982, 78; Seale 1982, 74. 507 So z. B. Gardiner (1987, 170 f.) oder March (2001, ad vv. 1415 f.). von ihr beförderte Gerechtigkeit notwendig ‚hässlich‘ ist - eine Implikation, die er als problematisch herausstellte. Denn er machte deutlich, dass diese Implikation Elektra nicht vollumfänglich bewusst war, und suggerierte so, dass eine in ihrem Sinne vollzogene Gerechtigkeit kein angemessenes soziales Agieren ist. Diese Entwicklung wiederholt er nun hier: Dass seine Darstellung, insbesondere Elektras hasserfüllte Einlassungen - man beachte besonders die verächtlichen Indefinitpronomen, in denen sie in den vv. 1406 und 1410 von ihrer Mutter spricht, 505 sowie die Aufforderung zum erneuten Zuschlagen -, grausig, ‚hässlich‘ ist, kann nur schwer bestritten werden; 506 wer dies trotzdem tun möchte, 507 ist an die Kommentare des Chors zu verweisen, der die Situation in diesem Sinne auffasst, wenn er den „unsäglichen“ und „schauderhaften“ Charakter der Geschehnisse artikuliert und sich als „unglücklich“ bezeichnet. Nun ist die Feststellung dieser ‚Hässlichkeit‘ aber erst notwendig und noch nicht hinreichend, wenn man Elektras Agieren hier problematisiert sehen will. Hinreichend ist erst eine Betrachtung der kommunikativen Dynamik zwischen Elektra und dem Chor, deren Reaktionen bis jetzt erst getrennt besprochen worden sind. Betrachtet man nämlich den v. 1406, dann zeigt sich, dass Elektra über die Bezeichnung der Mitglieder des Chors als „Freundinnen“ Nähe zu diesen schaffen, die Ereignisse zusammen mit diesen aus einer gemeinsamen Perspektive verfolgen will, wobei diese vom Hass auf ihre Mutter - beachte τις - geprägt ist. Damit wird die metaleptische Anlage, die seit dem Gebet an Apollon greifbar war, fortgeführt: Elektras Aufforderung zum gemeinsamen „Hören“ (οὐκ ἀκούετ’…; 1406) eröffnet die Möglichkeit, dass die Zuschauer die Ereignisse zusammen mit allen auf der Bühne anwesenden Akteuren aus einer gemeinsamen Perspektive wahrnehmen und sich in die gemeinsame Reaktion dieser Akteure finden können. Entscheidend ist indes, dass es zu einer solchen konvergenten Reaktion der Akteure nicht kommt, wenn der Chor in der eben beschriebenen Weise sein „Unglück“ angesichts der „schauderhaften“ Ereignisse ausdrückt - sicher nicht die Reaktion, die Elektra erwartet hatte. Durch diese Kontrastierung problematisiert Sophokles Elektras Reaktion, wenn sie, im Unterschied zum Chor, kein Bewusstsein für den ‚hässlichen‘ Charakter der von ihr wesentlich beförderten Gerechtigkeit zeigt, sondern sich ihrem Hass 315 4.4 Der dritte Handlungsbogen: die Wendung ins Positive und zurück <?page no="316"?> 508 Vgl. Finglass 2007, ad vv. 1398-1441: „The chorus pointedly refuses to adopt a similar tone, despite Electra’s attempt to associate it with her remarks (cf. 1406 ὦ φίλαι).“; diese kommunikative Dynamik kommt in der Deutung von Harder (1995, 24) zu kurz, die in der Exodos ausschließlich ein Konvergieren zwischen der Perspektive der Elektra und derjenigen des Chors feststellt. Es handelt sich also eher um eine wenig erfolgreiche „versuchte Perspektivenunterschiebung“ im Sinne von Dimpel (2011, 115 f.), die einen negativen Sympathielenkungseffekt hat. 509 Vgl. Budelmann 2000, 260. 510 Beachte, dass die entscheidenden Stellen überdies korrupt sind: σοι 1413 und ψέγειν 1423 sind aus σε und λέγειν konjiziert, welche eine negative bzw. zumindest keine positive Deutung durch den Chor ergäben. Diese Konjekturen sind aber wohl unum‐ gänglich. ungebremst hingibt. 508 Sophokles wirkt der Vorstellung, dass die Ereignisse hier an ein Happy-End gelangt seien, entschieden entgegen. Dabei ist dieses ‚Nicht-Happy-End‘ aber differenziert zu fassen: Bereits im dritten Stasimon war die Perspektive des Chors durch eine Zerrissenheit charakterisiert. Denn er hatte zwar den sinisteren, im Rückblick kann man sagen, ‚hässlichen‘ Charakter der Ereignisse wahrgenommen, zugleich aber deutlich gemacht, dass er sich natürlich nicht wünscht, dass die Gerechtigkeit nicht verwirklicht werde. Diese Zerrissenheit zeigt er auch hier (vv. 1413 f. und 1422 f.): ὦ πόλις, ὦ γενεὰ τάλαινα, νῦν σοι 1413 μοῖρα καϑημερία φϑίνει φϑίνει. […] καὶ μὴν πάρεισιν οἵδε [sc. ὁ Ὀρέστης καὶ ὁ Πυλάδης]· φοινία δὲ χεὶρ 1422 στάζει ϑυηλῆς Ἄρεος, οὐδ’ ἔχω ψέγειν. [1413] O Polis, o unglückliches Geschlecht, jetzt vergeht, vergeht Dir das Tag für Tag auf Dir liegende Schicksal! […] [1422] Hier sind sie [sc. Orest und Pylades]; die blutbefleckte Hand tropft vom Aresopfer, und ich kann es nicht tadeln. Nachdem nämlich Elektra Klytaimestra auseinandergesetzt hat, warum diese sterben müsse, stellt der Chor fest, dass die Ereignisse eine Art ‚Befreiung‘ von Polis und Familie darstellen. Dabei ist er aber nach wie vor davon entfernt, Elektras Freude zu teilen, sondern fasst diese ‚Befreiung‘ in uneindeutigen Begriffen als „Dahinschwinden“ des Schicksals, 509 und vielleicht sollte man auch das Modalverb in „und ich kann es nicht tadeln“ (v. 1423) ernst nehmen. 510 Wichtig ist nun, dass dieser Zerrissenheit erneut ein soziales Moment eignet: Wenn Elektra den Chor als Kollektiv für ihre Reaktion auf die Rache zu mobi‐ lisieren versucht, dann ist dies der Versuch, die „Bürgerinnen“ zu mobilisieren, die, wie oben 4.4.2 gezeigt worden ist, mit dem Vollzug der Rache ebenso befreit 316 4 Die Elektra <?page no="317"?> werden und, so könnte man meinen, allen Grund haben, mit ungetrübter Freude auf die Ereignisse zu reagieren. Wenn der Chor dann stattdessen mit der eben beschriebenen Zerrissenheit reagiert und in den vv. 1413 f. den Blick explizit auf die Polis weitet, dann wird deutlich, dass die Problematik von Elektras Agieren, die Sophokles hier herausarbeitet, erneut eine soziale, hier genauer: erneut eine ‚politische‘ ist (‚politisch‘ als Adjektiv zu ‚Polis‘): Elektra mag ihr „Unglück“, das sie durch‐ gehend belastet hatte (vgl. δύστηνος 77, 677 u.ö.), überwunden haben, doch die „unglückliche“ (δύσ- / τανος 1407 f.) Polisgemeinschaft sieht die Dinge anders. Das ‚Nicht-Happy-End‘ präsentiert sich somit besonders in der Art, dass der von Elektra erhobene Anspruch einer pro-sozialen Vorbildlichkeit ihres Vorgehens unterlaufen wird: Gewiss, die Gemeinschaft konnte sich nicht wünschen, dass Klytaimestra und Aigisth ungestraft davonkommen, doch zufrieden sein kann sie mit den erreichten Resultaten nicht - und dies gilt auch für die Zuschauer in ihrer lebensweltlichen Identität als Polisbürger, die verfolgen, wie die sophokleische Darstellung die Stückhandlung nicht zu einem kollektiven Triumph führt, sondern in ein moralisches Vakuum. Von solcher Art ist die Problematisierung, die Sophokles in der vorliegenden Szene leistet, nachdem er die Zuschauer davor, mit Elektras Gebet, erneut für eine scheinbar unproblematische Gerechtigkeit engagiert hatte. 4.5 Der vierte Handlungsbogen: das pessimistische Stückende Im Anschluss an den Vollzug von Klytaimestras Tötung eröffnet Sophokles indes erneut - ein letztes Mal - den Weg zu einem Ende, an dem die eben herausgearbeiteten Probleme in den Hintergrund treten könnten. Auch wenn Elektra sich nämlich unmittelbar vor ihrem Abgang in den Palast in den Dienst des Vollzugs der Rache gestellt hatte, so war die dortige Konvergenz zwischen den Perspektiven der Beteiligten doch eine einseitig geschaffene gewesen: Orest und Pylades hatten sie einfach stehen lassen, und es war nicht gewiss, ob sich die beiden Geschwister inzwischen, während Elektras Aufenthalt im Palast, wieder so vollständig angenähert haben, wie dies in der Anagnorisis-Szene der Fall gewesen war. Unter diesem Gesichtspunkt räumt Sophokles nun aber jeden denkbaren Zweifel aus (vv. 1424-1427 und 1430-1436): . Ὀρέστα, πῶς κυρεῖ τάδ’; . τἀν δόμοισι μὲν καλῶς, Ἀπόλλων εἰ καλῶς ἐϑέσπισεν. 1425 . τέϑνηκεν ἡ τάλαινα; . μηκέτ’ ἐκφοβοῦ 317 4.5 Der vierte Handlungsbogen: das pessimistische Stückende <?page no="318"?> μητρῷον ὥς σε λῆμ’ ἀτιμάσει ποτέ. […] . παύσασϑε, λεύσσω γὰρ Αἴ- 1428 γισϑον ἐκ προδήλου. […] . ὦ παῖδες, οὐκ ἄψορρον; . εἰσορᾶτε ποῦ 1430 τὸν ἄνδρ’; . ἐφ’ ἡμῖν οὗτος ἐκ προαστίου χωρεῖ γεγηϑὼς ‹ ¯ ˘ ¯ × ¯ ˘ ¯ › . βᾶτε κατ’ ἀντιϑύρων ὅσον τάχιστα, νῦν, τὰ πρὶν εὖ ϑέμενοι, τάδ’ ὡς πάλιν - . ϑάρσει· τελοῦμεν. . ᾗ νοεῖς ἔπειγέ νῦν. 1435 . καὶ δὴ βέβηκα. . τἀνϑάδ’ ἂν μέλοιτ’ ἐμοί. . Orest, wie verhält sich dies? r. Das im Palast verhält sich [1425] gut, wenn Apollon ein gutes Orakel erteilt hat. . Ist die Unglückselige tot? r. Nicht mehr fürchte, dass der mütterliche Mutwille Dich entehre! […] r Haltet ein, denn ich sehe Aigisth deutlich kommen! […] [1430] . Ihr Kinder, geht zurück! r. Wo seht Ihr den Mann? . Zu uns her aus der Vorstadt kommt er, frohen Mutes […] r Geht in die Eingangshalle, so schnell wie möglich jetzt, nachdem Ihr davor einen glücklichen Ausgang erreicht habt, damit Ihr dies erneut… [1435] r. Sei guten Mutes! Wir werden es vollbringen. . Wohin Du zu gehen planst, dorthin eile jetzt! r. Ich bin schon weg! . Um die Dinge hier aber will ich mich kümmern. Orest reagiert auf die Nachfrage Elektras ohne jede Geringschätzung, sondern berichtet ihr, dass sie nun keine „Entehrung“ vonseiten ihrer Mutter mehr zu fürchten habe. Dieser empathische Umgang, den man durchaus dem Fehlen des Einflusses des von der Bühne verschwundenen Alten auf dessen Schüler Orest zuschreiben kann, unterscheidet sich deutlich von der Behandlung seiner Schwester, die er vor seinem Eintritt in den Palast an den Tag gelegt hatte, wobei dieser Unterschied besonders deutlich wird dadurch, dass Orest nun, und zwar vom Chor in den vv. 1428 f., selbst ermahnt werden muss, sich auf den noch vor ihm liegenden Teil der Aufgabe zu konzentrieren und sein Gespräch abzubrechen, statt dass er seine Schwester zum Schweigen zu bringen versuchte, um endlich ungestört Fakten schaffen zu können. Dieses Konver‐ gieren der Perspektiven der beiden Geschwister erlaubt es, ihrer Tat erneut Sinn abzugewinnen, und zwar als Befreiung der Elektra von ihrer „Entehrung“, und sich dafür engagieren zu lassen, dass diese nun, durch die Tötung des Aigisth, vollendet werde. Man kann also sagen, dass Sophokles die Handlung zurückführt zur Anagnorisis-Szene und alles seitdem Geschehene sozusagen einklammert: So wie hier hatte Orest dort Elektras „Entehrung“ erkannt (vgl. 318 4 Die Elektra <?page no="319"?