eBooks

Orientierungsversuche in Giacomo Leopardis Canti

Grenzgänge ans Nichts

1113
2023
978-3-8233-9589-8
978-3-8233-8589-9
Gunter Narr Verlag 
Annika Gerigk
10.24053/9783823395898

Das Nichts stellt eine Konstante in Leopardis Werk dar, deren Darstellung bei Weitem nicht auf die bloße Nennung des ,nulla' beschränkt ist. Es erweist sich als polyvalente Denkfigur, die unter anderem auf Mangel, Abwesenheit, Wertlosigkeit, Zersetzung und Vergehen verweist. Durch eine genaue Betrachtung der unterschiedlichen Nichts-Konzeptionen wird eine gleitende Semantik sichtbar, die im ganzen Werk dynamisch bleibt. Diese entsteht durch die wiederholte Parallelisierung von gegensätzlichen Begrifflichkeiten wie ,Vernunft und Natur', ,Antike und Moderne', ,Dichtung und Philosophie', ,Materie und Geist', ,Leben und Tod', ,Inneres und Äußeres', etc. Dies ist aber nicht die einzige Funktion, die das Nichts in Leopardis Gedankenbewegungen einnimmt: Das Nichts entpuppt sich vielerorts als Orientierungspunkt.

<?page no="0"?> Annika Gerigk Orientierungsversuche in Giacomo Leopardis Canti Grenzgänge ans Nichts <?page no="1"?> Orientierungsversuche in Giacomo Leopardis Canti <?page no="2"?> Leopardi. Studien und Texte Herausgegeben von Barbara Kuhn (Eichstätt-Ingolstadt) 1 <?page no="3"?> Annika Gerigk Orientierungsversuche in Giacomo Leopardis Canti Grenzgänge ans Nichts <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823395898 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2942-0377 ISBN 978-3-8233-8589-9 (Print) ISBN 978-3-8233-9589-8 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0467-8 (ePub) Umschlagabbildung: Ancient Rome; Agrippina Landing with the Ashes of Germanicus, exhibited 1839, Joseph Mallord William Turner. Tate, Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856. Photo: © Tate Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 1 7 2 9 3 15 4 29 4.1 33 4.2 45 4.3 54 4.4 56 4.5 62 4.5.1 63 4.5.2 66 4.5.3 68 4.6 70 5 73 5.1 74 5.1.1 77 5.1.2 80 5.1.3 83 5.1.4 85 5.1.5 89 5.1.6 94 5.1.7 105 5.2 108 5.2.1 109 5.2.2 115 5.2.3 128 Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zugänge zu einem unübersichtlichen Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts . . . . . . . . . . . . Leopardis Grenzgänge ans Nichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gleitende Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Fremde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbildlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gleitende Semantik am Beispiel von L’infinito . . . . . . . . . . . . . Eine metaleptische Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine metaphorische Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine psychoanalytische Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschließende Gedanken zu L’infinito . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haltung - Der Einzelne und das Ganze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bruto minore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichtsphilosophie bei Vico, Montesquieu und Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leopardis absolute Monarchie: „Un principe quasi perfetto“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poetisierung des Idealen: die Rede auf die Republik . . . Das Ende der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die leere Illusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethos - logos - pathos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leopardis Heldenkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Palinodia al Marchese Gino Capponi . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fanciullo invitto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine poetische Ordnung der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesellschaftskritik und die teoria del piacere . . . . . . . . . <?page no="6"?> 6 141 6.1 141 6.2 146 6.3 150 6.4 156 7 165 7.1 169 7.2 180 7.3 184 7.4 189 8 195 8.1 196 8.2 207 8.3 210 8.4 215 8.5 219 8.6 222 9 225 10 231 11 237 Gescheiterte Gespräche und der ewige Mangel an Illusionen . . . . . . . . . Der Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie . . . . . . . . . Einschlafen und Sterben - ein gradueller Prozess . . . . . . . . . . Die Canzone Alla sua donna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Canto notturno di un pastore errante dell’Asia . . . . . . . . . . Das Nichts in der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Poesie der Affekte: Ultimo canto di Saffo . . . . . . . . . . . . . Das Flimmern des Nichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstverlust durch Illusionsverlust? - A se stesso . . . . . . . . . . Der Aspasia-Zyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Abbruch einer gleitenden Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . La ginestra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Nichts als Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Il tramonto della luna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Mond und der Wind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die vage Personalität im Gedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwirrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Riassunto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 1 Danksagung Entstanden ist die vorliegende Arbeit als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Meinem Dok‐ torvater Prof. Dr. Paul Geyer danke ich sehr herzlich für die Betreuung der Arbeit, die zahlreichen Gespräche zu dem Thema und die langjährige Unter‐ stützung, die ich als Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl erfahren habe. Ich danke überdies meiner Zweitbetreuerin Prof. Dr. Frédérique Dubard, dem Vorsitzenden meiner Prüfungskommission Prof. Dr. Michael Bernsen und Prof. Dr. Irene Gambacorti. Besonders verbunden bin ich Prof. Dr. Barbara Kuhn, die mich in meiner Forschung unterstützt hat und mir die Publikation in dieser Reihe ermöglicht hat. Ich danke Prof. Dr. Blamberger und Dr. Martin Russel für die Zeit am Internationalen Kolleg Morphomata und die zahlreichen anregenden Gespräche, die ich dort führen konnte. Ein großer Dank geht an meine Freundinnen und Kolleginnen, Martina Nappi, Dr. Cora Rok, Alina Lohkemper, Chiara Guerri, Julia Weber, Dr. Mariana Münning, Jenny Seifried, Dr. Ines Barner, Marta Dopieralski und Dr. Tanja Klemm, für Anregungen, Korrekturen und Beistand. Meiner Mutter, die mich stets unterstützt hat, danke ich ebenfalls von Herzen; ebenso meinen Schwiegereltern, die mir jederzeit ideale Schaffensbedingungen in ihrem Haus geboten haben. Zu guter Letzt möchte ich Matthias Schneider für seine Geduld, die Korrek‐ turen und die vielen Gespräche zum Thema dieser Arbeit danken. Ihm soll das Buch gewidmet sein. <?page no="9"?> 1 Vgl. Antonio Prete: La poesia del vivente. Leopardi con noi, Torino: Bollati Boringhieri 2019, S.-175-179; Frank Wanning: „Die Verführung durch das Nichts - Negativität und Zeiterfahrung in Leopardis Canti“, in: Romanistisches Jahrbuch 40 (1989), S.-64-67. 2 Rainer Stillers: „Der ‚canto‘ in den Canti. Beobachtungen zu einem poetologischen Motiv“, in: Italienisch. Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur 40 (1998), S.-59. 3 Zib. 85. Primärtexte werden im Folgenden übersetzt. An dieser Stelle wurde absichtlich auf eine Übersetzung des Zitats verzichtet. Mehrere Interpretationsansätze finden sich im Kapitel 4.5. Im Folgenden werden Leopardis Schriften nach den Ausgaben, die in der Reihe Le opere di Giacomo Leopardi nei Meridiani erschienen sind, zitiert. Dies erfolgt für die poetischen und prosaischen Texte unter Angabe des Bandes, der Seite und ggfs. des Verses. Der Zibaldone wird unter Nennung der Originalpaginierung zitiert und von mir selbst übersetzt. Auch die Übersetzungen der Briefe stammen von mir. Übersetzung der Canti in Anlehnung an Helmut Endrulat, Giacomo Leopardi: Canti e Frammenti / Gesänge und Fragmente, Stuttgart: Reclam 1990. Übersetzung der Operette Morali von Burkhart Kroeber, Giacomo Leopardi: Opuscula moralia oder Vom Lernen, über unsere Leiden zu lachen (Operette morali), Berlin: Aufbau Verlag 2017. 2 Einleitung Leopardis Rolle in der Literaturgeschichte scheint klar umrissen zu sein: als Pessimist, der sich bis zu seinem Lebensende beständig radikalisierte, als Poet des Weltschmerzes und als begnadeter Stilist. Und dennoch können die großen Erklärungsmuster, die sich innerhalb der letzten Jahrzehnte zur kanonisierten Deutung 1 entwickelt haben, die Wirkung, die von Leopardis Werk ausgeht, nicht erklären. Leopardis Dichtung beinhaltet einen Widerspruch, den die Kunst gut kennt: Während Sprache die Fähigkeit zur Negation besitzt, zeigen und verweisen Bilder auf etwas und affirmieren es dadurch. Dieses Phänomen betrifft auch die menschliche Imagination: „Eine sprachliche Vorstellung kann sprachlich verneint werden, als Vorstellung ist sie aber unvermindert präsent; von der Verneinung bleibt das Bildhafte unberührt.“ 2 In diesem Zusammenhang müsste auch die Formgebung der Gedichte diskutiert werden, die in Leopardis Canti eine ständige Veränderung durchläuft. Das ‚Nichts‘ kann nicht mehr aus Leopardis Werk verdrängt werden. So ist beispielsweise die Nichtigkeit der menschlichen Existenz, „tutto è nulla“ 3 , ein konstantes Thema in Leopardis Werk, ebenso wie die mangelnde Bereitschaft der Gesellschaft, diese zu akzeptieren. Leopardis Negativität erweckte Kritik bei seinen Zeitgenossen: zu schwer, zu hoffnungslos, zu fortschrittskritisch. Die Behauptung, dass alle Menschen zwangsläufig und ausweglos unglücklich sind, möchte nicht jeder auf sich sitzen lassen. Der Dichter wiederum fühlte sich und seine Philosophie missverstanden. Er erwartete zwar von seinen <?page no="10"?> 4 Luigi Capitano: Leopardi. L’alba del nichilismo, Napoli: Orthotes 2016. 5 In der Psychologie existiert die Hypothese, dass Menschen einen sogenannten Negati‐ vitätsbias besitzen. Dieser manifestiert sich laut Rozin und Royzman in vier Formen: „(a) negative potency (negative entities are stronger than the equivalent positive entities), (b) steeper negative gradients (the negativity of negative events grows more rapidly with approach to them in space or time than does the positivity of positive events, (c) negativity dominance (combinations of negative and positive entities yield evaluations that are more negative than the algebraic sum of individual subjective valences would predict), and (d) negative differentiation (negative entities are more varied, yield more complex conceptual representations, and engage a wider response repertoire).“ Paul Rozin / Edward B. Royzman: „Negativity Bias, Negativity Dominance, and Contagion“, in: Personality and Social Psychology Review, Vol. 5.4 (2001), S.-296. 6 Milan Herold und Barbara Kuhn zeigen in ihrem Sammelband Lebenskunst nach Leopardi. Anti-pessimistische Strategien im Werk Giacomo Leopardis, Strategien zur Bewältigung der Negativität und Leopardis memento vivere, das auch in der Spätphase noch präsent ist. Zeitgenossen, dass sie den Blick auf das ‚Nichts‘ richten, da es sich nicht mehr aus dem Bewusstsein streichen lässt, aber nicht, um ein Leben im ‚Nichts‘ zu führen, sondern um eben diesem zu entgehen. Eine weitere Analyse der Denk‐ figur des ‚Nichts‘ im Pessimismus oder Nihilismus könnte kaum noch einen nennenswerten Beitrag zur Leopardi-Forschung beitragen. Luigi Capitano legte 2016 eine beeindruckende Arbeit zum Nihilismus bei Leopardi vor. 4 Stattdessen soll Leopardis ‚Nichts‘ in seinem poetischen Kontext erfasst werden, ohne die zahlreichen Gegenimpulse und Widersprüche in ein negatives Gesamtbild zu synthetisieren. Ebenso wenig soll dabei aber der negative Gehalt seiner Lyrik verkehrt oder verdeckt werden. Die Sekundärliteratur weist ein beachtliches Spektrum an Deutungen auf, die entweder die Negativität betonen beziehungsweise überbetonen oder die sich an dem negativen Gehalt von Leopardis Dichtung reiben. Aufgrund des Negativi‐ tätsbias, 5 einer kognitiven Verzerrung bezüglich der Wahrnehmung und Verar‐ beitung von Negativität, gestaltet es sich schwierig, einen neutralen Umgang mit Negativität zu finden. Dieser Bias kann sowohl Leopardi als auch dem Umgang mit seinem Werk innerhalb der Forschung zugeschrieben werden. Leopardis Werk besitzt zwar ein immenses negatives Potential, das über Jahrzehnte von der Kritik offengelegt wurde - dieses soll auch nicht abgestritten werden -, die gegenläufigen Elemente können jedoch nicht auf ihren ästhetischen Wert reduziert werden. 6 Eine derartige Interpretation würde alle poetologischen Studien des Autors negieren. Ziel dieser Arbeit ist es, ein nuanciertes Bild von Leopardis ‚Nichts‘ in der Lyrik herauszukristallisieren und seine Relation zu positiven Impulsen zu analysieren. Eine solche Betrachtung des Werks ist nicht kompatibel mit der geläufigen Einteilung in Pessimismus-Phasen, da diese von 10 2 Einleitung <?page no="11"?> 7 Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit verallgemeinernd das gene‐ rische Maskulinum verwendet. Diese Formulierungen umfassen ausdrücklich alle Ge‐ schlechteridentitäten; alle sind damit selbstverständlich gleichberechtigt angesprochen. 8 Antonio Prete: La poesia del vivente, S.-174. 9 Barbara Kuhn / Michael Schwarze: „Von Erde, Mond und anderen Bildern. Einleitende Überlegungen zur Frage von Bild, Bildlichkeit und Einbildungskraft im Werk Giacomo Leopardis“, in: dies.: Leopardis Bilder. Immagini e immaginazione oder: Reflexionen von Bild und Bildlichkeit, Tübingen: Narr 2019, S.-7. einer beständigen Ausdehnung und Radikalisierung von Leopardis Pessimismus ausgeht. Seine Lyrik muss, ebenso wie sein Zibaldone, als rhizomatische Struktur gelesen werden, die sich einer eindeutigen Interpretation entzieht. In Leopardis Werk finden Orientierungen statt, in denen der Dichter Grenzen erprobt und all jene, die seine Dichtung lesen, auf die Probe stellt. Ein poe‐ tisches Werk, in dem das Undefinierte auf die Spitze getrieben wird und Aussagen bisweilen ins Gegenteil verkehrt werden, führt beim Leser 7 schnell zum Orientierungsverlust. In endlosen Variationen erkundet Leopardi durch Parallelismen, Analogien und Chiasmen Fragen zur Existenz. Dabei können dominante Gedankenbewegungen ausgemacht werden, die von der Forschung in Form von unterschiedlichen Phasen und Arten des Pessimismus kategorisiert wurden. Während durch dieses Raster die Lektüre von der Orientierungsarbeit befreit werden kann, gehen dadurch jedoch zentrale Eigenschaften der Leopar‐ dischen Poetik verloren; es wird vereindeutigt, was nicht sofort eindeutig sein soll und auch gar nicht eindeutig ist. „[I]l testo, così com’era, libero dalle interpretazioni sopravvenute e dalle formule critiche, era una fonte ricchissima di suggerimenti e di provocazioni, soprattutto era una messa in questione di un orizzonte culturale prestabilito e convenzionale.“ 8 Die vielen Widersprüche, die in einer genauen Lektüre offensichtlich werden, sind Teil des literarischen Pro‐ gramms - eine teils „tentativ-repetitive Denk- und Schreibweise“ 9 , die keinen Anspruch auf Abgeschlossenheit erhebt. Der Zibaldone wird nicht als prosai‐ sche Übersetzung oder Vorform der Lyrik verwendet, sondern als Paratext, mit Hauptaugenmerk auf die Bilder, die Leopardi verwendet. Leopardis Werk enthält Leerstellen, die über den Zibaldone gefüllt werden können, die im Text jedoch durch andere Techniken evoziert werden, wie etwa die antikisierende Sprache im Bruto minore. Dabei ist es durchaus möglich, dass der prosaische und der poetische Text in der Conclusio divergieren. Die Grundannahme dieser Arbeit ist, dass Leopardi in der Konstruktion seiner Gedichte die Beschaffenheit des Daseins, vor allem aber die Seins-Struktur der Illusion, unter negativem Vorzeichen erforscht. Dabei wird der komplexe Mittelweg deutlich, der ohne autoritäre, feststehende oder objektiv richtige Wahrheiten auszukommen sucht: der Versuch, ohne Selbstbetrug oder die 2 Einleitung 11 <?page no="12"?> 10 Leopardi selbst verwendet den Begriff ‚Skeptizismus‘, vgl. Zib. 1655. Schulz-Buschhaus bietet bezüglich der Gesellschaftskritik die Bezeichnung ‚Revolutionsagnostiker‘ an, siehe: Ulrich Schulz-Buschhaus: „Ironie und Pathos in Leopardis Palinodia“, in: Italie‐ nisch 40 (1998), S.-43. 11 Terry Eagleton: Materialismus. Die Welt erfassen und verändern, Wien: Promedia 2018, S.-106. 12 Vgl. Richard Rorty: Consequences of Pragmatism, Brighton: Harvester Press 1982, S. 93. Verneinung von menschlichen Bedürfnissen ein glückliches Leben unter un‐ glücklichen Bedingungen zu führen - ein unmögliches Projekt, das der Sache nach keinen Abschluss finden kann. Vielmehr handelt es sich um ein zielloses Verfahren, das aus wiederholter Konstruktion und Dekonstruktion sowie auch Enthüllung und Verhüllung besteht. Um das pessimistische Framing zu verlassen, wird dieser Begriff in der Arbeit, mit Ausnahme des Überblickskapitels (Kapitel 3), vermieden. Der Begriff Skepsis 10 beschreibt Leopardis Weltsicht besser. Ohne den starken Bezug zur Dichtung könnte man Leopardi in Anlehnung an Eagleton wohl auch neben Kierkegaard, Marx, Nietzsche, Freud und Wittgenstein in die Reihe der Antiphi‐ losophen stellen: Überzeugt davon, dass die Vernunft nicht zum Ursprung reicht, vertiefen sich die Antiphilosophen in eine ursprünglichere Wirklichkeit: Macht, Begehren, Differenz, Physiologie, Emotion, gelebte Erfahrung, religiöser Glaube, materielle Interessen, das Leben der gewöhnlichen Menschen und so weiter. 11 Antiphilosophen praktizieren deshalb eine andere Form des Schreibens, in der sich die Grenze zwischen Literatur und Philosophie aufhebt, einen Schreibstil, der „geschriebener“, literarischer, bisweilen poetischer, aber auch unprofessio‐ neller ist. 12 In poetologischen Notizen zeigt sich, wie stark Leopardis Stilsuche mit einer inhaltlichen Seite verknüpft ist. In dieser Arbeit wird Leopardis ‚Nichts‘ in den literarischen Formen untersucht, in denen es verwendet wird, und wie es dort die Denkbewegungen steuert. In Leopardis Werk finden sich zahlreiche Gegensätze, beispielsweise ‚Natur und Vernunft‘ oder ‚Antike und Moderne‘, die beständig in Beziehung zuein‐ ander gesetzt werden. Dadurch entsteht eine gleitende Semantik, die bei der wiederholten Lektüre vom Leser gelernt wird (Kapitel 4). Um die gleitende Semantik genauer betrachten zu können, lohnt sich ein Blick auf Leopardis ‚nulla‘ bzw. ‚niente‘. Dabei wird schnell ersichtlich, dass es sich hier, wie auch bei allen anderen wiederkehrenden Begriffen, um eine polyvalente Denkfigur handelt. In der Illusion zeigt es sich beispielsweise als seiendes Nichtseiendes bzw. als nichtseiendes Seiendes und wird dadurch zum Substanzproblem. In 12 2 Einleitung <?page no="13"?> jungen Jahren verwendet Leopardi ‚das Nichts‘ noch als Oxymoron für eine so‐ lide Substanz, die das Gefühl der absoluten Kontingenz umschreibt, der sich das Subjekt nicht entziehen kann. Dann wiederum ist ‚das Nichts‘ das Ergebnis von Dekonstruktion. Die wissenschaftliche Analyse, die eigentlich einen Zugewinn an Informationen darstellen soll, geht mit einer Zersetzung einher, welche die Erkenntnis ins Nichts ausufern lässt. Durch die Vernunft wurde die Kontingenz des Daseins überhaupt erst enthüllt und kann nun nicht mehr verdeckt werden. An anderer Stelle verweist ‚das Nichts‘ auf Abwesenheit oder Mangel. Diese unterschiedlichen Nichts-Begriffe werden in ihrer Auswirkung auf Leopardis Gedankenprogramme untersucht. Dabei wird ein Zusammenspiel aus negativen und positiven Impressionen sichtbar. ‚Das Nichts‘ dient der Orientierung in dieser Struktur, und da der Orientierungsprozess nie endet, sind die Gehalte nicht fixiert und können jederzeit dem Geltungsraum des ‚Nichts‘ zugeordnet oder wieder entzogen werden. Eine Eigendynamik entwickelt ‚das Nichts‘ in der Lyrik auch dadurch, dass die Bildsprache eine gewisse Autonomie besitzt. Vor allem der Widerstreit zwischen Imagination und Ratio wird nicht nur besprochen, sondern auch insze‐ niert. Wenn in Leopardis Gedichten argumentative und bildliche Darstellungen aufeinandertreffen, bleibt die bildliche Dimension von einer Negation des Argu‐ ments unangetastet. Die imaginative Dimension nimmt insofern eine autonome Rolle im Werk ein. In poetologischen Notizen zeigt sich, wie stark Leopardis Stilsuche mit einer inhaltlichen Seite verknüpft ist. Als bekanntestes Phänomen ist hier wohl das indefinito zu nennen. Leopardi greift zwar wiederholt die ihm so wichtige Illusion und ihre nichtige Seite an; das indefinito, das als Versuch der Verbildlichung der Illusion zu verstehen ist, besteht aber fort. Auch Leopardis bildliche Ebene ist kompliziert und selbst nicht vom Nichts unberührt, da sich die Mehrdeutigkeit hier ebenfalls abbildet. Leopardis Bildspender werden beständig verformt und weiterentwickelt. Das Kind, das häufig analog zur Natur oder zu Gott gedacht wird, oszilliert zwischen Beobachtungsobjekt und Aktant. Einerseits versinnbildlicht es Naivität, Natürlichkeit und ist für den Dichter von größter Bedeutung, da es mit seinen imaginativen Fähigkeiten, die es aus Illusionen schöpft, auf eine verlorene Form der Literatur verweist. Um wiederum das Schicksal der Menschheit zu verbildlichen, werden andererseits seine grausamen Qualitäten, die im Spiel beobachtet werden können, in den Vordergrund gerückt. Die komplexe Struktur, die sich aus diesen Analogien und den Polyvalenzen der einzelnen Begriffe entwickelt, kann entsprechend erwei‐ tert werden: Der Kontrast der Antike und der Moderne fügt eine historische Komponente hinzu, das ‚Ideale‘ und das ‚Reale‘ eine normative etc. Aus diesen Gebilden setzt sich die rhizomatische Struktur von Leopardis Werk zusammen. 2 Einleitung 13 <?page no="14"?> Da in diesem komplexen Gefüge nicht jeder Text analysiert werden kann, werden exemplarische Texte ausgewählt, die ‚das Nichts‘ in besonderer Hinsicht verarbeiten. Ein erster Zugang zur gleitenden Semantik und ihrer Orientierung am ‚Nichts‘ erfolgt über das Gedicht L’infinito (Kapitel 4.5). Anschließend werden Gedichte im Rahmen typischer Themen des Autors analysiert. In Kapitel 5 werden Gedichte betrachtet, welche die Möglichkeiten einer tugend‐ haften Haltung des modernen Subjekts erörtern. Während im Bruto minore die Auseinandersetzung mit der Gegenwart des Poeten über eine literarische Rekonstruktion der Vergangenheit erfolgt, wird in dem satirischen Gedicht Palinodia al Marchese Gino Capponi die Gegenwart direkt ins Visier genommen. Beide Gedichte thematisieren die kollektive Entscheidung einer Gesellschaft, sich auf ihren reinen Verstand zu verlassen und ihre kreativen Fähigkeiten auf‐ zugeben. Die Sicherheit, die in formalen Gleichungen, Statistiken, Logiksätzen etc. gesucht wird, ist in Leopardis Weltsicht ein ebensolches Trugbild wie die geliebten Illusionen (Tugend, Patriotismus, Liebe etc.) und dadurch auch dem Verfall ausgesetzt. In Kapitel 6 werden die Gegenüberstellungen in ihrer Verbildlichung als gescheiterte Gespräche betrachtet. Im Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie wird der Gegensatz von Leben und Tod betrachtet. In der Verarbeitung des Themas orientiert sich Leopardi am antiken Drama, in dem das Verhältnis des Chors zum Schauspieler auf der Bühne die Beschaffenheit der Welt verkörpert. Alla sua donna verdeutlicht die Nicht-Sichtbarkeit eines idealeren Seins. Im Canto notturno di un pastore errante dell’Asia antwortet der stille Mond nicht auf die Fragen des Hirten. Im Ultimo canto di Saffo und auch in einigen Gedichten des Aspasia-Zyklus (Kapitel 7) steht die Welt im Widerstreit mit dem Inneren des Subjekts. In diesen Gedichten bleibt offen, ob es sich um eine Externalisierung der Gefühle handelt oder um eine feindliche, deprivierende Natur, die das Innere einem Mangel unterzieht. An La ginestra und Il tramonto della luna können abschließende Gedanken zur gleitenden Semantik und zur Polyvalenz des ‚Nichts‘ erörtert werden (Kapitel 8). Zur Analyse werden Passagen aus dem Zibaldone herangezogen, um Leo‐ pardis poetisches und philosophisches Verständnis zu erläutern. Die Lyrik soll dabei jedoch auf ihren eigenen Aussagewert untersucht werden, denn nimmt man das Vorhaben des Dichters ernst, dann existiert neben der philosophischen Erkenntnis auch eine poetische Erkenntnis, die auf Imagination basiert. 14 2 Einleitung <?page no="15"?> 13 Hier wird nur das 2-Phasen-Modell, bestehend aus pessimismo storico und cosmolo‐ gico, erläutert. Das 3-Phasen-Modell geht vor dem pessimismo storico zusätzlich von einem pessimismo personale aus, auch pessimismo soggetivo, individuale oder psicologico genannt. Das 4-Phasen-Modell schließt nach dem pessimismo cosmologico noch den pessimismo eroico an. 14 Zur Genese siehe: Antonio Prete: La poesia del vivente. Leopardi con noi, Torino: Bollati Boringhieri 2019, S.-175-179. 15 Vgl. Frank Wanning: „Die Verführung durch das Nichts. Negativität und Zeiterfahrung in Leopardis Canti“, in: Italienisch 40 (1998), S.-65-66. 16 Vgl. Bruno Biral: La posizione storica di Giacomo Leopardi, Turin: Einaudi 1974, S.-36. 17 Vgl. Giuseppe Invernizzi: „Leopardi, Schopenhauer e il pessimismo europeo“, in: Italienisch 40 (1998), S.-20. 18 Siehe Kapitel 4 zum Problem der Polyvalenz der Natur bei Leopardi. 19 Siehe hierzu: Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp 2019. 20 Zib. 520-522. 3 Zugänge zu einem unübersichtlichen Werk Die Forschung hat über Jahrzehnte hinweg, in dem Versuch Leopardis Lyrik näher zu kommen, sein Werk anhand von zwei (bzw. drei oder vier) Pessi‐ mismus-Phasen 13 eingeteilt. Für diese Einteilung werden hauptsächlich die Verhältnisse ‚Natur und Mensch‘ sowie ‚Natur und Vernunft‘ erörtert. Der Forschungsstand diesbezüglich ist weitestgehend kanonisiert. 14 Dabei geht man davon aus, dass für Leopardis Werk eine beständige Entwicklung hin zu einem intensiveren Pessimismus charakteristisch ist. Wanning fasst diesen Zugang zum Werk unter dem Begriff ‚Entwicklungshypothese‘ zusammen. 15 Die erste Phase wird als pessimismo storico bzw. pessimismo antropologico bezeichnet. In dem Verhältnis Natur und Mensch dominiert eine natura madre. 16 Das Unglück der Menschheit basiert laut Leopardi auf einer zunehmenden Rationalisierung, die den Menschen von der Natur entfremdet: Ein historischer Fehler, der in den Überlegungen teilweise mit dem Sündenfall korreliert. 17 Aus einigen Passagen kann ein finalistischer Weltentwurf gelesen werden, in dem die Natur die Stelle von Gott einnimmt. 18 Klar ist in dieser Phase jedoch, dass der Mensch seinen unglücklichen Zustand nicht aufheben kann, ohne wieder in ein Resonanzverhältnis 19 zur Natur zu treten. Offen bleibt, wie dies zu bewerkstelligen ist, da der Mensch durch die Vernunft handlungsohnmächtig geworden ist. Die mezza filosofia, 20 die Leopardi im Zibaldone ausführt, kann für einen kurzen Zeitraum den Menschen zur Aktion bewegen. Canzonen wie All’Italia, Ad Angelo Mai und Nelle nozze di Paolina handeln von einer <?page no="16"?> 21 Bruno Biral: La posizione storica di Giacomo Leopardi, S.-33. 22 Zu Rousseaus Einfluss auf Leopardi siehe: Susanne Koopmann: Studien zur verborgenen Präsenz Rousseaus im Werk Giacomo Leopardis, Tübingen: Stauffenburg 1998. 23 Sebastiano Timpanaro: Classicismo e illuminismo nell’ ottocento italiano. Testo critico con aggiunta di saggi e annotazioni autografe, a cura di Corrado Pestelli, Firenze: Le Lettere 2011, S.-380-381. 24 Franca Janowski: Einführung zur deutschen Übersetzung des Discorso di un italiano intorno alla poesia romantica, Tübingen: Narr 1991, S.-13-14. 25 Vgl. ebd. S. 12. Von Biral existiert eine ganze Publikation zu diesem Jahr: Bruno Biral: La crisi leopardiana dell’anno 1821, Venezia: Stamperia di Venezia 1966. 26 Vgl. Walter Binni: La protesta di Leopardi, Florenz: Sansoni 1973, vor allem S.-85-96. 27 Bruno Biral: La posizione storica di Giacomo Leopardi, S.-38. 28 La ginestra o il fiore del deserto, V.125. 29 Palinodia al Marchese Gino Capponi, V.181. 30 Deshalb betrachten andere Forscher den Dialogo della Natura e di un Islandese (1824) als Übergang zur zweiten Phase: Vgl. Giuseppe Invernizzi: „Leopardi, Schopenhauer e il pessimismo europeo“, S.