Feministisch lesen
Eine Einführung mit Lektüretools und Textbeispielen
1014
2024
978-3-8233-9570-6
978-3-8233-8570-7
Gunter Narr Verlag
Katja Kauer
10.24053/9783823395706
Literatur, nicht nur die klassische, sondern sehr augenscheinlich auch die der Gegenwart, zeichnet ein buntes Bild von Geschlecht, das mit den herkömmlichen, patriarchalisch geprägten ,Lektürebrillen' nicht richtig erfasst werden kann. Obwohl die Gender Studies im akademischen Diskurs inzwischen eine wichtige Rolle spielen, hinkt eine praktisch orientierte Genderanalyse dem theoretischen Diskurs hinterher. Dieses Studienbuch zeigt anschaulich, wie hilfreich Gender Studies für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit einzelnen Texten sein können, und nimmt Fragen in den Blick, die die Literatur in Bezug auf geschlechtlich basierte Anerkennungsprozesse stellt. Im Zentrum stehen praktische Lektüretools, die an konkreten gegenwartskulturellen Textbeispielen vorgestellt werden. Sie machen Bedeutungsebenen der Texte sichtbar, die sonst verborgen bleiben, und helfen, scheinbare Aporien und Widersprüche in der Figurierung zu erklären. Das Buch ist die erste Monografie im germanistischen Bereich, die diese Art von Lektüretools entwickelt.
<?page no="0"?> Feministisch lesen Eine Einführung mit Lektüretools und Textbeispielen Katja Kauer <?page no="1"?> PD Dr. Katja Kauer ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin mit einem Schwerpunkt auf Gender- und Queer Studies. Sie vertritt im akademischen Jahr 2024/ 25 zum Teil die Professuren für die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts am Deutschen Seminar und die Professur für Gender Studies am Englischen Seminar der Universität Tübingen. Einen Schwerpunkt ihrer Arbeit bilden philosophische Fragestellungen in ihren populärkulturellen Zusammenhängen. 2019 ist von ihr das Studienbuch Queer lesen erschienen, 2022 Verzweiflung im 18. Jahrhundert. Derzeit arbeitet sie an der Re-Visitation des Kanons und zum Liebesdiskurs zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart. Queer Reading Geschlechts und des Begehrens lesbar macht. Eine Lektüre öffnet etwa den Blick dafür, wie ‚Heterosexualität‘ als postulierte soziale Norm in Texten stetig untergraben wird, und ermöglicht die Entdeckung homoerotischer oder homosexueller Subtexte. Ziel ist allerdings nicht, im Gegenzug andere Identitäten zur Norm zu erklären oder Autor*innen und Figuren Prädikate wie ‚homosexuell‘ oder ‚transsexuell‘ zuzuschreiben. Vielmehr legt Queer Reading Äußerungen der Figuren und unseren Erwartungen entspricht. Es erweitert so unseren Horizont und bedeutet damit eine Bereicherung jeder literaturwissenschaftlichen Arbeit. Das Studienbuch verdeutlicht anhand von Lektüren ganz unterschiedlicher Prosa, wie ein Text Leser*innen ermutigen, sich Leitlinien zu erarbeiten, mit denen sie Texte selbst Methodendiskussion auch einen Beitrag zur Erforschung kanonisierter Autor*innen und Werke aus neuer Perspektive. ISBN 978-3-8233-8282-9 18282_Umschlag.indd 1-3 <?page no="4"?> Katja Kauer Feministisch lesen Eine Einführung mit Lektüretools und Textbeispielen <?page no="5"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823395706 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 2627-0323 ISBN 978-3-8233-8570-7 (Print) ISBN 978-3-8233-9570-6 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0509-5 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="6"?> 9 1 13 1.1 13 1.2 18 1.3 24 1.4 32 2 45 3 63 3.1 80 4 85 4.1 85 4.2 88 4.3 97 4.4 112 4.4.1 116 5 123 5.1 124 5.2 128 6 147 6.1 157 7 167 7.1 176 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sind Gender Studies immer feministisch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gender Studies als Eindämmung feministischer Diskurse . . . . . . . . . . Fließende Übergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anerkennung als Objekt oder Subjekt - Immanenz vs. Transzendenz Was Frauen verrückt macht: Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement von Weiblichkeit in der Spätmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Toxische Weiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst als Selbstobjektikvierungspraktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Male gaze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . The patriarchal Other . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . The pornographic gaze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . The Digital Other . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Digital Other als narratologisches Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das pseudo-konkrete Begehren als phallisches Phantasma . . . . . . . . . . . . . . Die heterosexuelle Beziehungsstruktur und die Reinheit der Frau . . . Weibliches Begehren als willful act . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionaler Kapitalismus als heteromaskuline Praktik . . . . . . . . . . . . . . . . . Die schwache männliche Position und der heteromaskuline Zwang zur Asshole-Pose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aporien der spätmodernen Geschlechterdifferenz und deren (scheinbare) Auflösung im Genre des Mommy Porn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwachsinnige Geschichten als Antwort auf schwachsinnige Rollenvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="7"?> 8 189 8.1 206 9 213 9.1 215 9.2 224 9.3 226 239 239 242 246 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis . . . . . . . . . . . Die „Zwangsheterosexualität“ unterlaufen: Homosoziales Begehren und Girl Crush . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlusswort: „Frauenliteratur“ und ein feministischer Blick auf ihr Potential? Eine feministische Re-Visitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feminine, feminist, female . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zauber von Boženas Figurierung - dem patriarchalen Blick verborgen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetverweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="10"?> Vorwort Scarborough, 1. August 2023. Es ist ein verregneter Sommertag in Mittelengland, einem ehemaligen ‚viktorianischen Kurort‘, wie es heißt. Hier lässt sich Anne Brontës Grab finden, der Ort liegt somit auf der Karte einer gynozentrischen Literaturgeschichts‐ schreibung, allerdings waren es nicht die Texte der Brontës, die mich zu dem folgenden Buch inspiriert haben. Nach anstrengenden und zeitraubenden Korrekturarbeiten am Buch, was bekanntlich zu den eher unerfreulichen Aufgaben nach Abschluss eines Manuskripts gehört, gönne ich mir noch den Besuch des Barbie-Films (Regie: Greta Gerwig, USA 2023), der, zumindest in Deutschland, vor zwei Wochen angelaufen ist und den ich bisher noch nicht die Zeit gefunden hatte zu sehen. Einige meiner Freundinnen waren schon drin, ich will ihnen nicht länger nachstehen. Obwohl der Film in Scarborough unter der Woche mehrfach am Tag gezeigt wird, die Stadt nicht besonders groß ist, ist auch diese 17-Uhr-Vorstellung sehr gut besucht. Menschen unterschiedlichen Geschlechts und Alters drängen sich in den Kinosaal. Ich möchte den Besuch des Films nicht empfehlen oder gar für die Lektüre des Buches voraussetzen. Es handelt sich um eine komödiantische Dekonstruktion des Barbie-Mythos. Wem der Feminismus dieses Machwerks fragwürdig erscheint, wird gute Gründe dafür finden. Barbie hat sich zwar von den vor der zweiten Welle der Frauenbewegung als zentral geltenden Eigenschaften wie Fürsorge und Mütterlichkeit emanzipiert, ihr Erfolg beruht aber auf dem Besitz eines schön ausgestalteten Körpers. Sie ist das, was wir eine postfeministische Gestalt nennen könnten, denn sie zeigt sich einerseits als feministischen Idealen verpflichtet, doch anderseits stellt erst einmal nur ihr Äußeres die Hauptquelle ihrer Identität dar, was anti-feministisch anmutet. Dieser sogenannte Postfeminismus, wie er uns seit mehr als 20 Jahren medial begegnet, besteht darin, dass sich Frauen zwar bestimmte Errungenschaften der Frauenbewegung (zum Beispiel ökonomische Autonomie) zu eigen machen konnten, jedoch nur, um ihre gewonnene Autonomie dann an die weibliche Rollenkonformität im Patriarchat (die Rolle des sexuellen Objekts) zu verraten, was als Freiheit, Wahl usw. annonciert wird. Die scheinbare Freiheit einer Barbie, alles zu sein und zu tragen, was sie will, ist genau betrachtet eine völlige Unfreiheit und ein selbstgewähltes Einfrieren auf die Rolle des Beschauungsobjekts im male gaze, obwohl faktisch natürlich vor allem Mädchen sie beschauen und bestaunen, und kaum erwachsene Männer mit ihr spielen. Das Barbie- Universum wird jedoch filmisch so artifiziell und wirklichkeitsfremd ausgestaltet, dass wohl niemand der neoliberalen Utopie von Barbies als Präsidentinnen, Geschäfts‐ frauen, Wissenschaftlerinnen usw., die alle supersexy aussehen und supererfolgreich sind, einen ernstgemeinten feministischen Gehalt zuschreibt, zumal der Film offen ausspricht, dass jenseits der Spielzeugwelt nicht allen Frauen alles so einfach möglich ist. Der Feminismus ist nicht in Barbies Plastikwelt zu suchen, aber in der Dramaturgie des Filmes findet er sich m. E. dann doch. Denn tatsächlich sehe ich eine Koinzidenz zwischen dem Abschluss von Feministisch lesen und diesem Kinobesuch. Denn auch, <?page no="11"?> wenn es sich nur um einen populären Hollywoodfilm handelt, der Film mitnichten kapitalismuskritisch ist und die Diversität der Figuren zu wünschen übriglässt, sah ich doch einen typischen Frauenfilm - in einem nicht abschätzigen Sinn des Wortes. Ja, ich möchte sagen, Barbie ist ein gynozentrischer Film. Darin geht es nicht um Hetero‐ sexualität, um männliche Helden, sondern die Handlung kreist darum, was es heißt, als weiblich gelesen zu werden. Der Film behandelt weibliche Selbstwahrnehmung, Selbstentwürfe, die weibliche Selbstobjektifizierung, den male gaze; im Zentrum stehen homosoziale Beziehungen zwischen Frauen, und die Frage, wie Frauen sich finden und wie sie einander spiegeln. Weder die männlichen Helden noch die heterosexuelle Be‐ ziehung bilden einen Fokus. Die weibliche Hauptfigur wird nicht durch das männliche Gegenüber (Ken) definiert, nein im Gegenteil, sie überstrahlt ihren männlichen Partner in jeder Hinsicht. Ken gibt es nur, weil es Barbie gibt, nicht anders herum. Ein Leading Man (ein klassischer Hauptdarsteller) im Hollywoodkino der Gegenwart zu sein, wie es der Darsteller von Ken, Ryan Gosling, zweifellos ist, bedeutet auch, Rollen annehmen zu können, die gängige Männlichkeitskonstrukte ins Lächerliche verkehren und in denen er sich von Schauspielerinnen wie Margot Robbie überstrahlen lässt. Ein Leading Man der Gegenwart muss in der Lage sein, Männerrollen zu spielen, die jeder phallischen Qualität entbehren. Willkommen im Kino des 21. Jahrhunderts! Es geht in diesem Film um eine, so gefährlich diese Attribuierung auch ist, weibliche Weltanschauung, also um etwas, das bisher nicht das Hauptinteresse der medialen Produkte in einer patriarchalen Gesellschaft ausmachte - und nebenbei bemerkt auch nicht das Haupt‐ interesse germanistischer Literaturrezeption. Mit Barbie wird Weiblichkeit gefeiert, hinterfragt und umgedeutet. Männer und Männlichkeitsbilder sind erfrischenderweise, ich sagte es schon, nur Randerscheinungen. Ein heterosexuelles Happy-End wird zugunsten der weiblichen Selbstfindung völlig ausgespart, aber auch nicht vermisst. Barbie wird sie selbst, nicht Teil eines romantischen heterosexuellen Paares, wohl aber lebendiger Teil einer Frauenfreundschaftsbeziehung. Der Film erweist sich als so publikumswirksam, dass er Besucher*innenrekorde brach. Ich bin nicht so naiv, eine Rezeption meines Bandes zu erwarten, die die Rekorde am wissenschaftlichen Buchmarkt bricht. Wohl aber weiß ich, dass Feministisch lesen demselben Zeitgeist wie der Barbie-Film entstammt. Es besteht der Wunsch danach, sich konkret und kreativ mit bestehenden Weiblichkeitsbildern auseinanderzusetzen, ihre patriarchalische De‐ formation zu hinterfragen und bestimmte Aspekte von Weiblichkeitsdarstellungen neu und positiv zu lesen. Der Barbie-Film erweist sich als eine neue Lesart einer künstlich geschaffenen Frauenfigur, die wie ein Fetischobjekt aussieht, aber von der durch die Autor*innen des Films mehr erzählt wird und in die mehr hingedeutet werden kann als die Tatsache, dass die Proportionen von Barbiepuppen die Vorstellung von attraktiver Weiblichkeit völlig verzerren können und schier absurd sind. Wohlwollend lässt sich vielleicht sagen, dass die Dramaturgie, den herkömmlichen feministischen Diskursen gemäß, die der zweiten Welle der Frauenbewegung zu verdanken sind, auf ein Consciousness Raising/ eine Bewusstseinsbildung zielt, die zum Abbau von Konflikten zwischen Frauen (im Film zum Beispiel ein klassischer Mutter-Tochter- 10 Vorwort <?page no="12"?> Konflikt) führt. Durch Consciousness Raising werden weibliche Probleme nicht als isoliert und persönlich betrachtet, sondern systematisch, nämlich als Formen von patriarchalischer Unterdrückung behandelt. Feministisches Bewusstsein zu schärfen bedeutete während der zweiten Welle der Frauenbewegung, sich mit den Fragen anderen Frauen zu identifizieren und sich, trotz aller Verschiedenheit unter Frauen, miteinander gegen das Patriarchat zu solidarisieren. Diese Solidarität ist nun nicht mehr ein Zeichen von marginalisierten Gruppen (Feminist*innen, Lesben etc.), sondern in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die Stärke und Schönheit von weiblichweiblicher Solidarität ist auch heute noch (oder gerade heute wieder, wenn wir uns die Gegenwartsliteratur anschauen) ein beliebtes Motiv in der „Frauenliteratur“. Diese hat sich von der romantischen Liebesgeschichte zwischen Mann und Frau zusehends emanzipiert, andere Beziehungen und Lebensprojekte werden dort gleich‐ berechtigt verhandelt, andere Frauen werden von der Hauptfigur nicht immer nur als Konkurrentinnen, sondern als wichtige Partnerinnen, Freundinnen, Vorbilder begriffen. Der Wunsch nach feministischen Lesarten und Weltanschauungen, nach einem Hinterfragen postfeministischer Schöntuerei, zeigt mir Barbie, ist eben auch Hollywood nicht mehr fremd, und tatsächlich ließen sich an dem Filmwerk einige Tools, die ich in diesem Band vorstellen werde, erproben. Das, was ich als ‚internalisierte Misogynie‘ und als ‚triple entanglement‘ in den folgenden Kapiteln konzeptualisiere, lässt sich auch dort finden, besonders auffällig wird jedoch das raumgreifende Thema der Homosozialität, weiblich-weibliches Bonding, verhandelt; etwas wie homosoziale Romantik trägt diesen Film - und begeistert dessen Publikum. Es wäre mir eine große Freude, wenn Feministisch lesen dazu dienen könnte, dass wir Weiblichkeit begeisterter rezipieren, uns kritisch, aber nicht abschätzig der Darstellung von Frauenfiguren in der Gegenwart stellen können und die Widersprüche, die weibliche Figuren offenbaren, besser verstehen. Das Buch soll helfen, uns unserer unconscious bias, unserer unbewussten Vorurteile, die wir über Weiblichkeit erlernt haben, bewusst zu werden, damit wir die Chance ergreifen können, patriarchalische Ressentiments dort aufzudecken und zu kritisieren, wo wir sie nicht vermutet haben. Ich danke allen, die mich bei der Fertigstellung des Buches unterstützt haben, vor allem den Teilnehmer*innen meiner Lehrveranstaltungen (u. a. in Tübingen, Fribourg), in denen ich seit mehreren Semestern einige Tools an den hier erwähnten literarischen Beispielen, aber auch an anderen Texten, erprobt, gelehrt und weiterentwickelt habe. Die Resonanz auf meine Konzepte hat mich bewogen, sie niederzuschreiben, um sie weiteren Studierenden zugänglich zu machen. Ich danke dem Narr-Verlag für die erneute Zusammenarbeit und für die Offenheit dem Thema gegenüber. Unter ‚feministisch‘ wird, anders als unter ‚queer‘, nicht unbe‐ dingt etwas Zeitgemäßes, gar Innovatives verstanden. Der Begriff ist kein Modewort im akademischen Kontext, feministische Literaturwissenschaft wird in den 1980er Jahren verortet, aber wie hier dargelegt, halte ich feministische Lektüren für ebenso zeitgemäß wie queere, ja mehr noch, ich glaube, dass sich die Kritik am Patriarchat und an der Heteronormativität gegenseitig stützen und beflügeln können und dass besonders die Vorwort 11 <?page no="13"?> Gegenwartsliteratur zu diesen Leseweisen geradezu herausfordert. Aus diesem Grunde werden an einige Stellen auch Parallelen zu der etwas älteren Publikation anklingen. Ich bedanke mich bei Arnd Beise, der mir bei der Korrektur des Manuskripts geholfen hat und dessen sachliche Kritik an einigen meiner Thesen sehr dienlich war, sowie den Unterassistentinnen des Fribourger Lehrstuhls, die ebenfalls an den Korrekturarbeiten beteiligt waren. Nicht zuletzt bedanke ich mich bei meiner Familie, die mich in diesen Sommermo‐ naten (2023) tapfer mit Korrekturarbeiten am Buch geteilt hat. Katja Kauer 12 Vorwort <?page no="14"?> 1 Paletschek 2001, S.-419. 2 Einer der unbestritten feministischen Klassiker, der dieser Frage nachgeht, stammt von Silvia Bovenschen (1946-2017), die niemals eine ordentliche Professur erhielt, obwohl sie als brillante feministische Denkerin gefeiert wurde. Vgl. Bovenschen 1976. 1 Einleitung 1.1 Sind Gender Studies immer feministisch? For the master’s tool will never dismantle the master’s house. They may allow us temporarily to beat him at his own game, but they will never enable us to bring about genuine change. And this fact is only threatening to those women who still define the master’s house as their only source of support. Audre Lorde Worin unterscheiden sich eine Feministische Kultur- und Literaturwissenschaft von Gender Studies? Seien wir ehrlich, für Studierende und Dozierende, die sich weder mit Gender noch mit Feminismus intensiv beschäftigen, ruft der eine wie der andere Begriff etwas wach, das mit Frauen zu tun hat (und von Frauen betrieben wird). Diese Assoziation ist auch nicht völlig von der Hand zu weisen, denn dem Einzug von Gender Studies in die akademische Welt ging eine feministische Welle voraus, die die „Frauen‐ frage“ in viele gesellschaftliche Bereiche trug und damit auch in die Wissenschaft. Als sich die Feministische Literaturwissenschaft in den späten 1970er und den 1980er Jahren zu etablieren begann, richtete sie ihr Augenmerk darauf, sich sowohl kritisch mit literarisch hinterlegten Frauenbildern auseinanderzusetzen, als auch darauf, Autorin‐ nen aus der Vergessenheit oder aus den Nischen des minderwertigen Dichtertums zu befreien. Wenig überraschend waren es Frauen, die unter dem Namen ‚Feministische Literaturwissenschaft‘ die Tür für Geschlechterdiskurse in den Philologien öffneten; was nicht bedeutet, dass alle Männer über die feministischen Ambitionen die Nase gerümpft hätten. Emanzipationsansprüche gaben den Grundton in der Feministischen Literaturwissenschaft an; Emanzipation von tradierter Literatur- und Kunstbewertung, mithin eine Befreiung von patriarchalisch vorgeprägten Rastern. Die Genese des Forschungsinteresses aus der zweiten Welle der Frauenbewegung ist unbezweifelbar. Der gesellschaftliche Kampf von Frauen um den ihnen gebührenden Raum, der über den reproduktiven Aufgabenbereich „Kinder, Küche und Kirche“ 1 hinausging, nährte den Wunsch nach einer Expertise darüber, auf welche Weise die bestehende Kultur Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder tradiert. 2 Den radikalen Feministinnen der zweiten Welle der Frauenbewegung galt das bestehende Konzept von Weiblichkeit als eine von Männern produzierte Phantasie, die Frauen zum sexuellen Objekt degradiert <?page no="15"?> 3 Vgl. Millett 1971. 4 Vgl. Friedan 1975. 5 Vgl. Beauvoir 1949/ 1951. habe. 3 Auch gemäßigtere Stimmen, wie die der in der amerikanischen Frauenbewegung sehr gefeierten Mittelschichtsfeministin Betty Friedan, stuften die bestehenden Weib‐ lichkeitsvorstellungen als ein Unterdrückungsinstrumentarium ein, das die Energie der Frauen auf ausgediente, gesellschaftlich irrelevante Dinge umlenken würde und ihnen dadurch die Möglichkeit, sich als soziale Subjekte zu behaupten, entzöge. 4 Bürgerliche Werte wie Rationalität und Selbstständigkeit seien den Frauen durch die Weiblichkeitsvorgaben miesgemacht worden. Ihr Streben werde im Patriarchat nur auf ihre äußerliche Erscheinung, auf unproduktive Arbeit und Konsum gerichtet. Bereits 1951 [1949] hatte Simone de Beauvoir in dem philosophischen Grundlagenwerk der Frauenbewegung dargelegt, dass die Vereidigung der Frau auf Weiblichkeit ein Mindset produziere, durch das Frauen ihren eigenen Körper nur als Objekt für den Mann empfinden und sich selbst nur als passiv wahrnehmen können. Ihre Sozialisation verhindere, dass Frauen einen vollständigen Subjektstatus erreichen könnten oder dies auch nur anstreben würden. 5 Für Kultur- und Literaturwissenschaftlerinnen war eine Untersuchung aus his‐ torischer Perspektive zu dem Themenkomplex der gesellschaftlich konstruierten Frauenrollen deshalb geboten. Die erwähnten feministischen Theoretikerinnen der Frauenbewegung stützen ihre philosophischen Analysen, indem sie kulturelle Phäno‐ mene betrachteten und literarische Texte zitierten. Die Literatur war auch für die Gesellschaftskritikerinnen bereits ein dankbarer Pool, aus dem sie sich bedienen konnten, um Belege für ihre Thesen zu finden. Die Aufarbeitung der Weiblichkeits‐ mythen versprach daher auch für Fachwissenschaftlerinnen, die dieses Vorhaben mit literaturwissenschaftlichen Methoden angingen, erkenntnisfördernd zu sein. Wis‐ senschaft ist nie unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie ausgeübt wird. Gleiches gilt jedoch auch für die Bewertung der Wissenschaft. Betrieben Frauen Literaturwissenschaft mit feministischen Ambitionen, konnte dieses Bestreben, aus einem konservativen Blickwinkel betrachtet, als irrelevantes Phänomen, als Nischenwissenschaft abgetan oder als eine künstliche Karriereschmiede von Frauen degradiert werden. Trachteten Frauen durch ihre feministischen Ambitionen nicht nur danach, einen Platz in der Forschung einzunehmen, der nicht schon von Männern besetzt ist bzw. beansprucht wurde? Das sah freilich nicht jede*r so, besonders aus Reihen der Studierenden war ein Bedarf an feministischer Kritik vernehmbar. Tatsächlich gab es so etwas wie Stars der Feministischen Wissenschaft, die Genera‐ tionen von Student*innen beeinflusst haben, doch nicht wenige Menschen scheuten davor zurück, sich emphatisch als feministische*r Wissenschaftler*in zu bezeichnen. Einerseits mieden viele Frauen den Begriff, weil das Label ‚Feministin‘ bis weit ins 20. Jahrhundert hinein einen uncharmanten Anstrich hatte, da er die Assoziation von „unweiblichem Auftreten“ eröffnete, andererseits war das Bekenntnis zum Femi‐ nismus auch deshalb ein eher unkluger Schachzug, weil das Gebot, dass Wissenschaft 14 1 Einleitung <?page no="16"?> 6 Vgl. etwa https: / / www.zitate-online.de/ sprueche/ wissenschaftler/ 265/ probleme-kann-man-niemals -mit-derselben-denkweise.html [letzter Zugriff im Februar 2023]. 7 Vgl. Weigel 1988a; Bovenschen 1976; Lenk 1976. geschlechtsneutral zu sein habe, einen Appell enthielt, durch den feministische Bemü‐ hungen, die von einem parteiischen Standpunkt aus operieren, lächerlich gemacht werden konnten. Eine Germanistin, die in den 1970er und 1980er Jahren Karriere machen wollte, tat nicht unbedingt gut daran, den Feminismus vor sich herzutragen, zumal sie sich bewusst war, dass sie sich einer Berufungskommission gegenübersehen würde, die hauptsächlich aus Männern bestand. Sachlichkeit, nicht etwa feministisches Engagement galt als Tugend, die eine Lehrstuhlinhaberin aufweisen sollte. Durch die feministische Wissenschaft ist zwar belegt worden, dass Wissenschaft unter patriarchalischen Bedingungen keineswegs so vorurteilsfrei agiert, wie sie vorgibt, nur war es für Menschen schwer, dieser Beweisführung zu folgen, da die Stimmen, die diese Argumente verlauten ließen, als zu parteiisch und vorurteilsbehaftet verworfen worden waren. Die auf Albert Einstein zurückgehende Postkartenweisheit: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“, 6 gilt zweifellos auch für patriarchalisch geprägte Denkweisen, z. B. innerhalb der Literaturwissenschaft. Sie konnten kaum von denjenigen als Problem erkannt werden, die sich ihrer befleißigten. Strukturelle Blindheit ist Teil eines jeden Systems. Der Weg des Feminismus, der diese Blindheit anklagte, war holprig und führte nicht geradeswegs ins Ziel allgemeiner wissenschaftlicher Akzeptanz. Neben der Aufarbeitung von Weiblichkeitsmythen gab es auch andere Stoßrichtun‐ gen, die feministisch inspiriert waren und Frauen als Künstlerinnen Anerkennung verschaffen wollten. Die feministischen Forscherinnen setzten sich dafür ein, den Kanon zu erweitern. „Frauenliteratur“, ein Schimpfwort von jeher, müsse von den Bedingungen ihrer Produktion und Rezeption her beurteilt werden, so lautete eine An‐ nahme der Feministischen Literaturwissenschaft. Das führte zu einer, wenn auch recht lautlosen, Wiederentdeckung von Autorinnen vergangener Epochen oder auch zu einer Rehabilitierung von Schriftstellerinnen, die aus der Perspektive der herkömmlichen, androzentrischen Literaturwissenschaft mit dem verächtlichen Label ‚Unterhaltungs‐ autorinnen‘ versehen worden waren, heutzutage jedoch fraglos seminartauglich und reflexionswürdig sind. Einschlägige Publikationen, u. a. von Sigrid Weigel, Silvia Bovenschen und Elisabeth Lenk gingen in den 1970er und 1980er Jahren zum Beispiel der Frage nach, was unter einer weiblichen Ästhetik zu verstehen sei. 7 Schreiben Frauen anders als Männer, und wenn ja, wie lässt sich die „Andersheit“ systematisieren? Ihre Thesen räumten mit lächerlichen Biologismen auf und vermochten, einen bestimmten „Mehrwert“ in Texten von Frauen zu verteidigen. Gewiss nicht bei allen, doch bei vielen Texten, ist die geschlechtliche Sozialisation der sie schöpfenden Person nicht unerheb‐ lich. Schriftstellerinnen widmeten sich oft anderen Themen als ihre Kollegen und wählten andere Formen der Darstellung. Dies hängt vornehmlich mit ihrem weiblichen Lebenskreis zusammen. Das wissenschaftliche Interesse an diesen Texten kann von den Bedingungen ihrer Produktion nicht völlig abstrahieren. Die produktionsästhetische 1.1 Sind Gender Studies immer feministisch? 15 <?page no="17"?> 8 Vgl. Weigel 1988b, S.-144. 9 „Reichsgräfin Gisela“ ist ein Entwicklungsroman der Autorin E. Marlitt, der 1869 in der auflagen‐ starken Familienwochenschrift „Die Gartenlaube“ veröffentlicht wurde. 10 „Božena“ ist ein 1876 veröffentlichter, spätrealistischer Roman von Marie Ebner-Eschenbach, der das Schicksal einer böhmischen Magd darstellt. Im letzten Kapitel werde ich auf ihn zu sprechen kommen. und die rezeptionsästhetische Seite dieser Texte lässt sich ohne Bezugnahme auf Gender (das soziale Geschlecht) kaum seriös beurteilen. Die misogyne Vermutung, dass eine rührselige Erfolgsautorin des 19. Jahrhunderts wie E. Marlitt (1825-1887) oder eine dem Realismus verpflichtete Schriftstellerin wie Marie von Ebner-Eschenbach (1830- 1916) deshalb ihre Eheanbahnungsgeschichten seichter und unkritischer behandelt hätten als es männliche Kollegen wie zum Beispiel Theodor Fontane (1819-1898) getan haben, einfach weil sie als Frauen weniger Talent zum kulturkritischen Blick gehabt hätten, ist im 21. Jahrhundert nicht mehr haltbar. Der geschärfte literaturgeschichtliche Blick stellt schon die Prämisse in Frage, dass Texte von Frauen im Allgemeinen und Texte von Erfolgsautorinnen im Besonderen unkritischer gewesen seien als die ihrer zeitgenössischen Kollegen. War die Darstellung der Tragik einer sich von der gesellschaftlichen Bewertung so abhängig zeigenden Frauenrolle wie in der Geschichte von Effi Briest (erschienen 1896) wirklich einem allein dem Manne vorbehaltenes Terrain, weil nur er das Phänomen rational durchschauen konnte? Oder liegt der Unterschied zwischen Eheanbahnungsbzw. Ehebruchsgeschichten aus weiblicher und männlicher Feder nicht vielmehr darin, dass das Scheitern an gesellschaftlichen Fesseln durch Frauen einfach anders dargestellt worden war? 1983 konstatiert Sigrid Weigel, dass es für schreibende Frauen im männerdominierten Literaturbetrieb unab‐ dingbar war, von Männern geschaffene Frauenbilder nachzuahmen. 8 Die weibliche Perspektive gibt sich nicht durch lautstarken Widerstand gegen das Patriarchat kund. Die Autorinnen sind mit der paradigmatischen Verkettung von ‚Weiblichkeit‘ und ‚Sünde‘ besser vertraut als mit weiblicher Freiheit. Frauen haben die bestehenden Frauenbilder verinnerlicht, jedoch zeigt ihre Literatur, dass, selbst wenn sie sich den Spielregeln des Patriarchats beugen, Autorinnen nicht selten ihre dichtenden Kollegen bei der Darstellung des herrschenden Frauenbildes mit mehr Finesse zu überbieten vermögen. Was in ahistorischer Perspektive als sentimentale Langeweile daherkommt, bot für die zeitgenössischen Leser*innen Identifikationspotential. Den Gräfinnen oder den Mägden, den Giselas 9 und Boženas 10 konnten die von einem besseren Leben träumenden Frauen nachträumen und sie konnten versuchen, deren in den Romanen vorgeführte Handlungsweisen und deren Ideologiekritik in ihr eigenes, reales Leben zu integrieren. Das Schicksal einer Effi Briest aber gemahnte nur an dunkles Unheil. Sich mit einer unsinnigen Liebelei dem Ehejoch zu entziehen, bot für die kleinbürgerliche Leserin keine sinnvolle Perspektive. Dieses Studienbuch wird auf die weibliche Schreibpraxis und ihre verbürgte Minderwertigkeit noch einmal thema‐ tisch im Schlusskapitel zurückkommen, obwohl bereits ein Blick auf die akademische Kanon-Erweiterung, die seit den 1980er Jahren stetig betrieben wurde, empirische 16 1 Einleitung <?page no="18"?> 11 Tucholsky 1975, Bd.-10, S.-24-29 (zuerst in: Die Weltbühne, Nr.-5, 2. Februar 1932, S.-177). 12 Vgl. ebenda. Beweise dafür liefert, dass die Feministische Literaturwissenschaft half, blinde Flecken zu beleuchten und so genannte Unterhaltungsautorinnen zu nobilitieren. Studierende in der Gegenwart können sich vermutlich gar nicht vorstellen, warum in einem patri‐ archalisch orientieren Literaturbetrieb bestimmte, heute fraglos zum Kanon gehörige Texte einst als akademisch unbrauchbar angesehen worden waren. Die bereits in den 1970er Jahren wiederentdeckte, vielgelobte und vor allem bis heute gern gelesene Autorin Irmgard Keun (1905-1982) war gerade, weil sie die weibliche Lebensrealität in der Weimarer Republik so gut einfangen konnte, vor männlichem Chauvinismus nicht gefeit. Kurt Tucholsky beispielsweise goutiert wohl ihren Humor, aber ihm gelingt es nicht, Keuns Debütroman Gilgi - eine von uns (1931) so zu besprechen, als wäre seine Urheberin mit ihm auf Augenhöhe. Den Text bespricht er als den eines „Kleinmädchens“. 11 Keuns Heldin Gilgi entscheidet sich gegen ein Leben mit dem Vater ihres Kindes, weil die Vereinbarkeit von Selbstständigkeit und Liebe ihr nicht möglich erscheint. Diesen Freiheitsentwurf hält Tucholsky für „schief “, 12 überhaupt sei die Darstellung des Liebesverhältnisses etwas, das Tucholsky als unangemessen abtut. In Anbetracht des Haders, den Tucholsky gegenüber romantischen Liebeskonzepten und Monogamie in seinen eigenen Texten ausbreitet, wundert es umso mehr, dass eine Kollegin in seinen Augen nicht ähnliche Vorbehalte gegenüber dem romantischen Lie‐ besversprechen hat äußern dürfen. Den Widerstreit zwischen romantischer Sehnsucht, die in jeder Schlagermusik erklingt und neusachlicher Subjektivierung, in der Liebe nur als kameradschaftliche Gemeinschaft, nicht realitätsverblendendes Element erlebt werden soll, stellt der Debütroman von Irmgard Keun als Widerstreit in der weiblichen Lebensführung überzeugend dar. Sentimentale Lebensentwürfe haben Frauen wie mit der Muttermilch eingesogen. Die Zeit der Weimarer Republik, in der Frauen das erste Mal in der Geschichte Bürgerrechte genießen, zwingt Keuns Protagonistinnen dazu, sich zu verbieten, diesen alten Zöpfen und Mädchenträumen nachzuhängen. Eine Abwehrstellung gegen eine als unmodern angesehene Gefühlskultur kennzeichnet daher Keuns Heldin, die dann aber doch ihre Gefühlsverweigerung nicht durchhalten kann. Gilgi ist weder naiv, noch ist sie emotional erkaltet. Sie entscheidet sich dafür, ihr Leben in die Hand zu nehmen, aber diese Entscheidung ist keine egoistische. Der Text bringt enormes Verständnis für Gilgis Kämpfe, Krisen und Leidenschaften auf. Die Leserin fühlt mit ihr, identifiziert sich mit ihr. Genau diese Qualität des Romans, ein Identifikationsangebot zu liefern (wie es der Untertitel bereits deutlich macht: „eine von uns“) beförderte die paternalistische Herablassung. Die Bewertung nach zweierlei Maß, wonach die Heldin aus weiblicher Feder als langweiliger, sentimentaler und kulturell minderwertiger annonciert worden war als die Heldin, die die männliche Imagination hervorgebracht hat und die als aufregen‐ der, mutiger, unkonventioneller und kulturkritischer galt, mag heutzutage unsinnig erscheinen, umso unsinniger, wenn wir uns Figuren wie Gilgi vor Augen führen, die 1.1 Sind Gender Studies immer feministisch? 17 <?page no="19"?> 13 Vgl. Pusch 1991. 14 Vgl. Weissberg: Weiblichkeit als Maskerade, 1994; Benthien/ Stephan: Männlichkeit als Maskerade, 2003. Ich nenne diese beiden Publikationen, um zu verdeutlichen, dass schon durch den Vergleich der Titelgebung deutlich wird, dass „Männlichkeit“ wie „Weiblichkeit“ ein Forschungsobjekt darstellt. 15 Auch in der germanistischen Männerforschung gibt es Pioniere, die sich der Integration von Männerforschung in die Gender Studies gewidmet haben und die heute als Klassiker gelten Vgl. Erhart/ Herrmann 1997, S.-3-31. Konventionen brechen. Unbestreitbar feierte die Feministische Literaturwissenschaft Erfolge und es gelang ihr, die studentischen Perspektiven auf Texte zu erweitern, jedoch schien schon in den 1990er Jahren das Bedürfnis nach einer Wissenschaft aus einer frauenspezifischen Perspektive bzw. nach einer weiblichen Literaturgeschichte leidlich gestillt zu sein. 1.2 Gender Studies als Eindämmung feministischer Diskurse In den 1990er Jahren begannen daher Studierende und Dozierende das Wort ‚Femi‐ nismus‘ zu umgehen, weil es allzu klischeebehaftet und politisch daherkam. Die Beschäftigung mit Geschlechterfragen konnte und sollte damit allerdings nicht aus dem Wissenschaftsbetrieb verbannt werden. Viele Forschungsdesiderate waren durch den feministischen Diskurs erst sichtbar geworden. Man bediente sich jedoch ab den 1990ern des Paradigmas Gender Studies, wenn man diesen Fragen nachging. Das unpersönliche „man“, von feministischen Linguistinnen wie Luise Pusch 13 als lächerliches Relikt altväterlich geprägter Sprechweisen angeprangert, ist in diesem Fall kein stilistischer Fehler. Gender Studies wurden gegenüber der Feministischen Literaturwissenschaft nominell vermännlicht, denn nun war eindeutig Männlichkeits‐ forschung miteinbezogen, 14 und tatsächlich wurden diese Studien auch von Männern betrieben. 15 Wissenschaftler waren dazu eingeladen, am Genderdiskurs produktiv teilzuhaben, als würde männliche Autorenschaft in diesem Feld den unmerklichen Geruch des „Hexengebräus“, das sich unter dem vorherigen Label verbarg, vertreiben können. In den 1990er Jahren wurde die Feministische Literaturwissenschaft durch das Paradigma der Gender Studies abgelöst. Nicht Frauen, Frauenthemen oder eine weibli‐ che Literaturgeschichte stand im Fokus des Interesses. Die allgemeine Konstruktion von Geschlecht bestimmte den Lehrplan. Obwohl Gender Studies einerseits populär wurden, bleiben sie andererseits bis in das neue Jahrtausend dennoch etwas, das mit Frauen, Frauenforschung und Nischenbildung assoziiert werden konnte. Gender kann jede/ r, braucht aber niemand, denn in gewisser Weise seien die Fragen überholt, war ein verbreitetes Vorurteil. Hatte nicht schon Simone de Beauvoir belegt, wie Weiblichkeit produziert wird, was also gibt es dazu noch zu sagen? Die Verbannung des Labels ‚Feminismus‘ konnte nicht alle Skeptiker*innen befrieden, leistet(e) allerdings der Popularisierung des Forschungsfeldes Vorschub. Populäres ist jedoch auch häufig verdächtig. Neben der herkömmlichen Kritik an einem zu starken Fokus auf Geschlecht in der Wissenschaft, erbosten sich auch andere Stimme über Gender Studies, z. B. wegen 18 1 Einleitung <?page no="20"?> 16 Vgl. Wagenknecht 2021, S.-21. 17 Butler 2022, S.-22. ihres exkludierenden Jargons. Sahra Wagenknecht, die umstrittene Politikerin, hat 2021 in ihrem populistischen, vieldiskutierten Buch Die Selbstgerechten einigen, sich als „links“ und damit als gesellschaftskritisch bezeichnenden Akteur*innen unterstellt, dass ihr Linkssein zu bloßem „Lifestyle“ verkommen wäre, der sich in Sprachsensibilität statt in Mitgefühl für Minderheiten äußere. 16 Sie beklagt sich darüber, dass sich diese Menschen eines moralisierenden Sprachduktus bedienen würden, ohne Empathie für die wirkliche soziale Frage aufzubringen. Dass eine solche Behauptung provoziert, steht außer Frage. Gräben zu ziehen, ist nicht unbedingt sinnvoll, doch würden wir eine solche blasphemische Analogie einmal wagen, könnte auch den Gender Studies ein gewisser selbstverliebter Sprachduktus nachgesagt werden, in dem sich einige Feministinnen nicht mehr wiedererkannten. Genderkritik wäre, so argwöhnisch betrachtet, eine rein akademische Methode, die unter Ausschluss einer breiten Öffent‐ lichkeit betrieben wird und keine gesellschaftspolitische Haltung mehr einschließen würde. Statt durch die geschlechterkritischen Analysen etwas wie Emanzipation oder Patriarchatsdemontage voranzubringen, verkämen Gender Studies zu einem „Lifestyle- Label“. Diese Analogie möchte ich nicht unterstützen. Sie würde letztendlich nur einem Antigenderismus dienen, der aus einer ganz anderen Ecke als der des Feminismus erklingt. Gender Studies haftet allerdings tatsächlich nicht notwendigerweise ein weiblicher Emanzipationsdiskurs, nicht einmal immer eine praktische Orientierung, an, denn Gender Studies traten, zumindest in der Literaturwissenschaft, meist als Theoriediskurs in Erscheinung und seltener als Methodik der Textanalyse. Sowohl aus patriarchalischer als auch aus emphatisch feministischer Perspektive konnte sich des Eindrucks von einer Elfenbeinturm-Wissenschaft und selbstreflexiver Spielerei nicht erwehrt werden. Auf konservativer Seite war die Kritik an Gendertheorie sowieso nie ganz abgerissen, aber leider auch Menschen, für die die „Frauenfrage“ wichtig war, lehnten diese in Teilen ab, weil der gendertheoretische Duktus von der Praxis völlig abgehoben zu sein schien. Judith Butler weist in einem Aufsatz darauf hin, dass die ab‐ wertend als ‚Genderismus‘ diskreditierte Gendertheorie immer mehr zum Sündenbock in der Argumentation rechtskonservativer Politik mutiert. Was es gegen Gendertheorie zu sagen gibt, ist: „reaktionäre Hetze, ein Bündel aufwiegelnder Widersprüche und inkohärenter Behauptungen und Anwürfe.“ 17 Umso dringlicher scheint es geboten, feministische Diskurse und Genderdiskurse in der praktischen Arbeit, in unserem Fall literaturwissenschaftlich, zu verbinden und kreativ in Textanalysen einzuflechten. Ideologisch gefärbter Kritik ist nicht durch Theorie-Debatten beizukommen. Wie sinnvoll Gender als strukturelle Kategorie ist, zeigt sich, wenn mit ihr gearbeitet wird. In den 1990er Jahren gab eine Publikationsflut, getragen vom Konstruktivismus, in der die entnaturalisierenden Thesen über Geschlecht, die Judith Butler berühmt gemacht haben, wiedergegeben wurden. Nach Butler handelt es sich bei Geschlecht 1.2 Gender Studies als Eindämmung feministischer Diskurse 19 <?page no="21"?> um eine primär kulturelle Konstruktion, deren angenommene Basis Sex (biologisches Geschlecht) nur als ein Effekt des sozialen Geschlechterdiskurses auftritt. Konstruktivismus ist eine erkenntnistheoretische Position, die die Philosophie des 20. Jahrhundert prägt. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die Realität und Wahrheit als etwas verstanden wird, das nicht unabhängig vom Individuum und dessen Situierung erkannt werden kann. So sind die Realität und die Wahrheiten stets durch die Wahrnehmenden konstruiert. Auf Geschlecht/ Gender bezogen bedeutet dies, dass die Wahrnehmung bestimmter körperlicher Merkmale und bestimmter geschlechtlicher Zuordnungen immer auch dem entspricht, was in der jeweiligen Kultur als männlich oder weiblich zu verstehen erlernt worden ist. Diese Attribute bilden kein eindeutiges Abbild der Natur oder der Biologie, sondern sind immer eine Konstruktion. In Butlers Theorie war das weibliche Subjekt als solches, das in Solidarität mit anderen weiblichen Subjekten gegen das Patriarchat, über soziale Grenzen hinweg, verbunden durch dieselben, unverbrüchlichen biologischen Anlagen, nicht mehr ahistorisch zu denken. Nicht aus allen Frauen werden Schwestern, naiv wäre es nach Butler zu glauben, dass das Merkmal der Weiblichkeit für jede Frau dasselbe wäre und sich somit jede Frau mit jeder anderen zwangsläufig verbunden sähe Es ist nicht unverständlich, dass Butlers Thesen damals als gleichermaßen inspirierend wie auch verstörend wahrgenommen und tausendfach repliziert und exerziert worden waren. Für das Fach Germanistik sind diese Thesen erst einmal gar nicht so folgenreich. Die Frage nach der Essenz von Weiblichkeit und Männlichkeit stellt sich für Literaturwissenschaft‐ ler*innen nicht. Wenn wir mit einer Figur, die beispielsweise ein Kind erwartet, wie Johann Wolfgang Goethes Gretchen (als Gretchentragödie schon im Urfaust enthalten), Gerhard Hauptmanns Rose Berndt (im gleichnamigen Schauspiel 1903 auf die Bühne gebracht), Eduard von Keyserlings Fräulein Rosa Herz (im gleichnamigen naturalisti‐ schen Roman von 1890) oder Vicki Baums Helene Willfüer (der Protagonistin von Baums neusachlichen Debütroman Stud. chem. Helene Willfüer, 1928) konfrontiert werden, erfahren wir in all diesen prominenten Beispielen nichts über biologische Prozesse, kaum etwas über körperliche Veränderungen, sondern wir lesen von den sozialen Bedingungen, unter denen diese Frauenfiguren ihre Schwangerschaft erleben, oft auch erleiden. Selbst wenn wir die naturbedingte Basis von Geschlecht nicht in Frage gestellt wissen wollen, auf der Ebene der Literatur wird Geschlecht immer als soziales Geschlecht verhandelt, auch in dem Moment, wenn sie vom „biologisch bedingten Schicksal“ einer Frau erzählt. Im Plot begegnen wir keinem Hormonspiegel, keiner biologischen Wahrheit über einen Körper, sondern der Tragik, die ein unehelich gezeugtes Kind für die Mutter in früheren Zeiten bedeutet hat. Für ein Gretchen des 18. Jahrhunderts ist es noch härter, als ledige Mutter zu gelten, als für eine Helene 20 1 Einleitung <?page no="22"?> 18 Jehlen 1995, S. 263: „The terms of critical analysis, its references and allusions, its very structure, these critics now find, incorporate assumptions about the nature of sexual identity that organize and even suggest critical perception. When we describe certain verse cadences as ‚virile‘ while naming some rhymes ‚feminine‘, when Boswell explains judiciously that ‚Johnson’s language … must be allowed to be too masculine for the delicate gentleness of female writing‘, the conventional meanings of ‚masculine‘ and ‚feminine‘ shape the sense of literary phenomena that have no intrinsic association with sex.“ 19 Vgl. Butler 2021. Mit der deutschen Übersetzung von „Gender Trouble“, die 1991 das erste Mal erschien, wurde eine die Weiblichkeit de-essentialisierende Diskussion eröffnet. Die deutsche Übersetzung birgt einige Rezeptionsschwierigkeiten, als angenehmer zu rezipierende „Zusammen‐ fassung“ der damals virulenten Thesen empfehle ich einen etwas weniger bekannten Text: Butler 1991. des 20. Jahrhunderts, weil die Frauenemanzipation inzwischen Fortschritte gemacht hatte. Die literarisch dargestellten Konflikte mit der Schwangerschaft beziehen sich in beiden Fällen jedoch auf die Rolle als Frau. Die Assoziationen, die mit der Zuschreibung weiblicher und männlicher Geschlechtereigenschaften in der Literatur verbunden werden, bleiben stets auf der Ebene der sozialen Rolle. Ob nun Essentialistin oder Konstruktivistin, die Phänomene, die in der Literatur unter den Begriffen ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ firmieren, bergen keine intrinsische Assoziation mit Sex, d.h. sie sind von der biologischen Konstitution abgekoppelt. 18 Die Nützlichkeit von Judith Butlers bahnbrechender Pointe, dass die Natur von Geschlecht, im Englischen bezeichnet mit Sex, niemals erkennbar ist, weil diese durch die soziale Konstruktion verstellt, überblendet, in gewisser Weise erst ins Leben gerufen wird, bedarf in der literaturwissenschaftlichen Arbeit keiner besonderer Begründung. 19 Textanalysen können dazu dienen, offenzulegen, wie Vorstellungen von ‚Mann‘ und ‚Frau‘, auch auf der Ebene biologischer Diskurse, gesellschaftlich produziert werden. Das heißt, Judith Butlers Thesen stehen ohnehin in einem logischen Zusammenhang mit Literatur. Butlers Konzepte bedienen sich rhetorischer Begriffe oder sie stammen, wie der Begriff der Performanz, aus dem Kontext des Theaters. Es liegt auf der Hand, dass sowohl das Medium der Literatur am Geschlechterdiskurs teilhat, als auch dass eine konstruktivistische Kritik am Geschlechterdiskurs durch literarische Texte Gestalt gewinnen oder untermauert werden kann. Die praktische Arbeit am Text kann die Theorie illustrieren. Literarische Texte zeitigen den Effekt, angebliche Naturwahrheiten über Männer und Frauen zu verbreiten, denken wir an die vielfältigen Figurierungen der Femme fatale zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Beispielhaft ist Frank Wedekinds Femme fatale Lulu (1895/ 1904), die als reines Geschlechtswesen figuriert wurde. Männer ins Unglück zu stürzen ist ihr wesenhaft. In Texten dieser Couleur wurden sowohl Wollust als auch Unersättlichkeit und Morallosigkeit als essentielles Merkmal der Weiblichkeit dargestellt, das nur durch Erziehung eingehegt werden kann. Ende des 20. Jahrhunderts, Anfang des 21. Jahrhunderts, wird naturhafte Triebgesteuertheit eher den Männern zugeschrieben. Ein ganzes Genre, nämlich das der Popliteratur der 1990er Jahre, erzählt davon, wie Männer sich sexuell nicht im Griff haben; Heteromaskulinität scheint geradezu die Annahme einer Unbeherrschbarkeit des männlichen Triebes vorauszusetzen. Der männlichen Ich-Figur in Stuckrad-Barres 1.2 Gender Studies als Eindämmung feministischer Diskurse 21 <?page no="23"?> 20 1995 unternahm Claus Wedekind eine Studie, die die These beförderte, dass Frauen, die mit der Pille verhüten, „unmännlichere Männer“ attraktiv finden, die sich der Pflege ihres Nachwuchses widmen würden, denn ihr Hormonspiegel suggeriert eine Schwangerschaft. Bis in die 2010er Jahre gab es populärwissenschaftliche Abwandlungen dieser These, in der die Männlichkeit resp. Unmännlichkeit zwar biologistisch begriffen werden sollten, aber das Konzept immer nur aus der Perspektive einer sozialen Rolle betrachtet wurde, ohne dass den Autor*innen die soziale Dimension ihres Männlichkeitsbild bewusst zu sein schien. „Bei Frauen, welche die Pille einnahmen, war die Hormonkonzentration während des Zyklus relativ gleichbleibend mit der Folge, dass diese keine Präferenz mehr für besonders maskuline Männer zeigten.“ „[B]esonders maskuline Männer“ sind in diesem Artikel Männer, die keinen „weichen weiblichen“, sondern „markanten männlichen Ausdruck“ zeigen. Es scheint durch die Referenz auf einen „männlichen Ausdruck“ evident, dass der Artikel bei seinem Versuch, biologische Prozesse zu beschreiben, sich im Feld gesellschaftlicher Zuschreibungen an den Begriff von Männlichkeit bewegt, siehe Weiden 2009. 21 Vgl. zur Unterscheidung zwischen im Wahren eines Diskurses und der Wahrheit Foucault 1991. Soloalbum (1998), ein Roman, der in vielerlei Hinsicht paradigmatisch für das Genre ist, dient die Untreue als Ausweis von Männlichkeit und wird als männliche Naturnot‐ wendigkeit behandelt. Die beiden, einander sich widersprechenden Vorurteile über das weibliche bzw. männliche Sexualverhalten basieren auf einem Diskurs, der jeweils auf die biologische Konstitution rekurriert. Ist es nicht logisch, dass Frauen mit ihren kleineren Gehirnen, ihrer monatlichen Menstruation bereits auf physiologischer Ebene mehr durch ihre Geschlechtlichkeit bestimmt sind als Männer? Weibliche Eigenschaf‐ ten wie die der Hysterie (abgeleitet vom altgriechischen ὑστέρα = Gebärmutter) zeigen, wie Frauen als Wesen durch ihre Geschlechtlichkeit strukturiert sind. Aber halt: Ist es nicht logischer, dass ejakulationsfähige Wesen wie Männer daran interessiert sind, ihr Erbmaterial breit zu streuen und gesellschaftliche Einrichtungen wie Monogamie und Treue ihrer „biologisch bedingten Aufgabe“ nur im Wege stehen, so dass der Ausbruch aus dieser Fessel etwas ist, was von Männern jederzeit erwartbar ist, ja was in gewisser Weise ihre naturhafte Männlichkeit nur beweist? Frauen, die monatelang den Nachwuchs tragen und nicht sofort wieder bereit für eine Schwangerschaft sind, versuchen den Vater des Kindes mit Sentimentalität an sich zu binden, damit er sie und ihren Nachwuchs unterstütze. 20 Aus dem Tierreich, bei Katzen etwa, sehen wir, dass die natürliche Aufgabe des männlichen Geschlechts nur in der Zeugung, nicht in der Aufzucht liege. Darf es einem Mann verübelt werden, wenn er dem Ruf seiner Natur folgt und seiner hochschwangeren Frau sexuell untreu wird? Beide Ar‐ gumente sind logisch aufgebaut, befinden sich im Wahren eines jeweiligen Diskurses, weisen eine zeitgenössische Folgerichtigkeit auf, die sich in beiden Fällen auf „Natur“ beruft, ohne allerdings in der Lage zu sein, etwas über eine vom gesellschaftlichen Diskurs unabhängige Natur von Männlichkeit und Weiblichkeit auszusagen. Beide Annahmen über Geschlecht enthüllen nichts über die wahre Natur des Weiblichen und Männlichen. 21 Literaturwissenschaftler*innen ist es schlicht nicht möglich, sich dem Unterfangen zu stellen, Naturwahrheiten über Geschlecht herausfinden zu wollen oder/ und anthropologische Konstanten zu verteidigen; es wäre möglich, auch ohne Butlers Thesen paradigmatisch voranzustellen, kluge Textarbeit so zu betreiben, dass sie eine ähnliche konstruktivistische Wendung nehmen würde. Unter dem Paradigma 22 1 Einleitung <?page no="24"?> der Gender Studies lässt sich die Konstruktion von Geschlecht entlarven. Wird dabei mit einer historischen Perspektive auf Frauen- und Männerbilder gearbeitet, bestätigt bereits die Wandelbarkeit der Bilder, dass die wahre Natur von Männern und Frauen, zumal für Schriftsteller*innen, ein blinder Fleck bleiben muss. Erfahrungen in der Lehre zeigen, dass auch nach über zwanzig Jahren Gender Studies in der Literaturwissenschaft Studierende immer wieder überrascht sind, wie historisch und kulturell vielfältig Geschlechterdiskurse sind und waren, oder rückwirkend auf ihre eigene Identität, wie wenig Wesenhaftes ihnen durch die Kategorie ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ mitgegeben wurde - und wie dessen ungeachtet diese unsicheren Kategorien von „großen Folgen“ für das Leben sind, wie es die berühmte Feministin Alice Schwarzer bereits 1975 durch den Titel ihrer Erfolgspublikation Der kleine Unterschied und seine großen Folgen zum Ausdruck brachte. Der Erfolg des Labels der Gender Studies war für die feministischen Bestrebungen ein zweischneidiges Schwert. Im Sinne Stephen Greenblatts (1990) konnte dieser Diskurs einerseits als Eindämmung feministischer Zumutungen gelesen werden, obwohl er andererseits stets durch feministisches Interesse gestützt worden war. Doch die Insti‐ tutionalisierung der Gender Studies ging mit einem Sprachduktus einher, der deutlich machen sollte, dass nun wirklich nicht jede*r etwas zum Thema Gender beitragen kann. War der Feminismus als eine Subversion (Subversion) des herkömmlichen Litera‐ turwissenschaftsbetriebs beschreibbar, weil er auch die persönliche Lektüreerfahrung privilegierte, führten die Gender Studies zu einer Eindämmung/ Einhegung feministi‐ scher Praxis (Containment), da sie sich wissenschaftlich institutionalisierten und mit Ausschlussmechanismen operierten. Feminismus wurde in den Raum der Gender Studies überführt, und damit in einen überschaubaren Rahmen gefasst. Allerdings führt konsequentes Genderdenken leicht wieder zu feministischer Praxis zurück, da es ungerechtfertigt ist, dass Menschen aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Präferenz Nachteilen ausgesetzt sein sollten, erst recht, wenn Geschlecht kaum viel mehr ist als eine willkürliche, kontingente Zuschreibung. Ein nicht völlig bestreitbares Vorurteil, das bis zum heutigen Tag etabliert zu sein scheint, besagt, dass Gender Studies vornehmlich von Frauen betrieben werden, da bei ihnen ein größeres Bedürfnis bestünde, Geschlechterklischees kritisch zu hinterfragen. Genderwissenschaft und theoretische Diskurse sind jedoch mitnichten dasselbe wie feministische Praxis. Durch die Etablierung der Gender Studies wurden feministische Fragestellungen theoretisch nobilitiert, die herkömmliche Wissenschaft, die nicht feministisch infiltriert war, behielt jedoch ihre Deutungshoheit. Wissenschaftlerinnen waren aufgerufen, als sachliche Wissenschaftssubjekte Themen, die ehemals dem Dunstkreis des Feminismus entsprangen, ohne Betroffenheitsgestus zu bearbeiten. Eine Genderforscherin war daher auch nicht automatisch eine Feministin. Ihre Stellung im männlich dominierten Wissenschaftsbetrieb prädestinierte sie keinesfalls dafür, im Sinne der zweiten Welle der Frauenbewegung mit anderen Frauen solidarisch zu sein, sondern, im Zweifelsfall, Karriereerwägungen vor feministische Impulse zu stellen und Konkurrenzverhalten auch gegenüber anderen Frauen an den Tag zu legen. Die 1.2 Gender Studies als Eindämmung feministischer Diskurse 23 <?page no="25"?> 22 Vgl. Möbius 1903. empirische Tatsache, dass es tatsächlich mehr Forscherinnen als Forscher auf diesem Gebiet gibt und dass scheinbar mehr Studentinnen als Studenten aufgrund eigener Erfahrungen mit Sexismus an diesem Wissenskomplex interessiert sind, gepaart mit der misogynen Voreingenommenheit, Geschlecht sei Frauensache (und damit Geschlechterforschung ebenso), nährte im Sinne der Akzeptanz innerhalb der Gender Studies den Wunsch nach der bereits anfänglich beschriebenen Maskulinisierung und Neutralisierung des Feminismus. Das neue Erstarken einer feministisch interessierten Student*innenschaft ermöglicht es, die Eindämmung (wenn wir diese Metapher ak‐ zeptieren wollen) des feministischen Diskurses durch Gender Studies aufzubrechen. Statt Gender studies und Feministische Literaturwissenschaft in Konkurrenz oder als diachrone Entwicklungen zu begreifen, wird dieses Buch die Schwesternschaft beider methodischer Zugänge hervorheben, da beide aus dem Geist geboren sind, die im Patriarchat normierten Lektüren zu hinterfragen. 1.3 Fließende Übergänge Im Alltagsdiskurs werden Begriffe wie ‚Feminismus‘ und ‚Gender‘ oft auch synonym verwendet, gerade dann, wenn die/ der Sprecher*in beide Begriffe eher mit despek‐ tierlichem Gestus im Munde führt. Für das neue Jahrtausend ist festzuhalten, dass sich nicht nur als weiblich sozialisierte Studierende für Genderfragen interessieren. Die im Bereich der Gender Studies erschienenen Studien zur Männlichkeit finden Nachhall bei Männern, die unwillig sind, sich auf ein bestimmtes maskulines Verhalten festlegen zu lassen. Für das neue Jahrtausend können wir zu Recht neben einem neuen Feminismus auch von einem neuen Maskulinismus reden. Anders als der auf Weiblichkeit bezogene Begriff ‚Feminismus‘ ist ‚Maskulinismus‘ oft in konservati‐ ven, mitunter sogar gefährlich chauvinistischen Kontexten verwendet worden, man denke etwa an die Maskulinisten um 1900, die vom „physiologischen Schwachsinn dies Weibes“ ausgehend, 22 männliche Überlegenheit gegenüber der ersten Welle der Frauenbewegung zu verteidigen trachteten oder das gesellschaftliche Phänomen des Männlichkeits-Coachings, das nicht selten als Schmiedeeisen misogyner Vorteile dient. Auch der Rechtpopulismus zeigt eine besondere Affinität zum antifeministischen Maskulinismus. Im Rahmen dieser Publikation ist es nicht möglich, das Wort ‚Mas‐ kulinismus‘ zu neuen Ehren kommen zu lassen und ins Progressive zu überführen, wohl aber sollten wir festhalten, dass genderkritisches Denken auch von männlichen Studierenden getragen wird. Gender wird in den meisten Disziplinen in Einführungsveranstaltungen, so etwa in der Literaturwissenschaft, mindestens in einer Sektion vorgestellt. Diese Appetizer nähren bei Student*innen ein wachsendes Bedürfnis nach Seminaren zu Genderthe‐ men. Wenn diese dann aber auf einer rein theoretischen Ebene bleiben, sich also nur in der Lektüre von Sekundärtexten bewegen, führt das zu Enttäuschungen und zur Ab‐ 24 1 Einleitung <?page no="26"?> 23 Vgl. Passmann 2019. kehr von einem Interesse an Gender. Die Literaturwissenschaft lässt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Theorien über Gender und die praktische Anwendung in Form von Textanalysen oft missen. Was eingangs über die Kritiker*innen der Gender studies gesagt wurde, dass ihnen diese viel zu feministisch seien, wird von Befürworter*innen dieser Methode manchmal schmerzlich vermisst. Studierende möchten gern feminis‐ tisch argumentieren, also Weiblichkeitsklischees als soziale Korsetts analysieren, die die Frauenfiguren auf die eine oder andere Art unfrei erscheinen lassen. Ich bin mir nicht sicher, ob das als neuer Zeitgeist betitelt werden kann, sicher bin ich mir allerdings, dass der Literaturbetrieb zum Erstarken feministischen Bewusstseins geführt hat. Feministische Sujets vieler Texte und die große Präsenz junger Autorinnen haben neue Themen und Blickrichtungen in die Welt gebracht. Auch die sogenannte Popliteratur, hier gerade erst anhand des Romans Soloalbum als „Macho-Genre“ der 1990er Jahre vorgestellt, hat sich seit den 2000er Jahren feminisiert. Seit einigen Jahren ist der Wunsch erkennbar, sowohl scheinbar alte, also bewährte feministische Paradigmen als auch neue, nämlich die des Genderkonstruktivismus, miteinander in Verbindung zu bringen. Eine Modephrase, wie die von den „alten weißen Männern“, 23 beinhaltet beides, nämlich Kritik an den Strukturen des Patriarchats als auch das konstruktivistische Wissen, dass „alte weiße Männer“ keine Kategorie ist, die mit bio‐ logischem Geschlecht oder gar Alter gleichzusetzen wäre, sondern eine Denkstruktur bezeichnet, die leider auch von als jung und weiblich gelesenen Menschen adaptiert werden kann. Der Frage, inwiefern Gender als Analysekategorie mit einem Feminismus als kriti‐ scher Haltung Hand in Hand gehen kann, lässt sich an folgendem Beispiel zeigen: Der 1939 veröffentliche Roman des Autors Stefan Zweig Ungeduld des Herzens erzählt die Geschichte eines aus eher einfachen Verhältnissen stammenden Leutnants, der durch Zufall die Bekanntschaft mit der reichen, gehbehinderten Edith macht. Die junge Frau verliebt sich unsterblich in ihn. Aus Mitleid kann er sich der emotionalen Übergriffigkeit der reichen Familie von Kekesfalvas nicht erwehren. Ediths Vater för‐ dert die Bekanntschaft der Tochter mit dem Leutnant, zum einen wegen seiner Vorliebe für das Militär, zum anderen, weil er sein Kind glücklich machen will. Bevor dem aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Leutnant Hofmiller die leidenschaftlichen Gefühle Ediths von ihr unmissverständlich offenbart werden, genießt er sein Gastrecht im luxuriösen Haus in vollen Zügen. Der junge Mann, dem eintöniger Militärdienst alltäglich und der nicht ans Wohlleben gewöhnt ist, labt sich am Überfluss und dem traulichen Beisammensein mit der noch kindlichen Edith und deren hübscher Cousine Ilona. Dass Edith es wagt, ihn zu begehren, wird ihn abstoßen; es ist jenseits seiner Vorstellungskraft, dass eine (in der Diegese) als körperlich inadäquat dargestellte Person sich traut, sexuelle Wünsche zu artikulieren. Dieser gewählte Textabschnitt zeigt, dass der 25-Jährige, in jeder Hinsicht als durchschnittlich dargestellte Mann nicht 1.3 Fließende Übergänge 25 <?page no="27"?> ahnt, was sein tägliches Erscheinen im Schloss für die 17-Jährige, an den Rollstuhl gefesselte Edith bedeutet. So kam es und nur so, daß ich in den nächsten Wochen die Spätnachmittage und meist auch die Abende bei den Kekesfalvas verbrachte, bald wurden diese freundschaftlichen Plauderstunden schon Gewöhnung und eine nicht ungefährliche Gewöhnung dazu. Aber welche Verlockung auch für einen seit den Knabenjahren von einer Militäranstalt in die andere herumgestoßenen jungen Menschen, unverhofft ein Zuhause zu finden, eine Heimat des Herzens statt kalten Kasernenräume und rauchiger Kameradschaftsstuben! […] Alles deutete mir liebevoll-sichtbar an, wie selbstverständlich man mich als zur Familie ge‐ hörig rechnete; jeder meiner Schwächen und Vorlieben war vertraulicher Vorschub geleistet. Von Zigaretten lag immer just meine Lieblingssorte bereit, ein beliebiges Buch, von dem ich das letzte Mal erwähnt hatte, ich würde es gern einmal lesen, fand sich wie durch Zufall neu und doch schon vorsorglich aufgeschnitten auf dem kleinen Taburett, ein bestimmter Fauteuil gegenüber Ediths Chaiselongue galt unumstößlich als „mein“ Platz - Kleinigkeiten, Nichtigkeiten dies alles gewiß, aber doch solche, die einen fremden Raum wohltuend mit Heimischkeit durchwärmen und den Sinn unmerklich erheitern und erleichtern. […] Aber noch ein anderes, viel Geheimnisvolleres hatte unbewußt Anteil daran, daß mich das tägliche Beisammensein mit den beiden Mädchen so sehr beschwingte. Seit meiner frühzeitigen Auslieferung an die Militäranstalt, seit zehn, seit fünfzehn Jahren also, lebte ich unausgesetzt in männlicher, in männischer Umgebung. Von morgens bis nachts, von nachts bis früh, im Schlafraum der Militärakademie, in den Zelten der Manöver, in den Stuben, bei Tisch und unterwegs, in der Reitschule und im Lehrzimmer, immer und immer atmete ich im Luftraum nur Dunst des Männlichen um mich, erst Knaben, dann erwachsene Burschen, aber immer Männer, Männer, schon gewöhnt an ihre energischen Gebärden, ihren festen, lauten Gang, ihre gutturalen Stimmen, ihren knastrigen Geruch, ihre Ungeniertheit und manchmal sogar Ordinärheit. Gewiß, ich hatte die meisten meiner Kameraden herzlich gern und durfte wahrhaftig nicht klagen, daß sie es nicht ebenso herzlich meinten. Aber eine letzte Beschwingtheit fehlte dieser Atmosphäre, sie enthielt gleichsam nicht genug Ozon, nicht genug spannende, prickelnde, elektrisierende Kräfte. Und wie unsere prächtige Militärkapelle trotz ihres vorbildlich rhythmischen Schwungs doch immer nur kalte Blechmusik blieb, also hart, körnig und einzig auf Takt eingestellt, weil ihr der zärtlich-sinnliche Streicherton der Violinen fehlte, so entbehrten sogar die famosesten Stunden unserer Kameraderie jenes sor‐ dinierenden Fluidums, das immer die Gegenwart oder auch nur Atemnähe von Frauen jeder Geselligkeit beimischt. Schon damals, als wir Vierzehnjährigen je zwei und zwei in unseren verschnürten kleidsamen Kadettenmonturen durch die Stadt promenierten, hatten wir, wenn wir andern jungen Burschen mit Mädchen flirtend oder nachlässig plaudernd begegneten, wirr sehnsüchtig empfunden, daß durch die seminaristische Einkasernierung etwas unserer Jugend gewalttätig entzogen wurde, was unseren Altersgenossen tagtäglich auf Straße, Korso, Eisbahn und im Tanzsaal ganz selbstverständlich zugeteilt war: der unbefangene Umgang mit jungen Mädchen, indessen wir, die Abgesonderten, die Eingegitterten, diesen kurzröckigen Elfen wie zauberischen Wesen nachstarrten, von einem einmaligen Gespräch mit einem Mädchen schon wie von einer Unerreichbarkeit träumend. Solche Entbehrung 26 1 Einleitung <?page no="28"?> 24 Zweig 1976, S.-68ff. vergißt sich nicht. Daß späterhin rasche und meist billige Abenteuer mit allerhand gefälligen Weibspersonen sich einstellten, bot keinerlei Ersatz für diese sentimentalen Knabenträume, und ich spürte an der Ungelenkigkeit und Blödigkeit, mit der ich jedesmal (obwohl ich schon mit einem Dutzend Frauen geschlafen) in der Gesellschaft herumstotterte, sobald ich zufällig an ein junges Mädchen geriet, daß mir jene naive und natürliche Unbefangenheit durch allzulange Entbehrungen für allezeit versagt und verdorben war. Und nun hatte sich plötzlich dies uneingestandene knabenhafte Verlangen, eine Freundschaft statt mit bärtigen, männischen, ungehobelten Kameraden einmal mit jungen Frauen zu erleben, auf die vollkommenste Weise erfüllt. Jeden Nachmittag saß ich, Hahn im Korbe, zwischen den beiden Mädchen; das Helle, das Weibliche ihrer Stimmen tat mir (ich kann es nicht anders ausdrücken) geradezu körperlich wohl, und mit einem kaum zu beschreibenden Glücksgefühl genoß ich zum erstenmal mein eigenes Nichtscheusein mit jungen Mädchen. Denn es steigerte nur das besonders Glückhafte in unserer Beziehung, daß durch eigenartige Umstände jener elektrisch knisternde Kontakt abgeschaltet war, der sich sonst unaufhaltsam bei jedem längeren Zuzweitsein von jungen Leuten verschiedenen Geschlechts ergibt. Völlig fehlte unseren ausdauernden Plauderstunden alles Schwülende, das sonst ein tête-à-tête im Halbdunkel so gefährlich macht. Zuerst freilich - ich gestehe es willig ein - hatten die küßlich vollen Lippen, die fülligen Arme Ilonas, die magyarische Sinnlichkeit, die sich in ihren weichen, schwingenden Bewegungen verriet, mich jungen Menschen auf die angenehmste Art irritiert. Ich mußte einigemal meine Hände in straffer Dressur halten gegen das Verlangen, einmal dies warme, weiche Ding mit den schwarzen, lachenden Augen an mich heranzureißen und ausgiebigst abzuküssen. Aber erstlich vertraute mir Ilona gleich in den Anfangstagen unserer Bekanntschaft an, daß sie seit zwei Jahren einem Notariatskandidaten in Becskeret verlobt sei und nur die Wiederherstellung oder Besserung im Befinden Ediths abwarte, um ihn zu heiraten ich erriet, daß Kekesfalva der armen Verwandten eine Mitgift zugesagt hatte, falls sie bishin ausharre. Und überdies, welcher Roheit, welcher Perfidie hätten wir uns schuldig gemacht, im Rücken dieser rührenden, ohnmächtig an den Rollstuhl gefesselten Gefährtin kleine Küßlichkeiten oder Handgreiflichkeiten ohne rechte Verliebtheit zu versuchen. 24 In diesen Zeilen lesen wir eine kulturell erschaffene Zweigeschlechterteilung, die den bürgerlichen Rollen entspricht. Die weibliche Sphäre ist die des Heims, der Behaglichkeit, die männliche entspricht der Arbeitswelt, potenziert ist diese männliche Arbeitswelt als eine rein „männische“, nämlich als die Welt des Militärs. Der Text deckt die den unterschiedlichen Sphären entsprechenden Genderrollen als eingeübten Verhaltenskodex auf. Das raubeinige Auftreten der Kameraden und das überfeinerte Gebaren der Mädchen folgt geschlechterspezifischen Benimmregeln, die sich als Rollen wohlgeordnet aufeinander zu beziehen haben. Die Mädchen sollen den Mann unterhalten, ihr Zweck ist es, ihm Genuss zu verschaffen. Für eine genderorientierte Untersuchung bietet der Text reichlich Potential. Wird die Binärität zwischen Mann und Frau erst einmal als konstruiert entlarvt, wird ebenso schnell auch das natürliche Begehren zwischen nur diesen zwei Geschlechtern in Frage gestellt, so dass als logische 1.3 Fließende Übergänge 27 <?page no="29"?> Folge queeres Denken angeregt wird, für das der Roman, z. B. in dem Eingeständnis Hofmillers, dass er mal in einen Kameraden verliebt war, sehr anbietet. Die libidinöse Energie zirkuliert im Kontext seines soldatischen Lebens, bei den Mädchen jedoch sollen die sexuellen Affekte eingedämmt bleiben. Tatsächlich sind Hofmillers nachmit‐ tägliche Besuche nicht von heterosexuellem Begehren getragen. Gerade die fehlende sexuelle Stimulation genießt er an den Nachmittagen mit Ilona und Edith. Er muss sich nicht als Mann beweisen, was ein eigenes „Nichtscheusein“ mit den beiden jungen Mädchen befördert. Er muss nicht verführen und ist dennoch dem Umfeld des militärischen Drills enthoben. Das, was ihn beglückt, wird als jenes „sordinierende[s] Fluidum, das immer die Gegenwart oder auch nur die Atemnähe von Frauen jeder Geselligkeit beimischt“, bezeichnet. Wenn wir genau definieren wollen, was das weib‐ liche Kolorit eigentlich ausmacht, ist es: Heimischkeit, Bequemlichkeit, Kontemplation. Dies wird im Kontext der Zeit mit Weiblichkeit assoziiert, da Frauen größtenteils vom öffentlichen Leben, von der Arbeitswelt, zumal von der des Militärs ausgeschlossen waren. An Ediths und Ilonas Gesellschaft reizt ihn das Heterosoziale. Die Analogie, die Weiblichkeit zu den Violinen hat, die dem harten Klang der Blechinstrumente einen sanften Ton beifügen, ist offenkundig rein sozial bedingt. Es gibt keine biologische Verbindung von Frauen und Violinenklang, dennoch ist leicht verständlich, was der Erzähler meint, dass nämlich Weiblichkeit dem normalen Leben (dem rhythmischen Grundton), die angenehme, nicht notwendige, aber erhebende Zutat von Geselligkeit (Wohlklang) beimischt. Für die Disability Studies böte sich der Text ebenso gut an. Nicht nur ist das, was als weiblich und männlich gilt, gesellschaftlich produziert, auch die Ohnmacht Ediths ist keine faktisch gegebene. Ihre Behinderung ist weit weniger in Stein gemeißelt als die dargestellte Tatsache, dass Edith stets durch ihre Umwelt behindert wird. Sie vermag sogar (mit Gehhilfen) zu laufen, aber meist wird sie getragen, geschoben, die Rolle der Kranken ist ihr permanent zugedacht. Sie wird platziert, abgesondert, ihre Beine werden so achtsam verdeckt, dass die Verdeckung eher eine Markierung darstellt, die eine Verkrüppelung suggerieren, welche ansonsten gar nicht augenscheinlich werden würde. Nichts darf die junge Frau selbst in Angriff nehmen. In diesem Text ist Behinderung als Differenzkategorie unverkennbar. Die Sinnlichkeit Ilonas, die ihr zugesprochen wird, offenbart sich nicht durch körperliche Attribute, sondern vielmehr aufgrund des Bedürfnisses sie zu berühren. Ilona ist dem gesellschaftlichen Diskurs nach berührbar, ein besitzbares „Ding“. Edith ist aufgrund ihrer Behinderung nicht fuckable. Im Wort ‚fuckable‘, das im Alltagsdiskurs bekannt ist, stellt sich die Objektfunktion besser heraus als es in Umschreibungen wie ‚sexuell attraktiv‘ der Fall ist. Das Wort wird in diesem Buch eingedenk dessen verwendet, dass der Objektcharakter der begehrten Person, die das Attribut zugeschrieben bekommt, gegenüber persönli‐ chen Eigenschaften privilegiert wird. 28 1 Einleitung <?page no="30"?> Sie darf überhaupt nur seelische Gelüste hervorrufen, ihr gegenüber besteht ein Begehrensverbot, das folglich auch reziprok für sie selbst gilt, zumal es auch ein Bruch mit der Genderrolle darstellt, dass Edith ihre Gefühle offenbart, bevor sich Hofmiller ihr erklärt hat. Asexuell sein zu müssen, ist eine gesellschaftliche Vorschrift. An vielen Stellen im Text wird Edith auch als hübsch, jung, anziehend beschrieben, jedoch immer nur dann, wenn ihre Behinderung ausgeblendet wird. Die Möglichkeit, sie als begehrenswerte Frau zu sehen, wird nur durch die stetige Präsenz ihrer Gehhilfen unterbunden, die, an eine Ecke gelehnt mahnen, das sitzende, passabel wirkende Mädchen nicht sinnlich zu betrachten. Der Roman beginnt damit, dass Hofmiller eben jene Warnschilder, die Ediths Existenzverbot als sinnliche Frau symbolisieren, übersieht und sie zum Tanz aufgefordert hat. Diese als grober Fauxpas empfundene Aufforderung führt erst zum vertraulichen Umgang zwischen dem Leutnant und der jungen Frau, weil sich Hofmiller am nächsten Tag in aller Form bei Edith dafür entschuldigt. Ihm war es sehr fatal, die Tochter des Hauses vorgeführt bzw. beschämt zu haben. Da er ein recht unsicherer Charakter ist, stellt er mit großer Dankbarkeit fest, dass Edith ihm durch einen Brief seine Tanzaufforderung in Unkenntnis ihrer Lage leichtherzig zu verzeihen gedenkt, wenn er sie weiter mit seiner Gesellschaft zu beehren gedenkt. Seitdem Edith ihren Wunsch nach seiner Gesellschaft artikuliert hat, fühlt sich Hofmiller dem Haus und Edith gegenüber verpflichtet. Wenn wir uns den Text hinsichtlich seiner Konstruktion von Geschlecht unter die Lupe nehmen, ist eine feministische Lesart (Feminismus verstanden als kritische Ana‐ lyse der Geschlechter-Ordnung) fast unvermeidbar. Die Trennung zwischen leichten Mädchen („gefälligen Weibspersonen“), mit denen Hofmiller schon ein Duzend mal sexuell verkehrt hat und Frauen, die tatsächlich begehrenswert und liebenswert sind (die „zauberischen Wesen“), beruht auf einer patriarchalischen Scheidelinie, um die Sexualität von Frauen allein in den Raum der Ehe zu verbannen. Alle Frauen, die jenseits des Zivilstandes bzw. des glaubwürdigen Versprechens auf eine Ehe solche sexuellen Handlungen vollziehen, also „gefällig“ sind, gelten als verachtenswert. Für ehrbare Frauen gilt ein Begehrensverbot, sie dürfen auf die Liebe eines Mannes nur antworten, keine Botschaften an Männer aussenden. Niemals können solche liederlichen Frauen zu der Heimat des Herzens werden, nur die verbotenen Lüste beheimaten, die man mit den Kameraden, die man gernhat, nicht (oder nur begrenzt) ausleben darf, die jedoch - das zeigt der Roman auch - für die Herstellung männlicher und militäri‐ scher Genderidentität unabdingbar sind. Sexualität ohne emotionales Bekenntnis zu vollziehen, ist wie Reiten und Fechten eine Handlung, mit der die männliche Rolle angenommen und ausgeführt wird. Sie gehört zur performativen Männlichkeit der dargestellten Welt. Die seelische Freundschaft zu dem behinderten Mädchen wird auf Dauer seinem Ruf als Leutnant schaden. Militärische Männer toben sich mit Frauen aus oder heiraten angesehene, attraktive junge Damen. Weibliche Wesen, die in dieser Ökonomie weder als Sexualobjekt noch als potenzielle Ehefrau Platz haben, sind Unpersonen, ihre Identität bietet keinen Resonanzraum für Männlichkeit. Dass Edith am Ende Suizid begeht, ist in gewisser Weise unausweichlich. Ihr Sein wird nicht 1.3 Fließende Übergänge 29 <?page no="31"?> anerkannt. Solange sie nicht fest auf zwei Beinen steht, kann sie ihre Rolle als Frau nicht ausüben, die im Kontext der Zeit eine Rolle ist, die darin besteht, einen begattbaren Körper bereitzuhalten. Ehrbare Frauen sollten als Ehefrau weniger zum Zweck der Lust als zum Zweck, dem Mann Nachwuchs zu schenken, sexuell fungieren können. Die Rolle der Frau besteht darin, den Mann zu verwöhnen. Als Ehefrau ist sie ihm Heim und Repräsentationsgegenstand, als gefälliges Mädchen ein Lustobjekt. Ilona und Edith sind weder das Eine noch das Andere, aber sie schaffen eine heimische Sphäre, die dem unverheirateten Waisenjungen kurze Zeit ein Zuhause vorspiegeln kann. Die beiden Mädchen werden nicht als Menschen (mit individuellen Eigenschaften) wahrgenommen, der Genuss von Hofmiller besteht darin, die beiden jungen Frauen als Objekte der Unterhaltung (wie die Bücher, Zigaretten) zu betrachten. Besonders wohl fühlt er sich, weil die Objektrolle der Frauen nicht von einem im Raum schwebenden Sexualitätsangebot überschattet ist. Er ist zu nichts Grundsätzlichem verpflichtet, denn auch die reizende Ilona wird durch die Asexualität Ediths zunehmend ent-sexualisiert. Sie gehört einem anderen Mann - und obwohl eben nicht per se unberührbar, ist sie für ihn sexuell tabu. Auch wenn die Mädchen keine Sexual- oder Liebesobjekte für Hofmiller darstellen, so sind sie doch entindividualisierte Objekte; sie stehen für die vermisste, aus dem militärischen Umkreis verdrängte Weiblichkeit. Ihre Stimmen, ihre Themen, ihre Gestalten dienen als überindividuelle Verkörperung weiblicher Eigenschaften, die von ihnen repräsentiert werden, um den Mann zu delektieren. Die Persönlichkeit Ilonas oder Ediths bleibt Hofmiller verschlossen. Es ist die Rolle der hübschen, bereits verlobten Cousine und die Rolle der mitleidserregenden behinderten Freundin, die ihm die unausgefüllten Nachmittagsstunden versüßen. Die Frauen sind für ihn physisch wahrnehmbar, als Stimmen, Gerüche, Körper. Tatsächlich liegt die Tragödie dieses Romans darin, dass die Menschlichkeit Ediths, ihre Psyche (sowohl ihr Gefühlsüberschwang als auch die aus der Perspektive der Zeit ungebührliche Verkörperung weiblicher Hysterie) ihn abstößt, weil Edith dadurch aus der Rolle des (Unterhaltungs-) Objekts fällt, das selbst nichts fordert. Allein die adäquate Gender‐ rolle, die die beiden Mädchen spielen, führt ihn täglich ins Haus: ihre Bestimmung als jungfräuliche, liebreizende, dienende Unterhalterinnen ohne eigene Subjektivität lässt ihn jeden Nachmittag erscheinen. Der Moment, als sich mit der Artikulation des Begehrens auf Seiten Ediths ihre Subjektivität, ihre Eigenständigkeit jenseits ihrer asexuellen Tochterfunktion kundtut, ist der Moment, ab dem Hofmiller keine Begegnung mehr genießen kann, sich jede Zusammenkunft mit Edith in Pflicht und Lästigkeit verwandelt, und er sich wünscht, das Haus nie wieder betreten zu müssen. Obwohl die Heirat mit Edith einen ökonomischen Aufstieg bedeuten würde, oder vielleicht gerade deshalb, ist der Gedanke, Edith zur Frau zu nehmen, für Hofmiller völlig abwegig. Dabei ist nicht der Mangel an aufrichtigem Gefühl seitens des jungen Mannes auschlaggebend, sondern der Mangel Ediths an zeitgenössisch als richtig empfundener Darstellung/ Performanz von Weiblichkeit. Sie zur Frau zu nehmen, käme für ihn einer völligen Entehrung und Entmännlichung gleich. 30 1 Einleitung <?page no="32"?> Unter Performanz von Geschlecht wird die Art und Weise verstanden, wie sich das Geschlecht einer Person herstellt, also der Ausdruck und die Darstellung, durch die jemand als weiblich oder männlich wahrgenommen wird. Eine Kultur kennt immer Darstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, die als höherwertiger und richtiger erachtet werden. So galten lange Zeit große und kantige Männer als „männlicher“ denn kleine und zarte. Welche Weiblichkeit als die richtige gilt, ändert sich in den zeitlichen Kontexten, immer jedoch hat die weibliche Performanz von Geschlecht, um in einem patriarchalischen Kontext als angemessen zu gelten, eine Objektfunktion für den Mann zu erfüllen. Nicht-binäre Genderperformanzen der Gegenwart vermischen aktiv Ausdrucksformen, die als männlich gelten, mit denen, die als weiblich gelten. Dadurch wird die Konstruiertheit geschlechtlicher Wahrnehmung offengelegt. Es ist unmöglich über Gender in diesem Text zu sprechen, ohne eine kritische Perspektive einzunehmen, die entweder als queer oder als feministisch bezeichnet werden könnte. Der Text teilt mit, was er ausschließt. In der Behauptung, dass sich „unaufhaltsam bei jedem längeren Zuzweitsein von jungen Leuten verschiedenen Geschlechts“ eine Spannung „ergibt“, impliziert, dass es bei älteren Menschen, Men‐ schen gleichen Geschlechts oder eben bei Menschen, die im Kontext der Zeit (wie durch eine Behinderung) ihr Geschlecht nicht richtig repräsentieren, diese Spannung ausgeschlossen wird. Genau das aber, so erzählt uns der Roman, ist nicht der Fall. Wir erfahren von einer frühen Verliebtheit Hofmillers in einen Kameraden, von einem Ehebund zwischen einem jüngeren Mann mit einer älteren Frau, was zeitgenössisch betrachtet paradox ist, und erkennen schnell die Sehnsucht Ediths. Alle Übertretungen, die beschrieben werden, müssen sofort an gleicher Stelle durch den ethischen Diskurs der Zeit, der dem Ich-Erzähler anhaftet, als sozial inakzeptabel verworfen werden. Er unterwirft sich einer Episteme von Geschlecht, die heute als überholt gelten kann, nämlich der, dass eine Frau im Rollstuhl Begehren versagt bleiben muss. Trotzdem bleiben diese Moralverstöße denkbar und für Edith, ja selbst für Ediths Vater, ist das tabuisierte Bündnis zwischen dem gesunden Leutnant und der kranken Edith eine nicht ganz abwegige Vorstellung. Gender entlarvt sich in diesem Text als eine Konstruktion, die zwar fest in der patriarchalischen Gesellschaft zementiert ist und doch gleichzeitig in ihrer Brüchigkeit und Kontextabhängigkeit offengelegt wird. Diese Interpretation beinhaltet ein Urteil, das eine Kritik an der dargestellten Geschlechterordnung impli‐ ziert, insofern sie also auch als feministisch gelten kann. Der Genderdiskurs kann nur aus einer Perspektive beschrieben und untersucht werden, die sich dem patriarchali‐ schen Leitdiskurs widersetzt. Der Roman ist heute nur lesenswert, seine Psychologie erschient nur nachvollziehbar, wenn die Prämisse, dass eine Heirat Hofmillers und Ediths ein Tabu darstellt, nachvollzogen werden kann. Dass davon ausgegangen wird, dass auch heutige Leser*innen das tun, zeigt eine Neuauflage des Romans 2021, die z. B. 1.3 Fließende Übergänge 31 <?page no="33"?> 25 Vgl. Albrecht 2012, S. 324. In diesem Aufsatz stellt die Autorin auch verschiedene Muster vor, in welcher Weise sich die Anerkennungstheorie für die Literaturwissenschaft fruchtbar machen lassen kann. im literarischen Quartett am 3. Dezember 2021 euphorisch besprochen wurde. Auch im 21. Jahrhundert sind wir durchaus in der Lage, die Gesetze des Patriarchats, die im vorigen Jahrhundert galten, zu verstehen. Viel Altbackenes ist uns verinnerlicht, auch wenn wir intellektuell dazu in der Lage sind, bestimmte patriarchalische Konventionen von uns zu weisen. Das gegenwärtige Lesevergnügen speist sich aber m. E. nicht nur aus Zweigs schriftstellerischem Talent, Gewissensqualen zu skizzieren, sondern auch daraus, dass wir Hofmillers und vor allem Ediths Tragödie nicht als unausweichlich betrachten, weil wir zu den ehernen Gesetzen in eine kritische Distanz treten. Diese Distanz ist eine feministische, ermöglicht wird sie durch einen kritischen Genderblick. Sie eröffnet Raum für soziale Freiheit. Inspiriert vom Webfeminismus oder gegenwärtigen Debatten zu Genderpolitik, bezeichnen sich heute viele Studentinnen selbstbewusst als Feministinnen. Das F-Wort ist kein Tabu mehr, so dass auch Leseweisen von Texten das Attribut ‚feministisch‘ wieder tragen können, deshalb sollen in diesem Studienbuch einige Lektüretools vorgestellt werden, die als feministisch zu bezeichnen sind, die aber - was noch bedeutsamer ist - ein tieferes Verständnis bestimmter Texte ermöglichen. Die Literatur zeichnet ein buntes Bild von Geschlecht, welches mit den herkömmlichen, patriarcha‐ lisch geprägten Lektürebrillen gar nicht richtig erfasst werden kann. Der Begriff der Anerkennung dient in diesem Studienbuch als Bindeglied zwischen der Semantik der feministischen Wissenschaft und der der Gender Studies. 1.4 Anerkennung als Objekt oder Subjekt - Immanenz vs. Transzendenz Um den feministischen Diskurs und den Genderdiskurs, welche beide intellektuell sowieso in einem Zusammenhang stehen (und deshalb manchmal auch abwertend als sinngleich verhandelt werden; Genderismus als Synonym für fehlgeleiteten Femi‐ nismus), argumentativ, systematisch und inspirierend, vor allem aber auch für die Literaturwissenschaft produktiv, in ihrer Schwesternschaft vorzustellen, bietet sich als Bindeglied der Anerkennungsdiskurs an, wie er gegenwärtig auch in außerakade‐ mischen Debatten um Anerkennung und Identität geführt wird. Eine umfassende Monografie zu Anerkennung in Literatur ist bisher noch nicht erarbeitet worden. Zu diesem Ergebnis kommt Andrea Albrecht in ihrem Aufsatz Literatur und Anerkennung - Literaturwissenschaftliche Appropriationen, der sowohl einen Forschungsbericht als auch eine Bibliografie beinhaltet. An diesem Befund hat sich nichts geändert, aber das Fach hat ein Interesse für Anerkennungstheorien entwickelt. 25 Im moralphilosophischen und gesellschaftspolitischen Diskurs hat der Begriff der Anerkennung Konjunktur. Um uns zu subjektivieren und unsere Identität zu finden, 32 1 Einleitung <?page no="34"?> 26 Palmen 2018, S.-19. 27 Charim 2022, S. 134ff. Charim bezieht sich bei ihrer Kritik auf den Begriff der Selbstbestimmung in der Transgesetzgebung. Jedoch sind sich die Aktivist*innen der Transbewegung der Gefahr, die im Begriff der Selbstbestimmung liegt, bewusst, denn ein solches Konzept konnotiert Willkürlichkeit. Mit dieser Gefahr setzt sich zum Beispiel Duval 2021 (S. 16f.) auseinander. Die Selbstbestimmung des sind wir auf Anerkennung von anderen Menschen angewiesen. Anerkennung zu erringen, ist kein leichtes Unterfangen, denn als Wesen, die Anerkennung benötigen, sind wir abhängig von sozialen Kategorien, diese Anerkennung sicherstellen. Sie ist keineswegs solipsistisch, allein aus sich heraus zu erlangen. Der Begriff der Anerkennung stammt aus der praktischen Philosophie und geht auf die Subjektphilosophie des 18. Jahrhunderts zurück. Die gegenseitige Anerken‐ nung von Subjekten schafft erst die Möglichkeit, sich zu individualisieren. Um sich als Individuum zu verstehen, muss ein Mensch als solches anerkannt sein. Die Begriffe ‚Immanenz‘ und ‚Transzendenz‘ werden im existentialistisch-philoso‐ phischen Diskurs von Simone de Beauvoir verwendet. Bei ihr bedeutet, in der Immanenz zu verharren (als Gegensatz zur Transzendenz), in den Handlungsspiel‐ räumen (z. B. aufgrund kultureller Vorgaben) beschnitten zu werden und innerlich unfrei zu sein. Die Aufgabe des Menschen sahen Existentialist*innen darin, für die eigene Existenz Sinn zu schöpfen, sich zu entwickeln und selbst zu behaupten. Ge‐ nau diese Aufgabe aber verfehlen Frauen, weil ihnen Entwicklungsmöglichkeiten versagt bleiben und sie in Immanenz verharren müssen. In letzter Konsequenz wird durch die Geschlechtsrolle, die zur Immanenz verurteilt bleibt, die Menschlichkeit der Frauen beschnitten. In einer essayistischen Annäherung an Marilyn Monroe fragt die niederländische Autorin Connie Palmen: Gibt es so etwas wie eine Wahrheit über eine Person? Hat man eine Identität, wenn man ganz allein am Küchentisch sitzt? Wenn man nicht gesehen wird, nicht durch den Blick anderer definiert wird? 26 Marilyn Monroes Identität kreist, so Palmen, im Kern um diese Frage: Ist sie als das im 20. Jahrhundert so vergötterte Sexsymbol Marilyn Monroe im Sein verankert, wenn niemand auf sie schaut? Die Frage ließe sich erweitern: Ist die geschlechtliche Identität, ob als Frau, Mann oder als sich nicht binär verstehende Person (für sich selbst) gegeben, wenn die geschlechtliche Zugehörigkeit nicht gesehen und nicht anerkannt wird? Die Philosophin Isolde Charim warnt davor, dass Menschen in eine narzisstische Tautologie geraten würden, wenn sie ihr Selbstverständnis allein von abstrakten, selbstgeschaffenen Vorstellungen statt von der konkreten Wahrnehmung Anderer abhängig machen würden. 27 Literatur ist ein geeignetes Diskursfeld, um der Frage, wie 1.4 Anerkennung als Objekt oder Subjekt - Immanenz vs. Transzendenz 33 <?page no="35"?> Geschlechts wird als Möglichkeit des Widerstandes „gegen die Zwangsmechanismen des binären Geschlechtssystems“ gesehen, eingedenk der Tatsache, dass ein solcher Begriff problematisch ist, weil „Selbstbestimmung mit einem Verständnis von Individualität verbunden ist, das kapitalistische Konzepte wie das der persönlichen ‚Freiheit, seine Arbeitskraft zu verkaufen‘ unterstützt“, wobei „diese Konzepte Unterdrückungsmechanismen verschleiern.“ Charim und Duval teilen also eine grundsätzliche Skepsis gegenüber geschlechtlicher Selbstbestimmung, wenn sie als willkürlicher Akt verstanden wird, der einer kapitalistischen Logik der Selbstoptimierung folgt, nur befürwortet die Transaktivistin den Begriff als juristischen Begriff, weil er Trans-Menschen eine Autonomie gegenüber medizinischen Begutachtungsverfahren zusichert, die für Trans-Menschen in vielen Fällen schmerzhaft sind und als despotisch empfunden werden. Figuren geschlechtliche Anerkennung gewinnen, nachzugehen. Literarische Figuren gewinnen ihre geschlechtliche Anerkennung, indem sie ihr Außen zu einem Spiegel machen, sie wollen nicht nur als Personen mit ihren unverwechselbaren Eigenschaften anerkannt werden, sondern ihnen ist auch ihre geschlechtliche Anerkennung ein hohes Bedürfnis. Je jünger die Texte sind, desto augenscheinlicher hecheln die Figuren auch ihren Genderrollen hinterher, weil sich eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit Geschlecht zunehmend verflüchtigt. Das mag damit zu tun haben, dass sich geschlechtliche Identität in der Spätmoderne zusehends verkompliziert hat. Sowohl Frauen als auch Männer sind von dieser Suche nach Resonanz auf ihr geschlechtliches Sein getrieben - die mehr einschließt als die Anerkennung als „vollwertige Frau“ und als „starker Mann“. Oft zeigt sich besonders die weibliche Suche nach Anerkennung als prekärer Akt. In vielen Fällen entspinnt sich dieses Anerkennungsbedürfnis als narzisstische Qual. Figuren begeben sich in einen Wettbewerb, greifen auf Muster der Abwertung Anderer und auf Skripts für die Selbsterhöhung zurück, um der Bedrohung, z. B. nicht als begehrenswerte Frau anerkannt zu werden, etwas entgegenzuhalten. Um als weiblich wahrgenommen zu werden, bedarf es nämlich einer positiven Resonanz auf die physische Erscheinung. Die Anerkennung als Frau läuft über den Körper, so wie eben für Marilyn Monroes Karriere fast ausschließlich nur der Status des Sexsymbols, der durch ihre vollen Lippen, ihren wiegenden Gang, ihr hellblondes Haar hergestellt worden ist, ausschlaggebend war. Ihr Erfolg, ihr Ruhm beruhte nicht auf ihrem Berufs‐ stand der Schauspielerin, obwohl sie äußerst beflissen war, das Schauspielhandwerk zu erlernen. Unbezweifelbar, auch das trifft sicher auf die historische Figur Marilyn Monroe alias Norma Jean Baker zu, wollen weibliche Subjekte nicht entsprechend einer historisch generierten und im 20. Jahrhundert schon überholten Vorstellung von Weiblichkeit nur als körperlich anziehende Objekte in Erscheinung treten. Frauen trachten ebenso danach, als rationale Subjekte, deren Ratio gerade nicht über den Körper definiert ist und die im öffentlichen/ professionellen Rahmen Achtung gebieten können, verstanden zu werden. Bereits im Bewusstsein von Frauen, die vor der Mitte des letzten Jahrhunderts geboren worden sind, hat sich der Wille, nicht nur als Objekt wahrgenommen zu werden, als Leitfanden der Existenz etabliert. So schreibt die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux (* 1940) in Mémoire de fille/ Erinnerungen eines Mädchens (2016; auf Deutsch 2020 erschienen), dass sie bereits in den 1950er Jahren von Simone de Beauvoirs Anspruch 34 1 Einleitung <?page no="36"?> 28 Ernaux 2022, S.-119. 29 Ebenda. 30 Vgl. Sontag 1977, S.-285-294. 31 Vgl. Kant 1996, S.-850-868. 32 Ebenda, S.-864. 33 Ebenda, S.-865. 34 Ebenda. 35 Ebenda. 36 Ebenda. an Frauen, sich „aus ihrer Entfremdung als Objekt“ 28 zu befreien, geprägt worden sei. Eine Frau, die es ablehnt, den Subjektstatus zu entwickeln, gilt als jemand, die sich nicht „richtig verhält“. 29 Eine derart puppenhaft agierende Frau würde die Immanenz, also die Gefangenheit in einer Rolle, der Transzendenz, der Möglichkeit sich als geistiges Wesen jenseits der körperlichen Definiertheit, vorziehen und damit ihre geistigen Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten negieren. Ist die Identität einer Frau ausschließlich durch ihre sexuelle Ausstrahlung und ihre Funktion als Sexobjekt anerkannt, zeitigt das böse Folgen. In der zweiten Welle der Frauenbewegung wurde vor dieser Reduktion des weiblichen Selbstverständnisses auf die Körperlichkeit eindringlich gewarnt. Der physische Altersprozess war besonders im 20. Jahrhundert für Hollywoodstars wie Marilyn Monroe nicht nur eine Herausforderung ihrer Eitelkeit. Ihr Suizid im Alter von 36 Jahren ist tragisch, aber die Kunstfigur Marilyn Monroe wäre in den kommenden Jahren wahrscheinlich sowieso zu Grabe getragen worden, weil eine Frau über 30 damals nicht mehr problemlos zum sexuellen Liebesobjekt taugte. Neben vielen individuellen Traumata, die der Filmstar mit sich herumtrug, mag die Entscheidung zum Selbstmord auch in der Unfähigkeit Norma Jean Bakers gelegen haben, jenseits ihrer Rolle als „Superweib“ und perfektes Blickobjekt eine Identität zu finden. In einem streng patriarchalisch geprägten Raster, in dem verführerische Weiblichkeit ganz eng an einen Jugendbegriff gekoppelt ist, wird das Älterwerden für Frauen, die sich allein über ihren jugendlichen Körper definieren, ein tödlicher Prozess. 