> 511 In der Verwendung der Konjunktion εἰ 1425 hat man ein Zweifeln des Orest gesehen, doch dies ist nicht gerechtfertigt (siehe MacLeod 2001, 172 f. mit Anm. 34 f. für eine Doxographie und eine angemessene Deutung). ἀτίμως 1181 neben den vv. 1426 f.), und so wie dort kann man jetzt hoffen, dass diese nun vollständig beendet werde, was die Geschwister am Ende des eben zitierten Austausches gemeinsam in Angriff nehmen. Wer von den Zuschauern dies wollte, konnte hier die davor herausgearbeiteten Probleme erneut vergessen und sich erneut für ein ‚optimistisches‘ Ende engagieren lassen, an dem Sophokles seinem Publikum den Gefallen doch noch erweist, diese Probleme unter den Tisch fallen zu lassen und sich auf die positiven Implikationen der Rache zu konzentrieren. Besonders attraktiv ist dieses Ende dabei, weil die Vollendung der Rache erneut unter den beiden bekannten Gesichtspunkten ‚göttliche Gerechtigkeit‘ und ‚soziale Dimension‘ fassbar wird. Inmitten der endgültigen Annäherung der beiden Geschwister erinnert Orest die Zuschauer nämlich an die Sanktionierung der Rache durch Apollon, 511 so dass der Graben zwischen dem Gott und den Menschen endlich doch noch überwunden scheint: Was Apollon befohlen hat, ist auch das, was sich die Menschen wünschen, nämlich eben die Erlösung der Elektra. Ebenso ermöglicht er den Zuschauern in bis jetzt noch nicht erreichter Deutlichkeit ein soziales, ja sogar ein konkret politisches Verständnis der Rache. Dies leistet der Auftritt des Aigisth, der, von Elektra glauben gemacht, er werde im Palast Orests Leichnam antreffen, befiehlt, die Tore zu öffnen, damit mögliche Widerständler eingeschüchtert würden (vv. 1458-1463): οἴγειν πύλας ἄνωγα κἀναδεικνύναι πᾶσιν Μυκηναίοισιν Ἀργείοις ϑ’ ὁρᾶν, ὡς εἴ τις αὐτῶν ἐλπίσιν κεναῖς πάρος 1460 ἐξῄρετ’ ἀνδρὸς τοῦδε, νῦν ὁρῶν νεκρὸν στόμια δέχηται τἀμά, μηδὲ πρὸς βίαν ἐμοῦ κολαστοῦ προστυχὼν φύσῃ φρένας. Ich befehle, die Tore zu öffnen und ihn vorzuführen allen Argivern und Mykenern, so dass sie ihn sehen, [1460] damit, wenn einer von ihnen davor leere Hoffnungen setzte auf diesen Mann, dieser jetzt, wenn er den Leichnam sieht, meine Zügel annimmt und nicht erst, wenn er mit Gewalt von mir gezüchtigt worden ist, verständig wird. Auf diese Weise kommt es zu einer markierten Annäherung der Perspektive der Zuschauer an diejenige der Bürger von Argos, die in einer erneut metaleptischen Entwicklung selbst zu Adressaten von Aigisths Demonstration werden, wenn 319 4.5 Der vierte Handlungsbogen: das pessimistische Stückende <?page no="320"?> 512 Vgl. Ringer 1998, 205; Budelmann 2000, 261f. 513 Vgl. Woodard 1964, 198, wenngleich im Rahmen einer ‚optimistischen‘ Deutung. 514 Lloyd-Jones und Wilson (1990a) athetieren nach v. 1484 zwei Verse. sie den Leichnam „gezeigt“ erhalten (vgl. κἀναδεικνύναι 1458, ὁρᾶν 1459): 512 Sie können ihre Perspektive mit derjenigen der Bürger der Polis des Stücks in eins setzen und sich in dieser lebensweltlichen Identität im Hinblick auf eine wünschenswerte Lösung engagieren lassen, die in der Beseitigung des Tyrannen Aigisth besteht. Auch hier gilt aber, dass das beschriebene Engagement - und damit auch die Entwicklung des ganzen Stücks - in ein moralisches Vakuum führt. Der Grund liegt paradoxerweise im eben herausgearbeiteten Konvergieren der Perspektiven der Geschwister. Dieses bleibt nämlich im weiteren Verlauf der Exodos greifbar: Das Agieren der beiden Geschwister assimiliert sich, ohne dass sie freilich ihre Individualität verlören - also eine echte Synthese im oben 1.3.2 beschriebenen Sinne. 513 Entscheidend ist indes, dass sich dieses Konvergieren in einer Weise präsentiert, dass die jeweilige Problematik des spezifischen Agierens der beiden Geschwister, wie sie im Verlauf des Stückes herausgearbeitet worden ist, nun sozusagen einfach den Träger gewechselt hat und so gerade greifbar bleibt. Nimmt man nämlich zunächst Elektra in den Blick, dann zeigt sich die bewahrte Individualität besonders deutlich in dem Moment, in dem Aigisth erkennt, was ihm bevorsteht. Ihm wird nämlich, nachdem er die Bühne betreten hat, der vermeintliche Leichnam des Orest als derjenige seiner Frau enthüllt. Er erkennt dann, dass er verloren ist, und bittet darum, etwas sagen zu dürfen, was ihm Elektra aber verweigert (1482-1489 514 ): A . ὄλωλα δὴ δείλαιος. ἀλλά μοι πάρες 1482 κἂν σμικρὸν εἰπεῖν. . μὴ πέρα λέγειν ἔα, πρὸς ϑεῶν, ἀδελφέ, μηδὲ μηκύνειν λόγους. ἀλλ’ ὡς τάχιστα κτεῖνε καὶ κτανὼν πρόϑες ταφεῦσιν ὧν τόνδ’ εἰκός ἐστι τυγχάνειν, ἄποπτον ἡμῶν. [1482] Ai . Ich bin verloren, ich Unglücklicher! Aber gestatte mir, noch etwas Kleines zu sagen. . Lass ihn nicht weiterreden, bei den Göttern, Bruder, und nicht das Gespräch in die Länge ziehen! Vielmehr töte ihn so schnell wie möglich und übergib ihn, wenn Du ihn getötet hast, den Bestattern, die dieser verdient, weit weg, uns aus den Augen. 320 4 Die Elektra <?page no="321"?> 515 Finglass 2007, ad vv. 1487 f.; Schmitz 2016, ad v. 1488. 516 Vgl. zum Folgenden Kitzinger 1991, 325. 517 So zum Beispiel Alexanderson (1966, 94) oder Szlezák (1981, 18). Dass Elektra in den vv. 1487-1489 davon spricht, Aigisths Leichnam Hunden und Raubvögeln vorzuwerfen, lässt sich kaum bestreiten; 515 entsprechend bleibt ihr mächtiger Hass nach wie vor greifbar, der sie durchgehend und besonders deutlich während der Tötung der Klytaimestra charakterisiert hatte; soweit ihre bewahrte Individualität. Zugleich indes tut Elektra hier etwas, was sie davor nicht getan hatte: 516 Sie unterdrückt eine Diskussion, während sie bisher immer das Opfer von Versuchen gewesen war, Sprache zu unterdrücken, deutlich zuletzt vonseiten Orests und des Alten im Anschluss an die Anagnorisis-Szene, und auch Klytaimestra in der Tötungsszene eine ‚Diskussion‘ darüber, warum diese sterben muss, nicht versagt hatte. Wer von Elektra eine Ausführung über den Sinn der Geschehnisse erwartet, sieht sich enttäuscht, und darin liegt eine Assimilation an das ‚effiziente‘ Agieren des Orest. Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass dieses Verhalten aufgrund der mit Händen zu greifenden Widerwärtigkeit des Aigisth unproblematisch sei: Dieser habe sich selbst deutlich genug verurteilt. 517 Dieser Einwand trägt allerdings dem zu wenig Rechnung, was folgt. Denn Aigisth lässt sich bei seiner Wegführung in den Palast durch Orest nicht zum Schweigen bringen (vv. 1491-1504): . χωροῖς ἂν εἴσω σὺν τάχει· λόγων γὰρ οὐ νῦν ἐστιν ἁγών, ἀλλὰ σῆς ψυχῆς πέρι. Α . τί δ’ ἐς δόμους ἄγεις με; πῶς, τόδ’ εἰ καλὸν τοὔργον, σκότου δεῖ, κοὐ πρόχειρος εἶ κτάνειν; . μὴ τάσσε· χώρει δ’ ἔνϑαπερ κατέκτανες 1495 πατέρα τὸν ἀμόν, ὡς ἂν ἐν ταὐτῷ ϑάνῃς. Α . ἦ πᾶσ’ ἀνάγκη τήνδε τὴν στέγην ἰδεῖν τά τ’ ὄντα καὶ μέλλοντα Πελοπιδῶν κακά; . τὰ γοῦν σ’· ἐγώ σοι μάντις εἰμὶ τῶνδ’ ἄκρος. Α . ἀλλ’ οὐ πατρῴαν τὴν τέχνην ἐκόμπασας. 1500 . πόλλ’ ἀντιφωνεῖς, ἡ δ’ ὁδὸς βραδύνεται. ἀλλ’ ἔρφ’. Α . ὑφηγοῦ. . σοὶ βαδιστέον πάρος. Α . ἦ μὴ φύγω σε; . μὴ μὲν οὖν καϑ’ ἡδονὴν ϑάνῃς· φυλάξαι δεῖ με τοῦτό σοι πικρόν. r. Geh schnell hinein; dies hier ist kein Redewettkampf, sondern ein Kampf um Dein Leben. Ai . Warum führst Du mich ins Haus? Warum, wenn dieses Werk schön ist, bedarf es der Dunkelheit, statt dass Du mich hier sofort töten würdest? [1495] r. Mach mir keine Vorschriften, sondern geh dorthin, wo Du meinen Vater getötet hast, 321 4.5 Der vierte Handlungsbogen: das pessimistische Stückende <?page no="322"?> 518 Zu Orests Agieren als Verwirklichung des Talionsprinzips vgl. Horsley 1980, 21 Anm. 16; Blundell 1989, 176. 519 Vgl. Finglass 2007, ad vv. 1442-1504; Allan 2013, 608. 520 Für eine Doxographie siehe MacLeod 2001, 179 Anm. 51. damit Du an demselben Ort stirbst. Ai . Aber ist es wirklich nötig für dieses Haus, dass es die gegenwärtigen und kommenden Übel der Pelopiden sieht? r. Deine Übel; dies sag ich Dir als Seher genau voraus. [1500] Ai . Dein Vater besaß die Kunst nicht, derer Du Dich rühmst. r. Viele Widerrede bringst Du vor, und der Gang verzögert sich. Auf also! Ai . Führe Du mich! r. Du musst vorangehen. Ai . Damit ich Dir nicht entkomme? r. Damit Du nicht mit Freuden stirbst; ich muss sicherstellen, dass es bitter wird für Dich. Was Elektra also unterdrücken wollte, ist eine Feststellung, die, bei aller Widerwärtigkeit des Feststellenden, gerade angesichts des in den vv. 1487-1489 greifbaren Hasses nicht müßig ist. Wenn Aigisth nämlich sarkastisch nach der „Schönheit“ des Unterfangens fragt, dann werden die Zuschauer an die in dessen ‚Hässlichkeit‘ liegende Problematik erinnert. In seiner eigenen Weigerung, lange Reden zuzulassen (vv. 1491f.), lässt sich nun auch eine Fortführung von Orests davor greifbarer Effizienzorientierung sehen, also eine bewahrte Individualität; ebenso zeigt seine Perspektive aber eine Assimilation an diejenige, die davor Elektra durchgehend eigen gewesen war. Denn mit der Antwort, die Orest Aigisth gibt - dieser müsse dort sterben, wo er Agamemnon getötet habe -, folgt er einem Grundsatz, der bisher die Reaktion seiner Schwester geprägt hatte, während er für ihn ohne entscheidende Relevanz gewesen war: dem Talionsprinzip, 518 und wie seine Schwester davor zeigt er in seiner Antwort kein Bewusstsein für die darin liegende ‚Hässlichkeit‘, auf die er in seiner Erwiderung nicht eingeht. 519 Auf diese Weise also trägt das aus bewahrter Individualität und Assimilation bestehende Konvergieren der Perspektiven der Elektra und des Orest zur Problematisierung der nunmehr gemeinsamen Reaktion bei, im Hinblick auf welche sich die Zuschauer zu Beginn des vierten Handlungsbogens erneut hatten engagieren lassen können. Dies bereitet nun den negativen Eindruck vor, mit dem das Gespräch endet. Aigisth lässt nämlich nicht locker, sondern fragt, warum das Haus die „gegen‐ wärtigen und künftigen Übel des Pelopidengeschlechts“ sehen müsse. Hierbei handelt es sich um eine umstrittene Stelle: 520 Wird Aigisth gewissermaßen kurz vor seinem Tod zum Propheten, der ein Fortwirken des Geschlechterfluchs ähnlich wie in den Choephoren voraussagt, oder handelt es sich dabei um eine durchschaubare Verunsicherungsstrategie? Diese Alternative muss nicht so scharf gefasst werden: Aigisth will Orest wohl tatsächlich verunsichern 322 4 Die Elektra <?page no="323"?> 521 Vgl. Alexanderson 1966, 96f. 522 MacLeod (2001, 182 f.) versucht, der Problematik der von ihr zurecht erkannten ‚Häss‐ lichkeit‘ in dieser Szene beizukommen, indem sie annimmt, Orests Verhalten ziele darauf ab, diese unausweichlich vorhandene Tatsache zu minimieren, namentlich, indem er die Tötung im Inneren des Palasts vollziehe; dafür gibt es aber keinen Anhaltspunkt im Text (so zutreffend Finglass [2007, ad vv. 1493 f.]). (vgl. das sarkastische κοὐ πρόχειρος εἶ κτάνειν; 1494 sowie den spöttischen Ton in den vv. 1500 und 1503), 521 doch dies bedeutet keineswegs, dass das Mittel, dessen er sich dabei bedient, pure Fiktion ist. Seine Aussage lässt sich im Gegenteil durchaus so verstehen, dass er ein Bewusstsein zeigt für die inhärente Problematik des von Orest eben erst affirmierten Talionsprinzips, wie sie im Verlauf des Stückes herausgearbeitet worden ist: dass dieses zwar keine Erinyen heraufbeschwört, Elektra (und Orest) ebenso wenig ‚seelisch tot‘ zurücklässt und keine Vergeltung von Unrecht mit Unrecht ist, aber durch seine ‚Hässlichkeit‘ auch keine befriedigende Auflösung erlaubt. Entscheidend ist dabei, dass Sophokles bei der Problematisierung, die Aigisths Gespräch mit Orest leistet, erneut einen sozialen, genauer: einen politischen Schwerpunkt setzt. Denn Orest lässt sich nicht beirren, sondern führt Aigisth in den Palast; dabei gibt er, nota bene der neue König, einen Einblick in sein Denken (vv. 1505-1507): χρῆν δ’ εὐϑὺς εἶναι τήνδε τοῖς πᾶσιν δίκην, 1505 ὅστις πέρα πράσσειν γε τῶν νόμων ϑέλοι, κτείνειν· τὸ γὰρ πανοῦργον οὐκ ἂν ἦν πολύ. [1505] Es wäre nötig, dass diese Strafe sogleich folge, wenn einer die Gesetze übertreten will: diesen zu töten; dann gäbe es nicht viel Übeltäterei! Orest ordnet den von ihm bewerkstelligten Vollzug der Rache also, ganz ähnlich, wie dies Elektra getan hatte, in einen sozialen Kontext ein, und zwar den der Polis: Sein Vorgehen ist eines, an dem sich eine solche Gemeinschaft, wenn sie ihr ‚Strafrecht‘ formuliert, ein Beispiel nehmen sollte, ja sie täte sogar gut daran, das Vergießen von Blut für Blut zu radikalisieren und jeden Missetäter kurzerhand hinzurichten. Wenn man nun bedenkt, dass genau dieses Vorgehen systematisch problematisiert worden ist, wird deutlich, dass Sophokles die Zuschauer an eine Situation heranführt, in der es ihnen denkbar schwer gemacht wird, mit Orests politischer ‚Moral‘ zufrieden zu sein und sich in ihrer Identität als Menschen im allgemeinen und Glieder einer Polisgemeinschaft im Beson‐ deren daran zu orientieren. 