-21. Wiedererweckung des Patriotismus in Italien, der das Land wieder zu seiner verlorenen Größe zurückführen soll. Die ‚negative Realität‘, die Leopardi allen Überlegungen gegenüberstellt, zersetzt aber jede Bemühung um einen positiven Ausweg. Es gibt keine einfachen dauerhaften Lösungen. Der Wunsch nach einer ‚Rückkehr‘ in den Naturzustand bleibt eine unerfüllbare Sehnsucht. Mit dieser verknüpft Leopardi eine Gesellschaftskritik: „La natura leopardiana è l’antitesi della società contemporanea.“ 21 Als Einfluss wird in dieser Phase vor allem Rousseau genannt. 22 Demnach entsteht Leopardis anthropologische Theorie aus seinen philosophischen Studien. Timpanaro geht aber davon aus, dass Leopardi das Konzept einer heilsamen Natur hauptsächlich aus seinen Lektüren antiker Literatur entwickelt. 23 Für Janowski ist die erste Phase dadurch gekennzeichnet, dass mit konstantem Bezug zur Antike „elegische, idyllische, lyrische Momente sich zu meditativen und moral-patriotischen [sic! ] Themen gesellen“. 24 Leopardi selbst unterscheidet philosophische und poetische Erkenntnis, die sich häufig sogar diametral gegenüberstehen. Die Grenze zur nächsten Phase zieht Janowski 1821, 25 Binni erst nach 1823. 26 Die zweite Phase, der sogenannte pessimismo cosmologico, ist charakterisiert durch die Annahme einer grausamen Natur. Diese vernachlässigt ihre Schöp‐ fung und versagt ihr das Glück, nach dem sie sich sehnt. Das Leben wird jetzt als asymmetrischer Kampf gegen die Natur definiert, da die Natur keinem vor‐ gegebenen Plan folgt, der für die Menschen ersichtlich ist. 27 . Die Mutter Natur wird zur „matrigna“ 28 oder zur „empia madre“ 29 , was vor allem im Dialogo della Natura e di un Islandese deutlich wird. 30 Alle Lebewesen müssen permanent an der Unerfüllbarkeit ihrer Wünsche leiden. Der Mensch - mit seinem antisozialen 16 3 Zugänge zu einem unübersichtlichen Werk <?page no="17"?> 31 „[L]’uomo è per natura il più antisociale di tutti i viventi che per natura hanno qualche società fra loro“ (Zib. 3773) [Der Mensch ist von Natur aus das unsozialste aller Lebewesen, die von Natur aus eine gewisse Gesellschaft untereinander haben]. 32 Walter Binni: La protesta di Leopardi, S.-87. 33 Ebd. S.-85. 34 Zib. 4130. 35 Franca Janowski: Einführung zur deutschen Übersetzung des Discorso di un italiano intorno alla poesia romantica, S.-23. 36 Siehe hierzu und zur Anlehnung an das Pascalsche Motiv der grandes âmes Kapitel 8.1. 37 Vgl. Zib. 3171. 38 Vgl. Zib. 2711. 39 Siehe Kapitel 5.1.3. 40 Siehe Kapitel 8.1. Wesen 31 - ist auf einen „individualismo esasperato e doloroso che tocca quasi i limiti di un totale anarchismo“ 32 zurückgeworfen. Bei Binni vermischen sich hier die Begriffe pessimismo cosmologico und Nihilismus - „un nichilismo che investe la natura e giunge alle forme di un nichilismo esistenzialistico profondo e ricco di modernissime anticipazioni.“ 33 Leopardis Materialismus führt ihn zu einer Definition der Natur als Kreislauf: „[I]l fine della natura universale è la vita dell’universo, la quale consiste ugualmente in produzione, conservazione e distruzione dei suoi componenti“ 34 [Der Zweck der universellen Natur ist das Leben des Universums, das gleichermaßen aus Herstellung, Erhalt und Zerstörung seiner Komponenten besteht]. Diesem Zyklus unterliegt eben auch der Mensch, der ertragen muss, dass er nicht im Zentrum des Kosmos steht. Später hat Leopardi laut Janowski „[d]en optimistischen Fortschrittsgedanken [seiner Epoche …] mit immer bitterer Schärfe bekämpft und auf dem Boden einer materialistischen Weltauffassung einen Nihilismus des Verstandes entwickelt.“ 35 In dem Augenblick, in dem die Natur negativiert wird, errichtet er neue positive Gegenpole. Die Kunst rückt an die Stelle der Natur. Ebenso die Vernunft, die nicht mehr Schuld hat an dem Leiden der Menschheit und jetzt als möglicher Ausweg in Stellung gebracht werden kann. Durch die Vernunft als Teil des menschlichen Intellekts 36 erhält der Mensch die Fähigkeit, seine geringe Größe und seine Bedeutungslosigkeit im Universum zu erkennen. 37 Durch den Intellekt kann der Mensch dann idealerweise erkennen, dass er in seiner Evolution nur unnützes Wissen erlangt habe. Dann könne er versuchen, die Evolution rückab‐ zuwickeln. 38 Überlegungen zur Rückkehr in eine frühere Form des ‚Seins‘ ziehen sich durch das ganze Werk. Zu nennen sind hier vor allem: Der ‚Urzustand‘ bzw. ‚Vorbewusstseinszustand‘, die Römische Republik 39 oder eine kooperative Gesellschaft wie Leopardi sie in La ginestra beschreibt. 40 Als nächste Radikalisierung wird häufig die Abkehr vom Satz des Wider‐ spruchs - non potest idem simul esse et non esse  41 [etwas kann nicht zugleich 3 Zugänge zu einem unübersichtlichen Werk 17 <?page no="18"?> 41 Zib. 4099, 4129. 42 Zib. 59. sein und nicht sein] - genannt. Die Grundlage für diese Überlegungen ist erneut die conditio humana: Der Mensch ist für Leopardi ein Widerspruch in sich, da er durch seine Vernunftfähigkeit unglücklich ist, jedoch durch „la cura di preservare la propria esistenza“ 42 [den Selbsterhaltungstrieb], trotzdem fortbesteht. Non si può meglio spiegare l’orribile mistero delle cose e della esistenza universale […] che dicendo essere insufficienti ed anche falsi […] i principii stessi fondamentali della nostra ragione. Per esempio, quel principio, estirpato il quale cade ogni nostro discorso e ragionamento ed ogni nostra proposizione, e la facoltà istessa di poterne fare e concepire dei veri, dico quel principio Non può una cosa insieme essere e non essere, pare assolutamente falso quando si considerino le contraddizioni palpabili che sono in natura. L’essere effettivamente, e il non potere in alcun modo esser felice, e ciò per impotenza innata e inseparabile dall’esistenza, anzi pure il non poter non essere infelice, sono due verità tanto ben dimostrate e certe intorno all’uomo e ad ogni vivente, quanto possa esserlo verità alcuna secondo i nostri principii e la nostra esperienza. (Zib. 4099) [Man kann das schreckliche Mysterium der Dinge und der universellen Existenz nicht besser erklären, als zu sagen, dass die fundamentalen Prinzipien unserer Vernunft selbst unzureichend und auch falsch sind. Zum Beispiel jenes Prinzip, das, einmal beseitigt, jede Diskussion und jede Argumentation und jeden Satz beendet und die Fähigkeit selbst das Wahre begreifen und bilden zu können; ich sage, jenes Prinzip „Etwas kann nicht zugleich sein und nicht sein“ erscheint absolut falsch, wenn die spürbaren Gegensätze, die in der Natur bestehen, betrachtet werden. Tatsächlich zu sein und dennoch in keiner Weise glücklich sein zu können und aufgrund einer angeborenen Ohnmacht, die untrennbar mit der Existenz verbunden ist, vielmehr nicht in der Lage zu sein, nicht unglücklich zu sein, sind zwei Wahrheiten, die über den Menschen und jedes Lebewesen so gut bewiesen und gewiss sind, wie alle Wahrheiten nach unseren Prinzipien und Erfahrungen sein können.] Indem Leopardi grundlegende Prinzipien der Logik kritisiert, stellt er die allgemeine Erkenntnisfähigkeit des Menschen in Frage. Das gegenseitige Ver‐ ständnis innerhalb der Kommunikation ist nicht mehr gesichert, denn er selbst erkennt den Satz als Grundlage für alle Diskussionen und Argumentationen an (siehe Kapitel 6 und 8.6). Die Abkehr bringt Leopardi zwar in die Nähe eines 18 3 Zugänge zu einem unübersichtlichen Werk <?page no="19"?> 43 Einen Überblick zur politischen Rezeption Leopardis liefert Timpanaro: Sebastiano Timpanaro: „Antileopardiani e neomoderati nella sinistra italiana“, in: Belfagor 30 (1975), S.-129-156. 44 Cantico del gallo silvestre, Poesie e prose II, S.-227, Fußnote 65. 45 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg: Suhrkamp 2 1976. gefährlichen Relativismus, der jedoch durch die Eigenartigkeit von Leopardis Texten keinen Einfluss auf die politischen Bewegungen seiner Zeit hatte. 43 Um die unglückliche conditio humana, die alle Logik aushebelt, zu be‐ schreiben, verweist er auf den Dialogo della Natura e di un Islandese (1824), also auf einen fiktiven Dialog. Hier wird deutlich, warum auch eine Unterscheidung in einen literarischen und einen philosophischen Pessimismus problematisch ist, obwohl Leopardi selbst häufig Anlass dazu gibt, diese Unterscheidung zu treffen: „Questa è conclusione poetica, non filosofica“ 44 [Dies ist die philoso‐ phische Schlussfolgerung, nicht die literarische] - wobei derartige Aussagen nicht frei von Ironie sind. Obwohl einzelne Stücke oder Strophen in Gedichten zumeist einer Tendenz zugeordnet werden können, sind sie dennoch eindeutig literarisch. Die theoretischen Texte bedienen sich, wie in dem oben genannten Beispiel, an dem literarischen Korpus und erheben die Texte dadurch über den literarischen (fiktiven) Aussagewert: Sie erhalten den Anschein von Realität. Die philosophischen Texte weisen dadurch eine starke Hybridität auf. Der Widerspruch aus Philosophie und Dichtung deckt sich in Leopardis Theorien teilweise mit dem Widerspruch aus Ideal und Realität. Hinter dem Begriff ‚real‘ verbergen sich ein phänomenologisches Konzept und eine materialistische Weltauffassung; das heißt, der Begriff ist bei Leopardi eng verbunden mit der individuellen Erfahrung von Negativität und dem Paradigma, dass alles Materie ist. Hierzu zählt beispielsweise die Unmöglichkeit, eine glückliche Existenz zu führen. Im Zusammenspiel mit der Idee, die unter anderem die Illusion umfasst, wird die ‚reale‘ Welt beständig hinterfragt. Pessimismus wird häufig als Resultat von gesellschaftlichen Krisen gedeutet: Krieg, Autoritätsverlust der Kirche, Kontingenz, die kopernikanische Wende etc. In seiner Studie Kritik und Krise  45 zeigt Reinhart Koselleck, dass die Gesell‐ schaft seit Rousseau ein permanentes Krisenbewusstsein besitzt. Auch wenn diese Krisen sichtbar sind und sogar explizit benannt werden, ist die negative ‚Realität‘ in Leopardis Werk dennoch ein übersteigertes literarisches Konstrukt. Lange fand dies keine Beachtung, da Leopardis Biographie als Ursache für die Negativität in seinem Werk verstanden wurde, beziehungsweise immer noch zur Deutung herangezogen wird. Und auch in der Forschungsgeschichte des Pessimismus-Begriffs wird auf den negativen Filter verwiesen, den das 3 Zugänge zu einem unübersichtlichen Werk 19 <?page no="20"?> 46 Michael Pauen: Pessimismus. Geschichtsphilosophie, Metaphysik und Moderne von Nietz‐ sche bis Spengler. Berlin: Akademie Verlag 1997, S.-17. 47 Siehe Kapitel 5.2.3. 48 Lettere, A Louis de Sinner, 24. Mai 1832, S.-1006. 49 Dialogo di Tristano e di un amico, Poesie e Prose II, S.-213-214. Subjekt über die Welt legt. Pauen lehnt in seiner Studie zum Pessimismus einen Zusammenhang zwischen Pessimismus und Krisen ab. Stattdessen sieht er den Pessimismus als Denkalternative zum Idealismus und identifiziert zwei gängige Strömungen, die sich aber häufig überschneiden: Kurz zusammengefaßt ließe sich ‚Pessimismus‘ […] bestimmen als eine metaphysische oder kulturhistorische Deutung, die auf einem kosmologischen oder geschichtsphi‐ losophischen Hintergrund zu einer radikal negativen Bewertung des Bestehenden kommt. Dabei beruft sich die Bewertung zwar in der Regel auf die Perspektive des ein‐ zelnen Subjekts, die Theorie insgesamt erhebt aber den Anspruch, objektive Aussagen über die Wirklichkeit und den historischen Prozeß zu machen; der metaphysische Pessimismus glaubt gar, bis zu den ‚Prinzipien des Seins‘ vorgestoßen zu sein. 46 Auf den ersten Blick würde Leopardis teoria del piacere  47 reichen, die jedem Menschen die Fähigkeit, wirklich glücklich zu sein, abspricht, um Pauens Definition zuzulassen. Leopardi selbst wehrte sich gegen eine subjektive Ver‐ ortung seines negativen Gedankenguts, mit dem er sich bereits durch seine Zeitgenossen konfrontiert sah, „il proprio fato | creder comune“ (Palinodia al Marchese Gino Capponi, V.11-12) [sein eigenes Schicksal halten für allgemein‐ gültig]. Sein Denken wollte er nicht durch seine angeblich unglückliche Existenz begründet sehen. Leopardi selbst bezeichnete seine Philosophie als philosophie désespérante. 48 Im Dialogo di Tristano e di un amico nennt Tristano die „filosofia dolorosa“ nicht subjektiv, sondern ‚wahr‘ und überführt den Gedankengang in eine Parodie: [S]o che, malato o sano, calpesto la vigliaccheria degli uomini, rifiuto ogni consola‐ zione e ogn’inganno puerile, ed ho il coraggio di sostenere la privazione di ogni speranza, mirare intrepidamente il deserto della vita, non dissimularmi nessuna parte dell’infelicità umana, ed accettare tutte le conseguenze di una filosofia dolorosa, ma vera. La quale, se non è utile ad altro, procura agli uomini forti la fiera compiacenza di vedere strappato ogni manto alla coperta e misteriosa crudeltà del destino umano. 49 [Ich weiß nur, dass ich, ob krank oder gesund, die Feigheit der Menschen verachte, jeden kindischen Trost und Selbstbetrug verschmähe und den Mut habe, die vollstän‐ dige Hoffnungslosigkeit zu ertragen, furchtlos in die Wüste des Lebens zu blicken, mir das menschliche Unglück nicht im Geringsten zu verschleiern und alle Konsequenzen 20 3 Zugänge zu einem unübersichtlichen Werk <?page no="21"?> 50 Zu den unterschiedlichen Ansätzen zum Kompensationsgehalt der Wahrheit und zur Polysemie des Begriffs siehe Alberto Folin: Leopardi e l’imperfetto del nulla, Venezia: Marsilio 2001: S.-29-32. 51 Francesco De Sanctis: La letteratura italiana nel secolo XIX. Leopardi, Bd. 3, a cura di Walter Binni, Bari: Laterza 1953, S.-285. 52 Benedetto Croce: Poesia e non poesia, Bari: Laterza 1950, S.-102. 53 Umgekehrt zur biographischen Lesart seines Werks existiert auch der Rückschluss des literarischen Werks auf Leopardis Biographie. Auch neue Biographien legen einen starken Fokus auf die Analyse seiner Literatur: So auch Pietro Citati: Leopardi, Milano: Mondadori 2016. einer traurigen, aber wahren Philosophie anzunehmen. Einer, die, wenn sie zu nichts anderem nützt, den starken Menschen die stolze Genugtuung verschafft, die verborgene und geheimnisvolle Grausamkeit des menschlichen Schicksals jeder Hülle entkleidet zu sehen.] Die Wahrheit wird paradoxerweise zur Kompensationshandlung und nimmt dadurch selbst die Funktion ein, die sie eigentlich negiert. 50 Trotz aller Wider‐ sprüche wurden in der Forschung Leopardis Lebensgeschichte - vor allem die trübseligen Episoden - und die Einteilung seines Werks in unterschiedliche Pessimismus-Phasen seit mehr als einem Jahrhundert miteinander verwoben. Der Schluss vom kranken Körper und einem von der Welt abgeschnittenen Leben auf ein negatives Schaffen galt seit de Sanctis in großen Teilen der Leopardi-Forschung als gesetzt: „La sua costituzione fisisca, la solitudine, la concentrazione, dovettero di buon ora avvezzarlo a vedere scuro, e sentire nella propria infelicità della vita.“ 51 Infolgedessen wurden ihm Pessimismus, Nihilismus, Misanthropie etc. attestiert. Benedetto Croce fasste Leopardis Leben und Werk als vita strozzata  52 zusammen. Auch wenn die aktuelle Forschung sich von biographischen Lesarten 53 fernzuhalten sucht, findet sie dennoch beständig Wege zurück. Selbst die Rekonstruktion der Reihenfolge der Entstehung ein‐ zelner Texte spiegelt das biographische Phänomen wider. Die Untersuchungen, ob Leopardi La ginestra oder Il tramonto della luna zuletzt verfasste, werden zur Frage nach einem heroischen Abschluss oder dem totalen Überdruss am Ende seines Lebens. Vor allem aber dient zur Einteilung in Phasen zumeist eine berühmte autobiografische Passage aus dem Zibaldone, in der Leopardi seinen Übergang vom naiven zum sentimentalischen Geist, vom Poeten zum Philosophen, vom antiken zum modernen Menschen beschreibt: Nella carriera poetica il mio spirito ha percorso lo stesso stadio che lo spirito umano in generale. Da principio il mio forte era la fantasia, e i miei versi erano pieni d’immagini, e delle mie letture poetiche io cercava sempre di profittare riguardo alla immaginazione. Io era bensì sensibilissimo anche agli affetti, ma esprimerli in poesia 3 Zugänge zu einem unübersichtlichen Werk 21 <?page no="22"?> non sapeva. Non aveva ancora meditato intorno alle cose, e della filosofia non avea che un barlume […]. Sono stato sempre sventurato, ma le mie sventure d’allora erano piene di vita, e mi disperavano perchè mi pareva […] che m’impedissero la felicità, della quale gli altri credea che godessero. Insomma il mio stato era allora in tutto e per tutto come quello degli antichi. […] La mutazione totale in me, e il passaggio dallo stato antico al moderno, seguì […] dentro un anno, cioè nel 1819, dove privato dell’uso della vista, e della continua distrazione della lettura, cominciai a sentire la mia infelicità in un modo assai piú tenebroso, cominciai ad abbandonar la speranza, a riflettere profondamente sopra le cose […], a divenir filosofo di professione […], a sentire l’infelicità certa del mondo in luogo di conoscerla […]. Allora l’immaginazione in me fu sommamente infiacchita […]. E s’io mi metteva a far versi, le immagini mi venivano a sommo stento, anzi la fantasia era quasi disseccata […]; bensì quei versi traboccavano di sentimento. (Zib. 143-144) [In meiner poetischen Laufbahn hat mein Geist die gleichen Entwicklungsstadien durchgemacht, wie der menschliche Geist im Allgemeinen. Zu Beginn lag meine Stärke in der Phantasie und meine Verse waren voller Bilder und in meinen poetischen Lektüren suchte ich immer Zugewinn für meine Imagination. Zwar war ich auch sehr empfindsam, was Affekte betrifft, aber in der Poesie konnte ich sie nicht ausdrücken. Ich hatte die Dinge noch nicht kontempliert, und ich hatte nicht die geringste Ahnung von Philosophie. Ich war immer unglücklich, aber meine Missgeschicke waren zu jener Zeit voller Leben und sie verzweifelten mich, denn es erschien mir, als würden sie mich am Glück hindern, von dem ich glaubte, dass die anderen es genossen. Kurz gesagt, mein Zustand war voll und ganz wie der eines antiken Menschen. Die totale Veränderung in mir und der Übergang vom antiken zum modernen Menschen, geschah innerhalb eines Jahres, das heißt im Jahr 1819, in dem ich - meiner Sicht und der kontinuierlichen Ablenkung durch meine Lektüre entzogen - begann, mein Unglück derart finsterer zu fühlen, die Hoffnung zu verlieren, intensiv über die Dinge zu reflektieren, Berufsphilosoph zu werden und das sichere Unglück der Welt zu fühlen, statt es zu kennen. An diesem Punkt war die Imagination in mir ermattet und wenn ich mich anstellte, Verse zu dichten, kamen die Bilder mir nur unter starken Mühen, im Gegenteil, die Phantasie war quasi vertrocknet. Stattdessen überliefen diese Verse vor Gefühl / Stattdessen quoll Gefühl aus diesen Versen.] Man könnte also sagen, dass Leopardi die Einteilung seines Werks in zwei Phasen durch diese Darstellung seiner Werkgenese selbst vorgenommen hat, auch wenn er sie nicht genau datiert. Insbesondere die mutazione totale ist ein geflügeltes Wort in der Leopardi-Forschung. Dabei wird jedoch der inszenato‐ rische Charakter des Fragments ignoriert. Deutlich wird dies im Bruto minore (1821) und in dem zugehörigen Prosatext Comparazione delle sentenze di Bruto 22 3 Zugänge zu einem unübersichtlichen Werk <?page no="23"?> 54 Die Canzone wird erst 1870 von Alessandro D’Ancona veröffentlicht. 55 Vgl. Bruno Biral: La posizione storica di Giacomo Leopardi, S.-37. 56 In dieser Arbeit wird zur Beschreibung von Personalität auf das Schema der Instanzen von Burdorf zurückgegriffen, mit dem Unterschied, dass das Ich durch das altherge‐ brachte „lyrische Ich“ bezeichnet wird und nicht durch Burdorfs „artikuliertes Ich“. Das Schema lautet also: Realer Autor - Abstrakter Autor - Lyrisches Ich (bzw. Figuren-Ich). Vgl. Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart / Weimar: Metzler 1997, S.-193-213. 57 Vgl. John Alcorn and Dario del Puppo: „Giacomo Leopardi’s „La ginestra“ as Social Art“, in: The Modern Language Review 89.4 (1994), S.-865-888. Siehe auch Kapitel 5.1.6. minore e di Teofrasto vicini a morte, in dem - ebenfalls die Unterteilung in conoscere und sentire aufgreifend - die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung hinterfragt wird (siehe Kapitel 5.1). Die Einteilung, die am Werk vorgenommen wird, geht insofern mit einer Verallgemeinerung einher, die einem genaueren Blick nicht standhält. Abschließend lässt sich zu der Einteilung in Phasen noch anmerken, dass sich Elemente der zweiten Phase bereits in der ersten erkennen lassen. So etwa die feindliche Natur, die schon in der Canzone Per una donna inferma di malattia lunga e mortale aus dem Jahr 1819 54 zu erkennen ist: „Nostra famiglia a la natura è gioco“ (V.117) [Unsere Familie ist für die Natur ein Spiel]. Dieses Spiel der Natur greift Leopardi später in der Palinodia al Marchese Gino Capponi (wahrscheinlich zwischen 1832 und 1834) wieder auf. Die positive Natur klingt in Per una donna nur in den Versen 127-128 an, „in cor gentile | quel che natura fe’“ [im edlen Herzen, das die Natur geschaffen hat]. Biral erkennt in den früheren Schriften eine Hoffnung, die in den späteren verloren gegangen ist, 55 Leopardis Werk weist aber, wie so oft, beide Tendenzen auf. Wie in Kapitel 5 zu sehen sein wird, evoziert er Hoffnungen, während er sie gleichzeitig verneint. In einer Arbeit über Leopardi kann man dem biographischen Problem kaum entkommen. Den Autor und das lyrische Ich 56 zu trennen oder zu verknüpfen, bleibt schwierig. Auch deshalb, weil Leopardis Tagebucheinträge und Briefe teilweise einen inszenatorischen Charakter besitzen und die poetischen Texte dramaturgische Akte beinhalten, die als persönliche Bekundungen betrachtet werden können. 57 In dem Brief vom 24. Mai 1832 an Louis de Sinner beschreibt Leopardi seine Lebensphilosophie. Die Passage entstand als Reaktion auf die Anschuldigung, die Negativität seines Werks sei auf seine körperliche Verfas‐ sung zurückzuführen und war Leopardi so wichtig, dass er sie vermutlich auf Französisch verfasste, damit sie einem breiteren Publikum zugänglich sei: Quels que soient mes malheurs, qu’on a jugé à propos d’étaler et que peut-être on a un peu exagérés dans ce journal, j’ai eu assez de courage pour ne pas chercher à 3 Zugänge zu einem unübersichtlichen Werk 23 <?page no="24"?> 58 Lettere, S. 1005-1006. Vosslers Übersetzung in: Karl Vossler: Leopardi, Heidelberg: Winter 2 1930, S.-23. en diminuer le poid ni par de frivoles espérances d’une prétendue félicité future et inconnue, ni par une lâche résignation. Mes sentiments envers la destinée ont été et sont toujours ceux que j’ai exprimés dans Bruto minore. Ç’a été par suite de ce même courage, qu’étant amené par mes recherches à une philosophie désespérante, je n’ai pas hésité a l’embrasser toute entière; tandis que de l’autre côté ce n’a été que par effet de la lâcheté des hommes, qui ont besoin d’être persuadés du mérite de l’existence, que l’on a voulu considérer mes opinions philosophiques comme le résultat de mes souffrances particulières, et que l’on s’obstine à attribuer à mes circonstances matérielles ce qu’on ne doit qu’à mon entendement. Avant de mourir, je vais protester contre cette invention de la faiblesse et de la vulgarité, et prier mes lecteurs de s’attacher à détruire mes observations et mes raisonnemens plutôt que d’accuser mes maladies. 58 [ Ja, meine Leiden, die man für gut befunden hat, vor der Öffentlichkeit vielleicht mit einiger Übertreibung auszubreiten, die habe ich mir freilich weder durch billige Hoffnungen auf ein angebliches Glück in einem unbekannten Jenseits, noch durch feigherzige Resignation erleichtern wollen, und meine Gefühle dem Schicksal gegen‐ über sind immer noch geradeso, wie ich sie in meinem Bruto minore ausgedrückt habe. Demselben mutigen Wollen bin ich gefolgt, als ich, durch meine Forschungen zu einer Philosophie der Hoffnungslosigkeit geführt, mir diese ohne Zögern ganz zu eigen machte. Wenn man demgegenüber meine philosophischen Überzeugungen als ein Ergebnis meiner Leiden zu betrachten beliebt, so geschieht es lediglich im Namen der menschlichen Feigheit, die das Bedürfnis hat, sich den hohen Wert des Daseins einzureden. So schreibt man beharrlich den äußeren Umständen meines Lebens die Früchte meines Nachdenkens auf die Rechnung. Bevor ich sterbe, will ich mich wehren gegen diese Erfindung der Schwäche und Gemeinheit und bitte meine Leser, dass sie meine Beobachtungen und Beweisgründe umzustoßen sich mühen, anstatt meine Krankheiten zu beschuldigen.] Durch die Geistesverwandtschaft, die Leopardi zu Brutus bekundet, inszeniert er sich selbst heroisch. Die Passage sorgte aber ironischerweise dafür, den Bruto minore autobiographisch zu lesen. Dabei wird der selbstinszenatorische Charakter ebenso außer Acht gelassen wie der Umstand, dass es sich bei der Figur Brutus um ein schriftlich übermitteltes Bild handelt, das in der Literatur eine beachtliche Ambivalenz aufweist und die sich Leopardi für seine Lyrik aneignet. Vielmehr dient die Figur als Projektionsfläche für Leopardis Philosophie. Einen Fremdbezug über den Selbstbezug herzustellen, sollte dabei 24 3 Zugänge zu einem unübersichtlichen Werk <?page no="25"?> 59 Vgl. Werner Stegmaier: Orientierung im Nihilismus - Luhmann meets Nietzsche, Berlin: De Gruyter 2016, S.-7, 22. 60 Pietro Citati versucht in seiner Biographie ein ausgewogeneres Bild des Poeten zu zeigen: Pietro Citati: Leopardi, Milano: Mondadori 2016. 61 Antonio Prete: ll pensiero poetante. Saggio su Leopardi. Milano: Feltrinelli 1984, S.-98. 62 Daniela Bini: A Fragrance from the Desert. Poetry and Philosophy in Giacomo Leopardi, S.-15. 63 Frank Wanning: „Die Verführung durch das Nichts“, S.-74. nicht als autobiographischer Akt überbewertet werden. 59 Die Hypothese, dass das Werk eines Autors durch seine Biographie beeinflusst wird, lässt sich kaum von der Hand weisen und bleibt verlockend, um den negativen Gehalt der Dichtung einfach zu erklären oder auch von sich fern zu halten. Wenn die Negativität nur das Resultat eines unglücklichen Lebens 60 war und keinen universellen Gehalt besitzt, wird ihr die Bedrohlichkeit entzogen. Bei einem den ‚negativen‘ Schriftstellern zugeordneten Poeten besteht das größte Problem in einem biographischen Zugang darin, dass der Blick durch diesen Filter verzerrt wird. Widersprüche werden seltener hinterfragt, Nuancen nicht mehr erkannt. Negativität ist zwar unumstritten ein Leitmotiv, in den Interpretationen verstellt sie jedoch die Sicht auf positive Impulse, obwohl diese ebenso entscheidend für die Bedeutung von Leopardis Werk sind. Prete bringt dies auf den Punkt: [R]esterà da comprendere come da Leopardi a Baudelaire, da Hölderlin a Nietzsche, da Artaud a Bataille, la critica della ragione ha coniugato poesia con corpo, per indicare a mancanza, per raccontare la morte del senso, per dare parola al sogno di una mutazione. 61 Leopardis Werk beinhaltet ein komplexes Zusammenspiel aus negativen und positiven Impulsen, die unterschiedliches Deutungspotential anbieten und un‐ terschiedliche Zugänge eröffnen. Bini geht davon aus, dass das Werk eine Spannung zwischen dem Ideal und der Realität evoziert, die eine Desillusionie‐ rung einleitet, aus der ein ästhetischer Ausweg gewählt wird: „[A] beautiful poetry which is born out of an ugly truth. The correlation of philosophy and poetry could not have been more absolute.“ 62 Für die Relation von Welt und Kunst bedeutet dies, dass das Ideal auf der ästhetischen Ebene festgesetzt wird, während die Realität an der Unerreichbarkeit jenes Ideals krankt. Der Verstand führt dem Subjekt unerlässlich vor, was es nicht haben kann, statt das Ideal abzuschaffen. Wanning, der als Hauptaussage der Canti die Allgegen‐ wärtigkeit des ‚Nichts‘ beziehungsweise der ‚Leere‘ sieht, betrachtet hingegen in seiner Kontrasthypothese das Ideal als Gegenpol zur Negativität: „Durch die Existenz punktueller positiver Erfahrungen dringt die Negativität des Daseins ins Bewußtsein und offenbart zugleich ihre Ausweglosigkeit“ 63 . Die positiven 3 Zugänge zu einem unübersichtlichen Werk 25 <?page no="26"?