30 Kant, der im 18. Jahrhundert in seinen vorkritischen Schriften weibliche Wesen zum „schönen Geschlecht“ zählt, 31 ist sich dieses geschlechtlichen Identitätsdilemmas bewusst, dem Frauen im Alter, das von ihm als „der große Verwüster der Schönheit“ 32 bezeichnet wird, ausgesetzt sind. Er weiß, dass die „allen Frauenzimmern so schreckliche Epoche des Altwerdens“ 33 einen Identitätskonflikt heraufbeschwört, da der Moment, wenn sie als Angehörige des schönen Geschlechts nicht mehr als schön gelten können, ihre sexuelle Daseinsberechtigung auslöscht. Es wird für sie zum Drahtseilakt, ihre geschlechtliche Identität zu wahren, denn sie können nicht einfach ins männliche Feld (Geistesaufgaben) wechseln. Statt sich „in einer Art Verzweiflung“ 34 dem physischen Schönheitseinbruch entgegenstellen zu wollen, sollte eine älterwerdende Frau mit „freundlichem Wesen“ 35 den Verlust der äußeren Schönheit durch innere Schönheit kompensieren. Kant rät dazu, dass sie ihre psychische Schönheit ausbilden solle. Körperliches Begehren erweckt eine alte Frau nicht mehr bzw. soll sie nicht erwecken, denn das widerspräche „einem guten Anstande“ 36 , aber sie kann sich ihrer Weiblichkeit 1.4 Anerkennung als Objekt oder Subjekt - Immanenz vs. Transzendenz 35 <?page no="37"?> 37 Ebenda. 38 Vgl. dazu die Komödie „Pariser Platz 13“ (1930) von Vicki Baum (2006), der sich mit der Kommerzia‐ lisierung des Jugend- und Schönheitswahns auseinandersetzt. In der Neuausgabe sind auch Baums Glossen zum Thema Altern enthalten. 39 Vgl. Kant 1996, S.-865. 40 Ebenda. 41 Attenberg 2021, S.-77. versichern, indem sie immer noch „eine feinere Person, als ein Mann im gleichen Alter, und vielleicht noch liebenswürdiger als ein Mädchen“, 37 ist. Das Gebot für Frauen, Männer zu erfreuen und sie zu unterhalten, sei im Alter schwieriger zu bewerkstelligen, aber mit einer guten Ausbildung im weiblichen Genderverhalten (z. B. die Fähigkeit, angenehm zu plaudern und auf den Mann kontemplativ zu wirken), lässt es sich auch von äußerlich weniger attraktiven Frauen befolgen. In unserem Geschlechterdiskurs bestehen diese Vorschriften für Frauen in gewisser Weise noch, auch wenn sie einer ganz anderen Epoche entsprungen sind. Sie führen immer noch dazu, dass größere Altersunterschiede zwischen heterosexuellen Paaren, in denen der Mann jünger ist, kritisch beäugt werden, gleichzeitig dienen jüngere Liebhaber als probates Mittel der Selbstaufwertung, um dem weiblichen Altersprozess zu entkommen. Eine ältere Frau, wobei der Ausdruck ‚älter‘ relativ ist und unsere Altersdiskriminierung, verglichen mit der des 18. Jahrhunderts, selbst verglichen mit der der 1960er Jahre, in die Marilyn Monroes Suizid fällt, nicht so früh einsetzt, soll nicht krampfhaft versuchen, als begehrenswert zu erscheinen, 38 weder für gleichalte noch für jüngere Männer. Die Grazien, so Kant, residieren nicht in den Runzeln, 39 und angenehme Gesellschaft findet sich nicht bei Frauen, die sich einer „grämischen und mürrischen Laune“ 40 überlassen, weil sie den Charakter des Begehrensobjekts zwanghaft aufrechtzuerhalten trachten, dabei aber scheitern. Dass die physische Jugendlichkeit aufrechterhaltenden Schön‐ heitsprozeduren zermürbend und selten zielführend sind, weshalb sie sich negativ auf das Gemüt der Schönheitsbeflissenen auswirken, ist demnach eine Annahme, die schon aus dem 18. Jahrhundert stammt. Der Wunsch nach ewiger Jugend wird der Lächerlichkeit preisgegeben. Frauen, die sich zu wenig um ihre äußere Erscheinung sorgen, können allerdings im gleichen Maße beschämt werden wie Frauen, die ihrem Äußeren zu viel Sorge widmen. Welche Form der Schönheitspflege einem bestimmten Alter angemessen ist, bleibt rätselhaft; und alle Versuche werden im Zweifelsfall immer als unangemessen degradiert. Das Paradigma ‚Jugend, Schönheit und Weiblichkeit‘ ist ebenso wirkungsmächtig wie fatal. In dem vielgelobten Roman Ist alles deins von Jami Attenberg, 2021 auf Deutsch erschienen, treffen wir auf eine 68-Jährige Protagonistin, die ihr Mantra „dünn und hübsch, hübsch und dünn“ 41 seit Jahrzehnten eisern verfolgt. Sie kämpft durch tägliches Walken, Diäten und Schönheitsbehandlungen nicht nur um die richtige Körperform, sondern auch gegen das Alter, genau auf die Weise, die nicht nur Kant als unangemes‐ sen verurteilen würde, die aber für Barbra die einzige Existenzmöglichkeit ist. 36 1 Einleitung <?page no="38"?> 42 Ebenda, S.-79. 43 Ebenda, S.-82 44 Kant 1996, S.-866. 45 Ebenda. War sie schon alt? Sie war achtundsechzig. Das war nicht jung. Sie hatte so lange gekämpft, gegen das Altsein. Sie hatte jede verdammte Creme benutzt. Sie trank kaum. Niemals ließ sie die Sonne an ihre Haut. Essen war unerheblich und nur dazu da, dass sie weiter funktionierte. Fünf Jahre zuvor hatte sie sich liften lassen, und sie hielt sich gut. Straff und stramm. Gertenschlank. 42 Barbra verkörpert, obwohl sie von der zweiten Welle der Frauenbewegung hätte geprägt sein können, ein präfeministisches Weiblichkeitsbild: Barbra war aufgewachsen mit dem Traum von einem Mann, der für sie sorgen würde, der ihr all die Dinge geben würde, die sie begehrte. Liebe wäre auch nicht schlecht, aber sie hatte gelernt, sich selbst die Geborgenheit zu spenden, die sie brauchte. Als ich Victor kennenlernte, hätte ich allem entsprochen, was er wollte, dachte sie. Nur um zu bekommen, was ich wollte. 43 Den von Barbra angestrebten Deal, sich lebenslang dem Blickregime des Mannes zu unterwerfen, dafür aber ökonomisch abgesichert zu sein, darf ihre Tochter nicht eingehen, da die eine Generation jüngere Frau nicht ernsthaft eine solche Identität für sich entwerfen kann. Durch den Feminismus sozialisierte Frauen scheuen davor zurück, sich auf Körperlichkeit und Sexualität reduzieren zu lassen, selbst wenn sie sich gar nicht aktiv zu feministischen Ideen bekennen. In der zweiten Welle der Frauenbewegung ging es darum, das weibliche Rollenkorsett aufzubrechen und Barbras schlichte Form der Lebensplanung als nichtig zu erklären. Nicht ihre Schön‐ heit, nicht ihre angenehme Ausstrahlung und Liebenswürdigkeit führe eine Frau in die Freiheit und brächte ihr tatsächliche Achtung ein. Sie habe geistig an sich zu arbeiten, sie soll sich in erster Linie ökonomisch unabhängig von Männern machen können. Auch Kant behauptet, dass Schönheit zwar männliche Liebe erwecken kann - vermutlich meint er in diesem Kontext eher etwas, das wir heute mit dem Begriff „Begehren“ assoziieren -, dass aber äußerliche Attraktivität nichts darstellt, das als „Humankapital“ wertgeschätzt werden könne. Die Liebe, die Männer der weiblichen Schönheit zollen, ist keine auf Augenhöhe. Schönheit steht als menschliche Eigenschaft nicht auf derselben Stufe wie Bildung und Ratio. Frauen gleichen ihren Mangel an Büchergelehrsamkeit, an Talenten durch „schöne Reize“ 44 aus. Ein Frauenzimmer ist darüber wenig verlegen, daß sie gewisse hohe Einsichten nicht besitzt, daß sie furchtsam ist und zu wichtigen Geschäften nicht aufgelegt ist etc. etc., sie ist schön und nimmt ein und das ist genug. 45 Die feministische Richtlinie, dieses hanebüchene Genderdiktat sei zu überwinden, indem Frauen ihre Talente ausbilden und sich so davon unabhängig machen können, 1.4 Anerkennung als Objekt oder Subjekt - Immanenz vs. Transzendenz 37 <?page no="39"?> 46 Ebenda. 47 Ebenda. 48 Vgl. ebenda. 49 Wittenberg 2021. wie reizend sie auf Männer wirken, ist auch nach der Welle der Frauenbewegung allerdings nur halbherzig befolgt worden. Frauen haben sich zwar auch zu ihrer Aufgabe gemacht, wie Männer als bürgerliche Subjekte geschätzt zu werden, also mit Wissen, Tatkraft und Verstand in der Welt zu bestehen, sie sind zu wichtigen Geschäften aufgelegt, doch sie fühlen sich ideologisch nicht davor gefeit, angenehm auf ihr männliches Gegenüber wirken zu wollen. Statt das Rollenkorsett aufzubrechen, wurde es nur um Zierschleifen erweitert. „[M]ännliche Fratzengesichter“, 46 so Kant, stellen kein Hindernis dar, um als Mann zu reüssieren. „[D]en läppischen Zieraffen“ 47 droht mehr Gefahr für die Männlichkeit als einem nur mäßig attraktiven Mann, der durch seine „erhabenen Eigenschaften“ 48 für das andere Geschlecht begehrenswert ist. Gilt das ebenso für Frauen? Ist ein weibliches „Fratzengesicht“ durch andere Eigenschaften kompensierbar oder vermännlicht sich die Frau nicht, umso mehr sie, im 20. Jahrhundert sogar politisch unterstützt, den ehemals Männern vorbehaltenen Weg der Anerkennung beschreitet, ganz unabhängig davon, wie sie aussieht und wieviel Begehren sie weckt? Die Attraktivität einer Frau ist auch bei sozial sehr hochstehenden und beruflich erfolgreichen, ja tonangebenden, Frauen immer noch ein Topos, z. B. für die mediale Aufmerksamkeit. Seit 2000 wird diese Fixiertheit auf das weibliche Äußere immer deutlicher in Frage gestellt, deshalb musste sich beim Wahlkampf um das Amt der Bundeskanzlerin im Jahr 2005 Angela Merkel wegen ihrer Erscheinung herber bespötteln lassen als Annalena Baerbock, als diese im Jahr 2021 für das Kanzleramt kandidierte. Der Grad von Baerbocks Weiblichkeit, wenn auch nicht so platt in Diskussionen um Frisur und Kleidungsstil wie damals bei der älteren Politikerin Merkel in Anschlag gebracht, ist aber auch 16 Jahre später nicht völlig belanglos gewesen. Lucie Wittenberg fragt 2021: „Hat das schlechte Abschneiden nicht nur mit Baerbocks kleinen und größeren Fehltritten, sondern auch mit Sexismus zu tun? “ 49 Selbst, wenn die Frage nicht bejaht wird, ist schon die Möglichkeit, diese Frage aufzuwerfen, ein Zeichen dafür, dass Baerbock eben nicht nur als neutrales Gesicht der Politik, sondern auch als Frau betrachtet worden ist, die mit die männliche Norm brechenden Eigenschaften wie einer höheren Stimme mehr um ihre Anerkennung als Fachfrau kämpfen muss als ein Mann, dem sein Gender in die Karten spielt. Vielleicht hat eine höhere Zahl von Bürger*innen gelernt von der weiblichen Genderrolle einer Staatsfrau zu abstrahieren, aber dennoch sind viele Menschen nicht in der Lage, geschlechtliche Bewertungen ganz auszublenden, wenn die Führungsqualitäten, das Familienleben, das Auftreten einer Politikerin beurteilt werden. Die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht führt bei vielen, beruflich durchaus erfolgreichen Frauenfiguren der Gegenwart zu Identitätskonflikten, weil sie, trotz ihrer professionellen Durchschlagskraft, oftmals in eine Weiblichkeitsfalle tappen. Dieses Phänomen kann nur mit feministischen Paradigmen richtig bewertet werden. Die 38 1 Einleitung <?page no="40"?> 50 Dieses Phänomen, sich von den Müttern abgrenzen zu wollen, kennt die Literatur bereits seit der ersten Welle der Frauenbewegung, schon zu Beginn des 20. Jahrhundert wollten die modernen Frauenfiguren „mehr von ihrem Leben“ als Frau als die vorherige Generation. Die Abgrenzung zu dem angeblich stagnierendem Weiblichkeitsbild der Mutter ist ein Topos, der in den Frauenromanen der neuen Sachlichkeit, aber auch schon früher auftritt. Literatur, auch die der Gegenwart, ist bevölkert von starken und schönen Frauen, die ihr Gegenüber nicht nur durch Kompetenz, sondern auch durch ihre Sinnlichkeit zu verführen trachten und ihre Wirkung genau reflektieren, also einerseits geradezu wie in prä-feministischen Zeiten agieren und sich doch andererseits über die Müttergene‐ ration erheben wollen. 50 Sie subjektivieren sich als die „idealen Körper“, bleiben aber anders als vorherige Frauengenerationen dabei nicht stehen, denn sie erwarten mehr von sich als Barbra, die sich allein durch ihre gut in Stand gehaltene Körperlichkeit definiert. Neben ihrem Status als begehrenswerte Objekte wollen sie sich auch als erfolgreiche Arbeitnehmerinnen oder gar Unternehmerinnen präsentieren, als Mütter und Ehefrauen, die mühelos wie in der Waschmittelwerbung nach einem langen Arbeitstag für ihre Lieben noch ein ökologisch einwandfreies Abendmahl zubereiten können, bevor sie ihre Business-Outfits mit aufregender Lingerie tauschen, um den Partner zu verführen. Diese diskrepanten Gebote an eine gelungene Performanz von Weiblichkeit, die meines Erachtens durch mediale Stars wie Heidi Klum als in einer Per‐ son vereinbar repräsentiert werden (also erfolgreiche Geschäftsfrau, Schönheitsikone, vielfache Mutter, nimmermüde Verführerin und Ehefrau eines jüngeren Mannes zu sein und dabei bodenständig zu bleiben), führen in literarischen Texten nicht selten in eine völlig unklare, nahezu absurde Figurierung von Weiblichkeit, die eine axiologische Unglaubwürdigkeit zeitigen kann. Die Frauenfiguren sind dann entweder gnadenlos übertrieben, zu stark sexualisiert oder entsexualisiert, unglücklich, oder wie in der Popliteratur des neuen Jahrtausends durchweg als psychisch labil gezeichnet, weil sie einen fatalen Weiblichkeitscocktail zu sich genommen haben, der ihre Person durch unvereinbare identitäre Vorschriften umhaut. Mit einer herkömmlichen Lektürebrille sind die Frauen, die sich, aufgrund ihrer disparaten Anerkennungswünsche, lächerlich gebärden und sich irrational verhalten, wohl tatsächlich als psychisch labil zu lesen. Feministisch betrachtet lassen sich andere Schlüsse ziehen, die weniger auf die Psy‐ chologie der einzelnen Figur abzielen als auf ihre genderbasierte Prägung. In dem 2019 erschienen Roman Drei Wünsche von Laura Karasek werden wir mit drei attraktiven Frauen bekannt gemacht. Sie sind über dreißig, teilen dasselbe Lebensgefühl und dieselbe Zerrissenheit. Sie befinden sich im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach beglückender Beziehung und Familienleben, Karrierestreben und dem Genuss ihrer Weiblichkeit, d.h. sie wollen andere Menschen, vor allem Männer, für sich einnehmen. Rebecca, die sich gerade mit ihrem unerfüllten Kinderwunsch plagt und sich auf dieser Ebene der Weiblichkeit (beglückende Mutterschaft) als scheiternd empfindet, zieht bei einer Betriebsfeier das Interesse eines „Typen aus dem Vorstand“ auf sich. Sie lebt in einer festen Beziehung, aber gerade in Anbetracht ihres Gefühls jeden Monat als Frau körperlich zu versagen - „[j]ede Periode ein Schlag ins Gesicht, 1.4 Anerkennung als Objekt oder Subjekt - Immanenz vs. Transzendenz 39 <?page no="41"?> 51 Karasek 2021, S.-29. 52 Ebenda, S.-52f. ein Tritt in den Unterleib“ 51 -, genießt sie die männliche Aufmerksamkeit, die genau diesem, in Hinsicht auf das Fortpflanzungsgebot unfügsamen Körper gilt. Heute sitzt Rebecca schräg gegenüber diesem Typen aus dem Vorstand. Er ist ihr schon ein paar Mal aufgefallen. Er sieht nicht schlecht aus, hat vielleicht ein bisschen zu viel Bart und dafür ein bisschen zu dünnes Haar. Er ist nicht hässlich, aber auch nicht hübsch. Er schmatzt selbstherrlich beim Essen, kaut so laut, wie einer nur kauen kann, der eine hohe Position hat. Selbstgefällig, lauter als alle anderen. Sie schauen einander dauernd an, er sie und sie ihn, die anderen am Tisch unterhalten sich, aber das stört sie nicht, das hält sie nicht ab, ihre Blicke durchkreuzen die Worte der anderen, sie sprechen nicht miteinander, und trotzdem ist alles klar. Seine Blicke sind eindeutig, und sie möchte - auch um ihn nicht zu beschämen - spielerisch darauf reagieren. Ein bisschen bloß, nicht allzu sehr. Denn, wenn sie ihn so anschauen würde wie er sie, dann würden sie beide eine Art Vertrag, eine Übereinkunft unterzeichnen, einen Deal machen. Und das will sie nicht. Aber sie will auch nicht, dass seine Blicke nachlassen. […] Auch nach dem Essen beschäftigt der Vorstandstyp sich ausschließlich mit ihr, und sie genießt die Blicke der anderen, die so offensichtlich wahrnehmen können, wer hier wen will. Sie ist begehrenswert und alle können es sehen. 52 Es kommt - und das scheint uns beim Lesen dieses Ausschnitts jetzt schon offenkundig - zu einer brenzligen Situation. Rebecca wird auf einer Autofahrt, die sie nachhause bringen soll, von dem Mann, der sie so eifrig bewundert, sexuell belästigt. Eine gewisse internalisierte Misogynie macht uns zur Kritikerin an ihrem Verhalten. Hat sie mit dem Genuss der begehrenden Blicke das Verhalten des Manns nicht provoziert? Hat sie sich nicht willfährig zum sexuellen Objekt gemacht, obwohl sie nicht von eigenem Begehren getrieben war? Ist ihr aufmerksamkeitsheischendes Verhalten nicht das einer leichtfertigen Frau? Dass Rebecca vom Arbeitsumfeld seit dem Abend als „Vorstandsflittchen“ gemobbt wird, erscheint zwar selbst aus einer nichtidentifikato‐ rischen Perspektive ein bisschen ungerecht, weil sie nicht auf ein sexuelles Abenteuer aus war und sich Rebecca noch kurz vor knapp aus der brenzligen Situation zu befreien vermochte, und zweitens, weil die sexuellen Beziehungen einer Mitarbeiterin nun eigentlich nicht das gesamte Kollegium anstacheln sollten, diese als Freiwild zu betrachten und sie zu demütigen. Der Text ergreift Rebeccas Partei und schafft auf der Rezeptionsebene Resonanz, aber er erklärt nicht ihr zwiespältiges Flirtverhalten, das er offen ausspricht: „Und das will sie nicht. Aber sie will auch nicht, dass seine Blicke nachlassen.“ Eine herkömmliche Leseweise kann dazu führen, Rebeccas Verhalten als ambivalent und die Figur deshalb als psychisch instabil zu dechiffrieren. Der Text sagt allerdings wenig über Rebeccas ureigene Psychologie aus, vielmehr spricht er über spätmoderne Weiblichkeit, in der er sie verortet. Was von Rebecca auf der persönlichen Ebene erzählt wird, ist allein ihr banger Kinderwunsch, den sie jedoch mit sehr vielen Frauen um die dreißig teilt und der deshalb in gewisser Weise auch 40 1 Einleitung <?page no="42"?> 53 Vgl. beispielsweise Pine 2019/ 2021; Sagorski 2022; Diehl 2018. 54 Karasek 2021, S.-53. 55 Ebenda. 56 Vgl. Kant 1996, S.-850-868. 57 Karasek 2021, S.-54. 58 Ebenda, S.-55. nicht besonders individuell gefärbt ist. Selbst die Enttäuschung über die ausbleibende Schwangerschaft und die Versagensangst hinsichtlich der eigenen Fruchtbarkeit ist ein spätmoderner Topos. 53 Rebeccas Sehnsucht nach einem Kind wird eher so beschrieben, dass sie auch in Hinsicht auf die Familienplanung ihre Rolle als Frau zu erfüllen gedenkt. Eine besondere Liebe zu Kindern bleibt unerwähnt. So ist auch ihr Genuss der Blicke ebenso wenig Ausdruck einer ureigenen Persönlichkeit, einer nur für Rebecca typischen Eitelkeit. Die ambivalent flirtende Heldin geht mit ihrer spätmodernen Weiblichkeitsrolle konform. Wenn wir den Abschnitt genau betrachten, will sie den begehrenden Blick des Mannes weder erwidern noch interessiert der Mann sie sexuell. Was sie interessiert, ist die Potenzierung seines Blickes durch die Anderen. Es geht ihr um die Anerkennung ihrer Weiblichkeit. Jeder kann zuschauen, wie er sich um sie bemüht, ihr Getränke bringt, an den richtigen Stellen lacht und sie zum Lachen bringt. 54 Durch den Vorstandstypen erfährt sie diese weibliche Anerkennung, die ihr die mangelnde Fertilität versagt. Sie ist davon „ein bisschen peinlich berührt“, 55 denn sie durchschaut das Spiel. Kant erklärt bei seiner Definition der idealen Frauenrolle Naivität für eine hervorragende Eigenschaft von Frauen. 56 Naiv ist Rebecca leider nicht. Sie ahnt, dass sie sich im herzlosen Blick der Umgebung zur „Schlampe“ 57 macht; oder besser, sie ahnt, dass sie der Genuss des Weibchen-Spielens am Arbeitsplatz teuer zu stehen kommen wird. Als Frau, deren Weiblichkeit in der Objektrolle für den männlichen Blick besteht, funktioniert sie an dem Abend blendend. Doch welche Auswirkungen hat das auf ihre Rolle als Arbeitnehmerin, Kollegin? Rebecca agiert ihre Identität aus. Das tut sie mit äußerstem Bedacht. Sie weiß, dass sie die Objektrolle nicht zu stark ausreizen darf, ihre kritische Distanz zu dem angestaubten Verhalten macht genauso ihre spätmoderne Identität aus wie ihr Unvermögen, konsequent dem Weibchen-Spielen zu entsagen. Immer und immer wieder bitten die Männer in ihrer Berufswelt sie um etwas. Sie will dann keine Zicke oder Diva sein oder als frigide, prüde, „schwierig“ rüberkommen. Sie will keine schwierige Frau sein. Keine, die den Ruf der Frauen schädigt, indem sie Dinge kompliziert macht. Sie will mitgenommen werden auf die Männer-Events, sie will dabei sein, wenn alle trinken und Zigarre rauchen, sie will nicht stören, nicht bremsen, sie will mithalten, mittrinken, mitrauchen - oder einfach nur schwanger werden und nichts von alldem mehr tun. 58 1.4 Anerkennung als Objekt oder Subjekt - Immanenz vs. Transzendenz 41 <?page no="43"?> 59 Ebenda, S.-59. 60 Vgl. ebenda, S.-53. Rebeccas Erfolg als Sexualobjekt wechselt von einem Bestätigungszu einem Gefan‐ genheitsgefühl. Nun ist sie gefangen, gebannt in ihre sexuelle Ausstrahlung und in ihre Weiblichkeit, die sie sich und Anderen beweisen wollte. Ihr Spießrutenlauf am Arbeitslatz beginnt am kommenden Montag. Die Anerkennung Rebeccas erweist sich tatsächlich als prekär, denn sie darf in keine der beiden Richtungen von „zu viel oder zu wenig Weiblichkeit“ ausschlagen. Als „schwierig“ zu gelten, zu klare Grenzen zu setzten, sich zu männerunabhängig zu geben, ist keine Option, um als one of the boys akzeptiert zu werden, aber sich zu auffällig zum Objekt zu machen, zu passiv den Geboten der Männer zu folgen, führt auch in keine befriedigende Position. Ein deutliches Einschlagen in die eine oder andere Richtung ist identitätsgefährdend. Spätmoderne Weiblichkeit muss auf der Hut sein. Der Flirt mit dem „Typen aus dem Vorstand“ war ein Wagnis. Er, so hofft sie, wird ihren inkonsequenten Flirtversuch mit zwei möglichen Erklärungen abhaken und sie fortan in Ruhe lassen, Erklärungen, die beide noch für sie erträglich wären. „‚Die ist bloß schüchtern‘, wird er sich im besten Fall erzählen. Im schlimmsten hält er sie für eine frigide Kuh.“ 59 Die Wahrnehmung des abgewiesenen Mannes aus der Chefetage spielt aber in Rebeccas Geschichte gar keine Rolle mehr. Das, was Rebecca an Mobbing widerfährt, abstrahiert völlig von dem, was zwischen ihr und ihm wirklich vorgegangen ist. Es ist die ultimative Strafe für die widersprüchlichen Wünschen, denen sie sich bei der Party hingab, als sie mit dem Repräsentanten überlegener Männlichkeit geflirtet hat. Karaseks Roman führt die Verstrickung Rebeccas in Weiblichkeitsrollen vor Augen, nicht ihren Mangel an Aufrichtigkeit. Studierende reagieren auf die Lektüre des Romans sehr positiv, selbst wenn sie sich selbst noch nicht in einem Arbeitsumfeld behaupten müssen, ist die sensible Darstellung der Frauenfiguren etwas, auf das Leserinnen sofort reagieren können. Ohne dass jemand den Roman als feministischen Roman bewerben würde, fördert er ein feministisches Bewusstsein, auch betreffend die Fragen, wer Schuld an einer sexuellen Belästigung hat und was die Auslöser für Mobbing am Arbeitsplatz sind. Rebecca ist nicht schuld, dass sie im Taxi begrabscht wird, aber sie trieb die Handlungen des Mannes voran. Sie konnte sehen, wie er immer selbstsicherer wurde und worauf seine Schmeicheleien zielten. 60 Sie hat ihn nicht gebremst, weil sie als eine (Kontemplation spendende) klassische Frau auf ihn reagiert hat, weil sie die Spielregeln der Heterosexualität und die der Weiblichkeit ganz bewusst nicht zu brechen gedachte. So ist vermutlich auch der Mann nicht schuld, dass er ihre Zeichen zu seinen Gunsten deutete. Er ist blind und selbstüberheblich - aber er ist kein potenzieller Vergewaltiger. Nur ist er in der sicheren Position. Seine Genderidentität ist nicht in Gefahr, weil Rebecca sich beständig zur Aufgabe macht, ihn gerade nicht zu beschämen, keine schmerzhafte Zurückweisung auszusprechen. Selbst nach ihrem abrupten Beenden der Situation vergegenwärtigt sie sich zuerst, was 42 1 Einleitung <?page no="44"?> 61 Ebenda, S.-54. 62 Ebenda. 63 Ebenda, S.-63ff. der Mann nun wohl von ihr halten mag. Sie macht ihre Identität abhängig von seiner Wahrnehmung. Diese Abhängigkeit bringt sie notwendigerweise zu Fall. Sie wäre nicht mehr davon bedroht, wenn sie mit ihrem Flirtpartner geschlafen oder weniger, wenn sie ihn deutlicher in die Schranken verwiesen hätte. Sie konnte bei dem Spiel um weibliche Anerkennung nicht gewinnen, weil die Gesetze allein von ihrem Umfeld bestimmt werden und inkohärent sind, was eine korrekte Befolgung aller Regeln unmöglich macht. Rebecca hat sich dem Urteil der Anderen ausgeliefert, denn das scheint ein intrinsisches Gesetzt der Weiblichkeit zu sein, dass eine Frau vor den Augen der Männer als Frau bestehen muss (oder dass sie ihre anerkennenswerte Genderidentität verliert, z. B. als „Mannweib“ oder gar „Schlampe“ wahrgenommen wird). Rebeccas Pech ist, dass sie nun nicht nur von den männlichen Beobachtern als „sehr sexy“ 61 be-, sondern auch als „bitch“ 62 verurteilt wird. Durch das Mobbing hat sich ihr inneres Changieren zwischen den Rollenerwartungen als konkrete Frage veräußerlicht: Und das ist sie, eingeklemmt zwischen ihrem Bedürfnis zu gefallen und ihrer Feigheit. […] Soll sie kündigen? […] Aber sie liebt doch diesen Job. Sie liebt nur den Arbeitsplatz nicht mehr. 63 Der literarische Output der Gegenwart positioniert sich klar zum Feminismus sowohl positiv als auch negativ. Die Textanalysen müssen darauf reagieren. Da theoretische Debatten um Gender auch in der Literaturwissenschaft so dominant sind, hat das Fach nicht mit neuen Seminarangeboten oder Publikationen darauf reagiert, obwohl es Konsens unter Kolleg*innen ist, dass wir uns in einer neuen feministischen Welle befinden. Studierende und Literat*innen fordern eine neue Positionierung seitens der Wissenschaft heraus, die Studierenden, weil es sie interessiert, die Literatur, weil sie thematische Setzungen trifft, die geeigneter Analysetools bedürfen. Mit diesem Studienbuch soll eine solche positive Reaktion auf den Feminismus Gestalt annehmen, indem die Frage nach der identitären Anerkennung und Genderdiskurse so synthetisiert werden, dass sie feministisch inspirierte Lektüren ermöglichen. Das Ziel der Beispielanalysen besteht darin, den Leser*innen dieses Studienbuchs Modelle an die Hand zu geben, um Texte, gerade der jüngsten Gegenwart, genauer verstehen zu können und so die nicht selten diffus erscheinenden männlichen und weiblichen Identitätsentwürfe besser systematisieren, vielleicht sogar erst richtig einordnen zu können. Das literaturwissenschaftliche Instrumentarium der feministischen Literatur‐ wissenschaft besteht aus Basiselementen, welche in den Einführungsveranstaltungen in den ersten Studiensemestern den Studierenden vorgestellt worden sind, jedoch ist es mein Anliegen, in diesem Buch konzeptuelle Neuentwürfe, die ich ‚Analysetools‘ nenne, in einer Publikation systematisch darzustellen. Durch sie soll jeder*m interes‐ sierten Leser*in ermöglicht werden, Texte feministisch lesen zu können. 1.4 Anerkennung als Objekt oder Subjekt - Immanenz vs. Transzendenz 43 <?page no="46"?> 64 Karasek 2021, S.-20f. 2 Was Frauen verrückt macht: Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement von Weiblichkeit in der Spätmoderne Das erste Analysetool, das ich vorstellen möchte, schließt nahtlos an die Einleitung an. Ich möchte dazu noch eine weitere der drei Protagonistinnen aus Laura Karaseks Roman Drei Wünsche genauer analysieren. Der Titel Drei Wünsche referiert auf die drei Protagonistinnen des Romans. Ihre Erzählstränge vermischen sich zum Schluss. Helena, Rebecca und Maxie haben zwar je ihre eigene Geschichte, die sich allerdings strukturell gut mit den Geschichten der anderen Frauen vergleichen lässt. Alle drei Frauen repräsentieren den Typ ‚spätmoderne Frau‘. Es ist nicht so, dass Helena, Rebecca und Maxie je nur einen Wunsch ans Leben hätten. Vielmehr ist es so, dass jede der drei Frauen drei ziemlich ähnliche Ansprüche an ihr Leben stellt. Die konkrete Lebenssituation der Romanheldinnen unterscheidet sich daher nur graduell. Die Figur Maxie ist mit der Figur Rebecca besonders gut vergleichbar. Es wundert daher nicht, dass am Ende des Romans die drei Frauen zusammenfinden, ihre persönlichen Geschichten austauschen und über das, was sie miteinander teilen, Freundschaft schließen. Die Erkenntnis, dass sie sowohl ihre Sehnsüchte als auch ihre Bürden miteinander teilen, wird ihnen auch helfen, ihre Identität im Spannungsfeld der Wünsche und Ansprüche an sich selbst sowie ihr Scheitern daran besser zu verstehen. Diese Ebene des homosozialen, unterstützenden Austausches lässt sich mit einem weiteren Analysetool fassen, das ich im Kapitel „Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis“ vorstellen werde. Um der Darstellung der spätmodernen Weiblichkeitsentwürfe in Drei Wünsche in der Analyse gerecht zu werden, ist jedoch das Konzept ‚triple entanglement‘, das in diesem Kapitel entwickelt wird, besonders hilfreich. Dieses Konzept des triple entanglement, welches als ‚dreifache Verstrickung‘ aus dem englischen Ausdruck übertragen werden kann, macht es meiner Meinung nach erst möglich, die ambivalente Figurierung zu verstehen und einordnen zu können. Lernen wir Maxie und ihre Verstrickungen kennen. Maxie macht sich nichts aus Autos. Aber sie macht sich was aus Männern. Ihre Geschichte beginnt mit einem Auto. Genauer gesagt beginnt sie mit einem Familienfest […]. Maxies Schwiegervater Wolfgang hat zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag ein großes Gartenfest veranstaltet. […] „Ich kenne Sie noch gar nicht“, sagt er, der Mann, der plötzlich neben ihr und ihrem Schwiegervater steht, groß, breite Schultern, wenig Bauch, gepflegtes, straff sitzendes weißes Hemd, silbernes Haar. „Bobby! “, ruft Wolfgang. „Das ist die Frau meines Sohnes, Maxie, also wage es nicht…“ Aber er wird es wagen. Er sieht sehr mutig aus. Er ist furchtlos. Das sieht Maxie sofort. Sie hat schon von ihm gehört […], und er ist mächtig, und das sieht man. 64 <?page no="47"?> 65 Vgl. ebenda, S.-47. 66 Ebenda, S.-118. 67 Ebenda, S.-94. Maxie lässt sich vom Schwiegervaterfreund erobern. Sie lechzt nach dessen Bestäti‐ gung. 65 Aber warum ist sie auf die sexuelle Zuneigung dieses älteren Mannes so erpicht? Maxie lebt in einer glücklichen Beziehung. Sie hegt den Wunsch, mit ihrem Mann ein Kind zu bekommen, ihre Sehnsucht nach Mutterschaft ist allerdings, anders als bei Rebecca, die sie erst später kennenlernen wird, noch vage. Hannes ist ein sorgsamer Ehepartner, er arbeitet als Arzt, „[s]ie möchte nicht ohne ihn sein, sie möchte ihr Leben mit Hannes verbringen.“ 66 Das denkt sie auch noch zu dem Zeitpunkt, als sie schon längst in eine zugleich zermürbend schmerzhafte, als auch aufregend leidenschaftliche Affäre mit Bobby verstrickt ist. Obwohl sie ihre Ehe einerseits nicht aufzugeben denkt, kämpft sie andererseits besessen um Bobbys Aufmerksamkeit. Ihre Affäre scheint ihr anfangs nichts anderes als das Ausprobieren eines neuen Lebensentwurfs, einen Besuch in einem anderen Leben. Und das, obwohl sie ihr Leben liebt, obwohl sie Hannes liebt. 67 Wäre es eine geeignete Analogie, Maxies Verhalten in ein Paradigma von Ehebruchsro‐ manen einzuordnen, in dem ein unerwartetes Zusammenkommen mit einem anderen Menschen, das überraschend heftige Begehren, die eigene, festverankert geglaubte Identität erschüttert? Der moralische Bruch ist Resultat einer irrationalen Emotion, die magischen Charakter hat. Die Heldinnen dieser verbotenen Liebesgeschichten sind Frauen, die auf romantischer Basis ihre ganze Identität in Frage stellen. Das kostet sie meist, z. B. im Kontext der bürgerlichen Moral des 19. Jahrhunderts, ihren sozialen Ruf, dafür finden sie ein neues Ich. Maxie aber ist keine Frau des 19. Jahrhunderts, sie könnte sich ohne herbe Sanktionen einen neuen Partner wählen und mit diesem zusammenleben, ohne den Ausstoß aus der Gesellschaft befürchten zu müssen. Nur ist Bobby kein potenzieller Ehepartner. Die Magie, die er in ihr Leben bringt, ist durchaus nicht unerklärlich. Maxie ist nicht auf eine naive Art verliebt, weder träumerisch noch hoffnungsfroh. Er ist wie eine Art Trophäe, die sie unbedingt gewinnen muss, auch wenn der Kampf um seine emotionalen Zugeständnisse sie in letzter Konsequenz ihre Ehe kosten wird. Der Verlust von Hannes wird Maxie sehr zusetzen, anders als die be‐ rühmten verlassenen, bürokratisch-langweiligen Ehemänner einer untergegangenen bürgerlichen Welt, z. B. Effi Briests Innstetten oder Anna Kareninas Karenin ist Hannes nämlich liebenswert. Sie leidet nicht an ihrem Ehemann, sondern an ihrer Affäre. Obwohl Bobby keineswegs ein unwiderstehlicher Liebhaber ist, hat sich Maxie für ihn als eine Femme fatale entworfen, zwar als eine reflektierte, zwar als eine, die mit popkulturellen Selbstdarstellungspraktiken arbeitet, aber eben doch als eine Frau, die ihre eigene Ehe aufs Spiel setzt und deshalb auch Bobbys Partnerschaft zerstören will. Nicht wegen romantischer Gefühle, sondern aus dem inneren Drang nach Bestätigung heraus: 46 2 Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement <?page no="48"?> 68 Ebenda, S.-212. 69 Ebenda, S.-213 [Hervorhebung im Original]. 70 Ebenda, S.-351. Maxie fängt an, sich für Instagram halb auszuziehen, sie postet sexy Fotos. Manchmal überkommen sie Wellen der Verstörung, weil sie nicht fassen kann, dass sie mit Paula in einer Liga spielt und um diesen alten Sack konkurriert. Sie, die sich seit sie zwanzig ist, Gedanken darüber macht, wie es sein wird, fünfzig zu sein. Sie mit der Torschusspanik. Und jetzt tut sie genau das einer an, vor dem sie sich selbst fürchtet: jung gegen alt. Und sie malt sich aus, wie sie mit Ende vierzig neidisch auf die Dreißigjährigen sein wird. Wie sie - vielleicht genau wie Paula heute - gespritzt und operiert und mit rausgepresstem Dekolleté und engen Lederkleidern auf Partys rumspringen wird. 68 Kommt der Bestätigungsdrang daher, dass sie nicht geliebt wird? Ein Mangel an Liebe seitens ihres Lebenspartners ist unplausibel, denn der Text stellt uns einen ergebenen Ehemann vor. Kommt er daher, dass sie zu wenig Aufmerksamkeit von Männern bekommt? Der Roman zerstreut jeden Zweifel an Maxies Attraktivität, im Gegenteil, sie wird als eine sehr anziehende Frau mit Strahlkraft gezeichnet, allerdings von der durch Altersdiskriminierung induzierten Furcht besetzt, ihre Schönheit im Alter einzubüßen, „krankhaft darauf erpicht, jetzt alles mitzunehmen“ 69 . Ihr Eroberungswille gehorcht einer gewissen Zwanghaftigkeit. Maxie kann in der Rolle der begehrenswerten Frau (und respektierten Ehefrau) reüssieren, sogar im Berufsleben konnte sie vor Ausbruch ihrer Affäre große Erfolge verzeichnen, also wohlgemerkt, bevor sie den mächtigen Bobby kennengelernt hat. Ihr konfuses Liebesabenteuer führt dazu, dass sie zu viel Energie in die nervenaufreibende Beziehung zu ihm investiert. Darüber hinaus ist er Kunde in der Werbeagentur, für die sie tätig ist. Eines Nachmittags ruft ihr Chef sie zu sich ins Büro. […] „Du hast mit einem unserer wichtigsten Kunden eine Affäre. Mit Dr. Robert Metz. Die Leute reden.“ „Ich habe keine Affäre. Und wenn: Es ist längst vorbei.“ Als sie es ausspricht, spürt sie einen Stich. Es ist gar nichts mehr. […] Ihr Chef sieht besorgt aus und unzufrieden. Sie sitzt vor ihm auf dem Stuhl, er beugt sich zu ihr rüber. Sie trägt ein enges Oberteil und verdeckt mit verschränkten Armen die Wölbung ihrer Brüste. Diese Scheißbrüste! […] Sie schrumpft auf ihrem Stuhl zusammen und hält weiterhin die Arme vor die Brust. Sieht man ihre Nippel? Ist es das, was sie verbrochen hat? „Um Gottes willen Maxie. Ich weiß, wie goldig du bist. Ich weiß, was du draufhast. Aber es tut mir leid, die anderen sehen das, was sie sehen wollen, was sie hören. Und da bedienst du nochmal ein Klischee. Du wirkst abwesend bei der Arbeit. Du hast deine letzten Sachen nicht pünktlich abgegeben. […] Im Übrigen: Wenn dieser alte Kerl dich wirklich geliebt hätte, hätte er dich in Ruhe gelassen. Man bringt doch eine junge Frau nicht in so eine Lage. Er hat deiner Karriere massiv geschadet. Und deinem Ruf. Mal ganz abgesehen von deiner Ehe. Aber das geht mich wirklich nichts an.“ 70 2 Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement 47 <?page no="49"?> 71 Ebenda, S.-352. 72 Ebenda, S.-352. 73 Ebenda, S.-353. 74 Vgl. ebenda, S.-318. 75 Ebenda, S.-296. 76 Ebenda, S.-336 [Hervorhebung im Original]. Natürlich geht ihn Maxies Ehe nichts an, genauso wenig wie ihn ihre Affäre etwas angehen sollte, aber eine „junge Frau“ muss als Arbeitnehmerin einen guten „Ruf “ haben. Sie darf sich nicht dem Verdacht aussetzen, sich durch ihre Sexualität Türen öffnen zu wollen. Der Chef rät Maxie angesichts ihrer unprofessionellen sexuellen Leichtsinnigkeit, die Firma zu verlassen. Obwohl er sie für „exzellent“ 71 hält, kann er ihr keine Aufstiegschancen mehr bieten noch sie vor dem „Gegenstrom“ 72 , der als Mobbing am Arbeitsplatz auf sie zurollen wird, schützen: Für jede Frau ist es doch wichtig, irgendwann Mutter zu sein! Das wäre doch sicher auch was für dich! […] Maxie schießen die Tränen in die Augen. 73 Sie ist nicht naiv, trotzdem hat sie mit den immensen Problemen, die die Affäre nun auch bezüglich ihrer Karriere gebracht hat, nicht gerechnet. Was sie wusste, war, dass sie, als sie sich auf Bobby eingelassen hatte, ein Spiel begonnen hat. 74 Nur dachte sie, ihr Blatt wäre besser gewesen, ihre Karten mit Trümpfen durchmischt. Dieses berühmte Spiel mit dem Feuer, das mit „es ist vorbei“ 75 endete, forderte ihre Ehe, ihre Karriere als Spieleinsatz. Das Gewinnversprechen bestand nur im Ausloten ihrer Identität und dem Gefühl, sexuell begehrenswert zu sein. Gewonnen hat sie bei diesem Spiel nichts, im Gegenteil: Sie hat viel verloren, nicht nur als exzellente Karrierefrau und geliebte Gattin, auch als erfolgreiche Liebhaberin fühlt sie sich durch Bobbys Gebaren entthront: Maxie empfindet nach der Trennung von Hannes und Bobby lange Zeit eine durchdringende Desorientiertheit. Sie verliert den Boden und alle Sicherheiten. Sie trifft neue Männer, zieht sich vor ihnen aus. […] Sie ist dünner und blasser als vorher. Sie mag ihren Körper nicht, sie schämt sich, wenn sie sich für einen neuen Mann auszieht. […] Sie entschuldigt sich, weil sie diesen oder jenen Makel hat […]. Sie hungert […]. Sie denkt: Vielleicht werde ich wieder glücklich, wenn ich noch dünner und noch perfekter bin. 76 Sie hat Hannes und Bobby verloren, zwei Männer, von denen sie einst glaubte, geliebt zu werden. Sie hat ihren Ruf gefährdet, aber der Ruf ist nicht das Problem. Ihr verlorenes Spiel betrifft hauptsächlich ihre Genderrolle. Sie hat ihre so vielgerühmte spätmoderne, emanzipierte, attraktive, sex-positiv selbstbewusste Weiblichkeitskarte falsch ausgespielt. Der Figur sind tiefe Gefühle nicht abzusprechen, sie hat keinen schmierigen Charakter, auch wenn ihr Verhalten konfus wirkt. Mit herkömmlichen Kategorien der Figurenbetrachtung wird Maxie gar nicht verständlich. Ihr Handeln und ihre Entscheidungen wirken ziellos, denn sie dokumentieren tatsächlich eine Desorientiertheit. Der moralische Kompass ist Maxie scheinbar abhandengekommen. 48 2 Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement <?page no="50"?> Ihre Ergebenheit gegenüber einem Hetero-Patriarchat (heteropatriarchy), das durch Bobbys ‚toxisch‘ zu nennende (heteromaskuline) Männlichkeit repräsentiert ist, passt so gar nicht zu einer Moral, die irgendwie Identifikation stiften soll. Ich meine damit nicht eine gesellschaftliche Moral, die Monogamie hochachtet und die für Maxie nicht zwingend ist, als sie Bobbys Werbungen folgt. Ich meine vielmehr eine Ethik der Selbstachtung auf der Ebene der Figur. Ihren eigenen Moralvorstellungen, ihrer Position als ernstzunehmendes Subjekt wird die konfuse Heldin abtrünnig, als gäbe es eine Maxie, die als reflektiertes „Über-Ich“ agiert und eine, die als wunschgetriebenes „Es“ handelt. Die Ich-Instanz changiert zwischen beiden Extremen. Nicht nur, dass sie die Konsequenzen ihrer Bobby-Besessenheit kritisch reflektiert und fürchtet, sie ist sich ihrer Gefühle für diesen alternden Don Juan nicht einmal sicher. Ist Maxie verrückt? Die erfolgreiche Werbefrau ist keine irrationale, desorientierte Person, zu der sie ihre Handlungen zu degradieren scheinen. Im Liebesspiel mit Bobby durchschaut sie schnell, dass es um Marktwert geht, nicht um Liebe und Hingabe. Sie geht mit einem sexualökonomischen Bewusstsein in die Affäre. Maxie schaltet ihren Verstand nicht aus, sie erkennt an, anders als berühmte Ehebrecherinnen des 19. Jahrhunderts es vermocht haben, dass eine Liebesaffäre im 21. Jahrhundert nicht ein Synonym für unverfälschte Gefühle ist. Emma Bovary in Gustave Flauberts paradigmatischem Ehebruchroman ist entsetzt, als sie merkt, dass der Charmeur, der sie in sein Netz gelockt hat, kein tieferes Interesse an ihr hat. Sie diente ihm nur als eine zeitweilige Gespielin, seine emotionalen Bekenntnisse waren reine Heuchelei. Maxie hingegen ist sich der Gefahr bewusst, Bobbys Interesse, seine halbherzigen Gefühle jederzeit verlieren zu können. Der gealterte Herzensbrecher macht emotionale Bekenntnisse, was ein spätmoderner Mann bei sexuellen Abenteuern nicht unbedingt zu tun braucht, aber er ist dennoch für Maxie eine unsichere Bank. Vor allem seine Beziehung zu Paula, die er nicht aufzugeben gedenkt, wird für Maxie, die ihre Ehe ruiniert hat, ein deutliches Zeichen, dass er mit weniger emotionalem Risiko in diese Affäre geschlittert ist als sie. Ihr Liebesspiel ist spätkapitalistisch rationalisiert. Da die emotionale Investition in Bobby sich nicht auszahlt - sie fühlt sich stark zu ihm hingezogen -, investiert Maxie noch mehr in ihren sexualökonomischen Marktwert. Ihr angestrebter Gewinn ist der emotionale Zuspruch von Männern im Allgemeinen, der den Mangel an Bobbys exklusivem Zuspruch ausgleichen soll: Maxie raucht sich durch die Tage. Sie denkt darüber nach, wann sich zum letzten Mal ohne Anstrengung, ohne Berechnung ihrerseits ein Mann in sie verliebt hat. Die Typen stehen auf sie, weil sie spielt und blendet. Sie trinkt und malt sich schwarze Augen und rote Lippen. Es ist Effekthascherei. Trickserei. Manchmal denkt sie, die Männer halten sie für eine andere, eine Frau, die sie gar nicht ist. Sie übt Macht aus, indem sie flirtet. Sie will sich verkosten lassen, sich ihren Marktwert bestätigen und signieren lassen. Sie weiß, dass sie jede Umfrage gegen Paula gewinnen würde. Dass Paula älter und lächerlicher ist als sie, dass Paula nicht lustig ist, eine langweilige Angeberin mit zu viel Geld. Geld, dass sie sich ins Gesicht und in die Titten geblasen hat. Und sie will dieser Frau zeigen, dass sie ihr nicht das Wasser reichen 2 Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement 49 <?page no="51"?> 77 Ebenda, S.-296. 78 Vgl. Langford/ Clance 1993. 79 Die Psychoanalytikerin Joan Riviere (1994, S. 37ff.) sieht in ihrem Aufsatz „Weiblichkeit als Maske‐ rade“ aus dem Jahre 1929 die Zurschaustellung weiblicher Attribute als Maskerade an und meint damit eine Strategie von Frauen, die eigene Männlichkeit, was in diesem Kontext die Fähigkeit bedeutet, mit Männern intellektuell mithalten zu können, zu verschleiern. Das Frausein wird als ein Bekenntnis zur geistigen und sozialen Schwäche begriffen. „Durch die Analyse stellte sich dann heraus, daß sich ihr zwanghaftes Flirten und Kokettieren - dessen sie sich tatsächlich kaum bewußt war, bevor es die Analyse offenlegte - folgendermaßen erklärte: Es war der unbewußte Versuch, sich gegen die Angst zur Wehr zu setzen, die sich einstellte, weil sie nach der intellektuellen Leistung ihres Vortrages Vergeltungsmaßnahmen von seiten der Vaterfigur befürchtete. […] Sobald die Vorführung vorüber war, wurde sie von einer furchtbaren Angst vor der Vergeltung, die ihr Vater üben würde, erfaßt. Offensichtlich war das Bestreben, sich ihm sexuell hinzugeben, ein Versuch, den Rachesuchenden zu besänftigen. […] Weiblichkeit war daher etwas, das sie vortäuschen und wie eine Maske tragen konnte, sowohl um den Besitz von Männlichkeit zu verbergen, als auch um der Vergeltung zu entgehen, die sie nach der Entdeckung erwartete - ähnlich wie ein Dieb, der seine Taschen nach außen kehrt und durchsucht zu werden verlangt, um zu beweisen, daß er die gestohlenen Dinge nicht hat. Der Leser mag sich nun fragen, wie ich Weiblichkeit definiere und wo ich die Grenze zwischen echter Weiblichkeit und der ‚Maskerade‘ ziehe. Ich behaupte gar nicht, daß es diesen Unterschied gibt; ob natürlich oder aufgesetzt, eigentlich handelt es sich um ein und dasselbe.“ kann. Bobby soll es sehen, Bobby soll es wissen, wer die bessere Frau ist und was er nicht mehr haben kann. 77 Bei ihren Anstrengungen nach „Effekthascherei“ geht es nicht um Bobby (auch wenn es darum geht, die männliche heterosexuelle Perspektive (den sogenannten male gaze) zu bedienen, die Ausrichtung auf einen imaginierten männlichen Beobachter, die im Unterkapitel zu „The patriarchal Other“ ausbuchstabiert werden wird. Bobby ist ein Platzhalter in diesem männlichen Blick- und Bewertungsregime. Sicher ließe sich einwenden, dass bei leidenschaftlich begehrten Liebesobjekten der ersehnte Mensch oft von seiner symbolischen Macht überblendet ist. Das war bei Emma und dem charmanten Landadligen Rudolphe ebenso der Fall. Die Arztgattin hätte sich nicht in gleichem Maß emotional in einen armen Bauernburschen investiert. Doch der spätmoderne Text ist noch präziser. Er zer-schreibt die heterosexuelle Leidenschaft als narzisstische Störung. Maxie leidet bezüglich ihrer Weiblichkeit am impostor phenomenon. 78 Ende der 1970er wurde entdeckt, dass Frauen, die erfolgreich in ihrem beruflichen Umfeld sind, sich als Hochstaplerinnen empfinden, die die Wertschätzung ihres beruflichen Umfeldes eigentlich nicht verdienen würden, weil sie sich für nicht so kompetent halten, wie es ihnen gespiegelt wird, wie es ihrer Position angemessen wäre. Bei Maxie geht es aber nicht um ihre Fähigkeiten als Werbefach-, sondern um ihre Begabung als begehrenswerte Frau. Sie fühlt sich, als würde ihr die Wertschätzung für ihre Weiblichkeit nicht natürlich zukommen. Sie empfindet ihre Identität so, als ob ihre Weiblichkeit Betrug (impostor) wäre, als ob sie, um zu gefallen, stets eine Maske trüge. 79 Sie weiß nicht, wo sie ihr Frausein jenseits des Mascaras (gebräuchlicher Ausdruck für die Schminktusche) verorten soll. 50 2 Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement <?page no="52"?> 80 Karasek 2021, S.-297. 81 Vgl. ebenda, S.-336. Literaliter geht es Maxie ums Frausein bei all ihren sexuellen Beutezügen, darum sich als „bessere Frau“ unter Beweis zu stellen, einem Ideal von sich nahezukommen. Sie weiß, dass, um zu gefallen, sie eine Art Tarnkappe wählt, aus aufgesetzter Sexyness und zur Schau gestellter Verfügbarkeit. Ihr Verhalten führt aber zu keiner Sicherheit über sich selbst. Jeder Erfolg verstärkt nur ihr impostor syndrome. Um sich als diese „bessere Frau“ zu beweisen, sind zu viele unterschiedliche Aspekte gefordert, sodass auf die Anstrengung, sich als eine blendende Frau zu entwerfen, fast logischerweise das Scheitern folgt. Maxie scheitert auf allen Ebenen. Ihre drei Wünsche: erfolgreiches Berufs-, harmonisches Familien- und en passant ein aufregendes Liebesleben, zerplat‐ zen, sie empfindet ihr Leben als „dummes, nuttiges Dasein“. 80 Von der Zielgeraden idealer Verkörperung von Weiblichkeit abgekommen (die Männer verlassen sie, der Beruf wird zum Joch), sieht sich Maxie als minderwertige Person. Ist das wieder ein Zeichen einer fast hysterischen, in jedem Fall nicht ernstzunehmenden Figurierung? Die Protagonistin schwankt zwischen Selbsterhöhung und -erniedrigung; sie will „besser“ sein als andere Frauen, fühlt sich aber bei diesem Versuch auch als „eine Frau, die sie gar nicht ist“. Das erscheint nicht vernunftgemäß, trotzdem agiert Maxie anhand hochrationalisierter Lebensentwürfe. Sie handelt weder spontan oder „aus dem Bauch heraus“, sie bedenkt ihre Schritte, auch mit Bobby, genau. Die drei Frauen, also nicht nur Maxie, haben Wünsche, die, obwohl sich die Frauen kindisch gebärden, keineswegs auf irrationalen Ambitionen beruhen. Sie sind auch nicht amoralisch. Sie reflektieren sich und ihre Umgebung genau. Die drei Frauen sind strenge Selbst-Bespieglerinnen. Wenn Maxie beispielsweise in ein verstaubtes Konkur‐ renzverhalten gegenüber Bobbys Frau Paula abdriftet, schämt sie sich ihres Verhaltens. Sie schämt sich generell für ihren Umgang mit Männern, für ihren Alkoholkonsum, für die gescheiterte Ehe und die gescheiterte Affäre und sie schämt sich für ihren Körper, trotzdem hört sie nicht auf, männliche Blicke zu bedienen, sich auf Partys abzuschießen und ihren Körper zur Schau zu stellen. 81 Sie agiert wie ein Aufziehmännchen resp. -weibchen, dessen Rationalität bei ihren Aktionen ausgeschaltet zu sein scheint. Ihre Agency kreist nur um ihre Selbstobjektivierung. Maxie mit individualpsychologischen oder psychiatrischen Kategorien greifen zu wollen - wie ‚manisch-depressiv‘ oder gar ‚schizophren‘ -, klingt erstmal nicht wie eine misogyne Missdeutung dieser Frauenfigur. Sie widerspricht sich, handelt entgegen ihren Absichten. Würden wir Maxie jedoch ohne Rückkoppelung auf die Widersprüche innerhalb der spätmodernen Genderrolle betrachten, also z. B. das berufliche Versagen, das durch ihre Affäre bedingt wurde, als ein individuelles Scheitern deuten, das nicht durch soziale Strukturen motiviert ist, läge darin doch eine gewisse Frauenfeindlichkeit. Der Text stellt uns nicht von ungefähr drei Frauen vor, die ähnliche Erfahrungen in ihrem Leben machen, obwohl sie als unterschiedliche Figuren eingeführt worden sind, die nicht miteinander in einem Zusammenhang stehen. Die Analogien in ihren Geschichten sind Analogien, 2 Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement 51 <?page no="53"?> 82 Vgl. McRobbie 2008. die auf der Genderebene angesiedelt sind. Alles, was Maxie tut, ordnet sich in ein Paradigma der Weiblichkeit ein, aber stets erscheint die von ihr angestrebte Frauenrolle fragwürdig. Wenn sie einem Weiblichkeitsideal auf einer Ebene entspricht, z. B. dem einer sexy (sexuell autonomen) Frau, scheitert sie gleichzeitig an einem anderen gegenwärtig ebenfalls gültigen Ideal, nämlich an dem konservativen Bild von einer zärtlichen, gefühlvollen Partnerin, die sich ihrer Ehe zuliebe sexuell zügeln kann. Die Unterordnung unter Weiblichkeitsvorgaben, die eine unterschiedliche Genese haben und aus verschiedenen Epochen stammen - nämlich sowohl sexy als auch sexuell reserviert zu sein, sowohl liebenswert zu erscheinen als auch fuckable, sowohl körper‐ lich makellos aufzutreten als auch feministisch erwacht (woke und kritisch gegenüber dem Schönheitsdiskurs) - lässt eine sich diesem mehrstimmigen Diktat unterwerfende Figur in eine Art Schizophrenie gleiten. Das Beziehungsleben einer spätmodernen Frau soll sich sowohl leidenschaftlich als auch sachlich gestalten. All diese Anforderungen unter einen Hut zu bringen überfordert Maxie. Die Bewusstseinsspaltung, die Maxie aufweist, wenn sie sich beispielsweise für ein digitales Format auszieht und fotografiert, um den verlorenen Liebhaber zu düpieren und gleichzeitig dieses ziellose Verhalten als absurd verurteilt, charakterisiert gerade nicht die Figur Maxie im Besonderen, sondern Weiblichkeit in der Spätmoderne im Allgemeinen. Um diese augenscheinliche Schizophrenie zu fassen und sie gleichzeitig als gesell‐ schaftliches Phänomen zu betrachten und nicht als Charakteristik einer Einzelperson zu werten, dient der Begriff der dreifachen Verstrickung. An vielen spätmodernen Frauenfiguren zeigt sich diese Verstrickung. Den Begriff Verstrickung (entanglement) habe ich aus dem Englischen der Soziolo‐ gin Angela McRobbie entlehnt. In ihrem 2008 erschienenen Buch The Aftermath of Feminism geht McRobbie mit der Demontage des Feminismus zu einem sogenannten ‚Postfeminismus‘ hart ins Gericht. 82 Als ‚Postfeminismus‘ versteht sie eine antifemi‐ nistische Nivellierung, die sich in der Geisteshaltung junger Frauen ausdrücken würde. Diese Frauen hätten zwar augenscheinlich feministische Errungenschaften in ihre Lebensrealität integriert und dennoch würden sie betont die Leistungen und Ziele des Feminismus in Frage stellen und eine feministische Ausrichtung für sich selbst verneinen. Die soziologischen Thesen beziehen sich auf die Zeit Ende der 1990er und das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends. In der von McRobbie als ‚postfeministisch‘ apostrophierten Epoche treten sowohl im realen sozialen Umfeld als auch in der Populärkultur Frauen und Frauenbilder auf, deren soziale Freiheit der vorgängigen feministischen Bewegung zu verdanken sei. Es ist laut McRobbie zum gesellschaftlichen Konsens geworden, dass Frauen sich als ökonomisch unabhängig und als ernstzunehmende Subjekte beweisen können. Statt die gewonnenen Freiheiten wirklich zu nutzen und in der feministischen Abwehr patriarchalischer Zumutungen vorwärtszukommen, würden aber die befreiten Frauen dieser popkulturellen, im neo‐ liberalen Geist erzogenen Generation davor zurückscheuen, sich ernsthaft feministisch 52 2 Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement <?page no="54"?> zu positionieren und dadurch in neue Gefangenschaften gehen. Sie würden bloß einem neo-liberalen Pseudofeminismus frönen, sich zu hirnlosen Püppchen degradieren, indem sie sich als Objekte zur Schau stellen und sich damit ihre eigene Objektifizierung als „Selbstermächtigung“ verkaufen. Dabei schlidderten sie in Verhaltensweisen, die eine vorgängige feministische Generation als misogyn getadelt hätte. Das täten sie im Namen von Selbstironie und als Ansage an die angeblich verbiesterte Frauengene‐ ration, die keinen Humor verstünde und den Spaß an der Selbstobjektifizierung nur verurteilen würde. Tatsächlich aber seien diese postfeministischen Frauen nicht in der Lage, für ihre Interessen einzustehen und sich als gleichberechtigte Akteurinnen gegenüber Männern zu bewähren. Ihr symbolischer Machtgewinn ist nicht von realer Wirkungsmächtigkeit begleitet. Als literarisches Beispiel dient McRobbie die britische Kultfigur Bridget Jones. Der englische Roman Bridget Jones’s Diary (1996) von Helen Fielding wurde 1999 auf Deutsch unter dem Titel Bridget Jones - Schokolade zum Frühstück veröffentlicht. Diesem Erstling folgten noch vier weitere Jones-Texte. Zum großen Erfolg von Bridget Jones trug auch die Romanverfilmung 2001 bei, der 2004 die Verfilmung von Bridget Jones - Am Rande des Wahnsinns und 2016 die von Bridget Jones’s Baby folgten. Selbst Frauen, die um den Zeitraum des Erscheinens dieser Texte erst das Licht der Welt erblickt haben, ist der Name Bridget Jones ein Begriff. Die schusslige, mädchenhafte Bridget lebt eigentlich ein selbstständiges Großstadtleben. Sie ist um die dreißig und ungebunden, hat einen Arbeitsplatz und ein soziales Umfeld. Sie genießt sexuelle Freiheiten, doch gefällt ihr diese Freiheit nicht ausnahmslos. Das alle ihre Handlungen motivierende Ziel ist es, einen verlässlichen Lebenspartner zu finden. Sie träumt von einer Hochzeit in Weiß. Ist Bridgets Autonomie nur Fassade? Der Lebensentwurfs dieser Figur ist in zwei Erzählungen verstrickt: in die Geschichte einer ökonomisch unabhängigen Frau, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen kann, sexuell offen und erfahren ist, und in die Story einer Romanze, die im Stil Jane Austens erzählt wird. Bridgets Suche nach dem passenden Ehemann stellt alle anderen Ambitionen in den Schatten, die aber für ihren Lebensentwurf dennoch verbindlich sind. Insofern kann die populärkulturell so wirkungsmächtige Frauenfigur Bridget auch nicht als ein eindimensionaler Charakter verstanden werden, denn sie ist doppelt verstrickt. 2010 erschien das Buch Angela McRobbies, in dem der Begriff double entanglement verwendet wird, unter dem Titel Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes 2010 auf Deutsch. Mein Argument ist nun, dass der Feminismus, damit ihm Rechnung getragen werden kann, als etwas Vergangenes betrachtet werden muss. Die Distanzierung, die diese Verschiebung in Richtung Vergangenheit erzeugt, ist das Thema des vorliegenden Buches. […] Einige eher beiläufige Bemerkungen in Judith Butlers kurzer Studie Antigones Verlangen […] regten mich dazu an, den Postfeminismus als „doppelte Verwicklung“ aufzufassen. Dieser Begriff beschreibt das zeitgenössische Nebeneinander von neokonservativen familienpolitischen Werten […] und die gleichzeitig ablaufenden Prozesse der Liberalisierung bei der Wahl von LebenspartnerInnen, der Gründung von Familien und der Gestaltung sexueller Beziehungen 2 Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement 53 <?page no="55"?> 83 McRobbie 2010, S.-33. 84 Vgl. Kauer 2019, S.-180-189; dies.: 2020. 85 Karasek 2021, S.-32. 86 Ebenda, S.-47. 87 McRobbie 2010, S.-45. […]. Zu dieser „doppelten Verwicklung“ gehört auch, dass der Feminismus gewissermaßen zu einem Teil des Alltagsverstandes im Sinne von Antonio Gramscis geworden ist, zugleich aber vehement abgelehnt, ja geradezu gehasst wird. 83 In dieser Übersetzung wird „Verwicklung“ als deutsches Wort für entanglement ge‐ wählt. Ich werde, auch wenn ich diese Publikation McRobbies auf Deutsch zitiere, bei meiner Wortwahl bleiben, entanglement als ‚Verstrickung‘ wiederzugeben, weil ich erstens dieses Wort bereits an anderer Stelle gewählt habe, 84 aber auch, weil ich finde, dass das Phänomen, welches vor über einem Jahrzehnt von der Soziologin beschrieben wurde, unsere gegenwärtige Realität und deren Literatur zwar noch gut zu erfassen vermag, mich McRobbies Begriff entanglement jedoch dazu angeregt hat, dieses Konzept weiterzudenken. Der Begriff ‚Verstrickung‘ eignet sich dafür besser, weil er gewissermaßen mehrere Fäden assoziiert. Die Verstrickungen, die in den Texten der Gegenwart zu erkennen sind, sollten meines Erachtens nicht nur als doppelte, sondern sogar als dreifache (triple entanglement) theoretisiert werden. Die Analysen McRobbies, dass Frauen keine wirkliche Freiheit erfahren können, lassen sich wunderbar auf Karaseks Roman anwenden. Statt von „Freiheiten“ und „Sorglosigkeit“, 85 die wohlgemerkt in Anführungsstrichen stehen, weil sie für Helena, Rebecca und Maxie sowieso nur neoliberale Werbeschlagwörter sind, erzählt der Roman von der Suche nach „Bestätigung“ und „Anerkennung“ 86 , wobei es in der Macht der Männer liegt, diese zu schenken. Bekanntermaßen werden in Texten wie in Ritualen, auch solchen, in denen es thematisch um Vergnügung und Ausgelassenheit geht, Machtbeziehungen neu geknüpft und verstärkt. […] In der Absicht, sie mit Hilfe der Sprache einer neuen Wahlfreiheit einer erneuten Regulierung zu unterwerfen, normalisieren diese medialen Erzeugnisse postfeministische Ängste. Trotz einer gut durchdachten Lebens- und Berufsplanung […] kann es vorkommen, dass auch diese gut regulierte Freiheit sich in ihr Gegenteil verkehrt (das löst dann komische Effekte aus). Letzteres wiederum lässt klar beschriebene Pathologien entstehen (späte Mutterschaft, Versagen bei der Jagd nach dem richtigen Mann), die die Parameter dessen bestimmen, was für junge Frauen als ein lebbares Leben gelten kann, ohne dass dafür ein neuer Feminismus erfunden werden müsste. 87 Für uns Leser*innen sind die Effekte, die Maxies Verhalten zeitigt, nicht nur komisch, sondern tragisch. Tatsächlich ist der Motor ihrer Handlungen aber nicht Rebellion, sondern allein die Angst, als Frau zu versagen und nicht das zu erfüllen, was „für junge Frauen als ein lebbares Leben gelten kann“, nämlich erfolgreich im Beruf, im Beziehungsleben und in der sexuellen Ausschweifung zu sein. Drei Wünsche etabliert ein spätmodernes Weiblichkeitsbild mit einer Wucht, die gerade durch die 54 2 Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement <?page no="56"?> 88 Vgl. ebenda, S.-79. 89 Vgl. Karasek 2021, S.-55. 90 Vgl. ebenda. 91 McRobbie 2010, S.-40. 92 Vgl. ebenda. 93 Ebenda. 94 Ebenda, S.-45. Potenzierung der weiblichen Zwänge mit den drei Figuren Helena, Rebecca und Maxie einer kritiklosen Rezeption nicht standhalten kann. Der Roman normalisiert die „postfeministische[n] Ängste“ der Figuren nicht, sondern legt sie offen. Das ist feministisch, weil der Text die dreifache Verstrickung lesbar macht - kann aber auch nur als unterhaltend rezipiert werden, wenn der Roman ohne die geeigneten Reflexionsmodi rezipiert werden würde. In dem Fall stünden wir ratlos vor dem Genderdiskurs, der hier etabliert wird. Das positive Ende der Geschichten würde resonanzlos verfallen. Der Anspruch der Soziologin McRobbie lag darin, den Postfe‐ minismus, den popkulturellen Feminismus als wirkungslose Chimäre zu entlarven, da er sich einer „Re-Etablierung von Geschlechterhierarchien“ schuldig macht. 88 Dieser Befund wird z. B. durch Rebeccas Verhalten untermauert. Sie würde gerne Grenzen ziehen, aber ihre Gender-Angst (Gender anxieties), möglicherweise als „Zicke“ angesehen zu werden, verhindert jedes Aufbegehren. 89 Als Gender-Ängste versteht McRobbie die Furcht, trotz ernsthaftem Bemühen den Gendererwartungen der Gesellschaft nicht umfassend entsprechen zu können. Rebecca will von den Männern mitgenommen werden, 90 und sie bedarf der männlichen Akzeptanz, die einen hohen Preis kostet: Trotz seiner Freiheit ist das neue weibliche Subjekt dazu aufgerufen zu schweigen, und Kritik zurückzuhalten, wenn es als moderne und kultivierte Frau gelten möchte. In der Art und Weise, wie „Coolness“ von dieser spezifischen Generation definiert wird, tritt ein konfliktscheues und komplizenhaftes Verhalten zutage. 91 An Rebecca (die im ersten Kapitel des Buches vorgestellt wurde) sehen wir, dass sie selbst während ihrer Belästigung schweigt, sich noch dann als Komplizin des „Typen aus dem Vorstand“ bewährt, als es ihr im wahrsten Sinn des Wortes an die Wäsche geht. Bis zum Schluss scheut sie Konflikte. Maxie ergeht es nicht anders. Sie verteidigt ihren rücksichtlosen Liebhaber selbst in der peinlichen Situation mit ihrem Vorgesetzen. Statt den Chef zum Schweigen zu bringen, laufen ihr die Tränen. Trotzdem glaube ich, dass wir Maxie und Rebecca nicht gerecht werden würden, wenn wir sie als postfeministische Subjekte verstehen, die zwar ein „Gender-Bewusstsein“ 92 aufweisen, deren feministische Sozialisation, die sie in der Schule oder dem Studium erfahren hätten, aber von einer „Hyperkultur kommerzialisierter Sexualität“ 93 so überblendet sei, dass sie sich nicht nur selbstausbeuterisch, sondern erklärtermaßen antifeministisch agieren. Ich halte sie für Frauen, die dem Feminismus zugetan sind, doch die „Sprache der persönlichen Wahlfreiheit“ 94 erklingt, anders als bei McRobbie dargestellt, nicht nur im Nachhall eines feministischen Narrativs. Den Hintergrund, vor dem die Frauen 2 Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement 55 <?page no="57"?> entstehen, bildet nicht nur die zweite Welle der Frauenbewegung. Maxie, Rebecca und Helena wenden sich von den feministischen Narrativen nicht betont ab. Die Ziele ihrer Mütter- und Großmütter-Generation haben in ihrem Leben Bestand. Die drei Frauen sind aber in ihrer Selbstfindung von mehr als nur einer feministi‐ schen Welle beeinflusst. Die Fäden, in die sie verstrickt sind, sind in drei feministischen Wellen aufgenommen worden. Die Wellen der Frauenbewegung: Der feministische Kampf um rechtliche und soziale Anerkennung, wird grob in drei Wellen unterteilt. Die erste Welle, die im 19. Jahrhundert aufkam, setzte sich zum Ziel, bürgerliche Grundrechte wie die Erlaubnis zu wählen, für Frauen einzufordern. Sie war jedoch von einem Differenzansatz geprägt, wonach Frauen und Männer als grundsätzlich different angesehen wurden. Diese Feministinnen bestritten nicht, dass Frauen anders als Männern, wohl aber, dass sie ihnen gegenüber als minderwertiger anzusehen seien. Die zweite Welle der Frauenbewegung, die ihren Höhepunkt in den 1960er und 1970er Jahren hatte, kritisierte, dass Frauen auf der Basis einer von Männern defi‐ nierten weiblichen Natur diskriminiert werden. In dieser Strömung herrschte ein egalitätsfeministischer Ansatz vor, der die prinzipielle Gleichheit der Geschlechter betonte und die Differenz als etwas Anerzogenes kritisierte, das Frauen stets auf die schwächeren Positionen gegenüber Männern delegierte. Die dritte Welle erhob sich in den 1990er Jahren. Sie kann als Fortsetzung der Kritik an struktureller Dis‐ kriminierung von Frauen begriffen werden, begann jedoch andere Schwerpunkte zu setzen. So ging es in dieser Welle um die positive Einstellung zur Sexualität, was als ‚sexpositiver Feminismus‘ bezeichnet werden kann, wobei dieser Begriff kein vollständiges Synonym für die dritte Welle ist, da diese auch weiterhin im Fokus hat, sexistische Diskriminierung, die das Patriarchat ausübt, zu bekämpfen. In diesem Buch wird jedoch die sexpositivistische Haltung als etwas verstanden, was Frauen seit der dritten Welle, zusätzlich zu den anderen feministischen Prägungen, in ihrem Selbstentwurf beeinflusst. Selbstdarstellung und popkulturelle Einflüsse spielen in dieser Welle eine große Rolle. Es steht im feministischen Diskurs zur Diskussion, ob es sinnvoll sei, zu behaupten, dass wir uns bereits in der vierten Welle befänden, die durch #MeToo in Gang gesetzt wurde. Sie unterscheidet sich vor allem in ihrer medialen Vermittlung von den anderen Wellen, ist inhaltlich jedoch nicht genau zu differenzieren. Der erste Faden zeigt sie als Nachgeborene der ersten Welle des Feminismus, was heißt, die Figuren in einer Welt sozialisiert, in der, ganz nach kantischem Anspruch, Geschlechtergrenzen nicht völlig destruiert werden sollen. Die Theoretikerinnen um 1900 wollten Frauen aus dem Korsett der gesellschaftlichen Rollenerwartungen befreien. Sie sollten Männern gegenüber als gleichwertig angesehen werden, jedoch 56 2 Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement <?page no="58"?> 95 Mayreder 2012, S.-55. Diese Essays sind im Original zwischen 1905 und 1923 erschienen. galt es damals mitnichten als erstrebenswert, dass sich Frauen dem männlichen Genderverhalten völlig anglichen. Die Denkerinnen waren reflektiert. Sie wussten, dass Weiblichkeit anerzogen ist. Dieses Wissen hinderte sie nicht daran, die „weibliche Natur“ in bestimmten Teilen als schützenswert, als unverzichtbares Ingrediens eines vitalen sozialen Gefüges zu sehen, also genau die Werte, die als ‚weiblich‘ apostrophiert sind, zu verteidigen. Indem die Feministinnen der ersten Welle der Frauenbewegung den Begriff der Weiblichkeit auf den Prüfstand stellten, gebaren sie bereits das erste Mal Gender-Ängste. Frauen, zumindest reflektierte Frauen, sollten entscheiden, was sie an den weiblichen Rollenvorgaben, z. B. Sinn für Schönheit oder Mütterlichkeit, für sich anzuerkennen und zu leben gedachten bzw. was (z. B. Bildungsferne) sie zu verwerfen hatten. Der Konflikt, wie viel veralteten Ballast an Weiblichkeit es abzustreifen gilt, dokumentiert sich in Romanen wie Ellen Olestjerne (1903) von Franziska von Reventlow oder auch in dem Roman Christa Ruland (1902) aus der Feder der berühmten Frauenrechtlerin Hedwig Dohm. In Kritik der Weiblichkeit, erschienen 1905/ 1907, schreibt Rosa Mayreder: Ehe ich fortfahre, ist es vielleicht notwendig, daß ich meinen Standpunkt gegenüber dem Geschlechterproblem wieder bekräftige, indem ich daran erinnere, daß ich eine unbedingte Bindung seelischer und geistiger Leistungen durch das Geschlecht nicht anerkenne. Nach meiner Anschauung bildet die geschlechtliche Differenzierung keine generelle Schranke der persönlichen Begabung und Eigenart - eine Tatsache, die für den unvoreingenommenen Beobachter durch einzelne Fälle hinlänglich bewiesen ist. Aber das bedeutet nicht, daß es für die große Mehrzahl der Geschlechtsindividuen gilt. Im Gegenteil: die große Mehrzahl zeigt ebenso deutlich, daß die geschlechtliche Differenzierung gewöhnlich einen Unterschied in den Neigungen und Instinkten der Individuen mit sich bringt. So verstehe ich, wenn ich von der Besonderheit der weiblichen und männlichen Natur spreche, darunter nicht eine essentielle, etwas gar ins Metaphysische reichende Wesensverschiedenheit, sondern vielmehr ein Mehrzahlphänomen, das sich am ehesten als Anpassungsleistung erklären lässt. Als solche ist die geschlechtliche Differenzierung, soweit sie psychische Eigenschaften betrifft, wahrscheinlich im hohen Grade abänderungsfähig; deshalb kann in einer Epoche, in der die sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen des weiblichen Geschlechtes eine tiefgreifende Wandelung erfahren, das Wesen der Weiblichkeit nicht sorgfältig genug geprüft werden. Besonders eine weltumspannende Organisation wie die Frauenbewegung, deren Inhalt die höheren Interessen der Weiblichkeit auf einer neuen Grundlage sind, muss ihre Direktiven aus einer entscheidenden Wertung dessen schöpfen, was sie in der weiblichen Natur als Vorteil und als Nachteil ansprechen, was sie beschützen und was sie bekämpfen will. 95 Für spätmoderne Frauen ist der Anspruch, „sich irgendwie von Männern zu unterschei‐ den“, etwas zu „beschützen“, das als „weibliche Natur“ gilt, nicht völlig aufgehoben. Ein gewisser moralischer Kompass, sich in Sprache, Verhalten und Urteilen nicht 2 Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement 57 <?page no="59"?> unreflektiert mit Männern gemein zu machen, stammt bereits aus dem vorletzten Jahr‐ hundert. Dies gebiert die Gender-Angst, als ein rein männliches Echo zu erscheinen, wenn frau sich nicht in irgendeiner differenzierenden Art ihre Weiblichkeit bewahren würde. Unsere Romanfiguren sehen die Mutterschaft als Zeugnis ihrer Differenz. Sie verspricht, anders als die Arbeitswelt, Raum für eine genuin weibliche Selbsterfahrung. Die zweite Welle des Feminismus brachte Frauen den Anspruch, ökonomisch selbst‐ ständig zu sein. Zwar war auch schon die erste Welle davon geprägt, dass Frauen sozial selbstständiger werden, der radikale Egalitätsfeminismus der 1970er Jahre entzauberte den Begriff ‚Weiblichkeit‘ nun jedoch noch viel erbitterter als männliches Konstrukt, als es die erste Welle tat. Sich nicht willfährig zum Objekt zu machen, ernstgenommen zu werden, war das Gebot der Stunde. Eine gynozentrische differenzfeministische Ehrenrettung von Weiblichkeit war nicht unbedingt der Leitdiskurs dieser Emanzipa‐ tionsbewegung. Ihr ging es um Egalität und das Abwerfen von lästigen Weiblichkeits‐ insignien. Unsere Frauenfiguren sind exzellente Kolleginnen. Sie „stehen ihren Mann“ im Berufsleben. Diese Frauengeneration wurde von Müttern erzogen, die selbst bereits eine Karriere angestrebt hatten. Die Notwendigkeit ökonomischer Selbstständigkeit ist den nach der zweiten Welle der Frauenbewegung zur Welt gekommenen Frauen als ideologische Erbschaft, die sie nicht abtreten dürfen, mitgegeben, ja aufgetragen worden. Weibchen zu spielen, allein dem Nestbautrieb zu folgen und dienend zu sein, waren nie die Leitbilder von Maxie, Rebecca und Helena gewesen. Schon in der Schule lernten sie mehr von sich zu erwarten, als gut kochen und bügeln zu können. ‚Spätmoderne wird hier als Epochenbegriff für die Gegenwart verwendet. Er setzt sich vom Begriff der Postmoderne ab. In dem Zusammenhang des Buches ist besonders die Charakterisierung der Spätmoderne bedeutsam, die die (Selbst-)Re‐ flexivität spätmoderner Menschen betont. Als Definitionsmerkmal spätmoderner Frauen sehe ich das Gebot der ständigen kritischen Hinterfragung der eigenen Handlungsweise, die jedoch in unauflösbare Widersprüche führt, weil weibliche Handlungsweisen auf diskrepanten Skripten beruhen. Die dritte Welle des Feminismus, die bei McRobbie unter dem Begriff ‚Postfeminismus‘ als eigentlich antifeministisch gedacht wird, zeichnet sich durch die popkulturelle Färbung feministischer Ambitionen aus. Diese sind für Frauen ebenfalls prägend. Ob McRobbie zuzustimmen ist (und es sich grundsätzlich nur um scheinbaren Feminismus handelt), möchte ich an dieser Stelle nicht entscheiden. Sexpositivistisch zu agieren, sich spielerisch zum Objekt machen zu können, sexuelles Empowerment zu propagieren und damit Gefahr zu laufen, die Ansprüche der zweiten Welle des Feminismus zu negieren, ist - fragwürdig oder nicht - ein Leitbild für die Figuren, dem sie auf der Suche nach Anerkennung ihrer weiblichen Identität nachstreben. Von dieser dritten Welle sind unsere drei Heldinnen genauso getragen wie von den vorherigen Leitbildern, 58 2 Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement <?page no="60"?> deren Genese in den anderen beiden Wellen zu suchen ist. Der Roman erzählt daher auch zu einem erheblichen Teil von der popkulturellen, sex-positivistischen Prägung. Maxie, Rebecca und Helena empfinden ihre Offenheit für sexuelle Abenteuer nicht als Ausdruck von Antifeminismus, sondern sehen darin eine Entsprechung feministischer Ideale. McRobbie würde vermutlich die Flirterei mit dem „Typen aus dem Vorstand“ und die Affäre mit Bobby als die postfeministische Prägung im antifeministischen Sinne sehen, die die Soziologin als komplizenhaftes Verhalten mit dem Patriarchat beschreibt. Das ist von einer Metaebene betrachtet nicht falsch, aber die Selbstwahr‐ nehmung der Figuren ist eine andere. Ich möchte deshalb Rebeccas Geltungsdrang neutraler betrachten, ihn ihre ‚popfeministische Prägung‘ nennen. Durch denkwürdige Auftritte ihrer Sexualität wollen die Figuren ihre Identität erweitern. Sie glauben in der Spiegelung durch die begehrenden Blicke der Männer, zumindest für einen kurzen Moment, Freiheit spüren zu können. Dass der Genuss der sexuellen Ausstrahlung kein unbeschwerter ist, erzählt der Roman unverhohlen. Der Text macht sich nicht dessen schuldig, die popfeministische Prägung als Glücksverheißung zu propagieren. Nichts‐ destotrotz macht er deutlich, dass für die weiblichen Figuren bei ihrer Subjektivierung als Frau stets auch dem Gebot der spätmodernen Gegenwart, sich sexuell austoben zu dürfen bzw. zu müssen, Folge zu leisten ist. Die Leitbilder, die durchaus feministisch generiert sind, ver- und überschatten sich gegenseitig. Für Figuren wie Maxie bedeutet Frausein, eine „konservativ“ zu nennende Weiblichkeit zu zeigen, d.h. nämlich eine verständnisvolle unterstützende Partnerin zu sein, die die männliche Welt glanzvoll ergänzt. Darüber hinaus möchte sie aber auch den Männern auf egalitärer Ebene begegnen können, als ein Subjekt ernstgenommen werden, das sich mit den Männern auf Augenhöhe befindet. Sie erwartet von sich ein feministisches Bewusstsein von Rollenbildern und verbietet sich, in einer Objektfunk‐ tion zu verharren, deshalb verdeckt sie ihre Oberweite schamhaft, als sie mit ihrem Vorgesetzten redet. Zum Spektrum der weiblichen Rolle, die Maxie anstrebt - gleiches gilt für Rebecca (um die Figur zu nennen, die wir näher kennengelernt haben) -, gehört allerdings auch, eine „popkulturell gefärbte Attraktivität“ und die neoliberal versierte Vermarktung der eigenen Sexualität. Spätmoderne Frauen sind problemlos in der Lage, sich gut ins Bild zu setzen, sich ins Blickfeld zu rücken, sich zu optimieren, ihren Körper als Konsumprodukt und -objekt zu betrachten und unter der Fahne des Genusses ihre objektifizierte Weiblichkeit ausstellen zu können. Möchte eine weibliche Person nun diesen, sich zum Teil ausschließenden, Ansprüchen genügen, wird das aus ihr, was wir an Maxie sehen. Sie reflektiert ihre Weiblichkeit zu Tode, fühlt sich als Versagerin und adressiert ihre Gender-Ängste nur an sich selbst. Nur Frauen untereinander, die ähnliche Verstrickungen kennen, gelingt es, sich aus diesen Fäden zu lösen. Der Begriff der dreifachen Verstrickung ist deshalb hilfreich, weil er die absurden Handlungsfolgen der feministisch bzw. anti-feministisch erscheinenden Glaubens‐ sätze, denen die Frauen gehorchen, an das Patriarchat zurückadressiert. Statt Maxies Bestätigungswahn als psychologische Schwäche einer eitlen Frau zu denunzieren, 2 Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement 59 <?page no="61"?> 96 Karasek 2021, S.-346. 97 McRobbie 2010, S.-41. wird ihre Motivation für die sexuellen Abenteuer dank dieses Begriffs nicht auf einen schieren Charakterfehler oder einen Fehler in der Diegese verengt. Sie möchte gar keine Liebe von denen, sie möchte Verfügbarkeit. Die Männer haben Zeit, wenn sie Zeit hat. […] Sie muss aufgetakelt vor ihnen sitzen und wie ein Wecker klingen, wie ein Kalender piepsen, Erinnerung: „Begehrt mich! Nehmt mich“. Kann man benutzt werden, wenn man selbst benutzt? Sie kann damit nicht aufhören, weil sie sich so daran gewöhnt hat. Seit sie fünfzehn ist, lebt sie von ihren Wellen, von dem Blick, den Männer ihr entgegenbringen. Sobald Maxies Welle sie erfasst, spülen sie Begehren und Aufmerksamkeit zurück. Sie hat sich immer nur durch Männer gespürt. Sie hat keine Erinnerung an weibliche Liebe […]. Sie kennt fast keine weibliche Zuneigung […]. 96 Die spätmodernen Rollenvorgaben an Frauen haben sich im Vergleich zu denen der vergangenen Generationen noch potenziert, zumindest potenziert in ihrer Wider‐ sprüchlichkeit. Es kamen Freiheitsangebote dazu, aber die männliche Blickmacht blieb bestehen. Die gewonnene Freiheit ersetzte nicht die althergebrachte Unfreiheit, son‐ dern der „Zuwachs an Freiheit und Wahlmöglichkeiten“ 97 verstärkt die Notwendigkeit, die eigene Weiblichkeit zu reflektieren und die Gefahr, sich in widersprüchlichen Vorgaben zu verheddern. Es ist nicht nur einfach Konsens, dass Frauen erfolgreich im Berufsleben sein sollen, sondern es ist Konsens, dass sie erfolgreich im Berufsleben sein sollen, erfolgreich eine Familie gründen und dass sie bei ihrem beruflichen Erfolg ein weibliches Gesicht wahren sollten. Gelingt es ihnen nicht, diesem Anspruch zu genügen, gilt dies als ihr persönlicher Makel. Es werden nicht soziale Einschränkungen oder gläserne Decken dafür verantwortlich gemacht. Strukturelle Diskriminierung, wie sie Rebecca und Maxie erfahren, kann nur als etwas erlebt werden, dem eigenes Versagen ursächlich ist. Ihre Diskriminierung ist aus Maxies und Rebeccas Perspektive eben gerade nicht strukturell bedingt, sondern sie sehen sich in der persönlichen Verantwortung dafür. Sie sind dem männlichen Begehren gefolgt, hätten sie es aber kalt ausgeschlagen, würden sie sich als ebenso unzulänglich empfinden. Genau diese ekla‐ tante Selbstbezichtigungssucht und der gesellschaftliche Zwang, sich wegen allem, was vom Idealbild abweicht, schuldig zu fühlen - sei es die ausbleibende Schwangerschaft, ein angeblich unangemessenes Flirtverhalten oder sei es die ausbleibende Beförderung - stellt Drei Wünsche dar. Rebecca muss allein entscheiden, ob sie sich durch Kündigung dem Mobbing entziehen will. Sie wird nicht kurzerhand rausgeworfen, weil sie zu sexy ist, obwohl ihr dies als ihr Makel suggeriert wird. Die Frau hat eigentlich keine Handlungsmacht. Ein Urteil wurde über sie gesprochen, welches sie nun selbst vollstrecken darf. Der Begriff der Verstrickung hilft dabei, die Verantwortung für die Fehlentscheidungen oder vermeintlichen Fehlentscheidungen (wie dem Werben eines höhergestellten Mannes spielerisch nachzugeben) nicht in der individuellen Psychologie der Figur zu verorten. Selbst wenn Rebecca den Flirtversuch des „Typen 60 2 Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement <?page no="62"?> aus dem Vorstand“ abgewehrt oder Maxie die Werbung von Bobby ausgeschlagen hätte, wären beide an einen Punkt im Leben gekommen, wo sich die Frauen als mangelhaft empfunden hätten und ihnen der Mangel an „richtiger Weiblichkeit“ von der Umwelt gespiegelt worden wäre. Vielleicht hätten ihre gegenteiligen Handlungen genau dasselbe bewirkt. Auf dieselbe Weise wie Rebecca dank ihrer freundlichen Annahme des Flirts im Kollegium als leichtfertig gilt, hätte sie auch als zickig oder bieder gelten können, wenn sie den Vorstandstypen nur steif abgewehrt hätte. Ihre Mangelhaftigkeit (an richtigem Verhalten) ist sozial induziert. Obwohl unsere reflek‐ tierten Protagonistinnen so viel über sich nachdenken, so viel wissen, erkennen sie erst spät, was sie in manchen Situationen so unklar empfinden lässt und warum sie stets die scheinbar falschen Wege wählen. Vielleicht etwas kitschig benannt, stellt der Roman „weibliche Zuneigung“ als Maxies existenzielle Mangelerfahrung im obigen Zitat dar. „Zuneigung“ kann auch Achtung, Verständnis, Anerkennung bedeuten. Die gegenseitige Resonanz unter Frauen lässt die eigene Verstrickung in ein widersprüchliches Rollenverhalten offen‐ kundig werden. Ihre Identität hängt in unzusammenhängenden, schrill-bunten Fäden. Sobald diese Fäden als überindividuelle Werkzeuge einer Verstrickung sicht- und auflösbar sind, kann eine Frau erkennen, dass sie nicht unweigerlich dem Schicksal der dreifachen Verstrickung ausgeliefert ist. Karaseks Roman deutet an, dass es den Frauen halbwegs gelungen ist, die um sie gewickelten Fäden zumindest zu lockern: Maxie, indem sie die Freundschaft zu Frida, einer vernachlässigten, aber stets verlässlichen Kameradin aufleben lässt und Mutter wird, ohne dass sie diese Rolle buchstabengetreu ausführt; Rebecca, indem sie sich vom Kinderwunsch distanziert und ein Frauenförder‐ programm auf die Beine stellt. Der Weg aus der Verstrickung wird durch homosoziale Energie erleuchtet. Der Begriff ‚homosozial‘ wurde von Jean Lipman-Blumen in den Geschlechterdis‐ kurs eingebracht. Er wird allgemein als eine Zuwendung zum gleichen Geschlecht verstanden. Allerdings bezeichnet dieser Begriff keine sexuelle Präferenz, denn die Bevorzugung gleichgeschlechtlicher Bande durch eine Frau oder einen Mann muss nicht den Wunsch nach sexueller Interaktion mit der gleichgeschlechtlichen Person implizieren. Im Kapitel Girl-Crush wird der Begriff anschaulich gemacht. Zwischen homosozialen und homosexuellen Begehren sind die Übergänge aller‐ dings fließend. Begegnen wir widersprüchlichen, in gewisser Weise fast psychotisch, „verrückt“ erscheinenden Frauenfiguren in der Gegenwart, sollten wir nicht deren Verstand, sondern deren Weiblichkeit, deren Gender-Ängste prüfen. Das Konzept der dreifachen Verstrickung kann manch ambivalente Verhaltensweise erklären. Seltsames Gebaren, das zwischen Feminismus und Anti-Feminismus changiert, lässt sich oft als Reaktion 2 Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement 61 <?page no="63"?> 98 Vgl. Karasek 2021, S.-296. auf die nicht zu vereinbarenden Rollenvorgaben entschlüsseln. Der aufrichtige Wunsch nach Emanzipation und Autonomie, gepaart mit einem passiven Verharren in Abhän‐ gigkeit von männlichen Bewertungen und engen Weiblichkeitskorsetts, schließen sich in spätmodernen weiblichen Lebensgeschichten nicht aus. Figuren wie Maxie und Rebecca sind geleitet von Gender-Ängsten, allen voran die Sorge, in ihren vielschich‐ tigen Rollen, die sich in mindestens drei Facetten aufspalten, zu versagen. Die Ängste werden in innere Kanäle umgeleitet. Die Frauen suchen nach Antworten in der stetigen Selbstreflexion, nach Kompensation durch Konsum und nach sexueller Bestätigung. Sie sind dreifach verstrickt und diese Verstrickung führt zu einem unklaren, „tussihaften“ Auftreten. Die spätmoderne Weiblichkeit, die sie verkörpern, hat den Anschein von Egomanie, im Grunde aber ist sie fremdbestimmt. Die manchmal wahnhaft agierende Figur Maxie ist nicht wahnsinnig, sondern äußerst bedacht, nur ist der Gegenstand ihrer geistigen Anstrengung, die weibliche Genderrolle nämlich, außerordentlich schwer zu greifen, so dass sie sich immer mehr im unsinnigen Anspruch verfängt, auf perfekte Weise verschiedenen Weiblichkeitsidealen gleichzeitig zu entsprechen. Ihr Streben nach Fehlerlosigkeit ihres Weiblichkeitsbildes lässt die Frauenfigur falsch, mehrdeutig wirken: angestrengt und berechnend. 98 Wir aber wissen, sie ist nur auf der Suche nach Anerkennung. Ihr desperater Identitätsentwurf hat Hintergründe. Eine spätmoderne Frau ist Tochter verschiedener Wellen der Frauenbewegung - und hat Ansprüche an ihre Weiblichkeit internalisiert, die in Gänze unvereinbar sind. 62 2 Die dreifache Verstrickung/ Triple Entanglement <?page no="64"?> 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit In diesem Kapitel geht es um von Missgunst und Bosheit geprägte Beziehungen zwischen weiblichen Figuren in der Literatur. Wenn wir uns den Begriff ‚internalisierte Misogynie‘ aneignen, können wir die Komplexität der Feindseligkeit, die zwischen Frauen auf der Textebene verbalisiert ist, besser erfassen und in einem feministischkritischen Zusammenhang lesen. Die Bitterkeit, die sich in negativen Bemerkungen gegenüber anderen Frauen offenbart, muss nicht unbedingt bedeuten, dass die Figur, die sich in dieser abfälligen Weise äußert, als böser Charakter gelesen werden sollte. Die Beziehung, die sie zu der Frau unterhält, gegen die ihre verächtlichen Bemerkun‐ gen gerichtet sind, ist durch eine patriarchalische Ideologie überschattet, strukturell betrachtet könnten sich die beiden Frauen sogar nahstehen und in den Beschimpfungen lässt sich oft ein Leidensdruck erkennen, dem die sich verächtlich Äußernde ausgesetzt ist. In der geäußerten Frauenfeindlichkeit zeigt sich ein verinnerlichter Denkmodus, der Frauen sowohl zu Opfern als auch Agentinnen einer patriarchalischen Ordnung macht, in der sie nicht dem hegemonialen Geschlecht angehören. Die fremde Weiblichkeit abzuurteilen, hat demzufolge weniger mit der spezifischen Art zu tun, wie die jeweils anderen Frauen tatsächlich auftreten, sondern damit, dass sie durch ihre geschlechtliche Identität sowieso immer als etwas Minderwertigeres signifiziert sind. Sobald irgendetwas als „typisch weiblich“ Geltendes an einer Frau erkennbar wird, ist dies dann zu beanstanden. Unter ‚internalisierter Misogynie‘ wird eine Form gesellschaftlicher Frauenverachtung verstanden, die Frauen gegen sich selbst und gegen andere Frauen richten können. Die Nutznießer, oder sagen wir besser: die imaginären Adressaten der misogynen Missbilligung, die eine Frau gegenüber sich selbst und gegenüber anderen Frauen äußert, sind Männer, deren Idealvorstellung von Weiblichkeit entsprochen werden soll. Um ihnen zu gefallen, werden als negativ geltende Genderstereotype an sich und an anderen Frauen kategorisch verurteilt. Was ich hier „die imaginären Adressaten“ nenne, meint nicht unbedingt die im Text auftre‐ tenden Männerfiguren. Zwar können die Frauen konkrete Männer, beispielsweise ihre Väter, Liebhaber oder die Männer, für die sie schwärmen, im Auge haben, wenn sie Frauenverachtung praktizieren, doch ist es sinnvoller, diesen Adressaten nicht als Figur des Textes, sondern vielmehr als ein strukturelles Moment zu verstehen, das sich in ihre Geschlechtsidentität eingebrannt hat, welches darin besteht, einem imaginären männlichen Gegenüber zu gefallen. Sich als weiblich zu verstehen, bedeutet, sich als auf Männer ausgerichtet zu verstehen. Um über ihr eigenes Geschlecht herzuziehen, eignen sich Frauen den male gaze (die männliche heterosexuelle Perspektive bzw. den männ‐ lichen „Expertenblick“ auf Frauen) an und betrachten ihre Geschlechtsgenossinnen als Objekte, die dieselbe Funktion wie sie selbst ausfüllen sollten, nämlich angenehm zu erscheinen und männliches Gefallen zu wecken. Ob die beurteilten Frauen ihre Objektrolle gut erfüllen, untersteht keiner phänomenologischen Wahrheit, sondern allein dem Blick auf sie, also den Bedürfnissen, die der Blickträger (bearer of gaze) <?page no="65"?> 99 Auch Transphobie zeigt oft misogyne Züge, weil den Transfrauen unterstellt wird, unecht und schrill die Weiblichkeit zu leben, als wäre der Begriff ‚Weiblichkeit‘ eben doch in einer bestimmten Biologie verankert, was den schmeichelhaften Trugschluss zulässt, dass die Kritikerin der Transweiblichkeit es eben besser und richtiger verstünde, Frau zu sein. auf die Frau überträgt. Wenn wir internalisierter Misogynie in Texten begegnen, dann objektifizieren Frauen andere Frauen, jedoch nicht für sich und ihren Genuss, sondern sie beanstanden Eigenschaften an ihnen, die verhindern, dass die zu kritisierende Frau ihrer sexuellen Funktion für Männer (ihrer Meinung nach) angemessen nachkommen kann. Oft wird das Aussehen und das Auftreten beanstandet, es können aber auch psychische Merkmale der Frau als etwas abgelehnt werden, das einem angenehmen Blickobjekt nicht entspricht. Der Bewertungsmaßstab bleibt dabei stets unklar. Er gründet sich auf den sozialen Kontext, in dem beispielsweise grob ausgestellter Gla‐ mour ebenso zum Kritikpunkt werden kann, wie in anderen Kontexten die Schlichtheit oder Biederkeit einer Frau als Beweis genommen wird, dass sie ihre weibliche Rolle nicht angemessen erfüllt. Nicht jede Form der Kritik, die eine weibliche Figur an einer anderen weiblichen Figur in Texten übt, ist Ausdruck von internalisierter Misogynie. In dem Moment, wo allerdings der anderen Frauenfigur ein sittliches Scheitern an den weiblichen Rollenvorgaben attestiert wird (zum Beispiel, indem ihr unterstellt wird, dass sie bestimmte Kleidungsnormen oder heteronormative Sexualitätsnormen nicht einhält und sich als „schlechte Frau“ oder als Bitch erweist), können wir von Misogynie in dieser Form ausgehen. Die Figur äußert sich in dem Fall gegenüber einer anderen Frau auf einer Ebene, auf der sie dieser Person abspricht, normgerecht, also gesellschaftlich adäquat, ihre Weiblichkeit zu leben. Im Alltagskontext sind es oft Urteile, in denen Frauen den Dresscode der anderen Frau als zu sexy oder zu unvorteilhaft diffamieren, die genau diese Züge von Misogynie tragen. Auch das oft gehörte Urteil über Frauen in Führungspositionen, dass diese zu dominant und damit unweiblich wären, sind Kritikmodi, die die Genderidentität der Frau miteinbeziehen (für eine Frau zu laut usw.). Selbst Frauen, die sich als feministisch verstehen, kann es passieren, dass sie, im Namen ihres Feminismus etwa, andere Frauen als zu naiv, zu unachtsam usw. abwerten, damit jedoch ebenfalls implizieren, dass deren gelebte Form der Weiblichkeit falsch sei. 99 Womöglich unbewusst dienen sich in diesem Fall Kritikerinnen von anderen Frauen dem Patriarchat an, weil sie eine bestimmte Art von (emanzipierter) Weiblichkeit als Norm etablieren wollen und Frauen, die diesem Ideal nicht entsprechen bzw. Züge an sich haben, die ihrer Meinung nach das Ideal brechen, moralisch verwerfen. Bereits im Romanbeispiel des vorangehenden Kapitels zeigten sich Beispiele, in denen sich die Figuren der internalisierten Misogynie schuldig machen. In einer patriarchalen Kultur ist dieses Phänomen so gängig, dass, wenn wir in Texten mit mehr als einer weiblichen Figur konfrontiert werden, die weiblichen Beziehungen, die nicht auch dadurch geprägt sind, eine Ausnahme bilden. Internalisierte Misogynie muss als eine homosoziale Energie erfasst werden, also eine Beziehungsstruktur zwischen Frauen, die jedoch dem Patriarchat nicht kritisch gegenübersteht, sondern im Gegenteil dessen Regeln 64 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit <?page no="66"?> 100 Manne 2019, S.-59 [Hervorhebung im Original]. 101 Ebenda. entspricht. Die Sozialphilosophin Kate Manne, die sich mit der Logik der Misogynie analytisch auseinandergesetzt hat, sieht Misogynie als eine Disziplinierungspraktik an, durch die Frauen einer patriarchalischen Ideologie gemäß subjektiviert werden: Ich schlage vor, Sexismus als den Teil der patriarchalischen Ideologie zu sehen, der eine patriarchalische Gesellschaftsordnung rechtfertigt und rationalisiert, und Misogynie als das System, das dessen vorherrschende Normen und Erwartungen durchsetzt und überwacht. Sexismus ist also wissenschaftlich, Misogynie moralistisch. 