522 Auf diese Weise fügen sich alle Handlungsbogen des Stücks zu einem übergeordneten Bogen, an dessen Ende ein moralisches Vakuum steht: Die stets von neuem geweckte Hoffnung auf eine unproblema‐ 323 4.5 Der vierte Handlungsbogen: das pessimistische Stückende <?page no="324"?> 523 Finglass (2007, ad vv. [1508-1510]) athetiert die Schlussverse des Chors - sicher eine zu radikale Maßnahme (so zurecht Reitze [2017, 420]), auch wenn sie der hier vorgestellten Deutung eingestandenermaßen entgegenkäme. Finglass’ Diskussion ist aber darum wichtig, weil sie einen Hinweis liefert für die Identifikation des oder der Referenten von σπέρμ’ 1508: Er geht davon aus, dass der Referent nur Orest sein könne, und stellt u. a. fest, dass σπέρμα mit Genitiv nie einen Einzelnen, sondern immer eine Gruppe von Nachkommen bezeichne; davon ausgehend folgert er dann, dass dieser Ausdruck nicht authentisch sein könne. Tatsächlich aber ist es natürlich möglich, die Sache umzudrehen und festzustellen, dass σπέρμ’ aufgrund der von Finglass genannten Parallelen dann eben wahrscheinlich die Gruppe der Atreusnachkommen Orest und Elektra bezeichne. 524 Zum Fehlen des Ausblicks, die zur „Bitterkeit“ des Endes beitrage, vgl. Flashar 2000, 137. tische Gerechtigkeit ist schon immer illusorisch gewesen, und indem Sophokles diese Illusion durch die Ausgestaltung der Zuschauerinvolvierung immer von neuem genährt hat, ist der negative Eindruck am Ende desto abschließender. Diesen Eindruck besiegeln zuletzt die Schlussworte des Chors, in denen er sich zum Geschick der Nachkommen des Atreus - gemeint sind Orest und Elektra 523 - äußert (vv. 1508-1510): ὦ σπέρμ’ Ἀτρέως, ὡς πολλὰ παϑὸν δι’ ἐλευϑερίας μόλις ἐξῆλϑες τῇ νῦν ὁρμῇ τελεωϑέν. 1510 O Saat des Atreus, wie viel hast Du erlitten, jetzt aber bist Du mit Mühe zur Freiheit gelangt, [1510] nachdem Du durch dieses Unternehmen vollendet worden bist. Damit vollzieht der Chor die Entwicklung nach, welche den vierten Hand‐ lungsbogen geprägt hat: Nach den Leiden und den zwischenmenschlichen Verwerfungen, die das Stück geprägt hatten und im Rahmen einer mühseligen (vgl. μόλις 1509) Annäherung überwunden worden sind, sind die Geschwister vereint und haben sich von ihren Feinden befreit. Die Rache wird vollzogen, Gerechtigkeit ist verwirklicht worden, doch einen Blick in eine glücklichere Zukunft für sich selbst, die „Bürgerinnen“, tut der Chor nicht. Das Stück hat gezeigt, warum. 524 4.6 Was am Ende bleibt: die pessimistische ‚Botschaft‘ Sophokles verweigert den Zuschauern der Elektra also systematisch und end‐ gültig ein Happy-End. Die ‚Botschaft‘, an die er die Zuschauer durch die Rhetorik der Involvierung heranführt, ist also die, dass man der Problematik der im Stück durch das ‚hässliche‘ Vergießen von Blut für Blut vollzogenen Gerechtigkeit 324 4 Die Elektra <?page no="325"?> 525 Siehe 4.4.5 oben. 526 Vgl. 1.5.2 oben, bes. Anm. 66. 527 Vgl. Allan 2013, 599 mit Anm. 26; Erbse (1978, 299) sieht in Orests vv. 1505-1507 einen Bezug auf das athenische apagoge-Verfahren, also einen Schnellgerichts-Prozess, der u. a. bei Mord zur Anwendung kam (siehe auch Flashar 2000, 135); Schmitz (2016, ad nicht entkommen kann. Diese Problematik ist dabei insbesondere eine soziale: Das im Stück vollzogene Vorgehen ist keines, an dem sich eine Gemeinschaft, zum Beispiel eine Polis als menschliche Gemeinschaft par excellence, orientieren sollte - und doch gibt es keine Alternative zu einem solchen Vorgehen, da sich der Chor ja zu keiner Zeit gewünscht hat, dass Klytaimestra und Aigisth unge‐ straft davonkämen. 525 In dieser sozialen Ausprägung besitzt diese ‚Botschaft‘ natürlich eine besondere Relevanz für ein zeitgenössisches polisgebundenes Publikum. Dabei liegt diese Relevanz allerdings, im Unterschied zur Antigone und letztlich auch zum Aias, nicht darin, dass die Zuschauer auf die Möglichkeit hingewiesen werden, in ihrer Lebenswelt einen gelingenden Umgang mit einer in der Stückwelt nicht überwundenen Ambiguität zu finden: Das Ende ist, wie gesagt, pessimistisch. 526 Statt die Stücknämlich von der Lebenswelt der Zuschauer zu distanzieren, nähert Sophokles diese beiden Sphären einander deutlich an. Die Voraussetzung dafür schafft er, indem er die Zuschauer, wie im Verlauf dieser Analyse gezeigt, zur Identifikation mit den „Bürgerinnen“ (und Bürgern) von Argos einlädt. Ebenso wichtig - und bis jetzt noch nicht besprochen - ist jedoch die inhaltliche Nähe zwischen Stück- und Lebenswelt. Auf den ersten Blick stechen die Unter‐ schiede zwischen der Herstellung von Gerechtigkeit in der Elektra und in der Polis Athen ins Auge: Dort ‚private‘ Rache, das Vergießen von Blut für Blut, hier die Rechtspflege durch Gerichte, die Recht aus Unrecht schaffen. Tatsächlich aber überwiegen bei genauem Hinsehen die Parallelen. Dass nämlich die eben verwendete Beschreibung ‚private Rache‘ für die Geschehnisse in der Elektra nicht akkurat ist, ist oben gezeigt worden: Das Vergießen von Blut für Blut durch Elektra und Orest ist nicht nur eingebettet in die Schaffung von Recht aus Un‐ recht, es ist auch, in zunehmender Explizitheit, eingebettet in den Kontext einer menschlichen Gemeinschaft, genauer der Polis, wobei dieser Bezug am Ende, mit Orests ‚juristischer‘ Grundsatzaussage in den vv. 1505-1507, besonders deutlich ist - der neue König legt hier dar, wie er politisch denkt. Andererseits blieben auch in der Polis Athen die ‚archaischen‘ Rachemechanismen durchaus intakt: Dies lässt sich deutlich daraus ersehen, dass die Familie eines Mordopfers - und nicht Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft - für Strafverfolgung und Anklageerhebung zuständig war, und daraus, dass die Anwesenheit der Angehörigen bei der Hinrichtung zulässig war. 527 Besonders relevant in diesem 325 4.6 Was am Ende bleibt: die pessimistische ‚Botschaft‘ <?page no="326"?> vv. 1505-1507) hält - wohl zurecht - fest, dass ein zeitgenössischer Athener Orests vv. 1505-1507 nicht von Anfang an so ablehnend gegenübergestanden hätte, wie dies moderne Rezipientinnen und Rezipienten tun. 528 Vgl. Blundell 1989, 54 f. mit Anm. 141; Allan 2013, 603: „The new judicial process […] still maintains the ancient principle of ‚the doer suffers‘ (παϑεῖν τὸν ἔρξαντα, A. 1564) but now it becomes ‚the doer suffers… as long as he has been found guilty and deserving to suffer by a jury drawn from and so representing his community‘“. Zusammenhang sind auch die aischyleischen Eumeniden, gewissermaßen die Ätiologie des in Athen bestehenden ‚Systems‘, wo die Erinyen ins Gefüge der Polis eingegliedert werden, statt dass sie sozusagen als Fremdkörper daraus verbannt worden wären. Den in den Eumeniden erreichten Zustand kann man also auf die Formel bringen kann, dass das davor im Agamemnon, aber auch in den Choephoren gültige Talionsprinzip weiterhin greift, dass, wer sich vergangen hat, weiterhin leiden muss, doch dies nur dann, wenn ein Gericht in Vertretung der Polisgemeinschaft ihn für schuldig befunden und sein Leiden für gerecht erklärt hat 528 - die Überformung des Talionsprinzips durch eine sozial-politisch aufgeladene ‚Recht-gegen-Unrecht‘-Situation also, die auch die sophokleische Elektra prägt. Entscheidend ist nun, dass, wenn genau diese Gerechtigkeit sich am Ende der Elektra als für eine Polisgemeinschaft unbefriedigend erweist, diese Problemati‐ sierung aufgrund der eben beschriebenen Annäherung von Stück- und Lebens‐ welt auf die Letztere übergreift: Die Zuschauer werden auf die Unzulänglichkeit ihrer eigenen Rechtspflege gestoßen. Doch die Parallelität zwischen Stück- und Lebenswelt geht tiefer. Das Stück hatte nämlich deutlich gemacht, dass die Gemeinschaft, so problematisch die Rache auch erscheint, keine Alternative zu diesem Vorgehen hat, da man ja auf den Vollzug der Gerechtigkeit nicht einfach verzichten konnte. Auch darin konnte sich nun ein zeitgenössisches Publikum wiedererkennen, das sich ja auch nicht wünschen konnte, dass das Recht nicht durchgesetzt werde: Angesichts dessen, dass die Einführung eines staatsanwaltlichen, Rachemechanismen (zumindest idealerweise! ) mini‐ mierenden Systems, das eine Wendung ins Positive nach dem Vorbild der Antigone ermöglicht hätte, sicher jenseits des Horizonts eines zeitgenössischen Publikums lag, bleibt dieses am Ende der Elektra mit der pessimistischen ‚Botschaft‘ von der Unzulänglichkeit der eigenen Lebensform ‚Polis‘ zurück, statt affirmativ darauf gestoßen zu werden, dass diese die Überwindung eines 326 4 Die Elektra <?page no="327"?> 529 Pace Allan (2013, 612; vgl. 609), welcher der sophokleischen Elektra eine solche affir‐ mative ‚Botschaft‘ zuschreibt, dessen Deutung dieser Tragödie als geprägt von ‚privater Rache‘ aber der hier herausgearbeiteten Tatsache nicht gerecht wird, dass in dieser die Rache in einen sozialen und besonders politischen Kontext eingeordnet wurde. Eher abwegig ist das für den Athenbezug vorgebrachte Argument (Allan 2013, 608 Anm. 54), dass die Tatsache, dass ein Athener das Wagenrennen im ‚Botenbericht‘ gewonnen hat, Athen als positives Gegenbild zu den dramatischen Ereignissen darstelle. 530 Eum. 976-987; 1008f. 531 Zur Unmöglichkeit einer genauen Datierung siehe z. B. Schmitz 2016, 16f. 532 Man kann an die katastrophal gescheiterte Sizilienexpedition denken, die von Dekeleia ausgehende Dauerbelagerung oder den oligarchischen Umsturz des Jahres 411. 533 Vgl. zu möglichen Bezügen auf die Zeitstimmung Flashar 2000, 137. im Stück nicht überwundenen unbefriedigenden Zustands ermöglicht. 529 Der Optimismus namentlich der Antigone scheint weit entfernt. Über die Gründe für diesen Pessimismus in der Elektra kann man natürlich nur spekulieren; eine Spekulation aber drängt sich auf. Diese lässt sich am besten formulieren, wenn man noch einmal auf die Eumeniden zurückkommt, deren Endzustand die sophokleische Elektra, wie eben gesagt, in zunehmender Deutlichkeit prägt. In den Eumeniden wird nun insbesondere hervorgehoben, dass die dort erreichte Lösung für die Polis vorteilhaft ist, insofern sie deren Stabilität und auch deren Stärke gegen außen fördert. 530 Nimmt man nun eine - keineswegs gesicherte 531 - Spätdatierung der sophokleischen Elektra an, konkret auf die erste Hälfte der 410er Jahre, dann wäre dieses Stück in einer Zeit, der Spätphase des Peloponnesischen Krieges, entstanden, in der die eben besprochene Stabilität in Athen nicht mehr gegeben war, sondern sich die Krisensymptome mehrten. 532 Etwas pauschalisierend könnte man also sagen, dass die Zeitläufte die Lösung, wie sie die Eumeniden formulierten und wie sie auch in der Elektra verwirklicht worden ist, als eine Scheinlösung erwiesen hätten, und die Elektra somit als Ausdruck der pessimistischen Stimmung einer Zeit deuten, in der, um zuletzt wieder mit der Antigone zu sprechen, der Status der Polis als „Retterin“ des Einzelnen zweifelhaft geworden war. 533 327 4.6 Was am Ende bleibt: die pessimistische ‚Botschaft‘ <?page no="329"?> 534 Für eine graphische Darstellung der Handlungsabläufe aller drei Tragödien siehe ferner unten die Anhänge. 5 Ein Blick zurück, einer zur Seite und einer nach vorne Drei Tragödien, die insgesamt wohl über 40 Jahre des sophokleischen Schaffens umfassen, sind jetzt im Hinblick auf die Zuschauerinvolvierung durch Multiper‐ spektivität untersucht worden. Bei dieser Untersuchung wurde paradigmatisch vorgegangen, das heißt, die Stücke wurden ihren Plots folgend von vorne nach hinten analysiert - ein Vorgehen, das sich als sinnvoll erwiesen hat, insofern sich gezeigt hat, wie kunstvoll Sophokles verschiedene Handlungsbogen aneinan‐ derreiht und zu einem großen, das ganze Stück umfassenden Bogen verbindet. 