> 64 Paul Geyer: „Sartres Weg aus der Postmoderne in die Moderne: Literarische Konfigura‐ tionen von Subjektivität in La Nausée und Les Mots“ in: ders. / Claudia Jünke (Hrsg.): Von Rousseau zum Hypertext. Subjektivität in Theorie und Literatur der Moderne. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2001, S.-233. 65 Karl-Heinz Bohrer: Ästhetische Negativität, München: Hanser 2002, S.-32. 66 Ebd. S.-80. 67 Diesen Widerspruch aus Aussage und Wirkung erkannte bereits De Sanctis: „Perché Leopardi produce l’effetto contrario a quello che si propone. Non crede al progresso, e te lo fa desiderare; non crede alla libertà, e te la fa amare. Chiama illusioni l’amore, la gloria, la virtù, e te ne accende in petto un desiderio inesausto.“ Francesco De Sanctis: Opere, a cura di Niccolò Gallo, Milano: Riccardo Ricciardi 1961 [=La letteratura italiana. Storia e testi. Vol. 56], S.-973-974. 68 Vgl. Franco Musarra: „Marche ironiche nella Storia del genere umano delle Operette morali“, in: Hans Ludwig Scheel / Manfred Lentzen (Hrsg.): Giacomo Leopardi. Rezeption - Interpretation - Perspektiven, Tübingen 1992, S.-217- 226. Impulse, die durch ästhetische Mittel entstehen, ermöglichen erst den Zugang der Negativität zur Psyche. Dadurch beschreibt er einen Stillstand des Subjekts im Nichts: Wer die absolute Kontingenzerfahrung und die dialektische Grundstruktur des Selbstbewußtseins nicht nachvollziehen oder nicht ertragen kann, der wird nach metaphysisch-dogmatischen Auswegen suchen, mit anderen Worten, er wird die Dialektik von Sein und Nichten, in der sich Werden und Vergehen vollziehen (vgl. Hegel, Logik, 1812-1816: I, 44), zum absoluten Sein oder zum absoluten Nichts hin stillstellen. 64 Auch Bohrer sucht einen Zugang zu dem Werk über die Ästhetik und führt noch eine weitere Pessimismus-Kategorie ein: den Stimmungspessimismus, eine apriorisch negative Gestimmtheit, die er hauptsächlich in den Canti und im Zibaldone verortet und die er als primär poetisch ansieht. Ein Charakteristikum des Stimmungspessimismus ist das „reflektive Ausbalancieren des positiven und negativen Impulses, wodurch erst die Unendlichkeit, die Nicht-Abschließbarkeit der Negativität entsteht.“ 65 Positive Impulse werden zwar real empfunden, dienen dann aber der weiteren Negativierung der Gesamtaussage. Negativität wird als ästhetisches Leitmotiv und eine Art Gegenmodell zur ästhetischen Sublimierung verstanden. Insofern ähneln sich die Theorien von Wanning und Bohrer, variieren jedoch im Effekt. Laut Bohrer entstehen tatsächlich positive Effekte in der Psyche des Rezipienten, bei dem die „dialektische Gleichzeitigkeit von Verzweiflung und Hoffnung“ 66 zu einer Stärkung der eigenen Hoffnung führt. 67 Andere Überlegungen zu Leopardi gehen davon aus, dass das Ideal nur ironisch angesprochen wird und der Dichter sich tatsächlich davon distanziert. 68 Ironie ist aus Leopardis Werk nicht wegzudenken und insbesondere in den 26 3 Zugänge zu einem unübersichtlichen Werk <?page no="27"?> 69 Rainer Stillers: „Der ‚canto‘ in den Canti. Beobachtungen zu einem poetologischen Motiv“, S.-50-63. 70 Antonio Prete: ll pensiero poetante. 71 Barbara Kuhn: „Und sie singt doch - Leopardis Palinodie des Ultimo canto di Saffo“ in: Ginestra 15 (2005), S.-29-51. 72 Antonio Prete: La poesia del vivente. Leopardi con noi, Torino: Bollati Boringhieri 2019, 173-176. 73 Zibaldone di Pensieri: Manuale di filosofia pratica. Ed. Fabiana Cacciapuoti, prefazione di Antonio Prete. Vol. 2. Roma: Donzelli 1998, S.-XIII. Operette morali und in den Paralipomeni offensichtlich. Ironie dient der Distan‐ zierung vom Gehalt, revidiert ihn aber nicht. Welchen Effekt Leopardis Lyrik beim Rezipienten nun auslöst, hängt vermut‐ lich von dessen Fähigkeit ab, Negativität zu ertragen. Wannings Annahme, dass jeder Zugang zu Leopardi einer der genannten Hypothesen zuzuordnen sei, ist kritisch zu betrachten. Analysen der letzten Jahre, die ihren Fokus auf einzelne Gedichte legten, konnten leisere positive Nuancen zeigen, die sich jedoch vehement gegen die brachiale Kategorisierung stellen, so etwa Stillers Analyse des Gesangs 69 , Pretes Lektüre des Zibaldone  70 und Kuhns Saffo-Analyse 71 . Die Pessimismus-Hypothesen, unter denen das Werk traditionell betrachtet wurde, ermöglichen zwar einen einfachen Einstieg in ein unzugängliches Werk, 72 sie versperren aber vor allem das Verständnis für seine Beschaffenheit: die rhizomatische Struktur, die trotz oder aufgrund ihrer repetitiven Eigenarten voller Mehrdeutigkeiten steckt. Fest steht, dass Leopardis poetisches Denken in seiner Aussagekraft immer auch erschaffend funktioniert: Formgebung und Bildsprache weisen oft in eine andere Richtung als das negative Argument. Prete richtet sich deshalb in seinem Vorwort des Manuale di filosofia pratica (eine Sammlung früher Einträge des Zibaldone) gegen die Zuschreibung zum Pessimismus: Le osservazioni del Manuale mostrano come la voce pessimismo sia davvero la più impropria per definire lo svolgimento del pensiero leopardiano. Perché fino all’ultimo il poeta ha accolto nella lingua della poesia - e nel pensiero che è suo ritmo - il deserto e il fiore, il tragico e la leggerezza, il cerchio ineludibile della finitudine e il vento del desiderio, della sua incolmabile apertura. 73 Einer der Gründe für die Komplexität dieses Zwischenspiels und die immense Menge an Interpretationsansätzen für Leopardis Werk ist die Polyvalenz der Begrifflichkeiten. Statt die Semantik der Begriffe innerhalb einzelner Phasen festzusetzen, muss der Leser sie vielmehr innerhalb der einzelnen Kontexte deuten. Dies gilt nicht nur für die viel diskutierten Gegensatzpaare, sondern auch für Leopardis ‚Nichts‘. 3 Zugänge zu einem unübersichtlichen Werk 27 <?page no="29"?> 74 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg: Suhrkamp 2 1976, S.-83. 75 Vgl. Emanuele Severino: Il nulla è la poesia. Alla fine dell’èta della tecnica: Leopardi, Milano: Rizzoli 1990, S.-151-164. 76 In Anlehnung an Spinoza wird zwischen der geschaffenen Natur (natura naturata) und der „in der Innerlichkeit des Künstlers wirkenden natura naturans“ unterschieden. 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts Ein allgemeines Charakteristikum, das Leopardis Werk durchzieht, ist die Paarung von Begrifflichkeiten wie Vernunft und Natur, Antike und Moderne, Dichtung und Philosophie, Materie und Geist, Leben und Tod etc., die wiederholt als Gegenbegriffe auftauchen. Leopardis Werk weist dadurch eine Tendenz auf, die typisch für seine Zeit ist: Die Serie von Begriffen und Gegenbegriffen, die die Literatur der Aufklärer und ihrer Gegner prägt, wie Vernunft und Offenbarung, Freiheit und Despotie, Natur und Zivilisation, Handel und Krieg, Moral und Politik, Dekadenz und Fortschritt, Licht und Finsternis läßt sich beliebig verlängern, ohne daß die gesetzten Begriffe jemals den Charakter verlieren, ihre Gegenbegriffe zugleich mitzusetzen und auszuschließen. 74 Dies führt dazu, dass Leopardis Naturbegriff nicht ohne den Vernunftbegriff auskommt und die Antike immerzu die Kontrastfolie der Moderne darstellt. Strittig ist, ob es sich nun um Dichotomien handelt, ob teilweise ein dialektisches Verhältnis 75 entsteht. Dieses ist jedoch fundamental durch das Übergewicht des Nichts gestört. Eine Auflösung in der Dichtung bietet sich an; dass die Dichtung Leopardis Leben bestimmt hat und in einer sinnlos erscheinenden Welt eine sinnvolle oder sinnstiftende Funktion einnimmt, dürfte wohl der kleinste Nenner sein. Aber können die vielfältigen Überlegungen aus unter‐ schiedlichsten Disziplinen hierauf reduziert werden? Zumindest gibt es Ver‐ suche, einen literarischen Blick auf die Welt anzuwenden und dadurch Orien‐ tierung, wenn schon keinen Halt, zu finden. Dass allgemeine Aussagen zu Leopardis Denkbewegungen nicht so einfach sind und es sich vielmehr um ein Gleiten zwischen literarischen und außerliterarischen Konzepten handelt, kann an Leopardis Natur-Begriff verdeutlicht werden: [O]ra indicando la natura naturans, ora la natura naturata, 76 ora la natura ex parte subiecti (natura di qualche cosa, intesa come tendenza alla vita, come istinto a <?page no="30"?> Siehe hierzu Arnaldo di Benedetto: „Leopardi und die Romantik“, in: Edoardo Costa‐ dura / Diana di Maria / Sebastian Neumeister (Hrsg.): Leopardi und die europäische Romantik, Heidelberg: Winter 2015, S.-29. 77 Domenico Consoli: Leopardi. Natura e società, Roma: Edizioni Studium 1977, S.-60. 78 Vgl. Giuseppe Invernizzi: „Leopardi, Schopenhauer e il pessimismo europeo“, S.-20-21. 79 Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaft‐ licher und ästhetischer Weltauffassung, Münster: mentis 2 2013, S.-25. 80 Winfried Wehle: Leopardis Unendlichkeiten: Zur Pathogenese einer poesia non poesia; „L'Infinito“ / „A se stesso“, Tübingen: Narr 2000, S.-30. perpetuarsi), ora la natura ex parte obiecti (complesso di tutto ciò che esiste, che per la sua conservazione sacrifica gli elementi di cui è costituito), ora la natura quale principio informatore e finalistico dell’ordine cosmico, ora la natura come fato, meccanismo cieco. 77 Die Tendenz, Gegensätze als Pole zu verstehen, die sich gegenseitig ausschließen und binäre Kategorien bilden, wird durch die Polyvalenz der Begrifflichkeiten konterkariert. Ebenso polyvalent wie die Natur ist auch Leopardis Vernunft-Be‐ griff, der nur teilweise einen Gegenpol zur Natur darstellt. Er verwendet ihn für das allgemeine Erkenntnisvermögen des Menschen und in diesem Sinne als Teil des Menschen. Dann wiederum ist die Vernunft ein Werkzeug, das dem Men‐ schen die komplexe Realität vermittelt. 78 Richtet er sein Leben danach aus, so wird die Vernunft zur vernichtenden Waffe, während sie gepaart mit der Imagi‐ nation durchaus vor irreführenden Trugbildern bewahren kann. Das Verhältnis der Natur (Imagination) zur Vernunft wird in seiner Ausgangssituation mit dem Verhältnis der Poesie zur Philosophie parallelisiert. Der Kategorienwechsel erweitert die Polyvalenz, da Kategorien einander gegenübergestellt werden, deren Vergleiche nicht zu identischen Resultaten führen. Kognitive und kreative Erkenntnissysteme, Ursprungsideen, Metaphysik, Naturwissenschaften, allerlei Logoi und menschliche Praktiken verschwimmen in diesen Begrifflichkeiten und müssen beständig neu verhandelt werden. Da Leopardi enge philosophische Exaktheit ablehnt, kann ihm dies auch kaum zum Vorwurf gemacht werden. Leopardi praktiziert analogisches statt logisches Denken. Analogisch soll […] ein Denken heißen, das sich der Übergänge bedient und die begrifflichen Grenzen durchlässig oder „porös“ hält. Logisches Denken drängt auf Unterscheidung des Ähnlichen, analogisches Denken sucht Ähnlichkeiten im Ver‐ schiedenen. Logisches Denken drückt sich aus in Definitionen, analogisches Denken in Vergleichen. 79 Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass auch Leopardi nicht auf „die mo‐ derne Tugend des Differenzierens“ 80 verzichten kann. Die Gegenüberstellungen 30 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="31"?> 81 Zum kaleidoskopartigen Charakter Leopardis Natur und der Polyvalenz der ‚Mutter / Stiefmutter‘-Deutung der Natur: Vgl. Lorenzo Giusso: Leopardi e le sue due ideologie, Firenze: Sansoni 1935; Anna Clara Bova: Illaudabil maraviglia. La contraddi‐ zione della natura in Giacomo Leopardi, Napoli: Liguri 1992. 82 Der Ausdruck „gleitende Semantik“ entspricht nicht dem Gleiten des Signifikats unter den Signifikanten bei Lacan. 83 Leopardi bezieht sich hier auf die Dialoge von Lukian von Samosata; vor allem die Nekrikoi dialogoi. und die Polyvalenz produzieren den kaleidoskopartigen Charakter seiner Lite‐ ratur, der sein Werk besser beschreibt als Widersprüchlichkeit. 81 Auf der Ebene der Canti sorgt die Polyvalenz für eine Kette von Assoziationen, die aus den unterschiedlichen Kontexten gewonnen werden kann und auf der Mikroebene des einzelnen Gedichts die Mehrdeutigkeit steigert. Im Folgenden wird dieser Übertragungseffekt als gleitende Semantik 82 bezeichnet. Innerhalb dieser findet eine ständige Bedeutungserweiterung der Signifikanten statt; dabei entsteht eine rhizomatische Struktur von Signifikaten. Der Einstieg in die Struktur kann über unterschiedliche Signifikanten erfolgen, die dann den Assoziationsvorgang auslösen. Eine Einteilung des Werks in Phasen schwächt diesen Effekt ab, indem sie eine endgültige Umdeutung suggeriert, und sie vereindeutigt die Texte, wo keine Eindeutigkeit gewollt ist. Das bekannteste Beispiel für Parallelisierungen - die Verhältnisse ‚Natur und Vernunft‘ verhalten sich parallel zu Poesie und Prosa - kann als folgende Assoziationskette gelesen werden: Die Sprache der Natur ist die Poesie, die Sprache der Vernunft die Prosa, weshalb sich der Dichter der Sprache der Natur und der Philosoph der Sprache der Vernunft bedient. Zeitlich verortet wird die Thematik durch den Gegensatz der Antike zur Moderne. Der antike Mensch denkt wie ein Dichter und erhält seine Inspiration aus der Natur. In den poetologischen Kommentaren aus dem Jahr 1821 fällt die Trennung zwischen Poesie und Prosa scharf aus: Così a scuotere la mia povera patria, e secolo, io mi troverò avere impiegato le armi dell’affetto e dell’entusiasmo e dell’eloquenza e dell’immaginazione nella lirica e in quelle prose letterarie ch’io potrò scrivere; le armi della ragione, della logica, della filosofia ne’ Trattati filosofici ch’io dispongo; e le armi del ridicolo ne’ dialoghi e novelle Lucianee ch’io vo preparando. (Zib. 1394) [Um meine arme Heimat zu wecken, werde ich die Waffen des Affekts und des En‐ thusiasmus und der Eloquenz und der Imagination in der Lyrik und in der literarischen Prosa, die ich schreiben konnte, gebraucht haben; die Waffen der Vernunft, der Logik, der Philosophie in den philosophischen Traktaten; und die Waffen des Lächerlichen in den Dialogen und den lukianischen Novellen, 83 die ich vorbereite.] 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts 31 <?page no="32"?> 84 Auch Leopardis Einstellung zur aufklärerischen Vernunft ist nicht so eindimensional, wie sie in den frühen Schriften erscheint (siehe Kapitel 5.2 und 8.1). 85 Dieter Henrich: Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, München: Beck 2016, S.-134. Affekt, Imagination, Enthusiasmus und Eloquenz werden als Grundlagen einer Dichtung im naiven Sinne beschrieben und die Ursprünge seines eigenen philosophischen Handwerks in der Antike verortet und explizit nicht in der Moderne. 84 Innerhalb der Canti verschwimmen die Grenzen zwischen Poesie und Prosa aber stärker, als es häufig in seiner Theorie anklingt, da eine naive Dichtung die Gegenwart nicht erfassen kann und auch die Philosophie deshalb Eingang in seine Dichtung finden muss, um einen Aktualitätsanspruch zu besitzen. Seine Tätigkeit als Schriftsteller stellt er damit als einen patriotischen Beitrag dar, wodurch sie bereits die ästhetische Dimension durchbricht. Die Lektüre und Relektüre von Leopardis Texten schult den Rezipienten durch Repetition und den Einsatz von rhetorischen Mitteln in einer gleitenden Semantik. Obwohl die Leopardischen ‚Gegensatzpaare‘ die Tendenz aufweisen, in einer parallelen Konstruktion zueinander zu stehen, deren Grundlage im folgenden Kapitel noch erläutert wird, ergibt sich durch die Polyvalenz ein Bewegungsraum, der das zunächst starr wirkende System aufbricht. Teilweise entsteht die Polyvalenz überhaupt erst durch das Aufbrechen der gleitenden Semantik. Begriffe werden chiastisch neu gepaart, und dadurch kann beispiels‐ weise der Mensch in den Gedichten als Teil der Natur oder von ihr ausge‐ schlossen dargestellt werden, die Vernunft kann vernichtend wirken oder eine kreative Form des Denkens ermöglichen. Durch dieses Verfahren entsteht ein Flimmern 85 zwischen den Bedeutungen. Der Einstieg in diese Struktur kann in jedem Text über unterschiedliche Signifikanten erfolgen, die dann den Assozi‐ ationsvorgang auslösen und die Mehrdeutigkeit innerhalb der Canti steigern. Dadurch kommt der kaleidoskopartige Charakter zustande, der Leopardis Werk ausmacht. Doch wonach richtet Leopardi seine gleitende Semantik aus? Sind es lediglich die Verbindungen, die er selbst herstellt, oder unterliegen ihnen Konzepte, die Ähnlichkeiten produzieren? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, bietet sich eine Analyse des Gedankenprogramms von Leopardis ‚Nichts‘ an. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die ‚Geschichte des Nichts‘ gegeben, um zu verdeutlichen, wie Leopardi in dieser zu verorten ist, und danach werfen wir einen genauen Blick auf Leopardis ‚Nichts‘ und seinen Einfluss auf die gleitende Semantik. 32 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="33"?> 86 Parmenides: „Fragmente“, in: Walther Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 1, übersetzt von Hermann Diels, Berlin: Weidmannsche Verlagsbuchhandlung 9 1960, S.-238. 87 Vgl. Werner Stegmaier: Orientierung im Nihilismus, S.-28. 88 Platon: Der Sophist, hrsg. u. übersetzt v. Helmut Meinhardt, Stuttgart: Reclam 1990, S. 4. 4.1 Leopardis Grenzgänge ans Nichts Die Geschichte der Erforschung des Nichts beginnt zumeist bei Parmenides, für den sich ‚das Nichts‘ nicht denken lässt, weshalb er den Fokus auf ‚das Sein‘ legt. Parmenides entbindet ‚das Sein‘ von individuellen und damit heterogenen Vorstellungen einzelner Menschen, indem er es an eine Gottheit bindet. Für Parmenides sind Sein und Denken deshalb identisch: Dasselbe ist Denken und der Gedanke, daß IST ist; denn nicht ohne das Seiende, in dem es als Ausgesprochenes ist, kannst du das Denken antreffen. Es ist ja nichts und wird nichts anderes sein außerhalb des Seienden, da es ja die Moira daran gebunden hat, ein Ganzes und unbeweglich zu sein. Darum wird alles bloßer Name sein, was die Sterblichen in ihrer Sprache festgesetzt haben, überzeugt, es sei wahr: Werden sowohl als Vergehen, Sein sowohl als Nichtsein, Verändern des Ortes und Wechseln der leuchtenden Farbe. 86 Denken und Sein fallen zusammen, weil sie sich gegenseitig bedingen und das eine nur durch das andere existiert. Dieses Denken erhebt das eine, ganze und bleibende ‚Sein‘ zu seinem einzigen Gegenstand und damit zum einzigen Gegenstand des wissenschaftlich-philosophischen Denkens. 87 Ebenso schließt er alles aus, was nicht durch das Denken erkannt werden kann, und damit alle Sinneserfahrungen: „Ontischen Bestand hat nur, was durch das Denken (λόγω) faßbar ist, die Sinne liefern nur Trug, Nichtseiendes, das sich für Seiendes ausgibt.“ 88 Auch ‚das Nichts‘ lässt sich nicht denken oder kommunizieren. Alles Zeitliche wird aus diesem ‚Sein‘ ausgeschlossen, da dieses ‚Sein‘ nicht vergeht und auch zuvor nicht gewesen ist. Begriffe wie ‚Werden‘ sind deshalb leere Worthülsen. Diese Überlegungen bedeuten aber auch, dass alles, was gedacht werden kann, wahr und beständig ist. Dies führt zu einer radikalen Überschätzung der menschlichen Vernunft und zu einem Relativismus, der in einer Kultur nihilistische Züge annehmen kann. Tugend und Moral wird zur Frage der geschickteren Argumentation, weil alles wahr oder falsch sein kann. Deutlicher wird dies noch bei dem Sophisten Gorgias, einem Zeitgenossen von Sokrates, der - vermutlich als Reaktion auf Parmenides - in einer bis heute radikalen Form ‚das Sein‘ in Frage stellt: 4.1 Leopardis Grenzgänge ans Nichts 33 <?page no="34"?> 89 Gorgias von Leontinoi: Reden, Fragmente und Testimonien, hrsg. u. übers. v. Thomas Buchheim, Hamburg: Meiner 2 2012, S. 40-41. Die Sätze werden Gorgias von Leontinoi zugeschrieben. 90 Vgl. Werner Stegmaier: Orientierung im Nihilismus, S.-28. 91 Christoph Asmuth: „Sein - Nichts - Sein. Überbietung und Kritik“ in: Alessandro Ber‐ tinetto / Christoph Binkelmann (Hrsg.): Nichts, Negation, Nihilismus, Die europäische Moderne als Erkenntnis und Erfahrung des Nichts, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2010, S.-19-22. 92 Vgl. Platon: Der Sophist, hrsg. u. übersetzt v. Helmut Meinhardt, Stuttgart: Reclam 1990, S.-7. 93 Vgl. Werner Stegmaier: Orientierung im Nihilismus, S.-29. 94 Ebd., S.-30. 1. Es ist nichts. 2. Wenn etwas wäre, so wäre es nicht zu erkennen. 3. Wenn etwas wäre und es erkennbar wäre, so wäre es doch nicht mitzuteilen. 89 Nicht nur ‚das Sein‘, sondern ebenso die Fähigkeit es zu erkennen oder über es zu sprechen werden in Frage gestellt. Stegmaier sieht darin eine Vorwegnahme der kopernikanischen und der kommunikativen Wende. 90 Obwohl das Nichts nicht gedacht und ebenso wenig kommuniziert werden kann, lässt es sich denken, dass ‚das Nichts‘ nicht gedacht werden kann. Dadurch dass ‚das Nichts‘ sich eignet, um das Denken zu hinterfragen, wird das Problem ‚des Nichts‘ selbstreferentiell: „Das Denken ist das Nichts des Seins, und wenn sich das Denken auf sich bezieht, folglich das Nichts als Nichts denkt, überbietet es zugleich das Sein in radikaler Weise.“ 91 Aus diesen Überlegungen lassen sich endlose Schleifen bilden. Die gnadenlose Überschätzung der Rationalität und des Logos wird schließlich wieder stufenweise über Sokrates, Platon und Aristoteles zurückentwickelt. 92 Hegel unterscheidet in der Wissenschaft der Logik ‚das Sein‘ und ‚das Nichts‘ durch die Methode der ‚bestimmten Negation‘: Alles ‚Sein‘ ist unterschiedsloses ‚Sein‘. Da über dieses ‚Sein‘ keine weiteren Aussagen getroffen werden können, ist es ebenfalls ‚Nichts‘. Denn es kann durch nichts bestimmt werden. Umge‐ kehrt kann ‚das Nichts‘ ebenfalls durch nichts bestimmt werden, weshalb es gleichfalls ist. Hegel trennt durch das Verfahren der Unterscheidungen das Denken von einem präexistierenden Fremdbezug. Stattdessen ist sein System selbstreferentiell, es entwickelt sich aus sich selbst heraus und stützt sich selbst. 93 An Hegels System kann Nietzsche nicht festhalten. Stattdessen kommt er zu dem Ergebnis, dass der Nihilismus mit all seinen Konsequenzen akzeptiert werden muss: Das Leben als Summe von Kontingenz und Evolution zu be‐ trachten, auch wenn durch den Verlust und die Haltlosigkeit, die damit einzieht, ein „lähmendes Entsetzen“ 94 zu erwarten ist. Das Unterfangen, sich komplett auf 34 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="35"?> 95 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Bd. 12, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München u.a.: De Gruyter 2 1988, S.-407-408. 96 Vgl. Werner Stegmaier: Orientierung im Nihilismus, 2016, S.-32. 97 Ebd., S.-32-33. den Nihilismus einzulassen, bedarf laut Nietzsche der vollkommenen Aufgabe von Illusionen und Unwahrheiten. Es wird zum Ziel, alle möglichen Unwahr‐ heiten aufzudecken, wie etwa die eines vorgegebenen Sinns oder Ziels des Lebens. Dies bedeutet ein ständiges Hinterfragen vermeintlicher Wahrheiten, also auch derer, die der Nihilismus selbst erschafft. Indem der Nihilismus sich selbst zum Beobachtungsgegenstand macht, wird er reflexiv. Die Ziellosigkeit dieses paradoxen Verfahrens hat Nietzsche selbst erkannt: Man hat nur spät den Muth zu dem, was man eigentlich weiß. Daß ich von Grund aus bisher Nihilist gewesen bin, das habe ich mir erst seit Kurzem eingestanden: die Energie, der Radikalism, mit der ich als Nihilist vorwärts gieng, täuschte mich über diese Grundthatsache. Wenn man einem Ziele entgegengeht, so scheint es unmöglich, daß „die Ziellosigkeit an sich“ unser Glaubensgrundsatz ist. 95 Indem Nietzsche die Aufdeckung des Nihilismus zum Teil des Nihilismus erklärt und dadurch nicht nur ‚das Nichts‘, sondern auch der Nihilismus als selbstreferentiell enttarnt wird, 96 bietet der Nihilismus durch seine Zielsetzung einen Halt in der Haltlosigkeit und negiert ihn umgehend wieder. Dieser selbstbezügliche Begriff des Nihilismus dementiert als Operation (seine Aufde‐ ckung) deren Resultat (den scheinbaren Gegenstand). Nietzsches nihilistisches Nichts tut sich so immer dort auf, wo etwas, an das man sich letztlich zu halten versucht, sich der Vergegenständlichung entzieht, wo es sich weder denken noch aussprechen lässt, sondern schlechthinnige Ungewissheit bleibt, die Angst erregt. Es wird als beängstigende Desorientierung erfahren. Weil er in keiner Weise zu vergegenständ‐ lichen ist und schon bloße Benennungen Gegenstände vorspiegeln, hat Nietzsche in dem Satz, den er dann veröffentlichte, selbst den Namen ‚Nihilismus‘ weg- und nur Auslassungspunkte übriggelassen. So blieb er freilich auch den Leser(inne)n verborgen, sollte ihnen vielleicht verborgen bleiben, weil den meisten von ihnen kaum der Mut zuzutrauen war, von ihm wissen zu wollen. 97 Leopardi trennt sich von Nietzsche schon allein durch die unterschiedliche Sicht auf die Illusion, doch auch Leopardis Gedankenbewegungen zum ‚Nichts‘ führen dazu, dass sein Verfahren ins Ziellose ausufert. Bei oberflächlicher Betrachtung lassen sich Leopardis Betrachtungen zum ‚Nichts‘ in zwei Kate‐ gorien aufteilen, die aber einer eingehenden Analyse nicht standhalten: Die persönliche Nichts-Erfahrung und die Spekulation über ‚das Nichts‘. Die per‐ 4.1 Leopardis Grenzgänge ans Nichts 35 <?page no="36"?> 98 Lettere, A Pietro Giordani, 17. Dezember 1819, S.-232. sönliche Nichts-Erfahrung begegnete uns bereits eingangs, weil sie als Stütze der persönlichen Pessimismus-These dient. Vor allem in Briefen des jungen Leopardi wird ‚das Nichts‘ zu einer Totalität erklärt, die das Subjekt umgibt und schließlich übernimmt: Tutto è nulla al mondo, anche la mia disperazione, della quale ogni uomo anche savio, ma più tranquillo, ed io stesso certamente in un’ora più quieta conoscerò, la vanità e l’irragionevolezza e l’immaginario. Misero me, è vano, è un nulla anche questo mio dolore, che in un certo tempo passerà e s’annullera, lasciandomi in un vôto universale, e in un’indolenza terribile che mi farà incapace anche di dolermi. (Zib. 72) [Alles ist Nichts in dieser Welt, auch meine Verzweiflung, die jeder Mensch - der weise, aber auch ruhiger ist, und sicherlich auch ich selbst in ruhiger Stunde - als vergeblich, irrational und imaginär betrachten wird. Ich Elendiger. Vergeblich und ein Nichts ist auch dieser mein Schmerz, der nach einer gewissen Zeit vergeht und nichtig wird, mich in einer universalen Leere zurücklässt und in einer schrecklichen Trägheit, die mich sogar unfähig macht, zu klagen.] Derartige Beschreibungen finden sich ebenso in den tagebuchartigen Einträgen des Zibaldone: “Io era spaventato nel trovarmi in mezzo al nulla, un nulla io medesimo. Io mi sentiva come soffocare, considerando e sentendo che tutto è nulla, solido nulla“ (Zib. 85) [Ich erschrak, als ich mich inmitten des Nichts wiederfand, ein Nichts ich selbst. Ich fühlte mich, als würde ich bei dem Gedanken ersticken, dass alles ein Nichts ist, ein solides Nichts]. Die Nähe zum Nichts „in mezzo al nulla“ weitet sich metonymisch auf das Subjekt aus. In dem Oxymoron besitzt das Nichts eine feste Substanz, „solido nulla“, und verweist metaphorisch auf die Erfahrung der absoluten Kontingenz, der sich das Subjekt nicht entziehen kann. Die subjektive Wahrnehmung der kontingenten Welt wird zur Realität und zum Fakt erhoben, der zuvor, aufgrund von Illusionen, nicht gesehen werden konnte. In einem Brief an Giordani klagt Leopardi über die Beschaffenheit der Welt und das Schicksal ihrer Bewohner, über die er sich wieder bewusst wurde, als sich die Fähigkeit zu lieben wieder in ihm regte: „[P]iango la miseria degli uomini e la nullità delle cose“ 98 [Ich beweine das Elend der Menschen und die Nichtigkeit aller Dinge]. Durch die Fähigkeit zu denken und zu fühlen wird ‚das Nichts‘ allgegenwärtig. Wie in Becketts Malone meurt scheint ‚das Nichts‘, sobald es bewusst geworden ist, alles zu kontaminieren: „Je connais ces petites phrases qui n’ont l’air de rien et qui, une fois admises, peuvent vous empester toute une langue. Rien n’est plus réel que rien. Elles sortent de l’abîme et n’ont de cesse qu’elles n’y entraînent.“ 99 In einem Brief 36 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="37"?> 99 Samuel Beckett: Malone meurt, Paris: Ed. de Minuit 1951, S.-32. 100 Lettere, A André Jacopssen, 23. Juni 1823, S.-430-431. 