100 Manne versteht Misogynie als „zentrale Manifestation patriarchalischer Ideologie“ 101 und fordert die feministische Kritik auf, einen systematischen Zugang zu dem Begriff zu erarbeiten. Für unseren literaturwissenschaftlichen Kontext können wir ableiten, dass misogyne Redensarten nicht als Einzelphänomene zu behandeln sind und dass sie demzufolge auch wenig Rückschlüsse auf die Individualität der Figuren erlauben, unabhängig davon, ob die Figuren nun zum Opfer des misogynen Blicks werden oder diejenigen sind, die frauenfeindlich agieren. Wenn wir in Texten der internalisierten Misogynie begegnen, sollten wir nicht davon ausgehen, dass es sich um eine Einstellung handelt, die einer wie auch immer geratenen Psyche einer einzelnen Akteurin entspricht, sondern stattdessen müssen wir hinterfragen, wieso die Akteurin nicht in der Lage ist, sich davon freizumachen, dem Patriarchat und den Normen der Gesellschaft auf diese schäbige Weise zu entsprechen. Diese Anpassung resultiert in den meisten Fällen aus einem gefühlten Mangel. Die Frau, die misogyn agiert, fühlt sich selbst beschädigt. Im vorangehenden Kapitel haben wir uns damit auseinandergesetzt, dass alle Frauenfiguren des Romans Drei Wünsche sich den patriarchalen Regeln unterwerfen. Obwohl sie dem weiblichen Rollenkorsett intellektuell kritisch gegenüberstehen, scheitern die drei Frauenfiguren trotzdem permanent an den heteronormativen und patriarchalisch generierten weiblichen Rollenvorgaben der Gesellschaft, weil diese ein weitverzweigtes Netz bilden, dem zu entkommen oft unmöglich erscheint. Ein solches Scheitern an den verinnerlichten Weiblichkeitsnormen und dem übergeordneten Gebot, ein sexuell unwiderstehliches Objekt zu sein, verdeutlicht sich beispielsweise, als Maxie ihre Konkurrentin um den Liebhaber Bobby herabwürdigt. Das tut sie auf eindringliche Weise. Von Paulas Persönlichkeit hat Maxie keine Kenntnis, als sie eine gedankliche Tirade gegen ihre Nebenbuhlerin loslässt. Sie sieht die Bilder, die diese andere Frau von sich gepostet hat und kommt zu dem Schluss, dass sie [Maxie] jede Umfrage gegen Paula gewinnen würde. Dass Paula älter und lächerlicher ist als sie, dass Paula nicht lustig ist, eine langweilige Angeberin mit zu viel Geld. Geld, das sie sich ins Gesicht und in die Titten geblasen hat. Und sie will dieser Frau zeigen, dass sie 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit 65 <?page no="67"?> 102 Karasek 2021, S.-296, siehe auch Anmerk. 77. ihr nicht das Wasser reichen kann. Bobby soll es sehen, Bobby soll es wissen, wer die bessere Frau ist und was er nicht mehr haben kann. 102 Diese Zeilen sind ein hervorragendes Beispiel für internalisierte Misogynie. Zum einen wird Paula in Hinsicht auf ihre Weiblichkeit moralisch verurteilt. Sie ist eine Frau, die älter ist und diesem Alter mit ästhetischen Maßnahmen beikommen will, was gleichermaßen als aussichtlos wie auch als moralisch verwerflich diffamiert wird. Das überkommene Ideal, dass Frauen in Würde zu altern und sich lautlos vom Sexualmarkt zurückzuziehen haben, wenn die Menopause erreicht wurde, wird an Paula durchexerziert. Angeblich kann eine ältere Frau kein Begehrensobjekt mehr sein, egal was sie versucht, um den Altersprozess aufzuhalten. Paula gilt für Maxie als scheiternde und lächerliche Frau, deren höheres Lebensalter sie als Konkurrentin in Fragen weiblicher Attraktivität ausschalten soll. Maxies Überzeugung, dass Paula langweilig ist, gründet nur auf dem Vorurteil, dass ältere Frauen eben langweilig seien. Die Aussagen stammen von einer Verlassenen, die sich in den Lebenspartner von Paula verliebt hat bzw. schwer von ihm ablassen kann. Dieser untreue Liebhaber gab aber seiner langjährigen Lebenspartnerin Paula den Vorzug. Er funktioniert in diesem Zitat als Personifikation patriarchaler Werte, die Maxie verinnerlicht hat. Weil sein persönliches Urteil über Paula scheinbar nicht Maxies hässlichen Gedanken gleichkommt, könnte ihre Feindseligkeit gegenüber Bobbys Frau einfach den Schluss zulassen, dass Maxie nur eifersüchtig, neidisch und gleichzeitig nicht besonders anständig ist, wenn sie eine Frau auf Basis ihres etwas höheren Alters, das uns nicht genau bekannt ist, als abstoßend und als der Liebe des Mannes unwert deklariert. Texthinweise lassen darauf schließen, dass auch Paula jünger als Bobby sein muss. Die Struktur der Beziehung (älterer Mann wählt jüngere Frau zur Sexualpartnerin) ist dieselbe wie die, welche zwischen ihr und Bobby den Ausschlag für die Beziehung gegeben hat. Maxies Missgunst mangelt es an empirischer Grundlage, denn sie kennt Paula nicht persönlich. Womöglich ist Paula weder sonderlich alt noch sonderlich lächerlich. Vielleicht sind ihre Bemühungen, sich als begehrenswerte Frau mit Hilfe von Brustvergrößerung und invasiven Gesichtsbehandlungen, von denen wir allerdings auch keine genaue Kenntnis haben, sogar von Erfolg gekrönt, den die neidische Frau der siegreichen Konkurrentin böswillig abspricht. Maxies Feindseligkeit könnte sich in der Interpretation eins zu eins gegen sie selbst richten. Die ungeliebte Frau nimmt Zuflucht zu Plattitüden, um die beneidete Frau zu schmähen. Wer mit einem durch Märchenerzählungen sozialisierten Blick auf Bobbys Liebha‐ berinnen zu entscheiden versucht, welche der beiden Frauen hier wirklich das schöne Schneewittchen und wer die böse Stiefmutter bzw. das weibliche Biest ist, wird dem Text nicht gerecht. Mit Maxies Aussagen Maxies Charakter auf die Spur zu kommen, geschweige denn, sich dadurch ein realistisches Bild von Paula machen zu wollen, ist aussichtslos. 66 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit <?page no="68"?> 103 Ebenda, S.-346. Wenn wir jedoch Maxies verbale Ausbrüche als Zeichen der internalisierten Miso‐ gynie lesen, vermeiden wir voreilige Rückschlüsse. Es zeigt sich durch die unschöne Tirade nicht, ob sie als Mensch niederträchtig ist oder nicht. Maxie hat das patriarcha‐ lische System verinnerlicht und von dieser Warte aus, von der Frauen als schöne Objekte gelten müssen, stellt sie sich über Paula, indem sie die geposteten Bilder von sich und der Konkurrentin an einen imaginären Schönheitswettbewerbsjuror adressiert, der als richtender heterosexueller Mann kundtun soll, welche Frauen die bessere, also begehrenswertere Frau ist. Sie verabsolutiert den male gaze, aber diese Verabsolutierung hat zur Folge, dass sie bestimmte patriarchalische Gendernormen verinnerlicht haben muss (z. B. die, dass jüngere Frauen schöner sind als ältere; aber auch die, dass weibliche Schönheit natürlich wirken muss). Diese Normen bilden die Grundlage ihrer eitlen Selbstbehauptung. Genau dieser male gaze wird sie (jetzt oder später) ebenso hart treffen, wie er heute Paula treffen soll; sich ihn anzueignen kann für Frauen, selbst wenn sie in dem Moment objektiv über ein Beauty Privilege verfügen, niemals ein Gewinn sein. Maxie entwürdigt Paula auf der Ebene ihrer Weiblichkeit. Die gezielten Anfeindungen gelingen ihr deshalb so gut, weil sie sich mit der Weiblichkeit Paulas identifizieren kann. Um differenziert über verfemte Schönheitsbehandlungen zu reden, muss sie diese kennen, selbst schon einmal darüber nachgedacht haben. Maxies große Brüste, die einerseits von ihr herausgestellt werden, für die sie sich andererseits aber schämt, werden im Text oft angesprochen. Wenn Paula ihre Brüste selbstsicher präsentiert, kann das für Maxie nur auf Unnatürlichkeit deuten. Paulas Körperlichkeit kann nicht echt sein, sonst wäre sie ihr gegenüber unsicherer. Die Schlussfolgerung, dass Paula sich viel Geld „ins Gesicht und in die Titten geblasen hat“, entspringt einer Logik der Identifikation, denn wie wir im Kapitel zum Triple Entanglement gesehen haben, hält sich Maxie auch nicht für echt und authentisch, wenn sie Fotos von sich postet. Internalisierte Misogynie basiert immer darauf, dass die Weiblichkeit, die abgewehrt wird, als eine (unspezifische) Bedrohung gesehen wird. Paula war nicht nur eine konkrete Bedrohung in Hinsicht auf ihr Liebesglück mit Bobby, sondern ist es auch eine in Hinsicht darauf, wie Maxie selbst in ein paar Jahren für sich gewährleisten will, dass sie „jede Umfrage gegen Paula gewinnen würde“. Ist der Griff zu ästhetischen Maßnahmen für Maxie nicht naheliegend, da sich ihr Selbstwert, wie wir in vielen Zitaten sehen, die im vorigen Kapitel angeführt worden sind, darauf gründet, schön und begehrenswert zu sein? Ist ihr Griff zu ästhetischen Maßnahmen nicht irgendwann unausweichlich für sie? Paula übelzunehmen, dass sie nicht aufhören will, sich als erotisches Objekt zu präsentierten, nimmt Maxies eigenen Werdegang womöglich vorweg und erzählt von Maxies ureigener Sorge, nicht schön genug zu sein. Auch sie wird in ein paar Jahren wohl nicht damit aufhören, Fotos von sich ins Netz zu stellen in der Hoffnung, Männern zu gefallen. Wird es ihr dann reichen, „aufgetakelt vor ihnen [zu] sitzen“, 103 oder muss dann zu Maßnahmen gegriffen werden, die sie Paula unterstellt. Beide Frauen rufen: „Begehrt 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit 67 <?page no="69"?> 104 Ebenda. 105 Ebenda. 106 Given 2020, S.-55. mich! Nehmt mich“. 104 Der Gleichklang in ihrer Genderidentität befördert Maxies Hass. Die andere Frau verkörpert für Maxie die Gendernorm auf unzulängliche Art. Vor dieser Unzulänglichkeit will sie sich ideologisch schützen, gerade weil sie weiß, dass sie davon nicht weit entfernt ist. Die Tirade ist aber keine Tatsachenbeschreibung, sondern dokumentiert die Angst, in der die misogyn agierende Frau bekundet, selbst einmal lächerlich werden oder am Genderideal scheitern zu können. Maxie „will sich verkosten lassen, sich ihren Marktwert bestätigen und signieren lassen“. 105 Diese Praxis ist genau dieselbe, die Paula unterstellt wird, und somit offenbart sich Maxie auf dieselbe Weise als abhängig und „lächerlich“ wie ihre Geschlechtsgenossin. Um sich ein mögliches Scheitern an den patriarchalischen Normen nicht einzugestehen, werden die scheinbar noch schlechteren Frauen abgewertet. Ihre Minderwertigkeit produziert das gefährdete Selbstgefühl, etwas besser zu sein (nämlich jünger, natürlicher, witziger). Insofern ist das homosoziale Moment, also die Ebene der Identifikation, bei der Artikulation der internalisierten Misogynie wesentlich. Die bei Erscheinen ihres Buches Women don’t owe you pretty (auf Deutsch 2022 erschienen als Frauen schulden dir gar nichts) gerade erst zwanzig Jahre alte Feminis‐ tin Florence Given konstatiert, dass das durch den Kapitalismus (und wie in dem Literaturbeispiel durch die Bildmedien) verbreitete Gendersystem als Ursache dafür angesehen werden muss, dass Frauen stets eine Unsicherheit gegenüber ihrer eigenen Weiblichkeit suggeriert wird. Maxie ist existentiell verunsichert und sucht durch Mittel Bestätigung (z. B. durch digitales Posing), die in ihr diese Unsicherheit allerdings nur noch mehr befördern. Die Bedenken gegenüber der eigenen Weiblichkeit sind die Basis für die Artikulation von internalisierter Misogynie. Die Konkurrenzsituation um die Aufmerksamkeit der Männer findet hier in einem digitalen Raum statt. Die Competition wird direkt benannt. Maxie will die Umfrage, wer die begehrenswertere Frau ist, für sich entscheiden, um Bobby imaginär zu bezwingen. Bobby ist auf dieser Ebene aber nicht der konkrete Mann, mit dem Maxie sexuell verkehrte, Bobby ist der machtvolle Mann an sich. Die Quelle für Maxies unangenehme Äußerungen liegt demnach eher in einem System, das Frauen gegeneinander ausspielt und drückt Maxies eigene Unsicherheit aus, die ihr durch das Scheitern an der Liebesbeziehung mit Bobby schmerzlich eingebrannt worden ist, als dass diese Anfeindungen etwas über Paula sagen: This creates a toxic competitiveness among women, in a pursuit to fill the void caused by insecurities and the toxic standards of beauty. […] The internalized misogynist will tell you that women shouldn’t do “certain things” because of the sexist narrative that society has laid for us. 106 [Dies schafft eine vergiftete Konkurrenzatmosphäre unter Frauen, hervorgerufen durch das Bestreben, der Unzufriedenheit mit sich selbst etwas entgegenzuhalten, die durch Unsicherheiten und durch die toxischen Schönheitsstandards verursacht wird. […] Ein 68 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit <?page no="70"?> 107 Ebenda, S.-56 [Hervorhebung im Original]. verinnerlichter Frauenhasser, der die sexistischen Narrative, die uns die Gesellschaft auferlegt hat, weiterträgt, verkündet (dir) in seinen Worten aus deinem Mund, dass Frauen „bestimmte Dinge“ nicht tun sollten.] [Meine Übersetzung; K.-K.] Die eigene Scham für das, was Maxie tut, nämlich sich aus Unsicherheit selbst permanent zur Schau zu stellen, wird auf Paula projiziert, die es sogar zu wagen scheint, ihrem Geltungsdrang mit ästhetischen Maßnahmen nachzuhelfen. Da die internalisierte Misogynie stets über Identifikation vonstattengeht, die moralischen Urteile gegen die andere Frau Urteile sind, die die kritisierende Person für sich abwehren will, schlägt Given alltagspraktisch vor, den Frauenhasser in sich konstruktiv durch Selbstanalyse zum Verstummen zu bringen: Every time you catch yourself critiquing a woman on the choice she makes - who she sleeps with, how she dresses - sit in it. Reflect. What is it about her that makes you feel uncomfortable? Perhaps she actually just reminds you of yourself, or the parts of yourself that you are ashamed of. Or perhaps she’s the very person you want to be. Or perhaps […] you actually really fancy her and need to go ask her out. 107 [ Jedes Mal, wenn Du dich dabei erwischst, wie Du eine Frau für ihre Lebensentscheidungen kritisierst - mit wem sie schläft, wie sie sich kleidet - halt inne. Reflektiere. Was ist das an ihr, dass dich unwohl fühlen lässt? Vielleicht erinnert sie dich tatsächlich nur an dich selbst oder an die Teile von dir, für die du dich schämst. Oder vielleicht ist sie genau die Person, die Du gerne wärst. Oder vielleicht […] stehst du eigentlich auf sie und müsstet sie bloß um ein Date bitten.] [Meine Übersetzung; K.-K.] Auch Maxie könnte Paula umarmen und um ein Date bitten. Selbst, wenn keine erotische Energie zwischen ihnen aufkeimen würde, sind sie schon dadurch verbunden, dass sie, wider ihr besseres Wissen, einem Mann verfallen sind, der betrügerisch agiert und sie gegeneinander ausspielt. Internalisierte Misogynie ließe sich durch die Ebene der Reflexion in eine positive homosoziale Energie umwandeln. Das von Given vorge‐ schlagene Innehalten würde dem Patriarchat ein Schnippchen schlagen. Die Texte der Gegenwart konfrontieren uns auch mit dieser ins Positive gewandelten Strategie der gegenseitigen Frauenidentifikation. Nichtsdestotrotz ist der hier vorgestellte Begriff hilfreich, um die negative Seite einer solchen Identifikation zu benennen. Wenn wir die verbalen Attacken von Frauenfiguren gegenüber anderen weiblichen Figuren in einem größeren systematischen Zusammenhang lesen, dekodieren wir den patriarchal kodierten Symbolisierungsprozess. Maxie nicht als intrinsisch neidisch und missgünstig anzusehen, sondern als betroffen und ängstlich zu verstehen, gibt der Frauenfigur, die sich der internalisierten Misogynie schuldig macht, eine andere Färbung, ohne dass ihre Misogynie dadurch gerechtfertigt wird. Durch sie zeigt sich die Figur als schwach. Wir dürfen allerdings Maxies Triade in doppelter Hinsicht nicht auf den Leim gehen, sie also weder als glaubhafte Beschreibung von misslungenen Beau‐ tybehandlungen auf Seiten Paulas noch als puren Neid auf Seiten der Spötterin lesen. 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit 69 <?page no="71"?> Es kann Maxie zugutegehalten werden, dass sie das Potential hat, den Frauenhasser in sich zum Schweigen zu bringen. Die positive homosoziale Energie bricht sich durch die Freundschaftsbeziehungen, die sie zu anderen Frauen im Roman aufnimmt, Bahn. Eine feministische Lektürepraxis soll nicht darin gipfeln, jede Kritik einer Frauenfi‐ gur an einer anderen als internalisierte Misogynie zu dechiffrieren. Wohl aber ist es für die Analyse von Werken hilfreich, unterscheiden zu können, ob die Kritik eine persönliche (und vielleicht berechtigte) Meinung der Figur ist oder ob sie sich nur als genereller Ausdruck der eigenen Unsicherheit mit Weiblichkeit zeigt, die in einer Art Spiegelneurose auf die kritisierte Frau übertragen wird. Die identifikatorische Qualität des moralischen Urteils ist ein sicheres Merkmal von internalisierter Misogynie und sie ist daher von psychologisch motivierter, persönli‐ cher Kritik abzuheben. In der vielgelesenen, hochgelobten neapolitanischen Saga über eine Frauenfreund‐ schaft, die den Namen Elena Ferrante weltweit bekannt machte, finden wir an vielen Stellen Betrachtungen der Erzählerin, in denen andere Frauen niedergemacht werden. Diese Saga wurde in der Presse als eines der bedeutendsten Werke dieses Jahrhunderts gefeiert. Das, was uns in den Romanen mitgeteilt wird, ist für die Leser*innen nachvollziehbar. Der Erfolg des Textes beruht nicht zuletzt in dem identifikatorischen Potential. Dies sehe ich auch bei weniger positiven Beziehungen, die die im zweiten Band noch adoleszente Ich-Figur zu anderen Frauen knüpft. Die Weiblichkeit der sie umgebenden, etwas älteren Frauen und Mütter ihres ärmlichen Wohnviertels Rione wird sehr kritisch beäugt. Die Arbeiterinnen vermochten, in den Augen der kritisch auf sie Blickenden, sich ihre Weiblichkeit nicht zu bewahren und beschwören in der Ich- Erzählerin eine Schreckensversion herauf, wie sich die eigene Weiblichkeit, verstanden als schöne Hülse, ebenfalls abnutzen werde. Die Freundin der Ich-Erzählerin hat sich im jungen Teenageralter verheiratet und ist schwanger. Indem sie die Jugendlichkeit und Schönheit ihrer Freundin, die als strahlend gilt, mit der Hässlichkeit der älteren Frauen vergleicht, manifestiert sich die Furcht des jungen Mädchens davor, dass Frauen im Prozess des Erwachsenwerdens ihre Weiblichkeit einbüßen müssen. Keine weibliche Schönheit kann dem Prozess der „Ent-Feminierung“ durch die Zumutungen des Alltags entkommen. Weiblichkeit ist hier wörtlich als ein „Bild“ verstanden, sie drückt sich in femininen Zügen aus, die mit „Kleidung“ und „Schminke“ betont werden. Unter der Hülse der jugendlichen Zartheit lauert schon der Verfall, die „Aufzehrung“ durch die besitzergreifenden Körper „ihrer Männer, Väter, Brüder“. Ich musste an den etwas verwahrlosten Körper der Maestra denken und an den herunter‐ gewirtschafteten von Melina. Ohne ersichtlichen Grund begann ich die Frauen auf der Straße nun aufmerksam zu mustern. Plötzlich war mir, als wäre ich mit so etwas wie Scheuklappen durchs Leben gegangen, als hätte ich meine Aufmerksamkeit nur auf uns Mädchen richten können, auf Ada, Gigliola, Carmela, Marisa, Pinuccia, Lila, mich selbst und meine Schulkameradinnen, und hätte eigentlich nie auf Melinas Körper geachtet oder auf Giuseppina Pelusos, auf Nunzia Cerullos, auf Maria Carraccis. Der einzige Frauenkörper, den ich mit wachsender Sorge beobachtet hatte, war der hinkende meiner Mutter, nur von 70 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit <?page no="72"?> 108 Ferrante 2019a, S.-147ff. diesem Bild fühlte ich mich bedrängt, bedroht, und ich fürchtete noch immer, es könnte sich unversehens über mein eigenes legen. Nun aber sah ich auch die Familienmütter des alten Rione in aller Deutlichkeit. Sie waren gereizt, waren fügsam. Sie schwiegen mit zusammengekniffenen Lippen und eingezogenem Kopf oder schrien ihre Kinder, die ihnen auf die Nerven gingen, mit fürchterlichen Schimpfwörtern an. Abgezehrt, mit tiefliegenden Augen und eingefallenen Wangen oder mit breiten Hintern, geschwollenen Fußgelenken und schweren Busen schleppten sie ihre Einkaufstaschen und zogen ihre kleinen Kinder hinter sich her, die ihnen am Rockzipfel hingen und hochgenommen werden wollten. Und, du lieber Himmel, sie waren zehn, höchstens zwanzig Jahre älter als ich. Trotzdem hatten sie die femininen Züge schon verloren, auf die wir Mädchen so großen Wert legten und die wir mit unserer Kleidung und unserer Schminke betonten. Sie waren von den Körpern ihrer Männer, Väter, Brüder aufgezehrt worden, denen sie immer ähnlicher wurden, oder von der schweren Arbeit, vom nahenden Alter, von Krankheiten. Wann setzte die Verwandlung ein? Mit den Schwangerschaften? […] Würde Lila sich genauso verformen wie Nunzia? Würde aus ihrem zarten Gesicht Fernando hervorblitzen, würde sich ihr anmutiger Gang in den von Rino verwandeln, breitbeinig und mit vom Körper abstehenden Armen? 108 Der Text zeigt auf zwei Ebenen internalisierte Misogynie, nämlich sowohl in der kritischen Beobachtung der älteren Frauen und Altersgenossinnen als auch in der Selbstdarstellung. Der zweite Band der Saga, mit dem Titel: Geschichte eines Namens, spielt in den 1950er und 1960er Jahren. Die Frauen agieren in diesem Band hauptsäch‐ lich als Konkurrentinnen auf dem Heiratsmarkt und beschuldigen sich gegenseitig der Schlampigkeit, der Verschwendungssucht, auch der Unattraktivität, projizieren auf die Konkurrentinnen alle Merkmale, die sie an sich selbst fürchten. Sie attestieren den anderen Frauen Fehler in ihrer weiblichen Performanz, die sie strengstens zu vermeiden gedenken. Der zitierte Textabschnitt ist jedoch deshalb so eindrücklich, weil Elena, die Beob‐ achterin, um die Bildhaftigkeit der Genderideale zu wissen scheint. Sie sieht in ihrem ärmlichen Umfeld des neapolitanischen Arbeiterviertels keine Frau, die sich das, was als hervorragend weiblich gilt, im Alltagsleben bewahren konnte. Geschlechtliche Identität steht nicht zur Debatte, denn auch die „heruntergewirtschafteten“ Frauen bleiben ihrer geschlechtlichen Zuordnung nach Frauen, sie verabsolutiert allerdings den male gaze (die heterosexuelle männliche Perspektive), indem sie die Abkehr vom zeitgenössisch gängigen Schönheitsideal als Verrat an der Weiblichkeit ansieht und den Frauen eine phänomenologische Zuwendung in Richtung Männlichkeit attestiert. Sie befindet sich auf einer höheren Ebene der Reflexion als Maxie, denn in ihrer Sorge spricht sie deutlich aus, dass auch ihr und ihrer Freundin dieses Schicksal des Weiblichkeitsverfalls blühen wird. Als sie im dritten Band selbst Mutter wird und „sich gehen lässt“, weil ihre Mutterschaft sie so fordert, kommt sie auf diese Sorge zurück und fragt sich als 27-Jährige, ob sie nun alt und verblüht sei. Nach der Geburt ihrer 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit 71 <?page no="73"?> 109 Ferrante 2019b, S.-399. zweiten Tochter hält sie es für den „natürlichen Lauf der Dinge, wie die Mütter in Rione zu werden.“ 109 In dem zitierten längeren Abschnitt nimmt Elena die schwangere Lila als Frau wahr, die ihren Zenit schon überschritten habe, die sich bereits leise von ihrer blühenden Weiblichkeit (ihrer Schlankheit und Schönheit) verabschieden müsse. Wie erwähnt steht diese Beobachtung Elenas im Kontext der späten 1950er, frühen 1960er Jahre. Die Figur, die jene Befürchtungen äußert, weiß weder etwas von Feminismus noch von Gendertheorie. Ihre in jeder Hinsicht politisch inkorrekten Äußerungen, die eine internalisierte Misogynie offenbaren, gehen dennoch davon aus, dass „als weiblich zu gelten“ keine Konstante im Leben einer Frau darstellt. Sie operiert mit ihrem Weiblichkeitsbegriff eng an den hegemonialen Gendervorstellungen. In der süditalienischen Vorstellungswelt der ausgehenden 1950er Jahre war eine „richtige“, „weiblich wirkende“ Frau dadurch gekennzeichnet, körperlich begehrenswert zu sein, andere Eigenschaften spielten eine untergeordnete Rolle; ein Mann hingegen galt als hart, wehrhaft, überlegen. Das Verhältnis der Geschlechter basierte auf einer unhinterfragten Männerherrschaft, die den Männern eine zur Schau gestellte Gewalt gegenüber Frauen und gegenüber weniger abgehärteten Männern erlaubte. Seine Attraktivität konnte sich ein Mann auch durch ökonomische Potenz beweisen, die Frau hingegen blieb auf ihre Schönheit und Gebärfähigkeit beschränkt, um als Frau anerkannt zu werden. Je unattraktiver sie in den Augen der Männer erschien, desto weniger Anerkennung konnte ihr zuteilwerden. Ein Haupterzählstrang dieses Romans besteht darin, dass sich Mitte des 20. Jahrhunderts auch in hinterwäldlerischen Kontexten wie diesem neapolitanischen Arbeiterviertel Bildung als weibliches Quali‐ tätsmerkmal durchzusetzen begann, so dass sich Frauen (jenseits ihrer physiologischen Erscheinung) gleich Männern sozial damit zu erhöhen vermochten. Elena bildet sich und macht Schritte in Richtung Emanzipation; die internalisierte Misogynie lässt sich von ihr aber nicht leicht abstreifen. Obwohl Elena eine intelligente, liebenswerte und kaum von Neid geplagte junge Frau ist, wertet sie ständig ihre Mutter ab. Diese Abwertung ist eine identifikatorische. Sie hat Angst, dass das Bild einer unattraktiven, ungebildeten, hinkenden Frau, welche die Mutter für sie darstellt, das Bild werden könnte, das sie einmal selbst für Andere abgeben würde. Sie fürchtet sich davor, dass sie irgendwann andere Menschen mit demselben mitleidig-verachtenden Blick ansehen werden, mit dem sie ihre Mutter bedenkt. Die bemitleidenswerte Weiblichkeit, die von Blickwinkel eines männlichen Beobachters einen starken Bruch zu dem aufweist, was das Weiblichkeitsideal in Hinsicht auf Schönheit und Grazie ausmacht, bedeutet für Elenas Selbstbild eine Gefahr. Niemals will sie den Weg ihrer Mutter einschlagen und sie flieht in ihren Bildungsanspruch, um eine Grenze zwischen sich und dieser Frau, die ihr nicht nur hässlich, sondern auch dumm erscheint, zu manifestieren. Der Widerspruch zwischen der herabgewürdigten Mutter und ihr selbst offenbart sich nicht als Kluft zwischen zwei Frauen, sondern als Kluft zwischen der Realität 72 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit <?page no="74"?> weiblicher Genderperformance (Frauen, „von den Körpern ihrer Männer, Väter, Brüder aufgezehrt […], denen sie immer ähnlicher wurden“), die die harte Lebenswirklichkeit hervorbringt und der jugendlichen Idealität („feminine Züge […], auf die wir Mädchen so großen Wert legten“), die Elena und ihre Freudinnen aus dem Kino und den Zeitschriften kennen und die tatsächlich in so ärmlichen Lebensumständen wie denen der beschriebenen Neapolitanerinnen keine Chance haben wird, im erwachsenen Lebensalltag zu überdauern. Bekanntermaßen ist dem Begriff des Geschlechts nur im Prozess der Symbolisierung als Gender überhaupt habhaft zu werden. Das wissen wir spätestens seit Butlers Gender Trouble. Genau diese Symbolisierung erzeugt Mehrdeutigkeiten, die jedoch immer wieder als bedrohlich wahrgenommen werden. Um die harte Lebensrealität von Frauen - also die Tatsache, dass in dem Arbeiterviertel, in dem Elena aufgewachsen ist, die Frauen weder die Zeit haben, sich schön zu machen, noch die finanziellen Mittel dafür - von den Idealvorstellungen, die als bindend angesehen werden, syste‐ matisch zu unterscheiden, muss die fehlende Schönheit als persönlicher Makel der Arbeiterfrauen benannt werden. Sie haben den Sinn ihres weiblichen Daseins nicht gefunden, ihn nicht gegen ein entbehrungsreiches Leben ohne Schminke und schöne Kleider verteidigt. Sie haben ihre Weiblichkeit aufgegeben, eine Weiblichkeit, die Elena obsessiv anstrebt. Indem Frauen ihr Scheitern am Ideal vorgeworfen wird, werden Gendernormen installiert. Elena verpflichtet sich mit ihren misogynen Äußerungen gegenüber den Gendernormen und sieht die Einhaltung dieser Normen als eine Frage der Selbstverantwortung. Sie will niemals so wie die kritisch beäugten, mittellosen Frauen erscheinen. Sie fürchtet auch für Lila, die Freundin, dass diese ihre Weiblichkeit peu à peu verlieren wird. Damit setzt sie, als eine junge Frau, die noch zur Schule gehen und sich bilden darf, eine Demarkationslinie zwischen sich und ihre Freundin. Lila scheint der patriarchalischen Ideologie gemäß im Moment dieser frauenkritischen Betrachtungen erfolgreicher als Elena zu sein. Sie gilt als schöner und begehrenswerter. Frühe Heirat und frühe Schwangerschaft sind ein Ziel jedes jungen Mädchens in ihrer Umgebung, welches die schöne Lila, bei der die Verehrer Schlange standen, bereits erreicht hat. Tatsächlich ist die Freundschaft zwischen Elena und Lila niemals ganz frei von Konkurrenz. Nicht selten plagt sich Elena mit dem Gedanken, dass Lila sie stetig übertrumpft. Indem Elena ihren misogynen Blick auf Lila ausweitet, gelingt es ihr, sich selbst als Frau, die nicht schwanger ist und nicht in einer (ehelichen) Beziehung lebt, subtil aufzuwerten. Sie identifiziert sich ihrer Selbstaussage nach mit Lila, aber nur in der Hinsicht, dass für Lila die Befürchtung besteht, dass ihre Zeit abgelaufen ist, dass sie zeitnah ihre strahlende Weiblichkeit einbüßen wird, um wie die anderen Frauen zu werden. Damit geht insofern eine Selbstaufwertung einher, dass für die noch jungfräuliche Erzählerin Elena der Höhepunkt ihrer femininen Ausstrahlung noch aussteht, sie dem Höhepunkt ihrer eigenen strahlenden Weiblichkeit noch entgegensieht, sich ihr eigener Kampf um Schönheit noch lohnt. Die in diesem Text offenbarte internalisierte Misogynie gibt ihre identifikatorische Seite unschwer zu 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit 73 <?page no="75"?> 110 Ebenda, S.-149f. erkennen, ist dadurch aber nicht weniger frauenfeindlich. Was als Lilas Gefühlslage von Elena gedeutet wird, ist Verachtung für weibliche Körperlichkeit, der die Entsprechung mit der Idealnorm abhandenzukommen droht. Diesen in Lilas Kopf projizierten Hass eignet sich Elena anscheinend unterbewusst an. Indem Elena Lila unterstellt, dass sie die körperlichen Veränderungen, die ihr geschehen werden, schmerzlich beklagt, kann sie ihren unbefruchteten, noch jungfräulichen Leib als höherwertig empfinden als den ihrer Freundin. Die Misogynie dient ihr dazu, sich selbst zu versichern, dass sie in der sozialen Skala gelungener Weiblichkeit noch aufsteigen, ja: Lila irgendwann überholen kann, der sie bisher in weiblicher Schönheit stets unterlegen war und die jetzt schon einen Ehemann und eine nahende Mutterschaft aufweisen kann. Da erkannte ich, dass ich unbewusst Lilas Gefühle aufgenommen und sie zu meinen hinzufügte. Hatte sie wegen alldem diesen Gesichtsausdruck, diese üble Laune gehabt? Sich deswegen wie in einer Art Abschied zärtlich über Bein und Hüfte gestrichen? Sich deswegen beim Reden betastet, als spürte sie die Grenzen ihres Körpers, von Melina und Guiseppina belagert, und war daher entsetzt und angewidert? 110 Ob hier tatsächlich Lilas Gefühle eine Rolle spielen oder nur die patriarchalische Den‐ kungsart, der Elena gehorcht, ist unentscheidbar, doch deutlich wird, dass, indem Elena Lila ihre mit der Schwangerschaft einhergehenden Veränderungen als unwillkommen empfinden lässt, Elena in ihrem Selbstgefühl Oberhand über eine Frau gewinnt, der gegenüber sie sich bisher benachteiligt fühlte. Diesen Modus treffen wir oft in Texten an. Die gefühlte Unterlegenheit gegenüber einer anderen Frau wird durch misogyne Angriffe gewissermaßen umgekehrt. Inter‐ nalisierte Misogynie hat einen Sexismus verschärfenden Effekt, besonders dann, wenn die Abwertung, die Frauen erfahren, rechtfertigen soll, dass sie zu Opfern sexueller Gewalt geworden sind. Als Opfer von internalisierter Misogynie eignen sich in Texten meist Frauen, die ökonomisch, sozial auf einer niederen Stufe stehen als die Frau, die gegen sie wettert. Auch Elena fühlt sich durch ihre Bildung den Arbeiterinnen (bisweilen auch ihrer Freundin) überlegen. Gerade weil das Überlegenheitsgefühl fragil ist und auf keinem gesunden Selbstbewusstsein fußt, wird Zuflucht zur Misogynie genommen. Die diskriminierten Frauen sind Quelle von Furcht. Die misogyne Agentin möchte sich vor der als negativ empfundenen Weiblichkeit schützen. In Joyce Carol Oates’ aufwühlender Novelle Vergewaltigt wird das Opfer einer Grup‐ penvergewaltigung von anderen Frauen nicht unterstützt. Die Frauen und Männer der Umgebung führen Erklärungen an, durch die nachvollzogen werden soll, dass sich gerade diese, so sträflich misshandelte Person als ein Gruppenvergewaltigungsopfer angeboten hätte. Ein als amoralisch diffamiertes Sexualleben eignet sich am besten, um das Opfer fragwürdig erscheinen zu lassen und der Frau Solidarität zu verweigern. Allein Teenas Status als alleinerziehende Mutter sowie schöne und genusswillige Frau nehmen andere Frauen, zum Beispiel die Mütter der vergewaltigenden Söhne, als 74 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit <?page no="76"?> Ausweis dafür, dass die attraktive junge Mutter die ihr als Frau gesetzten Grenzen übertreten hätte und nun (gerechterweise) dafür bestraft wurde. Ihnen selbst, so reden sich diese misogynen Mütter ein, würde Ähnliches niemals widerfahren, weil sie sich performativ davor schützen, zu reizvoll für Männer zu sein. Teenas sexuelle Attraktivität wird zu ihrer Achillesferse erklärt. Eine solche Ideologie ist hochgradig toxisch. Die Möglichkeit der Solidarität unter Frauen wird verweigert, indem die Weib‐ lichkeit der von der Gewalt betroffenen Frau auf eine niedrigere Stufe als die eigene gestellt wird. Sexarbeiterinnen beispielsweise werden auf diese Art oft als Frauen von niederer Gesinnungsart geschmäht. Die Missachtung wird dadurch gerechtfertigt, dass sich die Frauen prostituieren, also aus ihrer Sexualität ökonomisch Kapital schlagen wollen. Ergeht es ihnen schlecht damit, sind sie nicht zu bemitleiden. Wenn Frauen Sexarbeiterinnen lautstark verachten, lenken sie womöglich nur von der Tatsache ab, dass auch sie in sexuellen Beziehungen stecken, die durch ein ökonomisch fundiertes Machtungleichgewicht gekennzeichnet sind. Um die eigene fragile gesellschaftliche Position vor sich selbst zu verschleiern, wird Zugriff zu patriarchalischen Ressenti‐ ments genommen. Wenn nur „Schlampen“ vergewaltigt werden, wähnt sich die adrette Frau, die in bürgerlichen Umständen lebt, in Sicherheit bzw. kann vor sich selbst so tun, als wäre sie es. Teena wird, um sich dem Gedanken, selbst Opfer des Patriarchats zu sein, zu verschließen, Sexarbeiterinnen quasi gleichgestellt, die dieser Logik nach das bittere Schicksal selbst zu verantworten haben. Nach der Vergewaltigung wird der sympathischen, verwitweten jungen Mutter eine sexuelle Aggression attestiert. Die Novelle behandelt meines Erachtens weniger die Auswirkungen von sexueller Gewalt und ihre Ursachen, sondern zeigt, auf welcher Ebene Misogynie wirksam wird. Die sexistische Tat wird durch Misogynie gerechtfertigt. Die Kleinstadt und besonders die kleinstädtischen Frauen bedienen sich ihrer aus Angst. Indem sie das Opfer selbst verantwortlich machen, verwerfen sie den Gedanken, dass auch sie Opfer sexueller Gewalt bzw. sexueller Diffamierung sind oder werden könnten. Die sexistische Ideologie, dass Frauen, die zu viel Alkohol trinken, sich frei bewegen und flirten, es verdient haben, sexuell erniedrigt zu werden, wird durch den Mangel an Solidarität, mit dem Teena konfrontiert ist, re-installiert. Als Umkehrschluss empfinden die Frauen, die nicht zum Opfer wurden, einen noch stärken Disziplinierungszwang, den male gaze zu bedienen, ohne Männer zugleich selbstbewusst herauszufordern. Dem Opfer von weiblicher Seite, so unpassend und unsolidarisch es auch sein mag, einen nicht einwandfreien Lebenswandel zu unterstellen, muss als kläglicher Versuch gelesen werden, sich selbst als Frau vor Anfeindungen zu schützen. Ein solches Verhalten schafft eine scheinbare Selbstgewissheit. Das trifft besonders auf die Mütter der Täter zu. Wenn sie sich eingestehen, dass die Vergewaltigung Teenas durch nichts gerechtfertigt ist, verlieren sie ihren Status als liebevolle Mütter; wenn sie ihre Söhne nicht rechtfertigen würden, wären sie Monster, die ihre Erziehungspflicht vernachlässigten und nicht in der Lage waren, ihren Söhnen die gebotene Achtung vor Frauen beizubringen. Tatsächlich ist der Urgrund der misogynen Drangsalierung, der Teena nach der Vergewaltigung ausgesetzt ist, Angst und Identifikation mit Teena 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit 75 <?page no="77"?> 111 Given 2020, S.-55. auf der Seite ihrer Schmäherinnen. Die unsolidarischen Frauen wissen, dass auch sie gern einmal etwas über den Durst trinken, sich schön kleiden, begehrenswert sein wollen. Sie wissen, sie könnten Opfer werden. Um dieses Wissen zurückzudrängen, einzudämmen, ausblenden zu können, muss die zum Opfer gewordene Frau sich mindestens graduell von der eigenen Weiblichkeitsperformanz abheben. Sie muss im Abgleich mit der eigenen Weiblichkeit „schlechter abschneiden“, als lauter, fordernder degradiert werden. Internalisierte Misogynie ist ein schändliches, doch wirkungsvolles Mittel, die eigene weibliche Identität zu verherrlichen. Die Geschichte der Vergewaltigung wird aus der Perspektive der zwölfjährigen Tochter erzählt, die bei der schrecklichen Tat zur verdeckten Zeugin wurde. Der Text verdeutlicht, wie die internalisierte Misogynie als eine Stimme in der Tochter mit der Stimme der Liebe kämpft, die sie auch in sich hat. Das junge Mädchen identifiziert sich mit der geliebten Mutter - und doch nimmt es Zuflucht zu misogynen Allgemeinplätzen, um sich, wie Elena im anderen Beispiel, vor der gefürchteten, weil erniedrigten Weiblichkeit, die die Mutter repräsentiert, zu schützen. Das Kapitel Wie die Mutter, so die Tochter, verdeutlicht durch autodiegetische Perspektivierung das Wechselspiel zwischen misogynen Ressentiments und liebevoller Loyalität. Bethel Maguires widersprüchliche Empfindungen resultieren daher, dass sie sich fremde Sichtweisen auf ihre jung verwitwete Mama zu eigen macht. Die Perspektive auf die Mutter ist durch den „internalized misogynist“, 111 eine fremde Stimme, gebrochen. Der Text zeigt fremde Stimmen durch Kursivierung an, was die Rezipient*innen erahnen lässt, dass dies Aussprüche markiert, die die Tochter über ihre Mutter gehört hat und diese nicht dem ursprünglichen, vielleicht authentischeren Blick der Tochter gleichrangig sind. Aber auch bei den Stellen, die nicht hervorgehoben sind, schleicht sich in die Psyche der Tochter der „internalized misogynist“ ein und verhindert eine uneingeschränkte Solidarität mit der Mutter. Das ist für Bethel nicht weniger schmerzhaft als für Teena. Die internalisierte Misogynie beschädigt niemals nur das Objekt der misogynen Betrachtung, sondern immer auch die Akteurin, die mit dem Opfer ihres bösen Blicks auf eine komplex-identifikatorische Art verbunden ist. An diesem Abend wurde bei Casey viel getanzt. Einfach so Discohopsen, wild und lustig. Teena Maguire tanzte von allen mit am besten. Typen konnten da gar nicht mithalten. Nur andere Frauen. Sieh dir bloß Teena an! Teena sieht ja heiß aus heute Abend! Oft kriegstest du zu hören, dein lohfarbenes Haar und die helle Haut hättest du von Teena Maguire. Bloß, dass du nicht hübsch warst wie Teena, das wusstest du, würdest es nie sein. Wenn du Momma dabei zusahst, wie sie tanzte und flirtete und so lachen musste, dass ihre Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten, wenn du sahst, wie andere sie ansahen, machtest du dir manchmal Sorgen. Dass Teena Maguire einen Eindruck machen könnte, der ihr nicht ganz entsprach. 76 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit <?page no="78"?> 112 Oates 2012, S.-23ff. Wenn sie bei diesen Partys zu viel trank. Irgendwie so atemlos wurde, so aufgeregt. Wie eine von der Highschool, nicht wie eine Frau Mitte dreißig. (So alt! Du wolltest gar nicht genau wissen, wie alt deine Mutter wirklich war.) Wenn Teena der Träger ihres ärmellosen Tops von der Schulter rutschte, sah man, dass sie darunter keinen BH trug. Wenn ihr das Haar fransig und „aufgehellt“ in die Augen fiel. Wenn von ihrer kurz berührten Haut die Hitze aufstieg. Wenn ihr Lachen überrascht aus ihr hervorbrach wie platzendes Glas. Du wusstest genau, dass es deiner Mutter zustand, sich zu amüsieren. Sie war im Vergleich zu den Müttern deiner Freundinnen richtig nett. Sie liebte dich, und man konnte getrost sagen, dass sie alles für dich tun würde. Dein Vater fehlte ihr, aber sie wollte nicht in der Vergangenheit leben. Sie klagte nicht, oder nicht viel. Ihr Standardspruch war: Kann mir Schlimmeres vorstellen, begleitet von so einem Comedy-Achselzucken. Sie hatte viel Stress in ihrem Job als Praxishelferin bei zwei Zahnärzten, die sie scheuchten und ewig mäkelten. Und dann gab es noch ihre eigene Mutter, die erwartete, dass man bis zu zweimal am Tag vorbeikam, und die wollte, dass Momma und du zu ihr in ihr Backsteinhaus an der Baltic Avenue zieht. Momma schwor, das könne sie nicht! Könne es einfach nicht. Es wäre natürlich das Einfachste. Wieder in ihr Elternhaus zu ziehen. Sie würde dabei viel Geld sparen können, aber dafür bestimmt nie wieder heiraten. Dann wäre ihr Leben vorbei, ihr Leben als Frau. Das könne sie nicht ertragen. Deine Mutter war eine Frau, die auf Männer stand. Manchmal zu sehr. Wollte es nicht anders. Hat es drauf angelegt. Weiß doch jeder, was das für eine war. Über die Jahre hatte es im Leben deiner Mutter eine Reihe Männer gegeben, aber keiner war jemals über Nacht in der Ninth Street geblieben. Deine Mutter erlaubte es nicht, sie wollte dich nicht belasten. Nicht, dass sie etwas gesagt hätte. Aber du konntest es dir denken. Zurzeit war es Ray Casey; mit ihm war deine Mutter seit ungefähr einem Jahr zusammen. 112 [At Casey’s that night lots of people were dancing. Just disco-dancing, wild and fun. Teena Maguire was one of the best dancers, no guy could keep up with her. Only other women. That Teena! Look at her! Teena’s hot tonight! Often you were told that you’d inherited Teena Maguire’s tawny-blond hair and fair skin. Except you knew you weren’t pretty like Teena and never would be. Watching Momma dance and flirt and laugh so hard her eyes were shut to slits, seeing how other people looked at her, you worried sometimes. That Teena Maguire made a certain impression that wasn’t exactly her. Drinking too much at these parties. Acting king of breathless, excited. Like a high school girl not a woman in her midthirties. (So old! You were too fastidious to wish to know your mother’s exact age.) Her tank top slipping off her shoulder, you could see Teena wasn’t wearing a bra beneath. 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit 77 <?page no="79"?> 113 Oates 2003, S.-17ff. Her hair, scissor-cut in layers, which she’d had “lightened,” falling into her eyes. Her skin that, if touched, you could feel: heat lifting from it. Her laughter, in surprised-sounding peals like glass breaking. You knew: your mother deserved some good times. She was really nice compared to most of your friends’ mothers. She loved you, and it wasn’t any exaggeration she’d do anything for you. She missed your father but did not wish to dwell on the past. She did not complain, anyway not too much. Her favored remark was Things could be helluva lot worse delivered with a TV-comedy shrug. She was under a lot of tension at her job, receptionist for two bossy dentists who were always critical of her. And there was her own mother depending on her to visit sometimes twice a day and wanting her and you to move in with her in the brick house on Baltic Avenue. Momma protested she could not! Just could not. It would be the easy thing to do. Move back in with Grandma. Of course she would save money but then she would never remarry. Her life would be over, her life as a woman. She could not bear that. Your mother was a woman who liked men. Sometimes too much. Had it coming. Asked for it. Everybody knows what she was. Over the years there’d been a number of men in your mother’s life and yet none had ever stayed overnight in your house on Ninth Street. Your mother wouldn’t allow this, she didn’t want to upset you. Not that she’d told you this. But you figured. Now it was Ray Casey, your mother had been seeing for about a year. 113 ] Der Untertitel der Novelle Eine Liebesgeschichte bezieht sich auf Gefühle, die das junge Mädchen für einen Polizisten entwickelt, der anders als viele Menschen der Umgebung uneingeschränkt für Teena, das Opfer, Partei ergreift. Er hegt große Sympathie für die junge Frau, aber er ist kein glaubwürdiger Held. Dass in einer feindlichen Welt, in der Männer so viel Macht haben, das Leben einer Frau völlig zu zerstören (aber auch die Macht haben, eine Frau zu rächen) und in der die weibliche Solidarität nicht so weit reicht, diese Macht der Männer einzudämmen, scheint es logisch, dass sich die fast adoleszente Bethel einen Mann zum Retter kürt, auf den sie ihre noch kindlichen Gefühle projiziert. In der patriarchalischen Ideologie, der das Mädchen folgt, können nur Männer wirkliche Helden sein, nur sie können das Recht durchsetzen. Der Text handelt nicht in erster Linie von sexueller Gewalt gegen Frauen, sondern davon, wie die Gesetze des Patriarchats funktionieren und durch Misogynie durchgesetzt werden. Teena wird zweimal zum Opfer, zuerst körperlich, anschließend auch Opfer von psychischer Missachtung. Davor will Bethel sich schützen, indem sie Liebe zu jemandem entwickelt, der ihr als Retterfigur erscheint. Anders als ihre Mutter Teena geschehen, hofft die Tochter durch richtiges Verhalten, niemals an die falschen Männer zu geraten. Dies ist ein frommer Wunsch, denn es ist offenkundig, dass in dieser Nacht jede Frau hätte zum Opfer werden können, wenn sie der betrunkenen Männergang in 78 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit <?page no="80"?> 114 Freitas 2023, S.-187. 115 Ebenda, S.-185 [Hervorhebung im Original]. 116 Ebenda, S.-190. die Arme gelaufen wäre. Bethel ist eine liebende Tochter, aber sie kann der Logik der Misogynie nicht ausweichen. Sogar, wenn eine Frau selbst das Opfer sexueller Gewalt oder Belästigung ist, lässt sich der Logik der Misogynie kaum entkommen. In ihrem autobiographischen Text Einvernehmlich (Consent. A Memoir of Unwanted Attention), in dem Donna Freitas erzählt, wie sie über längere Zeit von ihrem Professor gestalkt wurde, bedauert sie, dass sich ihr Bewusstsein um die übergriffigen Taten stets gespalten hat. Sie konnte sich nie klar als Opfer fühlen, sondern attestierte sich lange Zeit eine Mittäterschaft. Wie in der fiktiven Figur Bethel sprechen auch in Freitas zwei sich überlagernde Stimmen, diejenige Stimme, die das Verhalten des autoritären Machthabers beklagt, aber eben auch die misogyne Stimme, die ihr immer wieder einflüstert: Es stimmt, ich genoss die Aufmerksamkeit, die ich anfangs von meinem Professor bekam. Ich wollte sie und hielt sie für eine gute Sache. Das war mein Vergehen. Ich war der Sache nicht gewachsen, hatte nicht erkannt, dass dieser Mann, egal was ich später tat, nur und ausschließlich meine anfängliche Zustimmung sehen würde, auch dann noch, als ich sein Verhalten längst ablehnte. 114 Donna Freitas bezichtigt sich eines falschen Kleidungsstils, ihres Genusses des anfäng‐ lichen Supports durch den Mentor, und sie verleugnet vor sich selbst und vor allem vor ihrer Umgebung die unangenehmen Seiten des Stalkings, weil sie sich der Realität nicht stellen kann, weil sie sich auf das Patriarchat eingelassen hat. Eine Frau, die zum Opfer geworden ist, kann sich selbst gegenüber nicht leichter Hand die Unschuldsvermutung geltend machen. Ich habe mich heimlich auf das Verhalten meines Stalkers eingelassen, um meine geistige Gesundheit zu schützen. Ich tat dies, weil als möglicher Preis für die Wahrheit alles auf dem Spiel stand: meine berufliche Zukunft, mein Ruf, meine Glaubwürdigkeit, mein allgemeines Wohlbefinden. Lügen, um ihn zu schützen, war für mich eine Form der Selbsterhaltung. 115 Das ist ein gegen sich selbst gerichtetes misogynes Verhalten, durch welches sich die Frau als eitel, dumm und feige degradiert, als jemand, der es nicht anders verdient hat, nun in einer Belästigungssituation zu stecken, „unter Spannung und gefährlich“ 116 das Studium beenden zu müssen. Misogynie, mit der sich eine Frau selbst bzw. ihr Selbstbild schützen will, schleicht sich in Texte ein, die Frauenbeziehungen behandeln. In den meisten Fällen wird eine andere Frau, die Frau, die man selbst nicht ist, der Falschheit bezichtig, was Donna Freitas in Einvernehmlich als schizophrenes Verhalten sich selbst gegenüber beschreibt. Sie will dem Opfer in sich keinen Glauben schenken. Die Agentin eines misogynen Mindsets (frau ist selbst schuld, an allem, was ihr widerfährt) und das Opfer sind in Freitas’ Beispiel dieselbe Person. Sind wir mit zwei weiblichen Figuren konfrontiert, ist 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit 79 <?page no="81"?> jedoch der Gedanke, die Misogynie, ähnlich wie in dem autobiographischen Bericht, als Selbstverrat zu erkennen, nicht weniger plausibel. Frauen werten eine andere Frau ab, um sich selbst aufzuwerten. Das gelingt jedoch letztlich nicht, weil Bezichtigte und Bezichtigende in derselben Struktur verfangen sind. Die misogyne Form der Selbstaufwertung (andere Frauen abzuwerten, um sich hervorzutun) in ihrer identifikatorischen, homosozialen Komponente zu lesen, trägt dazu bei, die Dichotomie zwischen dem Opfer der Misogynie (Paula, die Frauen des neapolitanischen Arbeiter*innenviertels, Teena) und den Akteurinnen, die sich miso‐ gyner Vorurteile bedienen (Maxie, Elena, Bethel) niederzureißen, weil die Täterinnen, strukturell betrachtet, ebenso Opfer sind. Deshalb lassen misogyne Äußerungen kaum Rückschlüsse auf den Charakter der misogyn agierenden Figuren zu, außer vielleicht den einen Schluss, dass sie hinsichtlich ihrer eigenen Weiblichkeit zutiefst verunsichert und in dieser Hinsicht schwache Persönlichkeiten darstellen - was in den drei behandelten Fällen augenscheinlich zutrifft. Maxie, Elena und Bethel sind liebenswerte Figuren. Die meisten Leserinnen der Bücher werden Züge in ihnen entdecken, die ihnen selbst nicht fremd sind, sei es nun die Suche nach Bestätigung wie bei Maxie, nach Selbstoptimierung wie bei Elena oder Selbstschutz wie bei Bethel. Internalisierte Misogynie ist nicht durch Verurteilung der einen oder anderen Frau beizukommen, sondern dadurch, den Weg, über den sie funktioniert (Identifikation), in positiver Richtung zu beschreiten. Tatsächlich gelingt eine solche Umlenkung vielen weiblichen Figuren in den Gegenwartstexten. Sie schmeißen ihre anfänglichen Ressentiments über Bord und finden als Mitstreiterinnen, als Kolleginnen, als Freundinnen, manchmal auch als Geliebte zueinander. 3.1 Toxische Weiblichkeit Ich möchte den Begriff ‚toxische Weiblichkeit‘ an dieser Stelle nicht ausführlich expli‐ zieren, allerdings ist er in einem populärwissenschaftlichen Kontext nicht ungebräuch‐ lich. Er soll deshalb in diesem Kapitel Erwähnung finden, weil er mit internalisierter Misogynie sinnverwandt ist. Der Begriff ‚toxisch‘ geht auf einen medizinischen Kontext zurück. Er bezeichnet die Gesundheitsschädlichkeit eines Stoffes. Er wird jenseits dieses biochemischen Kontextes verwendet, um soziale Bindungen als zermürbend oder zerstörerisch zu qualifizieren. Ist eine Beziehung toxisch, gilt sie als eine, die den Partner*innen Leid zufügt und die glücklos ist. In diesem Kontext haben sich auch die Begriffe ‚toxische Männlichkeit‘ und ‚toxische Weiblichkeit‘ (weniger häufig verwendet) entwickelt. Toxische Männer und toxische Frauen wirken sich schädlich auf ihre Umwelt aus. Das Begriffsfeld beinhaltet etwas wie Gift, durch das sie anderen Menschen schaden und Übel bereiten. Die Strategien, durch die toxische Männer und toxische Frauen ihre soziale Umwelt vergiften, weichen jedoch aufgrund der unterschied‐ 80 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit <?page no="82"?> 117 Das Buch Toxische Weiblichkeit von Sophia Fritz (München 2024) erschien erst ein halbes Jahr nach Abgabe des Manuskripts von Feministisch lesen. Durch Fritz werden die Erscheinungsformen von Toxischer Weiblichkeit analysiert und differenziert dargestellt. 118 Vgl. dazu Kauer 2015. lichen Genderrolle voneinander ab. Toxische Männlichkeit zeigt sich eher durch Dominanz und Missachtung anderer Personen, während toxische Weiblichkeit durch geheuchelte Freundlichkeit, subtilere Formen von Machtmissbrauch und intrigantes Verhalten erkennbar ist. Toxische Weiblichkeit ist kein Äquivalent zu dem Konzept der internalisierten Miso‐ gynie, sondern drückt sich dadurch aus, dass Frauen einem erlernten Frauenhass nachgehen und sich selbst und andere Frauen auf unerbittliche Weise in Konkurrenz zueinander setzen. Die Art, wie das geschieht lässt sich vielfach differenzieren. 117 Der Begriff ‚toxische Männlichkeit‘ ist hinlänglich bekannt. Er wird allgemein auf ein konservatives männliches Rollenideal („harter Kerl“, „bad guy“) angewendet, das von Männern auf übertriebene, anachronistische Weise angestrebt wird. Toxische Männlichkeit wird in der Gegenwart daher eher von Männern, die nicht die hegemo‐ niale Männlichkeit verkörpern, zur Schau gestellt. Machtvolle Männlichkeit kann auch toxische Züge tragen - oft zeigen sich Heteromaskulinität und Toxizität als synonym; doch in einer sich als feministisch aufgeklärt oder gar woke verstehenden Gegenwart wird von gebildeten Männern erwartet, dass sie sich nicht offensiv als Sprücheklopfer und harte Kerle inszenieren. Sie dürfen und sollen sogar heterosexuell begehren, aber den heteromaskulinen Ha‐ bitus abwerfen. Machogetue würde sie eher an den gesellschaftlichen Rand drängen, 118 so dass, wie #metoo verdeutlicht, männlich toxisches Machtgebaren eher im Verborge‐ nen ausgelebt oder von den sogenannten left behind men als Ideologie gepflegt wird, mit der sie sich gegen den, in ihren Augen effeminierten common sense stellen. Ihre gesellschaftliche Ächtung macht toxische Männlichkeit nicht minder kritikwürdig und verheerend, jedoch hat spätestens #metoo eine bestimmte Form toxischer Männlichkeit als gesellschaftlich anerkannte männliche Performanz für obsolet erklärt. ‚Heteromaskuline Männlichkeit‘ bezeichnet die bewusste Zurschaustellung ihrer heterosexuellen Präferenz durch Männer. Diese geht aber bei als ‚heteromaskulin‘ bezeichneten Männern nicht mit einer großen Achtung vor Frauen einher, sondern vielmehr mit starker sozialer Hinwendung zum eigenen Geschlecht. Aus einer heteromaskulinen Perspektive werden Frauen vordergründig als Sexualobjekte betrachtet. Woke Männlichkeit kann als Gegenbegriff zu heteromaskuliner Männ‐ lichkeit verstanden werden. Beide Begriffe sagen nichts über die gelebte Sexualität der Männer aus, sondern beschreiben die Art, wie Männer in Bezug auf Frauen ge‐ lesen werden wollen, wobei im Falle von Heteromaskulinität eine Zwillingsschaft 3.1 Toxische Weiblichkeit 81 <?page no="83"?> 119 Vgl. Reinhard 2022, S. 25. Der Zeitschriftenartikel bezieht sich auf Reinhard 2022. In diesem Buch nimmt Reinhard auf die zweifache bzw. dreifache Verstrickung von Weiblichkeit in der Gegenwart Bezug (ohne dies begrifflich so zu fassen) und bietet Lösungsstrategien an, um sich feministisch gegen die Zumutungen, denen Weiblichkeit ausgesetzt ist, zur Wehr zu setzen. Die Ablehnung der toxischen Weiblichkeit ist eine solche Abwehrstrategie. von sexueller Bezogenheit und sozialer Abwehr der Männer gegenüber Frauen zu beobachten ist. Auch toxische Weiblichkeit weist den Zug des Anachronistischen auf. Sie gilt ebenfalls als kritikwürdig, ist aber per se verschleierter als die offensivere Form toxischer Männlichkeit, denn sie ist nicht dadurch gekennzeichnet, dass Frauen sich hart und vermännlicht geben würden, sondern dadurch, dass Frauen das rückwärtsgewandte Rollenideal annehmen, das darin besteht, sich permanent in Konkurrenz mit anderen Frauen zu wähnen, um diese auf dem Sexualmarkt auszustechen. Da dieses Konkur‐ renzverhalten durch leisere Töne der Kritik, Heuchelei und Intrigen ausgelebt werden kann, ist toxische Weiblichkeit nicht sofort offensichtlich. Die Kritik an der anderen Frau wird hinter vorgehaltener Hand geäußert. Ob eine Frau mit ihrer Weiblichkeit entspannt umgeht oder sie toxisch auslebt, ist nicht auf den ersten Blick erkennbar. Bei literarischen Figuren müssen wir ihr Verhältnis zu anderen weiblichen Figuren genauer unter die Lupe nehmen. Internalisierte Misogynie (in populären Medien als Girl Hate bezeichnet 119 ) ist der Keim toxischer Weiblichkeit. Die Toxizität ist - wie im Fall von toxischer Männlichkeit - eine gesellschaftlich generierte, d.h. es handelt sich um ein erlerntes Konkurrenzverhalten unter Frauen, welches innerhalb heteronormativer Strukturen geformt wird. Je zwanghafter sich eine Frau in der Heteronormativität verortet, desto anfälliger ist sie für dieses Konkurrenzverhalten. Heteronormativität wird die Privilegierung des sexuellen Begehrens zwischen Mann und Frau genannt. Dieses Privileg wird mit patriarchal generierten Vorstel‐ lungen von Männlichkeit und Weiblichkeit unter Rekurs auf die Natur untermau‐ ert. Gegenwärtig wird Girl Hate verurteilt und als Fallstrick angesehen, der Frauen hemmt. Tatsächlich werden, wie in einem späteren Kapitel zu zeigen sein wird, auch in der Literatur der Gegenwart viele Anstrengungen unternommen, Girl Hate durch Female Bonding zu überwinden. Der gesellschaftliche Weiblichkeitsdiskurs formt sich immer mehr in eine Richtung, in der die über Identifikation erworbene Fähigkeit, Fehler und Widersprüche an anderen Frauen aufzudecken, Empathie fördert und nicht in einer Verurteilung ihrer Person. 82 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit <?page no="84"?> 120 Vgl. Illouz 2018a, bes. S.-329ff. Bemerkenswert an dem populären Diskurs um toxische Weiblichkeit ist nicht so sehr die Anweisung, sie durch homosoziale Bündnisse zu entgiften und an die Stelle von Konkurrenz Empathie zu setzen, sondern die Zeitdiagnose, dass - obwohl mit Girl Hate ein konservatives Weiblichkeitsideal reinszeniert wird - besonders die Frauen der Gegenwart für den gegenseitigen Konkurrenzmodus prädestiniert sind. Die Philoso‐ phin Rebekka Reinhard führt das vermehrte Auftreten toxischer Weiblichkeit (bzw. die Sichtbarkeit dessen) auf den kapitalistischen Selbstvermarktungszwang zurück. Dieser zwingt sowohl Männer als auch Frauen, sich selbst als zu optimierende Subjekte zu begreifen, die sich stetig mit anderen Marktteilnehmer*innen in Konkurrenz befinden, auch wenn die Konkurrenz unter dem Deckmäntelchen der Freundlichkeit ausgelebt wird. Die Soziologin Eva Illouz ist durch Forschungsergebnisse bekannt geworden, die besagen, dass die spätmodernen Liebesbeziehungen sich vermehrt Gesetzen des Marktes unterwerfen müssen. Die Teilnehmer*innen auf diesem Markt, besonders die heterosexuell lebenden Frauen, sind gezwungen, sich in einer optimierten Weise anzubieten, um an einen passenden Geschlechtspartner zu gelangen. In ihrem 2018 auf Deutsch erschienenen Buch Warum Liebe endet führt Illouz dafür den Begriff des „skopischen Kapitalismus“ ein. 120 Es leitet sich von dem altgriechischen Wort σκοπεῖν (= betrachten) ab und bezeichnet den Umstand, dass Menschen, die sich auf dem Liebesmarkt feilbieten, d.h. sich als Liebhaber*innen profilieren wollen, gezwungen sind, ihre Ausstrahlung, ihre positiven Eigenschaften sowie ihren Körper Betrachter*innen gegenüber offensiv zur Schau zu stellen. Das Ideal einer freien Partnerwahl, die die arrangierten Ehen und die sozialen Beschränkungen in der Partnerwahl mehr oder weniger aufgehoben hat, führt Menschen dazu, sich auf der Basis ihrer individuellen Eigenschaften selbst auf dem Liebesmarkt anzubieten. Der Heiratsmarkt ist nicht durch gesellschaftliche Prozesse reguliert. Die digitalen Portale im Internet bieten ungeahnte Möglichkeiten, um - unabhängig von geographischen oder sozialen Grenzen - auf Partner*innensuche zu gehen. Dabei spielt jedoch auch stets eine Rolle, sich bestmöglich ins Bild zu setzen, besser als jede andere Person, die auf diesem Markt mitkonkurriert und die ebenfalls auf der Suche nach dem/ der richtigen Partner*in ist. Dieser skopische Kapitalismus verstärkt, so Reinhard, die toxische Weiblichkeit: Als kapitalistisch sozialisierter Superwoman hat man uns das Gift spätestens im Kindergarten injiziert. Früh wirst du darauf abgerichtet, deine Rivalinnen abzuchecken, dich mit ihnen zu vergleichen, selbstvermarktungskonform zu lächeln und deinen Neid in deiner rosa Haarschleife zu verstecken. Girl Hate ist das Produkt eines „emotionalen Kapitalismus“, der, wie die Soziologin Eva Illouz erklärt, berufliche und private Beziehungen auf die Logik von wirtschaftlichen Austauschprozessen reduziert. Überall geht es um Angebot und Nachfrage, um Haben statt Sein. Der emotionale Kapitalismus will nicht, dass du in deinesgleichen Schwestern siehst. Du sollst dich nicht mit anderen Frauen solidarisieren, sondern in jeder 3.1 Toxische Weiblichkeit 83 <?page no="85"?> 121 Reinhard 2022, S.-26. eine Bitch sehen, mit der du konkurrieren, mindestens gleichziehen, die du am besten aber übertrumpfen sollst. Übertrumpfen musst? 121 Reinhard verwendet hier den Begriff „emotionaler Kapitalismus“, der ebenfalls von Illouz geprägt wurde und auf ihre bereits 2004 erschienene Publikation Gefühle im Zeitalter des Kapitalismus zurückgeht. Tatsächlich lässt sich das, was Reinhard in dem kurzen Zitat illustriert, besser als „skopischer Kapitalismus“ fassen, weil in diesem Begriff der Soziologin Illouz der Imperativ zur selbstoptimierenden Zurschaustellung enthalten ist, der toxische Weiblichkeit noch augenscheinlicher befördert. Da dieser Begriff jedoch ungebräuchlich und auch nicht selbsterklärend ist, hat Reinhard im Sinne einer besseren Verständlichkeit den unspezifischeren Ausdruck gewählt. In dem zitierten populärwissenschaftlichen Artikel ist der allgemeinere Begriff gewiss ein Zugeständnis an das Lesepublikum. Unter „emotionalen Kapitalismus“ lässt sich auch ohne akademischen Hintergrund sofort der spätmoderne Liebesmarkt assoziieren, der in jedem Fall mit der skopischen Struktur, die diese neue, durch digitale Medien noch beförderte Gefühlsökonomie aufweist, in Verbindung steht. Emotionale Zugeständnisse von Männern zu erwirken, sehen Frauen als ihre Auf‐ gabe, die nicht immer gelingt. Um sie zu erfüllen, bieten Frauen ihren sexuellen Wert (ihre Schönheit) feil. Sie versuchen die Bewunderung und Liebe von Männern hervor‐ zurufen (wie an Maxie und Paula literarisch durchexerziert sahen), indem sie sich als schöner und besser als ihre Konkurrentin präsentieren, indem sie sich permanent zu optimieren trachten und so andere Frauen auf dem Liebesmarkt auszustechen suchen. Dies ist ein kapitalistisch geprägtes Verhalten. Um Gefühle (den ökonomischen Wert) zu bekommen, muss frau sich als Produkt auf den Markt bringen und gut verkaufen (skopisch-kapitalistisch agieren). Wer den Blick des Mannes am besten einfängt, ist erfolgreicher als die Frau, die sich des männlichen Blickes als weniger würdig erweist. Der Wettbewerbsbegriff ist in den des Kapitalismus fest eingeschrieben, so dass Konkurrenzgebaren eine logische Folge der gegenwärtigen Sozialisation ist. Girl Hate, also internalisierte Misogynie, ist auch in populärwissenschaftlicher Betrachtung eine Folge der (durch den gegenwärtigen Kapitalismus noch verstärkten) weiblichen Subjektivierung als Objekt für den Blick des Mannes. In der Forschung wird diese Perspektive als male gaze bezeichnet. Da er so unangenehme Folgen für die weibliche Sozialisation und die weiblich-weiblichen Beziehungen zeitigt, sie toxisch infiltriert, soll im nächsten Kapitel dieser Begriff am Beispiel literarischer Texte analysiert werden. 84 3 Internalisierte Misogynie und Toxische Weiblichkeit <?page no="86"?> 122 Vgl. Mulvey 1994. 123 Vgl. Karasek 2021, S.-296. 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst als Selbstobjektikvierungspraktik 4.1 Male gaze Wie wir im vorangehenden Kapitel erschlossen, ist der internalisierte Frauenhass eine Art des Umgangs, den weibliche Figuren in Texten gegenüber ihren Geschlechtsge‐ nossinnen zur Schau stellen. Diese ausgestellte Frauenfeindlichkeit lässt sich auch als ‚toxische Weiblichkeit‘ bezeichnen. Die Verachtung von Weiblichkeit offenbart sich jedoch nicht nur gegenüber Geschlechtsgenossinnen, auch sich selbst gegenüber sind weibliche Figuren oft äußerst kritisch. Sie empfinden ihre geschlechtliche Identität als fehlerhaft und suchen sie zu verbessern, indem sie sich an gesellschaftliche Diktate anpassen. Wenn Frauen ihre eigene Erscheinung, ihr Wesen, ihre Wesenszüge oder dergleichen an anderen Frauen kritisieren, tun sie das über einen fremdbestimmten Blick. Das Urteil über die (eigene) Weiblichkeit bzw. die anderer Frauen wirkt nicht wie eine vorurteilslose, selbstgetroffene Äußerung, sondern ist einer heteronormativen Perspektive unterstellt. Diese Perspektive wird male gaze (männlicher Blick) genannt. Der Begriff male gaze stammt ursprünglich aus der Filmtheorie, hat sich seit Mitte der 1980er Jahre jedoch so popularisiert, dass er auch außerhalb dieser Disziplin und des akademischen Kontextes insgesamt geläufig ist, 122 male gaze nicht in die deutsche Sprache zu übersetzen. Die Wortgruppe in der englischen Sprache beizubehalten ist deshalb empfehlenswert, weil wir die Übersetzung als „männlichen Blick“ leicht als Blick eines spezifischen Mannes verstehen könnten. Bei der Textanalyse ist es ratsam, den male gaze von der persönlichen Schaulust der männlichen Figuren strukturell zu unterscheiden. Täten wir das nicht, führt es uns eventuell dazu, einen konkreten Mann ins Auge zu fassen, wenn wir von einer weiblichen Figur behaupten, dass sie sich dem male gaze unterwirft. Maxie, die Frau aus Drei Wünsche, die den male gaze auf sich perfektioniert hat, stellt sich zwar tatsächlich Bobby, ihren Exliebhaber, als Zuschauer vor, wenn sie sexy Bilder von sich postet. Sie phantasiert darüber, wie Bobby auf ihre Attraktivität reagiert. Doch, auch wenn es so scheint, als spiele hier eine fassbarere männliche Figur eine Rolle, 123 ist der Exliebhaber Bobby als intendierter Zuschauer ihrer Performance nur eine beliebige Personifikation dieses abstrakten, kollektiven männlichen Blickes (male gaze). Sie möchte in dem Moment ihrer Zurschaustellung für alle Bobbys der Welt begehrenswert sein. Der konkrete Mann mit seinen konkreten Vorlieben und Eigenschaften spielt dabei keine Rolle. <?page no="87"?> Der aus der feministischen Filmtheorie stammende Begriff ‚male gaze‘ beschreibt die Art, wie Frauen szenographisch als Blickobjekt für den Mann arrangiert sind. Den ‚male gaze‘ zu bedienen, bedeutet in Auftreten und Aussehen (gleich einer Schauspielerin) dem zu entsprechen, was (nach einem erlernten Muster) ein heterosexueller Mann als attraktiv an einer Frau wahrnehmen würde. Um dem male gaze filmisch zu einsprechen, spielt die kontextlose Objektifizierung der Frau eine Rolle; sie zeigt sich in der Fragmentierung des weiblichen Körpers, der Fetischisierung bestimmter Körperregionen und auch dadurch, dass die weibliche Figur handlungsohnmächtig bleibt und in gewisser Weise entindividualisiert ist. Der Begriff hat sich in seiner allgemeinen Verwendung vom filmtheoretischen Kontext emanzipiert und wird breit verwendet. Zwar kann sich graduell unter‐ scheiden, wie der male gaze bedient wird, immer herrscht jedoch die Struktur vor, dass die Frau in ihrer Objektfunktion dem Blick des Mannes unterworfen ist. Um diesen machtvollen Blick auf sich selbst an einem anderen Beispiel als dem von Maxie zu hinterfragen, stelle ich eine der weiblichen Hauptfigur aus Jami Attenbergs Roman Ist alles deins (All This Could Be Yours, 2019), der 2021 ins Deutsche übersetzt wurde, vor. Sie ist die Tochter der schönheitsbesessenen Barbra, die in der Einleitung schon angeführt wurde, und in ähnlichem Alter wie Maxie, gebildet und ökonomisch selbstständig. Alex ist Mutter einer Tochter und versucht, sich als erwachsene Frau von ihres Vaters psychischer Macht über ihr Selbstbild an dessen Sterbebett zu befreien. Der Vater, den wir nur durch die Erinnerungen der Familienmitglieder kennenlernen, ist eine durchweg negative Figur. Er repräsentiert toxische Männlichkeit, nicht nur weil er Frauen stets sexualisiert hat, sondern sich auch aggressiv verhielt und sich lebenslang von einem heteromaskulinen Männlichkeitshabitus geprägt zeigte, der seiner Tochter Alex nicht zeitgemäß erscheint. Er sah und behandelte Frauen als Objekte für seine Triebabfuhr, war ihnen gegenüber emotional stets reserviert und scheute niemals Gewalt, um seine Interessen durchzusetzen. Dieser Vater ist eine patriarchalische Schattengestalt und als alter, weißer Mann eine perfekte Personifikation des male gaze. Er dominierte seine Familie, weil diese sich nicht in der Lage sah, ihm seine Macht und Deutungshoheit abzuerkennen. Es bleibt im Roman in der Schwebe, ob die ökonomische Macht, die dieser Vater angehäuft hatte - und die zum Ende seines Lebens gleich seiner männlichen Potenz geschwunden ist - wirklich auf legalem Weg erworben worden war oder ob dieser brutale Patriarch nicht auch ein Gangsterdasein geführt hatte. Er ist nicht nur aus der subjektiven Sicht von Alex betrachtet eine schwierige, wenig liebenswürdige Gestalt, auch sein Sohn und seine Ehefrau Barbra hadern mit der Macht, die dieser Mann über ihr Leben ausübte. Er hat sich als Ehemann und Vater wie ein maskulinistischer Dinosaurier gebärdet. Neben seinen vielen Charakterfehlern ist es jedoch vor allem sein negatives Blickregime, das Alex ihm am Totenbett vorwirft: 86 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="88"?> 124 Attenberg 2021, S.-119. 125 Ebenda, S.-116. 126 Ebenda. 127 Ebenda. 128 Vgl. ebenda. Aber niemals werde ich dir deine verächtlichen Bemerkungen über mein Äußeres verzeihen, oder das Äußere anderer Frauen. Du hast immer darauf geachtet, wie Frauen - alle Frauen - aussahen, und so war ich gezwungen, darüber nachzudenken, wie ich aussah. Du hast dich mehr als einmal lustig gemacht wegen meines Gewichts, obwohl ich nie im Leben übergewichtig war. Generell war deine Sexualisierung der weiblichen Gestalt dermaßen gefährlich, dass ich meine eigene Tochter so gut wie möglich von dir ferngehalten habe. 124 Die Tochter grämt besonders seine paternalistische Herablassung, die er ihr während ihrer Pubertät entgegenbrachte. Als Alex in eine „pubertäre Phase der Unansehn‐ lichkeit“ 125 gekommen war, musste sie erkennen, dass sie mit dem Anblick ihrer schlechten Haut und dem Übergewicht „ihren Vater quält“. 126 Obwohl Alex diese Phase des Attraktivitätsverlustes schnell überwindet und sich bald wieder wohl in ihrer eigenen Haut fühlt (und auch die Anerkennung ihres Vaters zurückgewinnt), bleibt der Vater, der sie während dieses kurzen Zeitraums in ihrem Reifeprozess als „Schweinchen im Pool“, das „schleunigst […] zum Hautarzt gehen“ 127 müsse, titulierte, als eine unerbittliche Richterinstanz in ihrem Kopf bestehen. Sie fühlt sich dem Zwang unterworfen, diesem wenig liebenswerten Mann zu gefallen. Wenn sich Alex die patriarchale Instanz (Vater) und ihre paternalistische Herablas‐ sung (Ignoranz oder Verhöhnung) 128 jedoch bewusst macht, ist ihr Gedankenspiel sehr differenziert. Im Text wird der höhnische Vater im Kopf von dem realen Vater durch die feministisch gelehrte Frau, die Alex inzwischen ist, abstrahiert. Von den wenigen körperlichen Misshandlungen, die er ihr zugeführt hatte, waren kaum emotionale Narben geblieben. Deutlich länger hatte sie dafür gebraucht, seine Reaktionen auf ihren Körper wegzuwaschen, auf die Körper anderer Frauen. Seine Bemerkungen, sein Interesse, seine Blicke. Aufgearbeitet hatte sie das durch eine Kombination aus Therapie, Meditation, dem Studium diverser feministischer Texte und zwei intensiven Workshops im Norden des Staates New York. Auf einem davon war es zu einer Affäre mit einer Frau gekommen, mit der sie nie wieder sprach, die sie aber gelegentlich spätabends im Internet suchte, nicht aus romantischen Gründen, sondern aus reiner Neugier auf diese Cup‐ cake-Bäckereibesitzerin / Marathonläuferin / Lehrer-Eltern-Ausschuss-Mom / Fundraiserin für Brustkrebsforschung aus Vermont. „Schau unsere Körper an, sie sind schön“, hauchte die Cupcake-Bäckerin, als sie einander die Kaiserschnittnarben nachzeichneten, und Alex hätte ihr nur zu gern geglaubt. Sie hatte ihr Hirn so weit geläutert, dass es ihr halbwegs scheißegal war, was ihr Vater dachte, und doch sah sie sich hin und wieder durch seine Augen, hörte seine Stimme in ihrem Kopf, obwohl das gar nicht so direkt er war, sondern ein kollektiver männlicher Blick, wie Männer in ihrer Vorstellung eben waren. Und dann 4.1 Male gaze 87 <?page no="89"?> 129 Ebenda, S.-120. 130 Elena Ferrante: Die Geschichte des verlorenen Kindes. Band 4 der neapolitanischen Saga. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Berlin 2018 [Original: Storia della bambina perduta, 2014], S.-59. 131 Das 2023 veröffentlichte Musikvideo One of Your Girls des queeren Popkünstlers Troye Sivan illustriert eindringlich und auf parodistische Weise eine solche männliche Kopfgeburt, indem der Mann selbst seine idealisiere Traumfrau darstellt, die als ein Zitat pop-divenhaften Verhaltens und deren Ausrichtung auf den male gaze auftritt. ertappte sie sich beim Bewerten ihrer körperlichen Gestalt, aber nicht liebevoll, nicht froh über dieses Geschenk, sondern vielmehr durch eine verzerrte, verkorkste Linse. 129 Die paradoxe Wendung „halbwegs scheißegal” offenbart, dass womöglich der Vater Alex inzwischen wirklich egal ist, aber eben nur halbwegs. Denn er gehört zu einem Kollektiv, dem sie sich immer noch zu unterstellen gezwungen fühlt, auch zu einem Zeitpunkt als der Vater als Familienoberhaupt längst seine Autorität für sie verloren hat. 4.2 The patriarchal Other Die in den Texten benannte Form des männlichen Blickes auf sich selbst ist kein Blick, der von einer konkreten männlichen Figur ausgesendet wird, auch wenn Figuren wie der alternde Frauenheld Bobby und der lieblose Vater diesen Blick zu personifizieren scheinen. Wie jedoch entsteht ein „kollektiver männlicher Blick“ im Kopf der Frau, als eine „verzerrte, verkorkste Linse“, als kritischer Wahrnehmungsmodus, der den Frauen eine bestimmte Gestalt aufzwingt? Der male gaze ist verinnerlicht. Um ihm zu entspre‐ chen, richten sich Frauen als Objekt aus (und her), unabhängig davon, ob sie tatsächlich von Männern angeschaut und bewertet werden oder nicht. In Elena Ferrantes viertem Teil der neapolitanischen Sage, in der die reifere Erzählfigur, die wir bereits aus dem vorherigen Kapitel kennen, mit den Unarten ihres frauenfeindlichen Umgangs - wir könnten in Anlehnung an das vorherige Kapitel auch toxisches Benehmen sagen - versucht aufzuräumen, nennt sie diese verinnerlichte Ausrichtung auf eine männliche Perspektive „Männerhörigkeit“. Aus dieser Hörigkeit heraus erniedrigen sich Frauen selbst und versuchen „ein männliches Denken zu praktizieren“. 130 Ihre Körper werden durch diese abstrakte männliche Instanz beherrscht. Frauen leben, empfinden und erschaffen ihre körperliche Präsenz, um der männlichen Phantasie von Weiblichkeit zu entsprechen. Alex’ Vater kommt eine solche Autorität zu, mit der er die Vorstellung von Weib‐ lichkeit, auch im Kopf der Tochter, bestimmt. Einer idealisierten Vorstellung von Weib‐ lichkeit zu entsprechen, nehmen Frauen stillschweigend als ihre Aufgabe an, obwohl sie kaum je in der Lage sind, dem Abgleich mit der weiblichen Traumgestalt, die sie ideell tyrannisiert, gerecht zu werden. 131 Um sich im Sinne dieser abstrakten Idee von idealer Weiblichkeit selbst zu gestalten, müssen Frauen ihre Körper in einer Weise verstehen, in der diese als form- und manipulierbar betrachtet werden. Ihre Subjektivität ist nicht fest verankert. Da Frauen ihre Objektfunktion für Männer akzeptieren, betrachten sie 88 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="90"?> 132 Attenberg 2021, S.-77. 133 Beauvoir 2000, S.-785. 134 Ebenda, S.-797-798. sich selbst auch als Objekt. Ihr durch männliche Vorstellung kolonialisierter Körper wird (in einem bestimmten Rahmen) zur Modelliermasse. Die Repräsentation des Selbst auf der Vorstellungsebene mit dem Charakter eines Objekts lässt sich begrifflich als ‚Selbstobjekt‘, der Vorgang als ‚Selbstobjektivierung‘, beschreiben. Weibliches Gender ist im modernen Patriarchat auf diese Selbstobjektvierung abonniert. Ich-Erzählerinnen kommen selten umhin, über ihr Aussehen zu sprechen, und sie sprechen dann oft so, als sehen sie sich durch eine fremde Linse. Barbra, Alex’ Mutter, hat nie gelernt, im Leben etwas anderes sein zu wollen als die leibliche Repräsentation einer Männerphantasie. Sie hat die Selbstobjektivierung perfektioniert. Während die Tochter die patriarchale Linse zerbrechen möchte, hält die Mutter an ihr fest. Obwohl sie im Seniorinnenalter ist und das kritische Gegenüber, ihr Ehemann, gestorben ist, zählt für sie nur das Erfüllen dieser Objektfunktion, so dass sie sich mit Diäten und Sport quält, weil ihre Identität nur durch den Kampf um Attraktivität strukturiert ist, selbst wenn sie niemand mehr konkret als Objekt seines Begehrens wahrnimmt. Es geht aber nicht um ein konkretes Gegenüber. Die Idee von sich als Objekt männlichen Begehrens ist abstrakt. Barbra braucht nicht wirklich einen Mann in ihrem Leben, sie braucht nur das Gefühl, Männern gefallen zu können. Dünn und hübsch, hübsch und dünn, ihr Mantra beim Walken, eins, das sie seit Jahrzehnten wiederholte. Wo es genau herkam, wusste sie nicht, nur dass es schon zu lange da war, um es jetzt noch abzuschütteln. Sie wusste nur: Wenn sie weiterging, würde sie vielleicht dort ankommen, an diesem Ziel. Hübsch und dünn. 132 Die Selbstobjektivierung ist in der Subjektphilosophie ein bekanntes Thema. Simone de Beauvoir widmet in ihrer feministischen Abhandlung Le Deuxième Sexe, welche seit 1951 auch auf Deutsch vorliegt, ein Kapitel dem weiblich-narzisstischen Selbst‐ objektivierungszwang. Bedingt durch ihren Ausschluss aus dem bürgerlichen Leben finden Frauen ihre Selbstbestätigung nicht in Taten, sondern in der Rolle als passives Objekt. Ein Mann, der Aktivität und Subjektivität sein will […], erkennt sich in seinem erstarrten Bild nicht wieder. Es hat für ihn kaum eine Anziehungskraft, da der männliche Körper ihm nicht als Objekt des Begehrens erscheint. Während eine Frau, die sich Objekt weiß und dazu macht, wirklich glaubt, sich im Spiegel zu sehen: Passiv und gegeben, ist ihr Abbild ein Ding wie sie selbst. 133 Die Objektrolle hält Beauvoir nicht nur für gefährlich, weil diese „auf Kosten des realen Lebens“ gehe und Frauen in „Hörigkeit“ halte, sondern auch weil das narzisstisch gewonnene Ich der Frau jederzeit verloren gehen könne; ihre Identität ist „dem allmählichen Verfall anheimgegeben“. 134 Die lächerliche Leere von Barbras Trainings‐ programm, das sie sogar am Krankenbett ihres Mannes absolviert, zeigt, dass die 4.2 The patriarchal Other 89 <?page no="91"?> 135 Attenberg 2021, S.-78f. 136 Vgl. „Fleisch“, erschienen bei Eklat Tonträger 2022. Versessenheit auf die eigene Objektfunktion weder glücksverheißend noch realistisch ist. Die schönheitsversessene Frau hat keinen Zugang zu sich als über den imaginären Spiegel eines Mannes. „[N]eue Pfade für sich selbst [zu] finden“, hat Barbra weder die Kraft noch die Lust. Hübsch und dünn. […] Sie hatte so lange dagegen gekämpft, gegen das Altsein. Sie hatte jede verdammte Creme benutzt. Sie trank kaum. Niemals ließ sie die Sonne an ihre Haut. Essen war unerheblich und nur dazu da, dass sie weiter funktionierte. Fünf Jahre zuvor hatte sie sich liften lassen, und sie hielt sich gut. […] Sie hatte ihr Leben damit verbracht, anderen bei der Arbeit zuzusehen. 135 Beauvoirs Zukunftsvision, die sie vor der zweiten Welle der Frauenbewegung geäußert hat, war, dass Frauen sich zu selbstständigen Subjekten machen und sich nicht mehr auf den vulnerablen Status narzisstischer Selbstobjektivierung einlassen, denn die sich zum Selbstobjekt kürende Frau kann den körperlichen Alterungsprozess im wahrsten Sinne des Wortes nicht überleben. Ihre Identität ist erloschen, wenn sie kein schönes Bild mehr abgibt. Barbra ist eine Figur, welche die zweite Welle der Frauenbewegung bereits mitbekommen hat, und Alex wird als Frau dargestellt, die ganz bewusst durch eine feministische Schule gegangen ist. Das intellektuelle Potential und das positive Erbe der Frauenbewegung, welches Frauen in der Gegenwart haben, hat den weiblichen Selbstobjektivierungszwang jedoch nicht erfolgreich bekämpfen können. Wie wir an literarischen Beispielen gesehen haben, bringt die Gegenwart ungeahnte Möglichkeiten, dem Selbstobjektivierungszwang mittels digitaler Medien nachzukommen und hat ihn dadurch sogar verstärkt. Auf dem 2022 erschienen Album Fleisch spricht die Popkünstlerin Mia Morgan in dem Song Segen 136 vom internalisierten male gaze. Trauma hat mein Denken und mein Handeln programmiert Ich bin Frau, darum zu viel oder zu wenig. Morgan begreift darin Körper als „synthetisch“. Anders als die Figur der alternden Walkerin ist das sprechende Subjekt in dem Song nicht bereit, diesem Zwang wehrlos zu erliegen, aber auch diese jugendliche Version eines weiblichen Ichs bleibt der Selbstinszenierung treu: Wie ich mich definiere, meinen Körper inszeniere Und mich online präsentiere, kleide und artikuliere Selber sexualisiere, über alle Maßen liebe Mich radikal selbst akzeptiere, das könn’n sie nicht zensieren. Die feministische Logik in der Gegenwart vollzieht sich anders als in Beauvoirs Zukunftsversion. Narzissmus wird in Segen als etwas Unausweichliches gefeiert, er 90 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="92"?> 137 https: / / www.tagesspiegel.de/ kultur/ portraet-des-popstars-mia-morgan-die-musikindustrie-hat-sichdurch-tiktok-veraendert/ 28292732.html. 138 Beauvoir (2000, S. 799) benutzte dieses Wort gern für Frauen, die „zur Sklavin ihrer Bewunderer“ geworden sind. 139 Vgl. Burgmer [u.-a.] 2003. 140 Vgl. Lena Brügger: Warum Sisi mindestens so «cool» ist wie die spätmoderne Frau. Interview mit Katja Kauer https: / / www.freiburger-nachrichten.ch/ warum-sisi-mindestens-so-cool-ist-wie-die-spaetmod erne-frau/ . Als Prinausg.: Sisi aus den Augen einer Frau. In: Freiburger Nachrichten vom 17.01.2024. soll aber nicht mehr tödlich enden. „Dabei ist ‚Fleisch‘ durchaus als feministisches Pop-Manifest angelegt, auf dem Mia Morgan ihre Selbstermächtigung feiert.“ 137 Die Popkünstlerinnen der Gegenwart versuchen Selbstermächtigung in der eigenen Ob‐ jektifizierung zu finden. Die Philosophin Beauvoir, die den Feminismus Mitte des 20. Jahrhunderts ins Rollen brachte und durch ihre Thesen die später einsetzende zweite Welle der Frauenbewegung mitinitiierte, konnte in der narzisstischen Objektifizierung kein feministisches Potential ausmachen. Obwohl der philosophische Text auf Beispiele der damaligen Popkultur verzichtet, öffnet das Narzissmus-Kapitel den Blick auf promi‐ nente Frauen der Populärkultur, die ihr Leben in den Dienst des male gaze gestellt haben und nach Überschreiten einer gewissen Altersgrenze die Öffentlichkeit zwanghaft mieden, sodass sie als Idole 138 überdauern konnten und niemals als Begehrensobjekte versagten. Diese Frauen haben sich gewissermaßen selbst ausgelöscht. Die fetischisier‐ ten Schönheitsikonen Marlene Dietrich und Greta Garbo hätte Beauvoir beim Abfassen des Kapitels vor Augen haben können. Würde die Philosophin heute noch leben, könn‐ ten ihr noch weitaus mehr Frauen, die ihre Selbstdarstellung perfektioniert haben, wie beispielsweise der Popstar Madonna oder die Perfomancekünstlerin Marina Abramović, in den Sinn kommen, die auch im fortgeschrittenen Alter sichtbar bleiben, dabei aber auch „leblos“ wirken. Als ein historisches Beispiel für diese nicht überlebensfähigen und zugleich überlebensgroßen Narzisstinnen empfiehlt sich auch die Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn (bekannt als Sis(s)i), die als Namengeberin für das Sisi-Syndrom fungiert, zu dessen Symptomatik eine übermäßige Fixierung auf das eigene Äußere zählt). 139 Die Auseinandersetzung mit Sisi ebbt nicht ab, dieses Weiblichkeitsidol bleibt ein Faszinosum. Es wundert daher nicht, dass die Regisseurin Frauke Finsterwalder eine Darstellung von Sisis Lebensgeschichte (aus der Perspektive einer sie verehrenden Frau) in Sisi & Ich (2023) wählt. Darin wird Sisis Ringen um die eigene Schönheit, ihre Selbstfixiertheit, trotz der historischen Verortung der Filmhandlung, eigentlich zu Verhaltensweisen einer spätmodernen Frau erklärt. 140 Unschwer ist zu erkennen, dass die historische Figur Sisis eine Figur ist, die das Drama der (spät-)modernen Weiblichkeit aufführt. Dies wird durch die Untermalung mit Musik und durch die Kostüme, die zwar nicht gegenwärtig, aber nur historisch angehaucht sind, unterstützt. Die Logik des Films basiert auf Identifikation durch die Zuschauer*innen, die im Heute verortet sind. Was im 19. Jahrhundert durch die Expansion des Schönheitsmarktes begann, nämlich die Objektifizierung der Frau professionell zu unterstützen, ist keineswegs nur eine Geschichte, die sich zu Zeiten erzählt, als Frauen noch keine politischen Rechte besaßen. Sisis Einfluss und Bedeutung basierte zum größten Teil auf ihrem Ruf als schönste 4.2 The patriarchal Other 91 <?page no="93"?> 141 Beauvoir 2000, S.-799. 142 Bartky 1998, S.-34. Frau Europas. Die Feministinnen der zweiten Welle der Frauenbewegung wollten die kommenden Diven davor bewahren, ihren Lebenssinn allein in ihrer Schönheit und dem Erhalt ihrer Jugend zu suchen. Doch die literarische Analyse von Gegenwartstexten, aber auch ein Blick auf die heutige hysterische Fetischisierung von Alterslosigkeit verdeutlicht, dass die politische Anerkennung von Frauen im 20. Jahrhundert nicht automatisch eine Abkehr von patriarchal generierten Weiblichkeitsgeboten nach sich gezogen hat. Frauen blieben oft weiterhin innerlich unfrei und ihre Unfreiheit zeigt sich im Gewand der vermeintlichen Wahl und des genussvollen Konsums. Die Frauen wähnen sich frei, auch dort, wo sie sich dem Patriarchat beugen. Obwohl Barbra andere Möglichkeiten hätte, ihr Leben zu gestalten, wählt sie die Abhängigkeit und sieht ihren Lebenszweck im Schritte- und Kalorienzählen. Jedoch ist die Frage, ob es für die noch eine Generation jüngere Alex und für ihre Mutter, die zu Zeiten jung war, als die zweite Welle der Frauenbewegung gerade Fahrt aufnahm, wirklich eine Wahl gab, nicht dem Pfad der Selbstobjektivierung und Optimierung zu folgen. Sandra Lee Bartky, amerikanische Philosophin, eine Generation jünger als Beauvoir und nicht ganz so prominent, hat in ihrem nie ins Deutsche übertragenen Aufsatz Foucault, Femininity, and the Modernization of Patriarchal Power ersichtlich gemacht, dass nach der zweiten Welle der Frauenbewegung der Zwang zur Selbstobjektivierung, der auf Frauen lastet, nicht durch eine offenbare Machtdemonstration des Patriarchats erklärt werden kann. Trotz gewonnener Rechte und ökonomischer Unabhängigkeit reduzieren sich Frauen diensteifrig zu Objekten, gieren nach dem Beifall von Männern und machen sich abhängig von dem als „unmenschliche, geheimnisvolle, unberechen‐ bare Macht“ 141 titulierten Blickregime. Frauen unterwerfen sich radikalen Körperprak‐ tiken, die Unterlegenheit suggerieren, mit dem Ziel, als feminines Objekt zu gelten und sexuelle Akzeptanz zu finden. Das tun sie, weil im Spiel der Heterosexualität nur diese Form der weiblichen Subjektivierung vorgesehen ist. Sich als Frau in einer heteronormativen Gesellschaft zu subjektivieren, sich als Frau verstehen zu wollen, führt zwangsläufig in eine anachronistische Form, Weiblichkeit zu leben (welche schnell toxische Züge annehmen kann). In the regime of institutionalized heterosexuality woman must make herself “object and prey” for men […]. In contemporary patriarchal culture, a panoptical male connoisseur resides within the consciousness of most women: they stand perpetually before his gaze and under his judgment. Woman lives her body as seen by another, by an anonymous patriarchal Other. 142 [In einer heteronormativ ausgerichteten Gesellschaft subjektiviert sich ‚die Frau‘ als „Objekt und Beute“ für Männer […]. In der heutigen [also postfeministischen; K. K.] patriarchalischen Kultur residiert ein als männlich identifizierbarer, kennerischer Beobachter im Bewusstsein fast jeder Frau: Frauen unterwerfen sich ständig diesem wissenden Blick und Urteil. Die Frau erfährt ihren Körper nur so, wie dieser von einem Anderen gesehen wird, von einem anonymen patriarchalischen Anderen.] [Meine Übersetzung; K.-K.] 92 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="94"?> Der durch Bartky gewonnene Begriff ‚patriarchal Other‘ erweist sich als dankenswertes Analysetool. Er benennt die innere Unfreiheit von Frauen, die, anders als die der Frauen in präfeministischen Zeiten, durch das neoliberale Diktat der Wahlfreiheit übertüncht ist, weil Frauen ökonomisch mit Männern gleichziehen und unabhängig leben dürfen. Sie sind nicht auf eine Versorgerehe angewiesen. Warum nutzen Frauen ihre Autono‐ mie dafür, sich sexuell anzubieten, also lieber mit ihren Professoren, Chefs usw. ins Bett zu gehen und sie sexuell zu überzeugen, statt sie lautstark als Studentin, Angestellte zu übertrumpfen? Der Wunsch, mit Männern gleichzuziehen und nicht nur auf der sexuellen Ebene von ihnen anerkannt zu werden, sollte den weiblichen Figuren in den Gegenwartstexten nicht abgesprochen werden, selbst wenn sie Verhaltensweisen an den Tag legen, die das Gegenteil vermuten lassen. Das Denkmodell des patriarchal Other hilft, das Sprechen weiblicher Figuren oder die Stimme der Ich-Erzählerinnen auf zweifache Weise zu verorten. Sie sprechen als Subjekt, das nach persönlicher Anerkennung verlangt, und als Objekt, das womöglich nur die sexuelle Bestätigung sucht. Die zweifache Verortung führt beim Lesen zu widersprüchlichen Aussagen. Im Song Segen wird Gnade durch die Selbstinszenierung nach eigener Regie gesucht, der Objektivierung allerdings nicht abgeschworen. Weibliche Autonomie und weibliche Abhängigkeit stehen in einem prekären Verhältnis zueinander. Ein Text kann möglichweise eine als authentisch rezipierbare weibliche Erfahrung of‐ fenbaren, eine als wahrhaftig identifizierte Artikulation eines als autonom anerkannten Subjekts, diese aber zugleich durch eine narzisstische Selbstobjektivierungshaltung, die von derselben Figur oder Erzählerin eingenommen wird, brechen. So bleibt unklar, wo die weibliche Figur verortet werden kann; oftmals lässt sich die psychische Konstitution der Figur in dem Text nicht eindeutig ausmachen. Wir wissen nicht, was die Frau denkt, genießt und wie sie sich sieht. Sie kann Stunden vor dem Spiegel verbringen, um sich dem male gaze zu unterwerfen und dennoch eine große Verfechterin der me‐ too-Bewegung sein, die die Sexualisierung von Frauen durch das Patriarchat verurteilt. Die Denkfigur des patriarchal Other hilft, den Blick einer Figur auf sich, der keiner kollektiven männlichen Linse entspricht, von der Selbstdarstellung zu unterscheiden, die auf der Selbstobjektivierung durch die männliche Linse beruht. Wenn wir an die Figur herankommen wollen, müssen wir sie vielleicht in einer Lücke zwischen Self and self-objectification suchen, in einem in between. In dem Moment, wo eine Erzählerin die patriarchalische Sozialisation an sich selbst zu erkennen vermag, ist sie schon ein wenig davor gefeit, völlig in ihr aufzugehen. An diesen Stellen der Selbsterkenntnis, die Alex zum Beispiel hat, ließe sich diskutieren, ob wir bereits von etwas wie einem female gaze sprechen könnten, der dann nicht das Gegenteil, wohl aber ein Reflexionsmodus des male gaze darstellen würde. An einen female gaze appellieren viele „Frauenromane“ der Gegenwart, auch wenn sie auf den ersten Blick nur unterhaltend wirken. In Laura Karaseks Roman Drei Wünsche spricht eine der Ich-Figuren von der „inneren Richterin“, die ihr ein bestimmtes Rollenverhalten aufzwingt (sei es privat oder im Berufsleben). Diese Denkfigur der inneren Richterin entspricht dem patriarchal Other, selbst wenn diese Richterin als weiblich personifiziert wird, sind es die Normen des Patriarchats, 4.2 The patriarchal Other 93 <?page no="95"?> 143 Karasek 2021, S.-191. 144 Jonas 2022, S.-9. 145 Ebenda. 146 Beauvoir 1976, S.-419. 147 Jonas 2022, S. 10; vgl. Jonas 2023, S. 1: „What I like most about old men now, however, and the reason I often feel that perhaps I am an old man more than I am an oldish white woman in her late fifties (the identity that I am burdened with publicly presenting, to my general embarrassment) is that old men are composed of desire. Everything about them is wanting.