534 Im Rückblick auf die Analysekapitel ist es aber wohl angezeigt, diese durch eine stärker syntagmatische Betrachtung schlaglichtartig zu ergänzen, also zu fragen, wo sich Parallelen zwischen den Stücken ergeben. Dabei fällt vor allem auf, dass sich alle drei Stücke durch eine Dialektik zwischen Involvierung durch Spannung und Engagement auszeichnen: Sophokles überführt wiederholt den einen Modus in den anderen und zurück. Diese Dialektik zeigt sich am ‚reinsten‘ beim Aias, wo Sophokles durch das ganze Stück hindurch zwischen diesen beiden Modi wechselt: In der ersten Stückhälfte findet sich ein Hin und Her zwischen der mit Aias’ philoi geteilten Hoffnung auf ein „Weichen“ ihres Herrn und der dilemmatischen Kontrastie‐ rung der Perspektiven der philoi auf der einen und des Aias auf der anderen Seite; diese Spannung wird in der zweiten Stückhälfte durch die Kontrastierung der Reaktion des Teuker mit derjenigen des Chors fortgeschrieben - mit einem Einschub, in dem das Engagement im Hinblick auf die Bestattung des Aias verstärkt wird -, bevor sie im Engagement aufgehoben wird, das sich auf Odysseus’ Agieren richtet. Im so erreichten Happy-End ist allerdings zwischen der allgemeinen Versöhnlichkeit des Teuker, des Odysseus und des Chors auf der einen und der Unversöhnlichkeit des Aias auf der anderen Seite nach wie vor eine Spannung greifbar, wie sie davor weite Teile des Stücks geprägt hat: Das zentrale Dilemma ist nicht überwunden. In der Antigone findet sich diese Dialektik ebenfalls, jedoch im Anschluss an eine - ihrerseits durch die Nutzung der Involvierung vorbereitete - aus‐ gedehnten Ruhestelle: Der Prolog lässt die Zuschauer mit einer Spannung zurück und involviert sie ins Stück; daran knüpft das Engagement im Hinblick <?page no="330"?> auf den Versuch des Chors an, Kreon zu einer nuancierteren Reaktion zu bewegen; dieses führt dann an die eben erwähnte Ruhestelle, danach indes entkoppelt Sophokles die emotionale und die intellektuell-normative Dimension der Sympathie; diese Spannung überführt er dann in Engagement zunächst im Hinblick auf eine Bestrafung des Kreon, dann auf die scheinbar mögliche Auflösung aller Probleme; dieses führt die Zuschauer dann aber an die Exodos heran, in der die emotionale und die intellektuell-normative Dimension der Sympathie, diesmal im Hinblick auf Kreon, erneut entkoppelt sind. Auch in der Elektra ist diese Dialektik greifbar, wobei dort die Zuschauer zunächst im Hinblick auf Elektras Reaktion, dann auf die des Alten und Orests engagiert werden, bevor das letztgenannte Engagement ebenfalls in eine Spannung überführt wird, wo die emotionale Dynamik für Elektra arbeitet, das Agieren des Alten (und Orests) aber durch die Feststellung gedeckt ist, dass diese nun einmal die Gerechtigkeit und die Anforderungen der Situation auf ihrer Seite haben; diese Spannung wird dann, mit Elektras Gebet, überführt in Engage‐ ment für die Verwirklichung einer scheinbar unproblematischen Gerechtigkeit; nachdem sich die entsprechende Hoffnung zunächst nicht erfüllt hat, werden die Zuschauer erneut engagiert, indem die davor greifbare Spannung zwischen Elektra und Orest endgültig überwunden wird, jede Distanz zwischen den Geschwistern verschwindet, bevor sich auch die dadurch geweckte Hoffnung auf eine unproblematische Lösung dann doch noch zerschlägt. Diese Dialektik zwischen Involvierung durch Spannung und Engagement hat sich also als zentraler Mechanismus erwiesen, wenn man die Art und Weise nachvollziehen will, in der Sophokles die impliziten Rezipienten durch Multiperspektivität involviert. Ausgehend von dieser Feststellung ist es nun möglich, den Bogen zu den Erwartungen zu schlagen, die in der Einleitung an die vorliegende Untersuchung formuliert worden sind: Die dort entworfene Heuristik, bestehend aus den beiden eben genannten Modi, hat es erlaubt, eine durchgehende Analyse dreier sophokleischer Stücke zu formulieren. Die These, dass die Zuschauerinvolvierung durch Multiperspektivität zentral ist für das dramatische Funktionieren sophokleischer Tragödien, hat sich also untermauern und durch systematische Analysen begründen lassen. Dass in diesen Analysen das interne und das externe Kommunikationssystem aufs engste verzahnt ist und diese beiden Systeme entsprechend im Sinne der oben 1.5.1 theoretisch fundierten kommunikativen Gesamtbetrachtung der Gat‐ tung ‚Tragödie‘ zusammengesehen werden müssen, hat sich ebenfalls gezeigt: Die zentrale Spannung in der ersten Hälfte des Aias hätte sich nicht nachvoll‐ ziehen lassen, wenn nicht gewürdigt worden wäre, wie die beiden Kontrahenten Tekmessa und Aias ihre Positionen einander durch die gezielte Aufnahme be‐ 330 5 Ein Blick zurück, einer zur Seite und einer nach vorne <?page no="331"?> stimmter Schlüsselbegriffe entgegenstellen; ebenso ist es gelungen, die bis anhin nicht befriedigend erklärte dramatische Funktionalisierung der berühmten Trugrede als Trugrede nachzuvollziehen, indem von ihrer kommunikativen Einbettung ausgegangen wurde; zentral für ein angemessenes Verständnis des Agons des Teuker mit Menelaos und Agamemnon hat es sich erwiesen, Teukers sprachliches Agieren insbesondere unter dem Gesichtspunkt zu würdigen, was er damit in der Situation zu erreichen versucht - und tatsächlich erreicht -, in der er sich befindet. In der Antigone hat eine Betrachtung von Kreons Auftrittsrede im Hinblick auf die Frage, wie er dadurch als kommunikativer Akteur auf die konkrete Situation reagiert, in der er sich befindet, gezeigt, dass die häufigen Versuche, sein Vorgehen im Lichte zeitgenössischer Auffassungen zur Funktion der Polis zu normalisieren, am Kern der Sache vorbeigehen; ebenso hat sich gezeigt, dass man die Wirkung des Auftritts des Haimon und des zweiten Auftritts der Antigone dann am besten versteht, wenn man sich Rechenschaft ablegt über die Möglichkeiten und insbesondere Einschränkungen, denen das sprachliche Agieren dieser Figuren unterworfen ist. In der Elektra zuletzt hat sich als entscheidend herausgestellt, nachzuvoll‐ ziehen, wie Sophokles die diametrale Kontrastierung der Perspektiven des Orest und des Alten auf der einen und der Elektra auf der anderen Seite wesentlich anhand grundverschiedener Auffassungen zum angemessenen Einsatz von Sprache durchführt und die Reaktionen beider Figuren(gruppen) hauptsächlich durch die Darstellung ihres spezifischen sprachlichen Agierens problematisiert; insbesondere hat sich dabei eine angemessene Deutung des bis jetzt in der Forschung weithin vernachlässigten ‚Botenberichts‘ gewinnen lassen, indem dessen Sprecher als kommunikativer Akteur betrachtet wurde. Bei der Analyse aller drei Stücke ist es ferner gelungen, das oben 1.5.1.2 entworfene nuancierte Verständnis des Phänomens ‚Chor‘ fruchtbar zu machen: Nicht nur in der Antigone, wo der Chor besonders prominent und traditionell besonders problematisch ist, sondern auch in den beiden anderen Stücken hat es sich als möglich erwiesen, die Beiträge des Chors jeweils als Ausdruck einer konsistenten, in einer bestimmten dramatischen Identität verankerten Perspektive zu deuten, dabei aber die verschiedenen Möglichkeiten - der Chor als Fokalisator und als Kollektiv, der Chor als Träger der Reflexion, der Chor als Chor - zu berücksichtigen, auf welche die Perspektive eines tragischen Chors eine besondere Verbindlichkeit besitzen kann. Dies hat die Untersuchung insbesondere befähigt, für die Parodoi, die Stasima der Antigone und der Elektra und das erste Stasimon des Aias Antworten vorzuschlagen auf die in der 331 5 Ein Blick zurück, einer zur Seite und einer nach vorne <?page no="332"?> Forschung häufig vernachlässigte Frage nach der dramatischen Rückbindung und Funktionalisierung dieser Lieder. Ebenso ist gezeigt worden, dass sich die Wirkung der Multiperspektivität in den sophokleischen Stücken nicht darin erschöpft, kunstvoll verschiedene Modi der Involvierung ineinander zu überführen und so einen übergeordneten, vom Prolog bis zur Exodos reichenden Handlungsbogen zu konstruieren. Vielmehr ist die Involvierung selbst funktionalisiert, und zwar im Hinblick auf die Vermittlung einer bestimmten ‚Botschaft‘ - ein Vorgehen, das jeweils unter dem Schlagwort der ‚Rhetorik der Involvierung‘ gefasst worden ist und das Fortschritte für die eigentliche Textinterpretation ermöglicht hat, indem herkömmliche Dichotomien haben überwunden werden können. Im Aias lag diese ‚Botschaft‘ in der Herausarbeitung der Grundambiguität, durch die das Verhältnis zwischen herausragendem Individuum und Gemeinschaft gekenn‐ zeichnet ist; in der Antigone bestand diese in der Darstellung der Grundspan‐ nung zwischen dem Zwang der Emotion und dem Zwang zur Vernunft, der sich insbesondere eine (demokratische) politische Gemeinschaft ausgesetzt sieht; in der Elektra schließlich plausibilisierte Sophokles die Wahrnehmung, dass eine Gerechtigkeit, wie sie dort ins Werk gesetzt wird, nicht unproblematisch sein kann, und zwar gerade dadurch, dass er seine Zuschauer immer wieder zur Hoff‐ nung anhielt, die Akteure könnten den ihrem Handeln inhärenten Problemen irgendwie doch noch entkommen, doch diese Hoffnung dann enttäuschte. Besonders festzuhalten ist, dass Sophokles bei der Vergabe seiner ‚Botschaften‘ das spezifische Potential des Mediums ‚Drama‘ nutzt. Denn diese werden nicht monologisch in der Form auktorialer, autoritativer Rezipientenansprache vergeben, die sophokleische ‚Didaktik‘ beruht im Gegenteil auf dem gekonnten Einsatz des Gegen-, Neben- und Miteinanders verschiedener, grundsätzlich gleichwertiger Perspektiven, mit denen der Dichter die Zuschauer konfrontiert und diese zur komplexen, emotionale und intellektuelle Momente umfassenden Reaktion einlädt, die als ‚Sympathie‘ (bzw. ‚Antipathie‘) bezeichnet wird: Dra‐ matische Technik und ‚philosophische‘ ‚Botschaft‘ sind untrennbar miteinander verknüpft und müssen darum auch in der literaturwissenschaftlichen Interpre‐ tation immer zusammengesehen werden. Dabei hat die paradigmatische Analyse der Stücke vom Prolog bis zur Exodos gezeigt, dass Sophokles diese ‚Botschaften‘ richtiggehend einschärft: Er vergibt diese nicht nur einmal, sondern führt die Zuschauer durch die oben beschriebene Dialektik, aber auch durch die wiederholte Darstellung ähnlicher Situationen - Aias’ und Teukers Kampf für Gerechtigkeit, Haimons und Antigones Gespräche mit Kreon - wiederholt an diese heran. Auf diese Weise erleichtert er es den 332 5 Ein Blick zurück, einer zur Seite und einer nach vorne <?page no="333"?> 535 Calder 1968, 389. 