101 Zib. 602. an André Jacopssen aus dem Jahr 1823 beschreibt Leopardi rückblickend eine solche Nichts-Erfahrung, die als sichere Realität empfunden wird: Pendant un certain temps j’ai senti le vide de l’existence comme si ç’avait été une chose réelle qui pesât rudement sur mon ame. Le néant des choses était pour moi la seule chose qui existait. Il m’était toujours présent comme un fantôme affreux, je ne voyais qu’un désert autour de moi, je ne concevais comment on peut s’assujettir aux soins journaliers que la vie exige, en étant bien sûrs que ces soins n’aboutiront jamais à rien. 100 [Zeitweise verspürte ich eine Leere der Existenz als wäre sie eine reale Sache, die barsch auf meine Seele drückte. Das Nichtigkeit der Dinge war für mich das Einzige, das existiert. Sie war mir stets präsent, wie ein schreckliches Gespenst, ich sah nur Wüste um mich herum, ich begriff nicht, wie man sich den alltäglichen Verrichtungen unterwerfen kann, die das Leben fordert, war ich doch überzeugt, dass die Verrichtungen nie zu etwas führen würden.] Dieses ‚Nichts‘ ist auch der Kernbegriff der Inszenierung der „mutazione totale“, in der das Nichts zum Fixpunkt, gar zur Gewissheit erhoben wird. Es ist nicht Ziel der Arbeit, den Grad der Autofiktionalität von Leopardis persönlichen Aussagen zu ermessen, in Kapitel 5.1 wird aber deutlich, dass Leopardi in seiner Lyrik Pathos verwendet, um eine authentische Verzweiflung darzustellen, welche die Tugendhaftigkeit seines Helden belegen soll. An den Passagen wird aber eine Fragestellung deutlich, die sich durch das gesamte Werk des Autors zieht: Wie und wo zeigt sich ‚das Nichts‘ und wie viel Einlass sollte ihm gewährt werden? Die spekulativen Diskurse finden sich vor allem im Zibaldone und in den Operette Morali. So stellt Leopardi beispielweise fest, dass Substanzlosigkeit nicht erfasst werden kann und der Mensch deshalb zu materiellen Vergleichen greifen muss. Ein Beispiel ist die Seele: „Immagineremo un vento, un etere, un soffio [… ,] una fiamma; assottiglieremo l’idea della materia quanto potremo per formarci un’immagine e una similitudine di una sostanza immateriale; ma una similitudine sola“ 101 [Wir können uns einen Wind vorstellen, einen Äther, einen Hauch, eine Flamme; wir werden die Idee von Materie so weit es geht ver‐ dünnen, um uns ein Bild und eine Ähnlichkeit von einer immateriellen Substanz zu formen; aber eben nur eine Ähnlichkeit]. In dem Versuch, Nichtmaterielles zu beschreiben, wird das Beschriebene materialisiert, weil Sprache selbst materiell 4.1 Leopardis Grenzgänge ans Nichts 37 <?page no="38"?> 102 Zib. 603. 103 In der antiken Vorstellung kann die Seele zudem auch nicht erzeugt (ingenerabilis) und nicht wie in der Theologie von Gott erschaffen werden. Dies ist laut Leopardi zumindest logischer, wenn von einer unzerstörbaren Seele auszugehen ist. ist und dadurch alles materialisiert, was sie benennt. Erkundungen über ‚das Nichts‘ sind also zum Scheitern verurteilt, und bereits Parmenides verbot das Nachdenken über das Nichtseiende, weil Aussagen über das absolute Nichtseiende unmöglich sind. Leopardi würde sich dem wohl anschließen und erläutert überdies, dass alles, was außerhalb des Bereichs der Imagination liegt, vom Menschen nur durch seinen Glauben oder durch abstraktes Denken erfasst werden kann. Gesetze der Logik sind für ihn arbiträr, und so wendet er sich gegen heuristische Prinzipien der Scholastik. Er verwirft das Prinzip der Sparsamkeit (Ockham) ebenso wie das Prinzip der Vielfalt (Leibniz). Die Ergebnisse, die dadurch erreicht werden, lassen sich genauso umkehren. Die Seelenkonzeption, die eine unteilbare (indivisibilis) Seele voraussetzt, erklärt er zum Wunschdenken der Menschen: „Noi vogliamo l’anima immateriale, perché la materia non ci par capace di quegli effetti che notiamo e vediamo operati dall’anima“ [Wir wollen, dass die Seele immateriell ist, weil uns die Materie nicht zu jenem Wirken der Seele fähig erscheint, die wir wahrnehmen und sehen]. 102 Durch die Aberkennung der Unteilbarkeit entzieht er der Seele die Unsterblichkeit, ihre unantastbare Grundlage (die Seele ist incorruptibilis). 103 Eine Einheit, die nicht geteilt werden kann, vergeht nicht, weil das Vergehen durch Zersetzung oder Auflösung erfolgt. Eine Analogie, die bereits innerhalb der Materie problematisch ist, denn ab welchem Grad der Zersetzung ist etwas vergangen? [A]ncorchè ridotta a menomissime parti, una di queste minime particelle, è si può dir tanto lontana dal nulla, quanto tutta la materia o qualunque altra cosa esistente, cioè tra essa e il nulla, ci corre un divario, e uno spazio infinito: chè dall’esistenza nel nulla, come dal nulla nell’esistenza, non si può andar mica per gradi, ma solamente per salto e salto infinito. (Zib. 631) [Obgleich die Materie auf winzigste Teile reduziert wurde, könnte man sagen, dass eines dieser Teile so weit vom Nichts entfernt ist wie die gesamte Materie oder jedes andere existierende Ding. Das heißt, zwischen der Materie und dem Nichts klafft eine Lücke und ein unendlicher Raum: So wie es keinen graduellen Weg von der Existenz zum Nichts gibt, so gibt es auch keinen vom Nichts zur Existenz, sondern nur einen Sprung, einen unendlichen Sprung.] 38 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="39"?> 104 Zib. 603. 105 Zib. 1764-1765. 106 Lettere, A Pietro Giordani, 17. Dezember 1819, S.-233. 107 Die Passage in Leopardis Brief, insbesondere die Verwendung der Konjunktion "quant‐ unque", ist hochgradig ambig. Weiterhin müssen Eigenschaften der Materialität nicht auf Immaterialität zu‐ treffen, weshalb das Problem der Substanz nicht durch den Verstand geklärt werden kann; alle Ergebnisse führen ad absurdum: „Fuor della materia non pos‐ siamo concepir nulla, la negazione e l’affermazione sono egualmente assurde“ 104 [Außerhalb der Materie können wir nichts erfassen. Die Affirmation und die Negation sind gleichermaßen absurd]. Anstelle von Erkenntnissen über den Kosmos und die Seele zieht Leopardi aus den Überlegungen Schlüsse über die unzureichende Imagination des Menschen. Eine von der Materie befreite Imagination will nicht gelingen, und spätestens der Akt der Versprachlichung holt alles in einen greifbaren Raum zurück: „Le parole determinano, i versi deter‐ minano. Or questa è appunto la proprietà della materia: l’avere i suoi confini certi e conosciuti […]“ 105 [Die Wörter bestimmen, die Verse bestimmen. Eben das ist die Eigenschaft von Materie: Sichere und bekannte Grenzen zu haben]. Ebenso wird Rhythmus in der Rhetorik als Hilfsmittel zur Erinnerung verwendet. Die Überlegungen zum Akt, eine Erinnerung oder eine abstrakte Idee einzufangen, einzugrenzen und zu umschreiben, den Leopardi hier als Materialisierung beschreibt, sind wegweisend für seine poetischen Arbeiten. Leopardi geht umgekehrt vor, indem er sie im Alltag, in der Natur und im Grenzgebiet der Erinnerung der Assoziationen sucht und Illusionen produziert. Eine vage Poesie und eine Sprache, die das Unendliche evoziert, kann auf Sphären verweisen, die außerhalb der Imagination und außerhalb der Versprachlichung liegen. In den Überlegungen zur Materie formuliert Leopardi insofern Fragen zum ‚Nichts‘, die sich durch sein ganzes Werk ziehen und sich dort in unterschiedlichen Formen manifestieren: Wie entsteht etwas, wie vergeht etwas und zuletzt: Hat etwas überhaupt existiert, wenn es dann vergeht? Mio caro amico, sola persona ch’io veda in questo formidabile deserto del mondo, io già sento d’esser morto, e quantunque mi sia sempre stimato buono a qualche cosa non ordinaria, non ho mai creduto che la fortuna mi avrebbe lasciato esser nulla. 106 [Mein lieber Freund, die einzige Person, die ich in dieser außerordentlichen Wüste der Welt sehe, ich fühle mich als wäre ich schon tot, und wenngleich ich mich immer eher zu etwas gut in außergewöhnlichen Dingen wähnte, bezweifelte ich doch nie, dass das Schicksal mir zugedacht hätte, nichts zu sein.] 107 4.1 Leopardis Grenzgänge ans Nichts 39 <?page no="40"?> 108 Emanuele Severino: Il nulla e la poesia. Alla fine dell’èta della tecnica: Leopardi, Milano: Rizzoli 1990, S.-27. 109 Dieter Henrich: Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, S. 117. 110 Ebd., S.-116. 111 Vgl. ebd. S.-118. 112 Ebd. S.-117. In dem Brief bezeichnet Leopardi bereits die conditio umana als metaphorische Wüste und schafft damit die bildliche Vorlage (Kapitel 4.4) für sein bekanntes Gedicht der Spätphase La Ginestra (Kapitel 8.1). Die Passage ist in vielerlei Hin‐ sicht mehrdeutig und kann als Vergänglichkeit des Ruhms gelesen werden oder als Nichtigkeit aller Existenz. Keiner schätzt Leopardis denkerische Leistungen hierzu wohl höher ein als der italienische Philosoph Emmanuele Severino. Der Westen betrachtet alles, was in Präsenz besteht, als existierend. „Leopardi riesce a pensare e a dire che, poiché le cose si annullano ed escono dal nulla, esse sono nulla. Riesce a raggiungere il pensiero essenziale dell’Occidente, il pensiero che sorregge l’intera storia della nostra civiltà e della nostra cultura“. 108 Dadurch, dass Severino eine philosophische Perspektive auf Leopardis Werk anwendet und seinen Hang zu einem globalen Nichts-Begriff - tutto è nulla - fokussiert, stellt er innerhalb der Forschung den Gegenpol zu der geläufigeren und oben bereits diskutierten These dar, dass Leopardis Hang zum Verfall und zum Nichts Ausdruck einer persönliche Todessehnsucht sei. Henrich bezeichnet einen solchen allumfassenden Verweis auf das ‚Nichts‘ als eine „Waffe der philosophischen Kritik“ 109 , die uns vermittelt, dass das, was uns real und wirklich erscheint, ‚ein Nichts‘ ist. Er ordnet Jacobis ‚reines Nichts‘, Schopenhauers ‚Welt bloßer Vorstellungen‘ und Sokrates’ ‚Nichtwissen‘ diesem Mechanismus zu. Dieses ‚Nichts‘ droht ständig, überhand zu nehmen, da alles unter Verdacht gestellt wird, in Wahrheit ein ‚Nichts‘ zu sein, und alles jederzeit zusammen‐ brechen kann. Ihm wird ein ähnlicher Charakter zugesprochen wie Träumen, Illusionen, Trugbildern, Lügen, Fiktionen etc., die zwar wirklich erscheinen, sich dann aber als ein Nichts erweisen. Sie sind „nicht ‚eigentlich‘ oder ‚im Vollsinn‘ wirklich“ 110 . Sie gehören dadurch einem Grenzbereich der Unwirklichkeit, in dem die Illusion, so lange sie wirkt, zugleich irgendwie seiend und irgendwie nichtseiend ist. Henrich bezeichnet das ‚Nichts‘, dass sich bei der Auflösung des Seienden zeigt als ‚regionales Nichts‘ 111 . „Man hat also, wenn von ‚dem Nichts‘ die Rede ist, immer zu überlegen, ob lediglich die Unwirklichkeit einer Region von Gehalten gemeint ist, die nur scheinbar Halt und Heimat geben.“ 112 Die Übertragung der Unwirklichkeit eines ‚regionalen Nichts‘ auf andere Bereiche besitzt ein bedrohliches Potential, weil es keinen Halt mehr gibt. Eingebettet in ein christliche Moral, wie in Calderón de la Barcas La vida es sueño, kann 40 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="41"?> 113 Pedro Calderón de la Barca: La vida es sueño. Das Leben ist ein Traum. Übersetzt von Hartmut Köhler, Stuttgart: Reclam 2009, S.-166, V.2184-2187. 114 Zib. 1341. der Mangel an haltbaren Erkenntnissen durch den Glauben noch aufgefangen werden. Der Protagonist Segismundo kann zwar die Realität nicht vom Traum unterscheiden, die christlichen Werte gelten aber für alle Dimensionen und sind selbst unumstößlich. ¿Qué es la vida? : una ilusión, una somba, una ficción; y el mayor bien es pequeño, que toda la vida es sueño, y los sueños, sueños son. 113 [Was ist das Leben? Eine Gaukelei, ein Schattenspiel, ein Vortäuschen; und das größte Glück ist gering, denn alles Leben ist Traum, und die Träume, sie sind Träume.] Das ganze Leben wird zum Traum totalisiert, der erst durch den Tod endet. Das wahre Leben beginnt erst nach dem Tod, und auf dieses gilt es sich im Diesseits vorzubereiten. Doch der moderne Mensch lebt in der Kontingenz, und sein Leben ist ziellos geworden. Leopardis ‚Sein‘ wird von außen nicht gestützt und könnte deshalb genauso gut nicht sein: „Nessuna cosa è assolutamente necessaria, cioè non v’è ragione assoluta perch’ella non possa non essere“ 114 [Kein Ding ist absolut notwendig, das heißt, es gibt keinen absoluten Grund, warum es nicht nicht sein sollte]. Mit anderen Worten: Alles ist kontingent. Das ‚Nichts‘ stellt dadurch eine sichere Konstante in Leopardis philosophischem und poetischem Werk dar. Dies zeigt sich in Leopardis Gedankenkonstrukten, in denen jenes zeitlich motivierte ‚Nichts‘, auf das sich Severino bezieht - alles, was vergeht, ist auch in der Gegenwart ein ‚Nichts‘ -, die Gegenwart in Frage stellt und alles zum ‚Nichts‘ erklärt. Gleichzeitig ist jedes Wissen über die Thematik ungewiss. Leopardi schenkt der Erkenntnisfähigkeit der Menschheit kein Vertrauen: [I]l progresso dello spirito umano dal risorgimento in poi, e massime in questi ultimi tempi, è consistito, e consiste tutto giorno principalmente, non nella scoperta di verità positive, ma negative in sostanza; ossia, in altri termini, nel conoscere la falsità di quello che p. lo passato, da più o men tempo addietro, si era tenuto per fermo, ovvero l’ignoranza di quello che si era creduto conoscere […]. (Zib. 4192) [Der Fortschritt des menschlichen Geists bestand seit der Renaissance und massiv innerhalb der letzten Zeit und besteht jeden Tag primär nicht in der Entdeckung von 4.1 Leopardis Grenzgänge ans Nichts 41 <?page no="42"?> 115 Dieter Henrich: Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, S. 118. 116 Zib. 4192. Hier in Anlehnung an Bayle. positiven Wahrheiten, sondern von negativen; mit anderen Worten, in der Erkenntnis des Falschen, das in der nahen oder fernen Vergangenheit für unerschütterlich gehalten wurde; sprich: die Ignoranz gegenüber jenem, was man zu kennen glaubte.] Dieser Vorbehalt ist bei Leopardi verbunden mit einer Klage über die illusions‐ auslöschenden Mechanismen der Vernunft, die dem Menschen seinen Halt entziehen. Der Mensch durchläuft einen Weg von der Illusion zum Trugbild: Wenn der Halt, den die Illusion bietet, wegbricht, wenn sie von der Vernunft durchschaut wurde, dann versucht er, diesen Verlust durch eine Hinwendung zum Verstand oder zum technischen Fortschritt zu kompensieren, obwohl auch diese unwirklich sind. Leopardi ist deshalb weit entfernt von einem Illusionsbegriff, der davon ausgeht, dass sich hinter der Illusion eine „robustere und eigenständigere Wirklichkeit“ 115 befindet, die offengelegt werden muss. Stattdessen betrachtet Leopardi die Abkehr von der Illusion, die als Triebkraft das kollektive Bewusstsein prägt, und die Hinwendung zur Vernunft als Ver‐ fallsgeschichte. Für die literarische Auseinandersetzung mit Leopardis Werk ist Henrichs differenzierte Analyse des ‚Nichts‘ produktiver als Severinos philosophischer Zugang, weil sie die Polyvalenz von Leopardis ‚Nichts‘ verdeutlicht. Zu einer materialistischen Weltsicht, dass die Welt aus dem ‚Nichts‘ entsteht und schließ‐ lich ins ‚Nichts‘ zurückkehrt, gesellt sich eine Verfallsgeschichte, die durch die Erkenntnis der Nichtigkeit und der Zuwendung zu dieser Nichtigkeit durch die Rationalisierung der Gesellschaft entsteht. Dabei verhandelt Leopardi die Gedankenprogramme des Nichts innerhalb der bekannten Gegensätze und verbindet den Gegensatz Antike und Moderne mit Natur und Vernunft: „[L]a ragione è piuttosto uno strumento di distruzione che di costruzione“ 116 [Die Vernunft ist vielmehr ein Instrument der Zerstörung als der Konstruktion]. Der Wandel vom antiken zum modernen Menschen wird insofern als Entfremdung von der Natur und Hinwendung zur Vernunft präsentiert. Leopardi vergleicht diesen Prozess mit einer Auflösung, Zersetzung und Zerstörung, in der ein Nichts angedacht wird, das durch die Dekonstruktion von Illusionen entblößt wird: Chiunque esamina la natura delle cose colla pura ragione, senz’aiutarsi dell’immagi‐ nazione nè del sentimento, nè dar loro alcun luogo, […] potrà ben quello che suona il vocabolo-analizzare, cioè risolvere e disfar la natura, ma e’ non potrà mai ricomporla, voglio dire e’ non potrà mai dalle sue osservazioni e dalla sua analisi tirare una grande 42 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="43"?> 117 Rainer Stillers: „Leopardi und die Mythologie“, in: Romanistisches Jahrbuch 40 (1989), S.-142. 118 Lettere, A Pietro Giordani vom 30. 6. 1820, S.-266. e generale conseguenza, nè stringere e condurre le dette osservazioni in un gran risultato […]. (Zib.-3237-3238) [ Jeder, der die Natur der Dinge mit dem puren Verstand untersucht, ohne sich der Imagination oder der Gefühle zu bedienen oder ihnen irgendeinen Platz zu geben, erreicht genau das, wonach das Verb analysieren klingt, das heißt, die Natur aufzulösen und auseinanderzunehmen, aber er kann sie nicht wieder zusammenfügen. Ich will damit sagen, er kann aus seinen Beobachtungen und aus seiner Analyse keine großen und generellen Folgerungen schließen, noch jene Beobachtungen zu zusammenfassen und in ein größeres Ergebnis überführen.] Vernunft, Philosophie und wissenschaftliche Analyse, die eigentlich einen Zugewinn an Informationen darstellen sollen, werden als Triebkräfte dieser Zersetzung betrachtet und bestimmen die Moderne. Mehr Wissen über die Welt - beispielsweise Kolumbus’ Entdeckungsfahrten in Ad Angelo Mai - führt dazu, dass alle Träume schwinden und das Nichts sich ständig weiter ausdehnt: „Ahi ahi, ma conosciuto il mondo | non cresce, anzi scema […]. Ecco svaniro a un punto, | e figurato è il mondo in breve carta; | ecco tutto è simile, e discoprendo, | solo il nulla s’accresce“ (Ad Angelo Mai, V.87-100) [Doch wehe, wenn man die Welt erkundet, wird sie nicht größer, sie schrumpft. Siehe, die Träume schwanden im Nu, und man verzeichnet die Welt auf winziger Karte. Siehe, alles ist ähnlich, und durch die Entdeckung wächst nur das Nichts]. Leopardi schreibt dem antiken Menschen hingegen einen ästhetischen Blick zu, der die Welt als ungeteiltes Ganzes sieht. Das antike Bewusstsein wird von den kreativen Kräften der Imagination und der Illusion bestimmt. Imagination und Illusion lassen sich im Werk von Leopardi nur schwer unterscheiden, weil sie unmittelbar miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen. Stillers kommt zu dem Schluss, dass die Imagination eher die Form betrifft und die Illusion die Substanz von Vorstellungen. 117 In der Illusion zeigt sich ein seiendes Nichtseiendes bzw. ein nicht-seiendes Seiendes: „Io non tengo le illusioni per mere vanità, ma per cose in certo modo sostanziali, giacchè […] compongono tutta la nostra vita“ 118 [Ich halte Illusionen nicht für bloße Eitelkeit, sondern für Dinge, die in gewisser Absicht wesentlich sind, da sie unser ganzes Leben enthalten], das bisweilen zur Realität erhoben wird: „Pare un assurdo, e pure è esattamente vero, che, tutto il reale essendo un nulla, non v’è altro di reale, nè altro di sostanza al mondo che le illusioni“ (Zib. 99) [Es scheint absurd und doch ist es absolut wahr, dass, da die Realität ein Nichts ist, es nichts anderes Reales 4.1 Leopardis Grenzgänge ans Nichts 43 <?page no="44"?> 119 Christoph Asmuth: Bilder über Bilder, Bilder ohne Bilder. Darmstadt: WBG 2011, S.-51. 120 Giacomo Leopardi: Rede eines Italieners über die romantische Poesie. Discorso di un italiano intorno alla poesia romantica. Übers. und eingeleitet von Franca Janowski, Tübingen: Narr 1991, S.-92. 121 Alberto Folin: Leopardi e l’imperfetto del nulla, S.-79. 122 Vgl. Luigi Blasucci: „Dall’imitazione al rimpianto. Leopardi tra il ‚Discorso di un italiano intorno alla poesia romantica e l’Inno ai patriarchi“, in: Humanitas, 1-2 (1988), S.-13. 123 Siehe Kapitel 5.2. und auch nichts anderes von Substanz in dieser Welt gibt, als die Illusionen]. Die Besonderheit von Leopardis Illusion, die sie von einer rein philosophischen Perspektive unterscheidet, liegt in ihrem poetischen Potential. Der Schein ist in der Philosophie stets ein besonderer Gegenstand des Nachdenkens. Einerseits enthält der Schein etwas von der Wahrheit. Er ist nicht Nichts. Es erscheint immer etwas. Aber es erscheint nicht als das, was es ist. So mutet der Schein dem Nachdenken eine Ambivalenz der besonderen Art zu: nämlich zugleich aufzudecken und zu verdecken. Diese doppelte und gegengerichtete Tendenz betrifft nun sowohl die Sprache als auch die Bilder. 119 Leopardi hat ein geradezu obsessives Interesse an den sprachlichen und bildli‐ chen Möglichkeiten der Illusionen. „[I]l poeta sopra qualunque altro ha bisogno d’illusioni potentissime, e dev’essere in mille cose straordinario e in alcune quasi pazzo, ma questo è un tempo di ragione e di luce che si burla degl’inganni“ 120 [Der Dichter braucht mehr als jeder andere kräftige Illusionen; er muss in tausend Dingen außergewöhnlich sein und in einigen fast wahnsinnig, aber dies ist eine Zeit der Vernunft und des Lichts, in der man sich über Täuschungen mokiert]. Folin bezeichnet die Illusion als „trasfigurazione mitopoietica“, die sich insofern als wahr erweist, wie sie geglaubt wird 121 (Kapitel 5.1). Die Frage, ob es ein Zurück zu verlorengegangen Formen des Lebens geben kann und der Bewusstseinswandel, der sich über die Jahrhunderte vollzogen hat, irreversibel ist, stellt sich vor allem der junge Leopardi, 122 in einer poetischen Form findet sie sich aber im ganzen Werk wieder. Was aber einst in seine Bestandteile zersetzt wurde, kann nur schwerlich wieder zusammengefügt werden. Die Vernunft scheint das Oppositionsverhältnis in der Moderne stark zu dominieren, und auch Leopardi kann sich von einer analytischen Denkweise nicht mehr trennen. Die Idee eines Gleichgewichts, in dem eine Synthese denkbar ist, findet sich zwar in seiner Lyrik und in seiner Philosophie, beim modernen Menschen vermisst er jedoch den Wunsch, diese Balance überhaupt anzustreben 123 : „[L]a natura vuol essere illuminata dalla ragione non incendita“ (Zib. 22) [Die Natur will von der Vernunft erleuchtet und nicht in Brand gesteckt werden]. Für Leopardi zeichnet sich die Moderne dadurch aus, dass das ‚Nichts‘ einen festen Platz 44 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="45"?> 124 Zib. 4525. 125 Dieter Henrich: Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, S. 109. im Bewusstsein eingenommen hat, auch wenn die meisten Menschen diesen Bestand nicht akzeptieren können oder wollen: „Due verità che gli uomini generalmente non crederanno mai: l’una di non saper nulla, l’altra di non esser nulla“ 124 [Zwei Wahrheiten, die die Menschen nie glauben werden: Die eine, nichts zu wissen, die andere, nichts zu sein]. Dieses ‚Nichts‘ bleibt zwar unbestimmbar, kann aber als Gedankenfigur nicht gestrichen werden, weil es in Leopardis Denken eine fundamentale Rolle einnimmt und Auswirkungen auf zahlreiche Verhältnisse in dem rhizomatischen Geflecht seines Werks aufweist. Deshalb muss ‚das Nichts‘ auch einen Platz in Leopardis Lyrik einnehmen, wenn er keinem Eskapismus verfallen will, zum Beispiel durch die Nachahmung der antiken Dichtung, die seine Zeit nicht mehr repräsentieren kann. Obwohl Leopardis dichterische Inspiration der antiken Literatur entspringt, besitzt er dennoch den Anspruch einer Aktualisierung der Literatur. Dieser Bestand bedingt zahlreiche Diskussionen zur Verortung von Leopardi im Klassizismus oder in der Romantik, die nicht abschließend beantwortet werden können. Im Folgenden wird nun verdeutlicht, wie sich die Orientierung am ‚Nichts‘ auf die gleitende Semantik auswirkt. 4.2 Gleitende Semantik Im Zentrum der gleitenden Semantik befindet sich die Gegenüberstellung von Vernunft und Natur, die den Orientierungsraum des Subjekts abstecken. An den bereits zitierten Versen und Passagen aus dem Zibaldone konnte der Leser fest‐ stellen, dass Leopardi insbesondere das Nichts als Orientierungspunkt benennt und die Gegensätze daran ausrichtet. Auch wenn Leopardi häufiger vom ‚Nichts‘ als vom ‚Sein‘ spricht, kann in einer Erkundung dieses Nichts die Frage nach dem ‚Sein‘ nicht außer Acht gelassen werden. Wenn das ‚Nichts‘ und das ‚Sein‘ in Beziehung zueinander gedacht werden, muss aus philosophischer Sicht die Frage gestellt werden, wie ein solches Verhältnis aussehen kann. Dann ist zu klären, ob sich die beiden in einem kontradiktorischen Ausschlussverhältnis befinden oder nicht. In den Betrachtungen zu Leopardis Nichts wurde bereits ein Verhältnis zwischen dem ‚Sein‘ und dem ‚Nichts‘ deutlich, in dem sie konträr zueinander gedacht wurden, wodurch „die Negation von Nichts ‚Etwas‘ und die von Sein ‚Nichtsein‘, am ehesten im Sinne von ‚Mangel‘“, 125 gedacht wurden. 4.2 Gleitende Semantik 45 <?page no="46"?> 126 Zib. 85. 127 Vgl. Dieter Henrich: Sein oder Nichts, S.-116. 128 Zib. 1545. Diese Bedeutung basiert im Deutschen auf dem Pronomen ‚nichts‘ und im Italienischen auf dem Pronomen ‚niente‘, welches das Seiende - ‚ni-ente‘ - bereits einschließt. Im Italienischen und vor allem von Leopardi wird überdies das Pronomen ‚nulla‘ (lat. nullus, ‚kein‘) verwendet. Statt ‚etwas‘ kann dem Pronomen ‚nichts‘ aber auch der radikalere Gegensatz ‚alles‘, ital. ‚tutto‘, entgegengestellt werden. Der Satz „tutto è nulla“ 126 muss also nicht, wie Severino vorschlägt, zeitlich gelesen werden, wodurch alles zu einem Nichts erklärt wird, weil es irgendwann wieder verschwindet, sondern kann mit ‚alles ist Mangel‘ übersetzt werden. Die Pronomen ‚nichts‘ und ‚niente‘ bzw. ‚nulla‘ bringen überdies häufig eine negativ wertende Bedeutung mit sich, obwohl die Pronomen auch einen negativen Zustand verneinen oder aufheben können. In diesem Sinne kann der Satz „tutto è nulla“ auch als ‚alles ist nichts wert‘ bzw. ‚alles ist nichtig‘ verstanden werden. Im allgemeinen Sprachgebrauch sind die Pronomen an der Erhöhung des Nichts zur Realität beteiligt, da das Fehlen von ‚etwas‘ zum generellen Mangel verallgemeinert werden kann. 127 Leopardi macht sich gerne die wertende Eigenschaft des ‚Nichts‘ zunutze, indem sich beispielweise in der Palinodia al Marchese Gino Capponi das lyrische Ich ironisch zu den Ansichten seiner Epoche äußert. Es verkehrt hierfür Werte wie die Ewigkeit, die Leopardi schätzt, „e vidi | come nulla quaggiú dispiace e dura“ (V.24-25) [Nichts hienieden missfällt uns und dauert ewig]. Überdies besitzt das Italienische die Möglichkeit der doppelten Verneinung ‚non … niente‘ oder ‚non … nulla‘, die keine Bejahung bewirkt: [La disperazione] nasce ed è mantenuta dalla speranza o di soffrir meno col non isperare nè desiderare più nulla […] o di esser più libero e sciolto e padrone di se e disposto ad agire a suo talento, non avendo più nulla da perdere, più sicuro […] in mezzo a qualunque futuro caso della vita […]. 128 [Die Verzweiflung wird entweder durch die Hoffnung geboren und erhalten, weniger zu leiden, indem man nichts mehr erhofft oder erwartet, oder indem man freier und ungebunden und Herr seiner selbst, bereit nach seinem Willen zu handeln ist, weil er nichts mehr zu verlieren hat, sicherer inmitten jedes zukünftigen Lebensereignisses.] In einer aversiven Umgebung löst die Hoffnung, die eigentlich Erleichterung verschaffen soll, Verzweiflung aus. Ohne die Hoffnung könnte der Mensch frei sein und die Aversion ihrer Macht berauben (Ataraxie). Das Thema wird in Kapitel 5.1 vertieft; um diesen Gedankengang in Bezug auf das Nichts zu erläu‐ 46 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="47"?> 129 Hier einzuwenden ist, dass im klassischen Behaviorismus nicht auf das Innere des Menschen geschaut wird, das als Blackbox verstanden wird. 130 Leopardi lehnt logische Sätze ab und eine derartige Analyse wird lediglich hervor‐ bringen, dass er sie missachtet. 131 Bei der positiven Verstärkung wird also ein angenehmer Reiz hinzugefügt (Beispiel: Nachtisch nach gesundem Essen), während bei der positiven Bestrafung ein aversiver Reiz hinzugefügt wird (Beispiel: Schläge nach unerwünschtem Verhalten). Bei der negativen Verstärkung wird ein aversiver Reiz entfernt (Beispiel: Schmerztabletten, die den Schmerz beseitigen und dadurch die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Einnahme des Medikaments erhöhen), wohingegen bei der negativen Bestrafung ein angenehmer Reiz entfernt bzw. entzogen wird (Beispiel: Fernsehverbot nach unerwünschtem Ver‐ halten). 132 Vgl. James E. Mazur: Lernen und Verhalten, München: Pearson 6 2006, S.