“ Der Review in der „Washington Post“ analysiert genau dieses Zitat, das sich bereits auf der ersten Seite des Romans befindet und die die Figur internalisiert hat (Dass die Figur ihre innere Richterin auf eine kritische Bewusstseinsebene heben kann, distanziert sie jedoch vom male gaze): Ihre innere Richterin sagt: „Sei erfolgreich! Da geht noch mehr. Es geht immer noch mehr. Auf geht’s Hopphopp. Du brauchst nicht viel Schlaf! Liegestütz, Ausfallschritt, Lockenwickler, E-Mails, Calls, Meetings, Business Lunch, Sozialprojekt, Kunstverein, Business Diner, heißer Sex. Und jetzt drei Wiederholungen. Und morgen wieder von vorne. Zirkeltraining“. 143 In dem 2022 auf Deutsch erschienenen Roman Vladimir von Julia May Jonas, in dem eine älterwerdende Schriftstellerin und Literaturprofessorin sich zu finden sucht, indem sie eine Obsession zu einem jungen Kollegen namens Vladimir entwickelt, erklärt sich die Ich-Erzählerin eindeutig zu einem Blickobjekt für Männer. Indem sie ihre Prägung durch den male gaze aber auf so obsessive Weise thematisiert, beruht ihre Erzählposition in gewisser Weise auf einer Identifikation damit. Sie behauptet, dass ihre Subjektposition von alten Männern geprägt ist, vom stetigen Versuch, ihnen gefallen zu wollen. Als Kind habe ich alte Männer geliebt, und ich merkte, sie liebten mich auch. Sie liebten, wie eifrig ich versuchte, ihnen zu gefallen und wie sehr ich mir wünschte, dass sie Gutes von mir dachten. […] Ihre Anerkennung machte mich glücklich. 144 Mit diesen Sätzen wird der Roman eröffnet. Dass „alte Männer“ hier als eine patriar‐ chale kollektive Instanz gemeint sind, ist offensichtlich. Sie schreibt sich zu, dass ihre Identität mit dieser autoritären Instanz zusammenfällt: „Bis heute mag ich alles, was alte Männer gerne mögen.“ 145 Der patriarchal Other verliert die Otherness, er besetzt den Raum des Ichs. Beauvoir benutzt in ihrem Narzissmuskapitel die Vorstellung eines Zwillingsbruders („frère jumeau“ 146 ). Folgen wir dieser Metapher erscheint der männliche Blick auf sich selbst als etwas, das von dem eigenen Selbstbild nicht zu trennen ist. Der Blick ist mit der weiblichen Identität im emphatischen Sinn blutsverwandt. Die Ich-Erzählerin in Vladmir definiert sich nicht mehr nur darüber, dass sie das Gefallen alter Männer erregen möchte, sondern sie fasst sich unter diese Kategorie, erklärt sich als ihr eigener Zwillingsbruder: Aber was ich an den alten Männern am meisten liebe und was mich auf den Gedanken bringt, ich könnte selbst einer sein und nicht eine alternde weiße Frau Ende fünfzig (eine Identität, die in der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen mir meistens peinlich ist), ist die Tatsache, dass alte Männer aus Begierde bestehen. 147 94 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="96"?> daher für die Figurierung des Hauptcharakters eine explikative Funktion hat; siehe https: / / www.w ashingtonpost.com/ books/ 2022/ 02/ 03/ vladimir-julia-may-jonas-review. 148 Jonas 2022, S.-10. Ihre unsinnige und auch zeitweise unglaubhafte Obsession kann als Versuch gelesen werden, der männlichen Blickinstanz als Objekt zu entkommen, indem sie die männli‐ che Blickmacht als eigene Sehweise reklamiert. Statt nur zu sein, wie Männer sie sehen wollen, möchte sie sich wie ein Mann benehmen, sich auch im Verhalten den Männern angleichen, weil nur Männer aktiv begehren und sich sanktionslos zu nehmen erlauben, was sie begehren. Ihre Scham über das Alter und über ihren Attraktivitätsverlust versucht sie zu kompensieren, indem sie sich ein als männlich imaginiertes Wollen zuschreibt. Der alte Mann, den ich im Sinn habe (und vielleicht spreche ich von einem ganz bestimmten Typus, dem ich in meiner Jugend begegnet bin und der sich in mein Denken eingeschrieben hat), kennt keine Welt oder kann sich keine vorstellen, die nicht komplett und absolut vom Prinzip des Wollens und Bekommens beherrscht wird. Und natürlich sehnt er sich nach der Hingabe einer Sexualpartnerin, und sei es nur in der Vorstellung, im blauen Licht eines Fernsehschirms. 148 So begehrt auch diese Antiheldin Vladimir aktiv. Sie glaubt, nicht begehrenswert für ihn zu sein, und - toxische Männlichkeit kopierend - will sie deshalb den Mann, als Objekt ihres Begehrens, auf hinterlistige Weise bezwingen, ohne auf Vladimirs Wünsche Rücksicht zu nehmen. Sie sehnt sich nicht nach narzisstischer Befriedigung, sondern sie unterwirft Vladimir ganz dem „Prinzip des Wollens und Bekommens“. Die Hauptfigur macht sich damit zunehmend lächerlich, auch weil wir von einer weiblichen Figur andere Strategien erwarten. Etymologisch gesehen ist in dem slavischen Namen des Begehrensobjektes das Wort ‚beherrschen‘ enthalten. Ein Vladimir ist ein großer Beherrscher. Kann eine Unterworfene sich aufschwingen, ihn zu bezwingen? Die Scham der weiblichen Hauptfigur darüber, als Begehrensobjekt zu versagen und ihre Hoffnung, auf männliche Weise ihre Wünsche durchzusetzen, macht sie, im wörtlichen Sinn, zu ihrem eigenen Brandopfer, nachdem sie Vladimir entführt hat, um mit ihm zu schlafen. Dieser unrealistische Handlungsverlauf - eine ältere Frau, die durch sexuelle Nötigung ihr Begehren stillen will - legt die prekäre weibliche Identität (bedroht vom Altersdiskurs und von männlicher Diskursmacht) offen, ohne plakativ feministisch zu sein. Der Roman erzählt die Geschichte weiblicher Unsicherheit, indem er die Frau hier als (ungeschicktes) Begehrenssubjekt darstellt, aber er schreibt diese Unsicherheit auch fest, weil er den patriarchalischen Klischees über Frauen nicht entkommt. Die weibliche Figur ist gerade nicht in der Lage sich, oder andere, zu beherrschen; aus ihr wird keine Vladimira, weder eine friedliche noch eine große Herrscherin. Mit dem Gedanken, sie „könnte selbst“ ein alter Mann sein, der nur „aus Begierde besteht[t]“, wird die Erzählerin nicht reüssieren, sondern im Gegenteil, sie muss als Liebhaberin zwangsläufig scheitern. Dieses Scheitern prophezeit sie 4.2 The patriarchal Other 95 <?page no="97"?> 149 Vgl. ebenda, S.-55. 150 Ebenda, S.-66. sich von Anfang an. Ihr internalisierter Sexismus 149 vermittelt ihr das Bild einer Frau, die kein Recht hat zu begehren oder begehrt zu werden. „Wenn ich an einem Spiegel vorbeikam, versuchte ich, nicht hineinzusehen.“ 150 Ihr Selbsthass bringt einen abwegigen Handlungsverlauf ins Rollen. Das macht die Lektüre der Romanhandlung in gewisser Weise unerfreulich, denn die Hauptfigur überzeugt nicht, ihre Aktionen erscheinen unplausibel ab dem Moment, wo sie ihrem Begehren aktiv nachgeht, nicht mehr das Gefallen erregen will, sondern nur noch „aus Begierde besteh[t]“. Dass die den Mann zum Objekt machende Figur zunehmend lächerlicher wird, als ihr eigenes Brand-Opfer endet, erscheint heterodiegetisch betrachtet jedoch weniger unglücklich konstruiert als auf der homodiegetischen Ebene. Die Schwächen des Romans illustrieren gut eine schwache Erzählerin-Position, nämlich die Position einer Frau, die den male gaze von sich abstreifen möchte, indem sie selbst zur Akteurin und Trägerin des begehrenden Blicks (bearer of gaze) wird, aber über keine wirkliche Handlungsmacht verfügt, um ihr Begehren zu stillen, und auch keine Alternative zu den patriarchalischen Strukturen kennt/ hat. Sie kann sich, bei aller Mühe, die sie sich als Rezipientin von Vladimirs Texten, als kluge Gesprächspartnerin und als Resonanzboden für Vladimirs Gedanken gibt, nicht vorstellen, dass ihre Rolle als intellektueller Spiegel seines Genies für ihn je genügen würde, um sich in sie zu verlieben oder sie auch nur für einen Augenblick zu begehren. Indem sie den begehrten Mann betäubt und knebelt, maßt sie sich das Ausbrechen aus der weiblichen Rolle an. Sie agiert nicht nur nach einem Dominanzschema, das im heterosexuellen Spiel als männlich gilt, sondern sie zeigt sich gewaltbereit. Sie nimmt sich, jenseits moralischer Grenzen, was sie haben will. Es gibt für sie nichts zwischen der Objektfunktion, die sie ihrer Meinung nach nicht einmal mehr leidlich erfüllen kann, und männlich aktiver Subjektivität im Begehrensspiel, die sie irrsinnig nachahmt. Sie sucht etwas für sich, einen Freiraum, den sie nicht findet. Ihre Suche mündet beinah in der Negation ihrer Identität durch den Tod, dem sie allerdings entkommt. Zurück bleibt eine Erzählerin, die uns die Geschichte ihres Selbstversuches erzählt. Aus der Perspektive eines gebrannten Kindes entwickelt sie vor uns das Feuerwerk ihres Begehrens und die Litanei einer Frau, die erfolglos das Begehren eines Mannes wecken will und glaubt, den male gaze durch den selbstattestierten Mangel an Schönheit nicht mehr befriedigen zu können. Diese Litanei ist der gesamten Romanhandlung unterlegt, denn würde sich die Erzählerin nicht per se als minderwertig und unattraktiv (durch die Linse der Männer betrachtet) begreifen, würde sie dem patriarchal Other ganz konventionell gehorchen, um Vladimirs Begehren anzustacheln. Sie würde sich dann selbst mit Schminke und Kleidung knebeln, unterwerfen und anbieten und nicht den Mann, den sie begehrt, betäuben und in Fesseln legen wollen. 96 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="98"?> 151 Cline 2023, S.-94. 4.3 The pornographic gaze Wird Sexualität, vor allem der heterosexuelle Akt, in der Gegenwartsliteratur aus der weiblichen Perspektive dargestellt, sind wir oft mit dem oben skizzierten Problem konfrontiert, dass die weibliche Figur unauthentisch wirkt. In ihrem 2023 sowohl im Original als auch in deutscher Übersetzung erschienenen Roman The Guest/ Die Einladung spricht die Protagonistin über einen Automatismus in sexuellen Momenten, über „die gesäuselte Lust, die sie so viele Male zuvor schon geäußert hatte, viele Male noch äußern würde.“ 151 Hat eine solche Säuslerin eine Vorstellung von sich oder sieht sie sich (beim sexuellen Spiel) nur mit den Augen eines männlichen Betrachters? Tritt sie als Objekt auf, das im Blick des heterosexuellen Partners verfangen ist oder dient ihre sexuelle Handlung aktiv ihrer eigenen Lust? Es ist schwer zu entscheiden, ob die Figur nur als sexuelles Objekt agiert oder ob wir auch eine echte Empfindung gespiegelt bekommen, die die Figur ganz subjektiv ausmacht, weil weibliche Sexualität im Patriarchat generell nur akzeptiert wird, wenn sie vor dem männlichen Blick besteht. Dass der male gaze also auch in der Darstellung von Sexualität eine entscheidende Rolle spielt, verwundert daher nicht. Manchmal jedoch wechseln sich bei Erzählungen die Perspektiven des male gaze mit der Ausrichtung auf eine authentisch anmutende weibliche Subjektposition ab. Das macht die Darstellung des Sexualaktes allerdings nicht glaub-, sondern fragwürdiger. In Texten der Gegenwart finden wir Beschreibun‐ gen sexueller Begegnungen, die pornographisch generierten Szenarios angeglichen wirken. Unter ‚Pornographie‘ wird allgemein die direkte Darstellung von Sexualakten verstanden. Im Kontext meiner Verwendung ist jedoch ein Sexualakt nur als Sexualakt erkennbar, wenn er bestimmten Konventionen entspricht, die in einer Gesellschaft herrschen. Diese sind in unserer Gesellschaft patriarchal generiert und bedienen den ‚male gaze ‘. Wenn also von Pornographie gesprochen wird, ist sie diesem Verständnis nach nicht durch eine Unmittelbarkeit und Direktheit der Darstellung klassifiziert, sondern dadurch, wie sie bestimmte Konventionen vermittelt, die darüber entscheiden, was als sexuell oder lustvoll verstanden wird. Sie orientiert sich an dem, was Männern Lust verschafft und weist einen starken Phallozentrismus auf. Pornographie stellt nichts direkt dar, sondern sie webt erfolgreich an dem Netz, in dem das, was die gegenwärtige Konsumgesellschaft als (im besten Fall gelungene) Sexualakte begreift, gefasst werden kann. Eine solche Darstellung adaptiert gängige sexuelle Klischees und Praktiken, die häufig in der Pornographie vorkommen, aber erlaubt keine Rückschlüsse auf individuelle Vorlieben der Figur, nicht einmal darauf, ob die Figur tatsächlich an dem sexuellen 4.3 The pornographic gaze 97 <?page no="99"?> Akt lustvoll teilhat oder ob sie in ihren Handlungen nur eine Pornoqueen nachäfft. Die durch die interne Fokalisierung der weiblichen Figur dargestellte Geschlechtsver‐ kehr ist oftmals übermäßig dramatisiert als auch völlig unsinnlich. Diese Sexualität erscheint gänzlich unauthentisch. Der male gaze, den Frauen auf sich adaptieren, ist nämlich nicht durch die Stimme einer konkreten männlichen Gestalt (dem Vater, Bruder, Liebhaber) geformt worden, sondern auch durch den Medienkonsum geschult, vornehmlich auch durch das Genre der Pornographie, welches eine Vorstellung von Sexualität befördert, deren Dramaturgie ganz der männlichen Lust und den männlichen Sexualfunktionen unterstellt ist. Ein pornographisches Szenario ist meist dann beendet, wenn der Mann einen bildlich dokumentierten Orgasmus hatte. Dies wird in der Pornographie als Cumshot bezeichnet. Die Ejakulation des Mannes wird auch in weib‐ lichen Köpfen zur Richtschnur ihrer sexuellen Handlungen, wenn pornographische Codes an die eigene Sexualität angelegt werden. Für den Erfolg des sexuellen Aktes spielt daher nicht der eigene, sondern der männliche Orgasmus die entscheidende Rolle. Die pornographischen Codes sind in der Gegenwart so umfassend, dass es keines intensiven Pornokonsums bedarf, um mit ihnen bekannt zu werden. Schon im Teenageralter, als Leserin von Young Adult-Büchern, werden Frauen genau darüber belehrt, wie Leidenschaft und Sexualität auszudrücken sei. Auch Filme und Texte mit erotischen Szenen, die nicht unter den Begriff der Pornographie fallen, orientieren sich an diesen Standards, die eine bestimmte Dramaturgie der Verführung vermitteln. Für die Frau gilt gemäß diesen Standards, dass sie ihren Genuss, ihren Spaß am sexuellen Akt deutlich zum Ausdruck bringen soll. Auch wenn sie ein Objekt des Begehrens ist, hat sie spielerisch eine gewisse Autonomie zu zeigen, indem sie ihre (an den Mann angepassten) Wünsche äußert und betont, wie sehr sie den Geschlechtsakt mit ihm ersehnt. Dem Zweck unterstellt, Männern das Gefühl von Macht und Potenz zu vermitteln, gehört ein sehnsüchtiges Verlangen nach Penetration zu den klassischen Topoi der Pornographie. Den Einfluss einer pornographisch geschulten weiblichen Subjektivierung auf die Darstellung literarischer Sexualakte möchte ich an den folgenden beiden Beispielen explizieren. Der male gaze, dem sich die weiblichen Figuren unterstellen, scheint in diesen Fällen ein pornographic (male) gaze zu sein. Diese Kategorie hilft, die manchmal ermüdende, oft auch unangenehme sexuelle Selbstvermarktung, die weibliche Figuren betreiben, indem sie eine Erotikdarstellerin kopieren (was gemeinhin jeder erotischen Wirkung des Textes zuwiderläuft), an die heteronormative Ordnung zurückzuadressieren. Statt diesen irrwitzigen Umgang mit der eigenen Sexualität, der fast lächerliche Züge trägt, als Charakterfehler, patriarchatskonforme Verlogenheit oder zumindest als Zeichen eines Mangels an Authentizität der Frau zu werten, kann darin der male gaze entschlüsselt werden. Sich ihm zu unterwerfen, ist kein individuelles Phänomen und sagt kaum etwas über die psychische Disposition der Frau. Sie kann sich als Feministin, als wahrhaft Liebende, als ernsthafte Frau verstehen und dennoch manchmal vor 98 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="100"?> Männern ein Puppenspiel aufführen, weil sie gelernt hat, genau dieses pornographische Spiel als ihre einzige Ausdrucksmöglichkeit von Sexualität zu verstehen. In Zadie Smiths berühmtem Roman Von der Schönheit, der 2006 ins Deutsche über‐ setzt wurde, haben wir es bei einer der Hauptfiguren mit einem männlichen Professor zu tun, der ein ähnlicher Antiheld ist wie seine bereits erwähnte Professorenkollegin aus dem Roman Vladimir. Sowohl die alternde Professorin als auch der alternde Professor haben das Gefühl, weder als Intellektuelle noch als Geschlechtswesen eine gute Figur zu machen und suchen sich Auswege, indem sie ein Verlangen nach Bestätigung durch jüngere Menschen entwickeln. Howard Belsey ist Professor für ein geisteswissenschaftliches Fach. Die weibliche Figur aus Vladimir könnte diesen Kollegen beneiden, denn ihm gelingt, was für sie als 58-Jährige Frau ein Wunschgebilde bleibt, nämlich dass sich eine blutjunge Studentin, die sich durch Schönheit und Geist auszeichnet, dem liebeshungrigen Professor bereitwillig sexuell zur Verfügung stellt. Das sexuelle Angebot der jungen Frau kann der Professor nicht ausschlagen. Er befindet sich in einer schwierigen Lebensphase. Sein Karriereweg ist nicht von dem Erfolg gekrönt, den er sich vorgestellt hat. Er rangiert akademisch auf dem Abstellgleis. Die Konkurrenz im Universitätsbetrieb, gepaart mit der Lebensroutine, macht ihn anfällig dafür, sich durch Abenteuer mit Frauen aufzuwerten. Seine Midlifecrisis enthemmt ihn jedoch nicht so sehr, dass er leichtfertig Beziehungen zu seinen Studen‐ tinnen aufnehmen würde. Als ihm Victoria, die Tochter seines größten akademischen Konkurrenten, begegnet, weicht dieser Grundsatz in ihm auf. Sie wird von ihm als wunderschön wahrgenommen, verkörpert männliche pornographische Phantasien in Reinform, denn sie weist neben ihrer Jugend alle Attribute auf, die sie zu einem Begehrensobjekt qualifizieren. Da auch sie sich in Opposition zu ihrem konservativen Vater befindet, flirtet sie, unangemessenerweise, mit dem Mann, der nicht nur ihr Hochschullehrer ist, sondern auch wie eine Vaterfigur wirkt. Vics Motivation wird nicht weiter ausbuchstabiert, doch einen Ausschlag dafür, Professor Belsey verführen zu wollen, besteht in der Faszination, die dessen Frau Kiki für Victoria aufweist. Kiki ist eine Frau, die versucht hat, den male gaze nicht mehr zu bedienen. Sie wird schlicht gesagt als sehr übergewichtig im Text charakterisiert. Alle Frauen des Romans reagieren auf die Ausstrahlung dieser nicht mehr jungen Frau, die das Beauty Privilege im streng patriarchalischen Sinn nicht mehr besitzt, doch ihr Körperumfang kann ihrer Attraktivität nichts anhaben. Kiki verfügt auch im übertragenen Sinne über Gewichtigkeit. Jede*r nimmt sie als ehrfurchtserregend und zugleich schön wahr. Ihre Statur sorgt allerdings dafür, sie in gewisser Weise als sexuell unverfügbar auszuwei‐ sen. (Sie ist nicht fuckable.) Dieser Bruch mit den Schönheitsstandards der universitären patriarchalischen Welt, in der Frauen verfügbar (und wenig raumgreifend) sein sollen, sei es als akademische Assistentin oder Sexualobjekt, lässt sie (besonders in den Augen ihrer Geschlechtsgenossinnen) königlich erscheinen. Sie unterstellt sich, ganz wörtlich genommen, keiner männlichen Maßgabe. Ihr machtvoller, die Grenzen des patriarchalischen Blicks überschreitender Körper, der nicht hässlich ist, nur nicht mehr schön und begehrenswert genannt werden darf, macht sie zu einer faszinierenden, 4.3 The pornographic gaze 99 <?page no="101"?> souveränen Gestalt. Belseys Bestätigungsdrang kann von ihr allerdings nicht gestillt werden, denn sie widersetzt sich dem männlichen Wertesystem. Kiki wird von Frauen gleichermaßen bewundert und beneidet. Nur die Faszination für Kiki wird im Text thematisiert. Sie scheint die Motivation dafür zu bilden, die Victoria in Howards Bett treibt, denn an keiner Stelle des Romans erfahren wir davon, dass der ältliche Professor der jungen Frau ernsthaft gefallen würde, wohl aber, dass sie von Kiki beeindruckt ist. Wie im Modell des triangulären Begehrens (welches ich in Queer Lesen (2019) ausgeführt habe) erklärt, ist es die homosoziale Identifikation mit der Nebenbuhlerin, die das gegengeschlechtliche Interesse am Mann befeuert und nicht dessen eigene Persönlichkeit, die die Sexualität motiviert. Auf der Trauerfeier für ihre gerade verstorbene Mutter, die ebenfalls zu Kiki erst kürzlich eine besondere und bewundernde Beziehung aufgebaut hatte, verleitet die aufregende junge Frau den tölpelhaften, verunsicherten Mann zum Sexualverkehr. Dieser ist - was einem pornographischen Narrativ entsprungen scheint - unabsichtlich in Vics Jugendzimmer geraten, als er auf der Suche nach der Toilette in dem fremden Haus war, das er als Trauergast besucht. In der Diegese ist dies völlig unglaubhaft. Howard war weder auf der Suche nach Victoria noch auch nur ansatzweise auf ein erotisches Abenteuer während der Trauerfeier erpicht, doch als sich Victoria sich ihm räkelnd präsentiert, ist er gleichermaßen alarmiert wie fasziniert. Ganz einer pornographischen Dramaturgie entsprechend, betritt er das Zimmer, führt eine kurze inhaltslose Konversation und schläft dann mit der jungen Frau, die so tut, als wäre der sexuelle Akt das Einzige, was sie in diesem Moment unbedingt bräuchte. Die Geräusche der Trauerfeier, das Fehlen jeglichen romantischen Untertons, seine fassungslose Kapitulation vor Victorias An‐ näherungsversuch lassen den Sexualakt wie den abgeschmackten Höhepunkt eines Trauerspiels wirken, in dem der Held sein fundamentales Scheitern erkennt. Die Erzählung über Victorias und Howards Zusammentreffen wirkt in keiner Weise wie eine erotische Szene, die die Phantasie der Rezipient*innen anzuregen vermag. Ich möchte diesen ersten Sexualakt zwischen dem Professor und seiner Studentin jedoch nicht in Hinsicht darauf lesen, dass hier ein gesellschaftlicher Fauxpas beschrieben wird, sondern ihn in Hinsicht auf seine pornographisierte Dramaturgie hinterfragen. Dass Zadie Smiths Roman eine abgeschmackte Pornodramaturgie wählt, um die Beziehung zu rahmen, steht in einem Kontext, in dem Howards Lebensuntüchtigkeit und Zeitungemäßheit beschrieben wird. Es handelt sich bei ihm um einen „alten, weißen Mann“, dessen Vorstellungen die Gegenwart nicht überdauert haben. Dies schlägt sich auch in der sexuellen Erfahrung mit Victoria nieder. Der Verführte, der seine ersten sexuellen Erfahrungen in einer Zeit gemacht hat, als nicht unbedingt pornographische Codes, sondern andere sexuelle Vorgaben en vouge waren, vermag den pornoaffinen Auftritt, den ihm die junge Frau bereitet, gar nicht richtig zu lesen und einzuordnen. Die postadoleszente Vic hat kein autonomes Verständnis von ihrer 100 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="102"?> 152 Kim de l’Horizon lässt die Hauptfigur in „Blutbuch“ (im Kontext des folgenden Zitats) über die er‐ folgreiche Performance von schwuler Identität (nicht über die Performance von weiblicher Identität im heteromaskulinen Umfeld) im engen Sinn sprechen. Die sich im Verlauf der Romanhandlung als geschlechtlich non-binär verstehende Figur bezeichnet die Anhäufung von sexuellen Erfahrungen (hier: „Strichanzahl“) als Ausweis der eigenen „Fuckability“, die wiederum den „Selbstwert“ stiftet, der abhängig von den Blicken und dem sexuellen Interesse der Anderen ist. Victorias Motivation, mit Howard zu schlafen, lässt sich als etwas lesen, das ihrer Selbstaufwertung geschuldet ist. In der Figurierung ihrer Figur wird klar, dass sie, trotz ihrer Schönheit, nicht frei von Selbstzweifeln ist, die sie durch die Bestätigung ihres Begehrens-Wertes versucht zu beheben. Sie lebt promiskuitiv und bietet sich nicht nur dem Professor an. Ihr Verhalten zeigt eine gewisse Zwanghaftigkeit, sagt jedoch nichts über ihre Libido. Horizon 2022, S. 124: „Strichanzahl = Fuckability = Selbstwert + Begehrens-Wert = Blicke x Ficke = (Style - Fettmasse) x (Grösse von Bizeps + Grösse von Schwanz + Bubblehaftigkeit von Arsch) ÷ Selbsthass.“ Für eine junge Frau müssten die letzten drei Koordinaten der Rechnung ausgetauscht werden. Sie könnten zynisch als „Style - Fettmasse x pornographische Konsumerabliltät (die Fähigkeit, pornoaffin zu agieren)“ variiert werden. 153 Der Wunsch, älteren Männern sexuell gefügig zu sein - er lässt sich bei Victoria psychoanalytisch auf den Vater zurückführen, der als puritanischer Christ seiner Tochter Sexualität verbietet, sie und seine Familie beherrscht und kontrolliert und den Sexualverkehr dadurch „als eine äußerst aufregende, gefährliche und destruktive Aktivität“, die nur vom Mann/ Vater beherrscht wird - wird in die Psyche seiner Tochter implantiert; vgl. Mitchell 2004, S. 89: „Bei V. war die privateste aller Freuden von ihrem zudringlichen Vater eingesperrt und versklavt worden. Sie suchte Männer, um sie zu erregen und zu befriedigen, in der Hoffnung, auf diese Weise werde ihr irgendwann das Recht auf ihre eigene Freude zurückgegeben.“ Sexualität. 152 Ihr Begehren besteht darin, ihm als Sexobjekt zu dienen und in dieser Rolle völlig aufzugehen. Ihre sexpositivistische Haltung, d.h. die Einladung des Professors zum Sexualverkehr, erscheint ihr als Rebellion gegen die konservativen Werte ihres autoritären Vaters, letztendlich adaptiert sie jedoch durch ihren Habitus den male gaze. Sie entkommt der Fremdbestimmung nicht. Statt sich von der patriarchalischen Instanz wirklich zu befreien, möchte sie den Erfolg als Sexobjekt steigern, indem sie wie in einem abgeschmackten Sexfilm agiert. Ihre Befriedigung dabei ist rein narzisstisch und abstrahiert völlig von dem körperlichen Vorgang. Sie fühlt sich als eine Frau, die ihr Geschäft der Verführung erfolgreich ausführen kann. 153 Allerdings kommen ihre Codes bei dem älteren Professor gar nicht an. Was womöglich ein gleichaltriger Mann als Erfüllung eines erlernten Sexualverständnisses und Umsetzung seiner pornographisch genährten Phantasien gefeiert und genossen hätte, empfindet der Professor als unbefriedigend. Gerade dieser (ältere) Mann ist halbblind für Victorias sexuelle Performance, denn sein Verständnis von Sexualität ist ein anderes bzw. ist anders geprägt als ihres. Während Vic den pornographic gaze internalisiert hat, steht der Mann jenseits dieses Codes. Er will seine Lust anders bedient wissen und schaut Vic nicht mit an visuellen Medien geschultem Pornoblick an, deshalb versteht er die Szene, an der er teilhat, kaum, so dass der sexuelle Gewinn, den er aus diesem Akt zieht, gering bleibt, weil der Raum des Phantasmatischen von ihm und seiner Partnerin nicht in gleicher Weise betreten wird, ja weil es nicht einmal derselbe Raum gewesen ist. Der sexuelle Akt wird zwar in einem materiellen Sinn vollzogen, ideell scheitert er jedoch völlig. Das psychische Unbehagen ihres Partners bleibt Vic allerdings verborgen, wird durch den Cumshot überblendet, den sie als Erfolgsindikator 4.3 The pornographic gaze 101 <?page no="103"?> 154 Turner 2005. von Sexualakten versteht. Sie sieht, als die eigene Heldin ihrer erotischen Erzählung, ihren Partner sowieso kaum als konkretes Gegenüber und kann sich nicht vorstellen, dass ein Mann nach einem körperlichen Orgasmus unzufrieden sein könnte, denn die Pornographie lehrt männlichen Samenerguss als ultimatives Ziel der Sexualität für beide Geschlechter. Victoria agiert nach einem Drehbuch, das nicht durch das wirkliche Gegenüber bestimmt ist, sondern tritt als eine Phantasiegestalt auf, wie sie heterosexuellen Männern in der Pornographie gegenwärtiger Bildmedien angeboten wird. Die junge Frau sieht ihre sexuelle Freiheit darin, sich als „take-me-now-bigboy-fuck-puppet of male fantasy“ zu gebärden. 154 Der Professor erfasst die Situation, in die er gerät, durch eine Brille aus Erotikklassikern, aber die junge Frau spielt in einem anderen Film als in dem, den Besley gern für sich imaginieren würde. Ihre Vorstellung von erotischer Situation ist härter und in gewisser Weise sachlicher. Sie ist porno-graphischer. Besley sähe sich gern als einen hingebungsvollen, leidenschaft‐ lichen Liebhaber und versierten Verführer, aber die junge Frau weist ihm die Rolle eines phallisch zentrierten Sexkonsumenten zu. Die weibliche Figur sollte hier also nicht als Opfer eines sexuellen Übergriffs gelesen werden, trotzdem erweist sich dieser unglückliche Liebesakt natürlich als Ausdruck von strukturellem Sexismus. Besley wird als Mann gezeigt, der sowohl mitleiderregend als auch widerlich ist. Mitleiderregend ist er, weil er seine Machtposition, die ihm im Laufe des Romans immer mehr abhandenkommt, nicht mehr ausfüllen kann; doch widerlich ist, dass er seine Machposition gegenüber der Studentin nicht hinterfragt. Dass junge Frauen (Studentinnen) sich aufzuwerten versuchen, indem sie Autoritätspersonen verführen, ist ein Skript, das gebildete Männer kennen und dem sie sich verweigern können. Ein kluger Mann wie er kann wissen, dass er nicht gemeint ist, dass seine Menschlichkeit und individuelle Körperlichkeit sie nicht interessiert. Vic ist zwar die Figur, die die sexuelle Handlung scheinbar bestimmt, die sich ihrem Professor angeboten, die ihn verführt hat und ihm dabei eine Rolle vorspielte, doch hat sie dabei offensichtlich nach einem völlig klischierten Muster gehandelt. Hätte ein Literaturwissenschaftler wie er dies nicht erkennen können? Sie ist kein Opfer von Besley, sie ist ein Opfer des patri‐ archal Other. Ihr eigener Vater ist eine Verkörperung dieser machtbesessenen, Frauen sexualisierenden Richterinstanz in Reinform. Am Ende des Romans erfahren wir, dass er ebenfalls im scheinheiligen Kostüm eines Moralapostels mit seinen Studentinnen sexuell verkehrt und diese dann, nach Beendigung der Affäre, fallenlässt. Dass Vic schamlose Versuche unternimmt, um gegen ihren Vater zu rebellieren, tatsächlich aber patriarchatskonform bleibt, ist leichter nachzuvollziehen als Besleys passiv-aggressiver Penetrationswillen. Gerade er, der eine so starke Frau wie Kiki an der Seite hat, hätte das Angebot Victorias ausschlagen können, von dem er letztendlich weiß, dass es nur seiner Rolle als Autorität gegolten hat. Die Szene ließe sich als Ausdruck sexueller Gewalt diskutieren, doch sollten wir achtsam sein, wo genau die männliche Gewalt zu suchen ist. Sie ist von Vic internalisiert, eine abstrakte Macht beugt sie, ebenfalls ganz wörtlich 102 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="104"?> 155 Vgl. https: / / www.stern.de/ fotografie/ akt/ steher-qualitaeten-viagra-revolutioniert-die-pornoindustr ie-3816098.html. zu verstehen, in dieser Szene nieder. Die internalisierten pornographischen Gebote werden allerdings auch für den Mann zu einer Fessel seiner Lust, da ihm Vic die fixierte Rolle eines „männlichen Sexspielers“ zuweist. Auch er darf von der pornographischen Dramaturgie nicht abweichen. Seine persönlichen Vorlieben spielen ebenso wenig eine Rolle wie seine tatsächliche Erregung. Howard untersteht dem Zwang, sich in der Zuweisung seiner „Phallus Rollen“ 155 zu bewähren. „Gib mal was von dem da.“ Sie zeigte auf Howards Wein und schob sich weiter nach vorn. Dabei hatten sich ihre Brüste zusammengeschoben, und ihre starken Rundungen, glänzend von irgendeiner Bodylotion, begannen unabhängig von ihrer Besitzerin mit Howard zu kommunizieren. […] „Komm schon, Doktorchen, gib mir noch mehr.“ Howard hielt sein Glas weg. „Du hast genug gehabt.“ „Gib mir mehr! “ Und dann tat sie es. Sprang vom Bett direkt auf seinen Schoß. Seine Erektion war unüber‐ sehbar, trotzdem trank sie erst einmal den Rest von seinem Wein, wobei sie ihr ganzes Gewicht auf ihn verlagerte wie einst Lolita bei Humbert. […] Dann schlang sie einen Arm um seinen Hals, und aus Lolita wurde die Verführerin (wie Mrs. Robinson […]) und saugte lasziv an seinem Ohr. Und aus der Verführerin wurde die harmlose Highschool-Perle, die höchstens seine Mundwinkel küsste. Aber was für eine Perle war das? Er hatte gerade den ersten Kuss erwidert, als sie anfing, auf höchst beunruhigende, gierige Art zu stöhnen […]. Er versuchte den Kuss zu regulieren, nach den Maßstäben, die ihm bekannt waren, doch ihre Zunge trillerte unbeeindruckt unter seinem Gaumendach, während sie zugleich seine Eier gepackt hielt auf eine Art, die ehrlich gesagt nicht mehr schön war. Dann fing sie an, ihm das Hemd aufzuknöpfen, spielerisch und wie unter Musikbegleitung, und schien enttäuscht, kein pornographisches Brustfell vorzufinden. Trotzdem rieb sie seine Brust, zog an den wenigen Härchen, als gehörte das unbedingt mit ins Gesamtkonzept, und - war es möglich? - schnurrte sogar dabei. Sie zerrte ihn auf ihr Bett. Ehe er dazu kam, sein Hemd ganz auszuziehen, hatte sie das schon erledigt. Darauf weiteres Geschnurre und Gemaunze, obgleich seine Hände ihre Brüste noch gar nicht erreicht hatten, weil er, am Fußende des Bettes, immer noch damit beschäftigt war, sich einen widerspenstigen Schuh abzustreifen, indem er mit dem anderen gegen ihn trat. Sie auf dem Bett schien derweil ohne ihn weiterzumachen, sie wand sich und raufte sich mit beiden Händen durch die kurzen Dreadlocks, auch wenn das bei längeren und blonderen Haaren viel besser gegangen wäre. „Oh, Howard“, sagte sie. […] Howard zog die Hose aus, wobei seine Erektion etwas nachließ. „Fick mich“, sagte Victoria immer wieder. Von unten hörte Howard die Hintergrundgeräusche des Trauerempfangs für ihre tote Mutter. Die Stirn in die Hand gestützt, rutschte er höher. Bei der kleinsten Berührung stöhnte sie heftig auf und erzitterte vor präorgasmischer Leidenschaft, trotzdem war sie, wie Howard beim zweiten Versuch feststellte, vollkommen 4.3 The pornographic gaze 103 <?page no="105"?> 156 Smith 2006, S.-370ff. trocken. Im nächsten Moment leckte sie über ihre Finger und fasste sich von hinten zwischen die Beine. Sie rieb sich heftig und bei dieser Gelegenheit auch Howard. Gehorsam kehrte seine Erektion zurück. „Steck ihn in mich rein“, sagte Victoria. „Fick mich. Steck ihn bis zum Anschlag rein.“ […] „Sag mir, wie sehr du mich begehrst. Sag mir, wie sehr du mich ficken willst“, sagte Victoria. „Ich will… also ich… du bist wunderschön“, flüsterte Howard, setzte sich auf und küsste die einzige Stelle, die ihm in dieser Position erreichbar war: ihr Kreuz. Mit einer starken Hand schob sie ihn zurück auf alle viere. „Steck ihn rein“, sagte sie. […] Howard glitt zur Seite und lag neben ihr auf dem Bett. […] „Das war einfach himmlisch.“ „Mmm“, sagte Howard. „Ich nehme die Pille, weißt du? “ Howard verkniff das Gesicht. Er hatte nicht einmal gefragt. „Soll ich dir einen blasen? Ich will deinen Schwanz schmecken.“ Howard setzte sich auf und schnappte sich seine Hose. „Nein danke, es geht schon, ich… Herrgott.“ Er schaute auf seine Uhr, als wäre ein Zuspätkommen hier das größte Problem. […] Gemeinsam zogen sie sich an. Howard schnell, Victoria so langsam, dass er mit Staunen registrierte, wie der Wunsch vieler Wochen - sie nämlich nackt zu sehen - sich in sein absolutes Gegenteil verkehrte. Was hätte er nicht darum gegeben, dass sie endlich wieder bekleidet vor ihm stand. 156 Die Erotik der Szene wird durch die interne Fokalisierung völlig gebrochen. Indem wir Howards Ratlosigkeit vergegenwärtigt bekommen, entlarvt sich Victorias Spiel als Spiel. Eine autodiegetische Erzählweise, die aus der weiblichen Perspektive den eigenen Porno-Spielcharakter offenlegt, konfrontiert uns noch deutlicher mit der weiblichen Misere als die eben zitierte Sexerzählung. Die Studentin Nina, eine Figur, die kaum älter als Vic ist, erkennt, dass der pornographic gaze, dem sie sich unterstellt, nicht zu dem Gewinn führt, den sie sich letztlich erhofft. Sowohl Victoria als auch Nina wird es nicht gelingen, dem Gegenüber, das sie befriedigen, tiefere Gefühle abzuringen. Nina (aus Verena Friederike Hasels Roman Lasse) hat viele sexuelle Erfahrungen, sie studiert erfolglos vor sich hin, ist innerlich leer. Auch diese Frauenfigur ist in erster Linie als schöne, begehrenswerte Frau figuriert und scheint wenig mehr von sich selbst zu wissen, als dass sie in ihrem Umfeld als schön gilt. 104 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="106"?> 157 Hasel 2015, S.-9. Dass ich schön bin, habe ich etliche Male gehört, schön selbst in Situationen, die anderen nicht stehen, unangestrengt schön. 157 Ihre Sexualität ist das einzige Mittel, mit dem sie glaubt im Leben erfolgreich bestehen zu können. Nach einer Blinddarmoperation verfällt die sozial isolierte Nina sofort dem Arzt, der sie behandelt hat. In ihm sieht sie eine Retterfigur. Ihre Obsession ist nicht auf die Person mit ihren konkreten Eigenschaften gerichtet. Sie folgt einem ähnlichen Muster wie die Studentin im vorherigen Beispiel. Nina will wie Vic vor allem die Auto‐ rität verführen, sich selbst aufwerten, indem sie den Mann sexuell für sich gewinnt, der eine von ihr bewunderte Lebenskompetenz aufweist bzw. durch den sie eine neue Rolle (Arztgattin) zugewiesen bekommen könnte. Als Freundin eines Mediziners empfände sie sich weniger angreifbar denn als Singlefrau ohne Einkommen. Der Arzt allerdings hat wenig für Nina übrig, weil in seinen Augen ihre sexuelle Ausstrahlung ihr Wesen total dominiert. Er kann sie hinter ihrer lächerlichen, selbstungewissen Performance gar nicht als Individuum ausmachen, scheint allerdings auch nicht interessiert, hinter die Schale der äußerlichen Attraktivität blicken zu wollen. Als Nina den Arzt das erste Mal im Krankenhaus verführt, kommt es zu einem Sexualakt, den Nina nur teilweise als erfolgreich abhaken kann. Hat sie durch den Sexualverkehr den ersten Baustein für eine tiefere Beziehung gelegt? Während es Victoria nicht gewahr zu werden scheint, dass ihr Pornospiel den Professor nur halbwegs fesselt, ist sich Nina der geringen Strahlweite ihrer sexuellen (Dienst-)Leistung sofort nach dem Akt bewusst. Die Ich- Erzählerin erlaubt uns, auf diesen Akt durch eine doppelte Linse zu blicken. Wir sehen, was Nina performt, und erkennen die Vorlagen für diese Performance als einen internalisierten pornographic gaze. Jenseits dieser Rolle hören wir die Erzählerin auf eine Weise von dem Erlebnis reden, die authentischer wirkt. Die dadurch gewonnenen Bilder, nämlich das ausgeleuchtete Bild der pornographischen Lust und das verzerrte Bild des eigentlichen Frusts, schließen sich logisch aus, doch ist die Figur Nina nur durch beide Linsen wirklich erkennbar. Ihre sexuelle Leidenschaft gibt sich als gespielt zu erkennen. Während wir die eine Linse als pornographic (male) gaze beschreiben kön‐ nen, ist die andere Linse als eine weibliche, der Sexdarstellerin entkleidete Perspektive erkennbar, die die pornographisch artikulierte Euphorie der Frauenfigur demontiert. Die Entkleidung der sexuellen Leidenschaft als devote Selbstobjektivierung sorgt dafür, die Erotik dieser Szene völlig zu zerstören. Sie gestattet uns als Rezipient*innen jedoch der Figur Nina psychisch auf eine Weise nah zu kommen, die ihrem Sexualpartner, vor dem sie nur etwas abspult, nicht gestattet ist. Was uns über Victoria in Von der Schönheit nicht direkt gesagt wird, wird von der weiblichen Figur im Roman Lasse freimütig narrativiert. Die Sehnsucht nach Bestätigung und Beifall führt bei Nina dazu, sich wie eine Sexdienstleisterin aufzuführen. Ihre freimütige Performance verhindert, dass sich seitens des Mannes Gefühle entwickeln können, die nicht nur nüchtern auf sexuellen Vollzug gerichtet sind. 4.3 The pornographic gaze 105 <?page no="107"?> [W]eil […] ich weiß, dass er den Rest der Woche Nachtdienst hat, fahre ich gleich am nächsten Abend ins Krankenhaus. Lennart sitzt mit zwei Kollegen in der Küche […]. Ich habe mir Smokey Eyes geschminkt und trage die schwarzen Stiefel, die Sanne meine „Fick-mich- Stiefel“ genannt hat. „Die beiden sind bestimmt ganz neidisch auf mich“, flüstert Lennart, als wir in sein Dienstzimmer hinübergehen, und weil ich immer, wenn mir ein Mann so richtig gut gefällt, nicht weiß, was ich sagen soll, sage ich gar nichts, sondern ziehe mir stattdessen den Pulli über den Kopf. „Nina, nicht, hier kann doch jeden Moment jemand reinkommen“, sagt Lennart. Aber ich will mich nicht wieder anziehen und vor ihm sitzen und nach einem Gesprächsthema suchen müssen und schiebe ihn deshalb Richtung Wand. „Nina, wir sollten wirklich“, beginnt Lennart noch einmal. „Du willst es doch besorgt bekommen“, unterbreche ich ihn und greife dorthin, wo ich unter dem Kittel seinen Schwanz vermute. Er stöhnt und ich knöpfe zuerst seinen Kittel und dann seine Hose auf, schiebe sie runter, um an seinen Schwanz zu kommen, aber kriege sie nicht gleich über seine Oberschenkel. Weiß und massig sind sie, und ich denke, dass das die Sorte Männerkörper ist, die auch kleine Eiterpickel auf den Pobacken hat, und das rührt mich so, dass ich flüstere: „Lass mich an deinem geilen Schwanz lutschen“, und da richtet sich sein Schwanz auf, und ich knie mich mit einer federnden Bewegung nieder. Lennarts Schwanz riecht nach abgestandenem Urin, ich kämpfe gegen eine kleine Übelkeit an und nehme ihn dann so tief in den Mund, dass er dort anlangt, wo es weh tut […]. Lennart stöhnt lauter, und ich beginne Hand und Mund im Rhythmus zu bewegen, und jedes Mal, wenn ich meine Lippen erneut über die Schwanzspitze stülpe, überlege ich mir eine Sache, die ich ab morgen anders machen will. Nicht mehr ganze Vormittage im Internet surfen. Regelmäßig in die Uni gehen. Nicht mehr lügen. Nicht mehr mit meinem Professor schlafen. Nicht mehr Sannes Tagebuch lesen. Nicht mehr die Pakete der anderen öffnen. Und ich bin noch gar nicht zu den wirklich wichtigen, wirklich schlimmen Sachen gekommen, da wird aus Lennarts Stöhnen ein Japsen, sein Schwanz verdickt sich, und ich bereite mich auf den üblen Geschmack vor, der sich gleich ausbreiten wird in meinem Mund, schlucke einmal, schlucke zweimal und lecke dann die Blutwülste auf Lennarts Schwanz ab, als könnte ich nicht genug bekommen von seinem Sperma. Danach lehnt sich Lennart mit dem Rücken an die Wand und schließt die Augen. Ich schmiege mich an seine Beine und denke an diesen Satz, den ich irgendwo einmal gelesen habe und den ich so gern einmal zu jemandem sagen würde: „Liebster, ich berge meinen Kopf in deinem Schoß.“ Vielleicht kann ich ihn ja bald zu Lennart sagen, und gerade als ich mir das vorstelle, kommt Bewegung in seinen Körper. Die Hose noch heruntergelassen, geht er zum Waschbecken, seift sich Eier und Schwanz ein, bis sie schäumen, und dabei schnaubt und räuspert er sich die ganze Zeit, Männlichkeitsgeräusche nach erledigter Arbeit. Als er die Hose wieder hochzieht, spannt sie an seinem Bauch, aber er gibt sich keine Mühe, das vor mir zu verbergen. Vielleicht merkt er es auch gar nicht, so beschäftigt ist er mit Handgriffen, die ihm wohlvertraut sind und mich ausschließen, und ich wünschte, ich hätte ihm den Höhepunkt verweigert. […] Der Kittel weht, der Moment, in dem alles zu sehen war, die hängenden Eier, die schweren weißen Beine, ist lang vorbei. […] Ich umschlinge ihn. „Das war so schön vorhin“, flüstere 106 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="108"?> 158 Ebenda, S.-13ff. ich, „das machen wir ganz bald wieder, ja? “, und atme in seine Halsbeuge. Lennart rückt ein Stück von mir ab. „Na, ich hab doch zu danken“, sagt er, und in diesem Satz ist so wenig Gefühl, dass ich mir wieder ans Bein greife. Aber Lennart ist schon auf dem Weg zu seinem Computer. 158 Tatsächlich gab es für Nina keine Befriedigung, die körperliche Ebene erschien ihr eher unangenehm. Die narzisstische Befriedigung, der Gewinn, den sie daraus schöpfen wollte, ist allerdings auch nur flüchtig. Die Selbstobjektivierung, das Bedienen des male gaze, stellt eine Verlockung dar, der sich nahezu perfekt nachkommen lässt, wenn die Frau sich als aktive, autonome Liebesdienerin inszeniert. Sowohl Victoria als auch Nina finden Gefallen an ihrer eigenen Inszenierung als Pornoqueen. Nancy Bauer analysiert das Machtgefühl, das sich bei Frauen einstellt, wenn sie sich zum Objekt männlicher Begierde machen. Diese Form der Selbstobjektivierung wird von ihnen als Akt der Autonomie angesehen, der sich jedoch nur als eine scheinbare Autonomie erweist. Statt von eigener Lust geprägt, zeigen sich Frauen als freudige Agentinnen ihrer eigenen sexuellen Objektifizierung. Tatsächlich werden weder Victoria noch Nina durch die männlichen Gegenüber konkret ausgebeutet, sie werden im Vorfeld weder belästig noch bedrängt, sondern in beiden Romanen drängen die Frauen sich auf und führen sich einer Funktion als sexueller Gegenstand zu. Es ist fraglos, dass sie Vergnügen daraus ziehen, den Männern gefällig zu sein. Dieses Vergnügen ist aber, auch wenn es von Vic und Nina ausdrücklich artikuliert wird, indem sie beteuern, wie angenehm ihnen die sexuelle Zusammenkunft erschienen sein mag, ein zweifelhaftes Vergnügen und dreht sich nur um psychische Befriedigung. Die Resonanz, auf die sie es abgesehen haben, die Hoffnung Gefühle zu wecken, bleibt aus. Während wir über Victorias genaue Motivationen im Unklaren bleiben, ist vor allem bei Nina, die hofft, mit ihrem Arzt in eine romantische Beziehung zu treten, die Enttäuschung vorprogrammiert. Obwohl beide Frauen die Männer, die sich in den Romanen jeweils passiv zeigen, erfreut haben und ihnen sexuelle Befriedigung verschaffen, reicht diese sexuelle Gefälligkeit nicht aus, um ein längerfristiges Interesse der Männer auf sich zu ziehen. Der Professor ist von seiner Studentin, die er nicht versteht, zunehmend angewidert. Ihre Schönheit täuscht ihn nicht darüber hinweg, dass der sexuelle Verkehr mit ihr für ihn emotional unbefriedigend ist. Lennart, der Arzt, ist nicht an Nina interessiert. Sie bleibt ihm fremd, er empfindet weder Abscheu noch Sympathie. Sie ist ein Zufallsobjekt, das sich bei ihm hartnäckig ins Spiel bringt. Er teilt keine Vorlieben mit Nina, er kennt sie nicht. Ihre auffallende Attraktivität verleitet ihn dazu, dass ihm ihre Aufmerksamkeit schmeichelt, zumal er gerade ohne Partnerin ist, doch er versucht mitnichten eine Beziehung zu ihr aufzubauen. Er meldet sich nicht bei ihr und umwirbt sie nicht, genau das, was Nina sich nach den sexuellen Kontakten mit ihm erhofft hat, bleibt aus. Als Nina im Laufe der zähen Affäre ungewollt schwanger wird, ist er entsetzt. Die sexuelle Beziehung mit Lennart führt Nina in eine fast ausweglose Situation. Die Abwesenheit jeglicher Sorge, ihre prekäre ökonomische Situation, aber auch ihre 4.3 The pornographic gaze 107 <?page no="109"?> permanente Abhängigkeit von fremden Urteilen machen sie für die anspruchsvolle Mutterrolle ungeeignet. Ihre mangelnde Selbstliebe überträgt sich auch auf ihr Baby. Ihr Kind kann sie nur durch eine mediale Linse sehen. Sie wünscht sich einen Sohn, wie er in der Werbung für Babyprodukte erscheint (gesund, strahlend, rosig). Kitschigen Skripten gemäß wünscht sie sich eine perfekte Geburt, möchte als eine Heldin (des selbstbeherrschten Gebärens, das indifferent gegenüber den Geburtsschmerzen ist) von ihrer Hebamme bewundert werden und nährt die naive Hoffnung, dass Lennart doch noch zu seiner kleinen Familie stehen wird. Der Realität einer anstrengenden und aufreibenden Geburt sowie der Konfrontation mit dem schreienden, keineswegs werbeästhetisch perfekten Baby kann sie nicht standhalten. Die Geburt des Kindes erweist sich als alles andere als romantisch. Statt sich von den patriarchalisch gene‐ rierten Vorstellungen, wie eine Frau einem Kind das Leben zu schenken habe und wie perfekt sie die Mutterrolle ausfüllen soll, zu lösen, empfindet sich Nina als auf allen Ebenen gescheitert. Neben den sozialen Missständen, mit denen alleinerziehende Mütter konfrontiert sind und den ökonomischen Problemen, die Frauen, die über keine feste ökonomische Grundlage (Anstellung) und den dazugehörigen Mutterschutz und finanziellen Support verfügen, erzählt der Roman auch davon, was passiert, wenn den Verlockungen der Selbstobjektivierung ohne Kritikfähigkeit nachgegeben wird, sei es nun als Liebhaberin oder als Mutter. Dass Nina keinen anderen Trumpf als ihre Schönheit ziehen kann, weil sie ohne Berufsausbildung, ohne Job, ohne familiären Rückhalt ist, lässt nachvollziehbar erscheinen, dass sie sich so gehorsam ihrer Sexualität bedient, um Halt zu finden. Sie macht sich für Lennart ständig zum Objekt. Lennart, der weder Nina noch das Baby will, ist nur oberflächlich betrachtet ein Schurke. Mit dem hier vorgestellten feministischen Analysetool betrachtet, ist er in erster Linie ein Mann, der die Frau, die ihn sexuell umgarnt, nicht liebt. Er ist aber auch ein Mann, der diese Frau gar nicht lieben kann, weil sie ihm von Anfang an eine Art Nummernrevue der sexy Weiblichkeit vorspielt. Er hatte keine Chance, sie kennenzulernen. Nina hat sich als Spielerin in dieser Revue verloren. Sie kann keine Beziehung jenseits ihrer internalisierten Vorstellungen von sich als Objekt zu anderen Menschen aufbauen. Ihre medial generierten Vorstellungen abzustreifen, gelingt ihr nicht einmal in Hinsicht auf ihr eigenes Kind, das sie enttäuscht, weil es ein Lebewesen und nicht bloß ein bespielbares Requisit ist. Die pornographisierte Linseneinstellung auf sich führt Frauen nicht in Autonomie, in beiden Texten führt sie ins genaue Gegenteil. Die beiden weiblichen Figuren machen sich abhängig von einer männlichen Fürsprache, die nicht erfolgt, weil die Männer, die sie als Sexualpartner wählen, nicht in ihrer Individualität (der Professor als älterer Mann mit sexuellen Vorlieben, die nicht Vics pornographisch-geschulter Generation entsprechen und Lennart als nüchterner Arzt, der eigentlich eine Kameradschaftsehe, keine Sexabenteuer sucht) gesehen und umworben werden. Die beiden Männer sind nur ein Mittel, um dem patriarchal Other, den die Frauen im Kopf haben, gefügig zu sein. Es findet kein reziprokes Erkennen statt. Die biederen Repräsentanten patriarchaler Macht (Professor, Arzt) als Menschen zu sehen, die hilflos ihrem Begehren für die 108 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="110"?> 159 Bauer 2015, S.-46. aufregenden Frauen ausgesetzt sind, bewahrheitet sich auf der weiblichen Seite nur in dem kurzen Moment, in dem die Frauen für die Männer sexuell agieren. Nicht mal beim sexuellen Verkehr sind die Männer den Frauen aufrichtig zugetan. Sie agieren, wie in einer Versuchsanordnung für einen biologischen Vorgang, der aus Reiz und Reaktion besteht. Die Texte zeigen durch die doppelte Perspektive, dass selbst im Moment des sexuellen Austausches die Situation nicht stimmig in dem Sinne ist, dass beide Partner*innen in dasselbe Lied einstimmen würden. Die Frauen folgen ihrer eigenen Dramaturgie, die die Männer zu erregten Statisten und phallisch zentrierten Sexkonsumenten erklärt, die dann aber ihre statische Rolle - zur Enttäuschung der Frau - nicht in die romantischer Liebhaber verwandeln können oder wollen. Besonders im Roman Lasse wird die Dichotomie zwischen freiwilliger Sexdienstleisterin und dem Konsumenten des sexuellen Angebots deutlich vorgeführt. Der Text veranschaulicht aber auch, dass Ninas irrige Annahme, sich über die sexuelle Gefälligkeit leicht und unwiderruflich in das männliche Herz einschleichen zu können, falsch ist. Darunter leidet sie von Anbeginn der sexuellen Affäre mit Lennart, den sie trotz körperlichen Einsatzes nicht emotional an sich binden kann. Die orale Befriedigung, die sie ihm im zitierten Beispiel verschafft und die sie zumindest narzisstisch befriedigen soll, beschert ihr nur für einen ganz kurzen Moment ein Machtgefühl. Die weibliche Souveränität in der Situation, in der die Frau das Gefühl hat vom Mann begehrt und ersehnt zu werden und ihn ganz selbstbewusst befriedigen zu können, besteht nur als Phantasie und überdauert nicht den Moment. Sehr schnell fühlen sich die Frauen wieder entmächtigt und durch Männer die instrumentalisiert. Being the object of the helpless desire of a boy you are about to fellate, especially when, at that moment, you’re the only one around to fulfill it, can be - excuse the pun - a heady experience for a girl. And the pleasure is only intensified if it’s quasi-sadistic. (As one of my students once put it to me, “There he is wanting it, and you could just get up and walk away” - though, of course, you don’t.) So there is pleasure in pleasuring guys, and this pleasure is real. And yet it is not unadulterated. For the stories the girls I’ve been discussing tell themselves about strength and power and pleasure do not, at the end of the day, cohere. Again, this is not a piece of moralizing on my part. It’s a product of the other-shoe-dropping that the girls themselves, at least the once I’ve talked to, almost invariably do. They tell you that the pleasures of hooking up, like the pleasures of getting really, really drunk - pleasures that often, it turns out, go hand in hand - don’t last. There’s fallout. There’s what I’ve taken to calling the hookup hangover. You give the boy your cell number, but he doesn’t text you later, which means that, unless he’s suddenly gone celibate, it turns out that he’s not interested in seconds, which means, at the very least, that your power to please him isn’t unique. 159 [Das Objekt der hilflosen Begierde eines Jungen zu sein, den du im Begriff bist, oral zu befrieden, kann, wenn du dich in dem Moment als die Einzige erweist, die diese Befriedigung zu gewähren vermag, - entschuldigen Sie das Wortspiel - eine berauschende Kopfsache für ein Mädchen sein. Und das Vergnügen wird intensiviert, wenn es quasi- 4.3 The pornographic gaze 109 <?page no="111"?> sadistisch ist. (Wie eine meiner Studentinnen einmal zu mir gesagt hat: „Da steht er mit seinem Begehren, und du könntest einfach aufstehen und weggehen“ - obwohl du das natürlich nicht tust.) Es macht also Spaß, Jungs zu befriedigen, und dieses Vergnügen ist echt. Und doch ist es nicht unverfälscht. Denn in den Geschichten, die die jungen Frauen, mit denen ich gesprochen habe, sich selbst über die Stärke, die Macht und das Vergnügen des Aufreißens erzählen, zeigen sich Widersprüche, die letztendlich die Erzählung auf ein positives Ende hin in Frage stellen. Dies ist keine Moralisierung meinerseits. Es gibt eine Kehrseite, die die Mädchen selbst, zumindest die, mit denen ich mich unterhalten habe, fast immer anklingen lassen. Sie sagen dir, dass das Vergnügen des Sex’, wie das Vergnügen, sich stark zu betrinken - zwei Vergnügen, die häufig genug Hand in Hand gehen - nicht von Dauer ist. Es gibt eine unausweichliche Katerstimmung, die ich den Aufreiß-Kater zu nennen pflege. Du gibst dem Jungen deine Handynummer, aber er schreibt dir später keine SMS, so dass sich herausstellt, dass er nicht weiter interessiert ist. Wenn er nicht plötzlich beschlossen hat, von nun völlig auf Sex zu verzichten, bedeutet dies auch, dass deine Macht, seine Sexualität zu dirigieren, völlig unbeständig ist.] [Meine Übersetzung, K.-K.] Obwohl Nancy Bauers Analyse, entgegen ihrer ausdrücklichen Intention, hier doch etwas moralinsauer klingt, trifft sie den Kern der sexuellen Selbstobjektivierungsge‐ schichten, die uns in vielen Texten der Gegenwart erzählt werden. Wie stark die weiblichen Figuren sich auch anstrengen und in eine toxische Competition mit anderen Frauen treten, sie sind als Objekte niemals einzigartig, selbst in dem Falle, wenn es sich um als Schönheiten anerkannte Frauen wie Victoria und Nina handelt. Ihre Schönheit kann in diesen literarischen Beispielen das Interesse der Männer über mehrere Dates hinweg zumindest halbwegs aufrecht halten, weil sich die Männer durch die um sie werbenden Frauen bestätigt fühlen, aber es entwickelt sich seitens der männlichen Figuren kein Gespür für die Individualität der Sexualpartnerin. Besonders Nina schmerzt das mangelnde menschliche Interesse an ihr, während Vic es nicht zu merken scheint, dass sie ihren älteren Liebhaber zum Teil sogar anwidert. Nur als ein sich selbst bewusstes Subjekt könnte Nina ihren Arzt Lennart (und Victoria ihren Professor Howard) durch die Enthüllung ihrer individuellen Besonderheit verführen (was zugegebenermaßen ein Groschenromansujet wäre), doch den erkennenden Blick auf ihr Inneres haben beide Frauen durch die pornographische Attitüde versperrt, und zumindest für die Figur Besley lässt sich unterstellen, dass er gerne bereit wäre, in Vic mehr zu sehen als ein reines Sexobjekt. Der Professor und die Studentin hätten gemeinsame Gesprächsthemen, und seien es auch nur die aus seinen Seminaren, die zu einem wirklichen Austausch werden könnten. Allerdings bieten die schönen Frauen nur eine pornographische Objektfunktion an, denn sie verfügen selbst nicht über ein Gespür für ihre sexuellen Wünsche und eigentlichen Sehnsüchte. Ihnen fehlt außerdem der Blick für ihr Gegenüber. Es ist höchst zweifelhaft, dass die Männer jenseits ihrer sozialen Position einen Reiz auf die Frauen ausüben würden. Gerade in der Szene, in der wir Einblick in Ninas Bemühungen als Liebhaberin bekommen, wird offensichtlich, dass Lennarts Körperlichkeit sie eigentlich fast abstößt. Ihr Begehren ist völlig abstrakt. Jenseits ihrer symbolischen Macht haben die Männer für die scheinbar 110 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="112"?> versierten Liebhaberinnen keinen individuellen Reiz. Es ist nur die symbolische Macht (als Arzt und Professor), die die Männer, auf die die Frauen sich einlassen, als reine Platzhalter für männliche Autoritäten disqualifiziert. Die Männer hingegen lassen sich gar nicht ein. Sie ziehen sich auf den passiven Konsum von Sex zurück, der ihnen von den Frauen angeboten wird. Lennart dankt Nina für ihre Gefälligkeit mit „wenig Gefühl“. Sie, die keine anderen Ressourcen als ihre Schönheit hat, bleibt als Verliererin im Liebesspiel zurück, nachdem sie ihre Bedürfnisse hinter der Rolle einer erfahrenen Liebesdienerin versteckte. Die Direktion der Situation ist ihr gleich nach dem sexuellen Akt wieder genommen. Ihre emotionalen Ansprüche an den Mann gestattet sie sich als sexpositivistische Heldin nicht zu artikulieren. Ausdrücken konnte sie nur Lust, die nicht mal echt war. Ihr sexueller Ausdruck ist gekünstelt, der emotionale Schmerz aber, den Nina nach Lennarts Zurückweisung spürt, ist echt. Die Magie der sexuellen Handlungen weicht im Beispiel dieses Romans einer völlig desillusionierenden Dramaturgie, die dem sexuellen Akt jeden Zauber nimmt und ihn zu reiner Körperertüchtigung herabwürdigt. Die verinnerlichte sexuelle Gefügigkeit von Frauen wird in Texten der Gegenwart nicht nur indirekt kritisiert, so wie es in den beiden dargestellten Beispielen der Fall ist, sondern kann auch deutlich zum Ausdruck gebracht werden. In dem Song I (erschienen als Demo-Release auf dem Album I Have Lost All Desire For Feeling) der amerikanischen Punkband Perfect Pussy, die sich als Bandnamen bereits eine pornographische Referenz wählte, wird die weibliche Verstrickung in ein Paradigma aus Lust und Scham explizit thematisiert. My best friend is back in town There’s a bad taste in my mouth Her eyes fell low and heavy with shame and cum She must have been desperate; she acted so lonely [Meine beste Freundin ist wieder in der Stadt, Ich fühle einen schlechten Nachgeschmack Sie schlug ihre Augen nieder vor den Spuren männlicher Lust und der Last der Scham Sie muss so verzweifelt gewesen sein, Einsamkeit sprach aus ihr] Diese Zeilen hätten sowohl über die schöne Victoria, die mit den Abenteuern der väterlichen Autorität und dem Mangel an elterlicher Liebe entfliehen möchte, als auch über die schöne Nina geäußert werden können. Ninas Angebot, den Arzt oral zu befriedigen, war eine Offerte, die aus ihrer Einsamkeit, ihrer verzweifelten Suche nach Zugehörigkeit resultierte, die sie aber schamvoll und unbefriedigt zurückließ. Letztendlich fühlt sie sich beschmutzt von Lennarts „Männlichkeitsgeräuschen nach erledigter Arbeit.“ Es ging niemals um ihre eigene sexuelle Freude, sie hat zu ihren Bedürfnissen kaum einen Zugang, wohl aber spürt sie, dass der ihr gesellschaftlich (pornographisch) vorgezeichnete Weg als sexuelle Dienstleisterin sie beschämt, unbe‐ friedigt und in gewisser Weise noch einsamer zurücklässt. 4.3 The pornographic gaze 111 <?page no="113"?> 160 Hasel 2015, S.-15. 4.4 The Digital Other An der Fellatio-Szene Ninas erschien besonders interessant, dass Ninas Subjektivität gespalten ist. Sie liefert vor Lennart ein Bild ab, das umso besser als Bild erkennbar ist, weil ihr auch Gedanken, etwa über seine möglichen Pickel, durch den Kopf schießen, die in dieses aalglatte Image nicht passen. Diese unauthentische Subjektivität, wie sie in dem bereits genannten Song Segen von Mia Morgan als Selbst-Sexualisierung, die vor allem in Online-Formaten gängig ist, benannt wird, lässt sich in einigen Texten der Gegenwart besser als durch die Denkfigur eines patriarchal Other mit der Denkfigur eines digital Other ausdrücken. Was können wir darunter verstehen? Der Begriff ‚digital Other‘ findet bei mir seine Genese in Schriften, die im feministischen Kontext weibliche Selbstobjektivierung kritisieren. Der Vorteil dieses Konzepts liegt in einer gewissen Genderneutralität, durch das es sich von seiner feministischen Schwester (‚patriarchal Other‘) abhebt. Für alle Geschlechter, Trans oder Cis, Männer, Frauen oder non-binäre Menschen spielt antizipierte Fremdwahrnehmung eine umfassende Rolle, besonders dann, wenn sich die Personen online präsentieren. Den Begriff ‚digital Other‘ innerhalb der Literaturwissenschaft anzuwenden, kann helfen, narratologische Besonderheiten zu erklären, weil durch das Konzept die Stimme der Erzählung besser verortet werden kann. Hinter dem, was als autodiegetische Erzählinstanz wirkt (einem Ich), kann eine heterodiegetische Instanz (die Fremdbestimmung) erklingen. Sie gibt den Rhythmus vor, in dem das Ich sich besingt. Selbst wenn ein Ich spricht, ist nicht auszuschließen, dass dieses Ich nicht bei sich selbst ist, dass es bloß wie ein Avatar des Ichs erscheint. Ninas geflüstertes „Das war so schön vorhin […], das machen wir ganz bald wieder, ja? “ 160 trägt diesen Charakter einer fremden Stimme, die nach Erotikfilm klingt, die aber nicht authentisch erscheint, ja nicht einmal als die eigene Stimme auftaucht, sondern als filmadaptierte „gesäuselte Lust“. Die internalisierte Fremdperspektive eines digital Other ist, wie schon betont, mit dem patriarchal Other verwandt, nur dass das Bedürfnis, sich als Selbstobjekt darzustellen, nichts mehr ist, was allein die weibliche Genderrolle charakterisiert. Der Unterschied zwischen patriarchal Other und digital Other besteht darin, dass die Dichotomie zwischen männlichem Betrachtersubjekt und weiblichem Beschauungs‐ objekt nicht mehr festzumachen ist, die Frage offenbleibt, wer betrachtet wen, welche*r Richter*in herrscht im Kopf. Historisch betrachtet ist die Idee der Selbstobjektivierung natürlich allein mit dem weiblichen Gender verbunden. In der der Short Story Je ne parle pas français lässt die für ihren modernen Stil berühmte Autorin Katherine Mansfield ihren Ich-Erzähler in einer, der als eine Art Gigolo in Paris sein Leben fristet, über sich sagen: Aber halt! Ist es nicht seltsam, dass ich so viel über meinen Körper und so weiter geschrieben habe? 112 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="114"?> 161 Mansfield 2012, S.-58f. 162 Ebenda, S.-58. 163 Vgl. Mia Morgans Song auf „Fleisch“, 2022. 164 Ebenda. 165 Žižek 2001, S.-53. 166 Vgl. Henrich 1966. Es ist das Ergebnis meines schlechten Lebenswandels, meines verborgenen Lebens. Ich bin wie ein Mädchen in einem Café, das sich mit einer Handvoll Fotografien einführen muss. ‚Ich im Hemdchen, wie ich aus der Eierschale krieche… Ich auf einer Schaukel, mit dem Kopf nach unten und einem Rüschenpopo wie ein Blumenkohl! …‘ Sie kennen dergleichen. 161 Tatsächlich können wir dem Erzähler zustimmen. Das Phänomen kennen wir, zwar nicht von Rendezvous in Cafés, wohl aber von Facebook, Instagram und allen mögli‐ chen medialen Plattformen, in denen ein spätmoderner Mensch sich und sein Leben mittels „Fotografien einführen muss“. Bemerkenswert ist dieser Textabschnitt deshalb, weil er fast 100 Jahre vor Facebook verfasst worden ist. Der Bohemien beklagt, dass er bei der Vorstellung seiner selbst nur von seinem seidigen Haar, seinen biegsamen Händen, seiner Wirkung auf andere spricht. 162 Die Selbstobjektivierung, nämlich das objektivierende Beschreiben der äußerlichen Erscheinung, das Raoul akribisch vornimmt, um sich darzustellen, setzt er nicht nur mit seinem schlechten, im Kontext der Erzählung eindeutig effeminierten, Lebenswandel in Verbindung, sondern reflektiert diese äußerliche Fixiertheit mit den medialen Möglichkeiten seiner Zeit („mit einer Handvoll Fotografien“). Da Raoul sich aushalten lässt, entspricht er nicht der männlichen bürgerlichen Rolle. Seine Selbstobjektivierung erscheint ihm selbst eher der weiblichen Natur gemäß zu sein, denn er empfindet sein Verhalten als das eines Mädchens. Ich halte die begeisterte Selbstobjektivierung in der Gegenwart, von der auch in Segen 163 die Rede ist, für eine, die im Zusammenhang mit der Digitalisierung steht. Sich über Bilder von sich selbst darstellen, führt heutzutage Männer nicht zwangsläufig dazu, an ihrer Männlichkeit zu zweifeln und sich wie Raoul „wie ein Mädchen“ vorzukommen. Trotzdem machen viele Texte den Eindruck, nicht zuletzt Karaseks Drei Wünsche, dass die Selbstobjektivierung für Frauen eine besondere Funktion hat und sie ihr gnadenloser ausgeliefert sind („Ich bin Frau, darum zu viel oder zu wenig“ 164 ). Gefeit sind Männer vor einer Selbstobjektivierung allerdings längst nicht mehr. 2007 wurden Smartphones eingeführt und verzeichneten sofort hohe Marktanteile am Mobilfunkmarkt. Mit einem Smartphone lassen sich sekundenschnell Fotos von sich selbst machen, kleine Filme drehen. Sich als Kameraobjekt zu stilisieren, bedarf seitdem keiner Faszination fürs Kino, keiner Faszination für analoge Fotografie. Jeder Person, die ein nicht völlig veraltetes Handy hat, ist diese technische Funktion vertraut. Die deutschen Idealisten glaubten, dass die Fähigkeit, ein Selbst-Bild zu konstituieren, auf „transzendentaler Spontanität“ 165 beruhen würde, was bedeutet, dass ein Subjekt sich auf sich selbst bezieht, ohne sich als einen Gegenstand zu betrachten. 166 In der Gegen‐ wart spricht viel dafür, diese hehre Vorstellung von transzendentaler Spontanität als in 4.4 The Digital Other 113 <?page no="115"?> 167 Petery 2011, S.-7f. schnöde Rezeptivität verwandelt zu betrachten, nämlich als Fähigkeit, sich anhand von medialen Vorgaben zum Bild zu machen. Das Selbst-Sein vieler literarischer Figuren ist an ein medial generiertes Bild (von sich) gekoppelt. Das Ich hat keinen unmittelbaren Bezug zu sich. Als würde ein optisches Medium, quasi in einer Kameraeinstellung zu bzw. auf sich selbst, dazwischengeschaltet sein, beschreiben sich die Figuren aus einer Fremdperspektive. Die Figur nimmt sich nicht wie in einem Spiegel wahr, sondern ihre Selbstwahrnehmung untersteht einem unsichtbaren Beobachter, welche ein, das eigene Ego transzendierendes, Bewusstsein im Prozess der Selbstfindung markiert. Dieser unsichtbare Beobachter ist aber entindividualisiert, es ist nicht wie bei Alex unbedingt der abschätzige Vater, der einen betrachtet. Bereits Bartky sprach davon, dass die Beobachtungsinstanz im Kopf anonymisiert ist, bei meinem Konzept des digital Other würde ich aber dafür plädieren, die Kamera als ein internalisiertes Medium mitzudenken, dessen Macht man/ frau sich unterwirft. Der digital Other zwingt nicht nur dazu, sich zum Bild für jemanden zu machen, sondern dazu, vor einer imaginierten Kamera zu posen. Die Ich-Figur sieht sich nicht wie in einem Spiegel. Sie sieht sich als Objekt einer Kameraeinstellung auf sich selbst. Diese position of spectator ist eine narzisstisch-imaginierte Zurschaustellung, die, wir haben es bei Mansfields Je ne parle pas français gehört, historisch eher Frauen zugewiesen wird. Der Anfang des Romans Eure Kraft und meine Herrlichkeit von Constanze Petery verdeutlicht, wie eine Ich- Figur durch die innere Kamera bestimmt agieren bzw. von sich reden kann. Der Wind ist nicht plötzlich gekommen. Ich habe ihn bestellt. Für diesen Moment, ein perfekter Augenblick in einem perfekten Leben. Ich habe gelesen, es wäre in dieser Saison in, die Haare kurz zu tragen, Bob oder Pixie-Schnitt. Arme Kinder, die diesem Rat folgen, seht mich an, ich gehorche dem Diktat nicht, ich diktiere. Wer wird dem Mädchen nachblicken, deren plumper Topfschnitt vom Wind, von meinem Wind, verstrubbelt wird, während ich daneben stehe, die lange blonde Mähne einer seidenen Fahne gleich. Ich sage euch, Kinder: Was ich tue, ist in. Ich überquere den Platz, trete aus dem Schatten der umliegenden Gebäude in die Sonne. Ist das nicht das Bild, das ihr alle von mir habt? Wo ich hinkomme, wird es hell, strahlend, ich bin der Glamour, den alle so dringend brauchen. […] Wer hat es nicht gesehen, wer hat nicht aufgeschaut, wer spürt die Kraft nicht, die in meinem Glanz lebt? Keiner, sie alle haben sich mir zugewandt, der Gelkopf mit der Lederjacke einer Autofirma genauso wie der Tweedrock, der einem verrotzten Kleinkind ein Tempo vor die Nase hält, der Kellner im Café gegenüber lässt beinahe das Tablett fallen, Espresso tropft auf den bunten, orientalisch anmutenden, seidenen, sicherlich teuren Wrap-Dress einer Mittfünfzigerin, die ihre Krähenfüße hinter einer überdimensionalen, insektenaugengleichen Sonnenbrille versteckt. Sie wird ihren Sitznachbarn, ihr Rendezvous, nicht halten können, er hat mich gesehen, wie sie alle träumt er ab jetzt jede einsame und jede geteilte Nacht davon, dass ich meine Zigarette auf seiner Brust ausdrücke. 167 114 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="116"?> 168 Fischer 2018, S.-32. 169 Ullrichs 2019, S.-6. Es handelt sich beim digital Other um ein rein psychisches Phänomen, denn es ist weder anzunehmen, dass der Wind der jungen langhaarigen Frau gehorcht, noch dass sie die zukünftigen Träume ihrer Mitmenschen wirklich voraussehen kann. Die Ich- Figur offenbart sich als „Selbstobjekt“. 168 Der Eindruck, den wir von ihr in diesem Text gewinnen, ist nicht nur der der Eitelkeit, sondern auch der der Vereinzelung. Auch wenn wir uns mit dem zelebrierten Narzissmus nicht identifizieren wollen, ist dieses Textbeispiel durchzogen von einer (Selbst-)Bildversessenheit, von der auch viele andere Figuren der Gegenwart, ja auch wir als Leser*innen, getragen sind. Die Ich- Figur erlebt sich im Selfie-Modus. Wer ein Selfie macht, macht sich selbst zum Bild. Das ist etwas anderes, als nur ein Bild von sich selbst - ein Selbstporträt - zu machen. Ein Selfie zu machen, heißt ein Bild von sich zu machen, auf dem man sich selbst zum Bild gemacht hat. 169 Die internalisierte Fremdperspektive, die ich als digital Other bezeichne, hebt sich auch dadurch ab, dass die Personen, die sich ihr unterstellen, auf keine äußerlich reale Umwelt angewiesen sind. Die narzisstische Befriedigung kann einfach dadurch gestillt werden, dass alle Personen ihr Selbstbild unter Zuhilfenahme von Photoshop und anderen technischen Hilfsmitteln im Sinne medial generierter Idealbilder perfek‐ tionieren. Ob eine Community diese Selbstbilder nun tatsächlich bewertet oder nicht, ist für die narzisstische Befriedigung nicht mehr ausschlaggebend. Ausschlaggebend für das eigene Selbstgefühl ist das Bild. Der internalisierte Zwang besteht darin, seine eigene Bildqualität in jeder Situation halten zu können bzw. jede Situation so zu gestalten, dass eine Kamera sie filmen dürfte. Insofern sind umweltbasierte Fakten bei der Selbstbeschreibung, die wir hier lesen, gar nicht notwendig. Das Ich erzählt sich uns als Bild. Wie sehr Figuren sich als Bild begreifen und wie weit sie in ihrem Selbstbild von der Realität abstrahieren können, fällt von Roman zu Roman anders aus. Während Nina aus dem oben genannten Beispiel sich in Selbstsicherheit über ihre Schönheit wiegt und den Arzt damit zu verführen trachtet, weil ihre Umwelt ihr Aussehen stets positiv kommentiert, ist diese Realitätsverhaftung in dem Beispiel der Nachschwärmerin vollends aufgeweicht. Nina ist auch, verglichen mit Victoria, nicht ganz von ihrer Umwelt abgekoppelt. Während die junge Studentin Victoria im Roman On Beauty nämlich von ihrer eigenen Pornodarstellung gefesselt ist und die Reaktionen ihres Gegenübers kaum wahrnimmt, spürt Nina in der Verführungsszene aus dem Roman Lasse, spätestens als Lennart sich wieder ankleidet, dass das, was er erlebt hat, ihn nicht dazu führt, ihr zu applaudieren und ihre Nähe zu suchen. Sie ist nicht so selbstverliebt wie die anderen erwähnten Frauen, was sie als Figur auch am verletzlichsten gegenüber den Urteilen Anderer macht. Die schnöde Realität eines sachlichen Liebhabers zerstört in ihr das idealisierte Kamerabild von sich und dem Liebesakt. 4.4 The Digital Other 115 <?page no="117"?> 170 Randt 2020, S.-239ff. 171 Beauvoir 2000, S.-797. 4.4.1 Digital Other als narratologisches Phänomen Mit einem weiteren, gegenwärtigen Textbeispiel aus Leif Randts vielbeachtetem Roman Allegro Pastell möchte ich zeigen, wie durch diese Kameraeinstellung auf sich, also durch den von mir als digital Other bezeichneten Blick, Subjektivität und Begehren geformt werden und welche Auswirkungen dieses Blickregime auf die Erzählinstanz hat. Caro kam gegen halb neun am Morgen mit glasigem und zugleich hochmotiviertem Blick auf Tanja zu. „Wie geht’s, bist du noch fit? “ Sie berührte Tanja am Oberarm. „Eigentlich überhaupt nicht“, sagte Tanja, obwohl sie sich nicht schlecht fühlte. Freds Joints hatten sie wieder ein wenig wacher gemacht. […] Es war wie meistens ein schönes Gefühl, von einer Frau begehrt zu werden, und Caro hatte eine gute Figur, ihr war anzusehen, dass sie regelmäßig boulderte, sie roch auch nicht schlecht, aber sie wirkte - das dachte Tanja nun im fensterlosen Badezimmer - auf eine bedrückende Weise erwachsen. Im Gegensatz zu Tanja sah Caro eindeutig wie über dreißig aus, und obwohl Tanja sich fest vorgenommen hatte, das Älterwerden auch bei Frauen zu akzeptieren, ihnen vor allem auch ihre Lust zuzugestehen, dachte sie, dass sie es Caro mit ihrer Kurzhaarfrisur nur bedingt gönnen würde, mit ihr rumzumachen. Wie entsetzlich eitel und lebensfeindlich dieser Gedanke war, gestand Tanja sich sofort ein, als sie, nachdem sie die Klospülung betätigt hatte, vor dem Waschbecken stand und sich im Spiegel anschaute. Klar, auch sie war jetzt über dreißig, auch sie war längst eine Frau, doch ihr Gesicht war der perfekte Mix aus zwei bis drei Lebensphasen, und dass sie gerade eine Nacht durchgemacht hatte, trübte diesen Eindruck nicht, im Gegenteil. Sie konnte nachvollziehen, dass Alex und Caro mit ihr […] nachhause gehen wollten, dass Janis traurig war, weil sie ihn fallengelassen hatte, dass Max und Ernesto mit Sicherheit noch immer viel an sie dachten. Sie konnte all diese Menschen verstehen. 170 Tanja begehrt Caro nicht authentisch, aber ihr fehlendes Begehren ist ebenso wenig authentisch. Sie hat ihre Rolle als Caros Liebhaberin durch die innere Kamera laufen lassen und findet, dass sie als deren Liebhaberin nicht ideal besetzt wäre, dass der Einstieg auf Caros Flirtversuch ihrer noch jugendlichen Schönheit nicht gerecht würde, ja, dass Caro sie womöglich downgraden könnte. Den Anteil internalisierter Misogynie, in dem in diesem Buch entwickelten Sinn als Mittel der Selbstaufwertung, der in Tanjas Ressentiments gegenüber Caro zum Tragen kommt, gesteht sich Tanja selbst ein. Auch, dass dieser Gedanke genau von dem getragen ist, was mit ähnlichen Worten („auf Kosten des realen Lebens“ 171 ) schon Beauvoir an Narzisstinnen, die die Selbstobjekti‐ vierung permanent betreiben, beklagt, nämlich „eitel und lebensfeindlich“ zu sein, 116 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="118"?> 172 Auch in Randts Debütroman Schimmernder Dunst über Coby County wird gleichgeschlechtliches Begehren zwischen Frauen in einen starken Bezug zu narzisstischer Befriedigung gestellt. Aus feministischer Perspektive ließe sich der Autor anklagen, kein Verständnis für weiblich-weibliche Verbundenheit aufbringen und gleichgeschlechtliche Sexualität unter Frauen lächerlich machen oder verharmlosen zu wollen. Tatsächlich aber sind auch die Figuren in diesem Roman schon viel zu auffällig vom digital Other geprägt, als dass sich die Nähe zum Narzissmus nicht als der Hang jedweder Figur des Romans zur Selbstobjektifizierung erkennen ließe. Dass auch Begehren deshalb statt einem „ehrlichen Bauchgefühl“ eher dem „blanken Narzissmus“ unterstellt ist (Randt 2011, S. 92), entspricht der Logik der erzählten Welt und resultiert nicht aus einem Heterosexismus der Erzählinstanz oder des Autors. 173 Randt 2020, S.-11. erkennt die Figur. 172 Obwohl sie das weiß, kann sie dieser Falle nicht entkommen, denn die internalisierte Konsumerabilität/ Kommensurabilität von Körpern, die Macht des digital Other, untersteht keiner individuellen Wahl. Sie ist in Tanjas Selbstbild eingeschrieben. Wir könnten uns demgemäß gut vorstellen, dass Caro demselben inneren Connaisseur gehorcht und nur deshalb Tanja gern verführen würde, weil die mädchenhaft wirkende, hippe Frau ihr gut zu Gesicht stünde, nicht etwa, weil sie genau diese Person mit dem Wert ihrer individuellen Eigenschaften begehren würde. In Charlotte Roches Mädchen für alles (2015) lesen wir einen ganzen Roman von der Jagd einer Mittdreißigerin auf eine etwas jüngere Frau, die nur einer pornographischen Spielanordnung im Kopf der Jagenden entspricht. Chrissi, Mutter eines Kleinkinds und Hausfrau, mag Marie, ihr Mädchen für alles, das bei ihr jobbt und welches sie unbedingt verführen will, nicht einmal. Sie findet die hübsche Studentin lächerlich und peinlich, aber da Marie dem gängigen Schönheitsideal entspricht, erwartet Chrissi von dem queeren Erlebnis, dass es ihr eigenes, von der Entbindung lädiertes Selbstbild aufwertet, dass sie für sich ein Selbstbild als sexpositivistisches Subjekt kreieren kann. Durch den sexuellen Verkehr mit Marie hofft Chrissi, sich beweisen zu können, wie weit sie von dem Image einer biederen Hausfrau und Mutter entfernt ist. In Randts Roman sehen wir uns mit Figuren konfrontiert, die nicht nur popkulturell geteilte Erfahrungen machen (Partyleben, queere Flirts, Fernbeziehungen), sondern Figuren, die das Potential dieser Erfahrungen erst durch einen Check up ziehen, bevor sie sie überhaupt angehen können, um über deren digitalisierbare, visuelle, gar porno‐ graphische Qualität für das Selbstbild Sicherheit zu gewinnen. Das trifft auf Jerome, die männliche Hauptfigur dieses Textes ebenfalls zu. Das Analysetool des digital Other überschreitet einen rein feministischen Kontext. Während Jerome Tanja, seine Freundin, in der U-Bahn liebkost, stellt er sich vor, wie diese Zärtlichkeitsbekundungen auf die anderen Fahrgäste wirken könnten. Ihn erfreut die Vorstellung, die er sich von dem macht, was sich in den beobachtenden Köpfen der Zuschauer*innen abspielen könnte, mehr als die leibliche Erfahrung. Jerome mochte den Gedanken, dass er sich selbst gegebenenfalls unerträglich finden würde, könnte er sich in der U4 von außen sehen. 173 Er nennt diese Fixiertheit auf seine Wirkung selbst seine äußere 4.4 The Digital Other 117 <?page no="119"?> 174 Ebenda. 175 Given 2023, S. [5] und S.-125. Persönlichkeit, die sich aus Zuschreibungen der Umwelt zusammensetzte. Seine äußere Per‐ sönlichkeit konnte er auf Fotos und im Spiegel erahnen, da er dort die Blicke, Unterstellungen und Assoziationen anderer automatisch mitdachte. 174 Der Text stellt im weiteren Verlauf heraus, dass die äußere Persönlichkeit eine vermeintlich innere Persönlichkeit dominiert. Die „Blicke, Unterstellungen und Asso‐ ziationen“ kann Jerome nicht ausschalten. Wenn er über sich sinniert, denkt er diese automatisch mit. Dieser Automatismus bezieht sich aber auf keine äußere Realität, keine konkreten Anderen. Das, was die Anderen in ihm sehen, ist intern fokalisiert. Er macht sich vor diesen erdachten Anderen zum Bild, so dass die bildliche Qualität die Handlung in Allegro Pastell bestimmt. Der Roman sprach so viele Leser*innen an, weil sich kaum eine Diskrepanz zwischen individuellen Erfahrungen (auf Ebene der Figuren) und überindividueller Vermittelbarkeit (für die Leser*innen) besteht. Alles, was die Figuren erleben, ist typisiert, es könnte genauso im Tagebuch der Leser*innen aufgezeichnet sein. Die Diskrepanz zwischen individueller Erfahrung und ihrer Ver‐ mittelbarkeit erweist sich als nichtig, weil die überindividuelle, medial ausschlachtbare Qualität a-priori Bestandteil einer jeden Erfahrung ist, die die Figuren des Romans überhaupt erst machen können. Die Wirkung auf Andere wird durchexerziert, bevor ein erster Handlungsschritt unternommen wird. Die medial vermittelbare Qualität ist die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung bei diesen Figuren. Das transzendentale Ich ist zu einem medial abrufbaren geworden. Die Zärtlichkeiten zwischen Jerome und Tanja in der U-Bahn sind wie die ausbleibenden Zärtlichkeiten Tanjas gegenüber Caro etwas, das erst erlebt (oder nicht erlebt) werden kann, nachdem das Shooting vor der inneren Kamera abgelaufen ist und ein Bild für den Blick der Anderen entworfen wurde. Dieses bestimmt, ob das Erlebnis abgesegnet (oder verboten) wird. Da es sich um keine realen Anderen handelt, für die das Bild geschaffen wird, ist dieses Verfahren sowohl narzisstisch zu nennen als auch tendenziell, um Randt zu zitieren, „lebensfeindlich“, aber es ist dennoch etwas, das überindividuell geteilt und von jeder/ m Leser*in verstanden wird, weil auch die/ der popkulturelle Rezipient*in von der unnachgiebigen Macht, die die Digitalisierung auf unser Leben ausübt, ein Lied singen kann. Wie Florence Given es in ihrem Buch Girl Crush als Motto voranstellt, ist die als Lebensfeindlichkeit beschriebene Selbstversenkung in die Welt des Mediums dem Bedürfnis nach Anerkennung geschuldet, also Ausdruck einer Abhängigkeit von Fremdwahrnehmung, nur dass eben diese Anerkennung virtuell, mit sich selbst, mit den Handys ausgehandelt wird und die real Anwesenden größtenteils ignoriert und ausblendet werden. Kleine weiße Rechtecke spiegeln sich in ihren Augen. Die Leute sind alle tief im Internet versunken. Sie nehmen nicht wahr, was um sie herum oder vor ihnen passiert, alle stillen ihre Sehnsucht nach Anerkennung mit ihren Handys. 175 118 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="120"?> 176 Termini nach Genette 2010. Der digital Other hat auch Auswirkungen auf die Erzählinstanz. Wenn wir uns diese im oben zitierten Textausschnitt aus Randts Roman, der die Beziehung zwischen Tanja und Caro thematisiert, vor Augen führen, liegt der Schluss nahe, diese als eine/ n heterodiegetische/ n Erzähler*in zu deuten, 176 da die Person und ihr inneres Erleben nicht eindeutig aus Tanjas Perspektive geschildert werden. Das, was Tanja denkt, wirkt so, als wäre es durch eine Perspektive außerhalb ihrer Selbst vermittelt, die nicht ganz identisch mit der von Tanja ist. Zwar ist der Text über die Protagonistin variabel intern fokalisiert, doch scheint die Aussage: „Im Gegensatz zu Tanja sah sie eindeutig wie über dreißig aus“, extern fokalisiert zu sein, als spreche sie von objektiven Fakten, die womöglich Tanjas Weltsicht und Selbstbild entsprechen, darüber hinaus aber auch von anderen Figuren der Erzählung als faktische Realität genommen werden können, weil es etwas ist, das jede/ r sähe, wenn er Caro und Tanja anschauen würde. Aber ist das wirklich so? Führt uns die Nennung von Tanja in der dritten Person womöglich in die Irre? Diese Aussage bezieht sich auf nichts, was Tanja oder irgendein/ e andere/ r Beobachter*in tatsächlich wahrnehmen, perzipieren könnte, sondern es ist eine erdachte Zuschreibung. Sie konfrontiert uns mit Tanjas Bewusstsein von ihrem idealen Selbstbild: dass sich nämlich, anders als bei Caro, in ihrem Gesicht der „perfekte Mix aus zwei bis drei Lebensphasen“ widerspiegeln würde. Es handelt sich nicht um etwas äußerlich Wahrnehmbares, sondern um Tanjas (idealisiertes) Selbstbild. Die Erzählstimme fügt ihrer Wahrnehmung von Tanja etwas hinzu, das mit Tanjas Selbstbild kongruent ist und nur in Tanjas Psyche besteht. Es ist Tanja selbst, die Caro auf eine Weise wahrnimmt, durch die sie ihre Erscheinung an der Wahrnehmung der anderen Frau spiegeln kann. Ihre phänomenologische Altersbestimmung ist eine Kopfgeburt. In der Beschreibung einer scheinbar fremdvermittelten Realität entsteht Tanjas (erzählendes und erzähltes) Ich. Die Erzählstimme vergleicht den Jugendfaktor beider Frauen, als wäre dieser Teil einer von Tanjas Psyche unabhängigen Realität, tatsächlich beruht dieser Vergleich auf ganz subjektiver Eitelkeit. Er entspricht Tanja. Die Erzählstimme ist selbstobjektivierend. In diesem absurden Vergleich entsteht eine Erzählung, die sich als sowohl intern wie extern fokalisiert offenbart und uns eine Person vermittelt, die „über dreißig“ und „längst eine Frau“ ist, und die von sich glaubt, dass alle mit ihr „nachhause gehen wollten“. Narratologisch ist das bemerkenswert, weil hier interne und externe Fokalisierung in bizarrer Weise verbunden werden (und nicht einfach nur variabel sind); sich der Blick durch die Augen einer einzelnen Person als identisch mit dem Blick durch die Augen des (digitalen) Allgemeinen erweist. Tanja will genau als diese junge, attraktive Frau in den Augen der Anderen bestehen. Dies macht es schwer, die intern fokalisierende Erzählstimme als homobzw. sogar autodiegetische zu identifizieren, da das erzählte Ich irgendwie von außen kommt. Dieses „von außen“ konnten wir schon in Ninas und Victorias Lobhudelei für die erotische Qualität ihrer Liebhaber wahrnehmen, die wenig mit dem zu tun hatte, was wirklich zwischen den Sexualpartner*innen stattgefunden hatte. Das Außen erschien dort als pornographisches Setting, das die Frauen mit ihren 4.4 The Digital Other 119 <?page no="121"?> 177 Petery 2011, S.-11. Handlungen und Äußerungen einnehmen. Dieser Eindruck von Unechtheit wird in Randts Text noch verstärkt, ohne dass er von einer klar bestimmten filmischen Situation ausgehen würde. Sowohl von einem inneren Standpunkt als auch von einem externen Standpunkt erscheint die Figur Tanja eher ein Abziehbild zu sein als eine realistische und individuell gestaltete Figur. Sie kommt uns kaum wie ein echter Mensch vor. Wir können aber auch nicht genau sagen, ist welcher Art von Film sie mitspielt. Ihr Ich wird nicht plastisch, es zeigt sich nur in einem Nebel von Fremdbeschreibungen. Da Tanja sich jedoch selbst nur aus einer exzentrischen Perspektive heraus erkennen und ausdrücken kann, d.h. auf den Kamerablick angewiesen ist, erschließt es sich, dass sich in diesem Text die interne und externe Fokalisierung synthetisieren. Die Erzählstimme blickt nicht nur durch die Augen Tanjas auf die Welt, sie spricht als Tanja, nur dass diese Tanja gleichsam durch eine andere Stimme hörbar wird. Die Perspektive, von der aus uns Tanja gezeigt wird, ist weder die eines sich selbst gewissen Ichs noch die einer vom Ich deutlich unterschiedenen Instanz. Es ist die Perspektive des digital Other. Das Ich von Tanja bleibt ein simulierendes Ich, keines, das laut hörbar „Ich“ sagen kann. Die Identität der Figur wird dadurch entwickelt, dass sie die medial generierten Bilder zu kopieren vermag. Durch den Hang zu exzentrischer Selbstdarstellung noch stärker gezeichnet zeigt sich Constanze Peterys Figur. Die als Ich-Erzählung auftretende Stimme scheint aus einem Off zu kommen, denn auch hier sind interne und externe Fokalisierung gleichermaßen verbunden. Was nämlich hier als autodiegetische Erzählstimme ange‐ zeigt wird, denn die Figur sagt „Ich“, zeitigt erzähltechnisch den gleichen Effekt der Selbstobjektivierung wie in Randts Roman. Die ersten, vorab zitierten Sätze von Eure Kraft und meine Herrlichkeit führen uns nicht nur eine Figur vor Augen, deren Ich- Identität völlig fremdvermittelt ist, sondern auch eine Erzählstimme, die der aus Randts Roman entspricht. Diese Form der Erzählung resultiert aus einer Gegenwart, in der das idealistische Ich, das sich selbst wählt und über einen transzendentalen Status verfügt, einem medial vermittelten Ich gewichen ist. Das erzählende Ich der Gegenwart zieht sich zurück auf eine schon ausgeleuchtete Bildfläche; es schert nicht aus, sondern nimmt demütig seine/ ihre Rolle an. Die junge Frau in diesem Romanbeispiel sieht sich nur als Objekt. Sie feiert ihre eigene Verknechtung als reines Geschlechtswesen, als „Schlampe Aphrodite“. 177 (Diese Form der Selbst-Verknechtung, der freiwilligen Unterwerfung unter ein sexy Image kennen wir schon von Victoria und Nina.) Aufgrund ihrer Fixiertheit auf ein Image ist diese Ich-Figur jedoch auch nicht konkret wahrnehmbar, weder als Erzählstimme noch als Figur, durch die wir etwas über das Innenleben eines Charakters erfahren. Diese Ich-Figur ist entweder nicht wirklich vorstellbar oder, falls wir uns doch ein Bild machen wollen, erscheint sie uns nur als Abziehbild gegebener Vorstellungen eines cleanen, unsinnlichen Sexobjekts. Wir sehen sie so, wie sie uns auf der Leinwand oder einem Clip begegnen würde. Die Erzählfigur tagträumt von sich in millionenfach reproduzierten Klischees. Was wir vor uns sehen, bleibt abstrakt, 120 4 Der/ die innere Richter/ in, der männliche Blick auf sich selbst <?page no="122"?> 178 Ebenda. ist keine literarische Figur, die jenseits unseres filmischen Vorstellungsvermögens bestehen könnte, auch wenn wir ihr keine konkrete Vorlage zuordnen können. Wir können uns genaugenommen nicht einmal ausmalen, dass jemand in der erzählten Welt diese Frau tatsächlich als so betörend wahrnimmt. Wir können uns nicht einmal ausmalen, dass jemand in der erzählten Welt diese Frau tatsächlich so sehen kann. Was wir hören, ist ein von sich erzählendes Ich, welches sich als nichts anderes, denn als ein albernes Bildzitat wahrnehmen kann. Wir können diesem Ich keine Individualität zusprechen. Es befindet sich damit sowohl innerhalb als auch außerhalb der Erzählung. Diese selbstobjektivierende Erzählinstanz befördert auch intradiegetisch nur eine Wahrnehmung von sich selbst, die aus einem Irgendwo außerhalb des Erzählten stammt. Wir als Leser*innen denken die Figur als bildgerecht beschnitten und hören die Erzählstimme als eine medial devote („ich bin der Glamour, den alle so dringend brauchen“ 178 ), die der Macht des Medialen quasireligiös folgt. Ein bisschen fürchten wir auch um ihre geistige Gesundheit, und wenn wir sie uns vorstellen, verlassen wir den Raum des Erzählten zugunsten bekannter Werbe-Ikonografie. Die selbstobjektivierende Erzählweise fordert uns und unsere Phantasie nicht heraus, sie fordert dazu auf, die hier vorgestellten Figuren, sei es die attraktive Nachschwärmerin Tanja oder die namenlose blonde Flaneurin, im medial zugänglichen Bilderarsenal zu verorten. Diese Erzählstimme spricht laut von der Macht des digital Other. Sie ist nicht dort, von woher wir sie zu hören glauben. Die selbstobjektivierenden Erzählerstimmen sind gleichermaßen extern wie intern fokalisiert. Das Wissen der Figuren von sich ist beschränkt und Fake - sie sind im wahrsten Sinne des Wortes ihrer selbst nicht bewusst, gleichwohl handelt es sich nicht um unzuverlässige Erzähler*innen oder manifeste Lügen. Die Unzuverlässigkeit ‒ oder besser gesagt: die Unverlässlichkeit im Sinne von Schwammigkeit bzw. mangelnder Realitätsdichte ‒ dieser Form der Subjektivierung ist ein Phänomen, das durch die Erzähltechnik suggeriert wird, die einerseits auf der Selbstobjektivierung und anderseits auf den technisierten Mitteln der eigenen Bildgebung (gepostete Selfies usw.) beruht, welche letztendlich diese Erzähltechnik hervorgebracht haben. 4.4 The Digital Other 121 <?page no="124"?> 179 Lützen 1992, S.-165. 180 Kauer 2020/ 2021. 5 Das pseudo-konkrete Begehren als phallisches Phantasma Heterosexualität war ab dem Ende des 19. Jahrhunderts als die unumstrittene sexuelle Norm etabliert worden, die eine triebhafte, unausweichliche sexuelle Abhängigkeit zwi‐ schen Männern und Frauen postulierte. Aus einer eher affekthaften Sexualität wurde ein objektgerichteter Trieb; gerade für Männer sei es fast unmöglich, sich diesem Trieb nach weiblichen Objekten zu widersetzen, auch wenn er nicht von positiven Emotionen für das andere Geschlecht begleitet wäre, suche ein gesunder Mann nach sexuellem Kontakt. Das heißt nicht, dass gleichgeschlechtliche Sexualität in anderen Epochen erwünscht gewesen wäre, doch erst im 19. Jahrhundert wurde sie durch ein sexualwissenschaftliches Konzept von Homosexualität als Abweichung von der Norm pathologisiert. Die Einführung des Begriffs war ein wesentlicher Unterschied zu der früheren Ansicht, dass das Begehren rein zufällig, also auf vorher unbestimmte Weise aufflackerte: Meistens richtete sich das Begehren auf Personen des anderen Geschlechts, konnte aber auch dem eigenen Geschlecht gelten, wenn sich die Gelegenheit bot. Die Zufälligkeit des Begehrens wurde nun vollständig ausgerottet, es musste entweder das eine oder das andere sein - entweder heterosexuell oder homosexuell. 