536 Budelmann 2000, 17f. ‚empirischen‘ Zuschauern, ihre Perspektive im Verlauf des Rezeptionsprozesses mit der im Text angelegten Rezeptionsperspektive in Deckung zu bringen. Die eben beschriebenen ‚Botschaften‘ berühren nun häufig die condicio humana - sind, etwas klischiert gesprochen, ‚zeitlos‘, und betreffen somit auch uns Heutige -, besaßen aber für ein zeitgenössisches Publikum im Athen ab den 50er Jahren des fünften Jahrhunderts wohl eine besondere Relevanz: Dass die Ambiguität herausragender Individuen im Verhältnis zur Gemeinschaft, wie sie der Aias einschärft, im Kontext der attischen Demokratie besonders empfunden wurde, liegt nahe. Deutlich greifbar ist der konkrete lebensweltliche Bezug ferner in der Antigone, „Sophokles’ politischer Tragödie“, 535 wo der Dichter e ne‐ gativo das Potential, aber auch die Verpflichtung eines demokratischen Systems affirmiert, Emotion und Vernunft produktiv aufzuheben, damit entscheidend über die Komplexitätseinebnungen zeitgenössischer Ideologie hinausgeht und im Gefüge der Polis auch einen Ort für seine dramatische Kunst findet, die eben‐ falls auf den beiden Ebenen ‚Emotion‘ und ‚Intellekt‘ funktioniert. In der Elektra zuletzt wird die pessimistische ‚Botschaft‘ von der Unangemessenheit einer auf Rache basierenden Gerechtigkeit politisch aufgeladen, die Polis hat also ihre in der Antigone affirmierte Funktion verloren, eine im Stück verweigerte Lösung ins Werk zu setzen, wobei man in dieser Darstellung möglicherweise einen Bezug auf die Zeitstimmung in der Spätphase des Peloponnesischen Krieges sehen kann, auch wenn dies natürlich offenbleiben muss. Soweit der Blick zurück; zwei Fragen bleiben noch: „Und die anderen? “ sowie „Wie weiter? “ 5.1 Und die anderen? Gegenstand dieser Untersuchung ist Sophokles, und es gibt, wie oben 1.4 sowie 5 erwähnt, gute Gründe, diesem Dichter ein besonderes Interesse an der Zuschauerinvolvierung durch Multiperspektivität zu unterstellen. Auch wenn es hier also, in den Worten von Budelmann, 536 darum gegangen ist, zu untersuchen, was Sophokles getan hat, und nicht darum, aufzuzeigen, dass Aischylos und Euripides dies in geringerem Umfang gemacht haben, so soll zum Ende doch noch ein kurzer und exemplarischer Blick auf die beiden großen Zeitgenossen des Sophokles geworfen werden, und zwar, auch dies nach dem 333 5.1 Und die anderen? <?page no="334"?> 537 Budelmann 2000, 264-266. Vorbild von Budelmann, 537 auf die jeweiligen Behandlungen des Elektra-Stoffes, wo ein derartiges Vorgehen am einfachsten ist. Sucht man hier nun nach den großen Linien und stellt zunächst einen Vergleich mit der euripideischen Elektra an, dann fällt auf, dass Sophokles eine ungleich komplexere und unstetere multiperspektivische ‚Landschaft‘ entworfen hat, geprägt von einem häufigen Wechsel zwischen Konvergenz und Kontrast innerhalb der Perspektivenstruktur, welcher der oben erwähnten Dialektik zwischen Spannung und Engagement zugrunde liegt: Dies zeigt zum Beispiel Elektras emotionales Sprechen, besonders ihre Klage. Dieses Vorgehen wurde von Sophokles mit alternativen Reaktionen kontrastiert - dem ‚ganz an‐ deren‘ Ansatz der Männer, aber auch der Kritik des Chors und der Chrysothemis -, wobei die Verhältnisse, in denen die Träger dieser Reaktionen zueinander stehen, beständig wechseln: Zunächst wird deutlich, dass Elektra keinen Platz hat im Plan der Männer, als Orest Elektra aber von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, lässt er vom Plan ab, sich Elektra nicht zu erkennen zu geben, nur, um seine Schwester dann zusammen mit dem Alten erneut an den Rand zu drängen, bevor er zuletzt erneut und endgültig eine gemeinsame Perspektive mit seiner Schwester findet und die Vollendung seiner Tat als Befreiung der Elektra von ihrem Leid versteht. Ebenso kritisiert der Chor Elektras spezifisches Agieren zunächst, lässt sich dann von dieser dafür mobilisieren, geht aber im Agon mit Klytaimestra überraschend deutlich auf Distanz, schlägt sich im zweiten Stasimon wieder auf Elektras Seite, bevor er zuletzt, während der Tötung der Klytaimestra, ihre Reaktionsvorgaben erneut nicht ratifiziert. Bei Euripides dagegen liegen die Dinge viel statischer. Denn auch seine Elektra nutzt ihre Klage, und zwar, ganz ähnlich wie bei Sophokles, um den Göttern ihr Leid gewissermaßen vor Augen zu stellen; konkret führt sie, wenn sie im Prolog eingeführt wird, niedere Tätigkeiten aus, was ihre schlimme Behandlung durch ihre Feinde für alle sichtbar macht (vv. 54-59): ὦ νὺξ μέλαινα, χρυσέων ἄστρων τροφέ, ἐν ᾗ τόδ’ ἄγγος τῷδ’ ἐφεδρεῦον κάρᾳ 55 φέρουσα πηγὰς ποταμίας μετέρχομαι γόους τ’ ἀφίημ’ αἰϑέρ’ ἐς μέγαν πατρί, οὐ δή τι χρείας ἐς τοσόνδ’ ἀφιγμένη ἀλλ’ ὡς ὕβριν δείξωμεν Αἰγίσϑου ϑεοῖς. O schwarze Nacht, Nährerin der goldenen Sterne, [55] in der ich dieses Gefäß, das auf meinem Kopf steht, trage, zu den Wasserquellen gehe und Klagen um den Vater zum 334 5 Ein Blick zurück, einer zur Seite und einer nach vorne <?page no="335"?> 538 Vgl. van Emde Boas 2017, 86f. hohen Äther aufsteigen lasse, nicht aufgrund von Notwendigkeit, sondern, um den Göttern die Verkommenheit des Aigisth zu zeigen. Entscheidend ist nun aber das Fehlen jeder Auseinandersetzung aufseiten von Elektras Gesprächspartnern mit dieser Reaktion. Besonders deutlich - man könnte sagen, fast bewusst deutlich - macht Euripides dies, wenn er Elektras Reaktion mit der Kritik ihres Ehemannes, eines armen Bauern, kontrastiert, der ihr, dem sophokleischen Chor und Chrysothemis ganz ähnlich, den unschickli‐ chen Charakter ihrer Tätigkeit vorhält. Denn in Elektras Auseinandersetzung mit dieser Kritik spielt ihre davor artikulierte Absicht keine Rolle mehr, den Göttern ihr Leiden vor Augen zu stellen, vielmehr erklärt sie ihr Handeln nun mit dem Ziel, ihren Ehemann zu unterstützen, und damit endet das Gespräch (vv. 71-73 und 77 f.): . […] δεῖ δή με κἀκέλευστον εἰς ὅσον σϑένω 71 μόχϑου ’πικουφίζουσαν, ὡς ῥᾷον φέρῃς, συνεκκομίζειν σοι πόνους. […] Α . εἴ τοι δοκεῖ σοι, στεῖχε· καὶ γὰρ οὐ πρόσω 77 πηγαὶ μελάϑρων τῶνδ’. . […] [71] Ich muss auch ohne Aufforderung, so sehr ich kann, die Arbeit erleichtern, damit diese für Dich einfacher sei, und die Arbeit zusammen mit Dir verrichten. […] [77] Bauer Wenn Du willst, dann geh; denn nicht weit sind die Quellen von diesem Haus. Dieses auf den ersten Blick kuriose Umschwenken kann man so deuten, dass Eu‐ ripides dadurch Elektras Isolation eindringlich darstellt, die in ihrem Ehemann keinen adäquaten ‚Partner‘ findet, der ihre Situation - eine junge Frau edler Abstammung, die in bittere Armut gezwungen worden ist - verstünde. 538 Dass dadurch ein besonderer emotionaler ‚Sog‘ vom Pathos ihrer Isolation ausgeht, liegt auf der Hand, und entsprechend könnte man durchaus argumentieren, dass die Zuschauer so für Elektras Agieren engagiert würden, mit dem sie gegen ihre mitleiderregende Situation zu kämpfen versucht. Entscheidend ist aber, dass Euripides von Anfang an darauf verzichtet, das Spiel von Nähe und Distanz zwischen den Perspektiven als Ressource einzusetzen, um die Zuschauer zu involvieren: Die Distanz zwischen den Figuren der Elektra und des Bauern entwickelt sich nicht im Verlauf ihres Gesprächs, indem Konvergenz in Kontrast überführt oder ein bereits bestehender Kontrast verstärkt würde, die Distanz 335 5.1 Und die anderen? <?page no="336"?> 539 vv. 167-174 (Chor), 175-189 (Elektra), 190-197 (Chor), 198-212 (Elektra; in den vv. 213 f. kündigt der Chor das Erscheinen des Orest an). 540 Vgl. Gould 1978, 52-58. ist vielmehr von Anfang an ein fait accompli, an dem sich nichts ändert. Dieses Vorgehen ist keinesfalls ein Mangel, aber es unterscheidet sich deutlich von dem, was von Sophokles bekannt ist. Diese deutlich statischere Darstellung prägt zunächst auch den weiteren Verlauf des Stücks. Denn Elektras Interaktion mit dem Chor ist von einer ganz ähnlichen Distanz geprägt, wie sie zwischen ihr und dem Bauern spürbar war - einer Distanz, und das ist hier entscheidend, mit der Euripides nicht ‚spielt‘, indem er sie bald verringerte, bald vergrößerte: War es im Verlauf des ersten Kommos der sophokleischen Elektra zu einem schrittweisen Konvergieren der entsprechenden Perspektiven gekommen - und dies erst noch in zwei Durchgängen -, so zeigt bei Euripides bereits die Anzahl Repliken in Elektras Gespräch mit dem Chor nach dessen Erscheinen - vier 539 -, dass sich ein solches Hin und Her bei diesem Dichter nicht findet. Im Anschluss an den Auftritt des Orest kommt es aber unbestreitbar zu einem Konvergieren, insofern sich Orest Elektra zu erkennen gibt und sich die Geschwister in die Arme fallen. Dass hier das Engagement auf den Vollzug der Rache gelenkt wird, liegt nahe. Dennoch gibt es aber einen wichtigen Un‐ terschied zu Sophokles. Dieser nämlich hatte das Konvergieren der Perspektiven der Elektra und des Orest - vorläufig in der Anagnorisis-Szene, endgültig in der Exodos - durch die systematische Schaffung von Spannung vorbereitet, so dass diese desto willkommener erschien. Bei Euripides dagegen findet sich im Vorfeld der Anagnorisis keine derartige Spannung zwischen den Perspektiven der Geschwister, und zwar aus dem Grund, dass zwar das von Elektra dort geschilderte Leiden nachvollziehbar wird, Orests Motivation für sein Verhalten - er gibt sich Elektra sehr lange nicht zu erkennen - aber im Dunkeln bleibt: Man weiß ganz einfach nicht, warum er so reagiert, wie er dies tut; Euripides bereitet also die Anagnorisis nicht primär dadurch vor, dass er zwei verschiedene Reaktionen auf die Situation kontrastiert, vielmehr ist es schwierig, Orests Verhalten überhaupt als Reaktion auf die Situation zu fassen, in der er sich befindet - eine (typisch euripideische? 540 ) ‚Künstlichkeit‘, die aber dramatisch keineswegs ineffektiv sein muss. Denn gerade indem Euripides die Anagnorisis ‚künstlich‘ hinauszögert, erscheint diese besonders willkommen, insofern diese dann auch eine ‚Befreiung‘ aus einer Situation darstellt, in der man nicht so recht wusste, was man mit Orest anfangen sollte. Auch hier gilt also, dass das euripideische Vorgehen keineswegs mangelhaft ist, sich aber deutlich vom sophokleischen unterscheidet. 336 5 Ein Blick zurück, einer zur Seite und einer nach vorne <?page no="337"?> 541 Siehe z. B. Dubischar 2001, 327f. 542 Garvie 1986, xxxviii-xl. Das durch das eben erwähnte Konvergieren generierte Engagement führt die Zuschauer dann zunächst an die Tötung des Aigisth und darauf der Klytaimestra heran. Hier findet sich eine deutliche Ähnlichkeit zur sophokleischen Anlage. Denn dieses Engagement führt nicht zu einer einfachen Lösung, sondern vielmehr zu einer Situation, in der die auf der Bühne vollzogene göttliche Ge‐ rechtigkeit problematisiert wird, einer ‚Botschaft‘ also, die der sophokleischen ähnlich ist und auf ähnliche Weise vergeben wird. Dennoch gilt auch bei der Vergabe dieser ‚Botschaft‘, dass die Involvierung dafür nicht so zentral ist wie bei Sophokles. Denn bei Euripides tritt die Problematik in wesentlich drei Schritten immer deutlicher hervor: Nachdem die Zuschauer zu Beginn für das Agieren der Geschwister engagiert worden sind, sieht zunächst Orest unmittelbar vor dem Auftritt der Klytaimestra keinen Sinn mehr in seinem Vorgehen, doch wird von Elektra ins Haus geschickt, um der Mutter dort aufzulauern, was er auch tut; danach liefert sich Elektra einen Agon mit Klytaimestra, in dem die Problematik ihres Vorgehens greifbar wird; 541 nach ihrer erfolgten Tötung bereuen beide Geschwister, was sie getan haben. Bei Euripides kristallisiert sich der Eindruck der Sinnlosigkeit also sukzessive und linear heraus, ohne dass dazwischen von neuem die Illusion geschaffen würde, die Probleme könnten verschwinden, also das Engagement erneuert würde; genau eine solche Dialektik hatte sich aber bei Sophokles gefunden. Das heißt, die systematische Enttäuschung der Hoffnung auf eine unproblematische Lösung im Rahmen einer Rhetorik der Involvierung ist bei Euripides deutlich weniger wichtig für die Vergabe seiner pessimistischen ‚Botschaft‘. Unter dem Gesichtspunkt der systematischen Enttäuschung der Zuschauerhoffnung zeigt sich auch ein Unterschied zu den Choephoren. Dies lässt sich am besten nachvollziehen, wenn man an die Diskussion der Choephoren im Unterschied zum sophokleischen König Oidipus anknüpft, die A.F. Garvie 542 vorgenommen hat. Er argumentiert, dass sich das Ende der Choephoren mit der einsetzenden Verfolgung des Orest durch die Erinyen zwar als Peripetie im aristotelischen Sinne deuten lasse, sich diese Peripetie aber deutlich vom Umschlag im König Oidipus unterscheide, da dieser die Akteure überrasche, während Aischylos die Zuschauer von Anfang an darauf vorbereitet habe, indem er eine Stimmung geschaffen habe, die von düsteren Vorahnungen geprägt sei - Vorahnungen, welche die Akteure selbst artikuliert hätten. Die Affirmationen des Talionsprinzips präsentieren sich also nicht primär als Momente, in denen sich die Worte gegen ihre Sprecher wenden, wie dies, so kann man ergänzen, 337 5.1 Und die anderen? <?page no="338"?