-256-258. tern, lohnt sich jedoch ein Blick auf die Lerntheorie, 129 die sich hervorragend eignet, um ein fundamentales Phänomen in Leopardis Gedankenbewegungen zu erläutern, und die deshalb logischen Sätzen vorzuziehen ist. 130 In der Lerntheorie wird zwischen positiver Verstärkung bzw. Bestrafung und negativer Verstärkung bzw. Bestrafung unterschieden wird, wobei positiv bedeutet, dass etwas hinzugefügt wird und negativ, dass etwas entzogen wird. 131 Verstärker werden angewandt, um die Reaktion zu festigen und dadurch die Fre‐ quenz des Verhaltens zu erhöhen. Bestrafungen sollen die Reaktion schwächen und die Frequenz des Verhaltens verringern. 132 Die Bezeichnungen der beiden negativen Formen, aber insbesondere der negativen Verstärkung, sind nicht salient. Die negative Bestrafung wird unter der Bezeichnung ‚Entzug‘ verständ‐ licher und ihre Anwendung lässt sich beispielweise an der Hauptgeschichte in Shakespeares The Taming of the Shrew illustrieren, in der Petruchio seiner Frau Katherina alles entzieht und sie so in die Unterwerfung zwingt. Das Verständnis und die Anwendung der negativen Verstärkung gestalten sich deutlich kompli‐ zierter, weil zunächst überhaupt ein aversiver Reiz existieren muss, der dann entzogen werden kann. Das Beispiel der Medikamente verdeutlicht aber, dass die Gesetze der Lerntheorie auch ohne die bewusste Einwirkung durch Personen gelten. Auch die Umwelt sorgt für eine Anpassung des Verhaltens und formt dadurch den Menschen. Für Leopardis Werk ist diese Klassifizierung von Konsequenzen eines Ver‐ haltens interessant, weil dadurch deutlich wird, dass sich seine Überlegungen zum Verhältnis des Menschen zur Natur größtenteils im Bereich der negativen Verstärkung und Bestrafung bewegen. Die negative Verstärkung findet insbe‐ sondere in Leopardis Spätwerk eine Grundlage in einer feindlichen Natur, die den Menschen in einen sozialen Bund zwingt, wo er sich vor ihrem aversiven Einfluss schützen kann (La ginestra, Kapitel 8.1.). 133 Auch sind hier jene Men‐ schen zu nennen, denen Leopardi zuschreibt, dass sie den Reizen der Trugbilder 4.2 Gleitende Semantik 47 <?page no="48"?> 133 Auch die Vermeidung eines negativen Reizes vollzieht sich im Rahmen der Gesetze der negativen Verstärkung. 134 Mit dieser Beschreibung eines internen Prozesses, der von außen nicht beobachtet werden kann, trennen wir uns hier von der klassischen Lerntheorie. 135 Vgl. Dieter Henrich: Sein oder Nichts, S.-106-109. verfallen, um die negative ‚Wahrheit‘ nicht anerkennen zu müssen. 134 Negative Bestrafungen erfolgen durch eine schöpfende Natur (man bedenke auch hier wieder, dass Leopardis Natur polyvalent ist), die ein Erwachsenenleben vorsieht, in dem die kindlichen Illusionen keinen Bestand haben und den Menschen ohne Sinn und Zweck einer kontingenten Existenz überlassen (Il tramonto della luna, Kapitel 8.3). Eine Natur, die den Menschen mit einem defizitären Körper ausstattet, wie Saffo kläglich erfahren muss, welcher die Natur alle positiven Sinneserlebnisse entzieht, bis sie vollkommen depriviert ist (siehe Kapitel 7.1). Insbesondere Strophen, die Resümee ziehen, thematisieren die negative Bestrafung, wie am Beispiel von Il tramonto della luna deutlich wird: D’intelletti immortali Degno trovato, estremo Di tutti i mali, ritrovàr gli eterni La vecchiezza, ove fosse Incolume il desio, la speme estinta, Secche le fonti del piacer, le pene Maggiori sempre, e non più dato il bene. (Il tramonto della luna, V.44-50) [Ihres unsterblichen Geistes würdig befanden die Götter und entdeckten das äußerste aller Übel, das gebrechliche Alter, wo ungebrochen die Sehnsucht, die Hoffnung erloschen, vertrocknet sein sollte der Quell der Freuden, die Plagen ständig vermehrt und versagt jedes Wohlbehagen.] In einer bildlichen Sprache wird der Entzug metaphorisch beschrieben, wie hier durch „estinta“ (V.48) oder „secche“ (V.49). Die Übertragung zwischen den Konzepten entsteht durch ein Gegensatzverhältnis - ‚existierend‘ und ‚ausge‐ löscht‘ oder ‚trocken‘ und ‚feucht‘ -, das auf Ausschluss basiert. Verhältnisse, die durch den gegenseitigen Ausschluss charakterisiert werden, bestehen aus zwei unterschiedlichen Zuständen, die nicht gleichzeitig zutreffen können und deren Gegenteil durch die Verneinung ausgedrückt werden kann: So können ‚lebendig‘ oder ‚tot‘ auch durch ‚nicht tot‘ oder ‚nicht lebendig‘ ausgedrückt werden. Das Verhältnis wird durch die Konjunktion ‚oder‘ abgebildet. 135 Zu‐ stände, wie ‚heiß‘ und ‚kalt‘ oder ‚trocken‘ und ‚feucht‘ können sich innerhalb einer Skala annähern und ineinander übergehen. Dies betrifft jedoch keine 48 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="49"?> 136 Ebd., S.-109. 137 Auch Sartre analysiert das Sein und das Nichts in Relation zueinander. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg: Rowohlt 11 2005. Zustände, die sich außerhalb unserer sinnlichen Wahrnehmung befinden und dadurch auch außerhalb unserer Imagination. Während ‚lebendig‘ als Skala gedacht werden kann, kennt ‚tot‘ - außerhalb eines rhetorischen, auf Analogien beruhenden Sprachgebrauchs - keine unterschiedlichen Intensitäten. In diesen Fällen sind beide Bereiche so klar voneinander getrennt, dass das Übertreten der Grenze nur durch einen Sprung möglich ist. Dieses Phänomen wurde bereits deutlich in Leopardis Beispiel zur Immaterialität, die nur durch einen möglichst schwachen Grad an Materialität gedacht werden kann, wodurch ein Wechsel in den Bereich der Immaterialität jedoch nicht denkbar wird, weil die Abschwächung grenzenlos denkbar ist. Man denke an Nachkommastellen, die beliebig erweitert werden können, ohne jemals die Nullstelle zu erreichen. Lust und Unlust hingegen, welche eigentlich beide graduell gedacht werden können, denkt Leopardi als Gegensätze, die durch einen Umschwung erfolgen, also wie eine Kippfigur. Ironische Überlegungen zu diesen Gegensätzen finden sich im Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie (siehe Kapitel 6.2). Wenn ‚das Nichts‘ und ‚das Sein‘ in Beziehung zueinander gedacht werden, können sie auch als allbezügliche Totalitäten verstanden werden: „Das Allbe‐ zügliche meint immer das All von all den Einzelnen, die das All einschließt.“ 136 In diesem Verhältnis werden sie jedoch unbestimmbar. Klar ist, dass die Negation einer Totalität zum Gegenteil führt; in dem geläufigen Verhältnis ‚das Sein‘ und ‚das Nichts‘ 137 legt die Konjunktion ‚und‘ aber eine gleichzeitige Anwesenheit (zeitlich oder relational) nahe. Solche Überlegungen finden sich zwar häufig bei Leopardi, jedoch nicht ohne Ironie und Hohn: Il tempo non è una cosa. Esso è uno accidente delle cose, e indipendentemente dalla esistenza delle cose è nulla; è uno accidente di questa esistenza; o piuttosto è una nostra idea, una parola. La durazione delle cose che sono, è il tempo [… . L]’esser del tempo non è altro che un modo, un lato, per dir così, del considerar che noi facciamo la esistenza delle cose che sono, o che possono o si suppongono poter essere. Medesimamente dello spazio. Il nulla non impedisce che una cosa che è, sia, stia, dimori. Dove nulla è, quivi niuno impedimento è che una cosa non vi stia o non vi venga. Però il nulla è necessariamente luogo. È dunque una proprietà del nulla l’esser luogo: proprietà negativa [… . L]o spazio non è altro che un modo, un lato, del considerar che noi facciamo il nulla. Dove è nulla quivi è spazio, e il nulla senza spazio non si può dare. […] La conclusione si è che tempo e spazio non sono in sostanza altro 4.2 Gleitende Semantik 49 <?page no="50"?> 138 Vgl. Dieter Henrich: Sein oder Nichts, S.-124. che idee, anzi nomi. E quelle innumerabili e immense quistioni agitate dalla origine della metafisica in qua, dai primi metafisici d’ogni secolo, circa il tempo e lo spazio, non sono che logomachie, nate da malintesi, e da poca chiarezza d’idee e poca facoltà di analizzare il nostro intelletto, che è il solo luogo dove il tempo e lo spazio, come tante altre cose astratte, esistano indipendentemente e per se medesimi, e sian qualche cosa. (Zib. 4233.) [Die Zeit ist kein Ding. Sie ist eine Akzidenz der Dinge und unabhängig von ihrer Existenz ist sie nichts; sie ist eine Akzidenz der Existenz oder vielmehr unsere Idee, ein Wort. Zeit ist die Dauer der Dinge, die sind. Das Sein der Zeit ist sozusagen nichts anderes als ein Modus, ein Aspekt unserer Überlegungen zu Dingen, die sind, sein können oder von denen man annimmt, dass sie sein können. Das Gleiche gilt für den Raum. Das Nichts verhindert nicht, dass ein Ding, das ist, ist, bleibt, verweilt. Wo das Nichts ist, da ist nichts, was ein Ding vom Sein abhält oder vom Entstehen. Aber das Nichts ist notwendigerweise ein Ort. Es ist somit eine Eigenschaft des Nichts, ein Ort zu sein: Eine negative Eigenschaft. Der Raum ist nichts anderes als ein Modus, ein Aspekt der Überlegungen, die wir über das Nichts anstellen. Wo nichts ist, da ist Raum und dort kann nicht nichts sein ohne Raum. Die Schlussfolge ist, dass Zeit und Raum in ihrer Substanz nichts anderes sind als Ideen, besser noch, Namen. Und jene unzähligen und immensen Fragen, die seit dem Beginn der Metaphysik diskutiert wurden, von den führenden Metaphysikern eines jeden Jahrhunderts, bezüglich der Zeit und des Raums, sind nichts anderes als Wortgefechte, geboren aus Missverständnissen und Unklarheiten über die Ideen und geringe Fähigkeiten unseren Verstand zu analysieren, der der einzige Ort ist, an dem die Zeit und der Raum, wie auch viele andere abstrakte Dinge unabhängig und für sich selbst existieren und etwas sind.] Die Totalitäten können nicht gedacht werden und fallen für Leopardi automa‐ tisch zusammen; die Unterscheidung wird sinnlos und spiegelt dadurch erneut das Problem der mangelhaften menschlichen Imagination. Obwohl Leopardi ontologische Überlegungen zur Willkür erklärt, kann das Thema an dieser Stelle nicht abgeschlossen werden, denn in einer Gegensatzrelation von Totalitäten können ‚das Sein‘ und ‚das Nichts‘ prozessual gedacht werden. ‚Das Nichts‘ wird dann als prozessualer Abstieg gedacht und ‚das Sein‘ als Anstieg. Für ‚das Sein‘ bedeutet dies den Abbau von Bestimmtheit, um alles in einem Ganzen zu vereinen. 138 Während dies für ‚das Sein‘ schon problematisch ist, da der Abbau aller Bestimmtheit die Leere zum Ergebnis hat, die zum erfüllten Gedanken umgekehrt werden muss, ist ‚das Nichts‘ undenkbar. Trotzdem bleiben beide Totalitäten als Gedankenprogramme in der Sprache erhalten. Jedes Einzelne 50 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="51"?> 139 Ebd., S.-106-107. 140 Vgl. ebd. S.-110. 141 In Derridascher Terminologie wäre die Vernunft das Supplement zur höherwertigen und ursprünglichen Natur. Derrida untersucht in seiner Rousseau-Lektüre gegensätz‐ liche Begriffe wie „Natur / Kultur“ und „Sprache / Schrift“. Dabei stellt er fest, dass jede Definition des primären Begriffs auf das Supplement angewiesen ist, das dadurch ins Zentrum gerückt wird. Der Gegensatz wird dadurch zersetzt und die metaphysische Basis von Begriffen wie Ursprünglichkeit und Natürlichkeit wird entblößt. Vgl. v. a. Teil 2 in: Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 14 2019. 142 Siehe hierzu u.-a. Zib. 106-107. kann dann nach seiner Zugehörigkeit zu den Allbezüglichkeiten befragt werden. Was also irgendwie existiert, wird wohl ‚dem Sein‘ zugeordnet und sollte da‐ durch ‚das Nichts‘ ausschließen. Diese Relation ist von existentieller Bedeutung für das Subjekt, das den Allbezüglichkeiten Gehalte zuordnen kann: In einem ontologischen Konzept, das Sein und Nichts eine prozessurale Bedeutung gibt, kann sich das Subjekt als entweder gestützt und affirmiert oder nur de facto eingebunden, ansonsten aber marginalisiert und ephemer erfahren. […] Als der Gehalt dieses Ausdrucks ergibt sich nämlich die Sequenz: ‚Aufhebung von Jeglichem, allbefassendes Schwinden, Fremdsein in allem‘. 139 Henrich identifiziert für Beckett das ‚Fallen‘ und für Hölderlin das ‚Vereinigen‘ als fixierte Gehalte, die sich nach ‚dem Sein‘ und ‚dem Nichts‘ ausrichten. 140 Durch diese Programmerweiterung verliert die Zuordnung ihren banalen Cha‐ rakter, da er nicht mehr offensichtlich (durch die Existenz) erkennbar ist. In Leopardis Gedankenprogramm gibt es nicht nur ein Gedankenprogramm, das auf das Nichts verweist: die Vernunft, verstanden als Zerteilung und Auflösung ins ‚Nichts‘, Endlichkeit, Sterben, die Philosophie, die Moderne an sich, das vereinzelte Individuum und der Geist. Auch im Grenzbereich der falschen Illusionen lassen sich die Orientierung an einem trughaften Fortschrittsdenkens und der Egoismus durch Tugendlosigkeit dem Gedankenprogramm des ‚Nichts‘ zuordnen. In den Bezugsbereich des ‚Seins‘ fallen die Natur, die Antike, die Poesie, Gleichheit unter Menschen, Stärke und Größe, Unendlichkeit, Leben und Materie. Im Grenzbereich befinden sich hier die Illusion und die Imagination. Die einzelnen Gehalte können also, zumindest vorübergehend, einem Bereich, der auf das Gedankenprogramm des Nichts verweist, und einem Bereich, der auf das Gedankenprogramm des Seins verweist, zugeordnet werden. 141 Der Trivialität entzieht sich Leopardi dabei, indem er die Grenzen beständig übertritt. Eines von vielen Beispielen ist die Gleichsetzung des Nichts mit der Materie, die zwar durch die zeitliche Dimension begründet werden kann, aber trotzdem eine Eigendynamik innerhalb der gleitenden Semantik entwickelt. 142 4.2 Gleitende Semantik 51 <?page no="52"?> 143 Zib. 165. In einer entgötterten Welt besitzt das ‚Sein‘ keine Stütze mehr und ist dadurch gefährdet. Das absolute Sein, in Form des Ideals, verschiebt sich in den Bereich der Illusionen und gerät unter Verdacht, nicht seiend zu sein: Der Glaube an die absolute Schönheit entpuppt sich in der Canzone Alla sua donna als fragiles menschliches Konstrukt der Orientierung (Kapitel 6.3). Durch die ständige Gleichsetzung der wahrgenommenen Realität mit dem ‚Nichts‘, il solido nulla, und durch die Ausdehnung des regionalen Nichts zum absoluten Nichts ist der Gegensatz in den negativen Bereich verschoben. Die Verknüpfung der Vernunft mit dem ‚Nichts‘ funktioniert im doppelten Sinne: Durch die Verbindung mit dem sokratischen Vorbehalt gegenüber Wissen wird das Wissen selbst mit einem ‚Nichts‘ gleichgesetzt, da dieses nicht verlässlich ist. Der Mensch nimmt auseinander, was vorher für ihn bestanden hat, und erhält im Tausch dafür ein Trugbild, das die Kraft der Illusionen nicht besitzt, weil es aus dem ‚Nichts‘ schöpft. Durch die Polyvalenz entfalten die Denkbewegungen eine freie Dynamik und die Gehalte verlieren bisweilen gar ihren Bezugspunkt. In diesem Spiel kann plötzlich das schmerzhafte Leben auf ‚das Nichts‘ verweisen und der Tod auf ‚das Sein‘ (siehe Kapitel 6.1). Hier müssen sie aber nicht fixiert werden. In einer Welt, die als aversiver Ort empfunden wird, kann nicht ausschließlich die Vernunft für jedes Leiden verantwortlich gemacht werden. Schon in frühen Überlegungen wird die einfache Unterteilung brüchig, weil sie eine glückliche ‚Ur-Form des Mensch-Seins‘ voraussetzt, die jedes körperlich erfahrene Leid überwiegt, und im Einklang mit der Natur lebt. Dass diese Theorien auf Spekulationen basieren, stellt Leopardi bereits früh fest (siehe Kapitel 5). Problematisch ist jedoch vor allem das Begehren selbst, das die Gegensätz‐ lichkeit durchbricht: „Il sentimento della nullità di tutte le cose, la insufficenza di tutti i piaceri a riempierci l’animo, e la tendenza nostra verso un infinito che non comprendiamo“ 143 [Das Gefühl der Nichtigkeit aller Dinge, die Unzulänglichkeit aller Vergnügen, uns das Gemüt zu füllen, und die Tendenz unseres Strebens nach einem Unendlichen, das wir nicht verstehen]. In der teoria del piacere, einer Glücksbzw. Unglückstheorie, die Leopardi im Zibaldone entwirft, erhebt das Subjekt Anspruch auf die absolute Erfüllung seines Begehrens und sieht sich deshalb der Nichtigkeit aller Dinge ausgesetzt. Zwischen den beiden Zuständen der vollen Erfüllung und Nicht-Erfüllung von Lust ergeben sich zunächst keine graduellen Oppositionen, da sie aus der absoluten Opposition Endlichkeit und Unendlichkeit abgeleitet werden. Leopardi schränkt diesen drastischen Gegen‐ satz jedoch dadurch ein, dass graduelle Erfüllung für den naiven Menschen 52 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="53"?> 144 Klinkert spricht Leopardi einen psychoanalytischen Scharfsinn zu. Vgl. Thomas Klin‐ kert: Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Untersuchungen zur Liebesse‐ mantik bei Rousseau und in der europäischen Romantik, Freiburg i.Br.: Rombach 2002, S.-230. 145 Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhun‐ derts, München: Fink 2003, S.-373. 146 Il pensiero dominante, V.21-23. sowie für Kleingeister, die ihren eigenen Zustand nicht reflektieren können und sich ablenken lassen, durchaus erreichbar sei. Diese Einschränkung wird er später wieder in Frage stellen. Leopardi bezieht sich dabei auf alle Formen des Begehrens, also beispielsweise auch auf die Liebe. 144 Die Theorie markiert den Riss zwischen der Gegenstands- und Vorstellungswelt. 145 Die Anwesenheit bzw. die partielle Erfüllung des erwünschten Begehrens zeigt seinen Mangel. Die Lust schwingt um in Unlust. Für Leopardi ändert sich die Qualität eines Gehalts je nachdem, auf was er verweist: Während die Illusion auf einem ‚Nichts‘ basiert, ebenso wie die Imagination, die etwas erbaut, ist das piacere kein ‚Nichts‘, es enthält aber ein ‚Nichts‘, das sich schmerzhaft offenbart. Così elleno [le cose ch’esistono] son nulla alla felicità dell’uomo, non essendo un nulla per se medesime. E chi potrebbe chiamare un nulla la miracolosa e stupenda opera della natura […] benchè a noi per verità ed in sostanza nulla serva? poichè non ci porta in niun modo mai alla felicità. (Zib. 2936-2937) [Die Dinge, die existieren, bedeuten für das Glück des Menschen nichts, da sie selbst nichts sind. Und wer würde die wunderbaren und erstaunlichen Werke der Natur ein Nichts nennen, obwohl sie in Wahrheit und im Wesentlichen nichts nützen? Weil sie uns in keiner Weise zum Glück führen.] Die Enttäuschung ist ein fester Bestandteil des piacere und eine direkte Konse‐ quenz des Nicht-Seienden im Seienden. Durch die Enttäuschung schwingt die Lust in Unlust um. Die unbegrenzte Lust ist es auch, die Leopardi den Satz des Widerspruchs - non potest idem simul esse et non esse - in Frage stellen lässt. In seiner Unfähigkeit, glücklich zu sein, ist der Mensch paradoxerweise gleichzeitig unfähig, unglücklich zu sein, „il non poter non essere infelice“ 146 [die Unmöglichkeit, nicht unglücklich zu sein], da er beständig weiter nach dem absoluten Glück strebt, obwohl er es nicht haben kann. Später überträgt er das Phänomen auf alle Lebewesen und kommt zu dem Ergebnis, dass das Ziel der Natur nicht mit dem Ziel der Lebewesen übereinstimmt. Es wird sich zeigen, dass Leopardi durch die Polyvalenz des Nichts und durch die gleitende Semantik ein System entwirft, in dem nichts Bestand hat. Die Verallgemeinerung des regionalen Nichts führt zur Auflösung eines jeden 4.2 Gleitende Semantik 53 <?page no="54"?> 147 Zum Beispiel: Zib. 4181. 148 Vgl. Dieter Henrich: Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, S.-134, 172. 149 Lucio Felici: „Il nulla e il riso“, in: Il riso Leopardiano. Comico, Satira, Parodia, a cura di Rolando Garbuglia, Firenze: Olschki 1998 [= Atti del IX Convegno internazionale di studi leopardiani], S.-15. 150 Dieses Phänomen könnte durchaus mit Entfremdungstheorien analysiert werden. Eine derartige Analyse liegt aber außerhalb der Zielsetzung dieser Arbeit. unvollständigen ‚Seins‘ und schließlich sogar zu Aussagen, die eine komplette Auflösung der Gehalte, die mit ‚dem Sein‘ verbunden werden, beschreiben. 147 Dieser Prozess führt in der Rezeption zu der Vorstellung, dass Leopardi sich beständig radikalisiert und seine Literatur negativer wird. Gegenbewegungen, die sich auf der poetologischen Ebene abspielen, werden dabei größtenteils ignoriert. Ebenso wird ignoriert, dass Leopardis System auch durch dieses Verfahren Unschärfe produziert. Es kommt zu einem ständigen Flimmern der Bedeutungen. Dieses wird auch auf der Bildebene reproduziert. 148 Bevor wir uns aber der Bildebene widmen, werfen wir kurz einen Blick auf das Konzept der Fremdheit, ein zentrales Motiv, das eng mit Leopardis Nichts verbunden ist und im Spannungsverhältnis der gleitenden Semantik steht. 4.3 Das Fremde Von Anfang an zieht sich ein Phänomen durch das gesamte Werk, das auch bei den Verkehrungen der Verhältnisse stets bestehen bleibt: Die Unzugehörigkeit und die daraus entstehende mangelhafte Kenntnis produzieren im Subjekt - oder zumindest im sensiblen Subjekt - ein Gefühl der Fremde. Die Fremdheit ist ein Phänomen, für das es keinen Ausweg gibt: „[L]’arcano di Leopardi non è qualcosa che si libri o induca a librarsi verso l’„oltre“, non reca in sé alcuna chance trascendentale e, tantomeno, salvifica.“ 149 In Leopardis frühen Theorien ist ein idealisierter ‚Ur-Typ‘ der Ausgangspunkt für eine Verfallsgeschichte, die Hand in Hand mit der Entfremdung 150 von der Natur einhergeht. In diesem ursprünglichen Zustand gibt es keine Vereinzelung, keine Entfremdung, keine Dezentrierung und keinen Egoismus. Die Menschen leben in einer ‚natürlichen‘ Gesellschaftsordnung, die ohne Ausdifferenzierungen existiert und kaum Re‐ geln oder Strafen kennt (siehe Kapitel 5.1.2). In seiner Urform lebt dieser Mensch so, wie es seiner ‚Essenz‘ entspricht. Leopardi wird die Existenz eines solchen ‚Ur-Typus‘ später in Frage stellen. Dadurch, dass es sich beim ‚Ur-Typus‘ um ein Ideal handelt, das innerhalb von Leopardis Denkbewegungen nicht von Dauer sein kann, wird sich dieses auflösen, wodurch der Verfallstheorie als Entfrem‐ 54 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="55"?> dungstheorie die Basis genommen wird. Ohne diese Basis müsste eigentlich die Frage aufgeworfen werden, ob dann überhaupt noch eine Entfremdung vorliegt und stattdessen nicht nur ein generalisiertes Gefühl der Fremde in Leopardis Spätwerk existieren müsste. Immerhin zwingt die Natur - nicht mehr „madre“, sondern „matrigna“ - die Menschheit in La Ginestra in einen sozialen Bund. Doch Leopardis Natur ist und bleibt polyvalent (siehe Kapitel 5.2) und der Mensch hat sich, im Versuch, sich gegen und über sie zu stellen, von ihr entfremdet. Das allgemeine Gefühl der Fremde (das nicht auf Entfremdung begrenzt ist) kommt in unterschiedlichen Formen zum Ausdruck: Als vertraute Illusion oder als ein bekanntes Gefühl, das sich als falsch entpuppt, in einem entleerten Mythos oder einer Idylle, die tatsächlich eine Anti-Idylle ist. Im Gedicht Alla primavera o delle favole antiche führt uns ein gealtertes lyrisches Ich durch eine Frühlingslandschaft, in der die Natur zu erwachen scheint und die Sinne belebt: „Vivi tu, vivi, o santa | natura? vivi e il dissueto orecchio | della materna voce il suono accoglie? “ (V.20-22) [Du lebst, du also, heilige Natur? Du lebst noch, und das entwöhnte Ohr vernimmt den Klang der mütterlichen Stimme? ]. Im Folgenden wird durch ein von Göttern bewohntes Arkadien eine mythische Vergangenheit evoziert, die den Kontrast zur gegenwärtigen letzten Strophe darstellt. Hier wird die Trennung von Mensch und Natur beschrieben: „Ma non cognato al nostro | il gener tuo; quelle tue varie note | dolor non forma, e te, di colpa ignudo, | men caro assai la bruna valle asconde” (V.77-80) [Doch nicht verwandt mit dem unsern ist dein Geschlecht. Denn deine klangreichen Lieder gebiert nicht der Schmerz, und, frei von Schuld, verbirgt dich, uns nun weit weniger teuer, das schattige Tal]. Die Natur kann in dieser ersehnten Form nicht mehr gespürt werden und fühlt sich fremd an; die Götter sind verschwunden: „Ahi ahi, poscia che vote | son le stanze d’Olimpo“ (V.81-82) [Wehe uns! Leer sind wieder die Räume des Olymp]. In Leopardis Texten wird beständig ein Kontrast zwischen dem Inneren und Äußeren thematisiert, der in den Gedichten durchbrochen wird. Das rationale Durchdringen der Natur hat ihre Fremdheit an die Oberfläche gebracht, die nun gefühlt wird: „Arcano è tutto | Fuor che il nostro dolor“ (Ultimo canto di Saffo, V.46-47) [Dunkel ist alles, außer unserem Schmerz]. In der Auseinandersetzung mit der äußeren Welt erfährt das Subjekt, trotz seiner kontingenten Situation, eine Affirmation durch sein eigenes Leiden. Der Schmerz gibt ihm einen Halt, den es außen nicht finden kann. Durch das Leiden besitzt das sensible Subjekt zumindest Kenntnisse über sich selbst, obwohl es sich von seiner Essenz entfremdet hat. Dabei bleibt das Problem bestehen, dass das Subjekt seine Rolle in der Welt nicht kennt: „Ed io che sono? “ (V.89) [Und ich, was bin ich] fragt der 4.3 Das Fremde 55 <?page no="56"?> 151 Vgl. Sylwia Chomentowska: „Das Nichts (re)präsentieren. Negation und Episteme in der Kunst um 1800“, in: Alessandro Bertinetto / Christoph Binkelmann (Hrsg.): Nichts-Negation-Nihilismus, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2010, S. 185. Chomentowska widerspricht der Hypothese, dass Bilder nicht negieren können. Sie zeigt dies an den Bildern von J.M.W. Turner, dem seine Zeitgenossen vorwarfen, er würde ‚das Nichts‘ malen. Der Grund für diese Kritik sind die undefinierten Bereiche und Linien in seinen Werken. Eine Gegenüberstellung mit Leopardis Theorien und Gedichten zum „in(de)finito“ wäre als interdisziplinäre Studie denkbar, um dieser Frage nachzugehen. 152 Vgl. Rainer Stillers: „Der ‚canto‘ in den Canti. Beobachtungen zu einem poetologischen Motiv“, S.-59. 153 Zib. 51. Hirte im Canto notturno di un pastore errante dell’Asia. Seine Zugehörigkeiten, die im Zuge der Verschiebungen innerhalb der gleitenden Semantik geprüft werden, bleiben ungeklärt. In Il tramonto della luna drückt Leopardi dann in einem Zeugma pointiert einen Zustand aus, in dem sich Mensch und Welt gegenseitig fremd geworden sind: „[E] vede | che a se l’umana sede, | esso a lei veramente è fatto estrano“ (V.31-33) [und er erkennt, dass die Welt, die er für die seine hält, ihm nicht mehr und er ihr nicht mehr zugehört]. 4.4 Verbildlichung Negativität ist unumstritten ein Leitmotiv in Leopardis Werk. Während Sprache die Fähigkeit zur Negation besitzt, zeigen und verweisen Bilder auf etwas und affirmieren es dadurch. Traditionell wird der Kunst deshalb oft ein negierendes Potential abgesprochen. 151 Stillers schreibt der imaginativen Dimension eine autonome Rolle im Werk zu, weil sie trotz einer Verneinung fortbestehen kann. 152 Imagination und Illusionen nehmen deshalb eine besondere Rolle in Leopardis Lyrik ein, aber ebenso in seinen philosophischen und gesellschaftli‐ chen Theorien. Für Leopardis Poetik bedeuten sie, dass die Kunst zumindest vorübergehend wiederherstellen kann, was nicht (mehr) vorhanden ist. Kunst weitet die Grenzen, die durch das ständige Differenzieren beständig verengt werden. Angeregt von sinnlichen Erlebnissen - der Anblick einer Szenerie, der Klang eines Liedes etc. - können vergangene Ereignisse spontan aufleben. Illusionen machen das karge Leben lebenswert: „Il più solido piacere di questa vita è il piacer vano delle illusioni. Io considero le illusioni come cosa in certo modo reale, stante ch’elle sono ingredienti essenziali del sistema della natura umana“ 153 [Die solideste Lust in diesem Leben ist die eitle Lust der Illusionen. Ich halte Illusionen in gewissem Sinne für real, da sie essentielle Zutaten im System der menschlichen Natur sind]. 56 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="57"?> 154 Ein Überblick hierzu findet sich in: Barbara Kuhn und Michael Schwarze: „Von Erde, Mond und anderen Bildern: Einleitende Überlegungen zur Frage von Bild, Bildlichkeit und Einbildungskraft im Werk Giacomo Leopardis“, in: dies. (Hrsg.): Leopardis Bilder. Immagini e immaginazione oder Reflexionen von Bild und Bildlichkeit, Tübingen: Narr 2019, S.-7-19. 155 Vgl. Margaret Brose: „Leopardi’s ‚L’infinito‘ and the language of the romantic sublime“, in: Poetics Today, Vol. 4,1 (1983), S.-47-71. 156 „[L]a dimensione allegorica di una contemplazione in sito elevato“, in: Titus Heyden‐ reich: „E il naufragar m’è dolce in questo mare“, in: Leopardi. Poeta e pensatore / Dichter und Denker, a cura di Sebastian Neumeister e Raffaele Sirri, Napoli: Guida 1997, S.