179 Der Sexualwissenschaft zufolge hatte sich das gesunde sexuelle Begehren von Män‐ nern demgemäß ausschließlich auf Frauen zu richten und das weibliche Interesse musste Männern gelten. Dieser Diskurs beeinträchtigte den weiblich-weiblichen Freundschaftskult im 20. Jahrhundert nachhaltig. Vor der Pathologisierung waren Frauenfreundschaften, auch mit Hang zu einer gewissen gleichgeschlechtlichen Erotik, für Frauen identitätsstiftend gewesen, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts galten sie jedoch als etwas Nebensächliches im Leben einer Frau. Inspiriert durch Sigmund Freud und durch die aufkommende Sexualwissenschaft änderte sich der Frauenfreundschaftsdiskurs. Menschen wurden wesentlich als Ge‐ schlechts- und Triebwesen verstanden. Die gefühlsintensive Frauenfreundschaft verlor ihre Unschuld. Exaltiert gelebte Freundschaftsbünde degradierten die befreundeten Frauen entweder zu Invertierten (= Homosexuellen) oder zumindest zu neurotischen Männerhasserinnen. Die Frauenfreundschaft, die nicht den Verdacht des Sexuellen auf sich zog, verlor im 20. Jahrhundert an Bedeutung, und die Frauenfreundschaft, die diesen Verdacht weckte, wurde pathologisiert. Im Patriarchat bemisst sich Weiblichkeit hauptsächlich daran, wie begehrenswert eine Frau für das andere Geschlecht ist. Je beschränkter die sozialen Anerkennungsprozesse für Frauen waren, desto augenfälli‐ ger wurden sie auf ihren geschlechtlichen Wert reduziert. 180 <?page no="125"?> 181 Chapman 1994. Dieser Ratgeber gilt als paartherapeutischer Klassiker, reproduziert dabei aber patriarchalische Gendervorstellungen. So werden Männer als trieborientierte Wesen aufgefasst und die Rollen im Liebesspiel klar verteilt. Auch wenn wir 30 Jahre später einer diversen Genderrealität gegenüberstehen und sich auch im common sense die Rollenmuster aufgeweicht haben, ist Chapmans Auffassung von einer gelingenden Paarbeziehung nicht grundsätzlich veraltet. Diese Reduktion der Frau als sexuelles Objekt geschah analog zu der Etablierung von Homosexualität als einer Kategorie für das andere, nicht normkonforme Begehren. Wollte ein weibliches Wesen nicht Zuschreibungen wie krank oder abnormal auf sich ziehen, hatte es die heterosexuelle Objektfunktion zu erfüllen. Allein über homosoziale Beziehungen zu Frauen, seien es Schwestern, Freundinnen, Mentorinnen, ließ sich die als normal geltende Identität nicht gewinnen. Die Frau bedurfte eines Mannes, der sie liebt (und begehrt) und damit als liebenswert (richtig) definiert. Die Kategorie ‚he‐ terosexuell‘ als Gegenbegriff zu ‚homosexuell‘, die die Heterosexualität normalisierte, problematisierte jedoch nicht nur die gleichgeschlechtliche Orientierung, auch die sexuelle Orientierung auf das andere Geschlecht war schwieriger geworden, denn sie war an feste Formen und Erwartungen gebunden, die für die Identität eines Menschen sinnstiftend waren. Den Status als heterosexuell erfolgreicher Mann resp. als heterosexuelle Frau zu erreichen, forderte einen erhöhten Aufwand an Genderbe‐ mühungen. Besonders als ‚heterosexuell‘ definierte Frauen hatten Mühe, sich den herrschenden Weiblichkeitsnormen zu unterwerfen, die nicht selten widersprüchliche Geschlechtsanweisungen enthielten. Wie in den vorangehenden Kapiteln gezeigt, haben sich im Laufe der Jahrhunderte diese Widersprüche sogar noch summiert. 5.1 Die heterosexuelle Beziehungsstruktur und die Reinheit der Frau Dass die heterosexuelle Beziehungsstruktur, auch in der Gegenwart, die sich im 21. Jahrhundert in einem diversifizierteren Bild zeigt als zu Beginn des 20. Jahrhun‐ derts, nicht als Selbstläufer gelten kann, beweist der Blick auf den großen Markt für Beziehungsratgeber. Er speist sich aus dem Bedürfnis, dass Menschen als erfolg‐ reich Liebende auftreten möchten, jedoch nicht genau wissen, wie sie ihre Rolle in einer heterosexuellen Partnerschaft ausfüllen sollen. Die Liebe zwischen Mann und Frau, die Dauerhaftigkeit des Begehrens ist eine widrige Angelegenheit, die einiger Anpassungsleistungen bedarf und sich mitnichten immer wie von selbst ergibt. Paartherapeutische Ansätze und Buchtitel wie Die Fünf Sprachen der Liebe 181 verdeutlichen, dass eine Beziehung zwischen Mann und Frau als etwas Erlernbares angesehen wird. Heterosexuell Liebende sind dazu aufgerufen, ihre Liebe und ihr Begehren zueinander wach zu halten. Die heterosexuellen Codes als eine Sprache zu definieren, die es einzuüben gilt, ist kulturwissenschaftlich betrachtet durchaus richtig. Das heterosexuelle Begehren gilt als eine Quelle, die dem Menschen Sinn und Identität verleiht und ihn (scheinbar) von den Familien-, Verwandtschafts- und Freund‐ schaftsnetzwerken abkoppelt, die die sozialen Beziehungen innerhalb patriarchalischer 124 5 Das pseudo-konkrete Begehren als phallisches Phantasma <?page no="126"?> 182 https: / / www.mundmische.de/ bedeutung/ 24554-Schliess_die_Augen_und_denk_an_England [letz‐ ter Zugriff im August 2022]: „Schließ die Augen und denk an England! Im viktorianischen Zeitalter bereiteten Mütter und Gouvernanten mit diesem Ratschlag junge Mädchen auf die Hochzeitsnacht und die Erfüllung der ehelichen Pflicht vor. Angeblich sogar von Queen Victoria persönlich verwendet. Heutzutage in diesem Kontext (hoffentlich) nicht mehr benutzt, aber als Variante von ‚Augen zu und durch‘ immer noch im Gebrauch.“ 183 Cardi B und Megan Thee Stallion (featured artist), veröffentlicht auf dem Album „WAP“, 2020. Systeme auch regieren. Das ideale heterosexuelle Paar soll allen Widerständen, die ihnen gesellschaftlich entgegengehalten werden, durch die Kraft ihrer sexuellen Verbindung trotzen können. Diese Kraft kann Standesgrenzen, Herkunftsunterschiede und sogar Kommunikationsgrenzen überwinden, ist transgressiv; sie muss allerdings auf umsichtige Weise aktiviert werden, um nicht die soziale Ordnung zu stören. Sich als heterosexuell und liebenswert zu profilieren, ist, vor allem für Frauen eine knifflige Aufgabe, denn sie sollen zwar ihr Begehren auf Männer richten, sind aber dazu angehalten, sich (als das schwache und passive Geschlecht) eher als liebenswerte und -würdige Objekte zu beweisen, die in erster Linie selbst begehrt werden, statt lauthals ihre Begehrlichkeiten kundzutun. Etwas flapsig ausgedrückt ließe sich sagen, dass weibliche Heterosexualität, vor allem historisch gesehen, sich mehr ‚hetero‘ (gerichtet auf Männer) als ‚sexuell‘ ausnehmen sollte. Die Artikulation der eigenen Sehnsüchte (nach einem Mann) darf sich nicht als ungebändigter und manischer Eroberungswillen äußern, eine anständige Frau begehrt im Stillen, bietet sich an und wartet darauf, erwählt zu werden. Dies war bis zur zweiten Welle der Frauenbewegung der Tenor der Mädchenerziehung, Frauen wurde ein aktives Interesse an Körperlichkeit und Lust abgesprochen, oder es wurde zumindest nicht goutiert. Ihr heterosexuelles Begehren durfte sich nur durch eine Sehnsucht nach Liebe und nach Mutterschaft ausdrücken. Der sexuelle Akt sollte, so wurde es bürgerlichen Frauen anerzogen, nur als, manchmal auch unangenehme, (eheliche) Pflicht empfunden werden. Die idealtypische Frau hatte sich in bürgerlichen Kontexten nach Zärtlichkeit, nach emotional unterfütterter Intimität, nicht nach Orgasmen zu sehnen. Die viktorianische Redensart „Schließ die Augen und denk an England! “ entstammt dem Ressentiment gegen weibliche Lust. 182 Diese lustfeindliche Vorstellung trifft nicht mehr zu, aber es gibt dennoch diskursive Einschränkungen, die Frauen behindern sollen, ihr sexuelles Interesse auf dieselbe Weise, wie Männer es tun dürfen, zum Ausdruck zu bringen. In der Popkul‐ tur der Gegenwart reagieren Künstlerinnen wie Cardi B. auf diese patriarchalische Erzählung weiblicher Lustverleugnung bzw. weiblicher Passivität, indem sie offensiv ihre aktive Position im Spiel der Heterosexualität und beim sexuellen Akt betonen. Obwohl sexpositivistische Diskurse seit der Jahrtausendwende verbreitet sind, zeigt die Rezeption des Songs WAP 183 , dass, zumindest aus konservativer Sicht, die dort zum Ausdruck kommende weibliche Genderrolle als falsch und als unwürdig deklariert wird. Weder die schrille Darstellung noch die laute Verbalisierung weiblicher Lust treffen auf einen breiten Konsens. Mit ihrem Lustaufschrei, ihrer Hypersexualisierung, ent-sexualisieren sich die beiden sexpositivistischen Künstlerinnen in den Augen des (strengen) Patriarchats, weil sie mit ihrer aktiven Haltung die Rolle des Objekts 5.1 Die heterosexuelle Beziehungsstruktur und die Reinheit der Frau 125 <?page no="127"?> 184 Dürrholz 2020. abwerfen, ihre eigene Subjektivität zu stark betonten. Dies ist deshalb für Frauen unangebracht, weil es der herkömmlichen Logik der Heterosexualität widerspricht, in die ein Machtverhältnis eingeschrieben ist. Diesem Machtverhältnis gemäß nimmt der Mann die aktive (begehrende) Rolle ein. Nun hat der Song für einige Furore gesorgt, denn sein Text ist wirklich explizit. Cardi B. und Megan Thee Stallion rappen, grob zusammengefasst, von sehr feuchten Scheiden […]. Sie beschreiben, welche Sexualpraktiken sie dabei besonders bevorzugen und machen nicht unbedingt dezente Vergleiche […]. So weit, so gewöhnlich. Dies ist schließlich nicht der erste Rapsong, in dem es um Sex, Stellungen, Praktiken und Vorlieben geht, und nicht das erste Musikvideo, in dem sich spärlich bekleidete Frauen schütteln. Trotzdem hat „WAP“ die Gemüter erhitzt. Konservative Stimmen in den Vereinigten Staaten fordern ein Verbot des Songs […]. Der republikanische Politiker James P. Bradley etwa schreibt auf Twitter: „Cardi B und Megan Thee Stallion zeigen, was passiert, wenn Kinder ohne Gott und ohne eine starke Vaterfigur aufwachsen. Als ich - versehentlich - ihren neuen Song hörte, wollte ich mir heiliges Wasser in die Ohren spritzen, und ich habe Mitleid mit künftigen Mädchengenerationen, wenn das ihre Rollenvorbilder sind.“ […] Was aber macht jetzt ausgerechnet diesen Song so kritikwürdig? 184 Die Antwort auf diese Frage ist aus einer patriarchalischen Denkungsart heraus nicht allzu schwer zu beantworten: Es ist nicht die zur Schau gestellte Sexualisierung oder die „nicht unbedingt dezenten Vergleiche“, die im Genre Rap, das bedient wird, gang und gäbe sind, sondern der Abgang von der passiv-weiblichen Position im Spiel der Heterosexualität, den die Frauen hier vornehmen. Die heterosexuelle Sprache der Liebe/ des Begehrens als eine offensive Penetrationseinladung an Männer bzw. als Vorliebe für nicht prokreative Praktiken wie Cunnilingus zu artikulieren, mag für die Rapperinnen kommerziell erfolgreich sein, ist aber tatsächlich, zumindest wenn wir zeitlich etwas weiter zurückgehen, nichts, womit Frauen skriptgemäß das Spiel ihrer Weiblichkeit aufführen. Sie disqualifizieren sich damit als süße Liebesobjekte und spielen mit rassistisch unterfütterten Vorstellungen von „schwarzen Frauen“ imaginiert als „dunkler Kontinent“. Ihre sexuelle Präferenz für Männer nicht mit Gefühl oder Beziehungssehnsucht, sondern nur mit körperlicher Lust zu assoziieren, erweist sich als nicht patriarchatskonform. Die väterliche Instanz („wenn Kinder ohne Gott und ohne eine starke Vaterfigur aufwachsen“), die über den Anstand der Mädchen wacht, ist in gewisser Weise entthront. Die Künstlerinnen verweigern sich der, immer noch, herrschenden Genderideologie, die mit Whiteness im Bunde steht. Das Privileg als reine Frau zu gelten, war für Frauen aus niederen Klassen und für PoCs von jeher schwerer zu erreichen. Hier wird es demontiert. Zwar machen sich scheinbar auch Victoria, die ihren Vater bewusst ablehnt, und Nina, die keine Vaterfigur hat, einer Übertretung ihrer sexuellen Position als süße, rein passive Objekte schuldig, aber bei genauerer Betrachtung rückt ihr Eroberungswillen nicht wirklich von der 126 5 Das pseudo-konkrete Begehren als phallisches Phantasma <?page no="128"?> 185 Olivia Newton-John, veröffentlicht auf dem Album Physical, 1981. Objektrolle ab. Beide Frauenfiguren spielen (wie wir im vorherigen Kapitel gesehen haben) Pornodarstellerinnen nach. Ihre Posen dienen weder ihrer Lust, noch sind sie „selbstgewählt“, sondern sie dienen dazu, dem male gaze zu entsprechen (und der Inzenierung als Lustobjekt). Da sie als Regisseurinnen ihres eigenen Films aktiv diese pornographische Vorstellung von Sexualität für ihre Partner zur Aufführung bringen und den Männern ihre Rollen als Konsumenten zuweisen, wirken sie wie selbstbewusste Akteurinnen und erreichen vorerst den scheinbaren Triumph einer leichten Verführung (da die Männer dem sexuellen Angebot nachkommen). Das Selbstbewusstsein ist aber ebenso unauthentisch wie die Behauptung ihrer sexuellen Lust. Die, wenn auch unauthentische, nur vor den Männern abgespulte, Aktivität beim Liebespiel lässt die Männer emotional auf Distanz gehen. Das, was die beiden jungen Frauen vorgeben zu sein, ist für die Männer nicht greifbar und es deckt sich auch nicht mit ihren patriarchalischen Vorstellungen, in der sie als Verführer auftreten wollen. Eine Befriedigung des weiblichen Begehrens nach Anerkennung bleibt längerfristig aus. Heterosexualität wird zwar praktiziert, die heterosexuelle Beziehung, die idealiter eine romantische Überhöhung finden sollte, scheitert, worunter besonders Nina, die sich auf Lennart fixiert hat, leidet. Anders als die Rapperinnen hoffte sie, dass der junge Arzt mit Gefühlen auf ihre körperliche Schönheit und ihren sexuellen Einsatz reagieren würde. Die Lyrik von WAP suggeriert, dass die Rapperinnen sich nicht um Gefühle, die jenseits ihrer körperlichen Lust liegen, scheren. Genau das - die Verweigerung, sich vom Mann als emotional abhängig darzustellen - „macht jetzt ausgerechnet diesen Song so kritikwürdig“. Während Victoria und Nina den male gaze bedienen und deshalb durchaus als sexy (wenn auch nicht als wirklich liebenswert) gelten, überschreiten Cardi B. und Megan Thee Stallion diese männliche heterosexuelle Perspektive durch ihre allzu drastische, sexbetonte Agency. Es geht mir im Kontext dieses Kapitels nicht darum, Cardi B.s plumpe Sexualisierung als Emanzipation zu feiern, wohl aber darum zu betonen, dass - welche Intention die beiden Künstlerinnen auch immer gehabt haben mögen - WAP auch die spätmoderne, sexpositivistische Frauenrolle überschreitet, die Frauen in der Popkultur zugewiesen worden ist. Frauen agieren innerhalb der Popkultur, besonders im Genre der schwarzen Musik, schon immer als Sexobjekte, auch wenn sie es mit selbstbewusster Attitüde tun. Diese Funktion beinhaltete auch explizite Botschaften an die Zuhörerschaft. 1981, um einmal auf die Pophistorie zu verweisen, verkündete im Popsong Physical Olivia Newton-John die Forderung „Let’s get physical“, 185 was dem Song auf einigen Radiostationen zwar ein Verbot einbrachte, das „Sauberfrauimage“ Newton-Johns aber nicht nachhaltig beeinflusste. Die Sängerin agiert zwar sexy und (moderat) sexpositivistisch, sie bleibt aber zweideutig, denn ihre Aufforderung ist sowohl als Appell für körperintensiven Tanz als auch für (anschließenden) Geschlechtsverkehr lesbar. Selbst wenn ihre Aufforderungen einen sexuellen Akt intendieren, bleibt der Rahmen ihrer Agitation traditionell weiblich („love the simulation we’re dreaming in“), denn die agierende 5.1 Die heterosexuelle Beziehungsstruktur und die Reinheit der Frau 127 <?page no="129"?> 186 Vgl.: You sit there in your heartache / Waiting on some beautiful boy to / To save you from your old ways. / You play forgiveness / Watch it now, here he comes / / He doesn’t look a thing like Jesus / But he talks like a gentleman / Like you imagined when you were young“. Song: „When You Were Young“ der amerikanischen Rock-Band The Killers, erschienen auf dem Album Sam’s Town, 2006. weibliche Person zeigt sich nicht aggressiv und auf ihre Lust fixiert, sondern stellt sich träumerisch-leidenschaftlich, als Objekt des männlichen Begehrens, dar. Damit unterscheidet sich das als weiblich gelesene lyrische Ich deutlich von der Artikulation weiblicher Wünsche in dem 40 Jahre jüngeren Song WAP. Diese Differenz betrifft die Genderrolle. In ihrer Geschlechtsäußerung nähern sich Stallion und Cardi B. der männlichen Sprecherposition an, obwohl sie eindeutig eine weibliche Genderidentität für sich in Anspruch nehmen. Sie heben die Rollenverteilung im heterosexuellen Spiel auf und verwirren damit ihre Wahrnehmbarkeit als „richtige“ (und begehrenswerte) Frauen. Ihre hyperbolisch sexpositive Agency unterminiert ihre Fuckability. 5.2 Weibliches Begehren als willful act Für Frauen gilt, dass sie ihre heterosexuelle Orientierung ihrer homosozialen Veror‐ tung gegenüber privilegieren und als lebensbestimmender werten. Das Begehren für Männer soll über der Zuneigung zu ihrer Freundin oder über der Bedeutung anderer Beziehungen stehen, was aber dennoch nicht die Ermächtigung beinhaltet, im Spiel des Begehrens anders als Liebes- und Lustobjekt zu agieren. Selbst der spätmoder‐ nen pornographischen Identifizierung einer Frau liegt der Duktus des Gefallen- Wollens zugrunde, weit mehr als die Kraft des Strebens nach eigener körperlicher Befriedigung. In vielen Texten sind wir damit konfrontiert, wie weibliche Figuren ihr Begehren für Männer ausdrücken. Der weibliche Ausdruck einer Liebessehnsucht untersteht dem Verbot, zu aggressiv ausgesprochen zu werden, weil Schrillheit Männer nur verschrecken würde, sie ent-männlicht oder zu hörigen Sklaven und mehr oder weniger eifrigen Konsumenten weiblicher Sexualität degradiert. Die rastlose Sexualität steht allein Männern zu. Frauen richten ihr Begehren daher nicht nur auf Männer, weil man sie gelehrt hat, diese begehrenswert zu finden; sie begehren Männer auch so, wie man es sie gelehrt hat. Ihnen sind allzu konkrete Äußerungen ihrer Wünsche nicht gestattet, ihr Begehren nimmt keine konkrete Gestalt an oder berechtigt sie dazu, den Männern konkrete Handlungsanweisungen zu geben, wie sie sie befriedigen sollen (es sei denn, diese Anweisungen sind einem Porno entlehnt.) Die Sehnsucht nach dem Mann bleibt chimärisch und äußert sich in einer pseudo-konkreten Form. Das weibliche Begehren beruht auf einem Phantasma. Unter Phantasma wird eine innere Vorstellung verstanden, die kulturell vermittelt ist und deren Bedeutung darin besteht, dass sich das Subjekt durch diese Vorstellungen zu konstituieren vermag. Die Idee vom Märchenprinzen bzw. einer männlichen Retterfigur, die das Mädchen aus ihrer unbefriedigenden Alltäglichkeit herausholt, 186 ist ein solches Phantasma, das Mädchenpsychen regiert. Sänger, Schauspieler und 128 5 Das pseudo-konkrete Begehren als phallisches Phantasma <?page no="130"?> 187 Der Mitte des Jahres 2023 medial virulente Skandal um die deutsche Rockband Rammstein zeigt, dass die konkrete sexuelle oder sexualisierte Interaktion mit dem verehrten Sänger, in dem Fall Till Lindemann, sich für einige der Groupies als enttäuschend erwies und als sexueller Übergriff empfunden wurde. Er wird darüber hinaus verdächtigt, sich die meist, vergleichen mit ihm, noch sehr jungen weiblichen Fans durch Drogen sexuell gefügig gemacht zu haben. Was auch immer die juristischen Untersuchungen ergeben werden, die Demontage des Phantasmas als Mann, der unlauter, promisk und sexuell unbeherrscht agiert, verdeutlicht, dass die Unerreichbarkeit eines phantastisch umgarnten Mannes seinem Status dienlich sein kann. Sobald mit dem Phantasma interagiert wird, sind Enttäuschungen vorprogrammiert. Vgl. Der Spiegel [2023] Nr.-24, S.-9-15. 188 Vgl. Lacan 1991, S.-230. andere Figuren des öffentlichen Lebens erweisen sich für viele, meist eher junge Frauen als perfekte Verkörperungen dieses Phantasmas. Die ihnen persönlich völlig unbekannten Männer werden verehrt, begehrt, umgarnt und umjubelt. Frauen empfinden tatsächlich heiß und innig für sie, aber diese Männer bestehen nur aus pseudo-konkreten Umrissen, gespeist aus der eigenen Phantasie. Das Begehren der Frauen ist phantasie-, nicht realitätsgefüttert. Die weibliche Begeisterung beruht darauf, dass diese Männer einem Standard entsprechen, also darauf, dass sie durch ihre Männlichkeit zu Berühmtheit gelangt sind, sie erwuchs nicht aus einer Interaktion. In den meisten Fällen wäre eine Interaktion zum Scheitern verurteilt, wenn sie den Raum der Phantasie verließe. 187 Diese inneren Bilder (vom Mann, der das weibliche Begehren weckt) haben jedoch Konsequenzen und bleiben nicht im Imaginären, sie bestimmen das Handeln der Person. 188 Der Märchenprinz wird gesucht und den Männern, mit denen tatsächlich interagiert wird, wird dieses Bild übergestülpt bzw. die Wahrnehmung der Männer richtet sich nach diesem Bild. Wenn von Phallus in diesem Buch die Rede ist, dann wird damit nicht auf die wörtliche Bedeutung des erigierten Penis angespielt, sondern das, wofür der Phallus symbolisch in der patriarchalen Kultur steht: Macht, Dominanz, Autonomie. Für dieses Symbol gibt es kein weibliches Äquivalent. Weibliche Genitalien, ob im erregten Zustand oder nicht, gelten nicht notwendigerweise als Symbol für Macht, Dominanz und Autonomie. Sie sind symbolisch, wie es im frühneuzeitlichen Englischen hieß, ein something nothing, was als hervorragende Beschreibung des Gegensatz zu ‚phallisch‘ dienen kann. Ein phallisches Phantasma wird hier als imaginierte Möglichkeit einer Frau, an der Macht zu partizipieren, ihr Nicht-Sein zu überwinden, verstanden. Ziel ist es, das Begehren des dominanten Mannes zu wecken, womit sich das Verlangen tautologisch vielmehr auf die eigene Selbstaufwertung richtet. Nicht jede Männerfigur eignet sich dazu, als phallisches Phantasma vorgestellt zu werden. Körperliche Vorzüge allein sind dafür weniger ausschlaggebend als vielmehr der Status als hegemonialer Mann, der vom Körper abstrahieren kann. Der Begriff der hegemonialen Männlichkeit wurde von der australischen Soziologin Raewyn Connell in den 1990er Jahren 5.2 Weibliches Begehren als willful act 129 <?page no="131"?> 189 Olmi 2022, S.-146. eingeführt. Er beschreibt, welche Formen der Männlichkeit in einer Kultur als dominant angesehen werden. Es ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass auch Männlichkeit als phallisches Phantasma dienen kann, wenn sie nicht den Status des Hegemonialen gegenüber anderen Männlichkeiten innehat. Strukturell muss jedoch auch diese Männlichkeit über etwas verfügen, das die Frau symbolisch unterwirft. Was sich in gesellschaftlichen Kontexten unmerklich vollzieht, wird im literarischen Werk oft auf die Ebene der Bewusstheit gehoben. Weibliche Figuren in Texten machen sich im Ausmalen ihrer erfolgreichen Heterosexualität ausdrückliche Vorstellungen, wie ein Mann zu sein hat, wie er sie behandeln und erobern soll. Die männlichen Figuren, die in das Beuteschema der weiblichen Figur fallen, werden an genau diesen Vorstellungen gemessen. Damit entlarvt Literatur begehrte Männlichkeit oft als phallisches Phantasma, durch das die Individualität der männlichen Figur ausgeblendet ist. Die weiblichen Figuren schöpfen ihre weibliche Identität dementsprechend aus der Idee, von einem Mann (auf bestimmte Weise) geliebt und gewollt zu werden. Die Umsetzung des Phantasmas ist von Störeffekten begleitet und nicht selten völlig aussichtlos. Nina hatte sich nach der sexuellen Begegnung mit Lennart eine ganze Dramaturgie seiner Kontaktversuche zurechtgelegt, die sich in der Folge als völlig un‐ zutreffend erwiesen haben. Nicht er, sondern sie musste ihm buchstäblich nachrennen und die zähe Affäre wieder und wieder durch sexuelle Angebote in Gang bringen, letztlich lässt Lennart Nina, deren Verhalten er nicht versteht, fallen und widmet sich der Liebe zu seiner Exfreundin, mit der er erneut zusammenkommt. Es ist fast immer so, dass der Mann nicht so agiert, wie es die Wunschvorstellung der Frauenfiguren vorgibt oder sich der Mann auf andere Weise dem widersetzt, wie er der Ansicht der Frau nach sein müsste. Sie hatte immer davon geträumt, dass ein Mann sie so ansprach, dass ein Mann sie sah und ihr sofort erlag, aber dieser hier trug einen Anzug und eine Krawatte, Gel in den Haaren, und nichts an seinem Gesicht, an seiner Haltung gefiel ihr, sie musterte ihn mit bitterer Enttäuschung, warum er und nicht Mathieu? War er überwältigt? Würde er eines Tages überwältigt sein. 189 Kommt es zu erfolgreichen oder scheinbar erfolgreichen Interaktionen zwischen Mann und Frau (wie in dem Moment, als Nina den jungen Arzt Lennart, der gerade unfreiwillig zum Single geworden ist, weil seine langjährige Freundin sich von ihm getrennt hat, zum Oralsex verführt), wird diese Interaktion von Frauen oft anders bewertet und in das Prokrustesbett ihrer Phantasien gepresst. Ihr wird eine für ihre heterosexuelle Identität sinnstiftende Funktion zugesprochen. Nina malt sich schon eine Verlobung mit dem von ihr überrumpelten, unbeholfenen Geschlechtspartner 130 5 Das pseudo-konkrete Begehren als phallisches Phantasma <?page no="132"?> 190 Vgl. Žižek 1999. aus, nachdem sie Lennart physische Befriedigung verschafft hat. Für sie ist es aus‐ geschlossen, dass es sich für ihn nur um bedeutungslosen Gelegenheitssex gehandelt haben könnte, obwohl er sie kurz nach dem Akt nach Hause schickt und sich völlig unromantisch seiner Arbeit widmet, also keine großen Emotionen gegenüber Nina zu Schau trägt. Ähnlich rosige und mit schwärmerischen Vorstellungen aufgeladene Bilder entwickelt Nina, nachdem sie ihrer Schwangerschaft gewahr geworden ist, für ihre anstehende Mutterschaft, die sich dann allerdings den Träumen ebenso hart widersetzt und sich als grau und mühsam entpuppen wird. Bereits während und nach der Geburt wird Nina mit dem Scheitern ihrer Phantasien von einer mühelosen Entbindung und einem idealen Säugling konfrontiert. Schon die physische Erschei‐ nung ihres Babys ist ein schmerzvoller Schlag für Nina, die sich ein Werbefotobaby als Kind ausgemalt hatte. Ninas Enttäuschungen sind für die Leser*innen wenig überraschend. Als prekär lebende Single-Mum ist sie von allen Annehmlichkeiten ausgeschlossen, die der Spätkapitalismus finanzkräftigen Müttern anbietet, um die Mutterschaft glamourös auszugestalten. Sich den medial vermittelten Phantasmen von dem perfekten Säugling und der stets glückverheißenden Mutterschaft hinzu‐ geben, hätte sich Nina niemals leisten dürfen. Diese Werbeversprechen sind an Frauen adressiert, zu denen Nina nicht zählt. Selbst wohlhabende Frauen müssen sich mit unperfekten Babys und Geburten arrangieren. Der Markt bietet ihnen jedoch etwas Kompensation in Form von Wellness-Angeboten usw. Wäre die junge Mutter Nina in eine Familienstruktur eingebunden, hätte eine mütterliche Instanz ihre hochfliegenden Vorstellungen womöglich etwas erden können. Einsam und isoliert, wie sie ist, baute sie ganz auf Werbeversprechen. Die Überhäufung mit medial generierten pseudo-konkreten Bildern hält der Philosoph Slavoj Žižek für eine spätmoderne „Pest“, 190 der im bitteren Roman Lasse Nina vor allem hinsichtlich ihrer Mutterschaft auf tragische Weise erliegt. Mutter zu werden, erweist sich als ein für die weibliche Identität kaum abwendbares Phantasma. Der Idee, dass Mutterschaft eine Frau vervollkommnet, ist fast nicht zu entkommen. Da es allerdings auch Diskurse gibt, zum Beispiel den politischen, der die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft diskutiert, die auch negative Aspekte der Mutterschaft (ständige Überforderung, Karriereaus) präsent machen, sind es nicht die rosa gefärbten Wer‐ bebilder mit lächelnden Wonneproppen allein, die gemeinhin das Phantasma der Mutterschaft produzieren. Es ist daher für eine Frau nicht zwangsläufig so, dass sie die Vorstellung ein Kind zu haben, stets nur für ganz unproblematisch halten wird und sich wie Nina ausschließlich von süßlichen Babyphantasien tragen lässt. Jedoch halten die Schreckensbilder den Glücksversprechungen nicht die Waage. Bekanntermaßen sind viele Frauen von den realen Mühen des Mutterseins doch noch überrascht, den Herausforderungen aber um vieles besser gewachsen als die postadoleszente Frauenfigur in Lasse. Die meisten werdenden Mütter haben sehr konkrete Vorstellungen von ihrer Mutterschaft und gehen nicht einer abstrakten Idee 5.2 Weibliches Begehren als willful act 131 <?page no="133"?> von heiler Welt auf den Leim. Mutterschaft scheint mir ein besser ausgeleuchtetes Terrain zu sein als die Heterosexualität selbst. Es ist nicht unmöglich, die Vor- und Nachteile des Mutterwerdens vor der Entscheidung zu einer Schwangerschaft halbwegs realistisch zu betrachten, Bilder von dem zukünftigen Liebhaber allerdings bleiben im Patriarchat im Zuge ihrer Heterosexualisierung für eine Frau fast unwei‐ gerlich pseudo-konkret. Die gelungene Vorstellung von sich als Frau ist gekoppelt an die Vorstellung von einem Mann, der, auf die ein oder andere Weise standardisiert, seine Traumfrau umwirbt und durch seine Hingabe definiert. Das heißt nicht, dass die Phantasie vorgibt, dass die Umworbene zwangsläufig seine Ehefrau werden und, wie in alter Erzählung, zukünftig seinen Namen tragen wird, wohl aber, dass das die männliche Charmeoffensive und das Gefühl der Frau hofiert zu werden (courtship) den eigenen Status erhöht, weil der weibliche Begehrenswert dadurch validiert worden ist. Da Frauen im Spiel der Heterosexualität auf Männer angewiesen sind, ist es für sie erstrebenswert, ihre Phantasien vom Märchenprinzen anzuhäufen, deshalb gelten romantische Komödien, Liebesfilme bzw. -romane und Märchen auch als Genre, das als „Frauenfilm“ oder „Frauenliteratur“ tituliert und abgewertet wird. Tatsächlich bedienen sich Frauen dieser medialen Produkte häufiger als Männer, um tagzuträumen. Ein cineastisches Bild vom Mann zu begehren, day-dreaming, ist ein völlig sanktionsloser Akt. Schwieriger wird es, die Phantasien ins Leben umzusetzen. Es kommt nicht selten vor, dass Frauen ihre Hochzeiten und Liebesabenteuer von medialen Vorbildern inspirieren lassen, Äußerlichkeiten der Darstellung kopieren. Das eigene Liebesleben wird als umso gelungener empfunden, umso mehr es sich den Vorbildern angeglichen hat. Sowohl Fernsehformate wie Zwischen Tüll und Tränen, seit 2016 auf dem Privatsender VOX ausgestrahlt, als auch Sendungen wie 4 Hochzeiten - Von Braut zu Braut, seit 2019 auf demselben Kanal, dokumen‐ tieren einerseits, wie das Phantasma die Realität strukturiert und anderseits, wie es medial (re-)produziert und potenziert wird.Während in spätmodernen Texten das Phantasma durch Bildmedien genährt wird, sind die weiblichen Figuren älterer Texte durch einen romantischen Lektürekanon (hetero-)sozialisiert worden, der ihnen für ihr eigenes Leben Liebesansprüche und -aufgaben erteilte. Im Roman Madame Bovary (1856) von Gustave Flaubert wird die unglückliche Umsetzung des Phantasmas am Beispiel der Provinzschönheit Emma erzählt. Ihre Rolle als Arztgattin kann ihre romantisch induzierten Sehnsüchte nicht stillen, so dass sie sich andere Männer sucht, mit denen sie ihren Ehemann betrügt. Sie begeht Ehebruch, weil das beschauliche Leben an der Seite ihres Mannes zu wenig dem leidenschaftlichen Bild entspricht, das sie sich von ihrer Zukunft machte. Emma Bovarys Begehren, das sie erst auf den einen, dann auf einen anderen Liebhaber richtet, wird von dem Phantasma regiert und ist aus ihren Jugendlektüren kopiert. Sie begehrt wie die ihr als Vorbild geltenden weiblichen Romanfiguren einen verwegenen Adligen, der um die romantischen Träume von Frauen weiß, diese ausnutzt und Emma mühelos zu seiner Geliebten erklärt. Emma ersehnt weniger die sexuelle Erfüllung 132 5 Das pseudo-konkrete Begehren als phallisches Phantasma <?page no="134"?> durch ihn, sondern strebt danach, den verehrten Romangestalten gleichzukommen. Sexualität ist ein Instrument ihrer romantischen Selbstschöpfung, jedoch weigern sich die Liebhaber, nachdem sie mühelos die junge Arztgattin erobert haben, Em‐ mas Phantasie zu entsprechen und für sie einzustehen. Der Adlige lässt sie nach einiger Zeit fallen, weil ihn das Liebesspiel mit Emma langweilt. Anders als in den romanhaften Handlungsverläufen, die Emma als Vorlage für ihr Leben angenommen hat, ist dieser Verführer nicht bereit, mit ihr durchzubrennen und etwas für sie aufzugeben. Ihr zweiter Liebhaber ist bereits als Abkehr von ihren ursprünglichen Imaginationen lesbar, aber auch er, von dem sie schon weniger erwartet, handelt nicht ganz ihrer erträumten Liebesdramaturgie gemäß. Die Bitterkeit des Lebens holt Emmas süße Liebesträume ein und sie geht an ihrer, im wahrsten Sinn des Wortes, selbstsüchtigen Suche nach Glück zugrunde. Wie für die traumvernebelte Nina ist auch für Emma das Erlebnis der Mutterschaft, das mit der Mühe des Versorgens belastet ist, nichts worin sie sich wirklich investieren kann. Sie will wie Nina eine Heldin in einer rosigen Liebesgeschichte sein, keine Heldin des grauen Alltags. Ungeachtet dessen, dass Emma mit viel Ironie gezeichnet und als Antiheldin figuriert ist, selbstsüchtig und naiv agiert, bietet sie auch für spätmoderne Leser*innen noch viel Identifikationspotential. Obwohl Frauen in der Gegenwart nicht in gleichem Maße auf Männer angewiesen sind (als Versorger und gesetzliche Vormünder) wie die Frauen des 19.-Jahrhunderts, ist das Gelingen einer heterosexuellen Liebesbezie‐ hung weiterhin ein unerschöpfliches Thema für die weibliche Lebensrealität und für Romane, die von Frauen handeln. Verena Friederike Hasels Roman Lasse ist mehr als 150 Jahre jünger als der berühmte Text von Flaubert. Auch hier sehen wir eine junge Frau bei ihrer heterosexuellen Identifizierung den Raum der Imagination durchschreiten, aus der sie keinen Ausgang findet. Wie Emma erträumt sie sich als Arztgattin, anders als ihre literarische Ahnin kann sie nicht einmal eine traditionelle „Versorgerehe“ erreichen. Doch obwohl Emma bei der Suche nach einem Versorger reüssiert hat, ist sie von ihrer Rolle als Gattin gleichermaßen enttäuscht wie Nina von ihrer als alleinerziehende Mutter. Beide Frauen formen sich ein männliches Begehrensobjekt (Emmas Material ist der versierte Verführer Rodolphe, Ninas der unbeholfene Arzt Lennart) nach ihren imaginierten Vorgaben. Nur leider sind die Männer eben keine formbaren Rohstoffe, sondern eigenständige Individuen, die die sehnsüchtigen und liebeshungrigen Frauen in ihrem Leben weder wirklich brauchen noch längerfristig wollen. In beiden Fällen verweigern sich die männlichen Figuren dem Hirngespinst der Frau. Sie bedienen sich der weiblichen Gefügigkeit und ihrer sentimentalen Sehnsüchte, unterwerfen sich aber nicht dem Bild, das die Frau von ihnen entworfen hat. Der Mann des 19.-Jahrhunderts tut das ganz rücksichtlos und eigennützig, der Mann des 21. Jahrhunderts denkt gar nicht darüber nach. Hetero‐ maskulinität ist dadurch definiert, dass sie sich von den emotionalen Ansprüchen der Frauen freimachen kann. Sich als heterosexuell und hegemonial verstehende Männer sind sexuell auf Frauen angewiesen; der vulgärsprachliche Ausdruck cunt-struck simplifiziert in seiner Eindeutigkeit, worauf Heteromaskulinität beruht. Männer 5.2 Weibliches Begehren als willful act 133 <?page no="135"?> 191 Žižek 1999, S.-23. sehen Frauen als Sexualobjekte, romantische Gefühle muss der sexuelle Akt aber nicht implizieren, denn auf die Sexualität mit Frauen abzufahren, bedeutet nicht, sich von ihnen geschlagen zu geben. In dem Beispiel Lasse wird dem männlichen Gegenüber von der Frau die Rolle des sexuellen Connaisseurs geradezu aufgenötigt. Lennarts Heteromaskulinität ist gar nicht stark ausgeprägt. Er ist weder auf Jagd nach schönen Frauen, noch hätte er Nina aktiv umworben oder den sexuellen Kontakt mit ihr gesucht. Das Angebot, das Nina machte, wurde nicht ausgeschlagen, weil sie ihn geradezu penetrant verfolgte und sich verfügbar machte. Ihm ist die Heteromaskulinität nicht auf den Leib geschrieben, aber Nina drängt ihn in die Rolle des omnipotenten Mannes, der ein so deutliches Angebot von einer derart attraktiven Frau nicht ausschlagen kann, ohne sich vor den Kollegen als Weichei lächerlich zu machen. Mit dem Begriff des phallischen Phantasmas lässt sich bei der Analyse von Texten an die Oberfläche bringen, ob das Begehren, das die Frauen zum Handeln (zum Hoffen, erwählt zu werden, zum stillen Werben, zum Träumen) bewegt, ein gänz‐ lich phantasiegefüttertes ist, sich also nur als pseudo-konkret erweist, oder ob es etwas weniger abstrakt die Männerfigur tatsächlich meint, auf die es gerichtet ist. Ist die männliche Figur, die begehrt wird, stärker konturiert oder erscheint sie als austauschbar, eignet sich als Leitfrage. Natürlich sind die Grenzen oft verschwommen, aber eine Unterscheidbarkeit erscheint mir möglich. Das dem Phantasma unterstellte Begehren ist der Wunsch, über den Mann seine eigene Subjektposition zu erlangen. Der Mann, der sich als leere Folie erweist, scheint von einer Metaebene aus betrach‐ tet austauschbar, der weiblichen Figur selbst kommt ihr Begehren dringlich und authentisch vor. Für die Leser*innen des Romans Lasse ist es offensichtlich, dass nicht konkret Lennart mit seinen Pickeln, seinem leichten Übergewicht, seiner pragmatisch langweiligen Art in der alleinstehenden Langzeitstudentin Nina durch Charisma und eine unverwechselbare Persönlichkeit den Wunsch pflanzte, seine feste Partnerin zu werden. Es ist die abstrakte Vorstellung, durch ihn, gerade in dem Moment, als sie ein Kind von ihm zu erwarten beginnt, in eine andere Lebensphase eintreten und die studentische, ihr nichtssagend erscheinende Existenz hinter sich lassen zu können, um im bürgerlichen Leben verankert zu werden. Während sie ihn oral befriedigt, hängt sie Tagträumen darüber nach, als welche Frau sie von nun an erscheinen möchte. Der Akt, wie im vorigen Kapitel zitiert, ist davon begleitet, dass sie sich selbst in einem neuen Licht imaginiert. Sie entwirft ein frisches Bild von sich, das durch Lennart gestützt ist und dieses antizipierte Selbstbild ist ihr sexueller Stimulator. In Ninas stream of consciousness äußert sich nicht „das eigene [Begehren] des Subjekts“, sondern das Begehren als Objekt, „sich selbst als ‚wertvoll für das Begehren des Anderen‘ wahr[zu]nehme[n]“. 191 „Die ursprüngliche Frage des Begehrens ist nicht geradeheraus 134 5 Das pseudo-konkrete Begehren als phallisches Phantasma <?page no="136"?> 192 Ebenda. ‚Was will ich? ‘, sondern ‚Was wollen andere von mir? Was sehen sie in mir? Was bin ich für die anderen? ‘“ 192 Die Sehnsucht zweier Teenagermädchen nach einer heterosexuellen Beziehung, die ihnen in der amerikanischen Gesellschaft der 1960er Jahre den rechten Platz zuweist, wird in Emma Clines Erfolgsroman The Girls unmissverständlich als ein Phantasma dekonstruiert. Das Begehren, das die Mädchen gegenüber den Jungen entwickeln, ist von den männlichen Figuren völlig abstrahiert. Nur die Abstraktion von dem tatsächlichen männlichen Gegenüber, der Mangel an Konkretion, der ihre Sehnsüchte ausmacht, lässt das Begehren überhaupt aufkeimen. Die begehrten Jungen bestehen nur aus unklar konturierten Traumgebilden. Diese Konturen füllen die Mädchen mit ihren inneren Bildern und begehren die phantasiegefütterten Gestalten innig. Dadurch identifizieren sie sich als heterosexuell. Die ersten beiden Kapitel des Romans werden der adoleszenten Heterosexualisierung, die als Begehren nach einem phallischen Phantasma artikuliert ist, gewidmet. Für die junge Evie bietet sich der eigentlich weder auffallend attraktive noch wirklich liebenswürdige Nachbarjunge als phallisches Phantasma an, in den sie sich auf eine pseudo-konkrete Weise verliebt. Die nachbar‐ schaftliche Situation verhilft zu einigen losen Kontakten. Seine attraktive Freundin Pamela profiliert ihn zum Begehrensobjekt, denn ihm als Freundin anzugehören, für ihn überhaupt in Frage zu kommen, würde Evie als weibliches Wesen auf eine ähnliche Stufe heben wie die von ihr bewunderte Pamela. Diese junge Frau hat bereits eine erwachsene weibliche Ausstrahlung, die jüngere sieht in ihr eindeutig ein Vorbild. In diesem Augenblick drehte er sich zu einem Geräusch an der Eingangstür um, einem Mädchen in Jeansjacke, ihre Konturen hinter dem Fliegengitter verwischt. Pamela, seine Freundin. Sie waren fest zusammen, regelrecht voneinander durchdrungen; trugen ähnliche Klamotten, ließen auf dem Sofa stumm die Zeitung zwischen sich hin und her wandern oder schauten Solo für O.N.C.E.L. […] Sie glichen Erwachsenen, auch in der Art, wie sie mit einem müden Schlenker des Handgelenks die Asche von ihrer Zigarette schnipsten. „Hey, Evie“, sagte Pamela. Für manche Mädchen war es leicht, nett zu sein. Sich den Namen von anderen zu merken. Pamela war schön, keine Frage, und ich spürte das unterschwellige Hingezogensein zu ihr, das jeder bei schönen Menschen spürt. Die Ärmel ihrer Jeansjacke waren bis zu den Ellbogen hochgeschoben, der Eyeliner ließ ihre Augen aussehen, als stünde sie unter Dope. Ihre 5.2 Weibliches Begehren als willful act 135 <?page no="137"?> 193 Cline 2016b, S. 48f.; vgl. Cline 2016a, S. 45f.: „He turned then at a noise from the front door, a girl in a denim jacket, her shape muffled by the screen. Pamela, his girlfriend. They were a constant couple, porous with each other; wearing similar clothes, silently passing the newspaper back and forth on the couch or watching The Man from U.N.C.L.E. […] They were like adults, even in the way they flicked the ashes of their cigarettes with weary snaps of the wrist. ‘Hey, Evie,’ Pamela said. lt was easy for some girls to be nice. To remember your name. Pamela was beautiful, it was true, and I felt that submerged attraction to her that everyone felt for the beautiful. The sleeves of her jean jacket were bulked at her elbows, her eyes doped looking from liner. Her legs were tan and bare. My own legs were dotted with the pricks of mosquito bites I worried into open wounds, my calves hatched with pale hairs.“ 194 Vgl. Kauer 2009. nackten Beine waren gebräunt. Meine waren mit den Malen von Moskitostichen getüpfelt, die ich zu offenen Wunden aufkratzte, meine Waden mit blassen Härchen gestrichelt. 193 Sie entlehnt ihre Phantasie von Vereinigung und Begehrt-Werden den patriarchalisch geprägten Erzählungen. Umso misogyner und konservativer das gesellschaftliche Umfeld ist - was auf das Lokalkolorit von Emma Clines Roman zutrifft -, umso unausweichlicher ist die heterosexuelle Identifizierung mit einem phallischen Phan‐ tasma. Der Mann wird nicht in seiner Individualität betrachtet, weder seine auffällige Körperlichkeit noch seine schroffe Persönlichkeit interessieren. Er wird als Phallus, der Signifier der Macht, begehrt. Dieser verleiht ihm die Fähigkeit, der Frau ihre Rolle zuzuweisen und sie als Frau anzuerkennen. Die Autorin Emma Cline (* 1989), die nach der zweiten Welle der Frauenbewegung geboren wurde, möchte in dem Roman eigentlich homosoziale Bindungen zwischen Mädchen - wie es der Titel nahelegt - zeigen. Er erzählt die lebensprägende Zuneigung der heranwachsenden Evie zu einer jungen Frau, die sich als exzessive Schwärmerei gestaltet. Suzanne ist die post-adoleszente Anführerin eines Clans um Russell. Russell wiederum stellt eine Figur dar, die an den legendären Mörder Charles Manson und den Manson-Kult erinnern soll. Clines Anspruch ist es, diese negative Ikone der amerikanischen Populärkultur aus einer weiblichen Perspektive zu beleuchten. Der Roman versucht zu erklären, warum sich Mädchen um diesen Massenmörder scharten. Welche Nöte bewogen sie, sich in seinen Bann ziehen zu lassen? Die Erzählzeit ist die, in der Evie bereits eine Frau mittleren Alters, unverheiratet, kinderlos und ohne romantische Beziehung ist. Sie erinnert sich an Ereignisse des Sommers 1969, als sie 14 Jahre alt war und über die strahlende Suzanne mit dem Clan in Berührung kam. Aus der Rückschau des erwachsenen Ichs beschreibt sie ihre emotionale Hingabe an die wilde Suzanne, für die sie damals wie im Heute der Erzählzeit keine Kategorie hat. Die Frauen - oder Mädchen (Girls: denn sie verweigern sich der bürgerlichen Weiblichkeit, die Women/ erwachsene Frauen ausmacht 194 ) - in diesem Roman leben nicht homosexuell, auch die Beziehung zwischen Evie und Suzanne fällt nicht in diese Kategorie. Im Gegenteil, der Roman erzählt drastisch, wie sich eine Gruppe junger Frauen von der charismatischen Leaderfigur Russell sexuell und emotional ausbeuten lässt. Es ist ein Roman, der heterosexuelle Strukturen zum Thema hat und den Zwang junger Mädchen unter die 136 5 Das pseudo-konkrete Begehren als phallisches Phantasma <?page no="138"?> 195 Cline 2016b, S.-46f.: „Ich wusste, dass ich Peter an diesem Abend sehen würde, deshalb hatte ich mir eine bestickte Bluse angezogen, und meine Haare stanken nach Haarspray. Einen Pickel am Kinn hatte ich mit einer beigefarbenen Abdeckung von Merle Norman betupft, aber sie sammelte sich am Rand und ließ den Pickel leuchten. Solange meine Haare an Ort und Stelle blieben, sah ich hübsch aus, jedenfalls glaubte ich das, und ich stopfte mir die Bluse in den Bund, damit man den Ansatz meiner kleinen Brüste, das von meinem BH erzwungene Dekolleté sah. Das Gefühl von Entblößung verschaffte mir ein banges Vergnügen, das mich aufrechter stehen ließ, und mein Kopf saß auf meinem Hals wie ein Ei im Becher.“ Cline 2016a, S.-43f.: „I knew I’d see Peter that night, so I’d worn an embroidered shirt, my hair foul with hairspray. I’d dotted a pimple on my jaw with a beige putty of Merle Norman, but it collected along the rim and made it glow. As long as my hair stayed in place, I looked nice, or at least I thought so, and I tucked in my shirt to show the tops of my small breasts, the artificial press of cleavage from my bra. The feeling of exposure gave me an anxious pleasure that made me stand straighter, holding my head on my neck like an egg in a cup.“ Lupe nimmt, sich, auch wenn es für sie demütigend ist, auf Männer einzulassen. Evie wird als ein Mädchen dargestellt, das, bevor sie Suzanne traf, gedanklich überhaupt keine Alternative dazu kennt, ihr ganzes Sehnen und Streben darauf zu richten, für männliche Wesen irgendwie begehrenswert zu sein. Das Bestreben, das Interesse von Männern zu wecken und zu gefallen, ist für sie gleichbedeutend damit, einen Mann zu begehren. Das Ziel zu gefallen verfolgt Evie geradezu hysterisch. Das Objekt ihrer Wünsche ist ein reines Zufallsobjekt, nämlich Peter; er ist der ältere Bruder ihrer besten Freundin, die auf dieselbe Art versessen ist, als fuckable wahrgenommen zu werden. Er eignet sich als Dreamboy einfach, weil er da ist. Es braucht nichts, was ihn dazu qualifiziert. Evie selbst erscheint die Zuneigung zu ihm unausweichlich. Bei einem Übernachtungsbesuch bei Connie, den sie nicht der Freundin zuliebe abstattet, 195 lässt sich Evie in ihr Phantasma gleiten: Während Connie duschte, war ich in Peters Zimmer gegangen. Es miefte nach etwas, das ich später als Masturbation erkennen sollte, ein klammer Riss in der Luft. Alle seine Besitztümer von rätselhafter Bedeutung durchdrungen: sein niedriger Futon, eine Plastiktüte voll mit aschig wirkendem Gras neben seinem Kissen. Handbücher für die Ausbildung zum Industriemechaniker. Das von Fingerabdrücken fettige Glas auf dem Boden war halb voll mit abgestanden aussehendem Wasser, und oben auf seinem Kleiderschrank lag eine Reihe glatter Flusskiesel. Ein billiges Kupferarmband, dass ich ihn manchmal hatte tragen sehen. Ich registrierte das alles, als könnte ich die persönliche Bedeutung jedes Gegenstandes entschlüsseln, die innere Architektur von Peters Leben zusammenpuzzeln. So vieles am Verlangen beruhte in diesem Alter auf bewusstem Vorsatz. Auf dem unendlich mühsamen Versuch, die rauhen, enttäuschenden Konturen von Jungen zur Form von jeman‐ dem zu verwischen, den wir lieben konnten. Von unserem verzweifelten Bedürfnis nach ihnen 5.2 Weibliches Begehren als willful act 137 <?page no="139"?> 196 Cline 2016b, S. 50; vgl. Cline 2016a, S. 47: „I’d gone into Peter’s bedroom while Connie was showering. It reeked of what I’d later identify as masturbation, a damp rupture in the air. All his possessions suffused with a mysterious import: his low futon, a plastic bag full of ashy-looking nugs by his pillow. Manuals to become a trainee mechanic. The glass on the floor, greased with fingerprints, was halffull of stale-looking water, and there was a line of smooth river stones on the top of his dresser. A cheap copper bracelet I had seen him wear sometimes. I took in everything as if I could decode the private meaning of each object, puzzle together the interior architecture of his life. So much of desire, at that age, was a willful act. Trying so hard to slur the rough, disappointing edges of boys into the shape of someone we could love. We spoke of our desperate need for them with rote and familiar words, like we were reading lines from a play.“ 197 Cline 2016b, S.-57; vgl. Cline 2016a, S.-54: „I remember noticing for the first time how loud she was, her voice hard with silly aggressiveness. Connie with her whines and feints, the grating laugh that sounded, and was, practiced. A space opened up between us as soon as I started to notice these things, to catalog her shortcomings the way a boy would. I regret how ungenerous I was. As if by putting distance between us, I could cure myself of the same disease.“ sprachen wir mit auswendig gelernten, vertrauten Worten, als läsen wir Texte aus einem Theaterstück. 196 Der Roman schildert die verzweifelte Suche nach weiblicher Identität, der im Patriar‐ chat nur ein enger Platz zugewiesen ist. Weiblichsein bedeutet Männer zu bewundern und entschlüsseln zu wollen. An ihrer geschiedenen Mutter und ihrer besten Freundin Connie erkennt Evie, dass auch diese Frauen von dem Wunsch nach Anerkennung durch einen Mann getragen sind, den sie nur durch eine peinlich anmutende Selbst‐ vermarktung verfolgen können. Sie erkennt deren krankhafte Positionierung auf dem sexuellen Feld, das durch Heteronormativität bestimmt ist, als etwas Abstoßendes, obwohl sie sich mit dem Verhalten der anderen Frauen, ihrem Buhlen um männliche Aufmerksamkeit identifizieren kann. Die Folge davon, dieses Verhalten eigentlich als würdelos zu empfinden, ist, dass aus homosozialer Nähe, dem Schicksal derselben Sozialisation, Missachtung füreinander und (Konkurrenzverhalten untereinander) erwächst. Ich weiß noch, dass mir zum ersten Mal auffiel, wie laut sie war, ihre Stimme hart von alberner Aggressivität. Connie mit ihrem Gewinsel und ihren Finten, dem grellen Lachen, das einstudiert klang und es auch war. Eine Kluft tat sich zwischen uns auf, sobald ich anfing, solche Sachen zu bemerken, Connies Mängel aufzulisten, wie es ein Junge täte. Ich bedauere, wie kleinlich ich war. Als ob ich mich dadurch, dass ich auf Distanz zu ihr ging, von derselben Krankheit hätte heilen können. 197 Evie unterwirft sich, ebenso wie ihre Freundin und Mutter, klaglos den Gendervor‐ schriften und versucht dem Weiblichkeitsideal, welches durch den male gaze determi‐ niert ist, zu entsprechen. Wie verzweifelt Connie und ich dachten, dass sich, wenn wir diese Rituale vollzogen - uns das Gesicht mit kaltem Wasser wuschen, uns vor dem Schlafengehen die Haare mit einer Bürste 138 5 Das pseudo-konkrete Begehren als phallisches Phantasma <?page no="140"?> 198 Cline 2016b, S. 45; vgl. Cline 2016a, S. 42: „How desperately Connie and I thought that if we performed these rituals - washed our faces with cold water, brushed our hair into a static frenzy with a boarbristle brush before bed - some proof would solve itself and a new life would spread out before us.“ 199 Barron 2016, S.-156f. aus Wildschweinborsten bürsteten, bis sie total aufgeladen waren -, dass sich irgendein Beweis von selbst führen und ein neues Leben vor uns ausbreiten würde. 198 Die Erzählstimme verkündet, dass diesem heteronormativen Zwang, sich auf Männ‐ lichkeit zu beziehen, etwas geradezu Mechanisches, nichts Gefühlsbetontes innewohnt. Wie das Bürsten der Haare, das Pflegen des Gesichts, ist das erlernte heterosexuelle Begehren in Clines Romans eine Disziplinarpraktik. Sie unterwerfen sich dem im vor‐ angegangenen Kapitel beschriebenen patriarchal Other. Die männliche Wahrnehmung bestimmt den Platz für Frauen und gibt ihnen ihre Existenzberechtigung. Die junge Evie gleitet in eine toxische Weiblichkeit. Der Roman normalisiert diesen Zwang, sich auf bestimmte Weise als weiblich zu identifizieren nicht; die Analysen der älteren Evie gegenüber ihrem jungen Ich lesen sich wie eine psychoanalytisch geschulte Abrechnung mit ihrer eigenen Unfähigkeit, sich den patriarchalischen Gesetzen zu entziehen, die sie, ihre Mutter und Connie zu hysterisch und verzweifelt um männliche Aufmerksamkeit konkurrierenden Menschen gemacht hat. In machohaften […] geprägten Kulturen, fällt die Hysterierung, die die sexuelle Initiation junger Frauen begleitet, deutlich auf. Wenn sie während der Pubertät mit ihren Körpern zu experimentieren beginnen und dafür die weiblichen Modelle ihres Umfelds nachahmen, werden sie quasi gesellschaftlich angestoßen (symbolisch und imaginär), ihren Wert als Weibchen zu beweisen und in die Welt, in der sie um die Aufmerksamkeit des Männchens konkurrieren, einzusteigen. Das Krankhafte dabei ist, dass diese Aufforderung widersprüch‐ licherweise von der Errichtung eines großen Sextabus begleitet wird. In der Übertragung verwandelt sich also Sex in etwas Schmutziges, wofür man sich schämen oder schuldig fühlen soll… zumindest als Frau. Ein Fräulein müsse natürlich immer aufpassen und auf der Hut sein (warum? ). Sex ist allgegenwärtig aber verboten, rätselhaft und bedrohlich; der verrückt machende Imperativ für die jungen Frauen ist, eine reine naive Sexbombe verkörpern zu müssen, die aber auf die wahre Liebe warten soll (um ihn dann zu befriedigen und dafür ein Wissen zu erwerben, das ihr gleichzeitig unzugänglich bleibt). Sie wird auf diese Weise reserviert für das ausschließliche Genießen des Mannes. Die hysterische Frage bzw. die Hysterie wird aus diesem Paradox geboren, denn, was will der Andere, nach all dem, von mir? […] Dies ist anscheinend der einzige Weg für Frauen, Anerkennung zu bekommen. 199 Die ersten beiden Kapitel beleuchten, wie junge Frauen darin eingeübt werden, sich nichts anderes wünschen zu können, als dass sich Männer von ihnen angezogen fühlen. Was will ER von mir? Die männliche Macht, die den begehrten Figuren zugesprochen wird, ist völlig von den Eigenschaften der Person abgelöst. In den Kapiteln, die ihre Zuneigung zu Peter erzählen, wird Peter nicht ein einziges Mal genauer von Evie betrachtet und beschrieben. Peter ist ein phallisches Phantasma, ohne Attribute. Er 5.2 Weibliches Begehren als willful act 139 <?page no="141"?> 200 Dasselbe bringt Annie Ernaux in Erinnerungen eines Mädchens (2016) zum Ausdruck. Die weibliche Hauptfigur verliebt sich in den Chefbetreuer, als sie das erste Mal den Sommer in einer Ferienkolonie verbringt. Der Grund für die Liebe liegt in seiner Männlichkeit und in seinem Status. Auslöser für ihre Gefühle sind allein, dass er sie will; Ernaux 2022, S. 43: „Sie ist aufgewühlt, weil er sie unverwandt anstarrt, während er sie eine Drehung nach der anderen machen lässt. Noch nie hat jemand sie mit so schweren Augen angestarrt. Er, das ist H, der Chefbetreuer. Er ist groß, blond, breitschultrig, mit kleinem Bauch. Sie fragte sich nicht, ob er ihr gefällt, ob sie ihn schön findet. Er wirkt kaum älter als die anderen Betreuer, aber für sie ist er kein Junge mehr, sondern ein richtiger Mann, wegen seiner Stellung, nicht so wegen seines Alters.“ 201 Cline 2016b, S. 39; vgl. Cline 2016a, S. 35f.: „I was an average girl, and that was the biggest disappointment of all - there was no shine of greatness on me. I wasn’t pretty enough to get the grades I did, the scale not tipping heartily enough in the direction of looks or smarts.“ 202 Auch diese Beobachtung wird von Ernaux’ „Erinnerungen eines Mädchens“ bestätigt. Hier spielt die Handlung ca. ein Jahrzehnt früher als in Clines Roman. Die weibliche Figur wird vom Chefbetreuer, dessen Lust und Obergewalt sie sich ausliefert, verführt. Sie empfindet, was ihr widerfährt, nicht als Vergewaltigung oder Nötigung, sondern die unangenehme physische Erfahrung ist für sie der Auftakt einer großen Liebe, die sich freilich beim männlichen Gegenüber nicht einstellt, obwohl die weibliche Figur seinen Wünschen nach besten Kräften nachzukommen versucht; Ernaux 2022, S. 44f.: „Er sagt: ‚Zieh dich aus.‘ Seit er sie zum Tanzen aufgefordert hat, hat sie alles getan, was er von ihr verlangt hat. Zwischen dem, was ihr passiert, und dem, was sie tut, gibt es keinen Unterschied. Sie legt sich neben ihn auf das schmale Bett, nackt. Sie hat keine Zeit, sich an seine absolute Nacktheit verfügt nicht über die fassbare Schönheit, die Evie seiner Freundin zusprechen kann. Sie lässt sich vom ihm verführen, wie später auch von Russell, der das Zentrum des Clans darstellt und der zu allen Mädchen toxische Beziehungen unterhält, die deren Würde bedrohen. Die Frage, ob den Mädchen diese männlichen Personen, sei es Peter oder Russel, wirklich gefallen, stellt sich nicht. 200 Männliches Begehren zu wecken, ist eine abstrakte Norm. Evie, Connie, Evies Mutter, aber auch die Mädchen um Russel sind in gewisser Weise als Frauen und Mädchen dargestellt, die diese Norm besonders eifrig zu erfüllen trachten. Sei es wegen ihres Körpergewichtes, ihrem Mangel an einem Beauty Privilege, dem Makel einer Scheidung oder aufgrund ihrer Herkunft, alle diese Frauen scheinen besonders hart darum kämpfen zu müssen, männliche Anerkennung zu finden. Evie empfindet sich als nichtssagender Teenager. Sie kann sich weder eine besondere physische noch eine herausstechende intellektuelle Qualität zuschreiben, im Vergleich zu der jungen Freundin ihres Vaters oder auch zu Suzanne fühlt sie sich als blasses, unbeschriebenes Blatt, um so angewiesener ist sie darauf, von einem Mann beschrieben und definiert zu werden. Ich war ein durchschnittliches Mädchen, und das war die allergrößte Enttäuschung - auf mir lag keinerlei Schimmer von Größe. Ich war nicht hübsch genug für die Noten, die ich bekam, die Waagschale neigte sich nicht kräftig genug in Richtung Aussehen oder Klugheit. 201 Wie durch das Zitat von Alejandra Barron belegt, ist der sexuelle Verkehr mit Männern für die weibliche Identität unausweichlich. Die Frage des sexuellen Genusses stellt sich dabei ebenso wenig wie die Frage des ästhetischen Gefallens. Im Gegenteil, die eigene Passivität, das Gefühl gewollt zu werden, ohne selbst aktiv etwas zu wollen, ist für die prekäre weibliche Identifizierung entscheidend. Dieses Gebot ist unausweichlich in der streng patriarchalen Kultur, in der Clines Romanhandlung spielt. 202 In den 140 5 Das pseudo-konkrete Begehren als phallisches Phantasma <?page no="142"?> zu gewöhnen, an seinen nackten Männerkörper, sofort spürt sie die Größe und Härte seines Glieds, das er ihr zwischen die Schenkel schiebt. Er versucht in sie einzudringen. Es tut ihr weh. Sie sagt, dass sie noch Jungfrau ist, als Verteidigung oder Erklärung. […] Sie wäre gern woanders, aber sie bleibt. […] Als hätte sie nicht das Recht, diesen Mann in dem Zustand zurücklassen, den sie in ihm ausgelöst hat. Mit dieser rasenden Lust. Für sie ist es unvorstellbar, dass er sie unter all den anderen ausgesucht hat - ausgewählt. Die Fortsetzung läuft ab wie ein Pornofilm, in dem der Mann den Takt vorgibt und seine Partnerin nicht weiß, was sie tun soll, weil sie keine Ahnung hat, was als Nächstes kommt. Er allein ist Herr der Situation.“ 203 Cline 2016b, S.-56; vgl. Cline 2016a, S.-53: „His dick smearing at my bare thighs. I would be shunted along whatever would happen, I understood. However he piloted the night. And there wasn’t fear, just a feeling adjacent to excitement, a viewing from the wings. What would happen to Evie? “ vorangegangenen Texten haben wir gesehen, dass durch die zunehmende Pornogra‐ phisierung das Vorgeben von Lust seitens der Frauen zu den heutigen Spielregeln zählt, um als Frau begehrenswert zu sein. Als die junge Evie sich von dem älteren Bruder ihrer Busenfreundin entjungfern lässt, spielt es weder für ihn noch für sie eine Rolle, ob der Akt ihr körperlich gefällt. Sie muss keine eigene Lust vorgeben, nur gefügig sein. Dreißig Jahre später, beim Aufkommen der dritten Welle des Feminismus, werden Mädchen bereits gelernt haben, Lust zu zeigen, nicht unbedingt, weil sie diese empfinden, sondern weil dies zum sexpositivistischen Imperativ geworden ist. Das, was Evie in diesem Textbeispiel erregt, ist nicht der Mann. Sie tut auch nicht so. Ihre Erregung und Aufregung, ihre Euphorie beruht auf dem Phantasma, der Imagination ihrer selbst als einer Frau, die der Begierde eines Mannes würdig ist und seine Lust befriedigen kann. Ihre Entjungferung ist allein begleitet von psychischer Befriedigung. Sein Schwanz schmierte über meine nackten Oberschenkel. Was auch immer passieren würde, ich würde durchgelotst werden, so viel begriff ich. Wie auch immer er die Nacht steuerte. Und Angst war keine da, bloß ein Gefühl, das an Erregung grenzte, ein Zuschauen aus den Kulissen. Wie würde es Evie ergehen? 203 Evie sieht ihrem Erfolg als heterosexuelle Liebhaberin zu wie dem einer dritten Person, die auf einer Bühne agiert. Es wird auch für Menschen mit weniger Leseerfahrung bereits in den ersten beiden Kapiteln deutlich, dass Evie eine Norm, die im feministi‐ schen Diskurs auch als ‚Zwangsheterosexualität‘ bezeichnet wird, zu erfüllen trachtet. Je stärker der Zwang für Frauen ist, sich auf diese Weise zu normieren, umso stärker tritt das Begehren der Frau in der dargestellten phantastischen Form in Erscheinung, das ganz abstrakt ausagiert wird. Evie fragt sich nicht nach ihren Wünschen, sie fragt sich, wie sie Peters Wünschen gerecht werden kann. Die Abspaltung des Ichs markiert den Schritt in ihre erträumte Realität. Sie möchte, vergleichbar mit der schönen Pamela, als Frau anerkannt sein und Peter ist ihr schmieriger Weg, sich diesem Ziel zu nähern, um sich von ihm, ihre Weiblichkeit validieren zu lassen. Natürlich ist jedes Begehren von Phantasie und der Sehnsucht nach Resonanz begleitet, doch die Frage stellt sich: Geht es um den abstrakten Phallus oder um den konkreten männlichen Körper in der weiblichen Imagination? Es ist aber durch diesen Begriff des phallischen Phantasmas möglich, im Sinne eines feministischen Analysetools zu unterscheiden, ob das Begehren sich konkret auf eine männliche Figur 5.2 Weibliches Begehren als willful act 141 <?page no="143"?> des Textes richtet, oder ob eher, wie hier von der Ich-Erzählerin ausgesprochen, seitens der Frau nur begehrt wird, an männlicher Macht zu partizipieren. Dazu wird den Vorgaben einer bestimmten Dramaturgie gefolgt. Subjekt und Objekt des Begehrens sind austauschbar. Die Artikulation des Begehrens gestaltet sich dann so, als folge die weibliche Figur einem Theaterstück. Peter ist nur in einer verwischten Form für Evie sichtbar, in der Phantasie wird er zu jemandem gemacht, den sie lieben kann. Es handelt sich nicht um spontane Anziehung, sondern das vermeintliche Begehren beruht „auf bewusstem Vorsatz“. Ich will ein Gegenbeispiel anführen, in dem die Frau bereits über einen festen Begriff von sich selbst verfügt und daher auch den heterosexuellen Partner als eine Person ansehen kann, die nicht nur als abstrakter Phallus, sondern ihrer selbst willen begehrt wird. Auch hier befinden wir uns in einem Umfeld, das durch das Patriarchat geprägt ist, in der erzählten Zeit sogar weit vor 1969. In Vicki Baums Roman Cahuchu hat Janet ihre Karriere als Chemikerin hinter die ihres Mannes zurückstellen müssen. Sie ist nicht weniger begabt, ist aber trotzdem nie auf dieselbe Weise wie er als Wissenschaftlerin ernst genommen worden. Das hindert sie nicht daran, unabhängig von der patriarchalischen Umgebung, sich als eine Fachfrau auf diesem Gebiet zu verstehen. Und als eine solche, die um die Schwierigkeiten des Berufs eines Chemikers weiß, liebt und begehrt sie ihren Mann, dessen Karriere erfolgreicher verläuft als ihre. Ihre Beziehung zueinander zeichnet sich durch eine gewisse Kameradschaft aus. Zuge‐ gebenermaßen spielt auch bei diesem literarischen Beispiel die höhere gesellschaftliche Position des Mannes eine Rolle für die Frau. Die Anerkennung ihrer Expertise seitens des Ehemannes vermag die gesellschaftliche Ignoranz auszugleichen, der Janet durch das männerdominierte Umfeld stets ausgesetzt ist. Sie ist für ihr Selbstbild durchaus auf seine Resonanz angewiesen, aber nicht auf eine pseudo-konkrete, sondern eine sachbezogene Weise. Dies markiert den Unterschied zu Evies Erfahrung mit Peter, der durch jeden anderen Nachbarjungen, der ihr etwas Aufmerksamkeit schenken würde, austauschbar wäre, weil Evie anders als Janet nichts am wirklichen Austausch mit dem männlichen Gegenüber liegt. Peters Funktion als phallisches Phantasma wird besonders deutlich, wenn sie mit der Funktion, die der Ehemann Jim in Janets Leben hat, kontrastiert wird. Sehen wir Jim durch die Augen seiner Frau, bekommt er eine persönliche Färbung, die seine Rolle als Mann von Status mit Eigenschaften jenseits der Statusfunktion füllt. Auch hier mischt sich Phantasie mit Wirklichkeit. Jims symbolisches Kapital ist für Janet nicht unerheblich. Es ist in die Phantasien seiner Frau eingebunden. Nur bleiben diese Vorstellungen nicht nur im Ungefähren, wir könnten auch sagen: sie sind gnädiger; sie haben etwas mit Janets und Jims Lebensumständen zu tun. Sie erkennt ihren Mann und will nicht nur von ihm als abstraktem Machthaber anerkannt werden: Wie jede Frau, die mit einem schöpferischen Mann verheiratet ist, hatte Janet zwei Ehemän‐ ner. Der eine war Jim zu Hause, Jim in Pantoffeln, ein großer, massiger, müde aussehender Bursche mit langsamen Bewegungen; Jim, der bei den hochintellektuellen Gesellschaften der Professoren und Abteilungsleiter einfach einschlief; der die Pointe eines Witzes erst 142 5 Das pseudo-konkrete Begehren als phallisches Phantasma <?page no="144"?> 204 Baum 1952, S. 555f. Vgl. zu Baums Schreibverfahren: Katja Kauer: Populärdiskurs und Ideologiekritik. Die Polyrhythmik in den Werken von Vicki Baum am Beispiel von „The Weeping Wood/ Cahuchu. Strom der Tränen“, 1943. In: Peter Weiss Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. und 21. Jahrhundert. Band 31 (2022). Hg. von Arnd Beise und Michael Hofmann. Bielefeld: Aisthesis, 2024, S.-53-86. 205 Cline 2016a, S. 53: „Ich versuchte, mir mich selbst genauso vorzustellen, wie der Sänger die Frau sah: das Baumeln ihres grün angelaufenen Silberarmbands, den Fall ihrer Haare. Aber ich kam mir nur al‐ bern vor, als ich die Augen öffnete und Connie vor dem Spiegel sah, die sich mit einer Sicherheitsnadel die Wimpern trennte, ihre Shorts in die Poritze geklemmt. Dinge über sich selbst wahrzunehmen war nicht das Gleiche. Nur bestimmte Mädchen riefen je diese Art von Aufmerksamkeit hervor. Zum Beispiel das Mädchen, das ich im Park gesehen hatte. Oder Pamela und die Mädchen auf der Treppe der Highschool, die darauf warteten, dass die leer laufenden Autos ihrer Freunde sich träge in Bewegung setzten, das Signal, aufzuspringen. Sich den Hosenboden abzustauben, in die volle Sonne hinauszuhüpfen und den Zurückbleibenden zum Abschied zuzuwinken.“ Vgl. Cline 2016a, S. 50: „I tried to imagine myself in the same way the singer saw the woman: the dangle of her silver bracelet, tinged with green, the fall of her hair. But I only felt foolish, opening my eyes to the sight of Connie at the mirror, separating her eyelashes with a safety pin, her shorts wedged into her ass. It wasn’t the same to notice things about yourself. Only certain girls ever called forth that kind of attention. Like the girl I’d seen in the park. Or Pamela and the girls on the high school steps, waiting for the lazy agitation of their boyfriends’ idling cars, the signal to leap to their feet. To brush off their seat and trip out into the full sun, waving goodbye to the ones left behind.“ verstand, wenn schon längst niemand mehr lachte […]; der nicht Bridge spielen konnte; der immer, wenn jemand ihm seine Aufmerksamkeit zuwandte, hilflos zu stottern begann; der um alles in der Welt seine Gefühle nicht hätte offenbaren können. Jim zu Hause, so langweilig, so unbequem, so unentbehrlich, so unaufregend, beruhigend und liebenswert wie ein alter Lehnstuhl. Der andere Ehemann war Jim bei der Arbeit. Janet wurde nie müde, ihn bei der Arbeit zu beobachten, und immer verliebte sie sich hierbei aufs neue in ihn. Bei der Arbeit wurde sein Blick tief, und seine Augen brannten in einem kalten, intensiven blauen Feuer; sein Körper straffte sich, und seine Bewegungen wurden so sicher, schnell und diszipliniert wie die eines großen, starken, wachsamen Tieres. Die Konzentration modellierte sein Gesicht zu ganz neuen Formen; und neue Gedanken, die hinter seiner Stirn Gestalt annahmen, machten ihn förmlich durchsichtig mit dem Licht, das sie von innen ausstrahlten. Wenn Jim arbeitete, war etwas Ehernes an ihm, der große Schwung, ja Schönheit. In dem bösen Jahr aber, nachdem sie ihren Dr. phil. gemacht hatten und keine Stellung finden konnten, und ihr Geld alle war, und ihr kleiner Neugeborener Scharlach bekam und fast daran gestorben wäre, und das ganze Land unter der grauen Decke der Depression erstickte, und sie ihren Stolz herunterschlucken und auf der Farm unterkriechen mußten, entdeckte Janet an Jim eine dritte Facette. Sie entdeckte, daß er im Herzen noch immer ein Bauernjunge war, und sie dachte bei sich, daß daher vielleicht sein unerschütterliches Gleichgewicht kam, diese stetige innere Ruhe und die Geduld, die ihr so fehlte, und die erst den guten Chemiker macht. 204 Das, was Evies Begehren antreibt, ist das Bild von sich selbst; die adoleszente Frau hat sich selbst im Visier. 205 Die gelernte Chemikerin und junge Mutter Janet vermag es, ihren Mann in den Blick zu nehmen. Janets heterosexuelles Begehren ist zwar auch 5.2 Weibliches Begehren als willful act 143 <?page no="145"?> patriarchalisch geprägt, auch sie musste durch die Schule der Weiblichkeitspraktiken gehen und ist deshalb nicht frei von Phantasmen, die sie Männern überstülpt. Sie imaginiert ihren Mann als stark, sieht in ihm Eigenschaften, die ihr abgehen; aber dennoch demonstriert der Text ihren Mann nicht in demselben Maß als ein phallisches Phantasma, wie es in Clines Text der Fall ist, wo Peters Persönlichkeitsprofil notwen‐ digerweise völlig leer bleibt, er es im Text gerade noch zu einem langweiligen Klischee von bad boy schafft. Die zeitliche Differenz in der Entstehungszeit beider Texte - Clines Roman ist 75 Jahre jünger - lässt vermuten, dass Clines Text in einen feministischen Diskurs eingebunden ist, den Vicki Baum gar nicht kennen konnte. Die Autorin Vicki Baum, die fast genau 100 Jahre vor der Autorin Emma Cline geboren worden war, ist, obwohl sie eine prä-feministische Künstlerin ist und, wenn überhaupt, sich nur von der ersten Welle der Frauenbewegung geprägt zeigen konnte, in vielen Büchern sehr differenziert hinsichtlich des Themas Gender. Obwohl es diese Forschungsrichtung noch nicht gab, markieren ihre Texte ein Bewusstsein für geschlechtliches Rollenverhalten. Baum unterscheidet in ihren Romanen die selbstsüchtige Sehnsucht von Frauenfiguren, durch Männer anerkannt und von ihnen begehrt zu werden, von dem ehrlicheren, naiveren und uneitleren Wunsch, einem Mann gefallen zu wollen, weil er der Frau persönlich gefällt. Diese weniger sentimentalische, konkrete Form des Begehrens verurteilen Baums Texte nie, denn sie erkennen darin einen authentischen, weniger patriarchatskonformen Weg, Weiblichkeit zu leben. Auch wenn die weiblichen Figuren mit gesellschaftlichen Konventionen brechen, weil der Mann, den sie begehren, zum Beispiel jünger ist, werden sie nicht in ein schlechtes Licht gerückt, weil es sich nicht nur um ein phallisches Phantasma handelt. Baums Texte sind gnädig mit ihren Frauenfiguren, wenn diese sich nicht als Klischee erweisen, und in dieser Hinsicht progressiv. Sie zeigen sich jedoch, zumindest auf den ersten Blick, auch konservativ, fast misogyn, wenn sie die Selbstvermarktung von Frauen, Frauen als Diven typisiert (zum Beispiel in der Kunstszene oder Filmbranche), darstellen. Die Texte von Baum wirken auch sehr ungnädig gegenüber Frauenfiguren, die in bewusster Abhängigkeit von Männern leben und sich dessen nicht schämen. Da die Autorin stets ökonomisch von ihrem Mann unabhängig war, bisweilen, nämlich in Zeiten der Emigration, sogar mit ihrer schriftstellerischen Tätigkeit den Hauptverdienst der Familie stellte, müssen ihr diese weiblichen Frauenfiguren, die Abhängigkeit reproduzieren und sich, anders als die liebenswerte und patente Janet, nur über Männer und ihre Fähigkeit, Begehren zu wecken, definieren, schwerer von der Hand gehen. Vicki Baum hätte sich selbst nicht als Feministin bezeichnet, aber ihre Texte sind „frauenfreundlich“, wenn die Figuren emanzipativ agieren. Was die Autorin vermutlich an den Frauenfiguren verkennt, die in ihrem Texten implizit getadelt werden, weil sie als „Produkte“ des Patriarchats gelten müssen, ist, dass nicht jede Frau, dieselbe Handlungsmacht für sich veranschlagen kann, wie die Tochter Hedwig Baum, die aus „gutem Haus“ stammte und zu den Frauen zählt, die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine höhere Ausbildung genießen durften. Während Clines Text für die kleine Evie, ungeachtet 144 5 Das pseudo-konkrete Begehren als phallisches Phantasma <?page no="146"?> 206 Baum 1952, S. 202f.: „Das Girl musterte das verrunzelte Gesicht ihres Begleiters; es war noch leicht gebräunt vom Wintersport, und das graue Haar gab ihm einen hübschen Rahmen. Eigentlich war es viel netter, mit alten Herren auszugehen; namentlich wenn sie viel Geld hatten und auf sich hielten. Es gab einem in den Nachtlokalen doch ein ganz anderes Air, wenn man mit einem Mann wie Puky hereinkam. Daneben wirkten die Freunde der anderen Mädel wie Portokassenkavaliere. […] Er amüsierte sich großartig über das Girl, die Situation und sich selber. Zu den Dingen, die einem bei diesem Blondinentyp, diesen blendenden Erscheinungen mit Spatzenhirn, alles immer so herrlich bequem machten, gehörte es, daß sie stets genau das sagten und taten, was man erwartete.“ ihrer patriarchatskonformen, weiblichkeitsvermarktenden Züge, Empathie aufbringt und zeigt, wie die ältere Evie dem jüngeren Ich Absolution erteilt, haben Baums Texte oft nur ein müdes Lächeln für Frauenfiguren übrig, die ihren Geltungsdrang zu stillen versuchen, indem sie sich phallischen Phantasmen unterwerfen. Die Sehnsucht der Frau sich aufzuwerten, - psychoanalytisch gesprochen den Phallus zu bekommen und „das Nichts“, das sie sind, zu füllen - indem sie sich den Machthabern sexuell gefügig erweisen, wird als aussichtlos deklariert. Und das ist ein solches Unterfangen ja auch. Baums Texte haben in ihrer Darstellung recht. 206 Ein phallisches Phantasma endet immer mit einer Enttäuschung, weil der Mann es nicht vermag, die Frau in eine befriedigende Subjekt-Position zu setzen. Die neusachlich geprägte Autorin Vicki Baum schreibt Frauen wie Janet zu, durch sich selbst zu wissen, wer sie sind, und sich dann erst für die Liebe zu einem konkreten Mann zu entscheiden. Das Verlieben beruht weder auf einer Himmelsmacht noch auf bewusstem Vorsatz, sondern ist etwas, das sich rational nachvollziehen lässt. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes die Chemie, die Jim für Janet so begehrenswert macht. Geht eine Frau einen anderen Weg, bleibt sie stets abhängig von männlicher Zustimmung und verliert sich. Die jüngeren Texte, nicht nur Clines Roman The Girls, auch Attenbergs Nicht mein Ding/ All Grown up, Florins Mein letztes Jahr der Unschuld/ My Last Innocent Year, oder der Erzählstrang aus Julie Zehs berühmter Gesellschaftsroman Unterleuten, in dem eine junge Studentin namens Jule mit ihren Hochschullehrer Gerhard eine Beziehung eingeht, um von ihm in eine Rolle gesetzt zu werden, beleuchten die weibliche Sehnsucht, sich durch eine Beziehung zu einem bestimmten Mann zu subjektivieren, kritisch. Es treibt Autorinnen um, warum sich Frauen immer noch „so billig verkaufen“. Dankenswerterweise wird in den oben genannten Coming-of-Age-Erzählungen - was ich eindeutig als feministische Haltung verstehe - der Trugschluss, Unterwerfung führe zu Aufwertung, nicht als simple Charakterschwäche der Frauen gebrandmarkt. Dieser Trugschluss ist strukturell bedingt. Unterliegen die Frauenfiguren einem phallischen Phantasma, wird dies als Folge einer patriarchalischen Sozialisation aufgezeigt, die die Frauen in den erwähnten Beispielen auch selbst erkennen und kritisch hinterfragen. Das von Männern dominierte Umfeld - bei Cline ist es die amerikanische Kleinstadt (in den anderen Fällen die die akademische Welt) -, ist es, welches dazu führt, dass Frauen auf eine hysterische Weise Männern verfallen, die ihnen eigentlich nicht gefallen. Sie jagen ihnen aus einem inneren Zwang heraus nach. Die Gegenwartsromane eröffnen neue Räume. Da Frauen im späten 20. Jahrhundert und im 21. Jahrhundert nicht mehr so streng nach patriarchalen Regeln sozialisiert worden sind wie zu Baums Zeiten, die 5.2 Weibliches Begehren als willful act 145 <?page no="147"?> im 19.-Jahrhundert auf die Welt kam, ist es den gegenwärtigen Frauenfiguren leichter möglich, Chancen zu ergreifen bzw. sich zu reflektieren, um diese leidigen Phantasmen abzustreifen und sich neu zu definieren. Sie entwickeln eigene Anerkennungskulturen, die den Phallus als Signifier of Power nicht brauchen. Evie gelingt der Ausstieg aus dem patriarchalen Gefüge, indem sie sich die Zuneigung zu anderen Frauen bewusst macht, ihre homosoziale Prägung bejaht. Der krasse Einstieg in die Gesetze des Patriarchats, denen sie gehorchte, als sie dem Clan um Russel angehören wollte, bot auch den Ausstieg aus diesem Gefüge, in dem allein der Mann im Zentrum steht, weil Evie erkennt, dass sie niemals Russel als Person interessant fand, sondern es eigentlich Suzanne war, die sie in den Bann des Clans gezogen hatte. Russel verkörpert ein abstraktes Begehren, ihm anzugehören, ist die Unterwerfung unter eine Norm, mit Suzanne hingegen verbanden sie konkrete Emotionen, von deren Intensität sie überrascht wurde. Der homosoziale Ausstieg aus dem phallischen Phantasma ist aber Thema eines anderen Kapitels dieses Buches und liefert ein weiteres feministisches Analysetool. 146 5 Das pseudo-konkrete Begehren als phallisches Phantasma <?page no="148"?> 207 Waldman 2015, S.-28. 208 Waldman 2013, S.-17. 209 Vgl. Waldman 2015, S.-28; Waldman 2013, S.-17. 6 Emotionaler Kapitalismus als heteromaskuline Praktik Nate war nicht immer der Typ Mann gewesen, den Frauen als Arschloch beschimpfen. Erst seit einiger Zeit war er beliebt genug, um solche Anfeindungen zu befeuern. 207 Nate had not always been the kind of guy women call an asshole. Only recently had he been popular enough to inspire such ill will. 208 Mit diesen Sätzen beginnt das zweite Kapitel des Gegenwartsromans Das Liebesleben des Nathaniel P., dessen Love Affairs darin behandelt werden. Es ist ein Entwicklungs‐ roman, der die Herausbildung der männlichen Identität Nates durch Liebesaffären behandelt. Seine anderen Geschäfte, sein berufliches Streben, seine Freundschaften spielen in dem Roman eine untergeordnete Rolle für die Entwicklung zum gestandenen Mann. Nate versucht als Schriftsteller Karriere zu machen, was ihm mit Achtungser‐ folgen gelingt. Sein Prestige steigt auch in beruflicher Hinsicht, aber, wie der Titel suggeriert, ist sein sexuelles Prestige von eigentlichem Interesse für den Protagonisten, so dass die Liebesaffären wie Entwicklungsstufen in die hegemoniale Männlichkeit wirken. Interessant und etwas erklärungsbedürftig ist, warum einem Schimpfwort („Arsch‐ loch“, „asshole“) ein so großer qualitativer Wert zugesprochen wird, dass er für die Figur wie ein Ritterschlag erscheint. Erst eine gewisse Beliebtheit (being popular bedeutet im Amerikanischen über ein bestimmtes Prestige zu verfügen) musste erreicht werden, um diese Form von weiblichen „Anfeindungen“/ „ill will“ „zu befeuern“/ „to inspire“. Im Roman wird uns ein Mann vorgestellt, der sich als Jugendlicher weder als stark noch als für Frauen attraktiv empfinden konnte. Es mangelte ihm an der Durchschlagskraft seiner Männlichkeit, so dass er mit ihr gehadert hat. Sein Umgang mit Mädchen und seine optische Erscheinungsform machten „damals nicht viel her“/ „He wasn’t much to look at back then.“ 209 Von dem niederen Status seiner Männlichkeit, also einer Männlichkeit, die in ihrem Umfeld nicht als hegemonial wahrgenommen wird, über keinen Führungsstatus verfügt, befreit sich die männliche Hauptfigur allerdings im Laufe des Romans. Es gelingt ihm, sich über Frauen, die ihn einst nicht beachteten, und andere Männer, die ihm einst erfolgreicher zu sein schienen, zu erheben und damit eine Form von hegemonialer Männlichkeit zu erreichen. Jedoch ändert Nate nicht auf erstaunliche Weise sein Aussehen, entwächst seiner mittelmäßigen Statur oder erfährt erstaunliche intellektuelle Veränderungen. Weder seine Fähigkeiten noch der Charakter erfahren eine deutliche Wandlung. Es gelingt ihm zwar, aus der Leidenschaft für Literatur einen Beruf zu machen - was für ihn als Teenager noch nicht absehbar war -, aber die Steigbügel für seinen Status als erfolgreicher Mann sind seine sexuellen Abenteuer, nicht sein literarischer Achtungserfolg. Intellektuell und kreativ war er <?page no="149"?> 210 Waldman 2015, S.-42. 211 Waldman 2013, S.-28. 212 Waldman 2015, S.-46. auch, als niemand ihn beachtete; und in dem, mit dem fragwürdigen Ritterschlag „Arschloch“ versehenen, Mann ist die Fähigkeit zur Selbstreflexion, die den netten, eher unscheinbaren Jungen von einst auszeichnete, nicht verloren gegangen. Nate hat nicht generell alle Unsicherheiten seiner Highschool-Zeit hinter sich gelassen, dennoch gelang es ihm, sich bezogen auf seine Männlichkeit, vor aller Augen deutlich zu optimieren. Schöne Frauen ziehen ihre Kreise um ihn und wünschen ihn sich als ihren Liebhaber. Sie bestätigen ihm seine Heteromaskulinität und empfinden ihn als das, was in spätmodernen Texten auf der Beziehungsebene als „Arschloch“ verstanden wird. Dieser Begriff bezeichnet die Fähigkeit, Frauen sexuell anzuziehen und sich von ihnen angezogen zu zeigen, ohne großen emotionalen Aufwand zu betreiben. Wäre Nate kein Mensch, sondern ein Produkt, würde er nun unter dem erfolgreichen Label ‚asshole‘ laufen. Es umfasst Männer, die mit Frauen spielen, sich nicht festlegen wollen, sie charmant umgarnen und dann wieder fallen zu lassen vermögen. Sich als emotional reservierter Mann zu präsentieren, bedeutet Macht gegenüber Frauen ausspielen zu können. Männer, die als begehrenswert gelten, können Frauen vor den Kopf stoßen. Interessanterweise entwickelt sich Nate nämlich allein durch sein heteromaskulines Verhalten, das durch starke sexuelle Orientierung auf das weibliche Geschlecht und emotionale Zurückhaltung gegenüber den Sexualpartner*innen gekennzeichnet ist, zu einem respektgebietenden Mann, der auch in angesehenen intellektuellen Kreisen anerkannt wird. Nach seinen Highschool-Jahren macht er erste Schritte, um seinen männlichen Status zu erhöhen. Dieser Schritt bestand darin, seine erste, noch dazu attraktive Freundin zu erobern. Ihre Zuneigung brachte die erste Stufe auf der Leiter zum maskulinen Erfolg. Kirsten wollte Ärztin werden und hatte ein großes Herz. […] Die meisten bemühten sich instinktiv um ihre Aufmerksamkeit. Diese Autorität plus ihr angenehm gutes Aussehen machten Kirsten in den Augen der Welt für Nate zu einem guten Fang, denn in der sozialen College-Hierarchie war sie einige Stufen über ihm. 210 „[T]he world’s crude jugdement“ 211 ist ausschlagend für Nates Beziehungswahl. Seine Liebe zur Literatur teilt Kirsten nämlich nicht, und sie hat auch sonst nicht sonderlich viel mit ihm gemein, aber sie stattet ihn mit einem neuen Selbstgefühl aus. Kirsten verleiht ihm einen „Gütestempel“. 212 Es sind die Augen der Welt, nicht seine eigenen, die seine Zuneigung zu Kirsten motivieren. Das Interesse an ihr ist entindividualisiert, denn es richtet sich allein auf ihre geschlechtlichen Merkmale, ihren Erfolg als Frau. Neben dieser hübschen, patenten Frau namens Kirsten spielt im Roman auch eine weitere Frau, nämlich die intellektuelle Hannah, eine Rolle. Die Beziehung zu ihr stellt die endgültigen Weichen für seine „Arschloch-Männlichkeit“, also das erfolgreiche Ausagieren der Heteromaskulinität. Gleich ihm ist auch Hannah im künstlerischen Bereich tätig, vor allem auf der geistigen Ebene holt sie ihn ab. Sie 148 6 Emotionaler Kapitalismus als heteromaskuline Praktik <?page no="150"?> 213 Vgl. ebenda, S.-136. 214 Ebenda, S.-170. 215 Ebenda, S.-51. 216 Ebenda, S.-169f. 217 Ebenda, S.-170. ist, was gleichermaßen auf Kirsten zutraf, nicht auffällig sexy (hot), aber mit Hannah kann er reden und sich wunderbar austauschen. Er genießt ihre Gegenwart. Aus einer romantischen Perspektive betrachtet ist sie die Idealfrau, die Seelenverwandte. Hannah und er verstehen sich blendend, auch auf körperlicher Ebene bleibt eine gegenseitige Anziehung nicht aus. Doch auch diese Partnerin erweist sich für Nate nicht als Frau, die er seiner verbindlichen Liebe versichern kann. Sie war eine weitere, womöglich unerlässliche Stufe, um zum charismatischen „Arschloch“ zu avancieren, 213 weil er mit ihr eine ungeahnte Nähe kennenlernte, die ihm aber weniger wertvoll ist als die Potenzierung seines Selbstwertgefühls. Nate sieht sich daher nicht in der Lage, seine Aufmerksamkeit exklusiv für Hannah zu reservieren. Als Resümee seiner Liebesaffären stellt sich heraus, dass es vor allem Schönheit ist, gepaart mit intellektuellem Niveau - denn er bewegt sich in Literatenkreisen und weibliche Attraktivität ist dort auch mit geistiger Schönheit verknüpft -, die eine Frau für Nate als Partnerin interessant machen kann. Es geht nicht um Sympathie und Seelenverwandtschaft. Der Attraktivitätswert der eroberten Frau in den Augen der Welt („the world’s crude jugdement“) steigert seinen Wert. Seine Affären zielen darauf ab, sich „aus einem primitiven Ehrgeiz heraus“ 214 mit der Eroberung von Frauen zu schmücken. Seine Eroberungen haben eine weit größere psychologische als physische Bedeutung. Bereits vor Hannah hatte er den Wert einer schönen Partnerin zu schätzen gelernt. Er wusste schließlich, dass er wirklich angekommen war, als er eine Beziehung mit Elisa, der Schönen, begann. 215 Nur war ihm Elisa, die erste, als auffällig schön geltende Freundin, intellektuell so sehr unterlegen, dass er auch ihr keine währende Verbindlichkeit zusichern konnte. Dem Status seiner Männlichkeit tat sie aber gut und genau dieses Umstandes ist sich die Figur bewusst: Eine laute, Faulkner-artige Stimme in ihm bestand darauf, die Beziehung schonungslos moralistisch zu betrachten. Er hatte sich - so tönte diese Stimme - zu Elisa hingezogen gefühlt, weil sie schön war, weil sie mondän wirkte, weil sie einen bekannten Vater und einen makellosen Stammbaum hatte; und er, der Sonderling und Loser, der er lange gewesen war, hatte immer vermutet, dass Menschen wie sie, […] mit ihrem guten Aussehen und ihrer Beliebtheit etwas hatten, das er nicht hatte, etwas, das Intelligenz allein nicht erfassen konnte, eine Art von Zauber und Anmut, ein wortloses Wissen darüber, wie das Leben gelebt werden sollte, und einen damit einhergehenden Zugang zu unbekannten Freuden. 216 Genau dieser Art von „Zauber und Anmut“ musste sich Nate bemächtigen. Elisa nach einiger Zeit sitzenzulassen, erhebt ihn; zu realisieren, dass sie, die scheinbar Überlegene, „jetzt einigermaßen jämmerlich wirkte“, 217 bereitet ihm auf der „ober‐ 6 Emotionaler Kapitalismus als heteromaskuline Praktik 149 <?page no="151"?> 218 Ebenda, S.-168. 219 Ebenda. 220 Ebenda, S.-170f. 221 Vgl. ebenda. flächlichsten“, 218 habituellen Ebene zwar ein schlechtes Gewissen, auf einer tieferen, psychologischen fühlt er sich aber dadurch gestärkt. Elisa zu verlassen, verleiht ihm Macht. „Auf einer anderen Ebene erfüllten ihn ihre Tränen mit Genugtuung“. 219 Er kann beobachten, wie er die Macht des guten Aussehens, die sie für ihn anziehend machte, nutzen kann, um sie zu entmächtigen. Sie war durch ihr gutes Aussehen und ihre Beliebtheit verwöhnt worden; sie hatte keine inneren Kraftquellen; sie war zickig und kindisch, wenn die Dinge nicht so liefen, wie sie wollte. 220 Elisas Schönheit geringzuschätzen, sie gegen sie zu verwenden, steigert Nates Selbst‐ wertgefühl. Er sieht sich als Mann, der über ihre rein äußerlichen Qualitäten erhaben ist und im Bewusstsein agiert, durch die Beziehung mit ihr ein weiteres Gütesiegel als Mann erlangt zu haben. Nates Geschichte des „Zum-Arschloch-Werdens“ ist aber nicht sehr individuell gestaltet. Sie offenbart dabei eher etwas über die spätmoderne Geschlechtersoziologie als etwas über den unverwechselbaren Charakter der Figur. Unbestreitbar ist die Art, wie er lernt mit Frauen umzugehen - nämlich sich selbst emotional zu bremsen, Frauen warm zu halten und sie nach Erschöpfung ihrer Qualitäten als Liebesobjekt fallen zu lassen -, eine erlernte Strategie. Er sättigt seine männliche Identität damit, was die Frauen ihm zu bieten haben. 221 Das sind ihre sexuellen Vorzüge genauso wie ihr emotio‐ nales Engagement für ihn. Sein heteromaskulines Gebaren garantiert nicht unbedingt Sympathie für die männliche Hauptfigur. Nate zeigt sich manchmal als so charakterlos, dass seine eigene innere Stimme sein Verhalten verurteilt. Doch von dieser Strategie der Rücksichtslosigkeit abzugehen, sich Frauen gegenüber aufrechter zu verhalten, wäre für ihn keine Option. Nathaniel wird im Roman eigentlich als harmloser Mann vorge‐ führt, der sich gesellschaftlichen Regeln unterwirft. Die Regeln der Heteromaskulinität geben ihm nicht viel Freiraum, sich emotional in seine Geschlechtspartnerinnen zu investieren. Nate ist weder unreflektiert noch grundsätzlich gemein. Seine Initiation in erfolgreiche Heteromaskulinität, seine gewonnene Selbstherrlichkeit entspringt keinen intrinsischen Bedürfnissen. Nate weiß um seine Schwächen und es scheint nicht so, dass der pragmatische Umgang, den er Frauen gegenüber an den Tag zu legen lernt, Ausdruck naturhafter Gefühllosigkeit (Alexithymie) wäre. Sein sachlicher Blick auf Frauen sowie das Auflisten ihrer Vorzüge und Mängel gibt sich als antrainiert zu erkennen. Er akkumuliert Frauen auf eine Weise, die ihm den Statuts als „Arschloch“ verleiht, den er emphatisch für sich bejaht. Seine erlernte Härte gegenüber weiblichen Beziehungswünschen lässt ihn (vor sich selbst und seiner Umwelt) als stärker und männlicher erscheinen. Sie begründet das Gefühl von Hegemonie. Er sieht den Umgang mit weiblichen Emotionen, ihre Hingabe an ihn und seine eigene Fähigkeit, sich den 150 6 Emotionaler Kapitalismus als heteromaskuline Praktik <?page no="152"?> 222 Ebenda. S.