> in der sophokleischen Elektra, besonders im Agon mit Klytaimestra, der Fall gewesen war, vielmehr zeigen die Akteure häufig durchaus Bewusstsein für die Tatsache, dass die Rache an Agamemnons Mördern Teil eines Kreislaufs von Gewalt und Gegengewalt ist. In dieser Form - oder bloß Formulierung? - ist das Argument nicht ganz befriedigend, da Garvie das interne mit dem externen Kommunikationssystem vermischt, indem er sich beim König Oidipus auf die Perspektiven der Akteure konzentriert, bei den Choephoren aber diejenigen der Akteure und der Zu‐ schauer mehr oder weniger in eins setzt. Dennoch erfasst er einen Unterschied, der für die hier zu führende Diskussion zentral ist. Denn der entscheidende Erkenntnisgewinn der oben vorgenommenen Analyse der Elektra war ja genau der gewesen, dass Sophokles (wie auch im Aias und in der Antigone) die Zuschauer durch ihre Identifikation mit den verschiedenen Akteuren wiederholt im Hinblick auf eine einfache Lösung engagiert, bevor er diese Hoffnung sys‐ tematisch enttäuscht: Problematisierung und Entproblematisierung wechseln sich dort dialektisch ab, und dies ist, wenn man Garvies Deutung der Choephoren folgt, dort nicht der Fall. Während Sophokles also das Identifikationspotential der Rächer wiederholt erneuert, nachdem er es davor entschieden reduziert hat, um am Ende jede Hoffnung auf eine unproblematische Gerechtigkeit desto deutlicher zu enttäuschen, ist die aischyleische ‚Botschaft‘ von Anfang an fassbar, die Zuschauerinvolvierung spielt für ihre Vergabe, ähnlich wie bei Euripides, eine weniger tragende Rolle. Die eben vorgetragenen Überlegungen stützen somit das Postulat einer besonderen Bedeutsamkeit der Involvierung durch Multiperspektivität für die sophokleische dramatische Kunst. 5.2 Wie weiter? Eine Sache allerdings bedeuten die eben durchgeführten Überlegungen nicht, wie bereits die Rede von der besonderen Bedeutsamkeit der Involvierung durch Multiperspektivität gezeigt hat: dass diese ein exklusiv sophokleisches Phä‐ nomen ist. Vielmehr hat dieser ein Mittel, das ihm seine Gattung bot, besonders intensiv und - wenn diese Untersuchung gelungen ist - besonders gekonnt genutzt. Dies bedeutet, dass eine ausführlichere Untersuchung der Frage, in welchem Umfang und wie die anderen griechische Tragiker Involvierung durch Multiperspektivität genutzt haben, als sie auf den vorangegangenen wenigen Seiten geboten worden ist, durchaus lohnend sein könnte. Besonders könnte man beispielsweise der Frage nachgehen, ob Euripides, von dessen ‚Künstlichkeit‘ oben 5.1 die Rede gewesen ist, vielleicht manchmal 338 5 Ein Blick zurück, einer zur Seite und einer nach vorne <?page no="339"?> bewusst darauf verzichtet hat, seine Zuschauer zu involvieren. Dieser Verzicht könnte sich durchaus in den diesem Dichter immer wieder zugeschriebenen Intellektualismus fügen, mit dem er die Konventionen der Gattung reflektierte und auch dekonstruierte, in der er arbeitete, und seine Zuschauer zu entspre‐ chender distanzierter Reflexion und Dekonstruktion befähigen wollte. Auch denkbar wäre ein Zuschneiden des hier entworfenen und erprobten Handwerkszeugs auf die attische Komödie (oder auch das Satyrspiel). Dabei müsste insbesondere eine tiefergehende Diskussion geführt werden, inwieweit sich die Parabasen in eine ‚echt multiperspektivische‘ Struktur der Alten Ko‐ mödie fügen. Doch nicht nur Gattungs-, sondern auch Sprachgrenzen könnten überschritten werden und die Frage untersucht werden, ob und, wenn ja, inwiefern Involvierung durch Multiperspektivität für die fabula palliata oder für Seneca relevant ist. Eine Behandlung nicht-dramatischer griechischer und lateinischer Literaturgattungen könnte ebenfalls erprobt werden, hier ist aber der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Narratologie, die ja das Konzept der Involvierung ebenfalls kennt, das dafür nötige Handwerkszeug möglicherweise bereits bereitstellt: Wenn in Anm. 4 oben die Anwendung der Narratologie auf das Drama etwas kritisch gesehen wurde, dann wäre es ein wenig unehrlich, jetzt eine umgekehrte Übertragung tel quel als besonders innovativ darzustellen. Dass die vorliegende Untersuchung trotz dieser möglichen Einschränkung weitere Forschung anregt, ist zu hoffen, vor allem aber, dass sie einen Beitrag zum besseren Verständnis der sophokleischen Tragödie geleistet hat. 339 5.2 Wie weiter? <?page no="341"?> 6 Literaturverzeichnis 6.1 Primärliteratur Aischylos West 1990, M.L., Aeschyli tragoediae cum incerti poetae Prometheo, edidit M.L.W., Stuttgart. 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Achill 38, 43, 43 Anm. 89, 62, 100, 104 Anm. 180, 306 Agamemnon 94, 98, 100-110, 113-115, 186 Anm. 304, 231-233, 237, 243-246, 249, 252, 254, 258, 258-261, 263-270, 272-276, 281, 285 f., 291, 293, 308, 311, 313, 322, 331, 338 Aias 33-118 passim, 164 Anm. 273, 265 Anm. 419, 329 f., 332 aidos 56f., 109, 248, 256-259, 265 f., 271, 276 Aigisth 242, 249, 252, 257 f., 269, 283, 300, 306, 317-323, 325, 337 Aischylos 19 Anm. 29, 167, 210, 232-235, 257 f., 263, 270, 274, 280 f., 313, 333 Agamemnon 270 Anm. 427, 326 Choephoren 233-235, 239, 254-256, 258 f., 322, 326, 337 f.; siehe auch den Index locorum Eumeniden 326f.; siehe auch den Index locorum Aktivierung 12 alter Erzieher des Orest 18 Anm. 26, 233-241, 243, 254, 259 f., 280-291, 300 f., 306-309, 318, 321, 330 f., 334 Ambiguität 29, 34 f., 50, 62 f., 67 f., 74, 76 f., 83, 85, 87, 109 f., 116-118, 121 Anm. 202, 185, 232, 325, 332f. Anagnorisis Elektra (Euripides) 336 Elektra (Sophokles) 291, 299 Anm. 476, 300, 301 Anm. 479, 303, 311, 317 f., 321, 336 anaideia 257f., 265, 270 f., 276 Antigone 119-230 passim, 294, 331 Apollon 44, 231, 233 f., 237, 240, 263-266, 279, 281, 284 Anm. 454, 288, 310 f., 315, 319 Argos, Argiver 234, 237, 265 f., 276, 285 f., 300, 319, 325 Aristoteles 15 Anm. 16, 190 Anm. 323, 337; siehe auch den Index locorum ate 166, 222, 228 <?page no="354"?> Athen, Athener 38 Anm. 79, 43, 45, 80 f., 100, 103, 118, 121, 123 f., 133 Anm. 223, 150, 185-188, 190 Anm. 342, 229, 237, 325-327, 333 Athene 35-40, 43-45, 53, 61 f., 64, 66, 70, 74-76, 81, 83, 87, 118, 284 Bauer (Elektra, Euripides) 335f. Bote (Antigone) 221-224 ‚Botenbericht‘ (Elektra) 281, 283 f., 288, 299-301, 308, 327 Anm. 529, 331 Budelmann, F. 12, 19, 25, 333f. Chor Aias 25, 34 f., 40-75 passim, 77, 83-117 passim, 329 Antigone 25, 104, 121 f., 132-172 passim, 182 f., 194-230 passim, 330f. Choephoren 256, 262 Chor als privilegiertes In‐ strument der Zuschauerlen‐ kung 24-26, 152, 210, 216, 297, 331 Chorlieder als Reflexi‐ onsraum 26, 166f. Fokalisatorfunktion 26, 55, 64, 66, 93, 300 Anm. 478, 331 als Chor 25, 133 Anm. 223, 221 Anm. 363, 331 dramatische Identität 25, 42 Anm. 87, 66-68, 112 Anm. 184, 331 Elektra (Euripides) 336 Elektra (Sophokles) 241-253, 257, 264-266, 272, 276 f., 285 Anm. 455, 291- 294, 296 f., 299 f., 305, 312-318, 324 f., 334-336 Chrysothemis 250-252, 293-296, 305, 334f. Danae 212-216 Demokratie 103, 118, 186-189, 191, 229, 332f. Demosthenes 188; siehe auch den Index locorum Dialektik 39f., 71, 329 f., 332, 334, 337f. Dionysien, Große 26, 133 Anm. 223 Dionysos 133 Anm. 223, 216, 221 Anm. 363 dyssebeia 257f., 276, 311 Ehre (und/ oder Ruhm) 38, 53, 76, 117, 141, 148, 158, 179-181, 184, 235-238, 243 f., 250, 253, 259, 263, 265 f., 280 f., 284-288, 297 Elektra (Aischylos) 239 Anm. 394, 255, 260, 262 Elektra (Euripides) 334-337 Elektra (Sophokles) 18 Anm. 26, 108 Anm. 181, 231-282 passim, 284 f., 288-325 passim, 330 f., 334, 336 ‚empathetic understanding‘ 15 Anm. 16, 229 enargeia 284 354 7 Indices <?page no="355"?> Engagement Siehe Involvierung: Engagement Entkopplung der emotionalen von der intellektuellen Dimen‐ sion der Sympathie Siehe Sympathie: Entkopplung der emotionalen von der intellektuellen Dimension Erinye 115f., 252-256, 258, 263, 274-276, 313, 323, 326, 337 Eteokles 123f., 127 f., 132 f., 135, 159 eubulia 185-187, 189-191, 193, 208, 218-220, 225, 229 eugeneia 57, 131, 159 Euripides 29 Anm. 29, 70 Anm. 123, 242 Anm. 396, 333, 336, 338; siehe auch den Index locorum Elektra 334-337 Eurydike 223f., 226 Eurysakes 57, 60, 69, 100 eusebeia 248, 256-259, 266, 276, 297 Fokus Siehe Sympathie: Sympathielenkungsmittel: intellek‐ tueller und/ oder emotionaler ‚Sog‘, Fokus, Pathos Garvie, A.F. 337f. Gerechtigkeit (auch Recht, Un‐ gerechtigkeit, Unrecht) 86-88, 93, 95-98, 103 f., 107-110, 112, 116, 119 f., 129 Anm. 216, 130, 152 f., 196, 204, 208, 216 f., 220, 232-234, 243 f., 246, 248-252, 258 f., 262, 267 f., 270-279, 290, 297, 301, 310-317, 323 f., 326-330, 332 f., 338 Gerechtigkeit, göttliche 207, 231, 233 f., 253 f., 263-266, 279-281, 288-291, 297, 311, 319, 337 Gerrig, R.J. 24 Gruber, M.A. 23 Haimon 121f., 171-187, 189, 191-198, 205, 207 f., 217, 220-226, 331f. Handlungsbogen passim, bes. 27f. Happy-end 23, 28, 34, 69, 114, 122, 198, 219 Anm. 361, 316 f., 324, 329 Hegel, G.W.F. 30, 119, 121 Hektor 59-61 Heroismus 33, 38, 43-45, 48 f., 53-56, 59-61, 65, 71, 74, 76, 85-88, 110, 112, 131, 159, 201, 203, 280, 285 f., 288, 297, 306 extremistischer Heroismus 34f., 39 f., 43, 61 f., 66, 74, 76, 85, 117 ‚hero-worshipping‘ 30, 33, 76, 79, 83, 85, 129, 131 Homer 33, 39, 87 f., 103 Anm. 175, 110, 117, 141, 281, 286; siehe auch den Index locorum Hybris, hybris 33, 89, 91, 97, 110 Anm. 183, 257 Identifikation passim, bes. 13f. Identitätskonstruktion 142, 285-287 355 7.1 Namen und Sachen <?page no="356"?> Illokution 22f., 212, 284 Instrumentelles Sprachver‐ ständnis, Instrumentalität von Sprache, Effizienzdenken 236f., 244, 248, 251, 281, 288 f., 301-303, 305-309, 311, 321f. Involvierung passim, bes. 12 Engagement passim, bes. 15 Involvierung als Rhetorik 27-29, 34, 67, 74, 77, 85, 121 f., 136, 151, 191, 225, 290, 324, 332, 337 Involvierung durch Privile‐ gierung 14f., siehe auch Involvierung: Engagement Involvierung durch Span‐ nung passim, bes. 14f. Involvierung und Multiper‐ spektivität 13f. Involvierung wider bes‐ seres Wissen 23f., 77, 219 Anm. 361 Iphigenie 268, 270 Anm. 427, 273 Ismene 121-131, 134-136, 139-140, 144, 149, 154 f., 158-165, 170-172, 195, 197, 203 f., 228, 294 Kirkwood, G.M. 19 Klage (als Sprechakt) 232, 238-252, 257 f., 260, 265, 272, 289, 291-293, 297, 334 Kleopatra 212-217 Klytaimestra (Aischylos) 270 Klytaimestra (Euripides) 337 Klytaimestra (Sophokles) 232, 251 f., 257 f., 267-270, 273-275, 277, 279-285, 287- 290, 293, 300, 306, 314, 316 f., 321, 325, 334, 338 Kommunikation passim, bes. 20-23 dramatische Akteure als ‚Sprechakteure‘ passim, bes. 20 externes Kommunikations‐ system 22, 24, 28 Anm. 65, 72 Anm. 132, 89, 184, 198, 281, 330, 338 internes Kommunikations‐ system 22f., 24, 72 Anm. 132, 93, 112 Anm. 184, 330, 338 Komödie, attische 151 Anm. 258, 339 Kreon 119-230 passim, 330-332 Krieg, Peloponnesischer 327, 333 lebensweltliche Identität der Zuschauer, Hinwendung an die 100, 118 Anm. 192, 185, 187, 191, 209, 225, 229 f., 317, 320, 325 f., 333 Lloyd-Jones, H. 30 Lykurg (König der Edonen) 213-216 356 7 Indices <?page no="357"?