-229 157 Zib. 256. 158 Antonio Prete: „Sull’Antropologia poetica di Leopardi“, in: Chiara Gaiardoni (a cura di): La prospettiva antropologica nel pensiero e nella poesia di Giacomo Leopardi, Firenze: Olschki 2010, S.-3. Es erweist sich als erstaunlich schwierig, Leopardis Bildsprache einer rheto‐ rischen Figur zuzuordnen. 154 Da die Bildsprache in dieser Arbeit im Rahmen der gleitenden Semantik gelesen wird, werden die Bilder als Metalepsen 155 ver‐ standen, also als uneigentliches Sprechen, das durch die Substitution von einem Diskurs durch einen anderen entsteht. Dabei wird nicht ausgeschlossen, dass Leopardis Lyrik auch Metaphern enthält, wenn diese auch keinen dominanten Raum einnehmen. Auch allegorische Dimensionen 156 der Bildsprache sind in Gedichten wie L’infinito denkbar oder die Betrachtung des Ginsterbuschs in La ginestra als Parabel. Einige Motive treten wiederholt auf und markieren das Wechselspiel zwischen den unterschiedlichen Gehalten. Eingebunden in Analogien, Chiasmen und Parallelismen erfahren sie eine beständige Bedeu‐ tungserweiterung. Prete beschreibt anhand eines Eintrags im Zibaldone - „Una casa pensile in aria sospesa con funi a una stella“ 157 [Ein in der Luft schwebendes Haus, das mit Seilen an einem Stern hängt] - eine typische Motivkonstellation, die wiederholt in Leopardis Gedichten zu finden ist: [L]a leggerezza, ad esempio, con l’implicito senso di elevazione, cioè di sguardo rivolto dall’alto verso il linguaggio del mondo e delle cose, così come prenderà forma nell’Elogio degli uccelli; la presenza cosmografica (una stella) come principio che sostiene persino ciò che è più familiare (una casa); infine il legame (con funi) tra quel che è sovranamente altro, inattingibile, inappartenente, e quel che è terrestre e quotidiano, insomma il legame tra lontananza e prossimità, tra oltretempo stellare e condizione umana. 158 Die Leichtigkeit spiegelt sich in dem spielenden Kind, dem Motiv des Vogels und dem Gesang; der Kosmos durch den Mond, die Sterne oder den Horizont; das familiäre Element kann eine Hecke sein, das Haus, ein Dorf oder ein Hügel; verbunden werden die Elemente häufig über die Deixis, die auch die Rolle des 4.4 Verbildlichung 57 <?page no="58"?> 159 Rainer Stillers: „Der ‚canto‘ in den Canti. Beobachtungen zu einem poetologischen Motiv“, S.-52. 160 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, Stuttgart: Reclam 2002, S.-67. 161 Ebd. S.-69. Subjekts übernimmt, das den Blick durch das Gedicht anleitet. Das Indefinito entsteht durch die Vagheit des Bildes. Es fällt nicht schwer, die einzelnen Motivkonstellationen in die gleitende Semantik einzuordnen, dabei muss jedoch mit Vorsicht vorgegangen werden. Stillers warnt davor, die Gedanken des Zibaldone unreflektiert auf die Lyrik zu übertragen: „Negiert man nicht das Gedicht als Gedicht, wenn man es als eine versifizierte oder als rhetorisierte Fassung der Prosanotiz versteht? “ 159 Stattdessen muss in jedem Zusammenhang erneut geprüft werden, welche Ver‐ änderungen durch die poetische Bearbeitung der Themen entstehen. Die glei‐ tende Semantik wird also zusätzlich verkompliziert durch eine Schreibpraxis, die aus poetischen und philosophischen Ansätzen besteht. Die Mehrdeutigkeit weitet sich auf die bildliche Ebene aus, und von hier aus wirkt sie zurück auf die philosophischen Schriften. Leopardis Bildspender werden dabei beständig verformt und weiterentwickelt. Durch das starke Spiel mit Similaritäten können einige Bilder auch als Analogien verstanden werden. Das Kind wird häufig analog zur Natur oder zu Gott gedacht und oszilliert dabei zwischen Beobachtungsobjekt und Aktant. Einerseits versinnbildlicht es Naivität und Natürlichkeit, lässt sich insofern als Motiv der idyllischen Dichtung verstehen. Schiller definiert in Über naive und sentimentalische Dichtung den Kern von Idyllen als die „Darstellung unschul‐ diger und glücklicher Menschheit“ 160 . Dieses Glück kann im Landleben oder bei der Beobachtung des Kindes erlebt werden. Ebenfalls kann es in den Ursprüngen der Menschheit imaginiert oder durch die Erinnerung an die eigene Kindheit aufgerufen werden: Alle Völker, die eine Geschichte haben, haben ein Paradies, einen Stand der Unschuld, ein goldnes Alter; ja jeder einzelne Mensch hat sein Paradies, sein goldnes Alter, dessen er sich, je nachdem er mehr oder weniger poetisches in seiner Natur hat, mit mehr oder weniger Begeisterung erinnert. 161 Glück und Unschuld sind hier das tertium comparationis für die Analogie zwischen Kind, Natur und Urzustand. Für Leopardi liegt das Primat jedoch nicht auf der Unschuld, stattdessen sind dies die Zeiten und Quellen der Illusion. Dadurch ist das Kind für den Dichter von größter Bedeutung, da mit seinen imaginativen Fähigkeiten, die es aus Illusionen schöpft, eine verlorene Form 58 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="59"?> 162 Zum Mythos der Kindheit siehe: Milan Herold: Der lyrische Augenblick als Paradigma des modernen Bewusstseins. Kant, Schlegel, Leopardi, Baudelaire, Rilke, Göttingen: V&R 2017, S.-311-348. 163 Zum Kontrast aus Linearität und Zyklizität siehe Kapitel 8.3. der Literatur verbildlicht wird sowie auch eine verlorene Form des Seins. Die Verknüpfung aus goldenem Zeitalter, Kindheit und Natur wird in Alla primavera in mythischem Gewand 162 verarbeitet. Der Beginn des Frühlings, in dem die erblühende Natur die Sinne der Menschen wieder anregt, wirft die Frage auf, ob auch der Mensch seine blühende Jugend erneut spüren kann: Forse alle stanche e nel dolor sepolte Umane menti riede La bella età, cui la sciagura e l’atra Face del ver consunse Innanzi tempo? Ottenebrati e spenti Di febo i raggi al misero non sono In sempiterno? ed anco, Primavera odorata, inspiri e tenti Questo gelido cor, questo ch’amara Nel fior degli anni suoi vecchiezza impara? (Alla primavera. V.10-19) [Kehrt da in die schmerzvergrabenen matten Herzen der Menschen etwa die schöne Jugend zurück, die das Unglück und die düstere Fackel der Wahrheit verzehrten vor der Zeit? Sind nicht verdunkelt und erloschen für den Ärmsten in Ewigkeit die Strahlen des Phöbus? Duftender Frühling, regst und versuchst du noch einmal dieses erkaltete Herz, das des Alters Plagen bitter erlernt in blühenden Jugendtagen? ] Doch obwohl der Frühling eine Erneuerung verspricht - „novo d’amor desio, nova speranza“ (V.7), 163 [neue Liebessehnen und neues Hoffen] - und die Sinne anspricht, ist die Kindheit unwiderruflich verloren. Die Zyklizität der Jahreszeiten verschleiert die Linearität der menschlichen Existenz. Aus dem Mangel, den der Mensch beständig erfährt, und dem vagen Einblick, den wir in Kinder haben, entwickelt sich das Bild fort. Durch den Drang zum ‚Nichts‘, der sich durch Verfall, Zersetzung und Schwinden zeigt, durch die Feststellung, dass etwas fehlt oder nicht ist, was erhofft wurde, durch den Zusammenbruch von Sinn und Erkenntnisgewinn und die bedrohliche Anwesenheit eines Unbeha‐ gens, das mit ‚dem Nichts‘ verknüpft wird, sind alle Gedankenprogramme dem Verdacht ‚des Nichts‘ ausgesetzt. Dadurch entwickelt sich das Denken zu einem sich selbst marodierenden Prozess, der alles angreift. Um das ernüchternde Schicksal der Menschheit zu verbildlichen, werden die grausamen Qualitäten 4.4 Verbildlichung 59 <?page no="60"?> des Kindes, die im Spiel beobachtet werden können, in den Vordergrund gerückt, und das Bild wird ambivalent. Man kann dies als Radikalisierung verstehen; dass die Natur jedoch jene Erwartungen nicht erfüllen kann, die in der Idylle aufgerufen werden, wird schon in Leopardis frühen anthropologischen Studien deutlich, wenn es auch noch nicht ausformuliert wird. Dieses Phänomen ist insbesondere in Gedichten zu befragen, in denen die Haltung des modernen Subjekts und die Rolle des Künstlers thematisiert wird (siehe Kapitel 5.1 und 7.2). Leopardis Dichtung und seine Theorien verdeutlichen mit aller Gewissheit eines: Man kann im ‚Nichts‘ nicht leben und man kann es ebenso wenig abschüt‐ teln, kompensieren, überschreiben oder füllen. ‚Das Nichts‘ zu ignorieren ist für Leopardi deshalb keine Möglichkeit mehr, weshalb das Gedankenprogramm mit all seinen Widersprüchen als beständiger Ort integriert wird, dessen Grenzen abgetastet werden. Von dort aus wirkt es sich auf alle Gedankenprogramme aus und legt die Basis für Analogien, löst dabei aber gleichzeitig die stumpfen Dicho‐ tomien auf, weil auch das gegenteilige Programm ‚dem Nichts‘ zugeschrieben werden kann. Innerhalb der gleitenden Semantik wirken sich Veränderungen in einem Gedankenprogramm auf das nächste aus. Alles muss beständig neu befragt werden, wodurch der repetitive Charakter von Leopardis Lyrik bestimmt wird. Die ständige Suche nach Unendlichkeit, die zumindest vorübergehend dem Gedankenprogramm ‚des Seins‘ zugeordnet werden kann, spiegelt sich auch in Leopardis Bildsprache. Im Zibaldone beschreibt Leopardi Beispiele aus Natur und Zivilisation, die den Eindruck von Unendlichkeit erwecken: Circa le sensazioni che piacciono pel solo indefinito puoi vedere il mio idillio sull’infinito, e richiamar l’idea di una campagna arditamente declive in guisa che la vista in certa lontananza non arrivi alla valle; e quella di un filare d’alberi, la cui fine si perda di vista, o per la lunghezza del filare, o perch’esso pure sia posto in declivio ec. ec. ec. Una fabbrica una torre ec. veduta in modo che ella paia innalzarsi sola sopra l’orizzonte, e questo non si veda, produce un contrasto efficacissimo e sublimissimo tra il finito e l’indefinito ec. ec. ec. (Zib. 1430-1431) [Bezüglich der Empfindungen, die nur aufgrund ihrer Unbestimmtheit gefallen, kannst du mein Idyll über die Unendlichkeit (L’infinito) betrachten und die Idee einer Landschaft aufrufen, die steil abfällt, so dass die Sicht aus einer gewissen Distanz nicht bis in das Tal reicht; und die einer Baumreihe, deren Ende aus dem Blick gerät, entweder durch die Länge der Reihe oder weil auch diese auf einer Schräge steht etc. Eine Fabrik, ein Turm etc., aus einer Perspektive gesehen, aus der es so scheint, als würden sie allein sich über den Horizont hinaus erheben, und aus welcher 60 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="61"?> 164 Vgl. Zib. 2629. 165 Siehe hierzu: Milan Herold: „Funktionale Bildlichkeit - Leopardis Denkbilder (Fram‐ mento XXXIX Spento il diurno raggio in occidente)“, in: Barbara Kuhn / Michael Schwarze (Hrsg.): Leopardis Bilder. Immagini e immaginazione oder Reflexionen von Bild und Bildlichkeit, Tübingen: Narr 2019, S.-50-51. der Horizont nicht sichtbar ist, produziert einen sehr wirkungsvollen und sublimen Kontrast zwischen dem Endlichen und dem Unbestimmten etc.] Der Eindruck von Unendlichkeit kann aber nur durch optische Täuschung und durch Versperrungen entstehen. Das bekannteste Beispiel für den Einsatz derartiger Bilder ist Leopardis bekanntestes Gedicht, L’infinito, in dem eine Hecke den Blick des lyrischen Ichs vom Horizont trennt, welcher ohne die Versperrung durch die Hecke der Weite ein Ende setzen würde. L’infinito beginnt mit zwei für Leopardi charakteristischen Konzepten: die optische Täuschung und die Lokalisierung des Ichs auf „quest’ermo colle“ (V.1) [diesem einsamen Hügel]. Leopardi schreibt bestimmten Wörtern die Möglichkeit zu, auf die Unendlichkeit zu verweisen und dadurch besonders poetisch zu sein. Hierzu gehören neben „ermo“ 164 auch „nulla“, „antico“, „luna“, „vento“, „infinito“ etc. Zunehmend tritt in Leopardis Schriften der Begriff indefinito an die Stelle von infinito. Das Indefinito kann, gemäß seinem Wesen, nicht definiert werden. Es strebt nach einem Abbau von Grenzen, dessen Möglichkeiten in der poetischen Praxis erkundet werden. Während Leopardi diese Begriffe selbst als per se poetisch betrachtet, ist es Leopardi selbst, der die Begriffe innerhalb seiner gleitenden Semantik auflädt und ein Flimmern zwischen den unterschiedlichen Bedeutungen und Gehalten produziert. In diesen Begriffen fallen die Gegensätze zusammen. Dieses Phänomen bezeichnet Leopardi selbst als die doppia vista, 165 die er mit Blick auf die Landschaft entwickelt. Auf der poetischen Ebene sollen Bilder und die Sinneswahrnehmungen, die mit diesen verbunden sind, die doppia vista auslösen, in der das Wahrgenommene durch die Imagination verdoppelt wird: All’uomo sensibile e immaginoso, che viva, come io sono vissuto gran tempo, sentendo di continuo ed immaginando, il mondo e gli oggetti sono in certo modo doppi. Egli vedrà cogli occhi una torre, una campagna; udrà cogli orecchi un suono d’una campana; e nel tempo stesso coll’immaginazione vedrà un’altra torre, un’altra campagna, udrà un altro suono. In questo secondo genere di obbietti sta tutto il bello e il piacevole delle cose. Trista quella vita (ed è pur tale la vita comunemente) che non vede, non ode, non sente se non che oggetti semplici, quelli soli di cui gli occhi, gli orecchi e gli altri sentimenti ricevono la sensazione. (Zib. 4418) 4.4 Verbildlichung 61 <?page no="62"?> 166 Rainer Stillers: „Der ‚canto‘ in den Canti. Beobachtungen zu einem poetologischen Motiv“, S.-59. [Dem sensiblen und imaginationsreichen Mensch, der lebt, wie ich lange gelebt habe, der kontinuierlich fühlt und seine Vorstellungskraft verwendet, existieren die Welt und die Objekte in gewisser Hinsicht doppelt. Er sieht mit den Augen einen Turm und eine Landschaft; er hört mit den Ohren den Ton einer Glocke; und gleichzeitig sieht er mit der Imagination einen anderen Turm, eine andere Landschaft, er hört einen anderen Ton. In diesem zweiten Typ von Objekten liegt alle Schönheit und Annehmlichkeit der Dinge. Traurig dieses Leben (und genauso ist im allgemeinen das Leben), das nichts sieht, nichts hört und nichts fühlt, außer den einfachen Objekten; allein jene, die die Augen, die Ohren und die anderen Sinne wahrnehmen.] Beim Blick auf eine Begrenzung spalten sich das Sichtfeld und die Wahrneh‐ mung von der Imagination: Es entsteht ein reales Bild (das Gesehene) und ein ideales Bild (das Imaginierte), welches das Unendliche evoziert. Die Imagination reicht also in den undurchdringlichen Raum hinein, um diesen zu erkunden. In der Szene fallen für einen Moment die Gegensätze zusammen, bevor ‚das Nichts‘ sich durchsetzt und den Prozess abbricht. Das Bild selbst bleibt von diesem Prozess unberührt: „Eine bildhafte Vorstellung kann sprachlich verneint werden, als Vorstellung ist sie aber unvermindert präsent; von der Verneinung bleibt das Bildhafte unberührt.“ 166 Der Bildebene muss deshalb eine autonome Funktion zugesprochen werden. Da überdies der Moment durch die Relektüre wiederholt werden kann, muss der Abbruch nicht als Vorherrschaft ‚des Nichts‘ verstanden werden. Es handelt sich vielmehr um eine beständige ziellose Bewegung auf der Suche nach Orientierung. 4.5 Gleitende Semantik am Beispiel von L’infinito Kein Gedicht zeigt Leopardis gleitende Semantik deutlicher als das Gedicht L’infinito, in dem zwei gegenüberliegende Bereiche durch eine räumliche Darstellung verbildlicht werden. Dabei zeichnet sich ein Raum durch konkrete Angaben aus, während der andere der Sicht entzogen bleibt. Dieser Kontrast ent‐ steht durch eine Hecke, welche die Sicht versperrt und die Imagination anregt. Durch deiktische Hinweise wird der Blick auf die Bereiche gerichtet. Aufgrund der gleitenden Semantik können den beiden Bereichen unterschiedliche Bedeu‐ tungszusammenhänge zugeordnet werden, die im Folgenden erörtert werden. 62 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="63"?> 167 Weitere Zugänge zum Text werden nicht beachtet. Häufig ist jedoch auch die inter‐ textuelle Analyse des Gedichts. Als besonders ergiebig erweist sich der Vergleich zu Foscolos Alla sera: Gian-Paolo Biasin: Italian Literary Icons, New Jersey: Princeton University Press 1985, S.-37-42. Sempre caro mi fu quest’ermo colle, E questa siepe, che da tanta parte Dell’ultimo orizzonte il guardo esclude. Ma sedendo e mirando, interminati Spazi di là da quella, e sovrumani Silenzi, e profondissima quiete Io nel pensier mi fingo; ove per poco Il cor non si spaura. E come il vento Odo stormir tra queste piante, io quello Infinito silenzio a questa voce Vo comparando: e mi sovvien l’eterno, E le morte stagioni, e la presente E viva, e il suon di lei. Così tra questa Immensità s’annega il pensier mio: E il naufragar m’è dolce in questo mare. (L’infinito, V.1-15) [Stets war lieb mir dieser einsame Hügel und diese Hecke, die zum größeren Teil dem Blick den fernsten Horizont entzieht. Doch wenn ich sitze und schaue: Grenzenlose Räume jenseits von ihr und Menschenmaß übersteigende Stille und tiefste Ruhe stell ich in Gedanken mir vor, wo dann beinahe Angst das Herz überkommt. Und wie ich den Wind rauschen höre in diesen Büschen, vergleich ich jene unendliche Stille mit dieser Stimme, und in den Sinn kommen mir die Ewigkeit und die vergangenen Zeiten und die lebendige Gegenwart und ihr Klang. Und so, in dieser Unermesslichkeit, ertrinkt mein Denken, und süß ist mir, Schiffbruch zu leiden in diesem Meer.] Zu den zahlreichen Analysen des kleinen Gedichts sind kaum noch weitere hinzuzufügen. Deshalb betrachten wir im Folgenden drei unterschiedliche Analysen von L’infinito und wie in diesen die gleitende Semantik als Grundlage der Deutung genutzt wird. 167 4.5.1 Eine metaleptische Lektüre Brose sieht L’Infinito als Vertreter einer romantischen Gedichtform, die Abrams im Rahmen seiner Studien zu britischen romantischen Dichtern identifiziert und als „greater Romantic lyric“ bezeichnet. 168 Diese Gedichte weisen alle eine 4.5 Gleitende Semantik am Beispiel von L’infinito 63 <?page no="64"?> 168 Margaret Brose: „Leopardi’s ‚L’infinito‘ and the language of the romantic sublime“, S. 49. 169 Abrams erstellt dieses Modell auf Basis von Gedichten der britischen Dichter Samuel Taylor Coleridge, William Wordsworth, Percy Bysshe Shelley und John Keats. M.H. Abrams: „Structure and Style in the Greater Romantic Lyric“, in: From Sensibility to Romanticism: Essays Presented to Frederick A. Pottle, ed. Frederick W. Hilies und Harold Bloom, New York: Oxford University Press 1965, S.-527-528. 170 Einen Vergleich zu Lamartines L’Isolement unternahm Leo Spitzer bereits 1932: Leo Spitzer: „Zwei Einsamkeiten. Leopardis ‚L’infinito‘ und Lamartines ‚L’Isolement‘, in: Archivum Romanicum 16 (1932), S.-521-539. 171 Vgl. Emilio Bigi: Una vita più vitale. Stile e pensiero in Leopardi, a cura di Cristina Zampese, Venezia: Marsilio 2011, S.-113. ähnliche Struktur auf und lassen sich anhand des folgenden Modells typologi‐ sieren: Ein lyrisches Ich führt ein Zwiegespräch, ein Gespräch mit der Natur oder mit einem stillen Gesprächspartner, in dem es zunächst die Landschaft beschreibt, in der es sich befindet. Ein spezifischer Aspekt dieser Landschaft löst dann diffuse Erinnerungen, Gedanken, Erwartungen und Gefühle aus. Das lyrische Ich versinkt in eine Meditation und kommt zu einer Erkenntnis, trifft eine moralische Entscheidung, verarbeitet einen Verlust oder löst ein emotionales Problem. Diese Gedichte enden häufig durch eine Rückkehr zum Einstiegsszenario, jedoch hat sich nun die Stimmung verändert. 169 Auch in L’infinito sitzt ein lyrisches Ich allein auf einem einsamen Hügel 170 und blickt auf eine ihm vertraute Hecke, die größtenteils die Sicht auf den Horizont versperrt. Sein Blick strukturiert den Raum und bietet einen Orientierungspunkt, von dem aus die unterschiedlichen Räume und Distanzen betrachtet werden, „sedendo e mirando“ (V.4) [wenn ich sitze und schaue]. Es folgt ein Wechsel nach innen, bei dem der Fokus verschwindet, da die Aussicht die Imagination des Ichs anregt, „io nel pensier mi fingo“ (V.7) [stell ich in Gedanken mir vor]. Durch das Enjambement, „ove per poco | il cor non si spaura“ (V.8) [wo dann beinahe Angst das Herz überkommt], kommt ein kurzer Moment zum Ausdruck, in dem sich das Ich fast selbst verliert. Darauf folgt eine Zäsur, die den Vers in der Mitte trennt und innerhalb des Gedichts eine inhaltliche wie auch formale Symmetrie produziert. Für einen Augenblick überkommt die Ewigkeit das lyrische Ich; eine Veränderung, die auch durch den Gebrauch der Verben markiert wird: Der aktive Akt des Schauens und der Vorstellungskraft „mirando“ (V.4) wird abgelöst von der passiven Erfahrung „mi sovvien“ (V.11). Danach beginnt die Rückkehr zum Beginn des Gedichtes, die Introspektive endet, „s’annega il pensier mio“ [ertrinkt mein Denken], und das lyrische Ich wird ins Diesseits, vor der Hecke, zurückgeholt. Unterstrichen wird die Rückkehr in den Versen 13-15 durch die Wiederaufnahme des ruhigen und regelmäßigen Rhythmus der Anfangsverse (V.1-3). 171 64 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="65"?> 172 Margaret Brose: „Leopardi’s ‚L’infinito‘ and the language of the romantic sublime“, S. 48. 173 Zum Sublimen bei Leopardi siehe auch Nicolas James Perella: Night and the Sublime in Giacomo Leopardi, Berkeley: California UP 1970. 174 Margaret Brose: „Leopardi’s ‚L’infinito‘ and the language of the romantic sublime“ S. 50. 175 Agamben greift in seiner Analyse von L’infinito auf die Institutiones grammaticae von Priscian (5. Jh.) zurück. Pronomen nehmen im Denken des Mittelalters und der Moderne eine herausragende Rolle ein. Betrachtet man sie nach den Kategorien des Seienden (Ontologisches Viereck), werden sie seit der Spätantike der ersten Substanz zugeordnet. Priscian (Leopardi zitiert den lateinischen Grammatiker häufig im Zibaldone, allerdings nicht speziell zu diesem Thema) bezeichnet das Pronomen als eine Substanz ohne irgendeine bestimmte Qualität (substantiam significat sine aliqua certa qualitate). Im Gegensatz dazu wurde das Nomen, als Substanz mit bestimmten Qualitäten, der zweiten Substanz zugeordnet, also substantia cum qualitate. Wörter der ersten Substanz ohne Eigenschaften haben traditionell einen besonders hohen Stellenwert. Zu ihnen zählen Wörter wie das Sein, wahr, gut und schön. Vgl. Giorgio Agamben: Il linguaggio e la morte. Un seminario sul luogo della negatività. Torino: Einaudi 3 1982, S.-29-30. 176 Giuseppe Ungaretti: Vita d’un uomo, Milano: Mondadori 1974, S.-475. Brose liest L’infinito also als „self-conscious demonstration of lyric transcen‐ dence“ 172 . Die Evokation des Sublimen 173 wird dabei über die Deixis ausgelöst: „[A] metaleptic substitution in which all spatial and temporal deictics are shifted from one mode of figuration to another [… ; ] a shift from a metonymic to a metaphorical axis“. 174 Die Strukturierung des Raums und die Verbindung der durch die Hecke getrennten Bereiche erfolgt in L’infinito durch die deik‐ tischen Verweise. Die Demonstrativpronomen questo und quello  175 begleiten die Bewegung von „quest’ermo colle“ (V.1), „questa siepe“ (V.2) zu „spazi di là da quella“ (V.5). Begleitet wird dieser Kontrast durch die Stille hinter der Hecke, „quello infinito silenzio“ (V.9-10) und den Wind zwischen den Blättern vor der Hecke, „stormir tra queste piante“ (V.9) und „questa voce“ (V.10). Die Bereiche hinter der Hecke werden mit vagen Begrifflichkeiten beschrieben; es handelt sich um „interminati spazi“ (V.4-5), „sovrumani silenzi“ (V.5-6), „infinito silenzio“ (V.10), „l’eterno“ (V.11), die vom Ich gestaltet werden: „Io nel pensier mi fingo“. Das Verb „fingere“ leitet einen Ersetzungsprozess in der Imagination ein: „Mi fingo: è parola usata nel senso dotto; ‚mi foggio‘, ‚mi formo‘; e nel senso usuale: ‚io nel pensiero mi suscito interminati spazi, sovrumani silenzi, per inganno, per illusione‘.“ 176 Ebenso unbestimmt wie der imaginierte Raum ist die Begrenzung durch die Hecke selbst: Sie trennt den Blick „da tanta parte“ (V.2) vom „ultimo orizzonte“ (V.3) und kreiert die Illusion von Unendlichkeit. Die metaleptische Ersetzung findet dadurch statt, dass Brose die räumliche Di‐ mension des Gedichts in eine zeitliche umdeutet und auf dieser Basis Leopardis Poetik erläutert: Die temporale Lektüre erfolgt aus dem Einstieg in das Gedicht durch das undefinierte „sempre“, das abgeschlossene „fu“ und das gegenwärtige 4.5 Gleitende Semantik am Beispiel von L’infinito 65 <?page no="66"?> 177 Vgl. Margaret Brose: „Leopardi’s ‚L’infinito‘ and the language of the romantic sublime“, S.-61. 178 Ebd., S.-66. 179 Ebd., S.-50. 180 Siehe hierzu Kapitel 5.2.3. 181 Margaret Brose: „Leopardi’s ‚L’infinito‘ and the language of the romantic sublime“, S. 63. „questo“ (V.1). Wiederholt wird dies am Ende in den Variationen „l’eterno, | e le morte stagioni, e la presente“ (V.10-11). Der Kontrast des deiktischen „questo“ als Präsens und „quello“ als Vergangenheit kann dann in dem ganzen Gedicht übernommen werden. 177 Die gegenwärtige Landschaftsbetrachtung löst die rimembranza aus, „the past is re-figured through memory and returns to inhabit the presence of the poem.“ 178 Die Vergangenheit birgt im Gegensatz zur Gegenwart die Möglichkeiten des Poetischen in sich, wodurch in Broses Deutung der Wechsel in die Vergangenheit mit der Evokation des Poetischen einhergeht. Brose spricht von einem rhetorischen Akt: „substituting the infinite for the finite, memory for the present, the sublime for the ordinary“ 179 Mit anderen Worten: Das Sublime, die rimembranza und die Poetik stehen in einer symbiotischen Beziehung zueinander und ergeben gemeinsam eine Fülle des Undefinierten, dem die unpoetische Gegenwart und der Mangel gegenüber‐ stehen, den Leopardi in seiner teoria del piacere darlegt. 180 Die Imagination des Unendlichen erfolgt nur als Projektion im Kontrast zum Endlichen; in einer Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit: „This vertiginous alternation of presence and absence permits a conflation of time and space into the image of a sublime sea of immensity in which the poet sweetly drowns.“ 181 4.5.2 Eine metaphorische Lektüre Wehles Interpretation zeichnet sich dadurch aus, dass er die abstrakten Gedan‐ kenbewegungen in Argumente überführt und dadurch eine Narration sichtbar macht. Dies wird dadurch möglich, dass er die Bilder als Metaphern betrachtet und sie in ihrer kulturhistorischen Bedeutung untersucht bzw. in der Abkehr von ihrer überlieferten Bedeutung. Die Zuneigung zu dem Hügel wird als Metapher für die antike Bildung gedeutet und der „süße Schiffbruch“ im Meer wird als Verortung in der Moderne verstanden. Dabei stellt sich die Frage, warum dieser Schiffbruch süß, „dolce“ (V.15) ist und warum das Subjekt in der Verneinung der Idylle Freuden findet. Begründet wird dies mit den meditativen Erkundungsversuchen, die das Subjekt unternimmt und die hier in zwei unterschiedliche Versuche differenziert werden. In der ersten Meditation begegnen dem Ich das übermenschliche „sovrumano“, das die Aufklärung, ein 66 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="67"?> 182 Vgl. Winfried Wehle: Leopardis Unendlichkeiten, S.-33. 183 Vgl. ebd., S.-22-33. 184 Ebd., S.-29. 185 Ebd., S.-22. 186 Ebd., S. 41. Und vgl. hierzu auch: Pascal Gabellone: „Impossible demeure: l'expérience poétique du vide“, in: Critique 90 (1990), S.-133-148. 187 Vgl. ebd. S.-96. Vernunftregime und die metaphysischen Höhen, die ergreifbar erscheinen, repräsentiert. Dies wird unmittelbar neben das klassizistische und tiefgründige „profondissima“ gestellt, das auf die Natur verweist. Beide entpuppen sich aber als verlorene und sinnlose Illusionen, woraufhin das Ich den Reflexionsprozess abbricht. Nun beginnt ein zweiter Erkundungsversuch, der durch das Hören eingeleitet wird und Erinnerungen auslöst. Die Erinnerung an „l’eterno | e le morte stagioni“ (V.11-12) lehrt das Subjekt die Endlichkeit der Gegenwart. Zudem reicht der Verstand nicht aus, um diese „immensità“ zu begreifen und das Ich erleidet Schiffbruch. Die Bewegung, ausgelöst vom metaphorischen Wind, wird phonetisch durch eine „Klangspur“ aus v, e und o begleitet (vento - voce - sovvien - suon - dolce). 182 Inszeniert wird hier ein Sprachereignis, in dem noch ein Hauch von Natürlichkeit und Ursprachlichkeit anklingt, welches in der Moderne aber keine Stimme mehr hat. Die beiden Meditationen stehen für die schmerzliche Bewältigung der Probleme und Prüfungen der Modernität und führen schließlich zu einer Identitätsfindung des Subjekts. 