-172. Frauen zu entziehen, als etwas an, das seinen Wert als Mann erhöht. Dies erweist sich nicht als Einbildung. Obwohl es ihm leidtut, Menschen zu enttäuschen, scheint es ihm unverzichtbar, sich in „dem wohligen Gefühl ihrer anhaltenden, vielleicht sogar gesteigerten Zuneigung [zu] suhlen“, 222 um ihr dann sofort den Rücken zu kehren, wenn ihn etwas Anderes lockt. Kirsten, Elisa, Hannah zu verlassen, Gelegenheitssex zu praktizieren, und auch seine Partnerschaft mit Geer (die die Schönheit Elisas, die Intellektualität Hannahs und die Herzlichkeit Kirstens in sich vereint), der weiblichen Figur, mit der er in einer Beziehung lebt, als der Roman endet, immer wieder zu hinterfragen, ist das einzig verbleibende Refugium spätmoderner Männlichkeit. Durch dieses Verhalten können sich Männer von der weiblichen Sphäre emanzipieren und differenzieren. Die Konzepte ‚emotionaler Kapitalismus‘ und ‚skopischer Kapitalismus‘ werden im Sinne der Soziologin Eva Illouz verwendet, die davon ausgeht, dass in der Spätmoderne sowohl Emotionen ökonomisch verhandelt werden als auch die Betrachtung von Körpern. Dadurch sind Gefühle und Erotik nichts genuin Privates mehr, sondern haben sich zu ökonomischen Gütern entwickelt. Das bedeutet, dass Menschen auf persönlicher Ebene mit ihren Emotionen haushalten können und die Zurschaustellung sowie Erotik ihres Körpers als ein Gut verstehen, durch das sich Gewinn schöpfen lässt. Intime Handlungen sind dadurch mitnichten nur psycholo‐ gisch zu deuten, sondern in ihrem soziologischen Aspekt zu betrachten. Daher gilt es, wie in diesem Kapitel veranschaulicht, bestimmte, auch sexuelle Handlungen, von Männern und Frauen nicht vordergründig in ihrer psychologischen Dimension erklären zu wollen, sondern sie auf die gesellschaftliche Verortung der Person als Geschlechtswesen zurückzuführen. Mit Bezug auf die Soziologin Eva Illouz nenne ich diese gefühlsmäßige Reserviertheit von Männern gegenüber Frauen ‚emotionalen Kapitalismus‘. Die Bedingungen der spätmodernen Beziehungen haben sich verändert. Sie unterstehen den Gesetzen des Marktes, wie die Soziologin in ihren Büchern Warum Liebe weh tut (Berlin 2011) und Warum Liebe endet (Berlin 2018) dargelegt hat. Anders als in der Vormoderne oder in der Moderne ist Jungfräulichkeit für Frauen kein Statussymbol mehr, ebenso wenig, wie es für Männer gesellschaftlich ausschlaggebend ist, als bindungswillige Familienväter zu erscheinen. Nur in wenigen Kontexten ist diese Form von Männlichkeit noch bedeutend. Vor dem Hintergrund der sexuellen Liberalisierung avancierte der Umgang mit Sexualität zu einer neuen Möglichkeit, Status und Kompetenz auszustrahlen. Für Frauen gilt das Gebot, als sexy/ hot zu erscheinen, für Männer als sexuell leistungsfähig. Gerade 6 Emotionaler Kapitalismus als heteromaskuline Praktik 151 <?page no="153"?> 223 Illouz 2018a, S. 91: „Wie die folgenden drei Kapitel zeigen werden, ging das Patriarchat eine Liaison mit dem Kapitalismus ein und übte seine Macht durch die starke Sexualisierung der Frauen, die Verallgemeinerung des Gelegenheitssexes, durch Schönheitsmythen und die zunehmend zwingenden Normen weiblicher sexueller Attraktivität sowie durch die unterschiedlichen Positionen von Männern und Frauen auf dem romantischen und sexuellen Feld aus. Dies alles sind Elemente eines skopischen Kapitalismus, der dadurch definiert ist, dass er aus dem Spektakel und der Zurschaustellung von Körpern einen Mehrwert bezieht.“ 224 Vgl. ebenda. in einem popkulturell geprägten Umfeld werden diese Gendereigenschaften für die eigene Profilierung wesentlich. Eva Illouz entwickelte außerdem den Begriff des „sko‐ pischen Kapitalismus“, 223 um die Phänomenologie des modernen Beziehungsmarktes zu fassen. Das zugrundeliegende altgriechische Verb bedeutet so viel wie betrachten oder beschauen. Unter einem Mikroskop verstehen wir ein Beobachtungsgerät, durch das man aus einer Distanz, von einem erhöhten Punkt aus, ein Objekt betrachtet. Spätmoderne Menschen, vor allem Frauen, müssen sich als ein beschaubares Objekt offenbaren und dabei Gefallen erregen. Positiv anzukommen, die Blicke einzufangen, ist nicht nur für Nates Frauen ein aufwendiges Geschäft. Die Schönheit, besonders die Produktion der Sexyness, erweist sich als eine umsatzsteigende Angelegenheit. Illouz’ Analysen zufolge generiert die Normalisierung und die Zurschaustellung von Körpern einen Mehrwert, 224 z. B. durch die Vermarktung der sexuellen Attraktivität, die durch Konsum hergestellt und gewährleistet werden muss. Dieser Konsum betrifft bei weitem nicht nur den Kosmetikmarkt. Ich nenne dies die Konsumerabilität spätmoderner Körper, eine Wortschöpfung, in der auch die Kommensurabilität, also das Messbare, das rational zu Verortende mit anklingt. Die Konsumerabilität und Kommensurabilität spätmoderner Körper schafft eine Reduktion menschlicher Anziehung auf normali‐ sierte Körper. Sie geht mit Entzauberung und Ent-Erotisierung einher. ‚Konsumerabilität‘ ist eine in diesem Buch vorgeschlagene Wortschöpfung, die den Konsum-Wert der Körper, ihre Zurichtung im gesellschaftlichen Kontext bezeichnet und sprechend veranschaulicht, worauf der skopische Kapitalismus zielt. Der Roman über das Beziehungsleben des Nathaniel P. handelt genau davon, nicht von Liebe und großen Gefühlen. Es geht um die Selbstoptimierung der Figur, um seine Mannwerdung, die sich durch den Konsum von Frauen vollzieht. Sie erscheint als gelungen, weil Nate gelernt hat, sich von Frauen emotional loszusagen, die Strahlkraft seiner Freundinnen auf messbare Eigenschaften zu reduzieren, um andere Frauen, die unter skopischem Gesichtspunkt als noch attraktiver und interessanter erscheinen, für sich als begehrenswerter zu erachten. Der Wechsel von der ernsthaften, nicht immer um ein strahlend schönes Aussehen bemühten Hannah zu der flirtenden, unklaren, aber schillernden Geer vollzieht sich bei Nate nicht ohne schlechtes Gewissen. Er 152 6 Emotionaler Kapitalismus als heteromaskuline Praktik <?page no="154"?> 225 Ebenda, S.-258f. [Hervorhebung im Original]. weiß, dass er die romantische Liebe mit Füßen tritt. Aber gerade die Fähigkeit, sich von moralisierenden Standards zu befreien, zeichnet erfolgreiche Männlichkeit als Heteromaskulinität aus. Sie untersteht einer Ethik der Selbstoptimierung durch Konsum von weiblichen Körpern. Das schlechte Gewissen würzt sogar den Geschmack des Erfolgs. Lockere sexuell grundierte Beziehungen, die keine dauerhaften Bindungen beinhalten, bezeichnet Illouz als ‚negative Beziehung‘ Sie strukturieren das Feld der Sexualität in der Gegenwart. Unbestreitbar war Nate mit Hannah in einer Beziehung, und er sprach auch von Gefühlen, aber er war niemals auf sie fixiert. Hohe Ambitionen seinerseits, ständiges Infragestellen und Vergleichen, aber auch die stetig wachsende Unsicherheit auf der weiblichen Seite führen zum unweigerlichen Entlieben Nates in Waldmans Roman. Dass die Beziehung nicht dauerhaft sein würde, war ebenso in ihrer Struktur angelegt wie auch der Umstand, dass die Frau darunter mehr zu leiden hat. Ihre Aufgabe sah Hannah darin, die Beziehung aus dem Negativstatuts zu befreien. Diese Sehnsucht erweist sich nicht nur für Hannah als tragisch, weil negative Beziehungen für heteromaskuline Männer genau das sind, worüber sie sich definieren, und es nicht zuletzt die zur Schau gestellte Heteromaskulinität ist, die Frauen anziehend finden. Eine gewisse Form von Unerreichbarkeit motiviert die Gefühle der Frauen, die im Patriarchat auch die Lektion gelernt haben, es auf hegemoniale Männer abzusehen und nicht die untergeordneten Männer zu begehren. Nur achtbare Männer besitzen den Phallus, auf den es im Begehrensspiel (auch) ankommt (wie im vorherigen Kapitel dargelegt). Sie lassen sich daher auf ein Begehrensspiel ein, bei dessen Ausgang sie diejenigen sein werden, die stets mehr Emotionen investiert haben. Die männliche Unbeständigkeit und die weibliche Abhängigkeit bzw. Unsicherheit verhalten sich umgekehrt proportional. Je deutlicher sich Nate entzieht, desto angespannter und unattraktiver wirkt seine Partnerin auf ihn: Die dröhnende Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass er ein Arschloch gewesen sei. Er hatte gewusst, dass sein Verhalten sie irritierte. Er hatte zugesehen, wie sie immer kleiner geworden war, nervöser und trauriger und in gewisser Weise zu jemandem, den er nicht wiedererkannte. Immer, wenn er sich deswegen schlecht gefühlt hatte, hatte er sich gesagt, dass er sie schließlich nicht zwinge, bei ihm zu bleiben. Sie hätte ja jederzeit mit ihm Schluss machen können. […] Wieso sollte er die Macht gehabt haben? […] Diese Überlegungen erleichterten ihn ein wenig, zumindest zeitweise. Dann kam ihm der Gedanke, dass sie sein Verhalten hingenommen hatte, weil er das so gewollt hatte. Bis er es nicht mehr gewollt hatte. Er hatte immer aufgehört, ihr gegenüber ein Arsch zu sein, sobald er witterte, dass er zu weit gegangen war und sie ihm tatsächlich den Laufpass geben könnte. Sie hatte ihm erlaubt, sie so zu quälen, weil sie ihn mochte. Vielleicht liebte sie ihn sogar. 225 Die weibliche Fixierung auf eine romantische Bindung gibt dem Mann die Freiheit, sich im Sinne Illouz’ nur negativ an sie zu binden. Ich möchte ein weiteres Beispiel aus dem deutschsprachigen Kontext anführen. In diesem Roman, der einige Jahre 6 Emotionaler Kapitalismus als heteromaskuline Praktik 153 <?page no="155"?> 226 Klupp 2009, S.-23. 227 Ebenda. früher als Waldmans erschienen ist, sehen wir uns mit einem ähnlichen Helden wie Nate konfrontiert. Er unterwirft sich bedingungslos den skopisch-kapitalistischen Maßgaben. Der männliche Ich-Erzähler fühlt sich seiner Freundin Leni emotional eigentlich sehr verbunden, es fällt ihm schwer, sich von ihr zu lösen, aber er fühlt den Druck, sich als Mann mit einer noch schöneren Frau umgeben zu müssen. Dass die andere Frau schöner ist, entspringt nicht seiner geschmacklichen Vorliebe, sondern dem antizipierten Gutbefinden seiner Umgebung. Eine völlig anonymisierte Peergroup scheint in Alex’ Kopf ein Urteil über die liebenswerte Leni zu verhängen. Das Umfeld, in dem er sich bewegt, verlangt in Alex’ Meinung nach höheren popkulturell generierten Standards von Schönheit seitens der Frauen als die Jugendfreundin sie zu bieten hat. Auch in diesem Roman siegt die Ethik der Selbstoptimierung über eine romantische Sozialisation oder eine konservative Beziehungsmoral. Diese schönere Frau, Johanna, wird nicht mehr gemocht als Leni, auch nicht geliebt, im Gegenteil, Alex beschimpft sie innerlich „immer bodenloser“, 226 während er ihren Charakter mit dem Lenis vergleicht: Immer macht sie alles kaputt, denke ich, und das meine ich ganz prinzipiell. Sie hat ja auch meine Beziehung zerstört. Fast fünf Jahre war ich vorher mit Leni zusammen, und dann kommt diese Münchnerin und küsst mich auf den Mund. Die ersten paar Male nur zur Begrüßung, so wie es in ihrer tollen Schauspielerfamilie üblich ist, aber dann auf einmal länger, und weil sie so ein strahlender Mensch ist und überall so gut ankommt, lasse ich mich auf sie ein und schicke Leni zum Teufel. 227 Auch Alex wird mit dem Begriff des Arschlochs belegt, ist labil, emotional unausgereift, aber in demselben Maße moralisch verwerflich und liebenswert zugleich, genau wie Nate. Sein Fremdgehen mit Johanna spiegelt er in völliger Passivität. Der internalisierte Blick der Anderen habe ihn geradezu gezwungen, von der geliebten Leni abzulassen. Er, der auf der Filmhochschule angenommen wird, sieht sich außer Stande, Lenis Status einer Provinzschönheit nicht kritisch zu überdenken. Durch die Augen der Anderen („The world’s crude jugdement“) sieht er an ihr seit seinem Umzug nach Potsdam einen körperlichen Makel, einen Makel, der durch den kapitalistischen Schönheitsmarkt erst als ein solcher empfunden und dann mithilfe des Angebots dieses Marktes behoben werden könnte. Johanna, die aus einer Schauspielerfamilie stammt, entspricht den Potsdamer Schönheits-, in diesem Fall: Schlankheits-Standards aus skopischer Sicht mehr, zumindest ist Alex davon überzeugt. Die Leni jedenfalls hat diese Röhrenjeans ebenfalls anprobiert und darin eins a wie eine Blutwurst ausgesehen, und da ist mir ihre Gewichtsproblematik bewusst geworden. Ich habe natürlich kein Wort gesagt, aber immer wenn sie mich in Potsdam besuchen kam, hatte ich den Eindruck, dass die Leute über uns reden und sich lustig machen. Der Böhm und seine Metzgereigehilfin, so was in der Art, und dann, ich habe den Leuten ihre Gedanken wirklich im Gesicht ablesen können: Dass der Böhm auch nichts Schlankeres auf die Reihe bekommt! 154 6 Emotionaler Kapitalismus als heteromaskuline Praktik <?page no="156"?> 228 Ebenda, S.-152. 229 Waldman 2015, S.-141. 230 Ebenda, S.-241f. Ich habe von mir aus keinerlei Bedürfnis gehabt, was Schlankeres auf die Reihe zu bekommen. Ich mag ja die Rundungen und war mit Leni insgesamt glücklich, aber mir war trotzdem klar, dass ich bald umsatteln muss, wenn ich in Potsdam nicht vor die Hunde gehen will. Und das habe ich ja auch geschafft mit Johanna. 228 In dem Roman von Waldman gibt es eine ähnliche Szene, in der Nate durch die Unvorteilhaftigkeit von Hannahs Hosenwahl davon innerlich überzeugt wird, dass die Beziehung zu ihr, sich unvorteilhaft auf seine Männlichkeit auswirken könnte. Beide männlichen „Arschloch-Figuren“ handeln weder aus Charakterschwäche noch aus überbordender Libido so unkollegial gegenüber den Frauen, von denen sie geliebt werden und in die sie ebenfalls glaubhaft verliebt waren, sondern aus Passivität und aus Unterwerfung unter männliche Rollenmuster. Die Konsumerabilität der Frauenkörper entscheidet darüber, wieviel Emotionalität gegenüber den Frauen angebracht ist. Die Männer haben kein Recht, frei ihren Gemütsbewegungen zu folgen und mit der Frau glücklich zu sein, die ihnen gefällt. In einem konservativen Sinne des Wortes zwingt sie die Gefahr, als unmännlich wahrgenommen zu werden, zu diesem spätmodernen männlichen Beziehungsverhalten, oder anders gesagt: die schlichten männlichen Figuren mausern sich durch ihr negatives Beziehungsverhalten zu heteromaskulinen Männern. Was wie die Herrschaft der Libido wirken könnte, sich nämlich von dem schönen Anblick oder Kuss einer fremden Frau verführen zu lassen, geht eigentlich mit der stetigen Unterdrückung libidinöser Energien einher. In Waldmans Roman wird dies direkt benannt. Frauen zu betrügen und zu hintergehen, ist kein Ausdruck von sexueller Lust, sondern beruht auf der Lust nach Selbstbestätigung und dem Hunger nach Machtgefühl. Es handelt sich um einen Normalisierungsprozess. Sich so zu verhalten, ist eine rationale Entscheidung, keine aus dem Bauch heraus. Es ist ein Verhalten, das vulgärsprachlich als „schwanzgesteuert“ bezeichnet werden würde, aber dies dem eigentlichen Wortsinn nach nicht ist. Sich des Topos von der „Unbeherrschbarkeit der männlichen Sexualität“ zu bedienen, erschiene dem reflektierten Nate schmierig. Auch Alex weiß, dass seine Hinwendung zu Johanna einem verinnerlichten Diktat entsprang, nicht seinem intrinsischen Begehren. Nate überlegt, ob ihm die negativen Bindungen genügen, um sich sexuell aufzuwerten, oder ob er „Fremdgehen ohne Weiteres“ 229 auch in der Beziehung praktizieren sollte. Moralisch hält ihn nichts davon ab, doch er stuft das Fremdgehen als unnötig ein. Er müsste zudem sein Verhalten vor sich selbst rechtfertigen, und das hieß: Kristen in Gedanken karikieren, ihre Schwächen und ihre „Prüderie“ hochspielen und populärpsycho‐ logische Mantras über die Unbeherrschbarkeit der männlichen Sexualität wiederholen, wie es gewisse Männer mittleren Alters taten, Männer, die Nate meistens nicht nur schmierig vorkamen, sondern auch jämmerlich und eindeutig unattraktiv. 230 6 Emotionaler Kapitalismus als heteromaskuline Praktik 155 <?page no="157"?> 231 Ebenda, S.-239. 232 Ebenda. 233 Ebenda. 234 Ebenda. 235 Ebenda. 236 Ebenda. 237 Ebenda, S.-241. Sowohl Nate als auch Alex sehen nicht das Fremdgehen als Möglichkeit, um ihren Männlichkeitsstatus zu optimieren, sondern nutzen dafür die serielle Monogamie. Sie fügen sich durch ihr negatives Beziehungsverhalten bewusst in die Rolle ein, die ihnen als Männern zugewiesen ist und wollen vor den Augen der Welt bestehen. Nachdem Nate einmal seine Freundin Kirsten betrogen hatte, sein Begehren nach der „Nicht- Kirsten“ 231 „zu etwas Übergroßem aufblähen“ 232 musste, genügt ihm diese Fremdgeh- Erfahrung. Er empfand die Begegnung mit der unbekannten, anderen Frau als erregend, aber sowohl die Erregung als auch die Befriedigung, die er erfuhr, abstrahieren ganz vom körperlichen Erleben. Die körperliche Ebene gestaltet sich als eher zweifelhaft: „Nate musste sich zusammenreißen, um es mannhaft zu ertragen“, 233 denn „Nicht- Kirsten“ entspricht weder seinen körperlichen Bedürfnissen, noch weiß sie um seine Vorlieben beim Liebesspiel. Sie folgt unsanft und ungelenk einer pornographischen Spielanleitung, aber um ihre Kompetenz als Liebhaberin geht es auch nicht. Es geht Nate während dieses unbeholfenen Aktes hauptsächlich um die psychische Befriedigung, die physische Seite ist vernachlässigbar. Ein austauschbares weibliches Objekt, das den pornographic gaze internalisiert hat, erlaubt ihm, „so bühnenreif wie unglaubwürdig“ 234 mit einem gänzlich fremden Menschen, den er „nicht besonders hübsch“ 235 findet, Sex haben zu können, um sich als ein heteromaskuliner Mann zu gebärden, der seine Sexualität völlig von seinen Bindungen und Emotionen abkoppeln kann. Die Erregung, die er dabei spürt, ist immens, obwohl weder die Frau noch die Art, wie sie ihn befriedigen will, sich als besonders angenehm erweisen, aber das ist eben nicht der Punkt. Die Individualität des Gegenübers spielt keine Rolle. Die „Nicht- Kirsten“ ist ein Abziehbild, an der Nate den Status seiner Heteromaskulinität erprobt. Ihre sich sexuell anbiedernde Weiblichkeit bildet die Kontur, in die er seine Vorstellung von sich als erfolgreicher Frauenheld pressen kann. Es erregt ihn dabei seine eigene, gelungene heteromaskuline Performance, die Sexpartnerin bleibt gesichtslos. In Wahrheit war die Frau bloß eine niedliche, pausbäckige, leicht neurotische, lässige, aber nicht überzeugend schlampige angehende Film…irgendwas, was die Leute beim Film gern sein wollten. 236 Die „Fremdgeh-Objekte“ müssen, denkt Nate, um den Machtgewinn an Männlichkeit zu garantieren, sogar „ein kleines bisschen abstoßend“ 237 sein. Als etwas abstoßend empfand Nate daher auch seine „Nicht-Kirsten“, denn es ist diese Mischung aus Verachtung und Reiz des Unbekannten, die den Mann mit einem Erhabenheitsgefühl aus dem Erlebnis hervorgehen. Auf die Frau herabsehen zu können, die ihn sexuell befriedigt hat, steigert den Grad der Heteromaskulinität. Würde die Frau nämlich 156 6 Emotionaler Kapitalismus als heteromaskuline Praktik <?page no="158"?> 238 Kumpfmüller 2016. 239 Glavinic 2004; vgl. dazu: Kauer 2014, S.-273-284. Emotionen evozieren, würde dies das Fremdgehen und das sexuelle Erlebnis nur verkomplizieren und könnte sogar Macht- und Kontrollverlust bedeuten. Für die literaturwissenschaftliche Analyse bringt das Tool des emotionalen Kapita‐ lismus den Gewinn, die Genderidentität des Mannes besser unter die Lupe nehmen zu können, ohne sich mit Fragen nach der moralischen Ehrenhaftigkeit der Figur beschäftigen zu müssen. Ich halte ein Urteil über Nate als amoralische Figur für verfehlt. Gerade dieser Mann bewertet sich selbst ständig und reflektiert jede seiner Handlungen nach sittlichen Standards. Statt eine bestimmte Vorstellung von männlicher Sexualität (als unberechenbar und sich Bindungen verweigernd) zu naturalisieren, sollten wir uns genau anschauen, was uns die Texte über die männlichen Figuren erzählen. Sie erzählen uns von einem Kampf um diese heteromaskuline Männlichkeit. Michael Kumpfmüllers Roman, erschienen 2016, nennt jene Befähigung zur negativen Beziehung gar Die Erziehung des Mannes. 238 6.1 Die schwache männliche Position und der heteromaskuline Zwang zur Asshole-Pose In der Spätmoderne ist es womöglich, zumindest in den benannten Textbeispielen, allein der (negative) Umgang mit der heterosexuellen Bindung, also das Gewinnen und Ablegen von Frauen, was einen Mann zum Mann macht - zumindest, wenn wir uns in einem popkulturell geprägten Umfeld bewegen wie dem, in dem die genannten Romane spielen. Auch der etwas ältere Roman Wie man leben soll 239 von Thomas Glavinic erzählt eine Geschichte der Mannwerdung durch die Befähigung des Protagonisten zur seriellen Monogamie. Die Akkumulation weiblicher, konsumerabler Körper rückt effeminierte bzw. noch nicht als heteromaskulin auftretende Männer in das Licht von „Alphatieren“. Umso strahlender die gewonnen Frauen sind, umso größer ist der Effekt für den männlichen Selbstwert. Es ist nicht zu übersehen, um auf die Romane von Klupp und Waldman zurückzukommen (gleiches gilt jedoch auch für Kumpfmüllers und Glavinics Hauptfiguren), dass, aus einer Perspektive von bürgerlich-konservativen Männlichkeitsnormen betrachtet, weder Nathaniel P. noch Alex Böhm die ehemals gültigen, klassischen Vorgaben an Männlichkeit adäquat erfüllen. Wenn wir den dichotomischen Vorstellungen folgen wollen, die sich im 18. Jahrhundert entwickelt hatten und biologisch begründet worden waren, sollte der Mann aktiv, rational, ökonomisch unabhängig, stark usw. sein und sich nicht über den Körper definieren. Die Frau, die als passives, irrationales, abhängiges, schwaches Komplement für den Mann fungiert, bliebe demnach stets in ihrer Immanenz gefangen. Sie verfügt deshalb nicht über den Status eines freien Subjekts. In der Spätmoderne, in der Frauen einen Subjektstatus und die bürgerlichen Rechte längst erfolgreich für sich eingefordert ha‐ ben, beginnen männliche Subjekte Eigenschaften zu zeigen, die historisch gesehen den 6.1 Die schwache männliche Position und der heteromaskuline Zwang zur Asshole-Pose 157 <?page no="159"?> Frauen zukamen. Oft sind die Frauen in den Gegenwartstexten, so Nates erste Freundin Kirsten, sogar rationaler, zielgerichteter, weniger auf ihre körperliche Erscheinung fixiert als der dargestellte Mann. Kirsten studiert Medizin und wird als Ärztin in einem anerkannten Beruf tätig sein, Nate interessiert sich für Schöngeistiges, was ihn in die Existenz eines ökonomisch prekär lebenden Schriftstellers führen wird. Nates Freundin Kirsten ist, im historisch-bürgerlichen Sinn, männlicher, also aktiver und unabhängiger als er. Sie scheint sich den Subjektstatus erfolgreich erobert zu haben, während Nate noch seine Subjektivität ausbilden muss. Gerade im Medium der Literatur ist es schwer, einem erzählenden Ich, über dessen wenig imposanten Körperbau wir nur erfahren, dass diese Äußerlichkeit einen unsicheren Status von Männlichkeit verleiht, die Figur geschlechtlich richtig einzuordnen. Tatsächlich erscheinen die Eigenschaften, die uns intern fokalisiert präsentiert werden, manchmal eher als unmännlich, ja weibisch (im althergebrachten Sinn). Die autodiegetische Zusprechung der Männlichkeit erfolgt bei dieser Figur (wie auch in Klupps, Kumpfmüllers und Glavinics Romanen) allein durch das Beschwören der heteronormativen Ausrichtung. Frauen zu begehren und zu erobern, ist das, was ihnen von der ersten Seite an Männlichkeit zuspricht, die Erzählstimmen zu männlichen Stimmen macht, während eine ‚Männlichkeit‘, die sich durch Eigenschaften, die historisch als ‚männlich‘ gelten würden, sich nicht finden lässt. Die heteromaskuline Sexualität wird zum Refugium ihrer Männlichkeit. Etwas Anderes als das haben diese Männer nicht zu bieten, um ihre männliche Rol‐ lenkonformität auszuweisen. Ihre Bohème-Existenz, ihre antibürgerliche, ich würde sagen: popkulturelle Männlichkeit unterscheidet sich in fast nichts von dem, was historisch gesehen Weiblichkeit figurierte. Selbst in ihrer Physis gleichen sich die spätmodernen Männer den Frauen an. Alex beispielsweise hat einen Lockenkopf und ist ständig damit beschäftigt, sich einzucremen, weil er unter Neurodermitis leidet. Die Fixierung auf ihr Aussehen (und die Frage, wie sie es verbessern können) effeminiert die Figuren, aber eben doch nicht so, dass wir diese Figuren wirklich als weibliche Figuren (oder als non-binär) lesen würden. Wir kämen gar nicht darauf, Alex’ innere Monologe als die einer Alexandra dechiffrieren zu wollen, selbst wenn wir von der Figur weder den vollen Namen noch primäre Geschlechtsattribute wissen können. Ihre Männlichkeit offenbart sich uns nämlich von den ersten Seiten an permanent durch die Versuche, Heterosexualität erfolgreich zu praktizieren und heteromaskulines „Arschloch“-Gebaren an den Tag zu legen. So stellt sich die Anerkennung als Mann im Text her. Männer und Frauen haben jeweils Rollen aus dem traditionell anderen Gender- Spektrum angenommen. So ist es für einen Mann genauso opportun, den Kinderwagen zu schieben und Hausarbeit zu erledigen und Care-Arbeit zu übernehmen, wie es für spätmoderne Frauen bedeutsam ist, eine Karriere anzustreben und sich rational zu verhalten. Frauen legen ein Benehmen an den Tag, das traditionell als männliches Auftreten galt. Männer wiederum sind nicht mehr die unangreifbaren Familiener‐ nährer. Was einst ihre Hegemonie gegenüber Frauen garantierte, ihre ökonomische Potenz und die Rolle als Familienoberhaupt, müssen sie nun mit Frauen teilen. Es ist 158 6 Emotionaler Kapitalismus als heteromaskuline Praktik <?page no="160"?> nicht ungewöhnlich, dass sich Männer Körperpraktiken wie Intimrasur und Diäten unterwerfen, die ehemals Frauen vorbehalten waren. Die Genderrollen gleichen sich performativ immer stärker an. Heterosexualität setzt aber eine gewisse Differenz voraus. Die Anziehung basiert ihrer Logik nach auf Ungleichheit in der Performanz der geschlechtlich Agierenden, nicht etwa nur auf einer Differenz im Körperlichen, denn welcher Mensch gleicht schon dem Anderen haargenau, sondern auf einer Ge‐ schlechterdifferenz, die sich in der Machtverteilung zeigt. Heteromaskulinität bezieht sich per Definition auf ein heterosexuelles Rollenverständnis, in dem der Mann die Machtposition für sich reserviert hat. Auch unsere Gesellschaft ist noch patriarchalisch geprägt, was bedeutet, dass von Männern erwartet wird, dass sie sich als Machthaber, also als heteromaskulin, in der Zweigeschlechterordnung bewähren sollen. Wie soll sich aber der männliche Machtvorsprung gegenüber Frauen ausdrücken, wenn diese in allen sozialen Bereichen mit ihnen gleichziehen können? Männer der Spätmoderne sind weder ökonomisch noch sozial Frauen überlegen. Gerade im studentischen Umfeld, wo zwei der hier genannten Romane spielen, und in der Kunstszene, die das Umfeld für die anderen beiden Texte liefert, gelten Männer nicht per se als besser, obwohl strukturelle Diskriminierung von Frauen auch dort noch ein Thema ist. Blicken wir noch einmal auf Nate. In unserem literarischen Beispiel war es in allen Beziehungen (ausgenommen der One-Night-Stand) Nates so, dass die Partnerin über mehr Schönheit, mehr Erfolg, mehr Geld, mehr Prestige verfügte als Nate. Um sich von Frauen erfolgreich abzugrenzen und die heteromaskuline Rolle einzunehmen, schien er gezwungen, seine Männlichkeit mit einer leistungsstarken Sexualität, praktiziert in Form von Gelegenheitssex oder als negative Beziehung, zu untermauern. Dem Philosophiemagazin gab die Soziologin Eva Illouz 2018 ein Interview, in dem sie Frauen als „die großen Verliererinnen der sexuellen Befreiung“ bezeichnet. Diese Aussage ist nicht evident. Erst vor dem Hintergrund der ungleichen Rollenverteilung im Feld der Sexualität wird klar, warum für Frauen die Deregulierung sexueller Beziehung und die emotionale Zurückhaltung von Männern zur Herausforderung wird: Die sexuelle Befreiung lässt sich als ein Prozess der Deregulierung betrachten: Sexualität wurde von tradierten sozialen, moralischen oder religiösen Vorschriften abgelöst, in die sie bislang eingefasst war. In der christlichen Kultur hatte die Sexualität eine soziale Zielbestimmung, die Ehe, und eine biologische, die Fortpflanzung. Die Ehe sollte Gefühle, Sexualität und Fortpflanzung verbinden. Das hat Vorgesetzte und Hausherren nicht daran gehindert, Arbeiterinnen und Dienstmädchen zu belästigen oder sogar zu vergewaltigen. Aber die Sexualität war moralisch streng geregelt. Mit der Deregulierung bleibt nur noch eine Ethik übrig, nämlich die des Einverständnisses. Man darf alles tun, was man will, solange die Person, mit der man es tut, darin einwilligt. Das führt dazu, dass es mehr potenzielle Partner gibt, während die Vermittlungen, die bislang den Zugang zu ihnen gewährleisteten, verschwinden. Es ist wie auf dem kapitalistischen Markt, auf dem sich Käufer und Verkäufer direkt begegnen und niemand vorab den Preis festlegt: Der Wert der Ware wird ausschließlich durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage bestimmt. […] Aber warum sind die Frauen hier die Leidtragenden? 6.1 Die schwache männliche Position und der heteromaskuline Zwang zur Asshole-Pose 159 <?page no="161"?> 240 Illouz 2018b. Weil die Deregulierung geschieht, ohne die soziale und wirtschaftliche Macht der Männer anzutasten! […] Für Frauen hat die sexuelle Revolution keine Vorteile mit sich gebracht? Es ist ambivalenter: Frauen haben dank neuer Verhütungsmethoden die Kontrolle über ihren Körper bekommen, darüber hinaus gelten nun vielfältige Formen von Sexualität und auch die weibliche Lust als legitim, das Ideal der Jungfräulichkeit ist verschwunden. Doch die Deregulierung der Sexualität hat Frauen der Währung beraubt, über die sie angesichts der wirtschaftlichen Macht von Männern früher verfügten. Die Gewinner der Revolution sind also die Männer? Sie können sich auf sicherem Posten sexuell verausgaben? Für Männer ist die Trennung zwischen Sexualität, Ehe und Emotion sauberer verlaufen. So gesehen sind Frauen tatsächlich die großen Verliererinnen der sexuellen Revolution gewesen. Die sexuelle Befreiung ging, so behaupten Sie, außerdem damit einher, dass männliche Sexualität durch Leistung und Serialität neu definiert wurde. Was genau meinen Sie damit? Serielle Sexualität bezeichnet den Gedanken, dass ein Mann, indem er möglichst viele Partnerinnen sammelt, die eigene Identität verstärkt. Die weibliche Sexualität ist dagegen ambivalenter geblieben, sie bewegt sich zwischen Serialität und Bindung. Das hat nichts mit einem vermeintlichen Wesen der Frau zu tun. 240 Obwohl Illouz davon ausgeht, dass in den patriarchalen Gesellschaften Männer mäch‐ tiger sind als Frauen, ist gerade die popkulturell geprägte Männlichkeit, nicht zuletzt wegen ihrer ökonomischen Prekarität, beunruhigt, was die Macht angeht. Befördert wird diese Unsicherheit noch durch höher wachsende Standards der Attraktivität für männliche Körper. Das Privileg, nicht über den Körper definiert zu werden, haben Männer im 20. Jahrhundert zunehmend verloren. Die Populärkultur wartet mit immer höher werdenden Standards für männliche Attraktivität auf. Es sind in der Gegenwart kaum männliche Identitäten denkbar, die sich diesen Standards grundlegend entziehen können. Womöglich sind sie für jemanden, der im darstellenden Beruf wie dem des Schauspielers tätig ist, bindender als für Männer, die in akademischen Berufen als Hochschullehrer oder Ingenieure arbeiten. Aber auch weniger medienaffine Männer müssen sich die Frage stellen, wie sie auf Frauen wirken. Das Einkommen allein ist nicht der Garant für heteromaskulinen Erfolg. Ein Mann ist seiner Männlichkeit, seiner Machtposition gegenüber Frauen nicht mehr per se sicher. Wenn sich jedoch im Bereich der Sexualität das herkömmliche Machtverhältnis, welches Frauen zur duldenden Passivität verdammt, herstellen lässt, gewinnen männliche Figuren durch die erfolgreiche Heteromaskulinität die Oberhand. Sie reinstallieren das Patriarchat damit auch gerade dort, wo sich das männliche Gefühl der Übermacht zunehmend verflüchtigt hat. Etwas flapsig ließe es sich sagen, dass das letzte Refugium von Männlichkeit in einer dick culture besteht, in der phallische Macht (durch emotionsfreie Beweise sexueller Potenz) suggeriert wird. 160 6 Emotionaler Kapitalismus als heteromaskuline Praktik <?page no="162"?> 241 Vgl. Waldman 2015, S.-142. Es ist kein Wunder, dass Nate Elisas Tränen genießt, weiß er doch, dass sie eigentlich in eine höhere gesellschaftliche Stellung geboren wurde als er und ökonomisch durch ihre Herkunft abgesichert ist. Es ist ebenfalls kein Wunder, dass gerade auf diesem Feld der sexuellen Eroberungen, welches sich für Männer weniger ambivalent gestaltet als für Frauen, sich Männer ihres Machtstatus’ versichern wollen, indem sie Frauen emotional an der Leine herumführen. Frauen sind anders sozialisiert als Männer, das bedeutet, dass das Sammeln von Sexualpartnern nicht gleichbedeutend mit einer Stärkung der weiblichen Identität ist. Frauen haben in den meisten Fällen einen anderen Umgang mit Gefühlen erlernt als Männer und büßen an Selbstwert ein, wenn ihnen emotionale Kälte entgegenschlägt und Männer sich ihnen gegen‐ über erlauben, „ein Arsch zu sein“. 241 Indem Männer Emotionen zurückhalten und keine verbindlichen Beziehungsangebote machen, während Frauen durch antrainier‐ tes Verhalten schneller bereit sind, emotionale Verbindlichkeit zu schaffen, festigen die reservierten Sexualpartner ihre locker gewordene Hülse der Männlichkeit. Die emotionale Aufmerksamkeit von Frauen kann die prekäre berufliche Stellung und das schlechte Körpergefühl ausgleichen. Durch Gelegenheitssex/ casual sex gelingt es Männern, Macht über Frauen zu gewinnen, gerade wenn die Frauen, aufgrund ihrer Sozialisation, oft auch aufgrund ökonomischer Erwägungen, sich als beziehungsaffin zeigen und den Mann mit emotionalem Support und Care zur Verfügung stehen. Die liebebietenden und liebeshungrigen Frauen zu reinen Sexobjekten zu degradieren, sie wegen vermeintlicher Schwächen (dicke Beine, falscher Kleidungsstil) abzuwäh‐ len, re-stabilisiert das heterosexuelle Machtverhältnis, unabhängig davon, dass im gesellschaftlichen Rahmen die Machtverteilung zwischen Mann und Frau nicht mehr immer eindeutig zu Gunsten der Männer geregelt ist. Nate und Co. ermächtigen sich durch ihre „Arschigkeit“ sowohl als Partizipanten in einer kapitalistisch formierten Beziehungskultur als auch als diejenigen, die die Macht des Blickes innehaben. Sie können sich als Richter der Frauen fühlen, die deren psychischen, physischen und emotionalen Mängel kleinlich registrieren. Der analytisch begabte Nate ist ein Meister der herzlosen Beschauungskunst. Ein per se als stark geltender Mann des 19. Jahrhun‐ derts brauchte das Mittel der emotionalen Zurückhaltung nicht einzusetzen, um sich seine Männlichkeit zu beweisen. Im Gegenteil, ein stabiles Patriarchat erklärte Männer als unabhängig von Frauen, als Menschen, die auf Sexualität verzichten können, wenn sie es für richtig erachten, weil sie rational sind und soldatisch ihre körperlichen Begierden beherrschen können. Ohne Scheu konnte sich ein machtvoller bürgerlicher Mann erlauben, emotional auf Sexualität zu reagieren, eine Frau zu umwerben, aus Liebe zu leiden und zu weinen. Die Angebetete blieb ihm, den Gesetzen des Patriarchats nach, sowieso unterworfen, auch wenn er sich freiwillig vor ihr klein gemacht hätte. Um weibliche Liebe zu werben, tat seiner patriarchalischen Vormachtstellung keinen Abbruch. Er hatte trotzdem, ganz im wörtlichen Sinn, die Hosen an. Seine Macht war gesichert. Die Rollenverteilung zeigte sich mehr als offensichtlich. Männer der 6.1 Die schwache männliche Position und der heteromaskuline Zwang zur Asshole-Pose 161 <?page no="163"?> Spätmoderne müssen die Hosen, die Jobs und das öffentliche Leben mit Frauen teilen. Es ist im Fall von Nate und Alex offensichtlich, dass, je weniger die Männer in ehemals männlichen Herrschaftsbereichen wie bürgerlichen Berufen verankert sind, sie desto mehr im sexuellen Feld reüssieren müssen. Wenn diese kulturschaffenden Männer in Low-Paid-Jobs arbeiten und daher nicht finanzkräftig sind, verfügen sie vielleicht durch ihre Tätigkeit über etwas symbolisches Kapital, aber sie leben dennoch prekär und es ist ihnen nicht möglich, wie ein bürgerlich erfolgreicher Mann aus dem 19. Jahrhundert durch ihr Einkommen für eine Familie zu sorgen (und sich nach Belieben eine finanziell abhängige Geliebte zu halten). Sie sind schlicht darauf angewiesen, dass sich ihre Partnerin selbst versorgen kann. Hätte Nate Elisa, die aus wohlhabendem Hause stammt, geehelicht, wäre ihm unvermeidlich eine Position der Unterlegenheit zugewiesen worden. Er hätte sich der Familie seiner Frau anpassen müssen. Sich von ihr aufgrund der von ihm attestierten Mängel zu trennen, verleiht ihm hingegen Prestige und Hegemonie. Sie bleibt ratlos und verletzt zurück. Weil männliche Machtmittel, die vor den feministischen und sexuellen Bewegungen Männern per Gesetz zustanden, nicht mehr eindeutig gewährleistet sind, die männliche Rolle also zunehmend schwammig wird, scheint der Rückgriff auf eine Ausbeutung weiblicher Emotionalität geradezu verständlich. Je unsicherer die männlichen Figuren sind - Alex und Nate haben nicht nur mit der sozialen Außenseiterposition zu kämpfen, sie fühlen sich auch körperlich nicht völlig den Standards männlicher Attraktivität entsprechend -, desto unerbittlicher agieren sie aus, was sich für sie auf dem Sexualmarkt anbietet. Nur sehr selbstgewisse Männer erlauben sich in der Spätmoderne exaltierte romanti‐ sche Gefühle und eisernen Bindungswillen. Es ist etwas, was man sich leisten können muss. Frauen liefern bereitwillig die Projektionsflächen für das Spiel der Heteromasku‐ linität. Sie können sich nicht einfach völlig emotional unabhängig von Männern machen, weil auch sie der Norm entsprechen wollen. Sie benötigen die männliche Aufmerksamkeit und sie ersehnen Liebe. Die weibliche Resonanz lässt die Männlichkeit der beiden besprochenen Figuren erstarken - ihre moralische Disqualifizierung ist dabei unerheblich -, und es gelingt ihnen, da sie diese Resonanz quantitativ verstärken können, sich auf eine Art als Mann zu fühlen, die ihnen nicht in die Wiege gelegt worden war. Den Frauenhass der INCELS (involuntary celibates), der Männer, die sich im Netz gegen Frauen verbünden, weil sie nicht in der Lage sind, Sexualpartnerinnen zu finden, führe ich in erster Linie auf das Fehlen der Möglichkeit zurück, sich seiner eigenen Männlichkeit durch Sexualität zu versichern. Es ist nicht die körperliche Dimension des unfreiwilligen Zölibates allein, die diese Männer als unangenehm empfinden. Es ist der Verlust ihrer männlichen Geschlechtsidentität (des Status als ‚richtiger‘ Mann), den sie fürchten. Gerade deshalb fallen sie in unzeitgemäße Muster und Argumentationen zurück und bestärken sich gegenseitig. Die Debatte dieses Phänomens würde uns aber von der Literatur wegführen. Mein vorgeschlagener Blickwinkel auf männliche Figuren in der Literatur, die Frauen zum Opfer ihres sexuellen Hungers - oder nennen wir es besser: zum Opfer 162 6 Emotionaler Kapitalismus als heteromaskuline Praktik <?page no="164"?> 242 Vgl. Goldhorn 2020, S. 115: „Arnold trank das Glas Wein aus. Er blickte zu Odile und Esther und auf ihre gebräunte Haut und den Weißwein, und er versuchte, all das zu sehen, was Odile und Esther verband, von dem er keine Ahnung hatte. Er dachte: Alles verschiebt sich. Menschen lernen sich kennen oder vermeiden den Kontakt. Grundlos, durch nichts, gerade weil nichts geschehen ist, ändert sich die Lage. Es braucht keinen Umsturz, keine große Tat, alles verwandelt sich. Arnold hoffte für ein paar Sekunden auf eine virale Pandemie oder einen Meteoriteneinschlag oder die technologische Singularität, in der von der einen Sekunde auf die andere Maschinen die Menschen regierten.“ ökonomischer Kalkulationen - machen, ist ein soziologischer. Das Ausagieren der männlichen Identität in dieser Weise erscheint weder biologisch determiniert noch durch einen miesen Charakter begründet zu sein. Das promiske Verhalten sagt nur das über die Charaktere aus, was die Figuren sich selbst zuschreiben. Es zeigt sich als der identitäre Weg von konfliktscheuen, konformen, nicht gerade herausragenden Männern, die sich dem Zwang unterworfen sehen, ihre Männlichkeit (durch Frauen) erst ausbilden zu müssen und die sich als heteromaskuline Männer qualifizieren wollen. Durch Figuren wie Nate wird männliche Sexualität nicht naturalisiert, sondern sie wird als eine Möglichkeit dargestellt - unter Bedingungen entnaturalisierter Geschlechts‐ charaktere in der Nachfolge feministischer Wellen -, die eigene Männlichkeit zu stabi‐ lisieren. Dazu bedarf es bindungswilliger und emotional offener Frauen. Die männliche Genderrolle hat sich, anders als die weibliche, nicht qualitativ diversifiziert; ihr sind nur Geltungsbereiche (wie Alleinverdiener sein usw.) zunehmend entzogen worden. Die sogenannte gläserne Decke macht Karrieren in vielen Bereichen für Frauen immer noch unwegsamer als für Männer, aber dies ändert nichts an der öffentlichen Wahrnehmung, dass kompetente, schillernde Frauen als Bedrohung angesehen werden, die Männern die Show stehlen. Männer in den Schatten zu stellen, das vermag Kirsten, das vermag Hannah. Wir haben es mit Frauen zu tun, die Nate prinzipiell übertrumpfen können - und deshalb bleibt ihm, aus einer identitären Logik kaum etwas anderes übrig, als den Frauen wenigstens ihr Herz zu stehlen, wenn schon nicht die Show. In Park, einem jüngeren Text, der ein Gegenbeispiel abgibt, wird gezeigt, wie es ein Mann nicht vermag (ohne dass er dies auch erst versuchen würde), sich gegenüber seiner Freundin als „Arschloch“ zu benehmen und wie er deshalb in der negativen Beziehung verloren geht. In diesem Text wird das Beziehungsgefüge von der Frau vorgegeben. Arnold gelingt es nämlich nicht die hegemoniale Rolle, die Führungsposition, einzunehmen und Heteromaskulinität zur Schau zu stellen. In dieser Beziehung diktiert die Frau die Regeln für den sexuellen Austausch. Das macht ihn letztendlich für das weibliche Gegenüber uninteressant und die Sexualität zwischen den beiden zeigt schnell Ermüdungserscheinungen. Hier scheitert die Heterosexualität. Arnold fühlt sich von den schnell zerbrechenden Beziehungen in der Gegenwart überfordert. 242 Dieser Roman hat nicht die serielle Monogamie zum Thema, sondern handelt nur von einer (negativen) Bindung, nämlich der zwischen der Ich-Figur Arnold und Odile. Bemerkenswert ist, dass die junge Frau niemals zum Objekt eines negativen, nicht mal eines skopischen Blickes ihres Freundes/ Liebhabers wird. Arnold agiert zwar in einer heterosexuellen Beziehung, aber er ist gerade kein heteromaskuliner Mann. Ihm liegt die Beanspruchung von Hegemonie nicht. Arnold straft die sich 6.1 Die schwache männliche Position und der heteromaskuline Zwang zur Asshole-Pose 163 <?page no="165"?> 243 Ebenda, S.-173. von ihm zurückziehende Freundin weder mit einem richtenden Blick, noch schaut er auf Odile primär als Objekt seiner Lust; im Gegenteil; ihre Subjektivität wird eine positive Folie, die seine Wahrnehmung lenkt. Arnolds Angebetete zeichnet sich nicht durch die Konsumerabilität ihres Körpers aus, sondern durch ihre Art zu sein, sich zu geben, durch ihre Aktivität. Agency, nicht die Rolle des Beiwerks stand historisch allein Männern zu. In Park steht die Macht der Subjektivität auf Seiten des weiblichen Gegenübers der Hauptfigur, weil sich Odile als unabhängig vom begehrenden Blick eines Beobachters versteht. Odile ist für Arnold gerade ein Mensch, der sich nicht in der Immanenz des fremden Blicks gefangen fühlt und das garantiert ihre Stärke, vereitelt aber seinen heteromaskulinen Erfolg. Arnold blätterte durch einen Kunstkatalog. Er bleib an einem Gemälde von 1930 hängen. Er blickte auf Lotte Lasersteins Abend über Potsdam. Vielleicht lag es nur an der ihn umgebenden Dunkelheit, aber für einen Moment überkam Arnold das Gefühl, die zentral abgebildete Figur sei Odile. Ihre Köpfe ähnelten sich, doch noch mehr war es ihr Ausdruck. Ein Gesicht, das keine Fotovisage zog, ein Gesicht, das sich nicht andauernd erinnerte, dass es gefilmt wurde oder fotografiert, ein Blick, der in der Lage war, die Dinge einfach wahrzunehmen, so wie sie waren, als irreparabel, aber nicht zufällig. Das war Odiles Blick. Eine Entspanntheit, nicht binär, nicht Regel oder Chaos, nicht aktiv oder passiv, sondern völlig offen. Odile, wusste Arnold in diesem Moment endlich, war die erste Bewohnerin seiner Zukunft. 243 Da dieser Roman ein Text der allerjüngsten Gegenwart ist, sollten wir weiterhin beobachten, ob der emotionale Kapitalismus als Teil spätmoderner Mannwerdung weiterhin in Texten erfolgreich ausagiert wird, oder ob, wie in Park, sich eine männliche Résistance zu dieser Form der Mannwerdung erkennen lässt. Park verstehe ich als Verweigerung von „Macho-Männlichkeit“. Obwohl die Beziehung in diesem Roman zwischen Mann und Frau auch nicht hält, lässt sich eine gelungene Heterosexualität ohne Heteromaskulinität vorstellen, die dann vielleicht einfach ‚Liebe‘, ‚Beziehung‘ genannt wird und sich nicht über das Gegengeschlechtliche definiert. Vielleicht beginnen sich die Geschichten der Zurückweisung, die Kirsten, Elisa, Hannah durch Nate und Leni durch Alex erfahren, zunehmend auszuerzählen und wir sehen eine Entwicklung, in der „der Typ Mann […], den Frauen als Arschloch beschimpfen“, als ein literarisches Muster für Männlichkeit langweilig zu werden droht, so dass das „Arsch‐ lochbenehmen“ nur noch als biedere Konformität gelesen werden wird, die weder besonders männlich noch menschlich ist. Es mag sein, dass sich die begehrenswerte Männlichkeit schon so zu entwickeln beginnt, dass sie Queeres und Feministisches in ihre Performance integriert. Die hier ausführlich analysierten Texte spiegeln diese Entwicklung noch nicht. Wenn die ihres Selbst bewusste, nicht vom Blick abhängige Frau die Bewohnerin der Zukunft ist, dann ist der Mann als hegemonialer Blickträger nicht mehr haltbar; womöglich wird dann auch das Liebesspiel grundsätzlich „nicht binär“, was bedeutet, dass Menschen ihre gegenseitige Anziehung nicht durch gegen‐ 164 6 Emotionaler Kapitalismus als heteromaskuline Praktik <?page no="166"?> geschlechtliche Attribute ausschmücken müssen. Sollte Heterosexualität, verstanden als eine Beziehungsform zwischen einem männlich gelesenen und einem weiblich gelesenen Menschen, nicht mehr auf einem ungleichen Machtverhältnis beruhen, müssten heterosexuell begehrende Männer nicht heteromaskulin agieren. Allerdings ist es dann auch unnötig, das Modell heterosexuelle Beziehung zu nennen. Dann sehen wir einfach eine Liebe oder eine Beziehung, die nicht von Geschlechtspositionen aus (männlich, weiblich), sondern von Individuen gelebt wird. Es ist nicht auszuschließen, dass Machtverhältnisse weiterhin eine Rolle spielen, aber sie wären nicht mehr an Genderrollen gebunden. Männer müssten in dieser utopischen Version den Verlust der unangefochtenen patriarchalischen Vormachtstellung nicht durch emotionalen Kapi‐ talismus auszugleichen versuchen. Sie müssten Frauen nicht gezielt ihrem lieblosen Blick unterwerfen. Sie müssten nicht versuchen, die Hosen symbolisch anzubehalten, indem sie sie besonders oft ausziehen. Nate und Alex haben diese Freiheit offenbar noch nicht. 6.1 Die schwache männliche Position und der heteromaskuline Zwang zur Asshole-Pose 165 <?page no="168"?> 244 Vgl. Kauer 2016. 7 Aporien der spätmodernen Geschlechterdifferenz und deren (scheinbare) Auflösung im Genre des Mommy Porn Zum Bild der spätmodernen Frau, vor allem wie von der Popkultur vorgegeben, gehört eine feminine, d.h. auf Männer und deren Bedürfnisse gerichtete aber doch gleichsam autonome Sexualität. Wie wir in dem Kapitel über das Triple Entanglement gesehen haben, besteht weibliche Identität aus einem konservativen Anteil des Weiblichkeits‐ ideals, dem Vermögen der Frau, ihre ökonomische Unabhängigkeit zu beweisen und zugleich verlangt weibliche Identität auch, um anerkannt zu werden, dass Frauen nicht nur eine gewisse sexuelle Verfügbarkeit ausstrahlen, sondern auch kompetent, autonom und freizügig mit ihrer Sexualität umgehen können. Sich als sexuelles Objekt zu präsentieren - wie freizügig und selbstbewusst auch immer - ist in letzter Konsequenz eine Identifikation mit der männlichen Rolle. Die Idee der weiblichen sexuellen Freiheit entstammt einem patriarchalischen Kontext und ist nicht genuin auf weibliche Bedürf‐ nisse abgestimmt. Es ist keine Überraschung, dass die sexuelle Selbstbestimmung der Frau nun gerade nicht oberstes Anliegen des Patriarchats darstellt. Frauen beanspruchen daher, wenn sie exaltiert auf das Ausleben der Libido pochen, eine Freiheit, die ihrer Positionierung im heterosexuellen Spiel nicht entspricht. 244 Sie entspricht ihnen deshalb nicht, weil das konservative Muster, nach dem weibliche Personen zumeist sozialisiert sind, als Garant für ihre Anerkennung nicht die Zurschaustellung sexueller Freizügigkeit, sondern die Fähigkeit, emotionale Resonanz zu bewirken, vorgibt. Frauen sollen sich nicht nur nach ihrer Libido richten. Wie das vorausgehende Kapitel gezeigt hat, führt dieser Umstand dazu, dass Frauen sich von Männern „emotional ausbeuten“ lassen. Der Ausspruch, dass Sexualität eine große Bedeutung für Frauen hat, entwickelte sich seit dem third-wave feminism unter dem Schlagwort ‚Sexpositivismus‘. Da weibliche Perso‐ nen laut des Geschlechterdiskurses, der seit dem 18.-Jahrhundert gilt, die Triebhaftigkeit zu bezähmen haben, ihnen die Personifizierung von Keuschheit auferlegt worden war, muss die sexpositivistische Frau stets fürchten, als unkonventionell, zu vermännlicht, also unweiblich wahrgenommen zu werden. Mit zu großer, sachlicher Kompetenz im sexuellen Bereich verwirft sie den konservativen Anteil des Weiblichkeitsideals. Eine Frau, die spröde, sexuell eher zurückhaltend agiert, als entstamme sie dem 19.-Jahrhun‐ dert, kann allein durch „sexuelle Reinheit“ in der Gegenwart aber auch nicht reüssieren. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ist für eine Frau zu befürchten, aus Mangel an Sexyness in den Augen der WeIt an ihrer Weiblichkeit zu versagen. Sexyness und sexuelle Reserviertheit gelten für Frauen gleichermaßen als Richtlinie. Die Kommunikationspsy‐ chologie spricht von einem Double-Bind, wenn sich zwei Mitteilungen der Sender*innen unmöglich vereinen lassen. Damit bringen sie die Empfänger*innen in eine unlösbare, ja <?page no="169"?> paradoxe, Situation: um die eine Information/ Handlungsaufforderung wahrzunehmen, muss die andere Information/ Handlungsaufforderung ignoriert werden und umgekehrt. Die meisten Frauen haben die widersprüchlichen Weiblichkeitsvorgaben schon so tief internalisiert, dass sie aus eigenem Antrieb versuchen, sich nach den widersprüchlichen Anweisungen auszurichten, letztendlich aber niemals ganz erfolgreich sind. Immer bleibt der Schatten eines Misserfolgs entweder auf der Ebene des scheuen Objekts, das nur püppchenhaft auf männliches Begehren reagiert oder auf der Ebene des selbstbewussten, autarken Subjekts, das freizügig agiert und sich nimmt, was es will, aber nicht liebenswert genug erscheint, als dass sich ein Mann völlig auf sie einlassen könne. Erschwerend kommt hinzu, dass Frauen der Gegenwart auch im beruflichen Erfolg hinter Männern nicht zurückstehen sollen. Stets andere Prioritäten zu setzen als die, der eigenen Karriere zu folgen, bedeutet auch einen herben Schlag für die weibliche Anerkennung. In Laura Karaseks Debütroman Verspielte Jahre (2012) wird diese Unfähigkeit, sich zum erfolgreichen Subjekt in der Berufswelt zu entwickeln, dadurch verhindert, dass die postadoleszente Protagonistin ihre Energien in ihren Liebesaffären, im wörtlichen Sinn, verspielt. Sie sucht ihre Anerkennung als Frau, die im späten 20. Jahrhundert geboren worden ist, allein durch sexuelle Resonanz. Diese Eindimensionalität glückt nicht. ‚Aporie‘ wird hier im philosophischen Sinn verwendet und bezeichnet eine Schwierigkeit, die nicht mit den Mitteln der Logik und Erfahrung lösbar ist bzw. überwunden werden kann. Die Verstrickung der Weiblichkeit in drei verschiedene Muster führt zu neuen Formen von Beherrschbarkeit der Frauen durch das Patriarchat. Alte Herrschaftsformen wer‐ den abgelöst, aber durch internalisierte Weiblichkeitsvorgaben machen sich Frauen weiterhin unfrei. Die Richtlinien für das Frausein funktionieren nicht durch die direkte Unterdrückung (der weiblichen Libido oder der Karriereambition etwa), sondern durch ideologische Konstrukte darüber, was eine ansprechende, anständige, anerkennenswerte Frau auszumachen hat. Bei der heterosexuellen Paarbeziehung stellt sich für eine Frau immer wieder die Frage, in welcher Rolle sie agieren und den Mann bezirzen soll: als ein eher passives Lustobjekt oder als die starke autonome Frau, die aktiv handelt. Die Unmöglichkeit, diese „Frauenfrage“ zu lösen, gestaltet sich als Aporie. Der Leitgedanke dieses Kapitels wird es sein, dass der innere Druck, das richtige Weiblich‐ keitsbild zu verkörpern, dem sich viele spätmoderne Frauen ausgesetzt sehen, durch die sogenannten Mommy Porns kanalisiert werden kann. Dort lässt sich mit irrationalen Kunstgriffen die Aporie auflösen. Die Kunstgriffe sind genau genommen eher triviale Griffe, „Kitschgriffe“. Frauen sind in diesem Genre zu aufregendem Sexualverkehr bereit, gleichzeitig erscheinen sie in ihrer lustvollen Positionierung sowohl als Objekte männlichen Begehrens als auch als lustvolle Agentinnen ihres eigenen Begehrens, die die ihnen zukommende Rolle der Gespielin des Mannes vollends genießen können. Das 168 7 Aporien der spätmodernen Geschlechterdifferernz und deren scheinbare Auflösung <?page no="170"?> 245 Die drei Anforderungen an Frauen sind ein Klassiker in der Etablierung des Weiblichkeitsbilds, das stets zwischen den Ambivalenzen, Dame (Gesellschaft), Heilige (Familie), Hure (Sexualität) changierte. „Der Männertraum von der idealen Frau lautet doch eher Heilige und Hure: in Gesellschaft eine Dame, in der Familie ein Engel und im Bett eine Hure.“ (Die neue Südtiroler alles läuft vor dem Hintergrund einer sozial erfolgreichen und unabhängigen Existenz der Frau ab. Die absurden Handlungsverläufe wie z. B. in Blanka Lipińskas 365 Tage ermöglichen Leserinnen, sich in eine immens abhängige und schwache Position, hier als Entführte eines Mafiapaten, hineinzudenken, ohne sich dabei als trauriges Opfer fühlen zu müssen. Dieser Roman zeigt einerseits die weibliche Ich-Figur als reines Begehrensobjekt, als passives „Mäuschen“, andererseits stellt er aber die Behauptung auf, dass die Protagonistin jenseits des Settings der Entführung eine selbstständige, emanzipierte, energiegeladene Frau und alles andere als ein „Mäuschen“ darstellt. Mommy Porns antworten auf das Double Bind mit einer Doppelmoral der Geschichte oder, wir könnten auch sagen, mit einer doppelten Dramaturgie. Der despektierlich gemeinte Begriff ‚Mommy Porn‘ gefällt mir in diesem Zusammenhang so gut, weil er ähnlich dem Begriff ‚Frauenliteratur‘ suggeriert, dass weibliche Wesen eine besondere Vorliebe für scheinbar minderwertige Genres haben, jedoch blind dafür ist, dass die Definition als Frau oder als Mommy (Mutti) ein weibliches Wesen mit Fragen konfrontiert, die in diesem Genre, wenn auch auf unrealistische Weise, thematisiert und für die sogar märchenhafte Lösungen angeboten werden. ‚Mommy Porn‘ ist eine despektierliche Bezeichnung für erotische Literatur, die vor allem von Frauen konsumiert wird. Sie suggeriert, dass die Art der Darstellung nur für naive, sentimentale Leserinnen interessant ist. Spätmoderne Frauen stehen vor dem Problem, dass sie - wenn sie einer der Anforde‐ rungen (konservativ, emanzipiert, sexpositivistisch zu sein) zu konsequent nachgehen, sei es im altmodischen Rollenbild der hingebungsvollen Partnerin/ Mutter, sei es in der sozialen, ökonomischen Autonomie oder durch die hedonistische Idee des Auslebens der sexuellen Freiheit - stets dafür zur Rechenschaft gezogen werden können, den anderen beiden Anforderungen nicht gerecht zu werden. Damit meine ich Vorwürfe, die gegenüber der sogenannten Karrierefrau erklingen, dass diese ihre Familie oder Sexualität vernachlässigen würde; aber ich meine auch Beschwerden über die mangelnde emanzipatorische Ambition einer jungen Mutter, die sich Haus und Heim verschrieben hat. An ihr könnte bemängelt werden, dass sie wie ein Muttertier agiere, ihre Selbstständigkeit verlöre und feministische Errungenschaften verrate. Es lassen sich auch machistische bzw. misogyne Beschwerden denken, dass sowohl das „Heimchen am Herd“ als auch die erfolgreiche Berufstätige nicht mehr sexy genug auftreten würden und somit die attraktive Weiblichkeit dieser Frauen erlösche. 245 7 Aporien der spätmodernen Geschlechterdifferernz und deren scheinbare Auflösung 169 <?page no="171"?> Tageszeitung, 12.3.2021; https: / / www.tageszeitung.it/ 2021/ 03/ 12/ hure-oder-heilige/ [letzter Zugriff im Februar 2023].) 246 Lipińska 2020, S.-47. 247 Ebenda, S.-141. 248 Ebenda, S.-153. Welche Labsal für die geplagte Frauenseele ist dann eine Frauenfigur, die sich keiner Beschwerde aussetzen muss, die allen Ansprüchen scheinbar mühelos Genüge tut. Wenn die hingebungsvolle Liebhaberin in 365 Tage passiv die Phantasien des Mannes bedient - also ihre Autonomie außer Acht lässt -, so ist doch nicht sie daran schuld bzw. als Püppchen zu verdammen. Der suggestive, irrealistische Handlungsverlauf des Romans ist eine reizvolle Aussicht für Frauen, die immer wieder damit konfrontiert sind, dass sie in der einen oder anderen Hinsicht als Frauen nicht genügen. In 365 Tage wird nämlich eine Heldin entworfen, die in jeder Hinsicht genügt. Sie ist nämlich unfreiwillig in die Lage der Sexdienerin geraten. Sie braucht sich nicht darüber den Kopf zerbrechen, wenn sie der „unwiderstehlichen Mischung aus Macht und Geld“ 246 als „Weibchen“, das sie einem konservativen Muster nach auch perfekt darstellt, nichts entgegenzusetzen hat. Ihre Widerstandslosigkeit beruht auf äußerlichem Zwang. Es wirkt wie eine Reminiszenz an den Arbeitsalltag der Leserinnen des Buches, die sich oft zwischen Familie und Beruf aufreiben, dass Lauras lustbesetzte Objektposition an der Seite eines Mannes, der ihr jeden Wunsch erfüllen kann, nicht dazu führt, dass sich die Figur vom modernen Weiblichkeitsbild, von einer vom Mann unabhängigen sozialen Position psychisch zu verabschieden gedenkt. Wenn ich schon Mäuschen spielen sollte, wollte ich wenigstens ein betrunkenes Mäuschen sein. 247 Einerseits gefiel mir das Leben, das ich [als Entführte; K. K.] seit einiger Zeit führte, andererseits war ich nicht die Frau, die nur für einen Mann lebte. 248 Aber nicht nur das. 365 Tage stellt stets klar heraus, dass die Protagonistin die Sexualität vollumfänglich genießt. Sie agiert zwar als Sexobjekt und ist den Bedürfnissen des Mannes ausgesetzt, aber sie erfährt dabei Befriedigung, obwohl sie in ihre Lage gezwungen wurde. Die Lage als Gefangene fühlt sich angenehm an, denn sie hat den Vorteil, dass ihre Rolle als Frau völlig komplikationslos offen liegt und ohne aktiven Widerstand erfüllt werden kann. Sie muss über ihre Handlungen nicht nachdenken. Sie wird in sie gezwungen. Dieser logische Widerspruch, dass Zwang angenehm ist, ist kein Zufall. Frauen als selbstbewusste Agentinnen ihrer sexuellen Begierde zu zeigen, obwohl sie eigentlich in einer Objektposition gefangen sind, gebiert oft absurde Handlungsverläufe. Im Roman Vladimir wird uns eine Frau vorgestellt, die ein unstillbares Begehren für ihren um zwanzig Jahre jüngeren Kollegen Vladimir fühlt. Um dieses Begehren zu stillen, entführt sie den jungen Mann. Ich habe diesen Text bereits in einem anderen Kapitel thematisiert; er lässt sich aber auch in diesem Kontext als argumentatives Spiegelbild zu der Entführungsgeschichte Lauras gebrauchen. Während die Geschichte, in der 170 7 Aporien der spätmodernen Geschlechterdifferernz und deren scheinbare Auflösung <?page no="172"?> 249 Vgl. Jonas 2022, S. 10: „ich könnte selbst einer sein und nicht eine alternde weiße Frau Ende fünfzig […]“ (s. Fn. 147). 250 Vgl.ebenda, S.-52: „Also, weil Sie sind eine tolle und geniale Frau. Wir finden, Sie sind echt heiß.“ 251 Ebenda, S.-62f. ein Mann die Direktion innehat, von einem Happy End gekrönt ist, weil sich die Männlichkeit darin genauso etabliert, wie es ein konservativer Diskurs vorgibt, ist der Misserfolg für die Täterin in Vladimir zwangsläufig. Die Entführerin Vladimirs ist auch eine spätmoderne Frau und damit nicht nur ein sexpositivistisches Subjekt, sondern auch, wie es Frauen im Patriarchat zu sein haben, im Grunde von Anfang des Romans an ebenfalls auf die Objektfunktion abonniert. Ihre Gefangenheit in einer machtlosen, vom Urteil des Mannes abhängigen Position kann sie nicht auflösen, indem sie sich nach männlichem Muster verhält. Das Gebot, das für eine Frau gilt, nämlich geschlechtlich anziehend zu sein, ist dadurch nicht aufgehoben. Sie gibt sich als Person zu erkennen, die den male gaze internalisiert hat, nennt ihre Psyche die eines „alten, weißen Mannes“. 249 Sie identifiziert sich zwar scheinbar mit einer männlichen Subjektposition, aber trotzdem wäre es für ihr Selbstbild wichtiger, vom Mann begehrt zu werden, als sich selbst zum Begehrenssubjekt aufzuschwingen. Konkret zeigt sich in diesem Roman, dass es für eine Frau nicht gerade der Königsweg ins sexuelle Glück ist, ihr Sehnsuchtsobjekt zu entführen und zum Sex zu nötigen. Die Entführung verspricht keine vollständige Befriedigung, denn sie geht auf Kosten eines narzisstischen Selbst, indem sich die Entführerin eingestehen muss, nicht aus freien Stücken vom Mann als Liebesobjekt erkoren worden zu sein. Interessant ist nämlich, dass sich die Ich- Erzählerin, trotz ihres abwegigen Benehmens, dem patriarchal Other völlig unterwirft. Wenn sie ihren Körper usw. beschreibt, nimmt sie einen Blick auf sich ein, der von Abscheu gegenüber körperlichen Alterserscheinungen getragen ist, während der Blick, den die diegetisch anwesenden Anderen, 250 zumal Frauen, auf sie richten, sich als viel gnädigerer als ihr eigener erweist. Sie spricht, wenn sie über sich redet, in einer Sprache des abstrakten Allgemeinen, so dass die Erzählposition zwar autodiegetisch wirkt, aber heterodiegetisch ist. Ein (männlich gedachter) Richter, der sie ständig bewertet, lehnt sie ab, so dass sie sich selbst zuwider ist. Nach dem letzten Freitagseminar ging ich - wie ferngesteuert und mit dem deutlichen Gefühl mich lächerlich zu machen - für eine Anti-Cellulite-Massage in die öffentliche Spa, wo ich mir außerdem Selbstbräuner auf die Beine sprühen ließ, eine langwierige, dumme und unangenehme Prozedur, für die ich mich selbst verachtete. […] Ich glaubte eigentlich nicht daran, danach verführerischer auszusehen, es war eher so, dass ich um meinen Körper herum ein Schutzschild brauchte, ein Schutzschild aus Gepflegtheit, Verschönerung und körperlicher Würde. Was mir jedoch gründlich misslang. Die Bräune erwies sich als dunkles Orange, meine Cellulite war unverändert. Ich bereute zutiefst, eine so verrückte Summe ausgegeben zu haben, und beschloss, am nächsten Tag eine Hose zu tragen und nicht ins Wasser zu gehen. 251 7 Aporien der spätmodernen Geschlechterdifferernz und deren scheinbare Auflösung 171 <?page no="173"?> 252 Lipińska 2020, S.-19f. Mit dieser Kosmetikbehandlung bereitet sie sich auf einen Besuch Vladimirs vor, den sie zu einer Art Poolparty gebeten hat. Um in eine Interaktion mit Männern zu treten, sollte der Körper irgendwie ansprechend sein. Doch dieses internalisierte begehrenswerte Ideal-Ich, dieser internalisierte Ideal-Körper erscheint ihrer Selbstwahrnehmung nach meilenweit vom der Ich-Vorstellung entfernt, die sie von sich hat. Ihrer Meinung nach ist die Frau, auf die Vladimir treffen wird, eine verachtenswerte. Die Differenz zwischen abstraktem Ideal-Ich und ihrem konkreten Ich gebiert die Abscheu dieser Frau sich selbst gegenüber. Dieselbe internalisierte Vorstellung von notwendiger körperlicher Begradigung durch richtiges Styling finden wir in 365 Tage, nur scheint in dem Fall der Versuch, dem Gebot zu gehorchen, hier nach Aussage der Ich-Figur von reichlich Erfolg gekrönt zu sein. Wenn Laura über sich schreibt, um sich für die Urlaubsreise mit ihrem Freund zurechtzumachen, klingt es, als würde ein in ihr ruhender Schönheitsberater ihr Outfit zusammengestellt haben, der sie als Ideal-Frau zu erschaffen vermag und die Differenz zwischen dem Idealbild und sich selbst verwischt. Auch hier sehen wir ein Selbstbild, das einer richtenden inneren Instanz unterworfen ist. Diese innere Instanz ist ihr wohlgesinnterer als der kritische Betrachter im obigen Zitat, doch die Struktur ist dieselbe. Die Körperlichkeit ist für sich genommen unzulänglich, sie bedarf der Verschönerung. Für die Frau reicht es nicht aus, einfach sie selbst zu sein, um zu gefallen. Sie muss sich optimieren, nur versteht es eine sexuell erfolgreiche Frau, ihre Unzulänglichkeit gut zu kaschieren bzw. ihre Unzulänglichkeiten sind nur graduell, so dass sie überhaupt kaschierbar sein können. Während die Differenz zwischen Ideal und Ich bei der ersten Erzählerin unüberwindlich scheint, erfreut die zweite Erzählerin ihre Leserinnen mit Handlungsanleitungen, wie diese Differenz nivelliert werden kann. Ein Blick in den Spiegel bestätigte mir, wie urlaubsreif ich war. Die letzten Monate hatten ihre Spuren hinterlassen - meine dunklen Augen blickten apathisch und resigniert. Norma‐ lerweise hielt ich mich für eine Klassefrau, aber nicht hier und heute. […] Ich putzte mir die Zähne, steckte mein Haar hoch und tuschte mir die Wimpern nach - zu mehr war ich nicht in der Lage. Allerdings reichte das völlig, denn aus Faulheit ließ ich mir regelmäßig Brauen und Wimpern färben. So konnte ich die morgendlichen Visiten im Bad auf ein Minimum beschränken, und dadurch blieb mir ein Maximum an Zeit zum Schlafen. Bereits am Vorabend hatte ich die Kleider für meine Reise bereitgelegt. Unabhängig von meiner Stimmung und anderen Umständen, auf die ich keinen Einfluss hatte, musste ich immer so gut wie nur möglich angezogen sein. Im richtigen Outfit fühlte ich mich sofort besser - und das sah man mir ganz sicher auch an. Eine Frau soll in jeder Lebenslage hervorragend aussehen, das hatte mir meine Mutter von klein auf eingebläut, und wenn mein Gesicht im Moment zufällig mal nicht so attraktiv war wie gewöhnlich, dann musste ich eben davon ablenken. Für die Reise hatte ich kurze Shorts in hellem Jeansblau, ein weites weißes Hemd und ein leichtes graumeliertes Baumwolljackett gewählt. […] Ich schlüpfte in meine grau-weißen Sneaker von Isabell Marant und war fertig. 252 172 7 Aporien der spätmodernen Geschlechterdifferernz und deren scheinbare Auflösung <?page no="174"?> 253 Im Original wiederholte/ pflegte [„powtarzała“] die Mutter das Schönheitsgebot oft verbal, was die übertragene Bedeutung von ‚jemandem etwas einbläuen‘ ist, aber eine Assoziationskette zum ‚Schmerz‘ wird auch in der Originalsprache eröffnet, wenn auch an anderer Stelle, wo es heißt, dass eine Frau trotz Schmerzen immer schön zu sein habe. Die psychische Inskription der Schönheit in den weiblichen Körper jenseits physischer Disposition besteht auch im Polnischen in dieser Textstelle; Lipińska 2018: „Moja mama powtarzała mi, że kobieta nawet jak cierpi, powinnabyć piękna, a skoro moja twarz nie mogła być tak atrakcyjna jakzwykle, należało odwrócić od niej uwagę.“ [„Meine Mutter pflegte mir zu sagen, dass eine Frau, auch wenn sie Schmerzen hat, schön sein sollte, und da mein Gesicht nicht so attraktiv sein konnte wie sonst, musste die Aufmerksamkeit davon abgelenkt werden“] (https: / / www.ebooky.pl/ 365-dni/ [letzter Zugriff im März 2023]). Das Wort „eingebläut“ ist eine Wahl, die die Übersetzerin getroffen hat, um die stetige Vereidigung der Tochter auf Attraktivität durch die Mutter auszudrücken. 253 Der deutsche Ausdruck ist beachtenswert, weil ‚einbläuen‘ im wörtlichen Sinn heißt, dass etwas mittels eines schmerzhaften Prozesses in den Körper überführt wird. Er besagt, dass Sanktionen drohen, wenn eine Frau sich nicht angemessen um ihr Aussehen kümmert. Dies scheint eine Lektion zu sein, die Laura perfekt gelernt hat, denn ihr Aussehen ist, trotz Urlaubsreife, top genug, dass Massimo, dem Frauen reihenweise erliegen, ihr bei der ersten Begegnung verfällt und seine Traumfrau in ihr erkennt, was ihre Entführung zur Folge haben wird. Warum bei Laura das „Minimum“ ausreicht, während das Maximum einer 200 Dollar-Behandlung bei der älteren Protagonistin keinen Erfolg zeitigt, hat auch mit einer heterodiegetisch wirkenden Instanz, die sich als Schönheitsideologie entpuppt, zu tun. Laura ist per se schöner, denn sie wird von Männern begehrt, die älter, nicht jünger als sie sind, was besagt, dass sie das Spiel der Heterosexualität noch mit Trumpfkarten spielt. Es ist ein Klischee unserer Gesellschaft (sicher nicht bar jeglicher Empirie), dass älter werdende Frauen keine andere Möglichkeit haben, als ihre Weiblichkeit in Termini des Verlusts zu beschreiben (nicht mehr jung, nicht mehr frisch, nicht mehr schlank bzw. nicht mehr wohlgeformt usw.) - und, indem eine jüngere Schriftstellerin so eine Negativfigur entwirft, kommen wir nicht umhin, dies als ängstliche Projektion eines Frauenhirns zu lesen. Für Frauen vor der Menopause sind ältere Frauen das größte Schreckensbild, weil ihnen erstens immer ein neidvolles Konkurrenzverhalten unterstellt wird, aber zweitens auch, weil diesen Frauen abgesprochen wird, sich noch positiv wahrnehmen zu können. Die patriarchale Ideologie unterstellt den Frauen (und zwar eigentlich in jedem Alter) sie hätten keine anderen Ressourcen, als mit Intrigen die Weiblichkeit jüngerer Frauen oder die Weiblichkeit von Frauen, die nach Maßstäben des skopischen Kapitalismus bzw. nach Maßstäben ihrer Konsumerablität über ihnen stünden, abzuwerten. Dieses patriarchalische Klischee, Frauen stets in Konkurrenz zu anderen Frauen zu sehen bzw. sie so darzustellen, strukturiert den Roman Vladimir ebenso wie 365 Tage. Der struktu‐ relle Sexismus in Vladimir, wo die Konstruktion ‚alte Frau‘ nach patriarchalem Muster weitergeschrieben und unverhohlen Altersdiskriminierung betrieben wird, ist derselbe wie in dem Bestseller, wo dem Jugendkult anhand standardisierter Eigenschaften einer auch für sich selbst noch als schön geltenden Frau um die 30 gehuldigt wird. Obwohl die Haltung des nicht pornographischen Gegenwartsromans zu Frauen nicht explizit eine 7 Aporien der spätmodernen Geschlechterdifferernz und deren scheinbare Auflösung 173 <?page no="175"?> 254 Vgl. Jonas 2022, S.-38. 255 Der Universitätsroman Mein letztes Jahr der Unschuld (auf Deutsch 2024 erschienen) untersucht diese Form von „falscher Adressierung“, des Unterworfenwerdens genau. negative ist, ist die Misogynie und Altersphobie dort ebenso evident wie in dem Text, der erzählt, dass Frauen ihr Streben nach hervorragendem Aussehen von mütterlicher Instanz „eingebläut“ worden ist. Jede/ m Leser*in des Romans Vladimir kommt die Hauptfigur irgendwie schlecht gealtert vor, ohne dass wir eine konkrete Vorstellung haben, wie die Frau eigentlich aussieht und wirkt. Sie hat ihr Ergrautsein internalisiert. Die Abhängigkeit des Selbstbildes vom male gaze ist aber nicht nur auf das Äußere bezogen. Ihr Wert als Wissenschaftlerin ist dem männlichen Urteil gleichermaßen unterstellt. Es handelt sich nämlich um einen klassischen Universitätsroman, der nicht nur die sexuelle Autonomie der Frau fraglich erscheinen lässt, sondern auch die intellektuelle. So liest sich die Fixiertheit auf den erfolgreichen Vladimir, welche die Hauptfigur umtreibt, auch als Metapher für die Fixiertheit auf die Meinung des Mannes, die Frauen im Wissenschaftsbetrieb oft zeigen. Obwohl die Hauptfigur selbst eine Professorin ist, besteht ihre Rolle eigentlich nur darin, Resonanzkörper für die Gedanken der Männer zu sein. Sie subjektiviert sich, da sie an ihrer Schönheit zweifelt, dadurch, eine wunderbar emphatische Gesprächspartnerin zu sein, welche die Gedanken der Männer gut zu verstehen vermag. Ihre rezeptive Kompetenz offenbart sie gerade auch vor Vladimir. Frauen sind, beruflicher Meriten zum Trotz, die sich die Protagonistin selbst sowieso nicht zuspricht, 254 Resonanzkörper. Der Roman kritisiert die Me-Too-Debatte als ungeeigneten Diskurs, um die weibliche Unterdrückung im Unibetrieb wirklich zu fassen. Das Abschieben von Frauen auf den zweiten Rang operiert nicht vordergründig mit Mitteln der sexuellen Ausbeutung (wie aus anderen Branchen, etwa der Filmin‐ dustrie, bekannt), sondern mit der Verweigerung von Diskurshoheit. Frauen machen sich im diskursiven Austausch zu bestätigbaren Objekten, denn es ist oft genau ihre Funktion, das Bewundern und Anhimmeln von scheinbar klügeren Männern, nach deren intellektueller Bekräftigung sie verlangen. Die Aussagen von Frauen werden erst dann als gültig erachtet, wenn ein Mann sie bestätigt (Echoing). Frauen stellen sich manchmal freiwillig ins Abseits und überlassen den Männern das Wort, weil, wenn sie dieselben Wichtigtuer-Strategien (Mansplaining) oder dieselbe Distanz-Haltungen wie ihre Kollegen anwenden würden, sie als unweiblich, lächerlich und unbeliebt gelten könnten. Sie subjektivieren sich über die Fähigkeit des Verstehens und Repetierens, nicht über Wissensproduktion. Der Me-too-Vorwurf als Totschlagargument gegen männliche Übergriffigkeit wird in diesem Roman deshalb kritisch hinterfragt, weil er den Frauen oft nur dazu dient, den Mangel an Autonomie, dem sie nicht entwachsen können, auf unangemessene Weise zu sanktionieren. Sie machen sich dort zum Opfer, wo sie keines sind, weil ihre wirkliche Opferstellung ein blinder Fleck ist. 255 Der Ehemann der Hauptfigur, auch Professor an derselben Universität, hat, so wird erzählt, in den Jahren, bevor die Romanhandlung einsetzt, regelmäßig mit Studentinnen geschlafen, die ihm besonders gefielen. Für die 174 7 Aporien der spätmodernen Geschlechterdifferernz und deren scheinbare Auflösung <?page no="176"?> 256 Jonas 2022, S.-22. 257 Ebenda, S.-100. Gattin ist klar, dass dieser sexuelle Verkehr nicht auf sexueller Belästigung im engeren Sinn beruht hat. Zu Beginn des Frühlingssemesters im Januar war bei der Verwaltung eine von über dreihun‐ dert Leuten unterschriebene Petition eingegangen, die seine Entlassung forderte. Angehängt waren eidesstattliche Erklärungen von sieben Frauen unterschiedlichen Alters, ehemaligen Studentinnen des College, die während Johns achtundzwanzigjähriger Lehrtätigkeit sexuel‐ len Kontakt zu ihm gehabt hatten. Wohlgemerkt nicht in den vergangenen fünf Jahren; nicht seit Beziehungen zwischen Lehrkräften und Studierenden ausdrücklich verboten sind. Früher hätte man diese Kontakte einvernehmlich genannt, was sie auch waren, zudem hatte John mein stillschweigendes Einverständnis gehabt. Doch heutzutage haben junge Frauen in romantischen Beziehungen offensichtlich keinen Handlungsspielraum mehr. Heutzutage hat mein Mann seine Macht missbraucht, ungeachtet der Tatsache, dass sie ihn überhaupt nur wegen seiner Macht begehrt hatten. Wie immer es in meiner Ehe gerade aussehen mag, beim Gedanken daran gerät mein Blut in Wallung. Meine Wut richtet sich weniger gegen die Vorwürfe an sich als vielmehr gegen die mangelnde Selbstachtung dieser Frauen, ihr fehlendes Selbstbewusstsein und ihr Unvermögen, sich selbst nicht als kleine, vom Wind einer fremden Welt herumgewirbelte Blätter zu sehen, sondern als starke, sexuelle Wesen voller Neugier auf ein bisschen Gefahr, auf einen kleinen Regelbruch, auf ein bisschen Spaß. 256 Den wenig schmeichelhaften Gedanken, dass die jungen Studentinnen sich in die Macht der Männer verlieben bzw. diese zumindest begehren (sich der Macht „hinge‐ ben“, das phallische Phantasma umkreisen), und sich nun dafür schämen, dürfen wir nicht missachten. Das bedeutet allerdings nicht, dass Johns Verhalten nicht kritikwürdig und feministisch analysierbar wäre. Wenn es allerdings mehr Frauen mit Macht gäbe und es einfacher für junge Frauen wäre, sich jenseits des Bettes die Aufmerksamkeit und Anerkennung Höhergestellter zu sichern, dann würden die meisten Frauen wahrscheinlich nicht ihre älteren Professoren begehren und gern auf den Anblick der „schlaffen, pergamentenen Haut, die ihre Penisse überzog, und ihrer zerknitterten Augen im Morgenlicht“, 257 verzichten. Diese Studentinnen sind keine Opfer Johns, wohl aber eines John-gefälligen Patriarchats, das die weibliche Position als Resonanzkörper (ob sexuell oder intellektuell) so viel schneller erreichbar macht als die Position eines eigenständigen, ernstzunehmenden Subjekts. In der Rolle der jungen Frau zu bestehen, die begehrt wird, war für die Professoren-Geliebten so viel komplikationsloser erfüllbar, so viel unaufwendiger zu leben, als sich anzumaßen, auf intellektuelle Gleichwertigkeit zu pochen. Sich auf akademischer Ebene mit Männern gleichrangig zu fühlen, schafft nicht einmal die Ehefrau Johns, die auch Professorin ist. Die prekäre weibliche Identität (bedroht vom Altersdiskurs, von männlicher Dis‐ kursmacht usw.) legt der Roman offen, ohne plakativ feministisch zu sein. Der Roman endet mit einer Entführungsstory. Wie Massimo im Mommy Porn nutzt die sich alt 7 Aporien der spätmodernen Geschlechterdifferernz und deren scheinbare Auflösung 175 <?page no="177"?> 258 McKinnon 1991, S.-22. fühlende Dozentin Gewalt, um sich des Mannes ihrer Träume zu bemächtigen; diese Entführungsstory ist allerdings Schwachsinn. 7.1 Schwachsinnige Geschichten als Antwort auf schwachsinnige Rollenvorgaben Der Schwachsinn, den auch die aberwitzig konstruierte heterosexuelle Beziehungs‐ struktur des Mommy Porns ausmacht, regt aber feministisches Nachdenken an. Die Autorin schreibt die Geschichte weiblicher Unsicherheit fort. In dem Moment, als sie sich als begehrendes Subjekt empfindet, kippt die Handlung in irrationale Verhaltens‐ weisen. Sie scheint nur einem rücksichtslosen Macho gleich agieren zu können, da sie als weibliches Begehrensobjekt versagt. Sie wechselt die sexuelle Position. Nach Catharine McKinnon (Towards a feminist theory of the state) stellt sich das heterose‐ xuelle Geschlechterverhältnis so dar: „some fuck and others get fucked“. McKinnon stetzt dieses ungleiche Verhältnis zwischen Mann und Frau analog zur marxistischen Theorie: „many work and few gain, […] some dominate and others are subordinated.“ 258 Die Rahmung von Heterosexualität als ein kapitalistisches Verhältnis, in dem Frauen ihre Sexualität den Männern mit den Machtmitteln (Phallus) zur Verfügung stellen, besteht darin, dass Frauen im sexuellen Spiel eigentlich nicht diejenigen sind, die gewinnen („gain“). Ihre unterlegene Position zu akzeptieren, ist aber nichts, was der gesellschaftliche Diskurs seit den feministischen Bewegungen von Frauen erwartet. Als ernstzunehmende Personen sollen auch sie wie Gewinnerinnen auftreten können. Die windschiefe Entführungsstory schreibt die Unsicherheit, mit welchen Mitteln Frauen, die den Phallus nun einmal nicht selbst besitzen, ihre Ziele zu verfolgen haben, fest, weil der Roman den im Patriarchat generierten Klischees über Frauen nicht entkommt. Das macht ihn als Lektüre unbefriedigend. Die Hauptfigur, die zunehmend lächerlicher wird, endet als ihr eigenes Brand-Opfer, denn die Entführung mündet im Chaos. Das ist, wie schon in Kapitel 4 dieses Studienbuches erwähnt, heterodiegetisch betrachtet allerdings weniger unglücklich konstruiert als auf der homodiegetischen Ebene. Die Schwächen des Romans, die Schwächen im Handlungsaufbau sind gute Illustrationen einer schwachen Erzählerinnenposition. Begehren nach männlichem Muster ausleben zu wollen, ist für Frauen kostspielig - es kostet sie ihre Weiblichkeit, ihre körperliche Integrität. Die Spiegelfunktion zum Mommy Porn besteht darin, dass hier eine Frau plötzlich selbst der Wind sein möchte und den schönen Vladimir zum Blatt degradiert, auf das sie ihr Begehren schreibt, während in 365 Tage die Hauptfigur Laura als „kleine[s], vom Wind einer fremden Welt herumgewirbelte[s] Blatt“ vorgestellt wird und damit ihrer traditionellen Rolle als passives Objekt im Spiel der Heterosexualität wunderbar entspricht. Bemerkenswert ist aber, dass der Mommy Porn bei der schlichten Logik der Unterwerfung nicht aufhört. Laura, die zweifellos Massimos phallischer Übermacht 176 7 Aporien der spätmodernen Geschlechterdifferernz und deren scheinbare Auflösung <?page no="178"?> 259 Mit McRobbie (2010, S. 40) ließe sich sagen, durch das Gefühl, schön zu sein, definiert sich Lauras „Coolness“ als „konfliktscheues und komplizenhaftes Verhalten“ gegenüber ihrem Entführer. 260 Lipińska 2020, S.-21 [Hervorhebung im Original]. erliegt, wird nichtsdestotrotz immer wieder als sexpositivistische Frau figuriert. Ihre Schönheit, die der Roman nicht müde wird zu betonen, ist ein kleiner Phallusersatz. Ist sie symbolisch auch nur, frühneuzeitlich gesprochen, ein something nothing, liegt die Betonung auf „something“ Ihre Entmächtigung ist sozusagen in einen rosa Schleier des eigenen Gefühls von Macht verpackt. 259 Schauen wir uns Lauras Figurierung etwas genauer an. Über die Beziehung, in der sie gelebt hatte, bevor Massimo sie entführte, äußert sie sich wie folgt: Das Singleleben langweilte mich, oder vielleicht machte mir die Einsamkeit zu schaffen, jedenfalls legte ich mir einen Account auf einem Dating-Portal an, der ein netter Zeitvertreib war und mir Bestätigung und gute Laune einbrachte. Während einer schlaflosen Nacht, in der ich die Profile Hunderter Männer durchforstete, traf ich auf Martin, der die nächste Frau fürs Leben suchte. Der Funke sprang über: Die zarte Schöne bezwang das tätowierte Biest. Wir führten keine Standard-Beziehung, wir waren beide starke, extrovertierte Persönlichkeiten mit scharfem Intellekt und beachtlichem Fachwissen in unseren jeweiligen Berufsfeldern. Wir waren fasziniert voneinander und konnten uns gegenseitig imponieren. Das Einzige, das in dieser Beziehung fehlte, waren animalische Lust, unwiderstehliche Anziehungskraft und unstillbares Verlangen. Die hatte es nicht einmal ganz am Anfang gegeben, als wir uns gerade erst kennenlernten. Martin hatte in seinem Leben eben schon genug gevögelt - so hatte er es einmal euphemistisch formuliert. Meine sexuelle Energie dagegen war ein Vulkan, der immer kurz vor dem Ausbruch stand, was in nahezu tägliche Masturbation mündete. Aber es ging mir gut mit Martin, ich fühlte mich sicher und umsorgt, und das war mir wichtiger als Sex. Dachte ich zumindest. 260 Laura ist spätmodern. Sie datet selbstbewusst, stellt sich dem Beziehungsmarkt zur Verfügung; aufgrund ihrer Schönheit, muss sie keine herben Zurückweisungen be‐ fürchten. Ihrer Weiblichkeit tut ihr selbstbewusstes Daten keinen Abbruch. Sie stellt sich als jemand dar, der die Wahl genießt, indem sie „Profile Hunderter Männer durchforstete.“ Selbst Martin, der sich als Held serieller Monogamie outet, sich damit keineswegs als sichere Bank anpreist, der auf dem Dating Portal ewige Liebe verspre‐ chen würde, ist ihrer Ausstrahlung nicht gewachsen. Sie fühlt sich bei ihm „sicher und umsorgt“, verharrt in der Prinzessinnen-Rolle. Modern an ihr ist, dass sie die Wahl selbst trifft und sich nicht unsicher unter den Augen der Männer bewegt, ihre klassische Reminiszenz an Weiblichkeit bleibt, dass sie, wie im 18. Jahrhundert, dem Mann nicht mit Stärke, sondern Zartheit begegnet. Sie „bezwang das tätowierte Biest“ mit ihren weiblichen Mitteln. Sie gibt sich in ihrer Selbstbeschreibung zuerst einmal als doppelt verstrickte Figur zu erkennen, die zwischen altmodischer Zartheit und spätmoderner sexpositivistischer Wildheit changiert. Ihr Eingeständnis, dass ihre „sexuelle Energie […] ein Vulkan, der immer kurz vor dem Ausbruch stand,“ sei, und ihre Aussage, dass sie sich durch ihre Libido zu „täglicher Masturbation“ gezwungen 7.1 Schwachsinnige Geschichten als Antwort auf schwachsinnige Rollenvorgaben 177 <?page no="179"?> 261 Ebenda, S.-17. 262 Vgl. z.-B. ebenda, S.-96. 263 Illouz 2013, S.-23. fühlt, unterscheidet sie deutlich von einer bürgerlichen Heldin, die dem konservativen Geschlechterdiskurs entsprechen würde. Aber sie changiert nicht nur zwischen den spätmodern sexuellen Ansprüchen (einer aufregenden Libido) und der altmodischen Vorstellung von der Rolle einer Frau (Bezähmerin des Mannes), sondern Laura weist auch noch Eigenschaften einer modernen Frau auf, die als Nachwehe der zweiten Welle der Frauenbewegung ebenfalls zwingend sind, um erfolgreich Weiblichkeit zu verkörpern: Laura ist nämlich auch noch eine Karrierefrau, die sich als eine ökonomisch unabhängige Person mit „scharfem Intellekt und beachtlichem Fachwissen“ gebärdet. Im Berufsleben versteht sie sich als völlig autonom, was sich auch durch ihr Bezie‐ hungsleben zieht, das gerade nicht nach konservativem Muster vonstattengehen darf. Martin und sie leben in getrennten Wohnungen. Für die Figurierung Lauras reicht es nicht einfach, sie als erfolgreiche Arbeitnehmerin zu zeigen. Laura ist eine self-made woman, die es ohne Hochschulabschluss auf eine erfolgreiche Position geschafft hat. Sie zeigt es den Männern und der Welt: Als junge Frau aus einer polnischen Kleinstadt, die nie studiert hatte, musste ich einfach allen beweisen, was ich draufhatte. 261 Sie bedient damit eine neoliberalistische Frauenphantasie. Laura ist gerade kein Aschenputtel, das auf den Prinzen wartet, sie ist selbst schon eine Königin und kann als positive Identifikationsfigur gelesen werden. Ihre Autonomie lässt sie nur in der Beziehung mit Massimo fahren. Der ist so stark, ökonomisch und sexuell, dass Laura von ihrem Thorn hinuntersteigen kann und seine Anrede „Kleines“ akzeptiert. 262 Die Frage, warum dieser Thronabstieg von einer, wenn auch unglaubwürdig schö‐ nen, selbstständigen und selbstbewussten Frauenfigur so viele Leserinnen anspricht, lässt sich analog zu Eva Illouz’ Auseinandersetzung mit dem Romanerfolg von Shades of Grey beantworten. Dieser Mommy Porn stillt, so Illouz, ein Resonanzbedürfnis seiner Leserinnen, er spiegelt ihre Unsicherheiten und bietet Auswege an. Es wäre also völlig falsch, sowohl im Fall von Shades of Grey als auch im Fall von 365 Tage den pornographi‐ schen Inhalt für den Bestsellererfolg verantwortlich zu machen. Diese platte Erklärung würde dem Phänomen nicht gerecht werden, zumal die detaillierten Beschreibungen der geschlechtlichen Interaktionen zwischen Laura und ihrem Lover manchmal eher zum Schmunzeln als zu erotischen Vorstellungen anregen. Mit Illouz gesprochen ist der Garant des Erfolgs der Umstand, dass die „Liebesgeschichte“ zwischen Laura und Massimo „an eine Gegenwart angepaßt wurde […].“ 263 Denn wie wir gesehen haben, ist Laura eine Frau, die wie die meisten Leserinnen selbst dreifach verstrickt ist. Massimo hingegen verkörpert den klassischen männlichen Helden, einen so genannten tough guy, der aber bereit ist - wie es nur ein Mann kann, der sich seiner gesellschaftlichen Macht bewusst ist -, sich rückhaltlos auf eine Frau einzulassen. Er bietet Laura vom ersten Moment der Beziehung die Hand. Sie sei ihm im Traum erschienen, als er im 178 7 Aporien der spätmodernen Geschlechterdifferernz und deren scheinbare Auflösung <?page no="180"?> 264 Lipińska 2020, S.-16. 265 Vgl. Riviere 1994, S. 37: „[S]ich […] hinzugeben“ wird so zum Beispiel von der Psychoanalytikerin Joan Riviere in ihrem Aufsatz „Weiblichkeit als Maskerade“ benutzt, was Sexualität als Möglichkeit beschreibt, die Liebe des Mannes zu befördern und damit die eigene Integrität herzustellen. 266 Ebenda, S.-37. Koma lag. Seitdem suche er nach Laura, seiner „Herrin“. 264 Sexuelle Begegnungen mit anderen Frauen hinterlassen nur den schalen Beigeschmack fehlender Liebe. Laura, die Erträumte, nun gefunden zu haben, zwänge ihn geradezu, sie gefangen zu nehmen. Er möchte sie rückhaltlos erobern, aber nicht durch sexuelle Gewalt, sondern durch seine Verführungskraft. Hinter seiner heteromaskulinen Härte lauert ein liebesbedürftiger Junge, der seine Gefühle aber nur der Herzensdame entdecken wird. Dies könnte nicht unrealistischer und lächerlicher sein. Wir haben es mit einem märchenhaften Prätext für die Geschichte von Laura und Massimo zu tun. Diese märchenhafte Vorgeschichte ist aber deshalb ein so notweniger Griff, weil die Sexualität, die Laura normalerweise als spätmoderne Frau ohne Bindungsversprechen angeboten bekommt, sich von Lauras Seite gefahrlos mit Massimo ausleben lässt. Wenn sie Massimo erhört und sich ihm hingibt (um ein Wort zu verwenden, das die Sexualität von Frauen tatsächlich nur als passive Antwort auf das Begehren des Mannes ausdrücken kann 265 ), ist sie weder davon bedroht, als Objekt schnell reizlos zu werden, weil sie zu leicht zu haben war, noch, dass ihr dadurch ihre Autonomie abgesprochen wird. Ihre Passivität antwortet nämlich nur auf die Überlegenheit Massimos, die er als bewaffneter Entführer über sie nun einmal hat. Laura kann ganz zum Weibchen werden und wieder ein „Biest“ bezähmen. Sie muss eine schnelle „Abnutzung“ als Begehrensobjekt nicht fürchten. Seine mysteriöse Liebe zu ihr macht ihn zu Wachs in ihren Händen, jedoch nicht in allen Bereichen. Massimo behält im sexuellen Spiel den dominanten Part inne. Sie kann in der Sexualität ganz in der weiblichen Rolle aufgehen und muss sich, um in psychoanalytischen Termini zu sprechen, nicht „selbst als im Besitz des Penis“ 266 wähnen. Sie braucht weder mit dem Mann zu rivalisieren, noch ist es nötig, ihm ihre Ebenbürtigkeit zu beweisen. Er ist im Besitz des Phallus, verfügt über die entscheidende Waffe, the golden gun, um eine Frau zu erobern. Massimos körperliche Vorzüge und seine Potenz zeigen ihr auch, dass sie mit Martin ihre intrinsischen weiblichen Wünsche nach einem Mann, der sie sexuell dominieren kann, verfehlt hat. Dadurch, dass Massimo sie bereits liebt, muss sie ihre Sexualität nicht strategisch einsetzen, um ihn für sich zu gewinnen, sondern kann sich scheinbar willenlos von ihr treiben lassen. Sie fühlt sich nicht zwanghaft dazu verpflichtet, seiner Dominanz etwas entgegensetzen. Anders als in der herkömmlichen Suche nach dem Märchenprinzen von spätmodernen Frauen, die durch richtiges Sexualverhalten Anerkennung, im besten Fall Liebe und Partnerschaft, zu verschaffen haben, ist Laura, die als eine sportliche, kompetente und selbstbewusste Sexgöttin figuriert ist, diese Anerkennung schon garantiert. Das ist eine enorme Absicherung, die ihre Verstrickungen in eine sexpositivistische Haltung auflöst; auch die Verstrickung in den Autonomieanspruch auf der gesellschaftlichen Ebene löst der Roman. Die zweite Absicherung, die die der Text schafft, um Laura nicht dafür zu 7.1 Schwachsinnige Geschichten als Antwort auf schwachsinnige Rollenvorgaben 179 <?page no="181"?> 267 Ebenda, S.-39. verurteilen, dass sie Massimos Luxusgeschenke annimmt, sich von ihm ausführen lässt, sich Konsumexzessen hingibt und in gewisser Weise seinen Anweisungen gehorcht, ist die Gewaltandrohung, die Offensichtlichkeit seiner strategischen Übermacht. Die phallische Macht, die er über sie hat, drückt sich nicht nur durch seinen Penis, sondern auch mit Waffen aus. Die Frau ist nicht Agentin ihrer passiven Handlungen. Sie muss, um ihre Familie in Polen zu schützen, 365 Tage an der Seite des Mannes nach seinen Spielregeln leben; und dieses Leben, wir wissen es, wird ihr so gefallen, dass sie kaum Zeit brauchen wird, sich in den „Superman“ zu verlieben. Massimos phallische Überlegenheit so zu betonen, ist ein Kunstgriff, der die Sexualität mit Massimo für Laura einfach gestaltet. Die sexuelle Begegnung wird nicht zum Spielfeld, auf dem sich die Bindung erst herausbilden muss, sondern die gelebte Sexualität mit ihm entwickelt sich zu ihrem Eingeständnis, seinem für die sexuelle Interaktion ausschlaggeben Bindungswunsch zu folgen. Die heterosexuelle Gegenwart gestaltet sich so: In der Sexualität müssen zwei Subjekte einen Konsens, Symmetrie und Reziprozität aushan‐ deln, wobei beide ihr Recht zur Definition oder Neudefinition wie auch zum jederzeitigen Abbruch der Beziehung behalten - der britische Soziologe Anthony Giddens spricht in solchen Fällen von „reinen Beziehungen“. Der freie und vertragliche Character moderner Beziehungen ist es aber auch, der diese hochgradig unsicher macht. 