> Lykurg (Redner) 188; siehe auch den Index locorum Medea 70 Anm. 123, 215 Menelaos 88-99, 102 f., 105, 107, 112, 268 f., 273, 331 Metalepse 266, 312, 315, 319 Multiperspektivität passim; siehe auch Perspektive Multiperspektivische ‚Landschaft‘ 22, 117, 127, 334 Multiperspektivität als Al‐ leinstellungsmerkmal des Dramas 11f., 117 Multiperspektivität und In‐ volvierung Siehe Involvierung: Involvierung und Multiperspekti‐ vität Mytilene, Mytilenäer 188, 190 Narratologie 11 Anm. 4, 287, 339 Odysseus 35-40, 45, 88, 111-117, 329 Oidipus 70 Anm. 123, 166, 204 ‚optimistische‘ Deutungen (Elektra) 30, 231 f., 319f. Orest (Aischylos) 234f., 239 Anm. 394, 255, 258, 260-262, 274, 336 Orest (Euripides) 336f. Orest (Sophokles) 18 Anm. 26, 232-237, 239-241, 243 f., 246, 250, 252-255, 259-263, 265, 279-289, 291, 293 f., 297, 299-311, 313 f., 316-325, 330 f., 334 ‚orthodoxe‘ Deutungen (Anti‐ gone) 30, 119 Parabase (Alte Komödie) 339 Pathos Siehe Sympathie: Sympathielenkungsmittel: intellek‐ tueller und/ oder emotionaler ‚Sog‘, Fokus, Pathos Peripetie 337 Perlokution 23 Perspektive passim; siehe auch Multiperspektivität Definition 13 dramatische Funktion 13f. Kontrastierung 14, 17, 34, 57, 74, 87 f., 108, 110, 135, 149, 153, 164, 184, 198, 205 f., 210, 228, 233, 239-241, 246, 277, 294, 315, 329, 331, 334-336 Konvergenz Siehe Sympathie: Sympathielenkungsmittel: Konver‐ genzprozesse Privilegierung 14f., 26, 28, 119, 223 ‚pessimistische‘ Deutungen (Elektra) 30, 231 f., 274, 301, 325-327, 333, 337 357 7.1 Namen und Sachen <?page no="358"?> Pfister, M. 13f., 22f. philia 47 Anm. 95, 50, 53 f., 57, 65, 67, 71, 74, 108, 140 Anm. 232, 143, 188, 260 Phineus 215-217 ‚pietists‘ (Aias) 30, 33 Platon 190 Anm. 323; siehe auch den Index locorum Polis 25f., 88, 118, 119-124, 127, 129-136, 138-153, 156-160, 163-167, 169-171, 175 f., 178-181, 183-191, 193 f., 201- 209, 212 f., 215 f., 221 f., 229 f., 237 Anm. 387, 300, 316 f., 319 f., 323, 325-327, 331-333 ‚politeness‘-Theorie 38 Anm. 79, 93, 116 Anm. 189, 181 Anm. 296 Polyneikes 123f., 127-135, 141, 143, 148 f., 158 f., 161, 203, 207, 217, 219, 220 Anm. 362, 221 ‚popular morality‘ 188, 190 Anm. 323, 194 Pragmatik 20, 38 Anm. 79, 93, 108, 183; siehe auch Kommunikation Pylades 234, 297, 305 f., 309, 311, 313, 317 Recht Siehe Gerechtigkeit Religion 25, 97, 119, 121, 144 f., 147 f., 153, 166, 170, 204 Rezeptionsästhetik 22-24 Reziprozität 42 Anm. 86, 53 f., 57, 62, 71, 85-87, 254, 256-259, 265, 271, 276, 278 f., 281; siehe auch Talionsprinzip Ruhestelle 27f., 63 f., 67, 86, 144, 153, 160, 329f. Satyrspiel 339 Seneca 339 Sophokles passim besonderes Interesse an der Involvierung durch Multi‐ perspektivität 19, 330, 333 dialogische Gestaltung der Prologe 19, 39 König Oidipus 337f.; siehe auch den Index locorum Oidipus auf Kolonos 209 Anm. 342, 229 Trachinierinnen 19 Anm. 31 sophrosyne 33, 36, 109 f., Sourvinou-Inwood, Ch. 187, 215 Spannung Siehe Involvierung: Involvierung durch Spannung; ‚suspense‘; ‚tension‘ Sprechakt 22, 238 f.; siehe auch Kommunikation: dramatische Akteure als ‚Sprechakteure‘ „struggling for more“ 12f., 27 f., 63 ‚suspense‘ 15 Anm. 14 358 7 Indices <?page no="359"?> ‚anomalous suspense‘ 24 Sympathie Entkopplung der emotio‐ nalen von der intellektu‐ ellen Dimension 18, 103, 120-122, 160, 171, 184 f., 198, 206 f., 209, 225, 228, 290, 306, 330 ‚Gesamtpaket‘-Charakter 15, 18, 229, 332 Sympathielenkungsmittel Emotionaler und/ oder intellektueller ‚Sog‘, Fokus, Pathos 16, 42, 50-52, 79, 100, 123, 129 Anm. 215, 226, 243, 293, 297, 335 Intertextualität 17, 59, 108 Konvergenzprozesse 17f., 45, 47 f., 54, 77, 83, 99, 129, 135, 139, 219, 236 f., 240, 244, 246, 250, 252, 277, 292, 299, 310, 315, 317 f., 320, 322, 334-337 ontologische Nähe, Iden‐ tität 16, 25, 42, 45, 229, 266, 300 ‚Werte‘ 16, 53f. Wissensstand, Fokalisa‐ tion 17, 89, 91 Talionsprinzip 232f., 235, 253 f., 256, 258-260, 262 f., 268, 270, 272, 274-276, 280, 300, 312-314, 322 f., 326, 337; siehe auch Reziprozität Teiresias 217-220, 225 Tekmessa 34f., 45-50, 53, 55-57, 59-61, 63-65, 69-74, 77 f., 84 f., 87, 100, 108, 164 Anm. 273, 265 Anm. 419, 330 Telamon 54, 74, 88 Anm. 156 ‚tension‘ 15 Anm. 14 Teuker 34, 70, 86-89, 91-100, 102 f., 105, 107-112, 114-117, 329, 331f. Theben, Thebaner 121, 123 f., 127, 131 f., 135, 145, 179-182, 184, 187, 191, 193, 201, 208, 219, 225 Trugrede (Aias) 68-75, 77 f., 84 f., 331 Ungerechtigkeit Siehe Gerechtigkeit Unrecht Siehe Gerechtigkeit ‚unhappy ending‘ 29, 78 Verfügbarkeit intentionaler Denkmuster 22, 201 Anm. 332 Wächter (Antigone) 143, 145 - 149, 151, 158, 197 Wilson, N.G. 30 Winnington-Ingram, R.P. 30, 33, 66, 275 Zeus 40, 44, 149, 169, 212 f., 246, 254 359 7.1 Namen und Sachen <?page no="360"?> Zuschauer, empirische 23, 333 Zuschauer, implizite passim, bes. 23f. 7.2 Index locorum Ai Choeph. 1 255 Choeph. 6f. 261 Choeph. 16-18 260 Choeph. 120-123 254 Anm. 405 Choeph. 142-144 254 Anm. 405 Choeph. 219 260 Choeph. 273f. 254 Anm. 405 Choeph. 299-301 261 Choeph. 309-314 254 Anm. 405 Choeph. 400-404 256 Choeph. 430-439 261f. Choeph. 443-445 262 Choeph. 456 262 Choeph. 490 255 Choeph. 497-499 254 Anm. 405 Choeph. 555-559 233 Choeph. 924 313 Anm. 498 Choeph. 937f. 313 Anm. 496 Choeph. 1054 313 Anm. 498 Eum. 131f. 313 Anm. 498 Eum. 246f. 313 Anm. 498 Eum. 534 257 Anm. 409 Eum. 976-987 327 Anm. 530 Eum. 1008f. 327 An. 530 Ari e e Poet. 1448a28f. 13 Anm. 9 Poet. 1449b24 13 Anm. 9 Poet. 1449b26f. 11 Anm. 3 Rhet. 1381a11-13 57 Anm. 109 De ene 19,247 140 Anm. 232 360 7 Indices <?page no="361"?> uri ide El. 54-59 334 El. 71-73 335 El. 77f. 335 El. 167-174 336 Anm. 539 El. 175-189 336 Anm. 539 El. 190-197 336 Anm. 539 El. 198-212 336 Anm. 539 El. 213f. 336 Anm. 539 Heracl. 411-414 188 Anm. 313 Heracl. 418f. 188 Anm. 313 Heracl. 423 188 Anm. 313 Suppl. 435-441 186 Anm. 308 r ia fr. 23 Diels-Kranz 24 Anm. 54 er d 5,78 186 e i d op. 293-297 186 Anm. 305 er Il. 2,360 186 Anm. 304 Il. 2,768f. 43 Anm. 89 Il. 3,225-227 43 Anm. 89 Il. 5,610 43 Anm. 89 Il. 6,467-473 59 Il. 6,476-481 60 Il. 24,798 100 Od. 9,515f. 170 Anm. 283 Od. 11,449-451 43 Anm. 89 ur Leocr. 6 140 Anm. 232 ere de fr. 95 Fowler 142 Anm. 240 361 7.2 Index locorum <?page no="362"?> indar O. 6,25f. 213 Anm. 346 a n Pol. 394b4-c2 11 Anm. 3 S e Ai. 79 284 Ai. 97-117 37 Ai. 113 38 Anm. 79 Ai. 118-133 36 Ai. 127f. 38 Ai. 132 76 Ai. 134f. 40 Ai. 141-145 40f. Ai. 148-150 41 Ai. 154f. 41 Ai. 158-161 41 Ai. 164-171 41 Ai. 172-186 43 Ai. 192-200 41 Ai. 201f. 45 Ai. 203-207 46, 48 Ai. 216f. 48 Ai. 216-226 46 Ai. 233f. 46 Ai. 266 47 Anm. 95 Ai. 317-322 48, 56 Ai. 348-353 74 Ai. 348-355 83 Anm. 148 Ai. 348-368 49f. Ai. 356-361 74, 83 Anm. 148 Ai. 362 54 Ai. 369 53 Anm. 101 Ai. 371 55, 69 Ai. 386 54 Ai. 410f. 55 Ai. 412-417 51 Ai. 428f. 54 Ai. 430-480 59 Ai. 432-440 51 362 7 Indices <?page no="363"?> Ai. 439 65 Ai. 445-452 51 Ai. 446 71 Ai. 449 87 Anm. 154 Ai. 457f. 51 Ai. 466-476 51f. Ai. 468 56 Anm. 106 Ai. 469 57 Ai. 473 57 Ai. 473-480 110 Ai. 475 57 Ai. 475f. 85 Anm. 150 Ai. 479f. 52 Ai. 480 53 Anm. 102, 57 Ai. 481-484 54 Ai. 485-524 72 Ai. 496-499 55 Ai. 505-507 55 Ai. 510-513 (2x) 55, 69 Ai. 520-524 56 Ai. 522 78 Ai. 523 108 Ai. 545-551 57 Ai. 556-570 57f. Ai. 578-585 58 Ai. 587f. 63 Ai. 589 164 Anm. 273 Ai. 594f. 63 Ai. 609-615 64 Ai. 616-620 65 Ai. 621-630 64 Ai. 635-640 64 Ai. 641-645 65 Ai. 646-649 84 Ai. 650-653 68f. Ai. 654-656 70 Anm. 120 Ai. 666-670 69 Ai. 677-683 69 Ai. 684-686 70 Anm. 125, 72, 73 Anm. 138, 84 Ai. 687-692 70 Anm. 126 Ai. 691f. 73 363 7.2 Index locorum <?page no="364"?> Ai. 758-775 75 Ai. 808f. 78, 83 Ai. 821-823 79 Ai. 826-830 79, 88 Ai. 829f. 112 Anm. 185 Ai. 831-844 79 Ai. 835-838 115 Ai. 843f. 116 Ai. 852-865 79f. Ai. 900-903 81 Ai. 902-1027 88 Anm. 156 Ai. 909-912 82 Ai. 925-927 84 Ai. 925-932 82 Ai. 944f. 81 Ai. 946-960 82 Ai. 955 89 Ai. 955-960 88 Ai. 966-968 84 Ai.1040-1043 89 Ai. 1047-1054 89 Ai. 1062f. 89 Ai. 1064f. 112 Anm. 185 Ai. 1066-1076 89f. Ai. 1069f. 112 Anm. 185 Ai. 1073 93 Anm. 163 Ai. 1085-1090 90 Ai. 1091f. 91 Ai. 1093-1102 92 Ai. 1107-1110 92 Ai. 1115-1119 92 Ai. 1126-1136 96 Ai. 1147-1155 96 Ai. 1159-1163 96 Ai. 1159 f. (2x) 102, 112 Ai. 1164-1175 99 Ai. 1182-1184 99 Ai. 1216-1222 118 Anm. 192 Ai. 1226-1263 101f. Ai. 1242-1245 109 Ai. 1264-1315 105f. 364 7 Indices <?page no="365"?> Ai. 1316-1327 111 Ai. 1332-1349 113 Ai. 1336-1339 117 Ai. 1347 117 Ai. 1374-1401 114 Ant. 4-8 123 Ant. 9-14 128 Ant. 21f. 128 Ant. 37f. 131 Anm. 220 Ant. 44-46 124 Ant. 49f. 124f. Ant.49-57 134 Ant. 55-57 128 Ant. 58-79 125 Ant. 79 203 Ant. 84-99 125f. Ant. 93f. 139 Ant. 100-102 132 Ant. 106-113 132 Ant. 141-151 133 Ant. 150f. 135 Ant. 152-154 133 Anm. 223 Ant. 164-169 136 Ant. 170-172 149 Ant. 173-193 136f. Ant. 175-177 145 Ant. 178-181 158 Ant. 180-190 145 Ant. 198 137 Ant. 203-214 137 Ant. 206 141 Ant. 208 141 Ant. 210 141 Ant. 215-222 139 Ant. 220 153 Ant. 257f. 148 Ant. 278f. 145, 148 Ant. 278-289 143f. Ant. 284 148 Ant. 288 148 Ant.289f. 145, 147 365 7.2 Index locorum <?page no="366"?> Ant. 293f. 145f. Ant.302-314 145 Ant. 304 149 Ant. 330f. 146 Ant. 365-375 152 Ant. 376 159 Ant. 376-383 153f., 159 Ant. 381-383 166, 195 Ant. 446-470 154f. Ant. 461-466 156 Ant. 471f. 156, 159, 166, 195, 204, 223 Ant. 473-490 157 Ant. 502-507 158 Ant. 511-525 159 Ant. 519-521 156 Ant. 521 202 Ant. 540-560 161 Ant. 561-564 161 Ant. 566-570 162 Ant. 569 172 Ant. 573 162 Ant. 576-581 164f. Ant. 582-585 166 Ant. 594-603 166f. Ant. 604f. 168 Ant. 611-625 168 Ant. 628-630 171 Ant. 631-634 172 Ant. 633 176 Ant. 635-638 172 Ant. 639f. 174 Ant. 648-651 176 Ant. 653f. 174, 222 Ant. 655-658 173f. Ant. 659-677 174f. Ant. 660 181 Ant. 672-677 183 Ant. 677 181 Ant. 678-680 174 Ant. 681f. 182 Anm. 300 Ant. 683-723 176f. 366 7 Indices <?page no="367"?> Ant. 689-691 186 Ant. 701f. 180 Ant. 705-709 183 Ant. 720-723 186 Anm. 305 Ant. 725f. 182 Anm. 300 Ant.726-733 179 Ant. 734-749 191f. Ant. 735 194 Ant. 750f. 193 Ant. 758-765 193 Ant. 766f. 195 Ant. 766-768 194 Ant. 781 195 Ant. 783f. 195 Ant. 787-798 195f. Ant. 790 222 Ant. 791f. 208 Ant. 801-805 197 Ant. 806-826 199 Ant. 832-852 199f. Ant. 834-838 212 Ant. 853-856 203 Ant. 872-875 204 Ant. 875 (2x) 214, 224 Anm. 370 Ant. 883-890 206 Ant. 897-915 201f. Ant. 921-924 208 Ant. 921-928 207 Ant. 929f. 205 Ant. 931-936 206 Ant. 940-943 212 Anm. 343 Ant. 944-954 210 Ant. 955-965 214 Ant. 966-987 211 Ant. 973 215 Anm. 351 Ant. 974 217 Ant. 1023-1032 218 Ant. 1067-1073 218 Ant. 1098 219 Ant. 1108-1114 219 Ant. 1173 221 367 7.2 Index locorum <?page no="368"?> Ant. 1177 224 Ant. 1231-1243 221f. Ant. 1246-1256 223 Ant. 1257-1267 224f. Ant. 1270 228 Ant. 1293-1295 226 Ant. 1302f. 217 Anm. 358, Ant. 1304f. 224 Anm. 369 Ant. 1305 217 Anm. 358 Ant. 1317-1346 226f. Ant. 1347-1353 228 El. 11-14 (2x) 240 An. 395, 254 El. 15f. 236 El. 20-22 236 El. 22 307 El. 32-37 255 El. 35-38 234 El. 37 243 El. 39-41 283 Anm. 453 El. 44-50 234 El. 51-53 261 El. 56-58 282 El. 59-66 234 El. 62-64 285 El. 65f. 280, 284, 286 El. 73-76 234 El. 77 289 Anm. 465, 317 El. 77-86 238 El. 78f. 239 Anm. 394, 260 El. 83-86 301 El. 92-120 241f. El. 110-116 255 El. 121-126 264 El. 121-127 244f. El. 137-144 245 El. 159-163 285 Anm. 455 El. 197-206 264 El. 201-220 246f. El. 205f. 252 El. 209-212 254 El. 221 256 368 7 Indices <?page no="369"?