183 „Gewissheit findet es allein im Bewusstsein dessen, was ihm fehlt, in seiner ‚absence‘. Es ist ‚etwas‘, das im herkömmlichen Sinne ,nichts‘ mehr ist.“ 184 Doch die Kunst ermöglicht, was dem Modernen sonst verwehrt bleibt. Wehle versteht L’infinito als Manifest, in dem die paradoxe Selbstbewahrung des Menschen dargelegt wird, der in der Moderne das Naturglück verloren hat, jedoch reflexiv in der Kunst das Empfinden aufrufen kann, das er durch die Reflexion überhaupt erst verloren hat: „[D]er Mensch gedenkt in der Kunst seines wahren Menschseins.“ 185 Das Subjekt kann zwar nicht mehr rückgängig machen, dass es reflexiv geworden ist, es kann aber in der Kunst reflexiv dagegen ankämpfen. Hierauf fußt die sogenannte poesia del nulla, die Leopardi zugeschrieben wird: „Sie geht auf die denaturierte Wirklichkeit ein, um sie mit höchster poetischer Absicht zu annullieren.“ 186 Eine Gegenbewegung wird dadurch der Ästhetik zugeschrieben. Als abgeschlossen betrachtet Wehle diesen Prozess in dem Gedicht A se stesso, in dem nur noch der poetische Klang geblieben ist. 187 4.5 Gleitende Semantik am Beispiel von L’infinito 67 <?page no="68"?> 188 Elio Gioanola: „L’infinito“, in: Lectura leopardiana. I quarantuno „Canti“ e „I nuovi credenti“, a cura di Armando Maglione, Venezia: Marsilio 2003, S.-233. 189 Julia Kristeva: Soleil noir. Dépression et mélancolie, Paris: Gallimard 1987, S.-109. 190 Übersetzung von Bernd Schwibs und Achim Russer. Julia Kristeva: Schwarze Sonne. Depression und Melancholie, Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel 2018 3 , S.-107. 4.5.3 Eine psychoanalytische Lektüre Gioanola verschreibt Leopardis Lyrik der sentimentalischen und melancholi‐ schen Dichtung, die sich durch den Schmerz des Verlusts und nostalgisches Schwelgen in der Erinnerung auszeichnet: La poesia sentimentale o malinconica è dunque quella che registra una perdita, configurabile come il possibile contenuto della rimembranza, la quale, riportando la cosa perduta, o un barlume di essa, nel deserto della vita presente, ne suscita il rimpianto senza speranza. 188 Aus einer künstlerischen Verfertigung des schmerzhaften Verlusts kann aber Halt gewonnen werden. In seiner lacanschen Lektüre von L’infinito verweist Gioanola auf Kristevas Studie Soleil noir. Dépression et mélancolie: [L]es arts semblent indiquer quelques procédés qui contournent la complaisance et qui, sans renverser simplement le deuil en manie, assurent à l’artiste e au connaisseur une emprise sublimatoire sur la Chose perdue. Par la prosodie d’abord, ce langage au-delà du langage qui insère dans le signe le rythme et les allitérations des processus sémiotiques. Par la polyvalence des signes et des symboles aussi qui déstabilise la nomination et, accumulant autour d’un signe une pluralité de connotations, offre une chance au sujet d’imaginer le non-sens, ou le vrai sens, de la Chose. 189 [Die Künste freilich scheinen auf Verfahren zu verweisen, solche Schwelgerei zu umgehen und dem Künstler wie dem Kunstkenner einen sublimatorischen Zugriff auf das verlorene Ding zu sichern, ohne die Trauer schlicht in Manie umzukehren. Zunächst durch die Prosodie, diese Sprache jenseits der Sprache, die dem Zeichen Rhythmus und Alliterationen der semiotischen Prozesse einfügt. Dann durch die Polyvalenz der Zeichen und Symbole, die das Benennen destabilisiert und durch die Konnotationsvielfalt eines Zeichens dem Subjekt die Chance eröffnet, den Nicht-Sinn oder den wahren Sinn des Dings zu imaginieren.] 190 Prosodie und Polyvalenz umgehen die direkte Benennung von Trauer und die Schwelgerei in dieser. Laut Kristeva bieten sie die Möglichkeit, auf das Ding zu verweisen, mit dem Lacan auf einen präsymbolischen Bereich hors-signifié 68 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="69"?> 191 Auch Cauchi-Santoro vergleicht Leopardis Theorien zum Leiden und zum Begehren mit Levinas’ und Lacans Ansätzen. In ihrer Analyse von La Ginestra kommt sie zu dem Ergebnis, dass Leopardis Begehren das unendliche Begehren nach dem Anderen ist. „[I] read an appeal to humankind to endure together a life which offers neither hope nor comfort as a way of accepting the difficult desire of the other. […] Desire among human beings can never be neatly and harmoniously pigeon-holed or possessed. […] Desire for this other is indeed infinite and infinitely cyclical, but rather than conceding to the impossibility of totalizing desire, one can acknowledge one’s impotence in its presence and derive strength out of it.“ Roberta Cauchi-Santoro: Beyond the suffering of being. Desire in Giacomo Leopardi and Samuel Beckett, Firenze: Firenze University Press 2016, S.-137. 192 Elio Gioanola: Psicanalisi e interpretazione letteraria, Milano: Jaca Book 2005, S.-76. 193 Vgl. Milan Herold: „‚Il presente non può esser poetico‘. Giacomo Leopardis Lesbarkeit der Zeit (Il primo amore, Alla sua donna)“, in: ders. / Michael Bernsen (Hrsg.): Der lyrische Augenblick. Eine Denkfigur der Romania, Berlin: de Gruyter 2015, S.-127-148. verweist. 191 Das Ding kann durch Signifikanten nicht erfasst werden, weshalb Leopardi es vor allem durch den Einsatz des in(de)finito anklingen lässt. Se in effetti è questione dell’inseguimento, vano, di quanto sfugge al fenomenico tanto reale che razionale, appare evidente che ci si protende verso un fuori-spazio e fuori-tempo, e quindi a un fuori-significato, non appartenenti al regno del finito […]. 192 Gioanola deutet in L’infinito die Denkbewegung hinter die Hecke als ein derartiges Streben und zieht hierfür Leopardis teoria del piacere heran. L’infinito im Sinne der teoria del piacere zu deuten, hat sich in der Forschung fest etabliert. Im Rahmen der Bildlogik, die der Poet im Zibaldone entwickelt, übergibt er selbst dem Leser einen Schlüssel zur Interpretation des kleinen Gedichts. Der Imaginationsraum verspricht grenzenlose Lust; diese kann im Präsens aber nicht erlebt werden, sondern nur in der Vergangenheit als rimembranza oder in der Zukunft als speranza: 193 La rimembranza è essenziale e principale nel sentimento poetico, non p. altro, se non perchè il presente, qual ch’egli sia, non può esser poetico; e il poetico, in uno o in altro modo, si trova sempre consistere nel lontano, nell’indefinito, nel vago. (Zib. 4426) [Das Erinnern ist der essenzielle und hauptsächliche Bestandteil des poetischen Gefühls, aus keinem anderen Grund als dem, dass die Gegenwart nicht poetisch sein kann. Das Poetische, auf dem einen oder anderen Weg, besteht immer aus dem Entfernten, dem Undefinierten und dem Vagen.] Das Subjekt flieht nun aus dem ewigen Mangel der Gegenwart in die nostalgi‐ sche Vergangenheit, die in L’infinito durch den Bereich hinter der Hecke sym‐ bolisiert wird. Über diese Lesart kann eine melancholische Deutung begründet 4.5 Gleitende Semantik am Beispiel von L’infinito 69 <?page no="70"?> 194 Vgl. Emilio Bigi: Una vita più vitale. Stile e pensiero in Leopardi, S.-112-113. werden. Einige der frühen Gedichte, die mit weniger Patriotismus auskommen, vermitteln auch durchaus eine melancholische Stimmung. Ein Gedicht, in dem diese Stimmung prominent evoziert wird, ist La sera del dì di festa. Durch die rhythmische Entschleunigung werden Momente der Melancholie betont und ein Gefühl von Stillstand produziert. Durch den Einsatz von Polysyndeton wird das Lesetempo verlangsamt. Das glückliche, idyllische Leben wird in ausgedehnten und verlangsamten Versen ausgebreitet: „Dolce e chiara è la notte e senza vento | e quieta sovra i tetti e in mezzo agli orti | posa la luna, e di lontan rivela | serena ogni montana“ (V.1-3) [Lieblich und klar ist die Nacht, kein Windhauch regt sich, und friedlich über den Dächern, inmitten der Gärten ruht der Mond und zeigt klar jeden Berg in der Ferne]. Ebenso ausgedehnt werden die unglücklichen Regungen des lyrischen Ichs im Kontrast zu der Geliebten geschildert: „Tu dormi […] nelle tu chete stanze; e non ti morde | cura nessuna e già non sai né pensi | quanta piaga m’apristi in mezzo al petto“ (V.7-10) [Du schläfst in deinen stillen Räumen und kein Kummer nagt an dir und du weißt ja nicht und bedenkst nicht, welche Wunde du öffnest in meiner Brust]; „e qui per terra | mi getto e grido e fremo (V.22-23) [und auf den Boden werfe ich mich, schreie und tobe]. Dennoch wäre es fehlgeleitet, Leopardi vom pessimistischen zum melancholischen Dichter umzudeuten. Vielmehr kann die Vermittlung einer melancholischen Stimmung als Technik verstanden werden, die einen Verlust anzeigt. In dieser Form begegnet sie uns auch in späteren Gedichten, wie etwa in der ersten Strophe von Il tramonto della luna. Die Ausdehnungen, die in L’infinito metrisch über die Enjambements, Pausen, durch Elisionen und Diaräsen, „quiete“ und die Häufung des Vokals e erreicht werden, erweitern überdies die räumliche und zeitliche Dimension. 194 4.6 Abschließende Gedanken zu L’infinito Die Gegensätze, die prozedural gedacht sind, und die Theorien zum piacere basieren auf unterschiedlichen Nichts-Entwürfen. Das piacere fällt wie die Imagination und die Illusion in einen Grenzbereich. Während Leopardis Illusion auf einem ‚Nichts‘ basiert, ebenso wie die Imagination, die etwas erbaut, ist das piacere kein ‚Nichts‘, es enthält aber ein ‚Nichts‘, das sich schmerzhaft offenbart. Für Leopardi besteht ein Unterschied zwischen dem, was wir in die Welt hineinlesen und was uns aktiv inspiriert, und dem blinden Folgen von etwas, das eigentlich ein Nichts ist oder enthält. Bei Lust und Unlust, die bei der 70 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="71"?> 195 Ungaretti deutet die Unendlichkeit als Tod: „Ma, riflettendo, s’era accorto che idea e sentimento dell’infinito non possono aversi che da cose finite, da cose del passato, da cose morte, dal nulla, da cose scomparse, e che l’infinito era un’illusione, originata dalla potenza evocativa, dalla potenza incantatoria della parola. L’infinito era dunque un’illusione, e il sentimento dell’infinito, era sentimento della morte, sentimento del nulla.“ Giuseppe Ungaretti: Vita d’un uomo. Saggi e interventi, a cura di Mario Diacono e Luciano Rebay, Milano: Mondadori 1997 4 , S.-469. Erfüllung des Begehrens empfunden werden, handelt es sich um eine Kippfigur. Ernsthafte psychologische Vertiefungen dieses Themas interessieren Leopardi aber ebenso wenig wie philosophische Exaktheit. So driften seine psychologi‐ schen Beobachtungen eher in Stilisierungen oder figurelle Betrachtungen ab (siehe Kapitel 5.1 und 7.2). Schließlich sind auch diese Gedankenbewegungen primär von poetischer Art. Die Konstruktion des Gedichts ruft die gleitende Semantik auf, wie es die Breite der Rezeptionen belegt. Das Gedicht enthält aber seine eigene Conclusio, die sich folglich auf die Theorien auswirkt, obwohl hierbei Nichts-Begriffe miteinander verbunden werden, die unterschiedlich funktionieren. Es kann als Erkundungsgang von Grenzen gelesen werden, zeigt dabei aber deutlich, wie unklar beispielsweise Leopardis Imaginationsbegriff verortet ist. Einerseits fällt er in den Grenzbereich, in dem sich auch die Illusion befindet, andererseits ist er Teil der gleitenden Semantik und wird dadurch in Relation zu den Totalitäten ‚Sein‘ und ‚Nichts‘ in einem graduellen Verhältnis gedacht. Imagination ist jedoch nicht beständig und ihr Zusammensturz fällt in den Bereich des Nichts. Auffällig ist der Wechsel zu „questo mare“ und „questa inmensità“ in den letzten drei Versen. Sie kommen diesseits der Grenze zustande. Die „inmensità“ kann dadurch erfahren werden. Dadurch, dass Leopardi auch die Grenze mit vagen Begrifflichkeiten ver‐ wischt, lässt er hier Polyvalenz zu. Die Fragestellungen an das Gedicht werden endlos. Was ist und was ist nicht? Was ist irgendwie oder irgendwie nicht? Wann endet ein Moment? Wie verhält sich das Innere zum Äußeren? Wie ist die reale mit der idealen Welt verbunden? Was ist Dichtung? Warum schwingt Verzweiflung plötzlich um in einen Zustand der Genesung? Wie schlägt Lust in Unlust um? Was ist Endlichkeit oder Unendlichkeit? Welches Glück ist in diesem Leben möglich? Oder mit Ungarettis Worten, 195 die auch den Philologen zum Scheitern verurteilen: Il naufragar: parola di disastro… Qui difatti si naufraga nel mare infinito del passato, della morte: nel mare del finito, del nulla… Quale più ironica parola, se indica l’immedesimazione, l’estasi nell’infinito? No: l’obblio del nulla… […] E quando si pensa che una siepe è stata, a muovere tutto questo, e sono state foglie mosse da un alituccio di vento - si pensa che sono state piccole cose, fatti insignificanti: erano 4.6 Abschließende Gedanken zu L’infinito 71 <?page no="72"?> 196 Ebd., S.-478. foglie, vento, le cose, cose che si solito raffigurano la caducità, fugacità… Vedete bene, l’ironia investe non un vocabolo qua e là; ma l’ispirazione… Eppure, eppure, quando L’Infinito ci torna a mente, pure sapendo che non ci nasconde nulla della verità, che anzi la mostra perfino troppo fosca, senza pietà - eppure, non si sa per quale miracolo, il nostro animo si emancipa, la nostra fantasia si mette in viaggio, e naufraghiamo anche noi, dolcemente - senza ironia: dolcemente… . 196 Auffällig ist aber, dass die Forschung Leopardis gleitende Semantik bewusst oder unbewusst in der Interpretation der Gedichte anwendet beziehungsweise weiterdenkt. 72 4 Eine gleitende Semantik und die Orientierung am Nichts <?page no="73"?> 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze Eine fundamentale Fragestellung in Leopardis Werk ist die Frage, wie sich der Einzelne in einer Gesellschaft verhalten kann, die sich ‚falschen‘ Zielen verschrieben hat. Ausgangspunkt für diese Überlegungen ist die Diskrepanz zwischen der idealisierten Antike und der erlebten Moderne, die sich Leopardi in jungen Jahren durch seine literarischen Studien in aller Deutlichkeit eröffnet. Während die Antike zum Goldenen Zeitalter erhoben wird, erscheint die Gegenwart kleingeistig, schwach und unpoetisch. Ein Patriotismus, in dem die Suche nach einer glücklichen Lebensform mit einem großen und starken Italien verknüpft wird, richtet sich dadurch in die Vergangenheit, deren Glanz unwiederbringlich erscheint. Ausdruck findet dies vor allem in dem Gedicht All’Italia (1818), in dem Leopardi Italien als zwar schöne, aber grausam ver‐ nachlässigte Frau personifiziert. In Ketten gelegt hockt sie auf dem Boden und verbirgt verschämt ihr Gesicht zwischen den Knien: „Piangi, che ben hai donde, Italia mia, | le genti a vincer nata“ (V.18-19) [Weine, du hast Grund dazu, mein Italien, warst doch zu siegen geboren], „dov’è la forza antica“ (V.28) [wo ist die alte Kraft]. In Leopardis Geschichtsschreibung befindet sich das Subjekt in einer unaufhaltbaren Verfallsgeschichte, deren Ende, in Verbin‐ dung mit seiner Materialismustheorie, Richtung Vernichtung und Auslöschung drängt. In keinem Gedicht wird dies deutlicher als in der Canzone Bruto minore, in der Leopardi die ihm poetisch vermittelte Vergangenheit gegen die unpoetische Gegenwart stellt. Brutus selbst steht an einer Epochenschwelle und seine literarische Übermittlung trägt deren Kontrast bereits in sich. In dem schmerzhaften Abschiedsgesang wird Leopardis Suche nach einer Haltung deutlich, die das Subjekt einnehmen kann. Die Frage nach der Wiedererrichtung eines großen Italiens klingt wiederholt laut und leise an, um zwar beständig argumentativ verneint zu werden, aber in ihrer Repetition als Suche nach einer Position, die der Einzelne im Verhältnis zum Kollektiv einnehmen kann. Einmal offenbart kann der Verfallsgedanke nicht mehr verdrängt werden, ohne sich Heilslehren zu verschreiben oder einem Fortschrittsglauben zu verfallen, der eine Rettung durch menschliche Errungenschaften verspricht. Stattdessen erwartet Leopardi von seinen Zeitgenossen eine Akzeptanz des ‚Nichts‘, das sich in der Geschichte eröffnet, ohne sich diesem hinzugeben. Die Frage, ob eine Rückkehr in ein früheres Bewusstseinsstadium möglich ist, wird im Bruto minore explizit verneint, bleibt aber durch gegenläufige Darstellungstechniken trotzdem implizit im Raum stehen. <?page no="74"?> 197 Einiges spricht für die Paarung der beiden Gedichte: die Perspektive einer antiken Figur, der Suizid, die historische Schwellenerfahrung und zeitliche Nähe der Entstehung. Leopardis Perspektive auf die Menschheitsgeschichte als Verfallsgeschichte zieht sich, ebenso wie sein Patriotismus, durch sein gesamtes Werk. Zur Analyse würden sich hier auch All’Italia, Ad Angelo Mai oder der Inno ai patriarchi eignen und ebenso viele Stücke aus den Operette Morali, allen voran die Storia del genere umano, die prominent an erster Stelle in der Sammlung steht. Signifikant für das Zusammenspiel aus affirmativen und negativen Tendenzen ist jedoch der Bruto minore. Zwar wurden die Negativität des Gedichts und die Lamentation der Nichtigkeit der menschlichen Existenz in der Forschung bereits hinlänglich erörtert. Dabei wird das Gedicht aber allgemein als Ausdruck von Leopardis Lebenskrise verstanden, da es gemeinsam mit dem Ultimo canto di Saffo den Suizid thematisiert. 197 Durch den Einsatz von Pathos, bewusste Leerstellen und die Überstilisierung des Brutus zum Sinnbild der Tugend evoziert das Gedicht zugleich Momente, die sich gegen eine Philosophie des unaufhaltbaren Verfalls stellen. Hoffnung wird gegen Hoffnungslosigkeit gestellt; Brutus’ Suizid wird zwar legitimiert, dient allerdings in erster Linie dazu, die Authentizität seiner Tugend zu untermauern. Die dramatische Emotion, das Gefühl der ungerechten Behandlung und der epochale Bewusstseinswandel werden in eine Lust an der Verzweiflung überführt. In der Palinodia del Marchese Gino Capponi ironisiert Leopardi dann eine moderne Gesellschaft, die nach Fortschritt strebt und sich Trugbildern hingibt. Dabei kommen überzeichnend die unterschiedlichen Formen des Nichts zum Ausdruck. Ebenso wird hier deutlich, wie sich innerhalb von Leopardis glei‐ tender Semantik die Bedeutungen von Vernunft und Natur verändert haben. Schließlich scheint dann in La Ginestra (Kapitel 8.1) Leopardis Verhältnis zur Gesellschaft und zur Natur eine Kehrtwende vollzogen zu haben. Der Einzelne sucht nun in der Gemeinschaft Hilfe gegen die zerstörerische Natur. Es wird sich aber zeigen, dass eine lineare Lektüre Leopardis Werk der Ambivalenz beraubt, um sie zu simplifizieren. 5.1 Bruto minore Die 1821 verfasste Canzone Bruto minore ist zwar eindeutig der Lyrik zuzu‐ ordnen, die Inszenierung von Brutus weist jedoch zahlreiche Merkmale des Dramas auf. Die rasche Exposition bietet dem Leser des Gedichts eher eine szenische als eine historische Verortung, bevor das Gedicht in die Figurenrede wechselt. Die Handlung beginnt also in medias res und setzt die Kenntnis 74 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="75"?> 198 Vgl. Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur, Stuttgart: Kröner 1970, S.-112-116. des Brutus-Stoffs 198 als Vorwissen voraus. Die Szenerie ruft ein verlassenes Schlachtfeld ins Gedächtnis, auf dem der sterbende Brutus allein in der Nacht sitzt. Er wurde von dem zukünftigen Kaiser Augustus besiegt und setzt zu einer finalen Rede gegen die Götter an. Poi che divelta, nella tracia polve Giacque, ruina immensa, L’italica virtute, onde alle valli D’Esperia verde e al tiberino lido, Il calpestio de’ barbari cavalli Prepara il fato, e dalle selve ignude, Cui l’Orsa algida preme, A spezzar le romane inclite mura Chiama i gotici brandi; Sudato, e molle di fraterno sangue, Bruto per l’atra notte in erma sede, Fermo già di morir, gl’inesorandi Numi e l’averno accusa, E di feroci note Invan la sonnolenta aura percote. (Bruto minore, V.1-15) [Als entwurzelt im thrakischen Staube lag, nach unermesslichem Sturze, Italiens Kraft und so das Schicksal die Erde des grünen Hesperien und das Ufer des Tiber dem dröhnenden Hufschlag der Barbarenpferde öffnet und aus den unwirtlich kahlen Wäldern, die der Polarstern entlaubt, niederzureißen die ruhmreichen römischen Mauern, herbeiruft das gotische Eisen, klagt Brutus, durchnässt vom Schweiß und vom Bruderblute, einsam in düsterer Nacht, schon zum Sterben entschlossen, die Götter an, die gnadenlos sich erweisen auf dem Olymp und im Hades, und bäumt sich auf und ruft seinen Trotz vergeblich hinaus in die schläfrige Luft.] Brutus wurde die Zugehörigkeit zum Land und seiner Bevölkerung gewaltsam entrissen, „divelta […] giacque“ (V.1-2) [entwurzelt liegt]. Der Verlust der Schlacht von Philippi bedeutet nicht nur sein persönliches Ende - sein letzter Ausweg ist der Suizid -; er besiegelt auch den Untergang, „ruina immensa“ (V.2) [unermesslicher Sturz], der Römischen Republik. Dadurch verbildlicht Brutus’ Tod eine Epochenschwelle. Am Ausgang des ‚heroischen Zeitalters‘ wird er als letzter Vertreter eines vergangenen Bewusstseinsstadiums inszeniert. Seine Zeitgenossen, deren Bewusstsein sich bereits fortentwickelt hat, werden im Gedicht „barbari“ genannt. Barbarei ist für Leopardi eine Gesellschaftsform, die 5.1 Bruto minore 75 <?page no="76"?> 199 Zib. 22. 200 §1106 in Scienza nuova. Giambattitsta Vico: Opere, a cura di Fausto Nicolini, Milano: Riccardo Ricciardi 1953 [=La letteratura italiana. Storia e testi. Vol. 43], S.-867. 201 Vgl. Winfried Wehle: „Auf der Höhe einer abgründigen Vernunft: Giambattista Vicos Epos einer ‚Neuen Wissenschaft‘“, in: Roland Galle / Helmut Pfeiffer (Hrsg.): Aufklä‐ rung, München: Fink 2007, S.-166-168; Jürgen Habermas: Theorie und Praxis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S.-271-275. 202 Giambattitsta Vico: Opere, S.-867, §1106. sich bereits im Verfall befindet; „la barbarie che vien dopo l’eccesso dell’incivi‐ limento“ 199 [Die Barbarei, die nach dem Exzess der Zivilisierung kommt]. Er greift damit Vicos Bild der „barbarie della riflessione“ 200 [Barbarei der Vernunft] auf, das einen tiefen Zweifel an einer Form der Moral vermittelt, die in der Vernunft verankert ist. In der Scienza nuova (1725) beschreibt Vico die Reflexion als gefährliches Werkzeug, da sie die Emotionalität erstickt und den Gemeinsinn gefährdet. 201 Menschen leben dann wie „bestie immani in una somma solitudine d’animi e di voleri, non potendovi appena due convenire, seguendo ogniun de’ due il suo propio piacere o capriccio“ 202 [menschliche Bestien in einer großen Einsamkeit des Geistes und des Willens; kaum zwei sind in der Lage, übereinzustimmen, weil jeder der beiden seiner eigenen Lust oder seiner Laune nachgeht]. Entsprechend verfällt die Menschheit dem Egoismus. Im Gegensatz dazu wendet sich Brutus in seiner Klage zunächst an die Tugend. Dann hüllt er seine Klage in ein mythisches Gewand und richtet sich in Apostrophen an die Götter (vor allem an Zeus) und an den Mond, der das menschliche Schicksal unbeteiligt beobachtet. E tu dal mar cui nostro sangue irriga, Candida luna, sorgi, E l’inquieta notte e la funesta All’ausonio valor campagna esplori. Cognati petti il vincitor calpesta, Fremono i poggi, dalle somme vette Roma antica ruina; Tu sì placida sei? Tu la nascente Lavinia prole, e gli anni Lieti vedesti, e i memorandi allori; E tu su l’alpe l’immutato raggio Tacita verserai quando ne’ danni Del servo italo nome, Sotto barbaro piede Rintronerà quella solinga sede. (Bruto minore, V.76-90) 76 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="77"?> 203 Leopardi und die Antike ist ein umfangreich behandeltes Thema. Einen Überblick leistet Scheel in: Hans Ludwig Scheel: „Leopardi und die Antike. Die wesentlichen Aspekte“, in: ders. / Manfred Lentzen (Hrsg.): Giacomo Leopardi. Rezeption - Interpretation - Perspektiven, Tübingen: Stauffenburg 1992, S.-261-272. 204 Leopardi zitiert zwar häufiger Vico, Montesquieu und Rousseau, jedoch bleibt es schwierig, gesicherte Aussagen zu treffen, welche Werke Leopardi aus erster Hand kannte bzw. in welchem Ausmaß er sie kannte. Vgl. Michael Caesar / Franco D'Intino: „Introduction“ in: Giacomo Leopardi: Zibaldone, New York: Farrar, Straus and Giroux 2013, S.-xviii. [Und du, aus dem Meer, das unser Blut bespült, steigst du empor, reiner Mond, und die ruhlose Nacht, des ausonischen Mutes Grabstatt erforschst du. Es galoppieren die Sieger über die Leiber, die Herzen verwandten Blutes, es dröhnen die Hügel, aus höchsten Höhen stürzt das alte Rom in die Tiefe, und du bleibst so still? Du sahst, wie geboren wurde Lavinias Geschlecht und die frohen Jahre danach und die denkwürdigen Lorbeerkränze. Und über die Berge, unverändert und schweigend, wirst du dein Licht ergießen, wenn in den rohen Ketten der Sklaverei die Menschen Italiens zittern, Barbarentritte das einsame Land erschüttern.] Die Ewigkeit des Mondes schlägt innerhalb des Diskurses eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, indem er stumm zusieht, wie die Menschheit ‚verfällt‘. Brutus klagt nicht nur sein Zeitalter an, sondern auch all jene, die folgen, bis hin zur Gegenwart des Schreibers. Er wird zum Sprachrohr für Leopardis Menschheitsgeschichte und dabei gleichzeitig zum Vertreter eines ‚idealen‘ Bewusstseins stilisiert. Leopardis Anthropologie ist eine Verfallsge‐ schichte, die davon ausgeht, dass Völker im Zuge ihres Entwicklungsprozesses zwangsläufig eine kollektive Bewusstseinsveränderung durchlaufen. Sie wird beschrieben als gradueller Übergang in eine Lebensform der Uneigentlichkeit. Auf der Suche nach einer glücklichen Lebensform - dies ist das eigentliche Projekt, das Leopardi durchgängig verfolgt - verortet er die Höhepunkte der Menschheit in der griechischen und der römischen Antike. 203 Sie sind die Sehnsuchtsorte in seiner Poetik. Wir werfen also zunächst einen Blick auf Leopardis philosophische Überlegungen zum Subjekt und seinem Wandel, bevor dann die intertextuellen Bezüge erläutert werden, die als zweite Quelle für die literarische Konzeption ebenso bedeutsam für das Gedicht sind. 5.1.1 Geschichtsphilosophie bei Vico, Montesquieu und Rousseau Philosophisch bewegt sich Leopardi mit seinen Überlegungen zur Zivilisation u. a. in den Spuren von Vico, Montesquieu und Rousseau, wenn er diese auch selten direkt zitiert. 204 Statt eine systematische Menschheitsgeschichte zu 5.1 Bruto minore 77 <?page no="78"?> 205 Giambattitsta Vico: Opere, S.-388. 206 Winfried Wehle: „Giambattista Vicos Epos einer ‚Neuen Wissenschaft‘“, S.-166. 207 Vgl. Barbara Kuhn: „‚Raziocinando a rovescio‘ - Leopardis Logomythie in ‚Il Copernico. Dialogo‘“, in: Febel, Gisela / Joly, Françoise / Pflüger, Silke: Paradox oder über die Kunst, anders zu denken: Mélanges für Gerhart Schröder, Kemnat: Quantum Books 2001, S.-330-331. 208 Montesquieu: De l’esprit des loix II, 1, in: Montesquieu: Œuvres complètes, Paris: Lefèvre 1839, S.-41. schreiben, übernimmt Leopardi Teile und überführt sie in unterschiedlicher Form in sein Werk, wo sie mit Motiven der antiken Literatur verbunden werden. Giambattista Vico beschreibt die Menschheitsgeschichte als eine Geschichte der zunehmenden Rationalisierung. In der Scienza Nuova teilt er die Menschheit in drei Zeitalter ein; l’età degli dei, das sinnliche Zeitalter, in dem die Menschen glaubten, von Göttern regiert zu werden; l’età degli eroi, das heroische und phantasiegeprägte Zeitalter; und l’età degli uomini, das menschliche, durch Vernunft geprägte Zeitalter. 205 Auf jeden Umlauf dieser Zeitalter, corso, folgt ein Verfall, der sich durch die zerstörerischen Kräfte der Vernunft einstellt. Danach beginnt der corso erneut. Der Rückfall in das göttliche Zeitalter wird zum Rettungsnetz der Menschheit vor ihrer zerstörerischen Vernunft. Der Ablauf der Zeitalter wiederholt sich jedoch spiralförmig in der Geschichte, da jeder corso auf einer höheren Ebene beginnt, weshalb der Prozess schneller verläuft. In diesem Fortschritt, der sich aus corso, Verfall und ricorso gestaltet, versteckt sich die „Idee einer Vollendung“ 206 - eine Vorstellung, die Leopardi ebenso ablehnt wie die Rückkehr in ein von Göttern geprägtes Zeitalter. Stattdessen strebt er das heroische Zeitalter an. Fraglich ist jedoch, ob die Linearität des corso, der bei Leopardi nun nicht mehr zyklisch ist, durchbrochen werden kann und eine Rückkehr in das heroische Zeitalter möglich ist, ohne den Corso erneut durchlaufen zu müssen. In Il Copernico. Dialogo findet sich ein Versuch mit der Linearität des corso zu brechen, indem alle Zeitalter als redende und handelnde Figuren gleichzeitig auf die Bühne gestellt werden. 