267 Diese Unsicherheiten werden umgangen, da die Beziehung keine „reine Beziehung“ ist; im Gegenteil, sie ähnelt einer Ehe des 19. Jahrhunderts, in der der Ehemann das absolute Bestimmungsrecht über seine Frau innehatte. Es herrscht keine Symmetrie in den Machtverhältnissen. Wie ein Mann des alten Patriarchats kann er sich von der Frau nehmen, was er will. Auf ihre Freiwilligkeit ist er nicht angewiesen. Nur Achtung oder Liebe für die Frau, die ihm angehört, hinderte den patriarchalen Machthaber daran, sie ständig zu vergewaltigen. Auch Massimo scheut davor zurück, Laura sexuell gegen ihren Willen gefügig zu machen. Das Wissen beider, dass die Macht in der Beziehung nicht mehr ausgehandelt werden muss, weil sie dem Entführer per se „gehört“, ermöglicht der Frau, im Rahmen des sexuellen Spiels sowohl ihre modernen (ökonomische Selbstständigkeit) als auch ihre spätmodernen Ansprüche (sexuelle Eigenständigkeit und Ablehnung einer „Standard-Beziehung“) zugunsten reiner Leidenschaft aufzugeben. Sie soll nun, wie es dem konservativen Rollenmodell seit dem 18. Jahrhundert entspricht, durch Anmut den Mann sanft führen, ihre Schwäche zu einer Stärke werden lassen. In diesem Rahmen ist das Spiel mit dem Feuer eine Möglichkeit für Laura, zumindest sieht sie es so, Subjektivität zu zeigen. Sich ihm als begehrenswertes Objekt zu präsentieren und zu sehen, ob er seine selbst gesetzte Grenze nicht überschreitet und Laura den ersten Schritt zur Initiation des Sexualverkehrs lassen will, gibt ihr die Möglichkeit, wie eine Traumtänzerin auf der imaginären Grenze, die den gewalttätigen Massimo vom gezähmten Massimo trennt, zu 180 7 Aporien der spätmodernen Geschlechterdifferernz und deren scheinbare Auflösung <?page no="182"?> 268 Lipińska 2020, S.-88ff. 269 Ebenda, S.-92. 270 Ebenda, S.-94. wandeln. Ihr Trumpf sind seine Gefühle für sie, die Beherrschte kann zur Herrscherin werden mit den Waffen einer Frau. So suggeriert der Text: Es war schön zu sehen, dass ich ihn ab und zu auch mal aus dem Konzept bringen konnte […]. „Willst du irgendwas von mir, oder siehst du nur zu? “, fragte er, die Augen immer noch geschlossen. Mein Herz raste, und ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Innerlich verfluchte ich den Moment, als ich Massimo erlaubt hatte, unter die Dusche zu kommen. Mein Körper wandte sich gegen mich, mit jeder Zelle lechzte ich danach ihn zu berühren. 268 Laura weiß, dass sie relativ gefahrlos dem Wunsch, „mit festem Griff seine Männlich‐ keit zu packen“, 269 nachgeben könnte. Ihre Situation bliebe dieselbe, nur dass sie - eben konservativ betrachtet - gerade durch ihre Zurückhaltung Stärke beweist. Ihr Begehren für Massimo ist ebenso schematisch konstruiert, wie ihre Begehrenswertig‐ keit einem Schema entspricht, das aus Sportlichkeit, körperlicher Ability und Mode‐ bewusstsein zusammengesetzt ist. Er ist ein phallisches Phantasma - und das nicht nur im übertragenen Sinne als Platzhalter für männliche Macht. Seiner phallischen Macht wird tatsächlich im Text (mehr als durch das Herausstellen von Massimos Geld- und Waffenbesitz) durch die autodiegetisch narrativierte Bewunderung für seinen Penis gehuldigt. Laura erliegt dieser Macht und ihre Hymnen auf das Symbol seiner Männlichkeit muten lächerlich an: Seine nackten, schlanken Beine gingen in einen wunderschön geformten Hintern über, und sein Waschbrettbauch zeugte von der harten Arbeit, die es brauchte, um so in Form zu bleiben. Auf dieser Höhe blieb mein Blick stehen: Sein schöner Schwanz stand wie die Kerze auf meinem Geburtstagskuchen vor ein paar Tagen im Hotel. Er war ideal, nicht zu lang, dafür fast so dick wie mein Handgelenk, einfach perfekt. Ich schluckte laut. Immer noch hielt Massimo die Augen geschlossen und ließ sich das Wasser ins Gesicht prasseln. Leicht drehte er den Kopf von rechts nach links, so dass ihm das Wasser durch die Haare lief. […]. Mein Herz raste, und ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden. 270 Da es sich um pornographische Literatur handelt, verwundert es nicht, dass das Prestige Massimos ein pornographisch vermitteltes ist. Er wird gänzlich auf seinen Penis reduziert; seine Bedeutung für das weibliche Gegenüber ist an der Breite eines Körperteils messbar, seine Erhabenheit erweist sich als eigentlich entwürdigende Reduktion des Humankapitals auf einen Körper mit Produktcharakter, der „von der harten Arbeit, die es brauchte, um so in Form zu bleiben“, diszipliniert und geformt wurde. Seine Attraktivität ist völlig konsumerabel. Er ist im wahrsten Sinn des Wortes das Bild von einem Mann. Von Massimo wird kein Charakter jenseits seiner Macht und kein Verführungsmittel jenseits seiner Sexualität erwartet. Laura wird wie eine Figur gestaltet, die einer Eheanbahnungsgeschichte des 19. Jahrhunderts zu entspringen scheint. Sie empfindet sich als romantisch, genießt es, von vorne bis hinten von diesem 7.1 Schwachsinnige Geschichten als Antwort auf schwachsinnige Rollenvorgaben 181 <?page no="183"?> 271 Ebenda, S.-95. 272 Ebenda, S.-74. Mann hofiert zu werden, völlig unabhängig davon, ob sie irgendwas mit diesem, sowohl von der Herkunft, von Alter und geschlechtlicher Sozialisation fremden Menschen teilt. Die Anziehung ist völlig abstrakt, so wenig individualisiert, wie wir sie aus dem Mär‐ chen der Heterosexualität kennen. Die Menschen begehren jeweils das geschlechtliche Wesen des/ der anderen. Lauras Fixiertheit auf sein Geschlechtsorgan ist nicht nur eine pornographische Zutat, darin äußert sich die Logik dieser Erzählung: She is into it for the dick. Der Text bekundet, dass der sensiblen Laura vor Massimos Gewaltausbrüchen, die andere erfahren, geradezu schaudert. Der männliche Zauber beruht auf seiner Fremdheit, seine archaisch anmutende Männlichkeit muss die Schöne also bezähmen, was ihr wunderbar gelingt, obwohl beide nicht einmal dieselbe Muttersprache haben. Ihre Sprache ist die pure, pornographisch vermittelte konsumerable Sexualität. Lauras Autonomie erscheint immer nur durch die Hintertür, aber diese Hintertür ist, wenn sie mit Massimo zusammen ist, verschlossen. Ich dachte fieberhaft nach, aber mir fiel beim besten Willen keine passende Retourkutsche ein, denn alles, woran ich gerade denken konnte, war, ihm einen zu blasen. Meine Panik zog ihn an wie ein waidwundes Reh den Wolf. 271 Sie agiert mit ihm tatsächlich „als Fähnchen im Wind“; ist wie ein „waidwundes Reh“, das seiner sexuellen Übermacht keinen Widerstand leisten kann. Das Bild eines Wolfes, der ein Reh reißen will, ist zwar geschmacklos, aber für Laura ist es ungefährlich, das Reh zu sein, denn sie hat den Backup der Anerkennung, weil Massimo sie schon vor dem ersten Blick geliebt hat und sie in ihrem normalen Leben, also jenseits der Entführung, spätmodern autonom agieren kann. Weder im Arbeitsleben noch in ihrem bisherigen Beziehungsleben war sie ein „waidwundes Reh.“ Die Frauenphantasie, sich passiv der männlichen Sexualität anzudienen, befreit von den Ansprüchen an spätmoderne Frauen, denen die Leserinnen Genüge tun müssen, ist auf klägliche Art reizvoll. Leserinnen können sich qua Identifikation einer narzisstischen Phantasie vom Geliebtwerden hingeben, gerade weil Laura gar keinen Charakter mehr zeigen muss, um begehrt und anerkannt zu werden. Sie muss sich nur die teuren Dessous anziehen, die ihr Massimo ausgesucht und gekauft hat - und ist perfekt weiblich. „Don Massimo hat diese Modelle aus unserem Katalog für Sie ausgewählt.“ „Verstehe“, erwiderte ich und zog den Vorhang wieder zu. Beim Durchschauen des Stapels fiel mir auf, dass es sich fast ausschließlich um Spitzenstoffe handelte: Spitze mit geometrischen Mustern, mit floralen Mustern, grobe Spitze, Webspitze, Häkelspitze, Tüllspitze… 272 Die Frau ent-subjektiviert sich als reines Fetischobjekt, das in Tüll und Spitze gehüllt ist. Beim Anblick der auf den Fußboden verteilten Tüten und Kartons bekam ich sofort gute Laune. Andere Frauen hätten sich vierteilen lassen für so etwas, also wollte ich mir die Freude 182 7 Aporien der spätmodernen Geschlechterdifferernz und deren scheinbare Auflösung <?page no="184"?> 273 Ebenda, S.-79. 274 Walter 2011, S.-261. 275 Lipińska 2020, S. 73: „Für den Stapel, den ich anprobierte, konnte man locker eine Wohnung in Warschau kaufen, schoss es mir durch den Kopf.“ nicht verderben. Und ich hatte einen Plan. Aus der Tüte mit dem Logo von Victoria’s Secret suchte ich den BH mit den Riemchen in Lederoptik und einen Half String dazu. In einem Karton von Versace fand ich ein kurzes, tiefausgeschnittenes Kleid in Schwarz und dazu Pumps von Louboutin. Dieses Outfit würde Massimo fertig machen. 273 Es bedarf keiner großen Lektion im Feminismus, dieser Version einer Living doll, die „aus sich selbst eine Erotikpuppe“ 274 macht, als Weg zum Erfolg abzuschwören oder es blamabel zu finden, dass Laura - und mit ihr die Leserinnen - den Genuss ihrer eigenen Objektfizierung so auskosten. Ihn „fertig [zu] machen“ bedeutet, sich seinen Vorstellungen gemäß als Sexobjekt zu präsentieren - weibliche Macht besteht nur darin mitzuerleben, wie sehr frau gewollt wird, reduziert sich auf die Fuckability, und vielleicht noch darauf, sich nicht als „leicht verführbar“ zu stilisieren, um noch wertvoller zu erscheinen. Das ist ganz klar eine Scheinmacht. Über solche Sehnsüchte nach Passivität, Widerstandslosigkeit und Ausleben der Objektfunktion ließe sich der Kopf schütteln, aber es besteht auch die Möglichkeit, diese Sehnsucht geschlechtersoziologisch nachzuvollziehen. Der Genuss beim Lesen besteht meines Erachtens auf weiblicher Seite weniger darin, sich selbst unbedingt als ein Fetisch-Objekt nach Maßgabe Lauras zu erträumen, sondern darin zu beobachten, wie sich die Hauptfigur aus ihrer dreifachen Verstrickung ent-wickelt. Sie kann obszön teure Kleider kaufen (mit nicht selbst verdientem Geld) und muss sich doch nicht als eine Hure beschimpfen lassen. Sie kann sich verführen lassen ohne Ehrverlust oder spielerisch die Femme fatale geben und ist doch keine Bitch. Laura ist keine vollständig entmächtigte Figur, zumindest fühlt sie sich nicht vollständig entmächtigt, obwohl sie in der machtlosen Frauenrolle aufgeht. Ihr Ausweg aus der dreifachen Verstrickung ist, wohlgemerkt, die einfache leidenschaftliche Verhaftung als Objekt des Mannes, aber in diese ist sie unfreiwillig geraten. Bisher hat sie sich ihre Dessous und ihre Kleider eigenhändig erarbeitet - auch wenn selbst ihr außergewöhnlicher ökonomischer Erfolg nicht die ganzen Kisten von Klamotten hätte finanzieren können, die ihr nun dank Massimo zur Verfügung stehen und deren Kaufwert dem einer polnischen Eigentumswohnung entspricht. 275 Die Aporie spätmoderner Geschlechterverhältnisse besteht darin, dass Frauen drei einander widersprechende Rollenmuster in sich vereinen sollen, während das hetero‐ sexuelle Rollenspiel für Männer die Autonomie reserviert hat. Die Machtrolle erfüllt der hypermaskuline Massimo, ohne sich seine Dominanz durch emotionale Reserviertheit verschaffen zu müssen. Die weibliche Spannung zwischen Abhängigkeit als Sexobjekt und Autonomie als spätmodernes Subjekt wird symbolisch unterwandert, indem die Frau durch den Kniff der Entführung ihrer Verstrickung, zumindest im sexuellen Verhältnis, enthoben ist. Darin erkennt auch Illouz den Gewinn von Shades of Grey, 7.1 Schwachsinnige Geschichten als Antwort auf schwachsinnige Rollenvorgaben 183 <?page no="185"?> 276 Baum 2020, S.-49. 277 Ebenda. der die Romantrilogie so erfolgreich machte. Auch die Autorin und Feuilletonistin der ZEIT Antonia Baum überträgt Illouz’ Analysen auf 365 Tage. Sie redet in ihrem Artikel zwar über die Verfilmung, „über diesen polnischen Mafia-Softporno-Film, […] der schon jetzt als erfolgreichster Streaming-Hit des Jahres gilt“, 276 und nicht direkt über das literarische Werk, aber auch bei der filmischen Umsetzung sticht ins Auge, dass Laura das „Gütesiegel ‚emanzipierte Frau‘“ trägt, bevor sie Massimo in den Schoß fällt. Vielleicht geht es dabei nicht so sehr um die Aussicht, entführt zu werden und harten Sex zu haben. Vielleicht geht es mehr um die Idee, von einem attraktiven Mann unbedingt gewollt zu werden und dabei ständig einkaufen gehen zu können […]. Denn wir sehen hier eben kein erniedrigtes Entführungsopfer, die meiste Zeit sehen wir eine sogenannte selbstbewusste Frau, die Spaß hat, in einem Schloss wohnt und dauernd Sex mit einem Mann hat, der sie abgöttisch liebt und der ihr am Ende einen Heiratsantrag macht. […] Das Entführungsszenario hat aber dennoch eine wichtige Funktion, nämlich die eines oktroyierten Vertragswerks, das die Bindung sichert. Und damit kommen wir zu Fifty Shades of Grey, also zu jener unglaublich erfolgreichen Romantrilogie, mit der 365 Tage immer wieder verglichen wird. Darin wird eine schüchterne Studentin von einem attraktiven, ebenfalls traumatisierten Supereichen auserwählt, der sie auf Basis eines detaillierten Vertrags, den beide zuvor unterzeichnen sollen, zu seiner BDSM-Sklavin ausbilden will. Es gibt eine Menge maßvollen kinky Sex, Helikopterausflüge, Kleider und irgendwann heiraten sie. Die israelische Soziologin Eva Illouz hat in ihrem Essay Die neue Liebesordnung darüber nachge‐ dacht, was uns das wohl sagen soll, und kam zu dem Ergebnis, dass der Vertragscharakter der Verbindung der Shades-Protagonisten und ihr BDSM-Ding einen Ausweg böten aus den Aporien moderner heterosexueller Paarbeziehungen. Einen Ausweg insbesondere für Frauen, die aus komplizierten Gründen […] weiterhin bindungsorientierter seien als Männer [und immer komplexeren Ansprüchen zu genügen haben, Stichwort triple entanglement Anmerk. K. K.], während Beziehungen inzwischen aber allein auf Freiwilligkeit basieren, das heißt jederzeit auflösbar sind, und Autonomie der zentrale Wert überhaupt geworden ist. Verträge und Entführungen beantworten also mit Illouz die Angst vor Unverbindlichkeit, sie beinhalten die Möglichkeit Souveränität aufzugeben [sich von spätmoderner Sozialisation wegzubewegen; K.-K.] und gleichzeitig nach Autonomie zu streben [ihn, den starken Mann, im Gegenzug durch die weibliche Schönheit „fertig [zu] machen“; K. K.]. Die […] Bereitschaft, sich beim Sex zu unterwerfen, und zwar mit Ansage, begreift Illouz als die Inszenierung eines Rollenspiels, das den Zweck habe „von Unsicherheiten geprägte Geschlechtsidentitäten zu restabilisieren“, das heißt, dafür zu sorgen, dass alle wissen, was zu tun ist, wenigstens beim Sex. Eine Strategie, die Klarheit und Sicherheit herstellt und die erwähnten Aporien zumindest temporär balanciert. 277 184 7 Aporien der spätmodernen Geschlechterdifferernz und deren scheinbare Auflösung <?page no="186"?> 278 Walter 2011, S.-128f. 279 Vgl. ebenda. 280 Illouz 2013, S.-19. Die absurden Handlungsverläufe der Mommy Porns (in 365 Tage die vorausgesetzte Liebe Massimos zu Laura und ihre leidenschaftsbasierte Entführung), die primitiver Schemaliteratur entspricht, sind es, die dieses Genre feministisch interessant machen, denn hier emanzipiert sich die Frau von der „Kultur der Ficks“, der sie angehört, indem sie, genau betrachtet, einen Schritt in ihrer Emanzipation zurückgeht. Viele junge Frauen, mit denen ich sprach, empfinden ihr Leben heute offensichtlich als verarmt, weil Sexualität anstelle gemeinsam erfahrener Intimität zu einem bloßen Tausch‐ handel herabgewürdigt wird. Lange hing unsere Kultur der Idealvorstellung an, es sei keine Reduzierung des Selbst, sondern dessen volle Entfaltung, sich ganz auf die Wünsche und Gefühle eines anderen einzustimmen, und es liege große Macht, sogar Heiligkeit im Sex zwischen zwei durch eine tiefe emotionale Beziehung verbundenen Personen. Die neue Kultur der Ficks […] tritt offenbar an Stelle einer Kultur, in der Sex und Entfaltung von Intimität zusammengehörten. 278 In 365 Tage kann diese Kultur der Intimität und Hingabe im Gewand eines pornogra‐ phischen Textes gefeiert werden. Ohne unmodern zu erscheinen, wird ein unmodernes Bild der Frau und der Heterosexualität, Binarität und der Geschlechterrollenverteilung darin bejubelt, das mehr Befriedigung verspricht als die „Frustration“, nicht zu wissen, welche Rolle frau eigentlich spielen soll. Die Aporien werden aufgelöst und das Drama der Beziehungen, in denen Sex als Garant für psychische Vertrautheit „vollkommen entwertet worden“ ist, 279 in ein konservatives Modell umgeschrieben. Die Faszination, die diese Bücher für ihre Leserinnen ausstrahlen, sagt etwas aus über unsere „Gesell‐ schaft, in der Sexualität zunehmend zu einem autonomen sozialen Feld mit spezifischen Regeln und Werten geworden ist“. 280 Die Regel für spätmoderne Frauen in diesem Feld besagt, sie sollen perfekte Objekte (konservatives Ideal) sein und auf ihre Weiblichkeit setzen, gleichzeitige als autonome Subjekte handeln (moderne und spätmoderne Sozialisation von Frauen) und sich neutralisieren. Sie sollen darüber hinaus auch mit der Sexualität offen umgehen, nichts von ihr erwarten, schon gar keinen Heiratsantrag. Die Kultur serieller Sexualakte entspricht aber nicht dem weiblichen Bedürfnis nach Anerkennung. Die Leserinnen, für die 365 Tage voller positiver Aussicht ist, interessieren sich daher meines Erachtens weder für Massimos Körper noch für die konventionell pornographischen Beschrei‐ bungen der Sexualakte. Sie interessieren sich dafür, wie eine Frau ihr Objektsein genießen, Souveränität gefahrlos abgeben darf, ohne durch Mangel an Liebe, Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung und Mangel an Selbstwert abgestraft zu werden. Die Aberkennung ihrer moralischen Integrität würde der schönen Laura blühen, wenn sie sich freiwillig von Massimo aushalten ließe, wenn sie sich wie ein naives Mädchen auf der Suche nach dem Märchenprinzen befände, wenn sie nur schön, aber dämlich wäre, oder wenn sie völlig freiwillig auf ihre Autonomie verzichtet hätte. In dem Text kann 7.1 Schwachsinnige Geschichten als Antwort auf schwachsinnige Rollenvorgaben 185 <?page no="187"?> 281 Auch Joan Riviere (1994, S. 39) sah schon 1929 die Lust der Frau an der Sexualität als etwas, das „nicht reine Lust“ am sexuellen Akt, sondern ein Mittel ist, um die „‚Mutterfiguren‘, die frigide waren, zu überwinden“ und durch die sexuelle Entschlossenheit die „Liebe des Mannes“ zu gewinnen, die entscheidend für die „Selbstachtung“ der Frau sei. sie sich allerdings genauso unselbstständig verhalten, als wäre sie in der Warteposition auf einen Sugar Daddy, sie darf als nicht berufstätige Frau leben, die sich aushalten lässt, dann tatsächlich ihren Märchenprinzen findet und auf Autonomie pfeift. Laura agiert in einer Rolle, die schon für Frauen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts unangemessen gewesen wäre. Schon in der ersten Welle der Frauenbewegung sollte Frausein nicht mehr als etwas gelten, dessen Autonomie nur in der Wahl des Stringtangas (wenn diese Art von Unterwäsche auch erst zum Ende des 20. Jahrhunderts üblich wurde) bestünde. Schon seit über einem Jahrhundert kämpfen Frauen darum, nicht als Püppchen oder Living dolls behandelt zu werden. Die Rolle des Püppchens nimmt Laura gern an, doch gezwungenermaßen, dank des erzählerischen Kniffs der Entführung. Sie bleibt damit theoretisch dem Autonomieideal treu, weil sie es nur pragmatisch im Kontext ihrer Gefangenschaft hintergeht. Sie muss sich nicht beweisen, sie gibt, notgedrungen, ihr Schicksal in seine Hand. Ihr Spiel mit Massimo spielt sie jenseits der spätmodernen Wahl, jenseits dessen, was eine reine sexuelle Beziehung darstellt. Aus den Fallstricken der spätmodernen Weiblichkeit ist sie befreit. Schon vor ihrer ersten Begegnung war Laura die Frau von Massimos Leben. Und dies ist es, was die Leserinnen anspricht, weil diese unwahrscheinliche Setzung die ambivalente Subjektposition, die das Frausein in der Spätmoderne so kompliziert macht, auflöst und in ein klares Rollenkonstrukt überführt. Die klare Rollenzuweisung kann Laura nur bejubeln. Durch die Liebe Mass‐ imos kann sich die, einer Zwangsherrschaft unterworfene, Protagonistin scheinbar unabhängig und frei bewegen, obwohl sie eine Gefangene ist. Die Liebe gibt ihr die Anerkennung, die spätmoderne Frauen normalerweise erst trickreich erringen müssen, wenn sie in ein sexuelles Abenteuer mit einem Mann geraten. Sie sollen so tun, als würden sie die unverbindliche Sexualität in demselben Maße genießen wie Männer, dessen Identität sich durch Potenz (siehe voriges Kapitel) stärken lässt, obwohl sie, wie Laura, eigentlich bedingungslos geliebt werden wollen, da erst die emotionale Bindung ihre Anerkennung als Frau vollständig herstellt. Ihre Bestätigung als Subjekt finden Frauen in der Liebe. 281 Diese komplizierte Anerkennungsstruktur haben die Frauen von ihren Urgroßmüttern bzw. einem überkommenen Geschlechterdiskurs geerbt, die Mittel, Männer an sich zu binden, die diesen Vorfahrinnen eigen waren, mussten/ durften Frauen der Gegenwart zugunsten ihrer gesellschaftlichen Autonomie aber ausschlagen. Sie verlangen nicht nach Verlobungsringen, trachten nicht nach Liebesschwüren vor jedem Sexualakt und warten nicht auf und Anträge - sie leben „reine“ Sexualität ohne soziale Abfederung durch Bindungsversprechen (als „reine Beziehungen“). Frauen der Gegenwart warten geduldig, ob sich eine Vertrautheit durch die Sexualität hat herstellen lassen, sind stolz auf ihre emotionale Unabhängigkeit, doch sind sie, bleibt verbindliche Intimität auf lange Sicht aus, in ihrer Selbstachtung bedroht. Das hat nichts mit biologischer Disposition zu tun, sondern mit historisch 186 7 Aporien der spätmodernen Geschlechterdifferernz und deren scheinbare Auflösung <?page no="188"?> gewachsenen Geschlechterverhältnissen. Die Liebe eines Mannes zu gewinnen, war in den patriarchalen Strukturen lange Zeit die einzige Möglichkeit für eine Frau, sozial anerkannt zu werden. Als „alte Jungfer“ oder „leichtes Mädchen“ zu gelten, war jahrhundertelang eine Schmach und ein Armutszeugnis für Frauen. Obwohl die Geschlechterverhältnisse der Gegenwart Frauen ermutigen, sich spielerisch als „leichte Mädchen“ zu gebärden und auf Bindungsversprechen zu pfeifen, zeigen die in den anderen Kapiteln besprochenen Texte durchaus, dass Frauen auf die Liebe warten. Die leichtherzig vollzogene Sexualität, die Frauen ohne Sanktionen zu fürchten gewähren können, führt jedoch selten in den ersehnten Liebesrausch, meist nicht mal in einen sexuellen Rausch. Frauen setzen ihr sexuelles Kapital strategisch ein. Wie Nina aus dem besprochenen Roman Lasse (siehe Kapitel-4.3) geben sie sich lustvoll, auch wenn der Akt langweilig ist, weil sie den Mann glücklich machen wollen und sich seine Liebe erhoffen. Die entführte Laura hingegen hat es nicht nötig, mit ihrer Sexualität zu pokern und muss auch nicht auf die Liebe warten, sie kann sich an Massimos männlicher Potenz berauschen, denn sie wird in jeder Hinsicht gewollt, schon bevor sie physisch in Massimos Leben trat. Ihre Gefangenheit in Massimos archaischem Liebesanspruch, in seiner Fixiertheit auf sie als sein Liebesobjekt, macht sie von der Aporie ihrer weiblichen Bestimmung im spätmodernen Geschlechterverhältnis frei. Die göttliche Fügung (bzw. die unglaubwürdige Handlungskonstruktion, dass Laura für Massimo die im Traum erschienene Braut ist, die nur noch von ihm gefunden, entführt und von der Liebe überzeugt werde muss) weist der schönen Polin eine Venusrolle voll „Klarheit und Sicherheit“ zu. 7.1 Schwachsinnige Geschichten als Antwort auf schwachsinnige Rollenvorgaben 187 <?page no="190"?> 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis Der Begriff homosozial‘ wurde von Jean Lipman-Blumen (1976) vor mehr als 40 Jahren in den Geschlechterdiskurs eingebracht. Er wird allgemein als eine Zwendung zum gleichen Geschlecht verstanden. Allerdings bezeichnet dieser Begriff keine sexuelle Präferenz, denn die Bevorzugung gleichgeschlechtlicher Bande durch eine Frau oder einen Mann muss nicht den Wunsch nach sexueller Interaktion mit der gleichge‐ schlechtlichen Person implizieren. Aus feministischer Sicht ist die Auseinandersetzung mit Homosozialität deshalb so bedeutsam, weil durch das Konzept dargestellt werden kann, wie libidinöse Energie jenseits der heterosexuellen, als Norm geltenden Bezie‐ hungsform zirkuliert und Frauen andere Präferenzen in ihrem Leben zeigen können, als ausschließlich dem männlichen Blick entsprechen zu wollen. Dabei spielt es keine Rolle, wie sich diese frauenbezogene Energie ausgestaltet, ob sie eher sexuell oder als schwesterliche, freundschaftliche Zuneigung vorgestellt ist, die Frauen müssen jedenfalls nicht als Lesben figuriert werden, um die nicht auf Männer ausgerichtete weiblich-weibliche Verbindung zu spüren. In der Literatur der Gegenwart finden wir für diese Zuneigung von Frau zu Frau viele Beispiele. Das geht auf eine - ich würde sagen - feministisch inspirierte Fokussierung der weiblichen Gefühlskultur, die nicht nur gegengeschlechtlich orientiert ist, zurück. Unter ‚Girl Crush‘ wird eine sentimentale Schwärmerei zweiter Frauen füreinander bzw. einer Frau für eine andere weibliche Person verstanden, die nicht unbedingt sexuell sein muss, aber die, wie der Begriff ‚crush‘ (Verknalltheit) impliziert, die Anziehung nicht jenseits körperlicher Aspekte begreift. Der Vorteil des Begriffs wird in dieser Abhandlung darin gesehen, dass er für viele Abstufungen und Ausdrucksformen der weiblich-weiblichen Zuneigung dienlich ist, die sowohl einen hard crush mit viel libidinöser Energie als auch eine fast unmerkliche Form der Geneigtheit umspannen kann. Der Begriff ‚libidinöse Energie‘ geht auf die psychoanalytische Trieblehre Freuds zurück und meint eine durch den Sexualtrieb ausgelöste Kraft, mit der sich eine Person physisch und psychisch auf das Triebobjekt ausrichtet. Die libidinöse Energie einer Person kann, auch beim Vollzug eines Sexualaktes, von der/ dem jeweiligen Partner*in völlig abstrahiert sein. Das Objekt, auf das die libidinöse Energie gerichtet ist, gestaltet sich seltener in dem Räumen des sinnlichen Erlebens als in denen der Imagination. <?page no="191"?> 282 Insofern ist es sinnvoll ‚Homosozialität‘ tatsächlich als soziale Kategorie zu verstehen, die der Analogie in den Genderrollen und nicht der Gleichheit von Geschlechtsorganen geschuldet ist. 283 In den 2010 edierten Tagebüchern der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau (1750-1811) betont die Fürstin ihre enge Bindung an andere Frauen, während hingegen ihre Ehe, aber auch verschiedene außereheliche Affären mit anderen Männern von ihr als schwierig und oft nur als eine Quelle der Demütigung und des Ärgers empfunden werden. Die Fürstin Louise von Anhalt-Dessau hat keine ungebrochene positive Beziehung zu anderen Frauen. Sie verachtet und beschimpft die Geliebte (und Ehefrau zur linken Hand) Luise Schoch in ihren Tagebüchern, aber sowohl im positiven als auch im negativen Sinn dominieren die homosozialen Bindungen die heterosexuellen Erlebnisse in der Lebensrealität der Fürstin. 284 Greber 2002, S.-152. 285 Vgl. z.-B. Schwarz 2021, S.-185-190: „Auff Jungfrawen Judith Zancken Gebuhrts=Tag“. 286 Ebenda, S.-190-191. 287 Ebenda, S.-191-192 288 Ebenda, S.-192-196. Auch wenn der Umstand in der Literaturgeschichtsbetrachtung oft übersehen wird, ist die Zuneigung zum eigenen Geschlecht für das Leben von Frauen seit Jahrhunderten bedeutsam. Bis ins 19. Jahrhundert war die Busenfreundin oft viel eher Adressatin für vertrauensvolle Gefühle als beispielsweise der eigene Ehemann. Dies verwundert nicht. Die strenge geschlechtliche Sphärenteilung, die die bürgerliche Welt strukturiert, pri‐ vilegiert für den emotionalem Austausch homosoziale Beziehungen, also Beziehungen innerhalb derselben geschlechtlichen Sozialisation. 282 Tagebücher berühmter Frauen vergangener Jahrhunderte können darüber Zeugnisse ablegen. 283 Das, was wir aus spätmoderner Perspektive als sexuell konnotierte Liebe verstehen würden, muss in diesen Beziehungen gar nicht ausgeblendet sein, dennoch wäre es ein Anachronismus, diese Zuneigungsformen als ‚lesbische Liebe‘ annoncieren zu wollen. Die Liebesge‐ dichte der Autorin Sybilla Schwarz (1621-1638), die, wie die Forschung zeigen konnte, an ihre Freundin Judith Zancken gerichtet sind, zeichnen ein emphatisches Bild von der Zuneigung einer Frau zu einer anderen, wenn wir das lyrische Ich als weiblich identifizieren. Deshalb wurden diese Gedichte auch als Ausdruck eines „lesbische[n] Petrarkismus“ bezeichnet. 284 Auch wenn sich schon vor mehr als zwanzig Jahren die Wissenschaftlerin des Anachronismus bei dieser gedanklichen Setzung bewusst ist, eröffnet das Wort ‚lesbisch‘ ein sexuelles Begriffsfeld, das gerade bezogen auf „Jungfrawen“, 285 denn so tituliert Schwarz ihre Freundin, in eine Richtung verweist, die der des homosozialen Begehrens nicht wirklich entspricht. Das Phänomen lässt sich mit dem Begriff der homosozialen Bindung weitaus treffender beschrieben als mit dem der lesbischen Liebe. Es ist nicht auszuschließen, dass eine starke libidinöse Energie in dem Verhältnis dieser beiden Frauen vorhanden gewesen war. In Ihren Gedichten Ohne die Liebste ist keine Freude, 286 Wohl dem/ der liebet/ und wieder geliebet wird 287 oder Auff der Liebsten Abschid/ im Namen eines Andern 288 finden wir sowohl symbolisch überhöhte als auch ganz direkte Liebeserklärungen an die Freundin, in denen die angesprochene Frau eben nicht nur als körperloses Geistwesen gefeiert wird. Es geht in den Gedichten auch um eine körperliche Nähe, die die beiden Frauen zum Beispiel in den gemeinsamen Aufenthalten auf dem Landgut der Familie Schwarz 190 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis <?page no="192"?> 289 Greber 2002, S.-157. 290 Ebenda, S.-147. 291 Horizon, S. 124f.: „Vielleicht ist für meine frühen Zwanziger eine kurze kulturhistorische Einordnung angebracht: Im funkelnden Icing des urbanen Schwulseins drin, da kam’s eben doch bloss auf die Stählernheit des gluteus maximus an. Das waren Träume von einer Übermännlichkeit, die es drüben, im Zentrum der Heterogesellschaft Ende der Nullerjahre, noch nicht gab. Der hochkuratierte Muskelkörper war lange Zeit Schwuchtelsache und kroch erst um 2010 aus dem Gayporn ins Zentrum. Ich war Teil dieser Subkultur, die keine Subversion war […]. Ich wollte also raus aus dieser ultravioletten Lana-Del-Rey-Tristesse, diesen Poppers-Pop-Rave-verzehrten-Verlierungen, Doppelgääähn. Und ich war ja auch tatsächlich nie schwul, weil Schwulsein geht ja nur, wenn mensch daran glaubt, dass es zwei Geschlechter gibt und dass mensch auf dasselbe Geschlecht steht; und dieses Schauermärchen von bloss zwei Geschlechtern, von zwei unschmelzbaren Gletschern, die genau das Gegenteil voneinander seien, das erzähle ich nicht weiter. Ohne mich, ihr Bäcker des Bestehenden.“ geteilt haben. Nun wissen wir natürlich nicht, was von beiden Frauen in diesen Sommernächten als Nähe empfunden wurde. Zurecht schreibt Greber: „Wer vermag in der Formulierung ‚meiner Herzliebsten Freundin‘ entscheiden, ob Freundschaft oder Liebe gemeint ist? “ 289 Ich würde dafür plädieren, diese Eindeutigkeit auch nicht zu suchen, weil sie dem historischen Kontext nicht entspricht. Von Sibylla Schwarz als lesbisch begehrender Frau zu sprechen, die ihr Begehren umschreibt, auf ein „heterosexuelles Objekt richtet“, 290 verengt die gängige soziale Praktik einer, durchaus auch erotisch zu verstehenden, weiblich-weiblichen Liebe in einem ahistorischen Sinne auf einen Identitätsbegriff, der sich der Umklammerung der Binarität und eines patriarchalisch geprägten Sexualitätsbegriff nicht entziehen kann. Die Vereindeutigung entspricht einer modernen Rationalisierung von Sexualität und Intimität. Die vormoderne Konzeption des Begehrens, von der wir bei Schwarz lesen, reaktualisiert sich im 21. Jahrhundert. So lässt Kim de l’Horizon die Hauptfigur des Romans Blutbuch, die eindeutig im Besitz eines Penis ist und mit Männern sexuell verkehrt, die Kategorie ‚schwul‘ für sich verwerfen. Die Erzählfigur sieht darin eine Verengung der Identität und des sexuellen Begehrens, die sich den Verhältnissen andient, die die Figur, als eine nicht der Norm entsprechende Person, nur beengen. 291 Anders als im spätmodernen Blutbuch werden wir über die sexuelle Dimension der Beziehungen der frühneuzeitlichen Ich-Figur, also über den konkreten sexuellen Gehalt der Frauenfreundschaft zwischen Sybilla und Judith durch die Gedichte der jungen Autorin nicht unterrichtet. Diese Gedichte vermeiden jegliche pornographische Detail‐ lierung. Aber selbst, wenn wir im Bilde wären, würde eine moderne Kategorisierung, wie sie im 20. Jahrhundert vorherrschend war, weder den vormodernen noch einigen gegenwärtigen Liebesbeziehungen zwischen Menschen gerecht werden, denn eine weiblich-weibliche Liebe als ‚homosexuell‘ zu verstehen, vereindeutigt den Blick auf die Beziehungen unter Frauen und begrenzt die Zuneigung auf etwas, das mit genitaler Sexualität assoziiert ist. Es manifestiert die Vorstellungen von Sexualität, wie sie im 19. Jahrhundert entwickelt worden sind und den Sexualdiskurs des 20. Jahrhunderts geprägt haben. Ich möchte die Rolle, die die Sexualität in dem Verhältnis spielte, nicht kleinreden oder genitale Sexualität als wichtigen Bestandteil von Frauenbeziehungen 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis 191 <?page no="193"?> 292 Vgl. Kauer 2019, S. 35-54. In dem Kapitel beschäftige ich mich mit einer eindeutig als Verliebtheit zu lesenden Beziehung einer jungen Frau zu einer älteren, die auch im Text als Liebe bezeichnet wird, die von der Literaturwissenschaft aber in dieser Dimension bisher immer überlesen wurde. verwerfen, aber dennoch vermeide ich, den Grad der Sexualität in homosozialen Bindungen eindeutig definieren zu wollen. Für Sibylla gab es keinen Zweifel, dass sie ihre Judith liebte. Es lässt sich nachweisen, dass ihr Bezug auf Petrarca bedeutet, dass ‚Liebe‘ nicht als rein platonisches Konzept gefasst wird, doch war die Bewertung der Liebe unter Frauen in den zeitgenössischen Diskursen kein eindeutiger Ausdruck von Sexualität, selbst wenn sie sich auf Beziehungen wie die, die von Lilian Faderman in ihrem Buch Surpassing the love of men. Romantic Friendship and Love between Women from the Renaissance to the Present (1981; dt. 1990: Köstlicher als die Liebe der Männer: Romantische Freundschaft und Liebe zwischen Frauen) bereits vor 40 Jahren untersucht wurden, richteten, die etwas inkorporierten, das als sexuelles Begehren gelesen werden kann. ‚Homosozialität‘ schließt Sexualität nicht grundsätzlich aus, aber sollte auch nicht zwangsläufig als nur sexuell motiviert betrachtet werden. Erst nachdem sich das Freud’sche Paradigma im 20. Jahrhundert allgemein durchgesetzt hatte und Frauen als sexuelle Wesen definiert worden waren, änderte sich auch der Blick auf homosoziale Bindungen. Sie verloren ihre Unschuld und schienen das Patriarchat zu bedrohen, zumindest in dem Moment, in dem in der Fremdwahrnehmung etwas wie Sexualität ins Spiel kam. Es konnte zwar weiterhin als unschuldig gelten, wenn Freundinnen sich küssten und ihr Bett teilten, es konnte aber auch bei einigen Frau als „schmutzige Form“ des sexuellen Begehrens gewertet werden. Zu exaltiert gelebte Freundschaftsbünde, besonders alleinstehender Frauen, degradierten die befreundeten Frauen zu ‚Invertierten‘ (was ein älterer Fachbegriff für Homosexuelle ist) oder doch zumindest zu Männerhasserinnen bzw. asexuellen Blaustrümpfen. Der Wert einer Frau bemaß sich nach patriarchalem Raster danach, wie begehrenswert sie für das andere Geschlecht war. Für ein als heterosexuell orientiert geltendes weibliches Wesen war bindend, dass sie ihr Interesse und ihre Energie auf Männer zu richten hatte. Frauen mögen sich untereinander bei ihrer heterosexuellen Ausrichtung und bei ihrer Beziehungsarbeit beratend begleiten, galten aber seit dem 20. Jahrhundert füreinander nicht mehr als Objekte aufrichtiger und tiefer Gefühle. Im Gegenteil, in der Literatur fristeten Beziehungen unter Frauen lange ein Schattendasein, zumindest jedoch setzte die literaturwissenschaftliche und -kritische Betrachtung auch dann kein Augenmerk darauf, wenn eine homosoziale Bindung unter Frauen fast nicht überlesen werden konnte. 292 Frauenbeziehungen wurde aus patriarchalischem Blickwinkel betrachtet kein hoher Wert zugesprochen. Dass Frauen nicht zu achtbaren Gefühlen gegenüber ihrem eigenen Geschlecht fähig wären, ist ein misogynes Klischee, das wahrscheinlich jede/ r, der/ die noch im 20.-Jahrhundert geboren worden ist, schon einmal gehört oder gelesen hat. Es dominiert im 20.-Jahrhundert den Diskurs über Frauenbeziehungen so stark, dass Frauen stets eine latente oder offene Rivalität unterstellt wurde. Vermutlich sind die Vorstellungen einer stetigen Rivalität von Frauen selbst internalisiert worden und haben nicht nur die sexuelle, sondern auch die berufliche Konkurrenz von Frauen 192 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis <?page no="194"?> 293 „Sex and the City“ ist eine frei auf dem gleichnamigen Buch von Candace Bushnell (auf Deutsch erschienen 2001) basierende Fernsehserie. Sie wurde von 1998 bis 2004 ausgestrahlt und war enorm erfolgreich. 294 Horizon 2022, S.-125. untereinander beeinflusst. Zahllos sind schon die Beispiele aus der Literaturgeschichte für unaufrichtige Frauenfreundschaften, geheuchelte Anteilnahme und Verrat. Dieses anti-feministische Bild zeigt sich besonders in der Literaturgeschichte des 20. Jahr‐ hunderts, ob wir uns Unterhaltungsliteratur oder feministische Klassiker anschauen. Die einem Mainstreamgeschmack ihrer Zeit entsprechenden Frauen in Margaret Mitchells Vom Wind verweht (1936) hassen sich bzw. konkurrieren um männliche Aufmerksamkeit genauso stark wie Frauen in Texten der feministischen Autorin Elfriede Jelinek, etwa in den Liebhaberinnen (1975). In der Populärkultur entstand gegen Ende des 20. Jahrhunderts zwar etwas, das ich den Sex and the City-Diskurs 293 nenne, also Frauenfreundschaft, die nicht vordergründig durch Konkurrenz, sondern durch gemeinsame Shopping- und Partyerlebnisse geprägt sind; doch obwohl Frauen in diesen harmlosen Freundschaften nicht offensichtlich miteinander um die Aufmerksamkeit der Männer konkurrieren, bleibt doch das andere Geschlecht das Hauptinteresse dieser Frauenfiguren. Ihre Energie richten diese Partyqueens auf Männer, deren Abwesenheit betrauert, deren Aufmerksamkeit angestachelt oder deren Begehrenswertigkeit disku‐ tiert wird. Ihre Homosozialität ist zwar wichtig, aber doch nur ein Mittel zum Zweck der erfolgreichen Heterosexualität. Das 21. Jahrhundert räumt nicht nur innerhalb der Literatur mit der ideologischen Stütze des Patriarchats, dass Frauen stets nur Männer im Kopf hätten, auf. Sie holt die libidinöse Energie in die weiblich-weiblichen Räume zurück und erweist sich aus einem feministischen Impuls heraus gerade nicht als „Bäcker des Bestehenden“. 294 In dem Maße, wie sich weibliche Figuren in der Gegenwart immer konturierter gestalten, treten auch die homosozialen Beziehungen in den Vordergrund. Texte wie z. B. Lisa Kränzlers 2013 erschienener Roman Im Nachhinein, Kate Reed Pettys True Story (2020), Cornelia Aschenbachs Nachtwanderung (2022) oder der Unterhaltungsro‐ man Fremde Freundin (2020) von J. Courtney Sullivan, aber auch Nachtschwärmerin (2022) von Leila Mottley sowie Spitzenreiterinnen (2021) von Jovana Reisinger - um nur einige Beispiele zu nennen - stellen dar, wie sich Frauen über die Beziehung zu anderen Frauen subjektivieren und dass für Frauen die heterosexuellen Beziehungen nicht von ausschließlicher oder größerer Bedeutung sind als die homosozialen. In diesen Romanen wird das homosoziale Bonding nicht überschattet oder - um in den Worten der Dichterin Adrianne Rich zu sprechen - durch die „Zwangsheterosexualität“ aufgehoben. Gerade Autorinnen, die nach der 2. Welle der Frauenbewegung geboren worden sind, rücken gern die weiblich-weiblichen Beziehungen ins Blickfeld ihrer Ro‐ manhandlungen, unabhängig davon, welche Sexualität die Frauenfigur vordergründig lebt. Es ist für die Bedeutung des homosozialen Bondings in diesen Texten egal, ob es auch Ehemänner, Liebhaber, Freunde gibt, die die weiblichen Figuren begleiten; in vielen dieser Texte wird die homosoziale Zuneigung nicht durch die heterosexuelle 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis 193 <?page no="195"?> Orientierung nivilliert. Die Bedeutung, die andere Frauen haben, ist nicht von der Anwesenheit eines männlichen Sexualpartners bedroht. Die Frauenfiguren von Gegen‐ wartsautor*innen treten aus der Schattenfunktion des sexuellen Objekts für Männer heraus. Die Beziehung zu einer Freundin, kollegial, romantisch oder erotisch, wird oft zum Schlüssel für die weibliche Entwicklung. Die Bedeutung dieser Frauenbeziehung stellt die heterosexuelle Beziehung der Protagonistinnen auf den Prüfstand. Der Frauenbeziehung kommt sowohl eine queere als auch eine feministische Qualität zu. In dem Studienbuch Queer lesen von 2019 habe ich darauf bereits Bezug genommen. Es erscheint jedoch sinnvoll, Homosozialität nicht nur als Analysetool für queere Lektüren, sondern auch als Tool für feministische Lektüren zu behandeln. Aus diesem Grund möchte ich den Begriff bei einem großen Gesellschaftsroman zur Anwendung bringen, der 2019 in Queer Lesen nicht in meine Betrachtungen einfloss. Die im Roman Unterleuten (erschienen 2016) beschriebene Frauenbeziehung zwischen Jule Fleiß-Wieland und Linda Franzen könnte in Anbetracht der Fülle an Konflikten und Figuren, die der Roman behandelt, unbeachtet bleiben, zumal sich diese Beziehung nicht in herkömmliche Raster wie das einer lesbischen Liebe oder einer Frauenfreundschaft einordnen lässt. Das in einem fiktiven brandenburgischen Dorf angesiedelte Handlungsgeschehen des Textes bietet eine Mischung aus historischem Roman, Zeitroman und Thriller. Die in der Forschung bereits reflektierte Vielstimmig‐ keit des Erzählens lässt Zehs Text auch zu einem hervorragenden Gegenstand werden, um die (erstmal recht unklare) Beziehung zwischen Jule und Linda zu untersuchen und dessen feministisches Potential herauszustellen. Obwohl Unterleuten ein Text ist, der sich nicht mit Identitäten auseinandersetzt, die augenfällig jenseits der Hete‐ ronormativität gelebt werden, bietet diese Beziehung ein queeres und feministisches Moment, das vermag, aufgrund der emotionalen Intensität, die zwischen den beiden Frauen ( Jule und Linda) entsteht, die heterosexuelle Paarbeziehung in den Schatten zu stellen. Aber nicht nur das; die Beziehung hilft Jule, aus einer stagnierenden Lebenssituation herauszufinden, was ich an anderer Stelle dieses Buches (vgl. Kapitel zum Phallischen Phantasma) als den „homosozialen Ausstieg“ aus der patriarchalischen Umklammerung bezeichnet habe. Durch Perspektivenwechsel und variable interne Fokalisierung lassen Jule und Linda eine Zuneigung zueinander erkennen, die nicht der heterosexuellen Ökonomie entspricht, nach der sich die Frauenfiguren in ihren mit Männern geführten Beziehungen richten. Das starke Interesse füreinander macht sie keineswegs zu homosexuellen Figuren, es steht jedoch quer zu dem heteronormativen Anspruch, dem sich Jule und Linda performativ beugen - und es ist unübersehbar. Es verleiht den in der Biederkeit des patriarchalen Gefüges lebenden Frauenfiguren eine Besonderheit, die beide Frauen vielschichtiger macht als der erste Blick vermuten lässt; und diese Beziehung veruneindeutigt ihre Figurierung als „Allerweltsfrauen“. In ihrer berühmten, die Genderforschung revolutionierenden und die Queerforschung initiie‐ renden Publikation Das Unbehagen der Geschlechter verabschiedete sich Judith Butler 194 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis <?page no="196"?> 295 Vgl. Butler 2021, S.-217. 296 Vgl. Kraß 2003, S.-22. von jeder geschlechtlichen Ontologie. 295 Was im Wissenschafts- und Alltagsdiskurs eine nicht mühelos zu akzeptierende Erkenntnis darstellte, weil der konstruktivistische Turn eine biologische Essenz sexueller Identität für obsolet erklärte, ist, wie im Abschnitt 1.2 dieses Buches gezeigt, für uns Literaturwissenschaftler*innen eigentlich eine vertraute Erfahrung. Die Figuren, mit denen wir uns auseinandersetzen, lassen sich zwar in den meisten Fällen geschlechtlich zuordnen, aber unsere Bestimmung ihrer Genderidentität kann niemals den Umweg über das so genannte biologische Geschlecht (sex) nehmen. Dass die Zuschreibung einer Geschlechtsidentität einen kulturell-vermittelten Akt darstellt, ist auf der Ebene des Literarischen offenkundig. Wie schon in der Einleitung gesagt worden ist, lesen wir Figuren als männlich oder weiblich auf der Grundlage ihrer Handlungen, wir betrachten ihre Rollen. Die geschlechtliche Zuweisung folgt dem, wie sie von anderen Figuren gesehen werden und rekurriert niemals auf „naturbasierte“ Fakten. Auch die Zuschreibung der sexuellen Präferenz untersteht einem ähnlichen Verfahren. Wir versuchen zu rekonstruieren, welche Figuren die literarischen Gestalten begehren und mit welchen sie verkehren. Die sexuelle Präferenz zuzuschreiben, ist jedoch ein potenziell vages Unterfangen. Aus Jules Ehe mit Gerhard auf eine unverbrüchliche Heterosexualität ihrerseits zu schließen und sie als langweilige Ehefrau einzuordnen, wäre naiv und würde jene heterosexistische Blindheit den Leser*innen unterstellen, die durch den Begriff der Homosozialität leicht behoben werden kann. Denn dass sich in der Beziehung zwischen Jule und Linda ein nicht heteronormatives Textbegehren 296 mitteilt, erscheint mir offensichtlich. Dieses andere Textbegehren gibt es nicht erst seit dem 21.-Jahrhundert. Bemerkenswert ist allerdings, dass, wie bereits oben erwähnt, viele zeitgenössische Autor*innen eine weibliche Ausrichtung auf das eigene Geschlecht nicht nur unter‐ schwellig in ihren Romanen anlegen, so dass ein Überlesen der Bedeutung, die den homosozialen Beziehungen zukommt, im Textzusammenhang fast verunmöglicht wird, spätestens dann, wenn wir uns des hier vorgestellten Analysetools bedienen. Einer weiblichen libidinösen Energie, die sich nicht auf Männer richtet, begegnen wir seit einigen Jahren auch häufig in den Stimmen der Figuren und der Erzählung. Dies ist auch in Unterleuten der Fall. Auch wenn die Beziehung zwischen Jule und Linda bisher nur mich zur wissenschaftlichen Reflektion reizte, ist sie keineswegs nur latent als Liebesbeziehung gestaltet. Das Begehren ist deutlich vernehmbar. Vielleicht bedarf es jedoch des Anstoßes von Feministisch lesen, damit die Germanistik ein offenes Ohr für die weiblich-weibliche Zuneigung zeigt. Homosozialität in Texten nachzuweisen hat nichts damit zu tun, die literaturwissenschaftliche Arbeit einer Identitätspolitik zu unterstellen. Linda und vor allem Jule zeigen zwar Sehnsüchte, die sich auf die jeweils andere Frau richten, aber das macht sie keineswegs zu Lesben oder lesbischen Identifikationsfiguren. Unterleuten mit einem geschärften Blick für Homosozialität zu lesen, hat nicht zur Folge, eine als heterosexuell erkennbare Figur einer heimlichen 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis 195 <?page no="197"?> 297 Zeh 2016, S.-12. 298 Vgl. Boltanski/ Chiapello 2006, S.-118-129. 299 Zeh 2016, S.-285. 300 Vgl. ebenda, S.-131. 301 Ebenda, S.-288. 302 Vgl. ebenda, S.-131. homosexuellen Identität zu überführen, wohl aber, über die Bedingungen der hetero‐ sexuellen Orientierung aufzuklären (und vielleicht auch völlig auf die Zuschreibung einer homo-, hetero-, oder bisexuellen Identität zu verzichten). Wie wir an Jule und Linda sehen werden, ist das Leben in einer heterosexuellen Partnerschaft nur eine von vielen Möglichkeiten, die die Frauen haben. Ihre Sexualität ist vielschichtiger und die Liebe zu einem Mann keine Naturnotwendigkeit. Für die jungverheiratete Jule ist ihr heterosexueller Ehebund nicht einmal die wünschenswerteste aller Optionen. Um sich jedoch zu vergegenwärtigen, dass sich Jule in einer für sie unbefriedigenden Lebens- und Liebessituation befindet, bedurfte sie einer attraktiven fremden Frau (Linda), „eine[r] moderne[n] Jeanne d’Arc im blauen Kleid“, 297 die ihr, ohne es besonders darauf anzulegen, einen anderen Horizont eröffnet hat. Ihr Girl Crush wird zum Motor dafür, sich von ihrer langweiligen Ehe zu verabschieden und eine Lebensform zu suchen, die ihr mehr entspricht. Jule und Linda erscheinen zu Beginn des Romans fern jeglicher homoerotischer Sehnsüchte. Da wir in einer Kultur leben, in der die meisten Rezipienten*innen Texte mit einer heterosexual presupposition lesen, also mit der Vorannahme operieren, dass die Figuren heterosexuell seien, wenn nichts Gegenteiliges verlautbart wird, liegt die Heterosexualität beider Frauen für die meisten Leser*innen eindeutig auf der Hand und eine Zuneigung zum eigenen Geschlecht wird kaum erwartet. Beide Frauen, so wird erzählt, sind und waren nie in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft zuhause. Linda ist eine kühl-rational handelnde Jungunternehmerin, die ihren Freund Frederik stark dominiert. Sie ist das Abziehbild einer neoliberalen Weiblichkeitsfigur, fast die Karikatur einer „Post-Feministin“. Sie ist herrisch und forsch, aber ihr Mindset erlaubt ihr nicht, sich mit struktureller Kritik am Patriarchat aufzuhalten, stattdessen sucht Linda ihr Heil in der Selbstverwirklichung. Sie zählt sich zu einer weiblichen Elite und besticht durch Flexibilität, hohes Selbstbewusstsein, Abenteuerlust und kommunikative Fähigkeiten. 298 Ihre Charakterisierung schert aus dem neoliberalen Weiblichkeitsspektrum nicht aus. Sie trägt „die Uniform der Abgebrühten“, 299 ist aber auch eine Frau, die ihre sexuellen Reize gezielt einsetzt, hemmungslos ihr Dekolleté zur Schau stellt 300 und mit diesem Aufgebot bewirkt, dass Männer „mit ihr ins Bett“ wollen. 301 Ihr geht es nicht um libidinöse Befriedigung, sondern darum, „ihre Interessen“ durchzusetzen. 302 Jule hingegen verkörpert eine weniger neoliberale, eher konservative Weiblichkeits‐ vorstellung. Sie scheint auf den ersten Blick nicht der dominante Part in der Beziehung zu sein. Die junge Frau ist mit einem ihrer ehemaligen Dozenten verheiratet, den sie als Studentin an der Universität kennengelernt hat. Mit ihm reinszeniert sie 196 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis <?page no="198"?> 303 Ebenda, S.-578. 304 Ebenda, S.-124. 305 Vgl. ebenda 376. 306 Ebenda, S.-123. 307 Ebenda, S.-376. 308 Ebenda. ein althergebrachtes Beziehungsmodell. Er dient als Familienoberhaupt, sie als der abhängige, emotionale Part, der scheinbar völlig in seiner Mutterschaft ausgeht. Für Jule scheint diese Ehe ein, wenn auch nur pragmatisch gewählter, so doch dankbarer Ausweg aus der seriellen Monogamie und der permanenten sexuellen Verfügbarkeit ihrer Tage als Studentin zu sein. Ungeachtet der konservativen Beziehungsform ist sie eine spätmoderne und durchgeplante Frau. Ihre bisherigen Erfahrungen mit Männern, die sich nicht fest an sie binden wollten, haben sie nicht glücklich gemacht. Anleihen ans 19.-Jahrhundert scheinen Jule daher reizvoll. In Jules Augen gaben Gerhard und sie ein romantisches Bild ab: eine junge Frau und ein zwanzig Jahre älterer Mann, dazu der radikale Ausstieg aus dem urbanen Berlin und die Rhetorik der Revolution - sie hatte es genossen, als Teil einer Zwei-Personen-Guerilla gegen den Strom zu schwimmen. 303 Gerhard, der Ernährer, der sich durch seine Begeisterung für Jule positiv abhebt „von den Twenty-Somethings, mit denen sie seit dem Abitur das Spiel ‚Feste Beziehung‘ ausprobiert hatte“, 304 agiert als der intellektuelle Kopf in der Beziehung, während Jule als hübsche Schutzbedürftige, die keiner Berufstätigkeit nachgeht, Gerhard neuen Lebenssinn geschenkt hat. Jule hat sich durch Gerhards Liebe aus den Unsicherheiten und negativen Beziehungen des spätkapitalistischen Beziehungsmarktes herauskata‐ pultieren können. Die Ehe ist popkulturell unterfüttert, d.h. sie imitiert spielerisch konservative Muster, denn Jule weiß, dass sie eine Rolle angenommen hat, sie möchte Teil eines romantischen Bildes sein. Die nun eine Femme fragile spielende junge Frau hat dem Modell zuliebe ihre ökonomische Autonomie aufgegeben, ihren Freundschaf‐ ten den Rücken gekehrt und einem Leben in der Großstadt entsagt, um zu einem selbst‐ genügsamen Landei zu werden. 305 Dieser Lebensentwurf wurde von ihr, verglichen mit ihren vorherigen Lebensexperimenten („die angepasste Studentin oder die aufmüpfige Rebellin, Party-Girl oder Spießerin, zynische Feministin oder feminine Verführerin“ 306 ) als vielversprechende, „neue Rolle“ 307 begriffen, die auf einem scheinbar bewährten Skript beruhte. Doch auch in diesem altehrwürdigen Rollenentwurf geht sie, als die Romanhandlung beginnt, eigentlich schon nicht mehr auf. Das Phantasma eines ihr überlegenen Mannes, das der Hochschullehrer wohl einst für sie verkörperte, ließ sich für Jule nicht befriedigend in seiner Rolle als Ehemann aufrecht erhalten. Jule fühlt sich nicht sehr zu ihm hingezogen. Gerade diese beiden Frauen, die augenscheinlich beide in herkömmlichen, wenn auch langweiligen Identitätsrastern leben - Jule in einer heterosexuellen „festen Beziehung“ mit einem „tollen Mann“, gekrönt durch ein „gesundes Baby“, 308 Linda in 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis 197 <?page no="199"?> 309 Ebenda, S.-33. 310 Ebenda, S.-21. 311 Ebenda, S.-21. 312 Ebenda, S.-122. 313 Ebenda, S.-124. einem aus „ihrem ungeduldigen Pragmatismus“ 309 geschöpften Lebensentwurf, der sie bewogen hatte, ihrem Freund nach Berlin zu folgen, um sich nun in der Nähe der Hauptstadt mit ihm etwas aufzubauen -, knüpfen miteinander ein emotionales Band, das nicht in der heterosexuellen Ordnung kodiert ist, die die bisherigen Lebenskreise beider Frauen geprägt hat. Es bedarf nicht etwa einer queeren presupposition, um diese sich beiden Lebensentwürfen widersetzende homosoziale Begehrensstruktur zu erkennen, weil Zehs Text die emotionale Verbundenheit zwischen beiden Frauen offen ausspricht. Die Romanhandlung führt die jungen Frauen nicht in eine homosexuelle Beziehung oder gar lesbische Identität, ist jedoch so heteronormativitätskritisch, dass sie zumindest Jule zu neuen Ufern aufbrechen lässt. Sie wird ihr Rollenspiel mit ihrem Ehemann, das auf einer aus der Zeit gefallenen patriarchal-konservativen Vorschrift beruht, aufgeben und das sexualisierte Rollenspiel zwischen „Professor und Studentin“ 310 zum Ende des Romans quittieren. Die Begegnung mit Linda lässt Jule mit einem Identitätsentwurf aufräumen, der ihr in der Beziehung zu ihrem Mann Gerhard übergestülpt wurde bzw. den sie sich selbst übergestülpt hat, um den spätmodernen, ambivalenten Ansprüchen an weibliche Identität (Erfolg im Beruf, Mutterschaft und glückliche Partnerschaft), dem triple entanglement (siehe zweites Kapitel) und der Aporie in den spätmodernen Geschlechterverhältnissen (siehe vorheriges Kapitel) durch das konventionelle Modell einer Versorgerehe zu entfliehen. Jules fragwürdiges Eheglück kritisch zu betrachten, öffnet nicht nur den Blick für eine feministische Resistance gegenüber der Form von Weiblichkeit, in die Jule durch die heterosexuellmännliche Perspektive Gerhards (male gaze) gegossen wurde. Letztlich erwächst Jule zu einer Figur, die dem Patriarchat kritischer gegenübersteht als Linda. Linda ist zu pragmatisch, um Strukturen zu reflektieren. Sie affirmiert die gesellschaftlichen Gegebenheiten und versucht, diese für sich zu nutzen. Wenn Männer mit Macht und Geld, wie der Geschäftsmann Meiler, sie als Sexobjekt betrachten wollen, empfindet Linda dies weder als kritikwürdig noch als etwas, das sie persönlich angreifen würde. Jule geht mit der Reduktion ihrer Identität auf ihre weiblichen Reize bedachtsamer um. Sie weiß genau, dass Gerhards Liebe vor allem darauf beruht, dass sie, „die junge, weiche, rothaarige Schöne“ 311 , ihm ein „Publikum“ 312 geboten hat, welches ihm in seinem universitären Umfeld verloren zu gehen drohte: „Er war dankbar für Jules Existenz, für jede Minute ihrer Anwesenheit, für jedes Wort, das sie zu ihm sprach.“ 313 Seine Dankbarkeit hielt Jule bis zu ihrer Begegnung mit Linda für eine geeignete Ba‐ sis, um eine heterosexuelle Beziehung zu führen, in der sie sich nicht entmächtigt fühlt. Die Struktur der Beziehung zwischen Gerhard und Jule ist einfach zu entschlüsseln. Er qualifizierte sich für sie dadurch, dass er ihr als ein für eine verbindliche Beziehung 198 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis <?page no="200"?> 314 Vgl. ebenda, S.-376. 315 Ebenda, S.-122. 316 Ebenda, S.-10. 317 Vgl. ebenda, S.-121. 318 Ebenda, S.-326. tauglicher Mann erschienen war, 314 der ihr darüber hinaus Orientierungshilfe in ihrer post-adoleszenten Lebensphase zu leisten vermochte. 315 Der männliche Blick Gerhards auf Jule ist romantisch unterfüttert. Gerhard sah in der hübschen Frau eine „Abgesandte aus einer anderen Welt“, 316 dazu bestimmt, ihn glücklich zu machen, ihm ein Kind zu schenken und ihn zu motivieren, einen ihm stimmiger erscheinenden Lebensentwurf auszuprobieren als den des abgehängten Universitätsdozenten, in dem er bis zur Begegnung mit Jule feststeckte. Sie wird zu einer Projektionsfläche, auf der er seine Identität als Mann neu entwerfen kann. Als Jule Mutter wird, nimmt sie diese neue Rolle so in Anspruch, dass sie kaum einen Blick für etwas anderes hat und wie eine Äffin an ihrem Baby hängt. 317 In gewisser Weise ist ihre innere Einkehr, die hysterische Fixiertheit auf ihr Kind, die Gerhard seit der Geburt der Tochter an ihr wahrnimmt, eine mustergültige Verkörperung klassisch-bürgerlicher Weiblichkeitsvorstellungen, so dass er auch ihre sexuelle Abgewandtheit akzeptiert. Was jedoch Jule offenkundig nicht zu einer Frau des 19. Jahrhunderts macht, ist, dass sie ihr Leben und ihre Liebe mit Gerhard als Rolle begreift und nicht in diesen Lebensentwurf gezwungen wurde. Die Vorstellung vom Rollenspiel betrifft nicht nur ihren Part beim Zusammenleben, sondern auch den beim sexuellen Akt. Die körperliche Liebe mit Gerhard ist ihr nicht unangenehm, aber auch da sieht sie sich im Cast einer Glückspenderin, einer Verheißung. Sie lebt die Sexualität mit ihm nicht als Subjekt, sondern als Objekt, dient als Impulsgeberin für Gerhards sexuelle Potenz, liefert ihm einen Resonanzkörper sowohl in seiner Rolle als Dozent als auch als Liebhaber und bekommt dafür Applaus. Das bravouröse Erfüllen der Objektfunktion ist der eigentliche Gewinn, den Jule aus dem sexuellen Verkehr mit ihm zieht. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte man auf körperliche Liebe ganz verzichten können, wenn nicht gerade die Zeugung eines Kinds auf der Agenda stand. Während ihrer jahrelangen Suche nach dem Richtigen hatte sie gelernt, dass weibliche Lust nichts war, auf das man warten konnte. Man musste dafür trainieren. Mit Gerhard hatte sie im Bett eine solide Verbindung von Freundschaft und Technik entwickelt. Der Sex gelang wie viele andere Dinge auch. Mehr als über eigene Höhepunkte freute sie sich über Gerhards Stolz. Als sie sich kennengelernt hatten, hatte Gerhard unter etwas gelitten, das er „Probleme bei der Sache“ nannte. Was derartige Komplikationen für einen Mann bedeuteten, konnte Jule nicht nachfühlen, aber Gerhards Schilderungen legten nahe, dass es sich um die Hölle auf Erden handeln musste. Jule fand es nett, einen Menschen, den sie mochte, gesund und glücklich zu machen. 318 Gerhard ist zur Bewahrung seiner Männlichkeit und zur Festigung seiner identitären Rolle stärker auf Jule angewiesen als sie auf ihn, was auch dazu führt, dass er zuneh‐ 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis 199 <?page no="201"?> 319 Vgl. Illouz 2018b, S.-24. 320 Zeh 2016, S.-21. 321 Ebenda, S.-14. 322 Vgl. ebenda, S.-124. 323 Vgl. ebenda, S.-11-26. 324 Vgl. ebenda S.-10. 325 Ebenda, S.-9. 326 Ebenda, S.-472. mend uninteressanter für sie wird. Sie spielt ihre Rolle mit Vorsatz, während starke Emotionalität in dieser heterosexuellen Beziehung, im Widerspruch zum herkömmli‐ chen Genderklischee, auf der Seite des Mannes angesiedelt ist. In der Spätmoderne sind es die Frauen, die sich, weil sich weibliche Identität eher im Bindungswillen ausdrückt, als abhängiger von der emotionalen Resonanz des Mannes gebärden. 319 Der Beziehungssehnsucht Folge leistend versuchen Frauen, die Liebe des Mannes zu befördern und sich seinen Bedürfnissen anzupassen. Dies bedingt, dass Frauen sich häufiger als machtlos empfinden und der Gefühlsverweigerung des Mannes schutzlos ausgeliefert sind. In seiner Ehe hingegen agiert Gerhard als der emotional abhängige Part. Er liebt Jule, die für ihn dem Wortlaut nach zwar auch „etwas […] übrig“ 320 hat, ihn aber gerade nicht emphatisch liebt. Um die Beziehung aufrecht zu erhalten, gibt er sich stetig „Mühe“, 321 während Jule egoistisch ihren Bedürfnissen folgt. Die Bereitschaft Gerhards, sich vollständig auf Jule einzulassen und sie zu vergöttern, prädestiniert ihn für sie als Partner. 322 Seine Abhängigkeit verleiht ihr Macht. Wenn sie ihren Mann schilt, muss er diplomatisch und zugewandt bleiben. 323 Die Machtdynamik in der Beziehung tritt deutlich zu Tage, als das Leben der Eheleute durch den Nachbar belastet wird. Der von Jule „nur noch“ als „das Tier“ 324 bezeichnete Automechaniker Schaller räuchert sie ein, weil er, jeglichen Umweltschutzbestimmungen zum Trotz, Gummireifen auf seinem Grundstück verbrennt. Das tut er vorsätzlich. Gerhard steht dem genauso hilflos gegenüber wie Jule. Sie jedoch scheut sich nicht, die Verantwortung unverfroren auf ihn abzuschieben, Gerhard zum Eingreifen zu zwingen und ihn auf die Rolle des Familienoberhaupts festzunageln. Gerhard nimmt an, was sie ihm zuweist. Während Jule noch andere Rollen aus der Schublade ziehen könnte, ist der mehr oder minder gescheitere Akademiker tief in einer Midlifecrisis gefangen. Die Verbindung mit der jungen Frau scheint ein letzter Garant dafür zu sein, dass er ein vollwertiger Mann ist. Dass ihn seine Frau nach der Geburt des Kindes vernachlässigt, schmerzt ihn und wird für ihn zum bedrohlichen Aspekt. Er muss jede Gefahr für das Bestehen seiner Ehe abwenden. Auch wenn der Roman mit der Behauptung eröffnet wird: „Je hysterischer Jule wurde, desto fester klammerte er sich an die Vernunft“, 325 lässt sich bei voranschreitender Lektüre konstatieren, dass, um so abgewandter, ich- und kindbezogener Jule wird, Gerhard sich umso fester an sie klammert. Er handelt affektiv und zeigt seine Abhängigkeit von Jule, obwohl das ökonomische und generationelle Ungleichgewicht das Gegenteil vermuten lassen könnte; er bedarf als Mann mit „[z]u wenig Selbstvertrauen“ 326 stetig Jules Zuspruch. Die Drohung Jules, ihn zu verlassen, versetzt Gerhard in einen dermaßen verzweifelten Zustand, dass er nicht nur seine 200 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis <?page no="202"?> 327 Ebenda, S.-220. 328 Ebenda, S.-216. 329 Ebenda, S.-139. 330 Vgl. ebenda, S.-240. moralischen Prinzipien verrät und Linda Franzen eine Baugenehmigung zukommen lässt, obwohl diese Genehmigung die Vogelart, für deren Schutz er als Amtsperson in die Provinz bestellt worden war, bedroht. Er wird sogar gegenüber Schaller gewalttätig, was ihm noch weniger entspricht als die moralische Kapitulation, die er im Fall der Baugenehmigung vollzogen hat. Der Nachbar lässt die Fragilität des Ehegebäudes offenbar werden, weil beide Ehepartner auf die psychische Belastung nur in ihren Rollen als hysterische, schutzbedürftige Frau und rational agierender Mann reagieren, statt sich gemeinschaftlich dem Ärgernis stellen zu können. Ihre Beziehung wurde durch ein unzeitgemäßes Rollenspiel konstituiert, dem sie beide verhaftet bleiben. In einer feministischen Lesart wird dieses Rollenspiel entlarvt. Die spielerisch entwi‐ ckelte, ungleiche Rollenverteilung, die die erotische Stimulation in diese heterosexuelle Beziehung gebracht hat, wird gerade der Grund für das Scheitern. Bevor die Ehe tatsächlich zerbricht, kann Gerhard seine Jule noch einmal wiedergewinnen. Sie scheint wie aus einem Dornröschenschlaf geweckt worden zu sein und ihre permanente Fixiertheit auf das Baby zugunsten anderer Interessen hintanstellen zu können. Die Liebe oder zumindest das Arrangement, das als Liebe firmiert, keimt zwischen den Ehepartnern scheinbar erneut auf. Dieser Keim wird jedoch, was Gerhard nicht ahnt, nicht durch die heterosexuelle Energie zwischen beiden Eheleuten zum Blühen gebracht, sondern durch die Begegnung Jules mit Linda: „Nicht das Gespräch mit Gerhard, sondern Lindas Anblick hatte sie aus ihrer geistigen Umnachtung gerissen“. 327 Jule empfindet ihr neu erwachtes Interesse für die Umwelt als „eine Wiedergeburt“. 328 Die Energie, die in Jule durch die Begegnung mit Linda entsteht, führt zu einem feministischen Erwachen. Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil diese beflügelnde Frau so gestaltet ist, dass sie mit der auf ihr Kind fixierten Jule, die nun beginnt, wieder einmal Wein zu trinken und Gespräche mit ihrem Mann zu führen, die sich nicht um das Baby, sondern um Kommunalpolitik drehen, wenig gemein hat. Trotz der charakterlichen Unterschiede gibt es eine auffällige Analogie zwischen Jule und Linda. Obwohl Linda in Unterleuten einen völlig anderen Lebensentwurf umsetzen will als Jule - sie möchte ein Gestüt aufbauen und für eine reiche Berliner Klientel Coaching mit Pferden in ihrem selbst renovierten Heim anbieten -, keine Intrigen scheut und anders als Jule niemals ihren Lebenspartner in Stellung bringt, ist ihre heterosexuelle Partnerschaft zu Frederik ähnlich pragmatisch strukturiert wie die Beziehung Jules zu Gerhard. Die Beziehungsdynamik verläuft analog. Ihr Freund Frederik liegt ihr zu Füßen: „Frederik konnte nicht ohne Linda leben“. 329 Er ist ein Mann, der im Gegensatz zu den Männern aus dem Bekanntenkreis seine Partnerin aufrichtig liebt. 330 Obwohl er mehr Geld in der Computerbrache verdient als sie, ist es auch in dieser Beziehung offenkundig der Mann, der von seiner Partnerin emotional stärker abhängig ist als sie 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis 201 <?page no="203"?> 331 Vgl. ebenda, S.-588. 332 Vgl. ebenda, S.-586. 333 Ebenda, S.-459. 334 Ebenda, S.-587. 335 Ebenda, S.-589. 336 Vgl. ebenda, S.-589 u. S.-326. 337 Ebenda, S.-459. 338 Ebenda, S.-585. 339 Vgl. ebenda, S.-533. 340 Vgl. ebenda, S.-589. 341 Ebenda, S.-42. 342 Ebenda. von ihm. 331 Da Linda eine Pferdenärrin ist, hat sich Frederik im Internet sogar einer Beziehungsberatung unterzogen, um nicht in Eifersucht gegen ihren Lieblingshengst Bergamotte zu entbrennen. Ihm ist klar, dass Linda vor die Wahl gestellt dem Pferd den Vorzug geben würde, so wie Gerhard klar ist, dass Jule ihre Tochter deutlich mehr liebt als ihn. Auch in der Beziehung Linda-Frederik ist es die Männerfigur, die sich stetig Mühe gibt, den Anforderungen der Partnerin gerecht zu werden. Die Machtposition in der Partnerschaft hat Linda inne. Sie ist daher gedanklich immer mal wieder damit beschäftigt, 332 dem „Spielverderber“ 333 den Rücken zu kehren. Sie knüpft die „Liebe an die Bedingung reibungslosen Funktionierens“. 334 Die pragmatische Linda weiß allerdings, was sie an dem IT-Entwickler Frederik hat. „Frederik war ihr bester Freund, sie wollte nicht ohne ihn leben.“ 335 Heterosexualität wird in beiden Paarbeziehungen von den Frauen als eine Art prag‐ matischer Freundschaft gesehen, die den selbstgewählten Lebensentwurf unterstützen soll. Dieses semantische Feld wird vom Text explizit aufgerufen. 336 Lindas Zuneigung zu Frederik ist nicht vordergründig sexuell motiviert bzw. beruht nicht auf einem starken sexuellen Begehren. Oft empfindet sie die körperliche Liebe mit ihm als zeitraubend - es kommt ihr entgegen, wenn sie „keine Zeit an gemeinsame Abendessen, Sex oder Gespräche über die Computerbrache verlor“. 337 Manchmal dient ihr die körperliche Liebe nach Auseinandersetzungen als Kitt („Versöhnungssex“ 338 ), um Frederik auf ihre Linie einzuschwören. Das heißt nicht, dass sie die sexuelle Aktivität mit ihm ablehnt, aber ihn macht die körperliche Beziehung glücklich, 339 und er scheint süchtig nach seiner Freundin zu sein, während Linda vor allem dankbar für Frederiks Loyalität und Unterstützung ist. 340 Linda und Jule haben auf die Sexualität mit ihren Partnern einen sehr sachlichen Zu‐ griff. Zehs Roman entlarvt damit die Heterosexualität, die diesen beiden Frauenfiguren zugesprochen wird, als eine Präferenz, die nicht auf einem intrinsischen Verlangen nach ihren Partnern oder auf großen romantischen Gefühlen seitens der Frauen beruht. Für Linda und Jule ist der heterosexuelle Verkehr ein Rollenspiel, das sie gewohnt sind und gekonnt beherrschen. Sie beherrschen es so gut, dass die Partner ihnen zu Füßen liegen, denn in beiden Partnerschaften verfügen die Frauen über einen höheren sexuellen „Marktwert“ 341 als die ihnen ergebenen Männer. Frederik tendiert wegen seines „Computerfimmels“ 342 zur Nerdigkeit, und auch der deutlich ältere Gerhard 202 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis <?page no="204"?> 343 Ebenda, S.-119. erscheint in vielerlei Hinsicht als Nerd. Er ist ein Mann, der sich bemüht und „trotzdem alles falsch“ 343 macht. Der intern fokalisierte Blick der Männer auf ihre Frauen ist deutlich liebevoller als andersherum. Jule und Linda manipulieren ihre Partner und nutzen die sexuelle Macht, die sie über sie haben, aus. Beide Frauen sind Strateginnen in ihrer Liebeswahl, während den Männern die Liebe zu ihren Frauen schicksalhaft und unausweichlich erscheint. Geschlechterklischees der Gegenwart werden nur scheinbar reinszeniert, denn durch die emotionale Reserviertheit und den sachlichen Sexualitätsvollzug seitens der Partnerinnen, der eigentlich spätmoderne Männlichkeit kennzeichnet, kehren sich die Machtverhältnisse in den beiden heterosexuellen Be‐ ziehungen um. Dadurch, dass die Frauen das Beziehungsgefüge dominieren, wird gerade nicht das überkommene gesellschaftliche Bild der Heterosexualität reinszeniert, sondern nur als traditionelles Muster (der Mann verdient das Geld, die Frau widmet sich dem Ausbau des Heims) aufgegriffen, welches durch die emotionale Zurückhaltung der Frauen, die dadurch einen Machtgewinn gegenüber ihren Männern verzeichnen, überschrieben ist. Es wäre gänzlich falsch, den offenkundigen Pragmatismus, dem Jule und Linda gegenüber einer romantisch motivierten Liebeswahl den Vorzug geben, so zu deuten, als hätten sie ihre eigentliche Präferenz verfehlt. Zwischen Sexualität, Bindung und Emotion trennen zu können, zeitigt für beide Frauen einen positiven Machteffekt. Ihre emotionale Zurückhaltung ist keine bewusste Ablehnung eines heteronormativen Mindsets, sondern ihr Mittel, um sich einen ökonomischen und sozialen Status zu sichern. Als erfolgreiche Jungunternehmerin braucht Linda einen loyalen Partner, und Jule, die es leid ist, Männern hinterherzulaufen, braucht für ihr neues Lebensmodell ebenfalls jemanden, der loyal zu ihr steht und ihre Träume finanziert. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich die Bedeutung der homosozialen Zuneigung, die beide Frauen erfasst, deutlich ab. Dort treffen wir auf Begehren, dort steckt die libidinöse Energie der Frauen und das banale Weiblichkeitsklischee, dem Jule als „hysterische Ehefrau“ und Linda als „knallhartes Karriereweib“ entsprechen, wird gebrochen. Begehren ist etwas, das sich nicht widerstandlos der Ratio unterwirft und auch in ungewöhnlichen Kontexten aufkeimen kann. Da nämlich eine weibliche Psy‐ chologie, die völlig vorhersehbar wäre und Frauen mehr als abgeklärte Lebenspartner- Darstellerinnen, die sich mit ihrer Sexualität nur einen Platz im patriarchalen Gefüge erschleichen wollen, denn als zu aufrichtigen Empfindungen fähige Menschen ausle‐ gen würde, ganz unbefriedigend ist, verzichtet der Roman nicht darauf, den Frauen, die ihre Partnerschaften so unromantisch leben, auch unkalkulierbare Emotionen und Sehnsüchte zuzuschreiben. Die berauschende Erfahrung einer die Routine unter‐ laufenden Gemütsbewegung machen Linda und Jule mit ihrem eigenen Geschlecht. Linda, die in einem selbstoptimierenden Narzissmus sowohl eine Richtschnur für ihr Handeln zum Wohl ihres vergötterten Hengstes als auch beim Zitieren der Regeln des Erfolgscoachs Manfred Gortz findet, dessen Weisheiten ihr tägliches Mantra sind, ist weniger gefühlsbetont gezeichnet als Jule, aber auch sie projiziert ungekannte 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis 203 <?page no="205"?> 344 Ebenda, S.-126. 345 Ebenda, S.-204. 346 Ebenda, S.-376. 347 Vgl. ebenda, S.-218f. 348 Vgl. ebenda, S.-220. 349 Ebenda, S.-416. 350 Ebenda. 351 Ebenda, S.-269. Sehnsüchte auf die „rothaarige Schöne“. Ihre Abhängigkeit von Gortz’ neoliberalen Weisheiten zeigt, dass ihre Kaltschnäuzigkeit eine antrainierte Fassade ist. Die junge Mutter Jule hingegen ist sich ihrer Gefühle schneller bewusst als die abgeklärte Unternehmerin. Linda bewirkt, dass sich Jule im Kampf gegen Windräder, die das Dorfbild verschandeln, engagiert, weil sich Linda, aus rein strategischen Gründen, auf einer Dorfversammlung öffentlich gegen den Bau der Windräder ausgesprochen hat. Tatsächlich hat die Jungunternehmerin nur im Auge, vom Bau der Windräder finanziell zu profitieren und täuscht ein Interesse am dörflichen Allgemeinwohl bloß vor. Doch das weiß Jule nicht. Als sie Linda auf der erwähnten Versammlung als „ungewöhnliche Erscheinung in dieser Umgebung“ sieht und „bewundert“, 344 beginnt sie sich mit Linda zu identifizieren. Ihre Identifikation drängt sie sofort zum Handeln. Der ahnungslose Gerhard ist von seiner energischen Frau hingerissen: Seit Monaten hatte er seine Frau nicht so entspannt erlebt. Sie war keine narkotisierte Mutter mehr. Jeden Gedanken, den er formulierte, erfasste sie sofort und spann ihn weiter. Er genoss es, sie anzusehen. Ihr konzentriertes, vom Schein des Monitors beleuchtetes Gesicht. Fast kam es ihm vor, als wäre sie monatelang verreist gewesen und heute überraschend nach Hause zurückgekehrt […] - das Zusammensein mit Jule machte ihn glücklich. 345 Der Roman lässt keinen Zweifel daran, für wen Jule in die neue Rolle finden will. Ihre Vernarrtheit in Linda bleibt weder ihr noch der kaltschnäuzigen Linda verborgen. Gerhard und ihre Rolle als Ehefrau wirken auf sie plötzlich schal, und sie rationalisiert ihre neu entstandene Sehnsucht: „Vielleicht könnte sie sich in Linda Franzen verlieben und an dieser verborgenen Neigung auf identitätsstiftende Weise leiden.“ 346 Eine solche Option wäre natürlich ebenfalls ein Rollenspiel. Doch Jule emanzipiert sich seit der Begegnung mit Linda zusehends von ihren bisherigen Rollenspielen, gewinnt im wahrsten Sinn des Wortes Selbstbewusstsein. 347 Jenseits der Rationalisie‐ rung ihrer Emotion, die sich als ‚Verliebtheit‘ labeln lässt, 348 fühlt sich die so brav erscheinende Jule zu Linda auf eine Art hingezogen, die auch die pragmatische Jungunternehmerin erkennt. Linda äußert selbstgefällig: „Die ist irgendwie verknallt in mich“. 349 Die scheinbar Jules Zueignung nur geringschätzende Linda, die ihre kostbare Zeit nicht an spielerische Vorstellungen von neuen Identitäten verliert und die junge Mutter gegenüber ihrem Freund als Frau mit „Macke“ 350 abtut, wird von dieser Frau, deren „hübsches Gesicht“ 351 sie ebenso neidlos goutiert, wie es Jule ihrer schönen Erscheinung gegenüber getan hat, doch beflügelt. Bei einem Besuch der Eheleute, den Linda zwecks ihrer Bauinteressen tätigt, kommt sie entgegen ihrer alleinigen Absicht, 204 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis <?page no="206"?> 352 Ebenda. 353 Ebenda. 354 Ebenda. 355 Ebenda. 356 Ebenda. 357 Ebenda, S.-262. 358 Ebenda. 359 Vgl. ebenda, S.-31f. Gerhard für ihre Interessen einzuspannen, der Frau, die sie erst gar nicht interessierte, emotional nahe: Wieder sandte sie ein Lächeln aus; dieses Mal ging es auf Gerhards Kosten. Linda lächelte zurück, und plötzlich glaubte sie, dass Jule vielleicht doch ihre Freundin werden könnte. Sie stellte sich vor, wie sie gemeinsam unter den Robinien hinter Objekt 108 sitzen und einen Tee mit kompliziertem Namen trinken würden, den Jule mitgebracht hatte. Sophie würde im Garten spielen und für Linda wie eine kleine Nichte sein, und vielleicht würde das Mädchen eines Tages auf Bergamotte reiten lernen. 352 Lindas durch Jule beflügelte Gedankenspiele konnotieren vielleicht mehr Zuneigung als Verknalltheit, weil ihr Interesse an Jule weniger erotischer Natur zu sein scheint als das von Jule an ihr. Doch gerade diese „Sehnsucht nach friedlichem Zusammensein, ohne Kampf, ohne Sex, ohne Vergangenheit oder Zukunft“, 353 ist für die nutzorientierte Linda außergewöhnlich. Es lässt sich mit Fug und Recht sagen, dass die Utopie einer romantischen Freundschaft, die Linda hoffen lässt, sie könnte Jule dazu bringen, „eines Tages sogar […] den Killjoy [gemeint: Gerhard; K. K.] zu verlassen und ein echter Mensch zu werden“, 354 que(e)r zu der rationalen Idee steht, die Linda von sich selbst hat. Bisher kannte Linda das Konzept Freundschaft nur im Zusammenhang mit ihrer heterosexuellen Partnerschaft: Linda hatte keine Freundinnen. In der Schule waren ihr die anderen Mädchen zu albern gewesen, und später hatte sie immer zu viel gearbeitet, um Leute kennenzulernen. Außerdem war ihr Frederiks Freundschaft im Grunde genug. 355 Aber „Jules Anblick“ weckt „Sehnsucht“ nach „Sonne, Tee, Reden“. 356 Er ruft Assozia‐ tionen bei der nutzenorientierten Linda hervor, die für sie ungewöhnlich sind und ihr kaum entsprechen, da sie „ohnehin keine Emotionen mochte“. 357 Eingeschworen auf kalkulierenden Rationalismus möchte sie, rational erwogen, in Jule eigentlich keine Freundin sehen, sondern sie nur als „Verbündete“ 358 gewinnen, um ihre Interessen im Dorf besser durchsetzen zu können. Ihre Gefühle für Jule sprechen allerdings eine andere Sprache als die der Ratio. Am imaginären Horizont der heterosexuell lebenden Linda eröffnet sich durch Jules Lächeln eine Welt ohne Männer, eine gynophile Weiblichkeitsvorstellung, in der sie gemeinsam mit einer Freundin „unter den Robinien“ sitzt und „Tee mit kompliziertem Namen“ trinkt, obwohl sie eigentlich eine Kaffeetrinkerin ist. 359 Diese Vorstellung einer Teestunde unter Freundinnen, die Lindas eigenem Selbstverständnis nicht entspricht, ist nicht sachlich, sondern 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis 205 <?page no="207"?> 360 Ebenda, S.-123. 361 Ebenda, S.-264. 362 Ebenda. 363 Ebenda, S.-269. 364 Vgl. ebenda, S.-272. 365 Ebenda, S.-271. 366 Vgl. ebenda, S.-372. romantisch geprägt. „Reden“ und „Tee“ trinken wollen, sind Wünsche, die dem wenig leutseligen Koffeinjunkie Linda eine ungeahnte Dimension verleihen und jenseits ihres rationalen Selbstkonzeptes stehen. Begehren unterwirft sich freilich nicht völlig der Ratio. Ist es nicht bemerkenswert, dass Linda, die so selbstzentriert ist und egoistisch handelt, genau versteht, dass Jule in diese Ehe als eine Frau getreten ist, „die keine Überzeugungen […], keinen Glauben und keine Idee von einer besseren Welt“ 360 besitzt? Sie durchschaut das Ehearrangement sofort; sieht, dass Gerhard ein effeminierter Mann ist, dem seine hübsche Frau, das Baby und das Haus dazu dienen, zu „verschleiern“, 361 dass er es „zu nichts gebracht“ 362 hat. Die attraktive Jule, so sieht es Linda, stellt eine Trophäe für seine bedrohte Männlichkeit dar. Nur ist diese Trophäe nicht gewillt, die Rolle als Gerhards Männlichkeitsstifterin weiterhin auszufüllen. Sie lächelt Linda an, macht ihr die Aufwartung: „Jules Lächeln war ein großes Angebot“. 363 Dies lässt Linda nicht kalt. Bei der Begegnung zu dritt wechseln Jule und Linda Blicke, reagieren aufeinander und übersehen den Mann, der zumindest im gesellschaftlichen Kontext noch der Mächtige ist, denn es obliegt allein ihm, Lindas Bauvorhaben zu genehmigen. Er wird durch eine strategische List Lindas bezwungen und ist symbolisch durch die Frauen entmachtet, 364 die sich über ihn subtil lustig machen. Jules Augen blicken „nachdenklich, als fragte sie sich nach Lindas Motiven“. 365 Ihr Interesse gegenüber Linda ist aufrichtig und entspringt keineswegs nur einer neuen Spielanleitung, von Gerhard rückt sie „innerlich“ immer weiter ab. 366 8.1 Die „Zwangsheterosexualität“ unterlaufen: Homosoziales Begehren und Girl Crush Mit dem Begriff homosoziales Begehren lassen sich die beziehungsreichen Konzepte „Freundin“, „Verbündete“, das mögliche Verliebt- und Verknalltsein als heteronormati‐ vitätskritische Kraft in Zehs Unterleuten theoretisieren, ohne Jule und Linda fälschli‐ cherweise als homosexuell darzustellen. Jules und Lindas Girl Crush ist weder rein sexuell noch ist er völlig frei von erotischer Energie. Adrienne Rich hat in ihrem Essay Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz im Zuge der zweiten Welle der Frauen‐ bewegung kritisiert, dass es in der patriarchal geprägten Kultur als selbstverständlich angenommen wird, dass Frauen Männer begehren. Nur diese Präferenz wird als normal angesehen, eine andere sexuelle Orientierung wird als Bruch mit der weiblichen Iden‐ tität diffamiert. In dem Text, der 1980 entstand und bereits 1983 ins Deutsche übersetzt wurde, behauptet Rich, dass diese Annahme ein Irrtum sei. Frauen empfänden, auch 206 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis <?page no="208"?> 367 Vgl. ebenda, S.-578. 368 Vgl. ebenda S.-577. 369 Vgl. ebenda, S.-123. 370 Vgl. ebenda, S.-631. 371 Vgl. ebenda, S.-578f. 372 Ebenda, S.-480. aufgrund ihrer Sozialisation, stets stark für andere Frauen. In ihrer Identität gebe es keinen emotionalen Bruch mit der Mutter, die die erste Liebe eines Mädchens darstelle. Diese ursprüngliche Verbundenheit zu der als weiblich identifizieren Sphäre werde von Frauen nie aufgegeben und bleibe ihr Leben lang bestehen, nur dürfe sie in einem strengen Patriarchat keine augenscheinliche Rolle spielen, daher wird die identifikatorische Energie oft als Rivalität unter Frauen ausagiert. Frauen entfremdeten sich untereinander und wählten anstandslos Männer als Lebenspartner. Die Negierung der homosozialen Energie gründet Rich auf das Konzept der Zwangsheterosexualität: Die Gesellschaft ist so strukturiert, dass Frauen ihre Verbundenheit mit anderen Frauen zugunsten heterosexueller Beziehungen aufkündigen sollen, um als respektable Wesen anerkannt zu werden. Auch Jule wendet sich von ihrer Freundin Sanne ab, die ihr, nachdem sie Gerhard kennengelernt und sein Weltbild adaptiert hat, 367 nicht mehr so reizvoll als Freundin erscheint. Jule folgt den Gesetzen des Patriarchats, indem sie eine heterosexuelle Ehe über die Frauenfreundschaft stellt. Sanne wird allerdings der Mensch sein, bei der Jule nach ihrer Trennung von Gerhard um Asyl bittet. 368 Der Text zeigt damit, dass homosoziales Bonding oft dauerhafter ist als heterosexuelle Beziehungen. Die gesellschaftliche Erwartung, eine erfolgreiche heterosexuelle Bezie‐ hung zu führen, hat ihre Abkehr von ihrer Freundin bewirkt. Für sie schien lange das Rezept für ein glückliches Leben in den Händen eines Mannes zu liegen. 369 Genau diese gesellschaftliche Spielanleitung wirkt auf Jule aber plötzlich illusionär und falsch. Die Begegnung mit Linda weckt in ihr eine neue Sehnsucht nach homosozialen Allianzen. Der heteronormative Lebensstil, den Rich als „zwangsheterosexuell“ deklariert, erweist sich, zumindest in der gegebenen Form, für Jule als nichtig. Sie möchte nicht mehr die Staffage für Gerhards Männlichkeitsinszenierung sein, sondern ein selbstbestimmtes Leben führen, in dem auch Frauenfreundschaften wieder eine Rolle spielen. 370 Ihre Abkehr von Gerhard gründet nicht auf Hass, Streit oder Liebesentzug seitens ihres Mannes. Das Gegenteil ist der Fall, Gerhard ist anhänglich wie eh und je. 371 Jule durchschaut, dass ihre Wahl gesellschaftlich induziert, „zwangsheterosexuell“, war und versucht nun eine Lebensform zu finden, die ihr besser entspricht. Die von Gerhard im Stillen als „kleine Hexe“ 372 titulierte Linda Franzen hat seine Frau tatsächlich behext, sie durch ihr identifikatorisches Potential, das sie für Jule aufwies, beschworen, der Spielordnung mit Gerhard den Rücken zu kehren. Tatsächlich wird intern fokalisiert erzählt, dass Linda Gerhard als lächerlichen Mann und Jule als zu schade für ihn empfindet. Damit ist Linda sehr wohl eine feindliche Figur („Hexe“) gegenüber dem Patriarchat. Ihre Distanz zu Gerhard wird nicht offen ausgesprochen, sondern teilt sich in der Dreierkonstellation durch vielsagende Blicke mit. Mit Adrienne Richs 8.1 Die „Zwangsheterosexualität“ unterlaufen: Homosoziales Begehren und Girl Crush 207 <?page no="209"?> 373 Vgl. Rich 1989, S.-244-281, S.-269. 374 Sedgwick 2012, S.-277. 375 Ebenda. Termini gesprochen findet Jule durch Linda in das „lesbische Kontinuum“ zurück, das für die feministische Autorin eine unerschöpfliche Bandbreite von weiblicher homosozialer Identifikation bezeichnet, die sowohl der heterosexuellen Beziehung einer Frau als auch ihrer begrenzenten Rolle im Patriarchat etwas Starkes entgegenhält, das aber nicht eine lesbische sexuelle Beziehung sein muss. 373 Eine Frau, die sich der Zwangsheterosexualität verweigert oder sich von Männern unabhängig macht, sofort unter den Begriff ‚lesbisch‘ zu fassen, entspräche nur der patriarchalen Binärität. Unverkennbar leben Jule und Linda nicht homosexuell. Ihre Identität in die Kategorie ‚heterosexuell‘ einzufrieren, würde beiden Frauen aber auch nicht gerecht werden. Das Begehren, das zwischen Jule und Linda aufscheint, kann daher mit dem Begriff ‚homosoziales Begehren‘ beschrieben werden. Lindas und Jules Verhältnis ist nicht vordergründig auf Sexualität ausgerichtet, und sie verkehren im Verlauf des Romans nicht auf einer sexuellen, wohl aber auf einer emotionalen Ebene miteinander. Der Begriff ‚homosoziales Begehren‘ geht auf Eve Kosofsky Sedgwick zurück. Er rekur‐ riert auf das Konzept der Homosozialität, das sexuelles Begehren nicht unbedingt einschließen muss. Während das Patriarchat für Männer eine schier unüberwindliche Grenze zwischen Homosozialität, d.h. beispielsweise männlicher Kameradschaft, und Homosexualität, also einer explizit erotischen Beziehung, errichtet hat, die von den Männern symbolisch eingehalten werden muss, gibt es in der weiblichen Sozialisation kein vergleichbares Übertretungsverbot. Das bedeutet freilich nicht, dass unter Män‐ nern nicht ebenso viel libidinöse Energie wie unter Frauen in geschlechtsspezifischen Räumen zirkulieren würde. Schon in Ungeduld des Herzens - in der Einleitung genauer betrachtet - zeigte sich, dass das Feuer der Emotion bei Hofmiller im Laufe seiner Adoleszenz nicht unbedingt durch weibliche Wesen, wohl aber durch Kameraden ent‐ facht worden war. Jedoch darf sich die Zuneigung unter Männern im patriarchalischen Kontext nicht in Zärtlichkeit, nicht in Rührseligkeit spiegeln. Für Frauen ist es weniger schwierig, ihre homosozialen Energien mit Zeichen der Zärtlichkeit zu versehen. Der Begriff des lesbischen Kontinuums macht deutlich, dass zwischen bloßer Freundschaft, großer Sympathie füreinander und tiefer weiblich-weiblicher Liebe kein prinzipieller Unterschied besteht. Eine Vielzahl der aktuelleren und nützlicheren Studien über patriarchale Strukturen weist darauf hin, dass „obligatory heterosexuality“ fundamental in männlich dominierte Verwandt‐ schaftsverhältnisse integriert ist, und dass Homophobie eine notwendige Folge von patriar‐ chalen Institutionen wie der heterosexuellen Ehe ist. 374 Die diakritische Opposition von „homosozial“ und „homosexuell“ scheint […] für Frauen in unserer Gesellschaft viel weniger scharf und dichotom zu sein als für Männer. 375 Den Begriff Homosozialität, der nicht notwendigerweise nur romantische oder sexuelle Beziehungen beinhaltet, verwendete Sedgwick, indem sie ihm den Begriff des Begeh‐ 208 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis <?page no="210"?> 376 Vgl. Rich 1989, S.-269. 377 Jargose 2001, S.-76. 378 Zeh 2016, S.-122. 379 Vgl. ebenda, S.-123. rens (desire) hinzufügte, um eine Neigung zu präzisieren, die die bekannten homoso‐ zialen Beziehungen, seien es verwandtschaftliche, freundschaftliche oder politische Bindungen, nicht prinzipiell von romantischen Gefühlen und gleichgeschlechtlicher Sexualität abkoppelt. Rich zufolge bewegen sich Frauen in einem lesbaren Kontinuum, das verschiedene Arten weiblicher Zuneigung beinhaltet. 376 Homosoziales Begehren lässt sich daher nicht vereindeutigen, erweist sich gegenüber der Heteronormativität aber stets etwas renitent. Gerade der Umstand, dass sich Jules und Lindas Gefühle nicht genau abzirkeln lassen, macht diese als ein Ausdruck des homosozialen Begehrens lesbar. Die beiden Frauen sind zueinander hingezogen, und diese Zuneigung beruht auf keiner deutlich ausformulierten Bindung. Sie verbietet keine körperliche Zärtlichkeit, ist aber auch nicht darauf angewiesen. Außer dem Umstand, dass die Frauen Bewohne‐ rinnen desselben Dorfs sind und derselben Generation angehören, teilen sie erst einmal nichts, doch sie werden von einem beiderseitigen Interesse - ja Begehren - erfasst, allerdings auf eine Weise, die sich eher als sozial denn als sexuell motiviert dechiffrieren lässt. Wir können bei keiner der beiden Frauen eine Sehnsucht ausmachen, die sich konkret auf genitale Sexualität mit der anderen Frau richten würde. Das ist aber unerheblich. Queer und auffällig ist dieses Begehren schon deshalb, weil es Jule und Linda heteronormativitätskritisch agieren lässt und zeigt, dass ihre geschlechtliche Identität bisher „dadurch funktioniert, daß Heterosexualität zur Norm erklärt wird“. 377 Ihre Bindung an die Männer, vor allem im Fall Jules, entpuppt sich als zwanghaft, weder als spontan noch als gefühlsbetont: „Die Idee zu Gerhard war simpel gewesen“. 378 Der Mann dient ihr als Schüssel, um die Tür zu einer akzeptablen weiblichen Identität aufzuschließen. Als Ehefrau und Mutter auf dem Land scheint sie eine weibliche Bestimmung sinnbildlich verkörpern zu können. Nur ist dieses Sinnbild nicht eins, das intrinsisch motiviert wäre, sondern welches sie sich, wie andere Rollenangebote für Frauen, die sie wie Kleider anprobierte, 379 gesellschaftlich abgeschaut hat. Anders sieht es mit ihrer Bindung zum eigenen Geschlecht aus. Was ihr im Fall von Linda widerfährt, beruht nicht auf schnödem Pragmatismus, wird von ihr nicht erwartet. Dieses spontane Begehren ist ihr nicht durch eine gesellschaftliche Spielanleitung aufgezwungen worden, sondern ergab sich aus einer blitzartigen Sympathie, aus einer Identifikation mit der jungen, hübschen, energetischen Frau. Diese Gefühle, die Jule aus ihrem postnatalen lethargischen Zustand erlöst haben, kommen für sie einer Erweckung gleich. Linda zieht keinen vergleichbaren Gewinn aus ihrer Begegnung mit Jule. Sie ist festgefahrener und sucht ihr Heil sowieso nicht in Beziehungen zu Mitmenschen, sondern in ihrer Unabhängigkeit. Sie wird nur für einen kurzen Augenblick durch die versprechenden Blicke Jules sehnsüchtig gemacht, ohne dass dies in ihr performativen Nachhall fände. Linda hält an ihrem Bauvorhaben und den rationalen Entwürfen von sich fest. Ihr bleibt es zuwider, auf Emotionen zu setzen. 8.1 Die „Zwangsheterosexualität“ unterlaufen: Homosoziales Begehren und Girl Crush 209 <?page no="211"?> 380 Vgl. Kauer 2019, S.-28-30. 381 Rich 1989, S.-270. 382 Zeh 2016, S.