> El. 221-225 247 El. 236-258 247f. El. 245-250 (3x) 256, 266, 276 El. 250 311 El. 254-257 256f. El. 271 257 Anm. 409 El. 293 257 Anm. 409 El. 307-309 (2x) 248, 257 El. 310-323 249 El. 320-322 285 Anm. 455 El. 321f. 260 El. 328-340 250f. El. 349f. 251 El. 355-358 251 El. 399 251 El.464-467 252 El. 475-477 252 El. 476 313 El. 482-491 253, 263 El. 516-520 306 Anm. 485 El. 525-546 267f. El. 550-557 277 Anm. 443 El. 558-560 (3x) 272, 276 El. 560-576 269, 272 El. 577-584 (2x) 272f. El. 585-597 270 El. 601-609 270f. El. 604f. 294 Anm. 470 El. 605-609 273 El. 610 f. (2x) 277, 294 El. 614-629 278 El. 637-642 279 El. 666f. 282 El. 673 282 El. 675 282 El. 677 (2x) 289 Anm. 465, 317 El. 678f. 282 El. 681f. 286 Anm. 457 El. 685-687 286 Anm. 457 El. 692-695 286 Anm. 457 El. 749-751 287 369 7.2 Index locorum <?page no="370"?> El. 761-763 284 El. 766-768 284 Anm. 454 El. 766-775 282f. El. 770f. 287 Anm. 454 El. 797-799 289 El. 799f. 283 El. 802f. 283 El. 849-870 291f. El. 992-994 293 El. 997f. 293 El. 1005f. 294 El. 1015f. 294 El. 1026f. 295 El. 1031-1033 295 El. 1037-1043 295 El. 1074-1097 295f. El. 1160-1164 298 El. 1171 298 El. 1174f. 303 El. 1174-1181 298 El. 1181 319 El. 1184f. 298 El.1218-1231 298 El. 1227f. 311 Anm. 493 El. 1232-1238 302 El.1239-1250 305 El. 1251f. 302 El. 1259 302 El. 1271f. 303 El.1273-1287 304 El. 1288-1292 303 El. 1322-1325 304 El. 1326-1338 306f. El. 1339 307 El. 1343-1345 307 El. 1344f. 309 El. 1354-1360 307f. El. 1364-1368 308 El. 1376-1383 310 El. 1384-1388 312 El. 1395-1397 312 370 7 Indices <?page no="371"?> El. 1404-1416 314 El. 1407f. 317 El. 1413f. 316 El. 1422f. 316 El. 1424-1427 317f. El. 1430-1436 318 El. 1458-1463 319 El. 1482-1489 320 El. 1487-1489 322 El. 1491-1504 321 El. 1505-1507 323, 325 El. 1508-1510 324 OT 718f. 213 Anm. 349 OT 878 56 Anm. 106 OT 1173 213 Anm. 349 Scholien (Aias) 201,4 Christodulos 47 Anm. 93 Scholien (Antigone) 164-169,3f. Xenis 142 Anm. 239 Testimonien Gb 25 Radt 225 e ni 1,291f. 257 Anm. 409 u dide 2,37,1 118 Anm. 193 2,65,3f. 188 3,36,1-4 188 3,36,4f. 188 3,36,6 151 Anm. 257 3,37-40 150 Anm. 256 3,42,1 190 3,44,1 190 3,45 190 3,49,1 190 3,49,2-4 190 371 7.2 Index locorum <?page no="373"?> Anhänge: graphische Darstellungen der Handlungsabläufe e ende Engagement Involvierung durch Spannung Ruhestelle/ Ende eines Handlungsbogens 373 Anhänge: graphische Darstellungen der Handlungsabläufe <?page no="374"?> Anhang 1: Der Aias Athene Odysseus Prolog Wie beurteile ich Aias? Parodos Chor Wird Aias so heroisch sein, seinen philoi beizustehen? Erstes Epeisodion I Tekm. Wird Aias so heroisch sein, ‚nichts Chor Schlimmes‘ zu tun? Erstes Epeisodion II Tekm. Aias „Als Held darfst Du Dich nicht töten“ vs. Chor „Als Held muss ich mich töten“ Erstes Stasimon Ambiguität des Aias Chor Hoffnung auf eine ‚Heilung‘ des Aias Trugrede Rückkehr zum Dilemma Bericht des Kalchas Ambiguität des Aias Chor Hoffnung auf ein Auffinden des Aias Tekm. Abschiedsmonolog Einladung zum ‚hero-worshipping‘ Reaktion der philoi Ambiguität des Aias Agon Teuker-Menelaos Teuker Chor Aggressivität vs. Konzilianz Vorbereitung der Bestattung Teuker Engagement für die gerechte Sache Chor Agon Teuker-Agamemnon Teuker Chor Aggressivität vs. Konzilianz Auftritt des Odysseus Teuker Engagement für die gerechte Sache Chor Odysseus Stückende Ambiguität des Aias 374 Anhänge: graphische Darstellungen der Handlungsabläufe <?page no="375"?> Anhang 2a: Die Antigone (‚Weg 1‘ nach 3.2.3.1) g g ( g ) Ismene Antigone Prolog Wie angemessen ist eine ‚Polisperspektive‘? Parodos Chor Wird Kreon sich von seiner radikalen Scheidung der Brüder abbringen lassen? Erstes Epeisodion Kreon wird sich nicht von seiner radikalen Scheidung der Brüder abbringen lassen. Erstes Stasimon Chor Affirmation der polisgebundenen Normalität Zweites Epeisodion I Antigone/ Idiosynkratisches Abweichen sowohl der Kreon Antigone wie des Kreon von dieser Normalität Zweites Epeisodion II Ant./ Kreon/ Ismene Spannung zwischen Emotion und und zweites Stasimon Chor Vernunft Drittes Epeisodion I Kreon Haimon Spannung zwischen Emotion und Vernunft Drittes Epeisodion II Haimon Engagement gegen Kreon Kreon Haimon Spannung zwischen Emotion und Drittes Stasimon Vernunft Viertes Epeisodion Kreon Antigone Spannung zwischen Emotion und Vernunft Antigones Abgang Viertes Stasimon (Antig.) Hoffnung auf eine Bestrafung des Kreon Auftritt des Teiresias Hoffnung auf eine Bestrafung des Kreon Kreon Hoffnung auf ein glückliches Ende Chor Exodos Hoffnung zerschlägt sich Chor Kreon Spannung zwischen Emotion und Vernunft 375 Anhang 2a: Die Antigone (‚Weg 1‘ nach 3.2.3.1) <?page no="376"?> Anhang 2b: Die Antigone (‚Weg 2‘ nach 3.2.3.2) Ismene Antigone Prolog Wie angemessen ist eine ‚Polisperspektive‘? Parodos Chor Wird Kreon sich von seiner radikalen Scheidung der Brüder abbringen lassen? Erstes Epeisodion Chor Kreon Danebentreten von Kreons Perspektive Wächterszene Kreons Scheitern an seinen Ansprüchen Erstes Stasimon Chor Affirmation der polisgebundenen Normalität Zweites Epeisodion I Antigone/ Idiosynkratisches Abweichen sowohl der Kreon Antigone wie des Kreon von dieser Normalität Zweites Epeisodion II Ant./ Kreon/ Ismene Spannung zwischen Emotion und und zweites Stasimon Chor Vernunft Drittes Epeisodion I Kreon Haimon Spannung zwischen Emotion und Vernunft Drittes Epeisodion II Haimon Engagement gegen Kreon Kreon Haimon Spannung zwischen Emotion und Drittes Stasimon Vernunft Viertes Epeisodion Kreon Antigone Spannung zwischen Emotion und Vernunft Antigones Abgang Viertes Stasimon (Antig.) Hoffnung auf eine Bestrafung des Kreon Auftritt des Teiresias Hoffnung auf eine Bestrafung des Kreon Kreon Hoffnung auf ein glückliches Ende Chor Exodos Hoffnung zerschlägt sich Chor Kreon Spannung zwischen Emotion und Vernunft 376 Anhänge: graphische Darstellungen der Handlungsabläufe <?page no="377"?> Anhang 3: Die Elektra Orest Alter Prolog Wie befriedigend ist der im Prolog exponierte Ansatz (‚Ruhm‘ und ‚Ehre‘), um göttlicher Gerechtigkeit menschlichen Sinn abzugewinnen? Elektras Threnos Engagement richtet sich auf Elektras Gespräch mit dem Chor ‚ganz anderen‘ Ansatz, geprägt vom Elektra Talionsprinzip Gespräch mit Chrysothemis Gespräch mit Klytaimestra Spezifische Probleme von Elektras Gerechtigkeit: ‚Hässlichkeit‘ Auftritt des Alten Engagement richtet sich auf den Ansatz des Prologs: ‚Heroismus‘ Orest Alter ‚Botenbericht‘ Spezifische Probleme des Ansatzes der Männer: ‚Heroismus‘ in der Situation kaum möglich Gespräche Elektras Spannung zwischen emotionaler und mit Chrysothemis Orest Elektra intellektueller Dimension (Entkernung und dem Chor Alter von Elektras Perspektive) Anagnorisis Orest Engagement richtet sich auf Vollzug der Elektra Rache Chor Versuche der Männer, Elektras Freudebekun- Orest Elektra Spannung zwischen emotionaler und dungen zu unterdrücken Alter intellektueller Dimension Abgang des Orest und des Pylades ins Haus, Orest Engagement richtet sich auf Vollzug der Elektras Gebet Elektra Rache Pylades Tötung der Klytaimestra Problematisierung der Rache Vollständiges Konver- Orest Engagement richtet sich auf Vollzug der gieren der Perspektiven Elektra Rache durch Tötung des Aigisth der Geschwister Tötung des Aigisth Problematisierung der Rache 377 Anhang 3: Die Elektra <?page no="378"?> DRAMA - Studien zum antiken Drama und zu seiner Rezeption herausgegeben von Bernhard Zimmermann Bisher sind erschienen: Band 3 Thomas Baier (Hrsg.) Bühne Perspektiven im antiken und mittelalterlichen Drama 2007, 252 Seiten, €[D] 54,00 ISBN 978-3-8233-6268-5 Band 4 Athina Papachrysostomou Six Comic Poets A Commentary on Selected Fragments of Middle Comedy 2008, VI, 304 Seiten, €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6378-1 Band 6 Christopher Meid Die griechische Tragödie im Drama „Bei den Alten in die Schule gehen“ 2008, 136 Seiten, €[D] 39,90 ISBN 978-3-8233-6419-1 Band 7 Markus A. Gruber Der Chor in den Tragödien des Affekt und Reaktion 2009, 570 Seiten, €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-6484-9 Band 8 Matteo Taufer (Hrsg.) Ecdotica ed esegesi 2012, 276 Seiten, €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6686-7 Band 9 Sotera Fornaro ‚anni di piombo‘ 2012, 172 Seiten, €[D] 48,00 ISBN 978-3-8233-6712-3 Band 10 Mattia De Poli Monodie mimetiche e monodie diegetiche I canti a solo di Euripide e la tradizione poetica greca 2012, 210 Seiten, €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6726-0 Band 11 Stefano Novelli marcati: l’anacoluto in Eschilo 2012, VI, 325 Seiten, €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6786-4 Band 12 Andrea Rodighiero 2012, 236 Seiten, €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6787-1 Band 13 Lothar Willms Transgression, Tragik und Metatheater Versuch einer Neuinterpretation des antiken Dramas 2014, XIV, 934 Seiten, €[D] 128,00 ISBN 978-3-8233-6828-1 <?page no="379"?> Band 14 Nuala Distilo Ifigenia in Aulide di Euripide Problemi di attribuzione e tradizione testuale euripidea 2013, 152 Seiten €[D] 39,99 ISBN 978-3-8233-6816-8 Band 15 Claudia Michel Homer und die Tragödie Zu den Bezügen zwischen Odyssee und Orestie-Dramen (Aischylos: Orestie; Sophokles: Elektra; Euripides: Elektra) 2014, 263 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6899-1 Band 16 Sarah Henze Eugeneia bei Aischylos, Sophokles und Euripides 2015, 277 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6914-1 Band 17 Joan Josep Mussarra Roca Gods in Euripides 2015, 236 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6958-5 Band 18 Maria Jennifer Falcone Commento a Ennio, Medea exul; Pacuvio, Medus; Accio, Medea sive Argonautae 2016, XII, 242 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-8003-0 Band 19 Valerio Pacelli Frammenti Poetici Introduzione, testo critico, traduzione e commento 2016, 268 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-8004-7 Band 20 Bastian Reitze Der Chor in den Tragödien Person, Reflexion, Dramaturgie 2017, 796 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-8095-5 Band 21 Beatrice Gavazza V sec. a.C. Studio delle testimonianze e dei frammenti 2021, 312 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-8475-5 Band 22 Mattia De Poli, Pietro Vesentin Studi sulla gelosia nel teatro antico (e moderno) 2022, 340 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-8548-6 Band 23 Severin Hof Tragödie 2022, 377 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-8563-9 <?page no="380"?> I SBN 978-3-8233-8563-9 www.narr.de Multiperspektivität ist, was das Drama von anderen Literaturgattungen unterscheidet. Dieses zentrale Merkmal hat in der Erforschung des antiken Dramas aber bis jetzt nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die es verdient. Dies ändert die vorliegende Studie, indem sie ausgewählte sophokleische Tragödien beispielhaft einer kommunikativen Gesamtbetrachtung unterzieht und aufzeigt, wie die von den jeweiligen spezifischen Perspektiven geprägte Kommunikation zwischen den dramatischen Akteuren im Hinblick auf die Kommunikation zwischen Dichter und Rezipienten funktionalisiert ist. Auf diese Weise gewinnt sie durch sorgfältige Analysen und in intensiver Auseinandersetzung mit existierenden Deutungsansätzen neue Erkenntnisse für das Verständnis dreier bis heute zurecht berühmter, vielfältig rezipierter und in ihrer Deutung umstrittener Tragödien, nämlich des Aias, der Antigone und der Elektra. Hof Multiperspektivität und dramatische Wirkung in der sophokleischen Tragödie Severin Hof Multiperspektivität und dramatische Wirkung in der sophokleischen Tragödie DRAMA 23 DRAMA 23 Studien zum antiken Drama und zu seiner Rezeption Bernhard Zimmermann (Hrsg.)