-216. Damit aber scheitert sie; nachdem ihr Freund Frederik bei einem schweren Autounfall zu Schaden kommt, gibt sie ihre Ambitionen in Unterleuten auf und sucht, wie die abtrünnige Ehefrau Jule, jenseits des Dorfes ihr Glück. Die Begegnung mit Jule vermag auf sie keinen anhaltenden Einfluss auszuüben, aber für einen kurzen Moment hat sie sich von Jules sehnsüchtigen Blicken berühren lassen. Ohne den Begriff des Homosozialen geriete die komplexe Beziehung der beiden Frauen entweder aus dem Blick oder würde fälschlicherweise als (verhinderte) lesbi‐ sche Beziehung betrachtet. Auch die Emanzipationsbestrebung Jules könnte aus dem Blick geraten, wenn Lindas Anteil daran übersehen würde. Die junge Mutter löst sich von dem phallischen Phantasma, das Gerhard mit seiner höheren gesellschaftlichen Position einst für sie dargestellt hat, und sucht nach Beziehungsformen, die weniger patriarchalisch generiert sind und ihren Wünschen mehr entsprechen. Mithilfe von Adrianne Richs Konzept des lesbischen Kontinuums und Sedgwicks Begriff des homo‐ sozialen Begehrens, welche ich beide als eine Möglichkeit des queer readings dargestellt habe, 380 kann weibliche Verbundenheit sowohl als heteronormativitätskritisches Be‐ gehren als auch als feministisches Aufbegehren analysiert werden. Die heterosexuellen Beziehungen dieser beiden Frauen gründeten sich auf Spielvorgaben des Patriarchats. Sie wollten sich Macht sichern, indem sie Männer manipulieren, und waren bzw. sind bemüht, sich deren gesellschaftlichen Einfluss (Geld, höhere soziale Position) durch ihre Sexualität anzueignen. Das ist so abgeschmackt wie altbewährt. Linda glaubte bisher nur den neoliberalen Versprechungen, nach denen Frauen ihre sexuelle Verfüg‐ barkeit nur strategisch klug positionieren müssen. Jule fügte sich in ein überkommenes Muster, weil sie sich zu schwach für Alternativen wähnte. Ihr Minderwertigkeitsgefühl, das Gefühl, für sich selbst nicht einstehen zu können, überwindet sie aber nicht dank des Mannes, der in der patriarchalen Angewohnheit des mansplaining gefangen ist, sondern durch ein unerwartetes homosoziales Begehren, das sie ergreift, als sie Linda begegnet. Als würde Unterleuten Richs nunmehr schon vierzig Jahre alte Thesen illustrieren wollen, wird Jule durch ihr homosoziales Begehren zu einer autonomeren Lebensgestaltung ermächtigt, weil sie sich von dem zwangsheterosexuellen Muster befreit: Frauenidentifikation ist eine Quelle von Energie, ein potentielles Trampolin der weiblichen Macht, die unter der Institution Heterosexualität mit Gewalt beschnitten und vergeudet worden ist. Daß die Realität und Offenkundigkeit der Leidenschaft von Frauen für Frauen geleugnet und ihnen die Wahl von Frauen als Verbündete, Lebensgefährtinnen und Glieder einer Gemeinschaft versagt wurde; all dies hat zu unschätzbaren Einbußen an weiblicher Macht geführt. 381 Die junge Mutter springt, um das Bild des Trampolins aufzunehmen, aus der Ehefalle, in der sie sich begonnen hat, sich als „Gefangene“ 382 zu fühlen. Was Unterleuten lehrt, ist, 210 8 Girl Crush: das homosoziale Bonding als feministische Praxis <?page no="212"?> 383 Vgl. Kauer 2020/ 21; Kauer 2021. dass trotz der vergangenen feministischen Wellen bekannte Rollen wie Ehefrau, junge Geliebte, bewundernde Studentin, hysterisch agierendes Muttertier weiterhin ihre Gültigkeit haben und sich junge, auch soziologisch gebildete Frauen wie Jule danach richten, ja diese sogar reizvoll finden können. Doch der Roman bleibt nicht bei diesen bad news hinsichtlich der weiblichen Identitätsraster stehen. Dem gesellschaftlichen Diskurs entsprechend, der sich auch in vielen anderen Gegenwartstexten spiegelt, 383 haben homosoziale Sehnsüchte der Frauen lautstark Einzug in die Literatur gehalten. Wir können auch in anderen Lektüren einen feministischen Widerstand gegenüber diesen bekannten Rollen entdecken und vielen Frauenfiguren eine queere (was nicht bedeutet: eine lesbische, sondern eine heteronormativitätskritische) oder feministisch erweckte Identität zusprechen. Jule ist in Linda „irgendwie verknallt“. Dieses „irgendwie“ lässt sich als irgendwo auf der Skala des lesbischen Kontinuums identifizieren, muss aber weder als ‚Freundschaft‘ noch als ‚Liebe‘ etikettiert werden. Dieser Girl Crush ist deshalb so zauberhaft, weil er sich nicht begrifflich unterwerfen lässt - und er ist nur einer unter vielen Crushes, die die Frauenbeziehungen in der Literatur der Gegenwart bereichern. Ob der Autorin Juli Zeh das lesbische Kontinuum bei der Figurierung von Linda und Jule bewusst war, ist unerheblich für den Lesegenuss. Texte wissen stets mehr als ihre Autor*innen. Die Art, wie sich Jule und Linda begehren, muss nicht der Stimme der Autorin entsprechen, sie entspricht aber dem Zeitgeist. Mit dem Herausstellen des homosozialen Begeh‐ rens werden die Frauenfiguren spannender. Die scheinbar biedere Weiblichkeit Jules (und Lindas) erweitert sich, sobald der Text durch eine heteronormativitätskritische Brille gelesen wird. Unterleuten erweist sich damit als ein literarisches Produkt des 21. Jahrhunderts: Homosozialität hat sich aus der Latenz herausbewegt, weshalb es als wichtiges Analysetool für Gegenwartstexte behandelt werden sollte, in denen zwei Frauen auffällig miteinander interagieren und gemeinsam zu einer Art Sprung auf einem „Trampolin“ ansetzten, der das Überdenken der Frauenrolle, in der sie gerade agieren, impliziert, wenn nicht gar dazu führt, patriarchalische Rollenerwartungen abzustreifen. 8.1 Die „Zwangsheterosexualität“ unterlaufen: Homosoziales Begehren und Girl Crush 211 <?page no="214"?> 384 Seifert 2021, S.-41. 385 Beise 2023, S. 12: „Selten sei eine Schriftstellerin ‚so viel gelesen, geliebt, verehrt und bewundert worden‘ wie Elise Polko, schrieb 1898 ihre Kollegin Regina Neißer (1848-1923). Selten aber auch ist eine zu Lebzeiten so prominente Autorin so schnell vergessen worden. […] Auch in der germanistischen Literaturwissenschaft kennen die Autorin nur wenige Spezialisten. Dabei hat selten ‚eine deutsche Schriftstellerin so viel geschaffen‘, bemerkte Neißer zurecht. […] Polkos Fleiß setzte sie in der literaturwissenschaftlichen Zunft dem Verdacht niveauloser Vielschreiberei aus: ‚Ihre Massenproduktion bekam ihrem kleinen Talent (…) nicht gut. Über das Niveau einer Konsumautorin (…) hat sich (…) Elise Polko nie erhoben‘ (Gustav Sichelschmidt, 1969). Bei Wächtern des literarischen Kanons kam sie schon mal nicht gut an.“ 9 Schlusswort: „Frauenliteratur“ und ein feministischer Blick auf ihr Potential? Der deutschsprachige literarische Bildungskanon, der bis in die Mitte des 20. Jahrhun‐ derts auch ein Lektüre- und Schulkanon war, wurde im Wesentlichen aus dem Geist einer überwiegend protestantischen, fast ausschließlich männlichen Literaturwissen‐ schaft, wie sie sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat, geboren. Wie Nicole Seifert in ihrer Abhandlung FrauenLiteratur. Abgewertet, vergessen, wiederent‐ deckt überzeugend darlegt, führte dieser Blick auf Literatur dazu, dass die überlieferten Texte von Schriftstellerinnen oft als Schund und unmaßgebliche Machwerke degradiert und damit dem Vergessen anheimgestellt worden waren. Sie beklagt, dass sich in Deutschland nach wie vor leicht Abitur machen [lässt], ohne auch nur ein einziges Buch von Frauen lesen zu müssen. […] „Bei allem Föderalismus, bei der Übergehung von Frauen sind sich alle Bundesländer einig“, hieß es im Mai 2020 im Magazin der Süddeutschen Zeitung. Besser als dort lässt sich kaum auf den Punkt bringen, wo das Problem liegt. „Dabei geht es bei der Frage nach der Abitur-Lektüre um viel mehr als Bücher. Es geht um Repräsentation und Vorbilder. Darum, wer mitreden darf und wer nur zuhören, wessen Geschichte erzählt wird und wessen Perspektive außen vor bleibt“. 384 Der Konstatierung dieser Tatsache ist jedoch auch der Unmut über ausschließlich männliche Perspektiven zu entnehmen, sodass davon auszugehen ist, dass ein Kanon, der überwiegend Autoren enthält, Widerstand provoziert. Dieser drückt sich zum einen dadurch aus, dass Vorschläge für Gegenkanons gemacht werden, aber auch dadurch, dass für die Erweiterung des Kanons plädiert wird, um das Übergewicht an männlichen Autoren und deren Perspektiven auszugleichen. Sowohl die aktuelle Schriftstellerin‐ nengeneration als auch vergessene Autorinnen, die einst Erfolgsschriftstellerinnen ihrer Generationen gewesen sind, deren Namen, wie etwa der von Elise Polko, 385 sogar Literaturwissenschaftler*innen kaum etwas sagen, gilt es bei Leser*innen wieder ins Bewusstsein zu rufen. Viele der vergessenen Schriftstellerinnen harren einer Neuedition ihrer Werke. Dass diese auf sich warten lässt, ist auch dadurch bedingt, dass die Kanonerweiterung oft unter Beibehaltung bewährter Fragestellungen voran‐ <?page no="215"?> 386 Ebenda, S. 13: „Polko thematisierte in ihrem Roman ‚Sie schreibt! ‘ (1869) die Probleme einer literarisch wirken wollenden Ehefrau, spießte die bürgerlichen Vorurteile ironisch auf und versuchte aufzuzeigen, dass sich Ehe, Mutterschaft, Haushaltsführung und Autorinnenschaft problemlos vereinbaren lassen, wenn der Mann mitzieht.“ getrieben wurde. Fragestellungen, die ausschließlich von einer männerdominierten Literaturwissenschaft formuliert worden sind, gehen, natürlich nicht zwangsläufig, aber doch in vielen Fällen, an dem vorbei, was das Werk von Frauen einzigartig macht. Es wundert nicht, dass, historisch betrachtet, die Sujets von Männern und Frauen abweichen. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, dass eine Frau (des 19. Jahrhunderts beispielsweise) deutlich anders ausgebildet wurde als ein Mann, selbst wenn beide Kunstschaffende dem gleichen Milieu entstammten. Sie hat andere Wertvorstellungen darüber internalisiert, was für sie von Interesse zu sein hat. Aufgrund geringerer Bildungschancen und der geschlechtlichen Sphärentrennungen setzten Frauen beim Schreiben andere thematische Prioritäten als Männer. Es ist daher kein Wunder, dass einige der Themen Rezipienten belanglos erscheinen, da es sich nicht um männliche - und damit also nicht um gesellschaftlich relevante - Belange in den Werken drehte, doch Leserinnen empfanden dies womöglich ganz anders. Die eben erwähnte Elise Polko schuf schon im 19. Jahrhundert Texte, die sich mit der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und haushälterischen Pflichten im Leben von Frauen beschäftigten. 386 Dies bot Rezipientinnen ein Identifikationsgebot, schien für Männer, die Mutterschaft und Haushalt nichts anging, womöglich deutlich weniger relevant zu sein, war für sie bloß ein zu vernachlässigendes Frauenthema. Es sollte daher bei vielen vergessenen Autorinnen nachgeforscht werden, ob ihre Texte tatsächlich unmaßgebliche Beiträge des Zeitgeschmacks darstellten, es sich darin nur schematisch um Liebe, Ehe, Kinder und Küche dreht, also um den weiblichen Wirkungskreis, oder ob diese Texte, selbst wenn sie thematisch der historisch als weiblich betrachteten Sphäre zugeordnet sind, nicht doch etwas vermittelten, das beachtenswert ist, vor allem für ein weibliches Lesepublikum. Die Frage müsste lauten, ob den Texten (zumindest aus Sicht seiner Leserinnen) ein literarischer Mehrwert zuzusprechen sei. Als Mehrwert für eine Leserin sehe ich sowohl die Möglichkeit durch den Text ein kritisches Reflexionsver‐ mögen auszubilden als auch darin lebenspraktische Hinweise (im Umgang mit der gesellschaftlichen Rolle als Frau) zu finden. Wie wir durch die vorangehenden Kapitel gesehen haben, wird die Literaturwis‐ senschaft durch die Gegenwartsliteratur gezwungen, ihr Analyseinstrumentarium anzureichern und neue Blickweisen auf eine Literatur zu entwickeln, die nicht mehr den gängigen Paradigmata des traditionellen Kanons entsprechen. Genderkritische und queertheoretische Ansätze bieten Möglichkeiten, Texte anders zu lesen, auch postkoloniale, anti-klassistische Zugänge, die in meinen Beiträgen zum Feministisch lesen entschieden zu kurz kommen, bieten Möglichkeiten, neue Lichter auf die Texte zu werfen und Sinnebenen herauszustellen, die bisher im Dunklen blieben. Tatsächlich zeigt sich unter einem gendersensiblen bzw. feministisch woken Blickwinkel ein Text, 214 9 Schlusswort: „Frauenliteratur“ und ein feministischer Blick auf ihr Potential? <?page no="216"?> 387 Strigl 2016, S. 11f.: „Dass Ebner-Eschenbach als Figur aber heute in irgendeiner Weise sexy wäre, wird kaum jemand behaupten. Man verbindet mit ihr das etwas angestaubte Bild einer Matrone und einen Tugendkatalog ganz nach dem Geschmack des 19.-Jahrhunderts: Güte, Mitleid, Weisheit, Mütterlichkeit, Mitmenschlichkeit, Tierliebe, Herzenswärme. […] Ebner-Eschenbachs Image ist heute nicht nur das einer immer schon alten, sondern das einer altmodischen Frau.“ der von Frauen geschrieben worden ist und eine weibliche Lebenswelt behandelt, aussagenreicher als unter einem, der für Genderfragen blind ist. Im Schlusskapitel dieses Buches soll genau dieser Weg einer geschärften Sensibilität für die weibliche Genderkonstruktion der Figuren in Werken von Frauen beschritten werden, um eine feministische Lesart zu entwickeln. Dies wird anhand eines Textes einer Autorin geschehen, die tatsächlich ihren Weg in den traditionellen Kanon schon gefunden hat. Marie Ebner-Eschenbachs Texte aus dem 19. Jahrhundert sind ediert und Studierende müssen sie nicht in Fraktur lesen. Indem wir allerdings gendersensibler und feministisch geschult auf das Werk der bereits kanonisierten Autorin blicken, ergeben sich weiterführende Erkenntnisse, die einer traditionell operierenden Litera‐ turwissenschaft entweder verborgen geblieben oder unwichtig erschienen sind. Die als altmodisch abgetane Autorin, deren Schaffen gemeinhin als traditionellen Werten verpflichtet gilt, erstrahlt in einem innovativen Licht. 387 Feministisch gelesen sind ihre Texte nicht altbacken und sexualitätsfeindlich, sondern rebellisch und (anders als Strigl in FN 387 vermutet) „sexy“. Der zu besprechende Text würde sich allerdings auch dazu eignen, anti-klassistische und anti-xenophobe Lesarten zu privilegieren, denn er han‐ delt von einer böhmischen Magd. Ihre Stellung als Slawin, die nicht die Herkunft ihrer Arbeitgeber*innen teilt, die ungebildet und von niederem Stand ist, steht textimmanent nicht im Widerspruch dazu, dass sie anständiger, bürgerlicher, ja machtvoller agiert als alle anderen Personen, die nicht wie sie aus einem armen böhmischen Dorf stammen und die ihr dem gesellschaftlichen Ansehen nach überlegen sind. Selbst ein Adliger, dem die Magd zu Recht verhilft, wird vor dieser bemerkenswerten Frau, die eine weit geringere Herkunft hat als er, dankbar sein Haupt neigen. Damit beschreitet der Text einen Weg, der Standesgrenzen für die Moral einer Figur als unmaßgeblich betrachtet und auch die Vorstellung, dass die lohnabhängige, akademisch völlig ungebildete Božena als Böhmin abwegige Werte verkörpert, nicht unterstützt. Die subalterne Dienerin entspricht in ihrem Handeln einem moralischen bürgerlichen Leitdiskurs und findet in der Ausübung ihrer Dienstpflicht, ihrer Loyalität und ihrem Fleiß auch in höheren Ständen nicht ihresgleichen. 9.1 Eine feministische Re-Visitation Eine feministische Re-Visitation des kleinen Romans Božena, die das Augenmerk auf die Weiblichkeitsdarstellung richtet, revitalisiert den Prosatext meines Erachtens inso‐ fern, dass sie eine Lesart etabliert, die zeigt, wie darin die zeitgenössische, frauenunter‐ jochende Sexualpolitik verhandelt wird. Durch einen feministischen Diskurs gefiltert, liefert der Text keineswegs eine moralinsaure, bloß affirmierende Erzählung über 9.1 Eine feministische Re-Visitation 215 <?page no="217"?> 388 Klein 1957, S.-949. tugendhafte Weiblichkeit. Božena, die Haushälterin des Weinhändlers Heißenstein, ist gut, aber sie ist nicht ohne Bruch gut. Sie ist rein, aber nicht asexuell. Sie ist schön, aber trotzdem stets als Böhmin durch als „landestypisch“ geltendes Aussehen erkennbar. Ihre Schönheit ist nicht die einer unberührbaren, leblosen Puppe, sondern die einer selbstständigen, werktätigen Frau. Die Hauptfigur ist in gewisser Weise vollkommen weiblich, aber doch ist sie als eine Femme forte majestätisch, stark und wird als standhafter als die Männer in ihrem Umfeld beschrieben. Sie stellt durch diese gerade nicht klischeehafte Figurierung ein Wagnis dar. Das Wagnis, das die Autorin Ebner- Eschenbach mit ihrer Figur eingeht, hilft zu beantworten, ob der kleine Roman als Frauenliteratur gelten könnte und wenn ja, in welchem Sinne. Božena ermöglicht den Leserinnen, sich einen positiven Zugang zu ihrer Sexualität zu eröffnen, außereheliche Leidenschaft als menschlich und moralisch verzeihlich zu begreifen. Sehr gut lässt sich auch heute noch vorstellen, dass bürgerliche Zeitgenossinnen Lektionen für ihr eigenes Leben im Text fanden, dass für sie die Stärke und Brüchigkeit Boženas sichtbarer war als womöglich für ihre Väter oder Brüder, denen die Besonderheit dieser Frau verborgen blieb. Mir scheint es plausibel, dass eine Leserin des 19. Jahrhunderts das Gefühl haben konnte, der Text handle von ihr, von ihren eigenen verschwiegenen Wirrnissen. Eine mit sich selbst und ihren Gefühlen hadernde Bürgerstochter mochte glauben, die Verirrung in Božena sei genau für sie erzählt worden, und zwar nicht, um die patriarchalische Idee von weiblicher Tugendhaftigkeit zu zementieren, sondern um den Begriff weiblicher Würde weniger schematisch zu verteidigen als es eine prüde Sexualmoral proklamiert. Die österreichische Autorin Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916), die darauf verzichtet hatte, Dramen zu schreiben, weil das ihrem Geschlecht nicht zustünde, gilt als eine der bedeutendsten Autorinnen von Frauenliteratur des 19. Jahrhunderts. Sowohl die Vereidigung auf Frauenliteratur als auch auf das 19. Jahrhundert reduziert die Strahlkraft der Autorin, zumindest nach gängigen Maßstäben. Im Nachwort der von mir zitierten Ausgabe von 1957 schreibt Johannes Klein der Autorin Folgendes zu: Und stärker als alle Befremdlichkeiten, die man heute vielleicht in Feuilletonromane suchen würde, ist die durchgängige Einfachheit und der unmittelbare Ton, in dem Marie von Ebner-Eschenbach ihre Geschichten vorträgt. Sie läßt ihre Menschen noch unbefangen, trotz allen gesellschaftlichen Bindungen, aus den Urmächten des Gefühls leben und handeln - und wohl auch schuldig werden. Diese Stimme des wahrhaft Menschlichen ist es, was an ihrem erzählerischen Werk heute noch ergreift. Sie ist die Meisterin der Darstellung einer gesellschaftlichen Welt, die längst untergegangen ist. Aber sie ist zugleich Meisterin der Gestaltung eines Innenlebens, in dem Gefühl und Erlebnis noch ohne intellektuelle Überfärbung und noch ohne Verkrampfung sich bekennen als Kräfte, die dem Menschen seine Gefahren wie auch seine unerhörten Schönheiten bescheren. 388 216 9 Schlusswort: „Frauenliteratur“ und ein feministischer Blick auf ihr Potential? <?page no="218"?> 389 Ebenda, S.-952. 390 Ernaux 2022, S.-24. In dieser Beschreibung sind in die Komplimente auch kleine Schmähungen eingelassen: „die durchgängige Einfachheit“, „aus den Urmächten des Gefühls leben und handeln“, „Meisterin der Darstellung einer gesellschaftlichen Welt, die längst untergegangen ist“, „noch ohne intellektuelle Überfärbung“ sind alles Stichworte, die Klein in Bezug auf den Text Božena herausstellt und als Merkmale bezeichnet, „die an den minderen Feuilletonroman erinnern“. 389 Sie wird damit zu einer Autorin von „Frauenliteratur“, welche, noch dazu, aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Diese Reisen in untergegan‐ gene Welten wären laut Klein zwar empfehlenswert, weil sie uns mit dem „wahrhaft Menschlichen“ in Berührung bringen, aber es ist nicht anzunehmen, dass der Text heutigen Leser*innen verbindliche Lebensregeln vermittelt, etwas über das Leben im Allgemeinen oder das Frausein im Besondern sagen könnte, das jenseits des historischen Kontextes noch interessant wäre. Genau das aber tut der Roman. Er reiht sich ein in eine Gruppe von Literatur, die gerade gegenwärtig Achtung erfährt. Die 2022 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeich‐ nete französische Autorin Annie Ernaux hat in ihrem vielgerühmten Werk Mémoire de fille von 2016 (auf Deutsch 2018 als Erinnerungen eines Mädchens erschienen) die Frage danach gestellt, welchen sexuellen Fehltritt (das Konzept des Fehltritts aus der Perspektive der Gesellschaft verstanden) sich eine Frau verzeihen darf, wer überhaupt das Recht hat zu bestimmen, ob die Scham über die eigene Sexualität angebracht ist oder ob es sich nicht eher ziemt, die sogenannten sexuellen Fehltritte als Teil der eigenen menschlichen Entwicklung zu bejahen. Dieser das Patriarchat herausfordernden Frage geht auch Božena nach. 120 Jahre vor Ernaux stellt auch diese Autorin die Frage nach sexueller Subjektivität, danach, ob eine Frau dazu stehen darf, dass „[a]lles in ihr […] Begehren und Stolz“ ist. 390 Abgesehen von ihren traditionell weiblich-bürgerlichen Eigenschaften (Pflichtgefühl, Sauberkeit, Fleiß, Gottesfürchtigkeit) ist die Titelfigur, die Ebner-Eschenbach geschaf‐ fen hat, durch ihren Stolz, den ihr auch die Diensttätigkeit nicht nimmt, jedoch auch durch Begehren und Liebesfähigkeit gekennzeichnet. Ist einer Frau „Begehren und Stolz“ erlaubt? Dieser Text ist tatsächlich ein Frauenroman, allerdings in einem nicht geringschätzigen Sinn, stellt er doch eine Frage, die nur im weiblichen Leben eine offene ist. Dass Männer begehren können und ihren Stolz dadurch nicht einbüßen, bezweifelte im 19. Jahrhundert niemand. Božena kreist aber nicht um das männliche Geschlecht - Männer sind nur Nebenfiguren - er beleuchtet, ja hinterfragt die weibliche Genderrolle aus weiblicher Perspektive. Was Literatur zu „Frauenliteratur“ macht, ist nicht eindeutig festgelegt und ist zweifelsohne nicht auf den Buchtitel oder das Geschlecht der Hauptfigur zurückzuführen. Dieses Label bezieht sich meist auf die im Text verhandelten Konflikte. Die Lebensgeschichte einer Magd, ihre weiblich-erotische Verwirrung und ihr moralischer Sieg als Frau passen demnach wahrscheinlich wirklich zu dem Begriff der „Frauenliteratur“ par excellence. Wenn 9.1 Eine feministische Re-Visitation 217 <?page no="219"?> die besprochenen Konflikte einem Bereich zuzuordnen sind, der traditionell von Frauen besetzt ist, werden die betreffenden Texte nämlich gern als Literatur für Frauen vermarktet. Klein versucht dies zu vermeiden, um die Kanonwürdigkeit der Autorin Ebner-Eschenbach herauszuheben. Ich jedoch möchte dafür plädieren, dass Božena ein spezifisches Leseinteresse des weiblichen Publikums beantworten konnte. Männer waren als Rezipienten nicht ausgeschlossen, denn die Konflikte in Božena betreffen auch den Widerspruch zwischen Schein und Sein sowie Klassenkonflikte und eröffnen den Leser*innen einen Blick auf ein geradezu machiavellistisches Geschick der unterlegenden Magd, um sich gegen Unrechtmäßigkeit durchzusetzen. Trotzdem erscheint, wenn die rezipierende Person im selben Gender sozialisiert ist wie Božena, der Lebens- und Leidensweg dieser fiktiven Person sicher noch faszinierender. Sie ist eine Frau, die Gutes tut für diejenigen, die ihr ans Herz gewachsen sind. Die böhmische Bauerstochter, die sich in dem wohlhabenden bürgerlichen Haushalt von Heißenstein als Haushälterin verdingt, ist, anders als ihre Herrin Nannette und deren Tochter Regula, denen sie auch nach dem Tode Heißensteins weiterhin die Diensttreue hält, mit einer Vielzahl an als weiblich geltenden Tugenden ausgestattet. Božena ist hübsch, gepflegt, sehr fleißig, ökonomisch begabt, tugendhaft und auf dienstfertige Weise klug; die beiden Herrinnen allerdings sind für die Haushaltsführung völlig untalentiert. Sie werden als belesene Wichtigtuerinnen ohne Herzensbildungen gezeigt, die eigentlich ihrer bürgerlichen Frauenrolle nur schlecht nachkommen. Sie sind toxisch weiblich. Sie dienen als perfekte Karikaturen von eitler Weiblichkeit und sind durch eine Hybris, was ihre Rolle in der Gesellschaft ausmacht, gestaltet. Dass die Autorin die moralische Qualität der Magd herausstellen wollte, zeigt die Namensgebung. In zweien meiner Seminare, in denen ich den Text (im Sommersemester 2020 in Stuttgart und im Wintersemester 2022/ 23 in Tübingen) behandelte, wurde ich von Studentinnen, die des Kroatischen mächtig sind, darüber unterrichtet, dass der Name ‚Dienerin Gottes‘ oder im ‚Geist Gottes lebend bedeuten könnte. Sowohl der Vorname als auch der Nachname „Ducha“, der der Figur gegeben ist, evozieren eine gottgefällige Vorstellung. Božena leitet sich im Kroatischen vom Wort ‚Bog‘ (= Gott) ab. Das ist auch im Tschechischen und Slowakischen so, also in Sprachen, die der Autorin vertraut waren. Insofern ist ihr Name eine slawische weibliche Form von Gottlieb. Der Vorname lässt sich aufteilen, sowohl in ‚Bo‘ und ‚žena‘ (= Frau) als auch in ‚Bože‘ (= Gott im Vokativ) und ‚na‘. Der Nachname „Ducha“ ähnelt dem kroatischen Wort ‚duh‘ (= Geist), im Genitiv/ Akkusativ auch ‚duha‘. Dank dieser Hinweise fand ich heraus, dass auf Tschechisch ‚Geist mit ‚duch‘, auf Slowakisch mit ‚ducha‘ übersetzt wird. Daraus leitet sich eine Assoziation des Namens mit Gottes Geist/ Geist Gottes oder Frau von Gottes Geist ab, was ebenfalls an Gottlieb erinnert. Die germanische weibliche Variante Gottliebe scheint mir im Gegensatz zum Namen Božena völlig ungebräuchlich. Leserinnen, die keiner der genannten Sprachen mächtig sind, können sich Božena jedoch als eine Gottliebe, Gottfriede oder etwas wohlklingender als Gottlobine übersetzen. Dass diese Magd gottesfürchtig ist und als tugendreich dargestellt ist, bringt der Text zwar auch für alle jene Leser*innen zum Ausdruck, für die der Name nicht gleichermaßen sprechend ist 218 9 Schlusswort: „Frauenliteratur“ und ein feministischer Blick auf ihr Potential? <?page no="220"?> 391 Ebner-Eschenbach 1957, S.-91. wie für meine sprachgewandten Studentinnen, jedoch belegt schon der (im Deutschen fremdländisch klingende) Name, dass die Figur in Gottgefälligkeit lebt, was durch die Doppelung der positiven Assoziation in Vor- und Nachnamen kein sprachblinder Zufall sein kann. Die Geschichte beginnt nach dem Tod der ersten Frau Heißensteins, als Božena die Halbwaise Rosa als Pflegetochter annimmt. Schon immer war ihr das Kind Rosa sehr zugeneigt, nach dem Tod der leiblichen Mutter ist Boženas fürsorgliche Hand Mutterersatz für das kleine Mädchen. Als sich eine neue, recht verdrießliche Gattin namens Nannette, die Heißenstein, der auf männlichen Nachwuchs hoffte, zum Vater einer weiteren Tochter machen wird, im Haus einfindet, ist Rosa völlig auf ihre Pflegemutter angewiesen, denn sie wird sowohl von der lieblosen Stiefmutter als auch von ihrem Vater sträflich vernachlässigt und oft ins Unrecht gesetzt. Die jüngere Schwester (mit dem sprechenden Namen) Regula, die sich akribisch an die bürgerlichen Anstandsregeln hält, aber wie ihre Mutter ohne Herzensgüte ist, wird von den Eltern bevorzugt. Dies führt dazu, dass Rosa woanders Zuneigung sucht und sich in einen mittellosen Leutnant verliebt, mit dem sie als 17-Jährige des Nachts durchbrennt. Der Vater ist entsetzt und verstößt sein Kind. Gerade in dieser Nacht hat Božena nicht in ihrer Kammer, die sich vor dem Zimmer der Pflegetochter befindet, über das Wohl des Mädchens gewacht. Božena, zu dieser Zeit bereits in den „Jahre[n] der reiferen Weiblichkeit“, 391 hat sich wie ihre Pflegetochter unerwartet verliebt. Die Magd hat sich in einen nichtswürdigen Jäger verguckt und verbringt mit ihm zum Zeitpunkt der Flucht eine Liebesnacht. Für die heutigen wie für die zeitgenössischen Leser*innen ist klar, was das bedeutet. Während allerdings unehelicher Geschlechtsverkehr, selbst wenn er in einer folgenschweren Nacht vollzogen wird, heute an sich keine Schande darstellt, ist die gute Magd im Text durch ihre Leidenschaft für den Jäger doppelt gestraft. Die Nacht mit einem Mann zu verbringen, mit dem eine Frau nicht verheiratet ist, gilt als ehrlos, zumal sie die Dienstpflicht auch nachts ans Haus binden würde. Sie fühlt sich allerdings nur vor sich selbst entehrt, denn gesellschaftliche Ächtung trifft sie gar nicht, da niemand etwas von ihrer nächtlichen Abwesenheit ahnt. Mit dem allzu festen Schlaf seiner Magd erklärt der Vater sich, dass Rosa unbemerkt das Haus verlassen konnte. Der Hausherr tadelt diese Verschlafenheit, kann Božena aber deswegen nicht grundsätzlich verdammen. Die internalisierte Scham über die eigene Sexualität, die Božena bei der Konfrontation mit der Flucht von Rosa empfindet und die gar nicht mit gesellschaftlicher Häme einhergehen muss, ist es, was eine spätmoderne Parallele aufmacht. Das Gefühl der Schande ist ein verinnerlichtes. Božena braucht keinen Richter in persona, der sie für das Fehlverhalten straft und sie des Hauses verweist. Sie weiß, was sie getan hat, sich schuldbeladen zu fühlen wird ihn von nun an so selbstverständlich wie ihr Atem, obwohl ihr Dienstherr von ihrer nächtlichen Eskapade nichts weiß. „Nicht mit dem leisesten Verdacht streift er ihre 9.1 Eine feministische Re-Visitation 219 <?page no="221"?> 392 Ebenda, S.-118. 393 Ebenda. 394 Ebenda, S.-123. Schuld“, 392 doch die gute Magd richtet sich selbst. Die „verzweiflungsvolle Scham“, 393 jenes Schamgefühl, über das Ernaux schreibt, welches nicht in den Augen der Welt besteht, sondern als innere Scham figuriert ist, lodert in Božena. Diesem Schamgefühl zollt sie Tribut. Mit ihrem einmaligen Fehltritt umzugehen, wird von nun an zur Aufgabe ihres Lebens. Mir scheint diese schmerzhafte Verzweiflung über die eigenen sexuellen Begierden, die auch die Generationen jüngere Autorin Ernaux darstellt, der Resonanzboden für die Leseerfahrung bei Frauen unterschiedlicher Generationen, auch der heutigen, zu sein. Texte, die eine Koppelung von Sexualität und Scham behandeln, sind deshalb zeitlos, weil bis in unsere Gegenwart diese Konzepte im weiblichen Geschlechterdiskurs zusammengeführt werden. Scham über ihre Sexualität fühlt nicht nur Ernaux’ Ich-Erzählerin in Erinnerungen eines Mädchens, einem Text aus dem 20. Jahrhundert, in dem sich eine Frau an ihre im wörtlichen wie im übertragenden Sinn schmerzhafte Entjungferung erinnert, sondern auch die Protagonistin aus dem 19. Jahrhundert fühlt große Scham, obwohl in Boženas Fall nichts im Text darauf schließen lässt, dass sie wie Ernaux’ Heldin vom Mann (durch psychischen Druck) gezwungen wurde, den Beischlaf zu vollziehen. Die Hingabe der Magd basierte, anders als bei Ernaux, auf Leidenschaft und das sexuelle Erlebnis wurde anders als von Ernaux’ Heldin auch nicht als unangenehm empfunden. Božena distanziert sich nicht von ihrer Liebesnacht in dem Sinne, dass sie den Verkehr im Nachhinein als körperlich unbefriedigend erlebt hätte. Im Gegenteil, die körperliche Nähe empfand sie als schön, dennoch bereut sie ihre sexuelle Handlung zutiefst. Interessanterweise ist selbst heute noch Boženas Scham nachvollziehbar, obwohl die Ächtung einer unehelich vollzogenen Liebesnacht völlig aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Niemand würde unehelichen Geschlechtsverkehr als amoralisch werten, doch die gesellschaftliche Richtlinie ist nicht Boženas Hauptproblem. Sie fühlt sich als eine Frau, die sich selbst untreu geworden ist durch ihr starkes Begehren für den Jäger. Die Vernachlässigung der Mutterpflicht und der gängigen Sexualmoral wiegt nicht schwerer als das Wissen, dass sie sich einem Menschen verschrieben hat, der offensichtlich nicht im selben Maß für sie empfindet wie sie für ihn. Vor allem ihr Stolz gebietet Božena, von diesem Mann abzulassen, der nicht daran denkt, wirklich zu ihr zu stehen und nur eine lockere Liebelei mit ihr sucht. Sie setzt der eigenen sexuellen Verfügbarkeit Grenzen, in einer Weise, die sich spätmoderne Frauen nicht trauen würden, weil sie weder als prüde noch als langweilig vor den mit ihnen tändelnden Männern gelten möchten, auch wenn das bindungsunwillige Gegenüber ihren Stolz verletzt. Die Heroine des 19. Jahrhunderts kündigt ein Liebesverhältnis, das sie körperlich sogar als erfüllend empfunden hat, fristlos auf, dessen Kosten (Verschwiegenheit, Verstellung und ausbleibende feste Bindung) sie allein zu tragen hatte, während es dem Jäger nur um seine „Manneseitelkeit“, 394 spätmodern würden wir sagen, die Steigerung seines sexuellen Kapitals, gegangen war. 220 9 Schlusswort: „Frauenliteratur“ und ein feministischer Blick auf ihr Potential? <?page no="222"?> 395 Ebenda. 396 Vgl. das Kapitel oben zum „emotionalen Kapitalismus“. 397 Ebner-Eschenbach 1957, S.-95. 398 Ebenda, S.-123f. Du hast mich gehabt mit jedem Gedanken in meinem Hirn und mit jedem Hauch in meiner Brust. Und was hast du aus mir gemacht? … Weniger wert bin ich worden durch dich - an Lug und Trug hast du mich gewöhnt, und meine Schuldigkeit hab ich um dich versäumt… 395 Die Liebe ist für Božena eine Herzensqual, denn der Jäger ist einer, der mit Eva Illouz als „emotionaler Kapitalist“ bezeichnet werden könnte. 396 Er spielt Gefühle vor, ist bindungsunwillig, untreu und seine Geliebte, die er am langen Arm verhungern lässt, fühlt sich durch sein Verhalten gekränkt. Anders als Männer des 21. Jahrhunderts wird Bernhard durch seine unschickliche männliche Performanz effeminiert. Er verkörpert kein hegemoniales Männlichkeitsbild. Statt eines starken Mannes begegnen wir einen eitlen, putzsüchtigen Gesellen. Der zeitgenössische Männlichkeitsdiskurs demontiert Bernhard als „ein Laffe, ein Geck“, 397 der gut tanzen und tändeln kann. Božena ist also einem Mann verfallen, der im Text nicht einmal als ein „rechter Mann“ figuriert ist. Sein Mangel an Aufrichtigkeit ist im Text gleichbedeutend mit einem Mangel an wahrer Männlichkeit. Als die Magd jedoch die Tragik, die ihrer Liebesnacht mit ihm folgte, gewahr wird, gelingt es ihr, von dem lügnerischen Liebhaber abzulassen. Es gelingt ihr das zu zeigen, was einem historischen Genderdiskurs nach auf der männlichen Seite zu suchen wäre, nämlich Charakterfestigkeit und Stärke zu beweisen. Sie möchte ihre Würde nicht weiter aufs Spiel setzen. In der Szene des Abschieds wird das Geschlechterverhältnis geradezu umgekehrt: Alles in ihm, seine Leidenschaft, seine Eitelkeit, sein Trotz empörten sich gegen die Trennung von ihr. „Ich laß dich nicht! “ schrie er. „Ich rufe das ganze Haus zusammen, laufe hinüber zu deinen Herrenleuten und sage ihnen, daß du entfliehen willst! “ „Das tust du nicht“, sagte sie und war wieder ganz ruhig und gefaßt. Mit ausgebreiteten Armen stellte sie sich vor die Tür. „Ich binde und kneble dich, wenn du mir drohst, bei meiner armen Seele: ich tu’s. - Werd ich fertig mit dir oder nicht, wenn ich will - was meinst? Willst du die Schande erleben, daß sie dich morgen so finden und hören, daß dich ein Weib gebunden hat? “ Zornig und beschämt trat Bernhard zurück. Nein, mit Gewalt war gegen die Božena nichts auszurichten […]. 398 Ihre Entschlossenheit, sich von dem Jäger endgültig loszusagen und das Heim, dem sie jahrelang gedient hat, zu verlassen, speist sich aus dem Schuldgefühl über die eine Nacht, die sie dem Diensthaus fernblieb und aus ihrer Fürsorgepflicht für Rosa. Obwohl sie in der Abschiedsszene deutlich die männliche Position einnimmt, auch körperlich dominant ist und beneidenswert klar zu ihrer Entscheidung steht, wird sie dadurch nicht entweiblicht, denn der weibliche Aufgabenbereich bildet ihre Richtlinie. 9.1 Eine feministische Re-Visitation 221 <?page no="223"?> 399 Baum 2018, S.-357f. Sie beweist sich als die sorgende Ziehmutter. Sie packt ihre Sachen, folgt ihrer Pflegetochter in die ärmliche Existenz mit einem Gatten, den sie ohne Segen des Vaters gewählt hat. Dort sorgt sie weiter für Rosa und deren Familie, sogar ohne Lohn. Rosa hat selbst ein kleines Röschen geboren, kann jedoch ihrer Mutterpflicht nicht gerecht werden, denn sie segnet bald das Zeitliche, weil die Schwere eines armen Lebens nichts ist, wofür die gutbürgerliche Tochter gerüstet war. Božena geht mit dem kleinen Pflege(enkel)kind zu Heißenstein zurück, um Röschen vor einem ähnlich harten Lebensweg zu bewahren, den ihre Mutter beschritten hat. Heißenstein bereut, dass er seiner ältesten Tochter so gram war. Die Unterschlagung eines Briefes durch Nannette verhinderte die Aussöhnung zwischen dem Vater und Rosa und auch, dass die ältere Tochter wieder in den Stand der Erbtochter versetzt wird. Die Versöhnung zu vereiteln, wird im Text als untugendhaft und unaufrichtig verurteilt. Nannette war von scheinheiliger Habsucht geprägt. Sie hat den Brief verbrannt, aber auf ihrem Totenbett offenbart sie der Magd ihr Geheimnis, weil sie späte Reue plagt. Wie aber soll Božena ihrem Pflegeenkelkind Röschen zu Recht verhelfen und ihr das Erbe, das schon der Mutter zustand, verschaffen? Nannette hat gestanden, dass der Vater Heißenstein seine Arme für Rosa und Röschen zu öffnen gedachte. Wie zu erwarten ist, hat die Alleinerbin Regula, die als noch scheinheiliger dargestellt ist als ihre Mutter Nannette, kein Interesse, ihr Erbe mit der Nichte zu teilen. Božena gelingt es dennoch, sie zur moralischen Tat zu nötigen. Der Text bietet dafür einen erstaunlichen Kunstgriff. Ihre im Kontext der Zeit so schändliche Liebesnacht, für die sie sich schämt, wird zum Vehikel dafür, Röschen ihr Recht zu verschaffen. Feministischer könnte der Text kaum sein: Die durch ihren Stand und nach gängiger Sexualmoral durch ihre Leidenschaft degradierte Figur erklärt er zur Siegerin über die bürgerlich-asexuelle Hausherrin Regula, die allen Regeln scheinbar folgt und in den Augen der Welt eine weiße Weste trägt, aber eine moralische Haltung nur vorspiegelt, während sie de facto zu keiner selbstlosen Tat fähig ist. In dem Kunstgriff, den der Text nimmt, liegt so viel weiblichweibliches Resonanzpotential, dass ich es an dieser Stelle ausführlich thematisieren möchte. Er unterstreicht für mich meine Ansicht, dass diese Geschichte für Frauen geschrieben ist. Vicki Baum, die in diesem Buch schon erwähnte Autorin, deren Aufnahme in den Kanon gerade erst betrieben wird und die deutlich jünger ist als Ebner-Eschenbach, hat sich zu einer Orientierung am Geschmack des weiblichen Lesepublikums unter der misogynen Prämisse geäußert, dass aufgrund ihrer auf die weibliche Gendersphäre ausgerichteten Plots, die von ihr verfassten Bücher für ihren Ehemann und ihre Söhne nicht lesenswert und völlig belanglos gewesen wären. Sie formulierte dabei sogar den fragwürdigen Glaubenssatz: „Von Frauen geschriebene Romane - das ist nichts für Männer“. 399 Ebner-Eschenbach kam 58 Jahre vor Vicki Baum auf die Welt, ist also zwei Generationen älter als die Autorin, die zur Zeit der Neuen Sachlichkeit berühmt 222 9 Schlusswort: „Frauenliteratur“ und ein feministischer Blick auf ihr Potential? <?page no="224"?> 400 Dass auch die Gegenwart den Genderklischees bei der Bewertung des Leseverhaltens nicht ent‐ kommt, sondern auch in Schulbüchern geschlechterdifferente Lesevorlieben normalisiert, zeigt folgendes Beispiel: Ein für die Mittelstufe gedrucktes Schulbuch (Lindauer/ Senn 2020, S. 11) stellt als Textaufgabe zum Nachdenken diese Frage: „Viele Mädchen lesen gerne Liebesromane. Was lesen Knaben gerne? “ 401 In der Forschung zu Ebner-Eschenbach wird davon ausgegangen, dass durch den Vorabdruck des Kurzromans in der „Deutschen Rundschau“ Ebner-Eschenbachs Erfolg als Autorin begründet wurde. 402 Baum 2018, S.-77. wurde. Jünger zu sein, ist kein Zeichen davon, dass die Nachgeborene gender-fort‐ schrittlicher denkt als die ältere Zeitgenossin. 400 Ich jedoch glaube, wenn ich die Poetik beider Autorinnen vergleiche, dass Baums Verdikt von Ebner-Eschenbach hätte unterschrieben werden können, denn sie dachte auch eher gender-konservativ, zumindest ihren Selbstäußerungen nach. Ebner-Eschenbach schreibt auch nicht für Männer, obwohl sie bekanntermaßen von ihnen gelesen wurde. Hätten Männern die Texte der Autorin nicht gefallen, wäre sie nicht kanonisiert worden. Doch genau unter dem Gesichtspunkt, dass der kleine Roman Božena Lektionen lehrt, die „nichts für Männer“ sind, möchte ich den Kurzroman und den moralischen Sieg der Magd betrachten. Vielleicht sollten wir besser sagen, der moralische Sieg sei „etwas für Frauen“, wobei Männer, wie schon betont, als Rezipienten nicht ausgeschlossen sind, da sie den Kunstgriff natürlich genauso gut nachvollziehen können. Mein Argument besteht nicht darin, eine bestimmte Genderrolle als Bedingung für den Lesegenuss zu annoncieren, wohl aber, dass die Wendung auf Zeitgenossinnen eine besondere, wenn nicht gar lebenspraktische Wirkung gehabt haben könnte. Der kleine Roman vermittelt einen female gaze, der nicht den Lektionen entspricht, die das Patriarchat erteilt. Wir befinden uns in dem Publikationsjahr 1876, Ebner-Eschenbach ist 46 Jahre alt. 401 In jener Zeit war die Romantisierung und Naturalisierung von Weiblichkeit fest in den Diskursen verankert, doch kündigte sich auf diesen steinernen Grundsätzen bereits ein moderneres Frauenbild an, das das Etablierte hinterfragte. Die Grafen- und Majors‐ tochter Marie ist von Vorstellungen geprägt, nach denen sich das weibliche Geschlecht dichotom, also entgegengesetzt zum männlichen verhält. Bürgerliche Frauen haben rein, emotional, mütterlich, passiv — sprich in ihrer Idealform — anständig zu sein. Sie sollen sich nach Liebe und Mutterschaft, nicht nach Sexualität sehnen. Eine geradezu muskulöse Frau wie die Božena, die „sich an Größe und Stärke kühnlich mit einem Flügelmanne des Garderegiments Friedrich Wilhelms I. [hätte] messen können“, 402 kann nur unter klassistischem Gesichtspunkt figuriert werden. Wäre es für eine Frau mit Wespentaille wirklich angebracht, stärker als ein Jäger zu sein? Die muskulöse Heldin ist eine Unterschichtlerin, ausgestattet mit proletarischen Armen und lauter Stimme, doch auch mit einem bürgerlichen „Frauen-Herz“ und mit Sanftmut. Eine Frau, die feminine Werte anerkennt, also auf die weibliche Genderrolle ausgerichtet schreibt, sich den konservativen Maßstäben unterordnet, muss ihre weibliche Hauptfigur entlang den gültigen Genderparametern entwickeln. Doch die Autorin ist schlau. Boženas Klassenzugehörigkeit eröffnet ihr ein paar Möglichkeiten der Abweichung, aber tatsächlich ist diese Öffnung nur ein kleines Zugeständnis an Eigenschaften wie 9.1 Eine feministische Re-Visitation 223 <?page no="225"?> 403 Showalter 2009, S.-11 [Hervorhebung im Original]. körperlicher Stärke, welche im Kontext der Zeit als etwas gelten, das Frauen nicht naturgemäß zukommt. 9.2 Feminine, feminist, female Bereits in den 1970er Jahren gab es in der germanistischen Literaturwissenschaft die Frage nach einer weiblichen Ästhetik. Also die Frage: was macht Frauenliteratur aus, schreiben Frauen anders als Männer? Beantwortet wurde sie mit: „ja und nein“. Die Literaturwissenschaftlerin Elaine Showalter hat mit ihren Kategorien feminine, feminist, female sich der Kategorisierung des weiblichen Schreibens gewidmet. Sie verfolgt in ihrem Standardwerk A Literature of Their Own. British Women Novelists from Brontë to Lessing, das 1977 zuerst erschienen ist, einen frauenzentrierten Ansatz der Literaturanalyse. Showalter diskutiert drei Phasen von Frauenliteratur der englischen Romanschriftstellerinnen vom 19. bis zum 20. Jahrhundert. Die erste besteht für sie in der Nachahmung der Modi der vorherrschenden Tradition und Verinnerlichung, dies nennt sie die feminine Phase (feminine) der Frauenliteratur, als feministisch tituliert sie einen literarischen Protest gegen diese konservative Weiblichkeit (feminist phase) und einen Aufruf zur Autonomie, den sie in Texten von Autorinnen erkennt. Eine von ihr als authentischere Art des weiblichen Schreibens empfundene Phase benennt Showalter als weibliche Phase (female). In dieser gehe es um eine Suche nach weiblicher Identität. First, there is a prolonged phase of imitation of the prevailing modes of dominant tradition, and internalization of its standards of art and its views on social roles. Second, there is a phase of protest against these standards and values, and advocacy of minority rights and values, including a demand for autonomy. Finally, there is a phase of self-discovery, a turning inward freed from some of the dependency of opposition, a search of identity. An appropriate terminology for women writers is to call these stages, Feminine, Feminist, and Female. These are obviously not rigid categories, distinctly separate in time, to which individual writers can be assigned with perfect assurance. The phases overlap; there are feminist elements in feminine writings, and vice versa. 403 Sie wendet diese Phasen, wie bereits betont, auf die englischsprachigen Autorinnen des 19. Jahrhunderts an, jedoch lässt sich die Frage, ob das Werk eher als feminine, feminist oder female zu beschreiben sei, auch an Autorinnen wie Ebner-Eschenbach richten. Schreibt die kanonisierte Erfolgsschriftstellerin nach den Modi der vorherrschenden Tradition oder begehrt sie kritisch auf oder hat sie schon gar einen eigenen authenti‐ schen Ton der Weiblichkeit. In meinen Augen ist der Text Božena sowohl feminin als auch feministisch. Vielleicht finden wir in dem, was Klein als „wahrhaft menschlich“ ansieht, sogar schon das, was Showalter den authentischen Ton einer Autorin nennen würde. Die Figurierung der Hauptfigur entspricht den herrschenden Modi, aber sie ist insofern auch feministisch zu nennen, weil gegen rigide Weiblichkeitsmuster 224 9 Schlusswort: „Frauenliteratur“ und ein feministischer Blick auf ihr Potential? <?page no="226"?> 404 Vgl. Paul 1907. 405 Ebenda, S.-13. 406 Vgl. Weigel 1988a. 407 Vgl. Lenk 1976. aufbegehrt wird. Sinnlichkeit, die in einem romantisch verstandenen Sinn gegen eine unbeteiligte Erfüllung der Ehepflicht steht, wird von Ebner-Eschenbach durch Božena nobilitiert. Sinnliches Sehnen ist hier ein Ingredienz aufrechter Weiblichkeit. Die Feministinnen der ersten Welle der Frauenbewegung wie H. Paul sahen moralische Scheinheiligkeit als eine Folge des Patriarchats, 404 welches Frauen eine falsche Moral anerzieht: „Jungfräulichkeit und Unschuld werden immer in Verbindung gebracht. Wo aber hört Unschuld auf ? “ 405 Von dieser oberflächlichen Unschuld, die nur Scheinheiligkeit tarnt, ist Ebner- Eschenbachs Heldin weit entfernt. Sie ist eine Frau, die zu sich steht und die sinnlich ist. Nach der Liebesnacht mit dem Jäger ist sie keine Jungfrau mehr - aber tatsächlich mora‐ lisch schuldig geworden sind Nannette und Regula. Die Autorin verleiht der Figur eine zweite Dimension, die über die patriarchalischen Modi ( Jungfrau oder nicht) hinaus geht. Das lässt sich mit deutschen feministischen Kategorien der Literaturwissenschaft gut fassen. Sowohl Sigrid Weigel 406 als auch Elisabeth Lenk 407 hatten meines Erachtens schon früh interessante Bilder in die germanistische Diskussion gebracht, die es, aus bekannten Gründen - das Thema Frauen -, nie in den germanistischen Mainstream geschafft haben, wobei Weigels Konzept immerhin etwas erfolgreicher war als das Lenks. Weigel spricht davon, dass Frauen mit einem „schielenden Blick“ schreiben würden; Lenk, dass Frauen sich selbst verdoppeln würden, sobald sie schrieben. Das meint: Natürlich kann eine Frau mit ihren Figuren die gebotenen Rollen von Frauen nicht ganz übertreten. Jungfräulichkeit bleibt auch in diesem Text ein Wert, ‚Unschuld‘ und ‚Schande‘ Begriffe, nach denen Frauen gerastert werden. Ebner-Eschenbach schreibt im patriarchalen Rahmen, nach internalisierten Regeln, etwas das Showalter „feminines Schreiben“ nennen würde. Für mich tritt aber ein Punkt ins Auge, der in der Germanistik kaum diskutiert wurde: Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen hat die Schriftstellerin durchaus die Möglichkeit, sich mit den weiblichen Figuren auf eine Art zu identifizieren, die männlichen Schriftstellern so nicht möglich wäre. In ihrem Blick auf die Figur fügt sie etwas hinzu oder lässt etwas Neues an der Rolle entstehen, was möglicherweise wiederum nur Leserinnen so erkennen können. Daraus ließe sich ein female gaze abstrahieren. Sie erweitert die Diskussion um Boženas Unschuld produktiv. Die Autorin nutzt ihre Lebenserfahrung, wenn nicht gar Lektionen aus ihrer eigenen sexuellen Entwicklung, die sie zu Diskursabweichungen vom Pfad der weiblichen Sexualverleugnung verführen. Das lässt sich entweder als „schielen“ oder „verdoppeln“ beschreiben - in jedem Fall wird die Eindimensionalität der Figur, die nur einem herrschenden Muster entspräche, gebrochen. Der kleine Roman bietet also auch nicht mehr nur ein Beispiel von femininem, sondern auch feministischem Schreiben. In diesem Sinne verstehe ich die Literatur von Frauen für Frauen innerhalb patriarchalischer Kulturen als Ausdruck weiblicher Ästhetik, gerade weil Autorinnen 9.2 Feminine, feminist, female 225 <?page no="227"?> aufgrund eines ähnlichen Erfahrungsraums durch ihre Figuren Botschaften vermitteln können, die durch leichte Übertretungen, Verschiebungen nicht mehr nur feminin im Sinne einer patriarchatsgemäßen Figurierung, sondern feministisch, im Sinne einer Erweiterung des Rollenspektrums, sind. Die Autorin verdoppelt, sie reproduziert das patriarchalische Frauenbild und zerschreibt es gleichzeitig, indem sie der Figur mehr (Tiefe, Verstand, Leidenschaft - im Fall dieser Hauptfigur auch Charakterstärke) zuerkennt, als Frauen gemeinhin zugebilligt wird. Die größere Dimension der Figur offenbart sich den geistesverwandten Leserinnen unvermittelt durch ihre eigene Sozialisation. Showalter hat den Begriff ‚Gynocriticism‘ aufgebracht, der den Versuch beschreiben soll, als Literaturwissenschaftlerin einen anderen Rahmen für die Analyse von Frauenliteratur zu konstruieren, um sich auf die dargestellte weibliche Subjektivi‐ tät zu konzentrieren. Genau dies ist sinnvoll, um Božena zu verstehen. 9.3 Der Zauber von Boženas Figurierung - dem patriarchalen Blick verborgen? Diese Magd ist nicht nur dienstfertiges Objekt ihrer Herrschaft und sexuelles Objekt für Bernhard, sie ist ein Subjekt mit Leidenschaften und Charakter. Diesen stellt der Text deutlich heraus. Oberflächlich betrachtet hat sie ihre „Unschuld“ verloren, fühlt sich schuldig, aber es bedarf kaum des Schielens, um herauszulesen, dass sie moralischer handelt als die bürgerlichen Nebenfiguren. Am Beispiel Boženas lässt sich der Begriff der „Frauenliteratur“ positiv denken, denn hier geschieht eine Erweiterung des Frauenbildes und das sogar mit Resonanzpotential auch für Frauen, die mehr als 100 Jahre nach Erscheinen des Textes auf die Welt kamen. Der Text Božena weist viele sentimentale Züge auf. Die reinliche Magd mit ihren weißen Zähnen, ihren enormen Kräften und ihrem stattlichen Busen, ist ein, entschuldigen Sie den Ton, „Superweib“, das nicht wirklich anschlussfähig für spätmoderne weibliche Subjektivität zu sein scheint, weil ihr Selbstbewusstsein nur auf der Kunst der Haushaltsführung und der Kindererziehung basiert, so mag der/ die Leser*in erst meinen. Aber umso weiter die Handlung fortschreitet, werden an Božena Züge erkennbar - zumindest innerhalb eines Erzählstranges -, die auch einer Frau des 21.-Jahrhunderts nicht fremd sind und die so gar nicht zum angestammten weiblichen Rollenangebot des 19. Jahrhunderts passen wollen. Das Verliebtsein in den Jäger stellt der Text als eine dramatische Entwicklung für Božena dar und er verkompliziert den Begriff ‚Liebe‘. Božena ist weder eine sentimentale Schwärmerin noch eine mustergültige Romantikerin. Sie ist verliebt, aber diese Verliebtheit ist ihr nicht geheuer. Die schöne Božena war um diese Zeit, in der ihr Herzensliebling in die Mädchenjahre, sie selbst aber in die Jahre der reiferen Weiblichkeit trat, eine lahmgelegte Kraft. Sie verbrauchte all ihre Seelenstärke für sich, konnte an andre nichts davon abgeben. Mit gewohnter Pünktlichkeit verrichtete sie zwar ihren Dienst, sie hatte ihn ja im kleinen Finger, aber das Herz war nicht mehr dabei. Ihr Feuereifer brannte hell wie je, aber als eine stille Flamme, 226 9 Schlusswort: „Frauenliteratur“ und ein feministischer Blick auf ihr Potential? <?page no="228"?> 408 Ebner-Eschenbach 1957, S.-91. 409 Ebenda, S.-93. 410 Ebenda, S.-99. 411 Ebenda, S.-100. 412 Vgl. ebenda, S.-99. nicht mehr funkensprühend nach allen Richtungen. Man sah sie jetzt nach beendeter Arbeit müßig dasitzen, die Hände im Schoß. Plötzlich angerufen, fuhr sie auf wie aus einem Traume. Das seltsamste war, daß sie begann, ihrer äußeren Erscheinung mehr Aufmerksamkeit zu widmen und sogar Freude am Putz zu finden. Die haushälterische Božena verwendete so manchen Gulden für Schmuck und Tand. Ihr lebhaftes Interesse für die Ereignisse in Haus und Stadt war erloschen. Etwas Großes ging vor in ihrem Innern, und auf die ganz erfüllte Seele besaßen von außen kommende Eindrücke keine Macht. 408 Der gutaussehende Jäger wird zum Objekt ihrer Sehnsucht und Emotion: Ein schlanker Bursche war’s, in der kleidsamen Montur eines herrschaftlichen Büchsenspan‐ ners, im dunkelgrünen Rock mit Aufschlägen von Samt, silbernen Wappenknöpfen und Achselschnüren, ein schmuckes Mützchen auf den braunen, dichten, kurz gehaltenen Locken. Seine Haltung war vornehm und frei, das Gesicht fein geschnitten; Siegesgewißheit in jeder Miene und Bewegung […]. 409 Das Paradigma ‚Liebe‘ ist nicht ganz treffend, um die quälenden Emotionen der Frau zu beschreiben. Sie merkt, dass der „vollendete Don Juan“ 410 nur mit ihr spielt, aber sie kann sich seinem Zauber nicht entziehen. Sie „ist gefangen, ein Spielball in eines Knaben Hand - die große Božena! “ 411 Der Text leidet mit Božena an ihres Geliebten Unzuverlässigkeit. Es ist nicht einmal so, dass die Leserin sich wünscht, die Hauptfigur wachzurütteln, denn die intelligente Magd durchschaut des Jägers Spiel. Sie sieht, dass er sie in der Öffentlichkeit stets ignoriert, nur in der Abgeschiedenheit Liebesschwüre und Schmeichelworte über sie ergießt. 412 Wir haben es nicht mit einer naiven Heldin, einem kleinen Mädchen zu tun, das treuherzig den Beteuerungen glaubt und leicht verführbar wäre; nur ist Božena trotz Klugheit, Größe und Edelmut nicht vor ihren Gefühlen gefeit. Gewöhnlich erschien Božena in ihren Hauskleidern, die Festgewänder legte sie nach dem Kirchenbesuche ab, und sich nach beendetem Tagewerk noch einmal in Staat zu werfen, war ihr nicht der Mühe wert. Auch in ihrer Einfachheit gefiel sie ihren zahlreichen Anbetern nur zu wohl und hatte ohnedies genug zu tun, die Zudringlichsten in respektvoller Entfernung zu halten. Herr Weberlein war nicht wenig erstaunt, als sich Božena eines Sonntags prächtig angetan zum Nachmittagsgeplauder einfand. Sie kam langsam, in Gedanken versunken, die Treppe herab. Ihre rechte Hand glitt das Geländer entlang, den Rücken der linken hielt sie fest an den Mund gedrückt. Das runde Häubchen mit den flatternden Bändern saß wundergut auf dem reichen Haar mit seinem schwarzblauen Glanze. Eine Korallenschnur umfaßte den kräftigen und geschmeidigen Hals, über die Brust war ein schneeweißes Tuch gekreuzt. 9.3 Der Zauber von Boženas Figurierung - dem patriarchalen Blick verborgen? 227 <?page no="229"?> Kurze, bauschige Ärmel ließen die wohlgeformten Arme frei. Ein Rock von broschiertem, dunkelgrünem Damast fiel in schweren Falten bis zu den Knöcheln nieder, eine seidene Schürze, bunt gestickte Strümpfe und glänzende Schnallenschuhe vervollständigten den halb städtischen, halb ländlichen nagelneuen Anzug. Der Tausend! sie war schön und majestätisch anzusehen in dieser Pracht, die mächtige Gestalt. Weberlein betrachtete sie vergnügt, kauerte sich tiefer in seine Nische und murmelte: „Sauber! Sauber! “ Božena stand nun vor ihm und grüßte mit einem Anfluge von Verlegenheit. „Sapperlot“, sprach der Alte, „das ist ja schön von Ihnen, daß Sie sich auch einmal mir zu Ehren in Parade versetzt haben.“ „Ihnen zu Ehren doch nicht“, antwortete sie. Er schlug ein Schnippchen, als wollt er sagen: Sie haben gut leugnen, ich weiß, was ich weiß. Boženas Gesicht bedeckte sich mit hoher Röte, und sie sprach leise, aber resolut: „Es ist heut Tanz beim ‚Grünen Baum‘, da geh ich hin.“ Der Blick, den Weberlein jetzt auf sie warf, bewies, daß es möglich sei, zugleich Mitleid und Verachtung auszudrücken. Sein unproportioniert großes Kinn bewegte sich ein paarmal hin und her in der hohen, halbmilitärischen Krawatte, in der es endlich zur Hälfte verschwand, und er rief: „Sie sind, scheint mir - närrisch! “ Božena erwiderte nichts. Sie hatte die Arme gekreuzt, lehnte sich an die Wand und blickte stumm und trotzig vor sich nieder. Auf dem Platze wurde es immer lebendiger. Dem heißen Sommertage war ein erquickender Abend gefolgt; ihn zu genießen strömte die schöne Welt der Stadt der Promenade zu. Unter denen, die am Hause vorüberkamen, dünkten sich nur wenige zu vornehm, um dem Vertrauensmanne Herrn Heißensteins einen Gruß zuzurufen; so mancher blieb stehen und wechselte mit ihm einige Worte. Auch Bekannte Boženas kamen - stille Verehrer, die es nicht auszusprechen wagten, wie begehrenswert ihnen die rüstige Jungfrau mit ihrem Fleiß und Geschick und mit ihren, wie man wußte, ansehnlichen Sparpfennigen erschien; kühne Bewerber, die sie heimzuführen hofften, wenn nicht gleich, so doch sicherlich dann, wenn einmal Fräulein Rosa wegheiraten würde aus dem väterlichen Hause. Auch einige hübsche Mädchen, bestens geschmückt zum heutigen Tanze, fanden sich ein und vergrößerten den Halbkreis, der sich um Božena gebildet hatte wie um eine Audienz erteilende Königin. So war schon eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft im Torwege versammelt. Und jetzt trat aus dem gegenüberliegenden, vom Kreishauptmann Grafen Kühnwald bewohnten Hause ein junger Mann, auf den sich sofort die allgemeine Aufmerksamkeit richtete. Die Mädchen stießen einander an und kicherten, die Männer zuckten die Achseln; ein Schreiberlein in einem schäbigen Rocke, den nur der Umstand zum Sonntagsrocke stempelte, daß er einst schwarz gewesen war, sagte mit einem Ausdruck von schlecht verhehltem Neide: „Da kommt Bernhard der Pfau! “ „Dann wird auch die ‚Gräfin‘ nicht weit sein“, ließ eine Mädchenstimme sich vernehmen. Und wirklich, die sogenannte Gräfin schritt eben über den Platz. Sie war eine stattliche Bauerntochter, die reichste und umworbenste aus dem nahen Dorfe, das gleichsam die Vorstadt Weinbergs bildete. Begleitet von ihrer Sippe begab sie sich zum Tanze. Der junge 228 9 Schlusswort: „Frauenliteratur“ und ein feministischer Blick auf ihr Potential? <?page no="230"?> 413 Ebenda, S.-92ff. 414 Vgl. ebenda, S.-97. Mann näherte sich ihr und schien eine Frage an sie zu stellen. Die Dorfgräfin nickte gnädig und setzte ihren Weg fort, indessen er auf das Haus Heißenstein zuschritt. […] Siegesgewißheit in jeder Miene und Bewegung, kam der Bursche heran, und kindische Freude an sich selbst leuchtete ihm aus den Augen. Er grüßte die Gesellschaft mit der her‐ ablassenden Freundlichkeit eines gutsituierten Mannes gegen geringe Leute. Dem Kommis gegenüber äußerte er einigen Respekt, die übrigen neckte er, wußte aber auch jedem etwas Angenehmes zu sagen und jeden in das Gespräch zu ziehen. Nur eine Person in dem Kreise sah er nicht, bemerkte er nicht - die ansehnlichste und auffallendste von allen: Božena. Und die war plötzlich verstummt. Sie hatte den Kopf an die Wand zurückgelehnt und die Augen halb geschlossen. Von ihren Schläfen herab, die Wangen entlang zog sich ein weißer Streifen - das Erbleichen sehr rot gefärbter Menschen. Verstohlen warf der Jäger manchmal einen Blick nach ihr hin, und je gequälter ihm der Ausdruck ihres Gesichtes erschien, desto lustiger wurde er, desto übermütiger seine Laune. Mansuet Weberlein kämpfte mit einem nervösen Zucken im Arme, verdrehte die Beine so, daß seine einwärts gebogenen Fußspitzen einander auf dem vorspringenden Mauersockel begegneten, und schoß gegen Bernhard den Pfau eine bissige Bemerkung nach der andern ab. Endlich rief er giftig: „Schad um Sie! Indessen Sie uns hier Späße vormachen, tanzt Ihnen ein Tölpelpeter oder ein Lümmelhans Ihre Gräfin weg! “ Der Jäger wollte antworten, aber ein stämmiger Bursche kam ihm zuvor: „Seine Gräfin? “ spöttelte er, „dem Büchsenspanner seine? … Warum nicht gar? “ Ein hochmütiges Lächeln kräuselte Bernhards Lippen: „Oho, du Gescheiter, nicht mehr lange Büchsenspanner. Im Herbst gibt mir mein Graf ein Revier“, sprach er. „Die Bäuerin schert sich was um dein Revier“, entgegnete der Bursche; und zu einem der Mädchen gewendet fügte er rasch hinzu: „Wollen wir sie fragen, Toni? “ - Und Toni antwortete eiligst „Ja“, und dem sich entfernenden Pärchen folgten andere Tanzlustige nach, und bald war die ganze Versammlung auseinandergestoben. Auch der Jäger empfahl sich jetzt auf das höflichste bei Weberlein, nach einigen Schritten aber blieb er, als besänne er sich plötzlich, stehen, wandte sich gegen Božena und fragte wie jemand, der innerlich widerstrebend eine Pflicht der Artigkeit erfüllt: „Kommen Sie nicht auch? “ Dann eilte er den übrigen nach mit großen Schritten und schlecht verhehlter Besorgnis, daß sie sich ihm vielleicht anschließen könnte. 413 Boženas Leid potenziert sich nach der Tanzveranstaltung, denn der Jäger denkt nicht daran, die Magd um einen Tanz zu bitten, solange er die reiche Bauerstochter im Arm halten kann. Sie ahnt, dass er sich ihres Standes als Magd schämt. 414 Heiße Tränen traten ihr ins Auge, und sie sprach wehmütig: „Ich werde niemals deine Frau! Du wirst dich niemals zu mir bekennen. Schweig! “ fiel sie ihm ins Wort, da er widersprechen wollte. „Dazu hast du nie den Mut! … Ich bin nur eine arme Magd, und du willst höher hinaus - wir sind nicht füreinander…“ 9.3 Der Zauber von Boženas Figurierung - dem patriarchalen Blick verborgen? 229 <?page no="231"?> 415 Ebenda, S.-98f. 416 Ebenda. 417 Ebenda, S.-122. 418 Ebenda, S.-99. „Ich will dich“, beteuerte Bernhard mit Ungestüm, „keine andere, weil sich keine mit dir vergleichen kann. Meinst du, ich bin blind und seh das nicht? … Hab Geduld! … Wirf mir nichts vor … Wir kommen doch zusammen, aber jetzt will ich nichts wissen, nichts hören, nichts fragen als nur: Hast mich lieb? “ Božena legte die gerungenen Hände in ihren Schoß und seufzte schmerzlich auf: „Fragst nicht auch, ob Gott im Himmel lebt? … O Jesus, ob ich ihn liebhabe? Ich wollt, ich könnte sagen nein, oder ich wollt, ich könnte sagen warum! “ Trotzig richtete sie sich auf und sprach, als trachte sie sich selbst zu beruhigen über die Natur ihrer Liebe: „In dein hübsches Gesicht hab ich mich nicht vergafft! “ Der Jäger lachte und küßte sie, und Božena erduldete seine Liebkosungen, aber sie erwiderte sie nicht. „So bist du heute“, grollte sie, „und morgen ist alles wieder wie früher, und morgen trittst du mir wieder aufs Herz. Oh, könnt ich frei sein! … könnt ich mich losmachen von dir! “ 415 Dem Jäger Bernhard gefällt es, die stolze Frau als Trophäe zu vereinnahmen, so wie ihm viele in dieser Hinsicht gefallen. „Er freut sich der Gewalt, die ihm über die Gewaltige gegeben war.“ 416 Er spürt allerdings, dass Božena ehrlich für ihn empfindet. Er wird als seelenlos, sie als seelenvoll beschrieben. Dichotom stehen sich „Kleinheit“ und „größere Seele“ in der Magd und dem Jäger gegenüber. „Eher löscht die Sonne aus als ihre Liebe zu ihm, eher verliert er den Glauben an sich selbst als den an ihre Treue.“ 417 Er ist von dieser Gefühlsgewalt angezogen, wenn er sie auch nicht erwidert; aber was nur empfindet unsere sonst so scharfsinnige Magd für den tändelnden Knaben, welcher Resonanzraum öffnet sich sowohl für die zeitgenössischen als auch die heutigen Leserinnen? Warum empfindet die sonst so charakterfeste Heldin wider besseren Wissen „etwas Großes“ für den lächerlichen „Geck“, so dass „von außen kommende Eindrücke“ und schmerzliche Erfahrungen sie ihrer Leidenschaft nicht zu entbinden vermögen? Bernhard hat weder einen angenehmen Charakter noch ist er eine gute Partie. Er ist kein phallisches Phantasma, der für die Magd eine Aufwertung bedeutet. Seine Attraktivität ist eine, die auf Putz aufbaut. Auch Božena ist sich nicht im Klaren darüber, was sie so stark in seine Richtung empfinden lässt. Lesen wir nochmal: Trotzig richtete sie sich auf und sprach, als trachte sie sich selbst zu beruhigen über die Natur ihrer Liebe: „In dein hübsches Gesicht hab ich mich nicht vergafft! “ 418 Wenn konservativ betrachtet „Frauenliteratur“ „nichts für Männer“ sei, dann ist wohl die hier erzählte Liebesqual der Božena erst recht „nichts für Männer“. Diese Qual entspricht in ihrer Darstellung weder dem Raster völliger Sexualverleugnung, noch zeigt sie Božena als eine Femme fatale. Božena ist auch kein dummes Mädchen oder eine triebunterworfene Frau. Der Text entwirft eine Liebessehnsucht und einen 230 9 Schlusswort: „Frauenliteratur“ und ein feministischer Blick auf ihr Potential? <?page no="232"?> 419 Paul 1907, S.-13. 420 Ebner-Eschenbach 1957, S.-123. Bindungswillen, der allerdings durch das männliche Gegenüber nicht gerechtfertigt ist. Die Gefühle Boženas sind eher undurchsichtig, zumindest durch eine genderkon‐ servative patriarchalische Brille. Tatsächlich kann weder der Kommis Weberlein, der die starke, schöne Frau verehrt, ihre Vernarrtheit verstehen noch der Jäger Bernhard, der mit ihr spielt, erklären, was in Božena vor sich geht. Was entwaffnet die eigentlich Überlegene so? Was führt dazu, dass Božena im Kontext des 19. Jahrhundert sündhaft agiert? Božena begehrt und sie ist diesem Begehren schutzlos ausgeliefert, nur würden Feministinnen dies nicht tadeln, denn nur das Patriarchat vergällt Frauen ihre sexuellen Impulse. Herrschsucht und Eitelkeit, vielleicht auch längst veraltete Sitten haben es verstanden, dem gebärfreudigen Weibe seine Aufgabe [gemeint ist hier: sich fortpflanzen zu wollen; K. K.] zu vergällen und sie ihm gar überhaupt zu entziehen, 419 heißt es in einem feministischen Wissenschaftstext ca. 30 Jahre später. Božena folgt in der Diegese dem Ruf ihrer natürlichen „Aufgabe“, wenn wir diese, aus dem 19. Jahr‐ hundert stammenden feministischen Worte einmal benutzen wollen. In dem kleinen Roman wird die Sehnsucht zum Jäger als angeborene, nicht verdammenswerte Regung dargestellt, die dazu führt, dass das heimliche Paar unehelichen Geschlechtsverkehr haben und die Magd diesen auch genießen wird. Božena ist kein passiv verführtes Gretchen, ganz aktiv ist sie dem Jäger in sein Bett gefolgt, obwohl dessen Verführungs‐ künste nicht mal gekonnt sind. Aber, als unsere Heldin erkennen muss, wie durch ihre vergessene Aufsichtspflicht Rosa dem Vaterhaus entfremdet wurde, siegt der Verstand über die sexuelle Regung: „Ich bin jetzt von dir los und für immer, denn ich hab die Stunde verflucht, wo ich zum ersten und letzten Mal durch dich glücklich war.“ 420 Nachdem sie etwas genoss, was in der Spätmoderne hinlängliche Praxis ist, aber für Božena den einzigen Schandfleck auf ihrer weißen Weste darstellt, nämlich das Erlebnis von reiner, nicht beziehungsgebundener Sexualität, gewinnt sie die Stärke, sich von dieser sexuellen Regung loszusagen. Der Text legt also nahe, dass das, was Božena als Liebe und Treue zu dem Jäger empfand, das Erwachen ihrer Sexualität gewesen ist. Einem feministischen Diskurs des späten 19. Jahrhundert nach folgte Božena dem Ruf der Natur (des „gebärfreudigen Weibe[s]“). Sexuelles Begehren gehört dem Text nach zu ihrer Weiblichkeit, ihr starker, schöner, majestätischer Leib ist auch von zärtlichen Impulsen getragen. Der Jäger, der so wenig moralisch, menschlich zu ihr passte, war das Zufallsobjekt, auf das sich das sexuelle Sehnen dieser Frau richtete. Schon immer wusste Božena, er würde sich nie zu ihr bekennen und keine Ehe mit ihr eingehen wollen. Obwohl ihr seine emotionale Reserviertheit Schmerzen bereitete, hielt dieser Mann etwas für sie bereit, durch das sie zumindest einmal „glücklich war“. Sexualität wird nicht dämonisiert, sondern wenn überhaupt gilt der Tadel Männern, die die Frauen eine momentane sexuelle Erfüllung 9.3 Der Zauber von Boženas Figurierung - dem patriarchalen Blick verborgen? 231 <?page no="233"?> 421 Rehberg 2017, S.-69. 422 Ebenda. auf unwürdige Art anbieten, ohne sie vor gesellschaftlicher Ächtung zu schützen. In Anlehnung an Silvan Tomkins plädiert auch die im Kontext der Queerforschung so bedeutende Denkerin Eve Sedgwick dafür, Sexualität im Kontext von Affekttheorie zu verorten, „also Sexualität auch als Affektivität zu denken.“ 421 Das, was die Figuren beherrscht, ist weder reiner Trieb noch reine Emotion. Affektivität wäre eine Sexualität jenseits von Bindungen an unbewusste Phantasien und ohne eine triebmäßige Beschränkung auf Ziel und Funktion. Affekte würden damit auch eine Lockerung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses anbieten. 422 Sexualität nicht als einen reinen Trieb, im Gegensatz zu Hunger und Durst etwa zu begreifen, geht auf Silvan Tomkins zurück. Der Vorteil dieser Vorstellung besteht darin, dass der Objektbezug unklar ist, d.h. das Bedürfnis danach auf verschiedene Weise gestillt werden kann, aber auch darin, sich zu vergegenwärtigen, dass ein Mensch seiner Sexualität nicht in gleicher Weise unterworfen ist wie dem Gefühl von Hunger. Das Verlangen danach untersteht einem emotionalen und rationalen Zugriff. Ich halte es für sinnvoll, von einer affektiven Bindung seitens Boženas zu sprechen, die sexuell motiviert ist. Sich ihre Sinnesempfindungen als Affekt vorzustellen, vermeidet, von reiner Triebsteuerung zu reden. Božena wird textimmanent nicht als triebunter‐ worfene Figur dargestellt, aber sie ist von „unbewussten Phantasien“, die sie „wie aus einem Traume“ aufschrecken lassen, geleitet, von denen sie sich zu lösen vermag, als sie ihre moralische Subjektivität zurückerobert. Das Verhältnis zum Objekt ( Jäger) ist nicht in Stein gemeißelt wie in einer romantischen-sentimentalen Liebeserzählung. Was dem Text Ebner-Eschenbachs gelingt, ist es, einerseits die gottesfürchtige Magd nicht im lächerlichen Sinn als Objekt ihrer Triebe zu diffamieren, jedoch auch ande‐ rerseits sentimentale Liebe als des Rätsels Lösung auszuschließen, um die emotionalen Wirrnisse zu erklären, in die sie gerät. Gemütsbewegungen spielen eine große Rolle, aber sie bleiben stets widersprüchlich, ihre Zuneigung ist affektiv, schafft sich „jenseits von Bindungen“ Raum. Ihr Verhältnis zu Bernhard ist zu keinem Zeitpunkt von klassisch romantischer Liebe getragen, sondern zeitlich an die Situation gebunden. Es ist nicht des Jägers unverwechselbare Individualität, die Božena einnimmt, aber auch nicht etwa sein Status. Die männlichen Gefühle und der männliche Wille, Božena zur Geliebten zu machen, beruhen auf Eitelkeit, ihre Emotionen sind zwar komplexer, aber niemals nur als reine Liebe vorstellbar, denn eine kluge Frau wie sie erkennt Bernhards offenkundige Lieblosig- und Unwürdigkeit. Obwohl die Autorin in einem anderen Jahrhundert als Tomkins und Sedgwick ihre Gedanken verfasste, greift sie 232 9 Schlusswort: „Frauenliteratur“ und ein feministischer Blick auf ihr Potential? <?page no="234"?> 423 Ebner-Eschenbach 1957, S.-123. weder auf altmodische Gedanken über die Sündhaftigkeit des Menschen zurück, noch stellt sie sich schon in die Tradition moderner Freud’scher Triebkonzepte, die zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Textes noch nicht formuliert waren, um das, was jeder Leserin als sexuelles Erwachen Boženas erscheint, ihrer liebenswerten Frauenfigur mit negativem Ton anzudichten. Ebner-Eschenbachs kleiner Roman ist differenziert in der Gestaltung der Seelenqualen dieser Magd. Durch Mehrdeutigkeit wird Resonanz bei den bürgerlichen Zeitgenossinnen geschaffen, denn Boženas unerlaubte Gefühle für das unpassende Liebesobjekt mag mancher Leserin nicht unvertraut sein; sei es als erotische Phantasie, die sie von einem Mann eines unteren Standes träumen lässt, sei es als die Erinnerung an einen unerreichbaren Mann oder sei es das geheime Wissen um ein Begehren für einen Mann, von dem die sich hingezogen fühlende Frau wusste, dass er sich nie zu ihr bekennen würde. Bürgerliche Frauen des 19. Jahrhundert wissen genau, was ihnen verboten war, aber das heißt nicht, dass sie nichts Verbotenes fühlten. Durch Božena wird das verneinte, das gesellschaftlich geächtete Gefühl als Affekt erkennbar, welcher sich auch anständiger Frauen bemächtigen kann und sie nicht unwiderruflich verunreinigt. Sexuelles Sehnen ist in diesem Text etwas, was zu einer empfindungsfähigen Frau gehört wie ihre Anlage zur Mutterliebe. Was Božena beispielhaft gelingt, ist, die selbstgesetzte Pflicht (ihre Mutterliebe) über diesen Affekt (das in ihr erwachte sexuelle Begehren) siegen zu lassen. Frauen werden nicht als irrationale Fähnchen im Wind karikiert, als käme ihnen überhaupt keine Macht über ihre sexuellen Sehnsüchte zu. Du hast mich gehabt mit jedem Gedanken in meinem Hirn und mit jedem Hauch in meiner Brust. Und was hast du aus mir gemacht? […] ich werf dir nichts vor, dir nichts - alles, alles nur mir! Du kannst vielleicht nicht anders … Ich aber hätte anders gekonnt, und ich hab zehnfach gefrevelt, denn ich hab gefrevelt gegen meine Natur. 423 Was Božena als ihre „Natur“ begreift, ist die gesellschaftliche Rolle als Frau und Magd, mit der sie sich als Subjekt identifiziert. Tugendhaftigkeit ist für sie keine lose Hülse und gegen dieses eigene Ich-Ideal hat Božena ihrer Meinung nach „gefrevelt“. Natur ist diesem Text nach nicht völlig festgelegt, es ist eine Rollenvorschrift, mit der Frauen sich identifizieren können. Ihr Frevel gegen ihre „Natur“ kratzt nicht an Boženas Subjektivität, sie bleibt von Grund auf gut. Der Text erweist sich in fortschreitender Lektüre immer rebellischer, endet er doch damit, dass zum Schluss, als Božena bereits die Enkelkinder ihres ersten Pflegekindes, also ihre generationellen Urenkelinnen in den Armen hält, wenn auch im Alter nicht mehr schön wie einst, in aller Augen, als „gut“ angesehen worden war. Ihr guter Ruf blieb bestehen, trotz ihrer sexuellen Zügellosigkeit, trotz des, flapsig gesagt, one night stand mit einem Mistkerl‘, der an die spätmodernen assholes erinnert. 9.3 Der Zauber von Boženas Figurierung - dem patriarchalen Blick verborgen? 233 <?page no="235"?> 424 Ebenda, S.-252. Sie wiegte noch eine dritte Generation auf ihren Armen, und dieses kleine Volk kannte sie, die man einst die schöne, die große genannt, nur als - die gute Božena. 424 Der Liebesakt mit dem Jäger ist nicht nur die Schlüsselszene für die dramatische Entwicklung des Textes, also der tragische Moment, in dem Rosa das Haus verlässt, während Božena im Geheimen ihre Sexualität auslebt. Er beinhaltet auch die Mög‐ lichkeit, dass Božena die Herrschaft über ihren sexuellen Affekt zurückgewinnt, ihr sexuelles Begehren nicht zur Richtschnur ihres Handelns werden lässt. Doch diese schambesetzte Liebesnacht ist auch noch in anderer Hinsicht wesentlich, weil sie - überraschenderweise - zum Mittel des moralischen Sieges über die bürgerliche Verlogenheit und Habsucht der scheinheiligen Frauen Nannette und Regula wird. Der Schandfleck der Magd wird zu ihrer Waffe gegen die Scheinmoral der Herrinnen. Die Überwindung der Scham (über ihre sexuelle Verirrung), die der Magd gelingt, ist begründet in Boženas moralischer Größe, die sich gegen Scheinheiligkeit behaup‐ tet. Nannette und Regula haben vielleicht niemals ihre Sexualität entdeckt, sind dadurch regelkonform, aber sie sind unehrlich. Als Božena mit Röschen, dem Kind der Enterbten, wieder im Hause Heißensteins lebt, kommt es zu einer Begegnung mit dem inzwischen gealterten, heruntergekommenen „Don Juan“ Bernhard. In seiner negativen Entwicklung zeigt sich erneut, dass er nie ein rechter Mann war, aber auch, dass Boženas Gefühle nicht an romantische Liebe gebunden waren, denn sie sieht das einstige Objekt ihres Sehnens nur noch als Objekt, das allenfalls Verachtung verdient. Es mußten einige Augenblicke vergehen, bevor ihnen zum Bewußtsein kam, daß dieser dicke Geselle mit den schwimmenden Augen, dem roten aufgedunsenen Gesichte, dem kurzen, keuchenden Atem kein andrer sei als - Bernhard, der ehemals schöne Jäger, Bernhard der Pfau! Er sah, betroffen über den Anblick der stattlichen Gesellschaft, scheu umher, rückte den Hut ins Genick und sagte, wie um sich selbst Mut zu machen: „Man wird doch seine Bekannten besuchen dürfen im Wirtshaus? “ „Der Mensch ist berauscht“, sagte der Freiherr halblaut. Regula stieß einen leisen Schreckens‐ ruf aus, und die Herren und Frauen eilten zu ihr, um sie zu beruhigen. So stand Božena, die inzwischen ihre Runde beendet hatte und wieder an ihrem Platze angelangt war, allein dem Eindringling gegenüber, Aug in Auge. Sie stand still - stumm und wie versteinert vor Grauen und Schmerz. Ihr Leben war eine lange Buße gewesen für eine kurze Verirrung, und nun trat der Mensch, der sie verleitet hatte, vor sie hin, und ihr schien, als sei nichts gesühnt, als stiege ihre entwürdigte Vergangenheit verkörpert aus dem Dunkel des Vergessens und riefe ihr drohend zu: Mich besiegst du nie, ich bin unsterblich, bin unüberwindlich! - Einen Augenblick zögerte der Jäger, dann ging er frech auf die Schweigende zu und rief: „Boženka! kennst mich denn nicht mehr? “ 234 9 Schlusswort: „Frauenliteratur“ und ein feministischer Blick auf ihr Potential? <?page no="236"?> Sie senkte finster den Kopf, und er fuhr fort: „Erst heute bin ich angekommen - bin hier wegen des Nachlasses meiner Frau, die gestorben ist - leider. Meine erste Frage war nach dir, natürlich, und wie ich höre, du bist da, lauf ich hinüber zu euch. Dort heißt’s: Beim ‚Grünen Baum‘. Nun richtig! … So grüß dich Gott, Boženka. Und jetzt laß uns plaudern! “ Er hatte, im Gehen etwas schwankend, einen Sessel herbeigeholt und setzte sich an die Seite Božena, die, blaß wie man sie niemals gesehen, auf ihren Stuhl gesunken war. Schimmelreiter hatte indessen mit den Herren geflüstert und schien eine Abrede mit ihnen genommen zu haben. Er näherte sich jetzt und sagte geschäftsmäßig zu dem Jäger: „Alle Anwesenden sind meine Gäste. Dies zur Kenntnis.“ „Potztausend, der Schimmelreiter! “ rief Bernhard. „Servus, servus… Alle Anwesenden Ihre Gäste? - Ich auch demnach - bin auch anwesend. Ein Glas her! Schenk ein, altes Tintenfaß! “ Der Sekretär ließ sich nicht beirren, sondern fügte im früheren Tone hinzu: „Weiß mich nicht zu besinnen, daß ich Sie geladen hätte“, und dabei machte er rasch nacheinander winkende Bewegungen mit den Händen, als wollte er sagen: Fort! fort! fort! Bernhard lachte blödsinnig, legte die Arme bis zu den Ellbogen auf den Tisch, rückte näher zu Božena heran, sah ihr von unten hinauf ins Gesicht und sagte: „Er möcht mich weg haben, der Alte, aber was hilft’s? - Ich gehe nicht, ich bleib bei dir, mein Herzel! “ Nun fuhr Mansuet auf ihn los: „In welchem Tone erlauben Sie sich mit der Jungfer zu reden? “ herrschte er ihn giftig an. „Das ist der Mansuet, glaub ich“, rief Bernhard spöttisch. „Bon soir, Herr Mansuet, was kümmert Sie mein Ton? - Wenn ihr“, er blinzelte Božena vertraulich zu, „mein Ton nicht recht ist, wird sie’s schon sagen. Nicht wahr, Boženka, mein Schatz? “ Mansuet hielt sich nicht länger. „Der Teufel ist dein Schatz, du Trunkenbold! “ schrie er, „und nun fort! und wenn du die Türe nicht findest, fliegst du zum Fenster hinaus! “ Das Gesicht des Jägers flammte, er rief: „Du Lump! Was geht’s euch an, ihr Lumpe, wie ich spreche mit meiner Geliebten? ! “ „Deiner Geliebten? ! “ wetterte der kleine Kommis und hatte ihn im selben Augenblicke am Kragen und zerrte ihn vom Sessel herab auf den Boden, „deine Geliebte? ! … Nimm das zurück, oder ich schlag dich tot, ich schlag dich tot! “ Bernhard tobte wie ein Rasender unter den Fäusten Schimmelreiters, der ihn gepackt hatte und ihm gleichfalls zurief: „Nimm das zurück! “ Er wehrte sich mit allen seinen Kräften und schrie dabei: „Just nicht! Euch zum Trotze nicht! Meine Geliebte, meine Geliebte! sie war’s! “ Mansuet kannte sich nicht mehr. „Bestie! “ kreischte er, riß ein Messer vom Tische und stürzte damit auf Bernhard zu … Da erfaßte eine eiskalte Hand die seine und entwand ihm das Messer mit einem Rucke … Božena stand zwischen dem Jäger und seinen Angreifern. „Laßt ihn“, sprach sie, ihre Stimme klang hart wie Metall. „Laßt ihn. Es ist wahr.“ Ein dumpfer Schrei erhob sich. Bernhard stand langsam auf, warf triumphierende Blicke im Zimmer umher und machte Miene, auf Božena zuzueilen. Doch sie, mit stummer Verzweiflung im Angesichte, mit einer Gebärde unsäglicher Verachtung, wies gebieterisch nach der Tür. 9.3 Der Zauber von Boženas Figurierung - dem patriarchalen Blick verborgen? 235 <?page no="237"?> 425 Ebenda, S.-173ff. 426 Ebenda, S.-176. Der Elende blieb erschrocken stehen, murmelte einige unverständliche Worte, zupfte seine Jacke zurecht und gehorchte. Eine lange Pause folgte, die Männer warfen einander fragende Blicke zu, die Frauen senkten die ihren zur Erde. Frau Doktor Wenzel traten Tränen in die Augen; hätte sie nur dem Rate ihres Herzens folgen dürfen, sie wäre hingetreten zu Božena und hätte ihr die Hand gedrückt. Der Zweifel jedoch, ob ihr Mann dies billigen würde, hielt sie zurück, und sie sagte nur unwillkürlich: „Arme Božena! “ Schimmelreiter starrte die Heldin des eben erlebten peinlichen Auftritts mit offenem Munde so befremdet an, als sähe er sie heute zum erstenmal. Seine Gattin vernahm, wie er leise vor sich hinsprach: „Darum also … O wie brav! “ Der Freiherr wandte sich mit den Worten: „Une maîtresse femme, ma parole d’honneur! “ zu Regula. Das Fräulein aber, deren Nase weiß wie Kreide geworden, war eitel Entrüstung und Unwille. „Skandal! - Skandal! - Skandal! “ wiederholte sie in einem fort, ließ ihrem Lohnkutscher befehlen vorzufahren und entfernte sich, ohne Abschied von irgend jemandem zu nehmen […]. 425 Tatsächlich führt der Text diese Begegnung durch eine doppelte Linse vor. Einerseits verhandelt er zwar das sexuelle Abenteuer Boženas als objektive Verfehlung, die ein Leben lang nach Buße verlangt. Und durch den Mund von Regula, gilt sie als „[e]ine Person, die ihre eigene Schande in der Wirtsstube ausruft“ und deshalb „keine passende Umgebung für eine ehrsame junge Dame“ 426 darstellt. Ihre Herrin wird eine frauen- und sexualfeindliche Moral auf Božena anwenden. Aber andererseits erzählt der Text auch von Autonomie und Subjektivität. Mit den (weiblich, identifikatorischen) Augen von „Frau Doktor Wenzel“ etwa sehen wir, dass Božena viel zu stolz ist, sich zu verleugnen. Regula hat mehr zu büßen als sie, nämlich ihre lächerliche altjüngferliche Attitüde, ihre Pseudomoral und ihre Habgier, aus der heraus sie der Nichte das ihr zustehende Erbe nicht auszahlen möchte; dies wird als viel schändlicher verurteilt als das Vergehen der Magd. Es gelingt nämlich Božena gerade aufgrund ihrer vermeintlichen Schande, über Regulas Unredlichkeit zu siegen. Röschen hat sich in einen verarmten Adligen verliebt. Ihre Gefühle werden erwidert. Regula möchte die Hochzeit verhindern, hätte sie doch selbst gern eine solche Partie gemacht, indem sie die Mitgift verweigert und den Besitz des Verlobten aufkauft, so dass das Paar völlig in ihrer Hand ist. Eine Ehe wäre kaum mehr möglich. Die Unredlichkeit Regulas wird durch Boženas moralisches Eingreifen abgewendet und diese Wendung ist tatsächlich ein Gänsehaut-Moment, der jede Vorstellung von Schande, die Božena begleitet haben mag, als eine Epiphanie des Erhabenen transzendiert. Die kluge Magd konfrontiert Regula mit dem Wissen davon, dass ihre Mutter den wichtigen Brief unterschlagen hat, der Röschen zu ihrem Erbrecht verhelfen würde. 236 9 Schlusswort: „Frauenliteratur“ und ein feministischer Blick auf ihr Potential? <?page no="238"?> 427 Ebenda, S.-244f. [Hervorhebung von mir, K.-K.]. 428 Vgl. Paul 1907, S.-14. „Doch - um Ihretwillen! Rosa ist um die Verzeihung ihres Vaters bestohlen worden. Das weiß ich, Fräulein, denn, gefoltert von Gewissensqualen, hat es mir Ihre Mutter in ihrer Todesstunde anvertraut. Der Brief …“ „Schweigen Sie! “ schreit Regula, „ich weiß nichts; ich will nichts wissen von einem Briefe - ich kann’s beschwören: ich habe keinen Brief gesehen … und - wer hat ihn gesehen? “ „Niemand“, antwortet Božena mit kalter Ruhe, „denn er ist unterschlagen worden und - verbrannt.“ „Ha! “ Regula atmete auf, befreit von einer Zentnerlast. „So gibt es auch keinen unterschla‐ genen Brief! … Wer kann beweisen, daß es einen gab? Wer wird es glauben? “ Die Magd stand da, umflossen von einer wunderbaren, stillen stolzen Majestät; ihre große Gestalt schien noch zu wachsen, ihr ganzes Wesen atmete Macht, und wie Erz klang ihre Stimme, als sie sprach: „Beweisen kann ich es nicht, aber ich werde es sagen und - mir wird man glauben! “ Mit schrecklicher Wucht fielen diese Worte auf die Seele Regulas. Ja, der wird man glauben! Deutlich und lebendig in jedem Zuge erhob sich vor ihr ein längst vergessenes Bild. Sie sah ihre Magd zwischen Mansuet und den Jäger treten und hörte sie sprechen: „Es ist wahr! …“ Božena hätte damals nicht lügen, sie hätte nur schweigen brauchen, und der Jäger wäre als Verleumder gebrandmarkt gewesen; an ihr - hätte keiner gezweifelt. Aber sie sprach, sie gab der Wahrheit die Ehre. Ja, der wird man glauben! 427 Es ist nicht wenig, was der Text hier wagt; aus ‚Verfehlung‘, ‚Buße‘, ‚Verzweif‐ lung‘, ,Schande‘, wird ‚Stolz‘, ‚Macht, ‚Größe‘ und ‚Majestät‘. Die niedrige Magd Božena ersteht als Gestalt, an der nie jemand zweifeln würde. Ihre Subjektivität ist unantastbar. Ihr „wird man glauben! “ Nicht aufgrund eines inneren Strebens nach Moral, nur um das Bild in der Öffentlichkeit zu bewahren, tut Regula, was ihr, der jungfräulichen Herrin, von der schandbehafteten Magd geheißen wird; sie gibt ihren Segen für die Ehe der Nichte, verschafft Röschen eine Mitgift in Form des erworbenen Besitzes. Der zukünftige Ehemann Röschens hat keinen Zweifel, dass sein Lebensglück sich der klugen Magd verdankt. Und genau hier erkenne ich Frauenliteratur im besten Sinne. Dieser Text öffnet einen Resonanzraum, der für eine gutbürgerliche Tochter unglaublich wertvoll gewesen sein muss, weil er den Leserinnen Ausblicke auf sexuelle Freiheit (zumindest in Gedanken) und Eigenschaften wie Größe, Macht, Stärke erlaubt, die der Katechismus, die Moral, der patriarchatskonforme Genderdiskurs nicht eröffneten und die vielleicht der Bruder oder Vater sogar überlesen würde. Wie die Feministin H. Paul begehrt er dagegen auf, die erwachten Sinne einer Frau gegenüber einer Scheinmoral geringzuschätzen, plädiert dafür, Entehrung nicht als formalen Verlust des Jungfernhäutchens, sondern als Unlauterkeit des Herzens, als Verstellung der Gefühle zu verstehen. 428 Dieser Zauber von Ebner-Eschenbachs Texten ist bei der Kanonisierung schlicht überlesen worden. Die Autorin einer angeblich untergegangen Welt ist in gewisser 9.3 Der Zauber von Boženas Figurierung - dem patriarchalen Blick verborgen? 237 <?page no="239"?> Weise viel moderner und fortschrittlicher als die Bestsellerautorinnen der Gegenwart. Laura aus 365 Tage bleibt auf Linie. Sie verfügt über genau die erwartete Sexyness, Emotionalität, Karriere und Träume, wie es von einer spätmodernen Frau erwartet wird, Božena aber passiert etwas Unerhörtes, Unerwartetes, etwas, was eigentlich nicht sein darf. Ebner-Eschenbach zeichnet ihre Božena mit schielendem Blick. Trotz des (gesellschaftlich überbewerteten) Verlustes der Jungfräulichkeit, der die Unschuld nimmt, bleibt sie rein. Frau Doktor Wenzels und Herr Doktor Wenzels Blick auf den Ehrverlust unterscheiden sich, verdeutlicht der Text. Was er, so glaubt zumindest seine Frau, nur als Schande sieht, rührt sie zu Tränen. Der Text eröffnet uns Božena als unangefochtene Heldin - und weder Männer noch misogyne Frauen können die moralische Größe der Magd verkleinern. Eine gynozentrische oder auch nur gendersensible Leseweise macht offenkundig, dass wir es in diesem Text nicht mit vorherrschenden Modi der Weiblichkeit zu tun haben, sondern dass Weiblichkeit im Text feministisch uminterpretiert wird - was ihn, in Showalters Worten gesprochen, womöglich schon als wahrhaft weiblich (female) erscheinen lässt. 238 9 Schlusswort: „Frauenliteratur“ und ein feministischer Blick auf ihr Potential? <?page no="240"?> Literaturverzeichnis Primärliteratur Anhalt-Dessau, Louise von: Die originalen Tagebücher der Fürstin Louise Henriette Wilhelmine von Anhalt-Dessau. Auszüge aus den Jahren 1795 bis 1811. Hrsg. von der Kulturstiftung Dessau Wörlitz. Halle 2010. Aschenbach, Cornelia: Nachtwanderung. München 2022. Attenberg, Jami: Ist alles deins. Aus dem Amerikanischen von Barbara Christ. Frankfurt am Main 2021 [Original: All This Could Be Yours, 2019]. Baum, Vicki: Cahuchu. Strom der Tränen. Köln 1952 [Original: The Weeping Wood, 1943]. Baum, Vicki: Stud. chem. 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Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen- Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ schaft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissen- Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen schaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft BUCHTIPP Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de Katja Kauer Queer lesen Anleitung zu Lektüren jenseits eines normierten Textverständnisses 1. Au age 2019, 204 Seiten €[D] 26,99 ISBN 978-3-8233-8282-9 eISBN 978-3-8233-9282-8 ist eine Methode, die die Konstruktionen des Geschlechts und des Begehrens lesbar macht. Eine queere Lektüre öffnet etwa den Blick dafür, wie ‚Heterosexualität‘ als postulierte soziale Norm in Texten stetig untergraben wird, und ermöglicht die Entdeckung homoerotischer oder homosexueller Subtexte. Ziel ist allerdings nicht, im Gegenzug andere Identitäten zur Norm zu erklären oder Autor*innen und Figuren Prädikate wie ‚homosexuell‘ oder ‚transsexuell‘ zuzuschreiben. Vielmehr ein ‚anderes Begehren‘ offen, das nicht den Äußerungen der Figuren und unseren Erwartungen entspricht. Es erweitert so unseren Horizont und bedeutet damit eine Bereicherung jeder literaturwissenschaftlichen Arbeit. Das Studienbuch verdeutlicht anhand von Lektüren ganz unterschiedlicher gelesen werden kann, und will seine Leser*innen ermutigen, sich Leitlinien zu erarbeiten, mit denen lesen können. Das Buch leistet neben der Methodendiskussion auch einen Beitrag zur Erforschung kanonisierter Autor*innen und Werke aus neuer Perspektive. Kauer Queer lesen Queer lesen Anleitung zu Lektüren jenseits eines normierten Textverständnisses Katja Kauer 27.08.2019 08: 39: 18 Queer Reading ist eine Methode, die die Konstruktionen des Geschlechts und des Begehrens lesbar macht. Eine queere Lektüre öffnet etwa den Blick dafür, wie ‚Heterosexualität‘ als postulierte soziale Norm in Texten stetig untergraben wird, und ermöglicht die Entdeckung homoerotischer oder homosexueller Subtexte. Ziel ist allerdings nicht, im Gegenzug andere Identitäten zur Norm zu erklären oder Autor: innen und Figuren Prädikate wie ‚homosexuell‘ oder ‚transsexuell‘ zuzuschreiben. Vielmehr legt Queer Reading ein ‚anderes Begehren‘ offen, das nicht den Äußerungen der Figuren und unseren Erwartungen entspricht. Es erweitert so unseren Horizont und bedeutet damit eine Bereicherung jeder literaturwissenschaftlichen Arbeit. Das Studienbuch verdeutlicht anhand von Lektüren ganz unterschiedlicher Prosa, wie ein Text queer gelesen werden kann, und will seine Leser: innen ermutigen, sich Leitlinien zu erarbeiten, mit denen sie Texte selbst queer lesen können. Das Buch leistet neben der Methodendiskussion auch einen Beitrag zur Erforschung kanonisierter Autor: innen und Werke aus neuer Perspektive. <?page no="249"?> ISBN 978-3-8233-8570-7 Literatur, nicht nur die klassische, sondern sehr augenscheinlich auch die der Gegenwart, zeichnet ein buntes Bild von Geschlecht, das mit den herkömmlichen, patriarchalisch geprägten ‚Lektürebrillen‘ nicht richtig erfasst werden kann. Obwohl die Gender Studies im akademischen Diskurs inzwischen eine wichtige Rolle spielen, hinkt eine praktisch orientierte Genderanalyse dem theoretischen Diskurs hinterher. Dieses Studienbuch zeigt anschaulich, wie hilfreich Gender Studies für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit einzelnen Texten sein können, und nimmt Fragen in den Blick, die die Literatur in Bezug auf geschlechtlich basierte Anerkennungsprozesse stellt. Im Zentrum stehen praktische Lektüretools, die an konkreten gegenwartskulturellen Textbeispielen vorgestellt werden. Sie machen Bedeutungsebenen der Texte sichtbar, die sonst verborgen bleiben, und helfen, scheinbare Aporien und Widersprüche in der Figurierung zu erklären. Das Buch ist die erste Monografie im germanistischen Bereich, die diese Art von Lektüretools entwickelt.