207 Im Bruto minore stehen l’età degli eroi und l’età degli uomini disparat nebeneinander, da sich Brutus in keinem Zeitalter mehr aufgehoben fühlt. Eine freie Form des Wandels beschreibt Montesquieu 1748 in De l’esprit des loix. Er identifiziert drei Regierungsformen, die in sozialen Gebilden auftreten: „Il y a trois espèces de gouvernements: le républicain, le monarchique, et le despotique“ 208 [Es gibt drei Regierungsformen: die republikanische, die monar‐ chische und die despotische]. Diesen Regierungsformen ordnet Montesquieu die entscheidende Triebkraft zu, die in der jeweiligen Gesellschaftsform vor‐ wiegend anzufinden ist: In der Republik dominiert die vertu, die tugendhafte Bereitschaft, sein eigenes Interesse dem Gemeinwohl unterzuordnen; in der 78 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="79"?> 209 Zu den Triebkräften, siehe Paul Geyer: Die Entdeckung des modernen Subjekts, S. 112. Das Argument weist allerdings eine zirkuläre Struktur auf: Triebkräfte entscheiden über die Entstehung von Gesetzen, die Gesetze formen aber die Triebkraft aus. Vgl. ebd., S.-125. 210 Vgl. ebd., S.-124-126. 211 Leopardi verfügt über einen sehr engen Begriff von Zivilisation, wie seine Beschreibung von vorzivilisatorischen Stadien zeigt. 212 Vgl. auch Zib. 3773. Monarchie ist l’honneur die stärkste Triebkraft, das Streben nach Ehre und Distinktion; der Despotismus basiert auf crainte, Unterordnung und Gehorsam durch Furcht. Montesquieu nennt die Triebkräfte stellvertretend für das soziale Identitätszentrum bzw. kollektive Bewusstsein - den esprit général - einer Gesellschaft. 209 Welche Triebkraft in einer Bevölkerung dominiert, ist unter anderem von äußeren Faktoren abhängig, beispielsweise Klima, Topographie, Bodenqualität, aber auch von sozialen Faktoren, wie Kultur und Religion. Montesquieu geht also nicht von einem Naturzustand des Menschen aus. Stattdessen definiert er ihn als soziales Wesen: Menschen leben in einem System zusammen, das auf positiven Gesetzen basiert, die auf das kollektive Bewusstsein und die jeweilige Regierungsform einer Gesellschaft zugeschnitten sind. Probleme entstehen in diesem Gefüge erst dann, wenn die Regierungsform und das kollektive Bewusstsein nicht mehr korrelieren. Dadurch wird ein gesellschaftlicher Wandel eingeleitet (Umsturz, Revolution etc.), der erst wieder endet, wenn sich eines der drei Verhältnisse stabilisiert hat. Montesquieu bringt die Bewusstseins- und Regierungsformen dadurch nicht in eine historische Abfolge, sondern lässt sie als Grundtypen des menschlichen Zusammenlebens stehen. In seinem System wird die Identität des Individuums mit dem Kollektiv gleichgesetzt, wodurch es keine Autonomie besitzt. Statt‐ dessen wird die Gesellschaft über einen kausalmechanischen Strukturalismus erklärt, der die historische Dimension von Zivilisationen außer Acht lässt. 210 Montesquieus System impliziert die Annahme, dass anhand der äußeren und inneren Umstände, der Gesetze und der Regierungsformen auf das kollektive Bewusstsein einer früheren Gesellschaft geschlossen werden könnte und da‐ durch auf das Individuum. Leopardi wird später zumindest im Bezug auf den ‚Ur-Typus‘ feststellen, wie schwierig Annahmen über Menschen ‚vor der Zivilisation‘ sind. 211 Damit gesteht er implizit ein, dass es sich bei seinem ‚Ur-Typus‘ um ein geschichtsloses Sinnbild handelt. Die zweite Natur, die sich im Zivilisationsrahmen ausbildet, kann für die Reflexion nicht einfach abgelegt werden, wodurch ein vorzivilisatorisches Stadium kaum erkennbar oder vorstellbar ist. 212 Seine Idealisierung der Antike erlaubt jedoch keine Loslösung von diesem stillgestellten Geschichtsbild. 5.1 Bruto minore 79 <?page no="80"?> 213 Vgl. Paul Geyer: Die Entdeckung des modernen Subjekts, S.-173-175. 214 Vgl. ebd., S.-174. 215 Vgl. ebd., S.-172. 216 Winfried Wehle: „Arkadien oder das Venus-Prinzip der Kultur“, in: Roger Fried‐ lein / Gerhard Poppenberg / Annett Volmer (Hrsg.): Arkadien in den romanischen Lite‐ raturen: zu Ehren von Sebastian Neumeister zum 70. Geburtstag. Heidelberg: Winter 2008, S.-41. 217 Leopardi erkennt den gleichen Prozess zweimal in der Menschheitsgeschichte. An dieser Stelle wird hauptsächlich Bezug auf die römische Antike genommen, da er an diesem Beispiel seine Überlegung exemplifiziert. Erst bei Rousseau finden sich Ansätze einer historischen Phänomenologie, indem dieser die Triebkräfte den unterschiedlichen historischen Zivilisations‐ stufen zuordnet. Im Ersten Discours stellt Rousseau Lebensformen der Eigent‐ lichkeit und der Uneigentlichkeit gegenüber und kristallisiert zwei Idealtypen heraus, die eine historische Phänomenologie des Bewusstseins repräsentieren. 213 Als erste Stufe ordnet Rousseau die Triebkraft vertu hauptsächlich der Griechi‐ schen und Römischen Antike zu; genauer gesagt, der Griechischen Demokratie und der jungen Römischen Republik. Es handelt sich dabei um einen primär agrarisch geprägten Zivilisationstyp mit einer heroisch-kriegerischen Ethik. 214 Dieser Zivilisationstyp wird später abgelöst von einer handelskapitalistischen Gesellschaft, die durch eine stark ausdifferenzierte Gesellschaftsordnung cha‐ rakterisiert ist. Der Leitbegriff dieser zweiten idealtypischen Stufe des Bewusst‐ seins ist die „fureur de se distinguer“, die von Egoismus, Doppelmoral und Verlust des Sinns für Gemeinwohl geprägt ist. 215 Bewusstseinswandel ist bei Rousseau ein Verfallsprozess, der sich vom emoti‐ onsgesteuerten Mensch (Mensch-Tier) zu einem Menschen vollzieht, der primär von der ratio gesteuert wird: „Das kalkulierende Verhalten des Geistes (esprit) hat sich ‚depravierend‘ über das natürliche Empfinden des Körpers (corps) hinweggesetzt.“ 216 Auch in dieser Theorie spielen äußere Faktoren eine Rolle. Der Prozess zum Vernunft-Menschen vollzieht sich im prosaischen Norden aufgrund des kargen, kalten Klimas schneller als im poetischen Süden. 5.1.2 Leopardis absolute Monarchie: „Un principe quasi perfetto“ In Einträgen des Zibaldone aus dem Jahr 1821 konstruiert Leopardi eine erste historische Anthropologie. Hierfür übernimmt er Rousseaus prozessuales Ver‐ ständnis der Bewusstseinsentwicklung und erklärt die Griechische und die Römische Antike zu den Sternstunden der Menschheit, ermöglicht durch die Korrelation aus einem idealen kollektiven Bewusstsein und einer idealen Staats‐ konstruktion. 217 In romantischer Manier beginnt Leopardis historische Phäno‐ 80 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="81"?> 218 Lutz Huth: „Repräsentative Personen“, in: ders. und Michael Krzeminski: Repräsentation in Politik, Medien und Gesellschaft, Würzburg: Königshausen und Neumann 2007, S. 230. 219 Das Konzept eines Monarchen durch Erbfolge ist für Leopardi hingegen Ausdruck einer korrupten Gesellschaft, die sich aufgrund ihrer strikten Regeln und egoistischen Interessen nicht mehr auf das individuelle Urteil verlassen kann. Sie kann aufgrund ihres langen Kriterienkatalogs keinen absoluten Fürsten mehr finden und wenn doch, menologie jedoch mit einem hochidealisierten ‚Ur-Typus‘, der als „Skizze des wahren und ganzen Menschen vor Entfaltung von Differenzierungsfolgen“ 218 konzipiert ist. In seinem Naturzustand lebt der Mensch in Einheit mit allen Zugehörigen der jeweiligen Gebietskörperschaft und im Einklang mit der Natur. Die natürliche Regierungsform für dieses Stadium bezeichnet Leopardi als absolute Monarchie und den Kopf dieser Regierungsform als „principe quasi perfetto“ (Zib. 550) [fast perfekter Fürst]. Ein vom Volk gewählter Fürst, der an der Spitze einer gesellschaftlichen Einheit steht. Die Triebkraft dieser Gesellschaftsform ist ein totaler Gehorsam, der aber nicht erzwungen wird. Das Einzelne wird nicht getrennt vom Ganzen gedacht: „L’ubbidienza e sommissione totale al principe e l’esser pronto a servirlo non è insomma altro che un sacrifizio al ben comune, un esser pronto a sacrificarsi per gli altri […]“ (Zib. 564) [Der Gehorsam und die totale Unterordnung gegenüber dem Fürsten und die Bereitschaft, ihm zu dienen, sind im Grunde nichts anderes als ein Opfer für das Gemeinwohl, eine Bereitschaft, sich für die anderen zu opfern.] In dieser einfachen Lebensform der Eigentlichkeit gibt es keine Vereinzelung, keine Entfremdung, keine Dezentrie‐ rung und keinen Egoismus. Diese Gesellschaftsordnung existiert ohne Ausdif‐ ferenzierungen und kennt kaum Regeln oder Strafen. Enge Umschreibungen und Definitionen werden als Korruption des Menschen betrachtet. Der Fürst selbst steht in einem absoluten pars pro totum-Verhältnis zu seinem Volk: [S]enza tante definizioni, e sanzioni, e formole, e spirito geometrico, gli antichi popoli si sottomettevano col fatto al reggimento di un solo assolutamente; senza però neppur pensare ch’egli dovesse esser padrone della vita, dell’opera, e delle sostanze loro a capriccio, ma in vantaggio di tutti […]. (Zib. 555) [Ohne so viele Definitionen, Strafen und Formeln und ohne den geometrischen Geist unterwarfen sich die alten Völker tatsächlich vollkommen der Herrschaft eines einzelnen Mannes; aber ohne auch nur zu denken, dass er Herr über ihr Leben, ihre Arbeit und ihren Besitz aus einer Laune heraus aller sein sollte, sondern zum Wohle] Stirbt der Fürst, wählt das Volk einen neuen Monarchen. Da in diesem Gesell‐ schaftsstadium niemand nach Distinktion strebt, kann ein geeigneter Monarch problemlos gefunden werden. 219 Entpuppt sich ein Monarch dennoch als Tyrann, 5.1 Bruto minore 81 <?page no="82"?> wird dieser von der Macht korrumpiert. Eine solche Gesellschaftsform agiert nach dem Prinzip der Vernunft und nicht nach dem Prinzip der Illusion. 220 Vgl. Winfried Wehle: „Arkadien oder das Venus-Prinzip der Kultur“, S.-49. 221 Ausführungen hierzu finden sich vor allem im Discorso di un italiano intorno alla poesia romantica. stellt sich die Einheit des Volkes gegen ihn. Das kollektive Bewusstsein sichert die Gesellschaft gegen Machtmissbrauch ab. Auch wenn Leopardi versucht, dieses Stadium anthropologisch darzustellen, ist die Idealisierung doch deut‐ lich zu erkennen. Es handelt sich um den Topos des Goldenen Zeitalters: Die Ur-Menschheit ist Teil des Welt-Kontinuums mit einem Sinn und einer Stimme. 220 In dieser Einheit mit der Natur ist der Mensch durch und durch poetisch. 221 Leopardi führt seine Anthropologie fort mit dem Austritt des Menschen aus diesem vermeintlich natürlichen Idealzustand, mit dem Verlust von Perfektion, von Illusionen, von Einheit und Einfachheit. Durch den Austritt aus dem ‚natürlichen Idealzustand’ kann auch die ‚natürliche Idealregierung’ kein geeignetes Mittel mehr darstellen, um die Gesellschaft zu organisieren. [C]oll’influenza, la forza, la vividità, l’osservanza della natura, era finita la perfezione e l’utilità dell’assoluta monarchia; coll’assoluta monarchia era finito lo stato vero ed essenziale della società. Lungi dunque dalla natura, e lungi dall’essenza di se stessa, la società non poteva esser più felice. Nè vi poteva più esser governo perfetto, non solo perchè l’uomo era allontanato dalla natura, fuor della quale non v’è perfezione in qualunque stato; ma anche e principalmente perchè quel solo governo che potesse da principio esser perfetto […] era da circostanze irrimediabili e perpetue escluso per sempre dalla perfezione […]. (Zib. 561-562) [Sobald der Einfluss der Natur und damit ihre Macht, ihre Lebhaftigkeit und unsere Übereinstimmung mit ihr verschwunden waren, waren die Vollkommenheit und Nützlichkeit der absoluten Monarchie vorbei; mit der absoluten Monarchie war der wahre und wesentliche Zustand der Gesellschaft beendet. Weit von der Natur und von der eigenen Essenz entfernt, konnte die Gesellschaft nicht mehr glücklich sein. Es konnte auch keine vollkommene Regierung mehr geben, nicht nur, weil der Mensch der Natur entfremdet war, außerhalb derer es in keinem Zustande Vollkommenheit gibt, sondern auch und vor allem, weil die einzige Regierung, die von Anfang an vollkommen sein konnte, durch unabänderliche und immerwährende Umstände für immer von der Vollkommenheit ausgeschlossen war.] Aufgrund der Entfremdung von der Natur und damit von der „essenza di se stessa“ [der eigenen Essenz] ist der Mensch unglücklich und muss seinen Verlust beständig kompensieren: „Ecco l’arte, la ragione, la meditazione, il sapere, la fi‐ 82 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="83"?> 222 Paul Geyer: Die Entdeckung des modernen Subjekts, S.-114. losofia“ (Zib. 562) [Hier finden wir dann die Kunst, die Vernunft, die Meditation, das Wissen, die Philosophie]. Das Interesse des reflexiven Menschen gilt nun der Suche nach Eindeutigkeit. Für Leopardi ist das der Beginn eines unumkehrbaren Verfallsprozesses. Der Bruch verkehrt das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Regierung zu einer korrupten Monarchie, die bei Leopardi dem Despotismus entspricht. Grund hierfür ist der Egoismus, der sich jetzt ausbreitet. Egoisten gehorchen aber nicht, ohne versklavt zu werden: „Nato dunque l’egoismo, nè il popolo poteva ubbidir più se non era servo, nè il principe comandare senza esser tiranno“ (Zib. 564) [Nachdem der Egoismus geboren war, konnte das Volk nicht mehr gehorchen, ohne Sklave zu sein und der Fürst nicht mehr befehlen, ohne Tyrann zu sein]. In der absoluten Monarchie war der Gehorsam noch positiv konnotiert, weil er freiwillig in das Gemeinwohl eingespeist wird. In der zivilisierten Form kippt er ins Negative. Obwohl der Mensch seine ‚Ur-Form‘ verlassen hat, ist das kollektive Bewusstsein in diesem Stadium der Gesellschaftsgeschichte aber noch immer stark an die Natur gebunden. Durch die Stärkung egoistischer Interessen bedarf es jedoch eines Systems, das die individuellen Interessen zugunsten des Gemeinwohls kanalisiert. Montesquieus Theorie zur Korrelation aus Bewusstseins- und Regierungsform wird von Leopardi hinsichtlich der Ausbalancierung des Egoismus in seine Anthropologie überführt. Die neue Ideallösung ist die Republik. 5.1.3 Poetisierung des Idealen: die Rede auf die Republik Während in Leopardis Anthropologie der Urzustand des Menschen an sich idealisiert wird, weil der ‚Ur-Typus‘ kaum steuernde Hilfsmittel benötigt, um sein Leben zu führen, idealisiert Leopardi hingegen bezüglich der Republik das kollektive Bewusstsein und die Staatsform selbst. Montesquieu hatte in seiner Geschichtsphilosophie Machiavellis Staatslehre, die davon ausgeht, dass der Mensch zu tugendhaftem Verhalten erzogen werden kann, und das Hob‐ bessche Prinzip der individualistischen Selbsterhaltung miteinander vereint: „Montesquieu […] leitet das Prinzip der Selbsterhaltung systemimmanent aus dem Funktionieren sozialer Gebilde ab.“ 222 Staat und Bürger gehen ein reziprokes Verhältnis ein, das in Leopardis Idealstaat Größe und Stärke der Nation ermög‐ licht: Uno stato favorevolissimo alle illusioni, all’entusiasmo ec.; […]; uno stato dove ogni azione pubblica degl’individui è sottoposta al giudizio, e fatta sotto gli occhi della moltitudine, giudice […] per lo più necessariamente giusto; uno stato dove 5.1 Bruto minore 83 <?page no="84"?> per conseguenza la virtù e il merito non poteva mancar di premio; uno stato dove anzi era d’interesse del popolo il premiare i meritevoli, giacchè questi non erano altro che servitori suoi, ed i meriti loro, non altro che benefizi fatti al popolo, il quale conveniva che incoraggisse gli altri ad imitarli; uno stato dove, se non altro, e malgrado le ultime sventure individuali, non può quasi mancare al merito ed alle grandi azioni il premio della gloria, quel fantasma immenso, quella molla onnipotente nella società; uno stato, del quale ciascuno sente di far parte, e al quale però ciascuno è affezionato, e interessato dal proprio egoismo, e come a se stesso; […] in somma uno stato che sebbene non è il primitivo della società, è però il primitivo dell’uomo, naturalmente libero, e padrone di se stesso, e uguale agli altri (come ogni altro animale), e quindi moltissimo della natura sola sorgente di perfezione e felicità; un simile stato finchè restava tanta natura da sostenerlo, e quanta bastava perch’egli fosse ancora compatibile colla società; era certamente dopo la monarchia primitiva, il più conveniente all’uomo, il più fruttuoso alla vita, il più felice. (Zib. 565-566). [Ein Staat, der Illusionen, Begeisterung etc. stark begünstigt; ein Staat, in dem jede öffentliche Handlung der Individuen dem Urteil des Kollektivs unterliegt und unter seinen Augen ausgeführt wird, ein Kollektiv, das größtenteils zwangsläufig ein gerechter Richter ist; ein Staat, in dem folglich für Tugend und Verdienst eine Belohnung nicht ausbleiben konnte; ein Staat, in dem es im Interesse des Volkes war, die Verdienstvollen zu belohnen, weil diese nichts anderes als seine Diener waren und ihre Verdienste nichts anderes als Wohltaten für das Volk, das zustimmte, dass sie die anderen ermutigen, sie nachzuahmen; ein Staat, wo, wenn auch nichts anderes und trotz der furchtbarsten individuellen Unglücksfälle, das Verdienst und der Ruhm für große Taten, jenes immense Phantasma, jene Triebfeder der Gesellschaft, kaum ausbleiben konnte; ein Staat, dem sich jeder zugehörig fühlte und dem jeder interessiert durch seinen eigenen Egoismus zugetan ist, so wie er es zu sich selbst ist; zusammengefasst, ein Staat, der, wenngleich er nicht der ursprüngliche der Ge‐ sellschaft, aber der ursprüngliche des Menschen ist, der natürlich frei und Herr seiner selbst ist und allen anderen gleich (wie jedes andere Lebewesen) und folglich trägt er sehr viel Natur in sich, die einzige Quelle der Perfektion und der Glückseligkeit; ein solcher Staat, solange genug Natur erhalten blieb, um ihn zu erhalten und genug Natur, um mit der Gesellschaft kompatibel zu sein, war sicherlich, nach der ursprünglichen Monarchie, der Staat, der am besten zum Menschen passte, der fruchtbarste für das Leben und der glücklichste.] In der rhetorisch ausgearbeiteten Lobrede - Leopardi beginnt alle Teilsätze mit der Anapher „uno stato“ oder einer Variation davon - wird der Staat zu dem Instrument schlechthin erklärt, das ein freies, gleichberechtigtes und glückliches Leben ermöglicht, indem er tugendhaftes und engagiertes Verhalten 84 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="85"?> 223 Vgl. oben unter Geschichtsphilosophie bei Vico, Montesquieu und Rousseau 224 Leopardi besitzt ein distanziertes Verhältnis zu Erziehung. Vgl. Zib. 3078, 4347. 225 In dieser Arbeit als amour propre bezeichnet. 226 Im Folgenden verwende ich die französische Bezeichnung. fördert und belohnt. Leopardi erklärt die Republik zur natürlichen Staatsform für freie und selbstbestimmte Menschen und begründet das Funktionieren der Republik dadurch, dass der Staat im Zeitalter der Helden, ‚l’età degli eroi‘, 223 von Enthusiasmus, Inspiration und Imitation getragen wird. 224 Er beschreibt eine Beziehung des Subjekts zum Staat, die durch ein Verhältnis aus utilità und virtù geprägt ist. Das Subjekt wird durch seinen eigenen Egoismus an den Staat gebunden. Der Mensch kann in dieser Gesellschaftskonstruktion zwar ebenfalls individuelles Unglück erfahren, dieses ist jedoch nicht systemisch. Der Glaube an den Staat und die eigene Verwirklichung im Staat bleibt also unberührt von individuellen Schicksalsschlägen. Innerhalb der gleitenden Semantik beschreibt Leopardi den Glauben an dieses Konstrukt als Natur, die das Subjekt und den Staat erfüllt. Dadurch verschiebt er die Triebkräfte und den Staat in den Grenzbereich der Illusionen und setzt sie dem Nichts aus. Solange an Illusionen kollektiv geglaubt wird, können sie Tatsachen schaffen. Durch ihren Illusionscharakter unterstreicht Leopardi aber ihre Fragilität. 5.1.4 Das Ende der Republik Die Römische Republik ist darauf angewiesen, dass der Egoismus der Menschen ausbalanciert wird, damit ein funktionales System der Gleichheit bestehen bleibt. Egoismus ist bei Leopardi eine Unterform des amor proprio [Selbst‐ liebe]; 225 ein Konzept, das er aus der Tradition der Französischen Moralistik übernimmt. Leopardi erklärt den amour propre  226 zum Zentrum seiner Sub‐ jekt-Konzeption, da das gesamte emotionale Innenleben von ihm ausgeht und er bestimmt, wie sich das Subjekt zur Außenwelt positioniert: [T]utti i sentimenti di chi vive sono compresi o riferiti o prodotti ec. dall’amor proprio: il quale è il sentimento universale che abbraccia tutta l’esistenza; e gli altri sentimenti del vivente (se pur ve n’ha che sieno veramente altri) non sono che modificazioni, o divisioni, o produzioni di questo […]. (Zib. 2411) [Alle Gefühle von einem Lebewesen sind in der Selbstliebe enthalten oder auf sie bezogen oder von ihr hervorgebracht etc.: Die Selbstliebe ist das universale Gefühl, das die ganze Existenz umfasst. Die anderen Gefühle des Lebewesens, wenn es wirklich andere gibt, sind nur Modifikationen oder Abspaltungen oder Produkte davon.] 5.1 Bruto minore 85 <?page no="86"?> 227 Vgl. Zib. 958. 228 Paul Geyer: Von Dante zu Ionesco. Literarische Geschichte des modernen Menschen in Italien und Frankreich, Bd.-2, Hildesheim: Olms 2017, S.-57-58. 229 Paul Geyer: Die Entdeckung des modernen Subjekts, S.-62. 230 Vgl. Zib. 671-672, 878, 890-894, 3291. 231 Zib. 3291. In Leopardis Subjektkonzeption ist es der amour propre, der das Subjekt über‐ haupt erst zur Handlung befähigt, 227 wohingegen er den Verstand, der das Subjekt lähmt, aus dem Vermittlungszentrum ausschließt. Durch die Ausgren‐ zung der Vernunft äußert sich in Leopardis amour propre ein Problem, das bereits bei La Rochefoucaulds amour propre bestand. Während sich das Selbst bei Descartes in der Denkbewegung gegenübertrat, „cogito ergo sum“, erfolgt dies bei La Rochefoucauld durch die Emotionalität. Der Unterschied zwischen den beiden Theorien besteht hauptsächlich in einer Verschiebung der Totalisierung des Denkens zur Totalisierung der Emotion. 228 Beiden Theorien ist gemeinsam, dass sie das Selbst im Eigenen suchen und nicht im Fremden, wodurch es zu keiner dialektischen Vermittlung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit kommt: Die persönliche Identität stellt sich immer nur vorläufig her in der Dialektik zwischen Vernunft und Sinnlichkeit und zwischen Ich und Nicht-Ich, in der die Emotionalität das dynamische Vermittlungszentrum bildet. Der Selbstbewußtwerdungsprozeß wie‐ derum ist sprachlich vermittelt. 229 Eine dialektische Vermittlung gelingt auch Leopardi nicht, weshalb das Innere und das Äußere, Ich und Nicht-Ich und oft auch Vernunft und Sinnlichkeit als Gegensätze gedacht werden. Statt zu vermitteln, scheint sich der amour propre in Leopardis Theorien immer einem der Gegensätze anzupassen. Leopardi unterscheidet zunächst, ob sich der amour propre nach außen richtet, wie zum Beispiel auf die Republik bzw. die Mitbürger - dann ist er die Quelle für Tugend - oder ob er sich nach innen richtet und sich in eine Unterform seiner selbst verkehrt, den besagten Egoismus. 230 Leopardi erklärt die Verkehrung dadurch, dass der amour propre außen keinen Anklang mehr findet. Demnach ist Egoismus eine gestörte Relation zwischen dem Subjekt und der Gesellschaft: „L’egoismo è quando l’uomo ripone il suo amor proprio in non pensare che a se stesso, non operare che per se stesso“ [Egoismus ist, wenn der Mensch seinen amour propre einsetzt, um nur an sich selbst zu denken und nur für sich selbst zu handeln]. 231 Die Aufspaltung in den amour propre und den Egoismus orientiert sich an der Gedankenfigur des ‚Nichts‘ und des ‚Seins‘ als Totalitäten, die in einem prozessualen Verhältnis zueinander stehen. Während der ‚Ur-Typus‘ nur über ein kollektives Bewusstsein verfügt und damit in einem 86 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="87"?> 232 In Zib. 3296-3298 folgt ein misogyner Diskurs über den angeborenen Egoismus von Frauen. Ganzen aufgeht, ist das moderne Subjekt nach innen gerichtet und dadurch vereinzelt. Von dem Kontrast zwischen dem Inneren und Äußeren hängen auch Leopardis Helden- und Künstlerkonzeption (siehe Kapitel 7.2) ab: Sensible, kreative und junge Menschen verfügen über mehr Vitalität und ein ausgeprägtes Innenleben; der amour propre stellt ihr Zentrum dar. Ihr Bewusstsein entspricht mehrheitlich der Außenwelt, die durch Illusionen das Subjekt an die Gesellschaft bindet. Demgegenüber stellt Leopardi die unsensiblen, alten, imaginationslosen Menschen sowie auch Frauen generell. 232 Leopardi kann jedoch durch den amour propre und seine Verschiebung zum Egoismus nicht erklären, warum die Republik endet. Es handelt es sich insofern um einen Zirkelschluss, weil nicht differenziert wird, ob sich das kollektive Bewusstsein durch einen Wandel des individuellen Bewusstseins verändert oder ob das neue individuelle Bewusstsein durch einen Wandel des kollektiven Bewusstseins entsteht. Leopardi stellt in seiner Geschichtsschreibung lediglich fest, dass die Republik den amour propre nicht mehr so kanalisieren kann, dass das Subjekt sein Handeln für die Gesellschaft einsetzt, da die Illusionen schwinden. Das Subjekt fokussiert sich jetzt auf sich selbst, Bezüge zum Nicht-Ich dienen lediglich noch dem Vergleich und führen letztlich dazu, das Nicht-Ich zu hassen. Die moderne Außenwelt besteht jetzt aus einer disparaten Vereinzelung, in der jeder für sich alleine steht. Die wachsende Gier nach Reichtum, Macht und ebenso Wissen (Künste, Technik und Wissenschaft), die das Defizit kompensieren soll, wird zum Zerstörungsmotor der Menschheitsge‐ schichte. Die Gier gefährdet die Gleichheit und damit auch das Gemeinwohl. Die Schieflage zwischen Bewusstsein und Regierungsform führt erneut zu einer Destabilisierung, die laut Leopardi zwangsläufig in einer Monarchie münden muss: [C]ome l’unità del potere porta il monarca ad abusarsene, e passare i limiti; così la maggioranza del potere, porta il maggiore ad abusarsene, e cercare di accrescerlo; e così le democrazie vengono a ricadere nella monarchia. Nè solamente la πλεονεξία [l’avidità] del potere, ma ogni sorta di πλεονεξία, è incompatibile e mortifera alla libertà. (Zib. 567-568) [So wie die Einheit der Macht den Monarchen veranlasst, sie zu missbrauchen und die Grenzen zu überschreiten, so veranlasst auch die Mehrheitsmacht die Mehrheit dazu, sie zu missbrauchen und sie auszuweiten; und so tendieren die Demokratien 5.1 Bruto minore 87 <?page no="88"?> 233 Vgl. Zib. 555. 234 Inno ai patriarchi, V.11-12. 235 Vgl. Zib. 3773. 236 Vgl. Giuseppe Invernizzi: „Leopardi, Schopenhauer e il pessimismo europeo“, S.-20. 237 Vgl. Zib. 1565. dazu, in Monarchien zurückzufallen. Nicht nur die Gier nach Macht, sondern jede Art von Gier ist mit der Freiheit inkompatibel und für sie tödlich.] Jede Monarchie, die nicht der primitiven und absoluten Monarchie im Naturzu‐ stand entspricht, bedeutet für Leopardi den Verzicht auf Freiheit. Damit diese zivilisierte Form der Monarchie zusammenhält, ist sie - wie bei Rousseau - auf immer ausdifferenziertere Regeln und Gesetze angewiesen. 233 Obwohl Leopardi hier die Entfremdung von der Natur durch die Rationalisierung - den antico error  234 - für das Unglück der Menschen verantwortlich macht, basiert seine An‐ thropologie vornehmlich auf der Zunahme des Egoismus, der zur Vereinzelung führt. In späteren Überlegungen erklärt Leopardi den Menschen zum unsozialen Wesen per se. 235 Da er nicht zum Zusammenleben bestimmt ist, liegt der Hass gegenüber anderen Menschen in seiner Natur. 236 In der Fokussierung auf den Egoismus ist dieser Gedanke bereits angelegt, befindet sich hier jedoch ebenfalls in einem Zirkelschluss: Der Mensch entfremdet sich von der Natur, weil die ratio ihn ergreift; der Mensch wird rationaler, weil er die Entfremdung von der Natur kompensieren muss. Durch die Vernunft wird der Mensch autoreflexiv und sein Innenleben wird wichtiger als das entzauberte Außenleben, dadurch wird er egoistisch. Das Innenleben ist jedoch selbst arm, da es von einer geringen Selbstliebe bestimmt ist. Es handelt sich bei seiner Beschreibung des modernen Subjekts um keine dynamische Subjektkonzeption, sondern um stillgestellte Identitäten. Das moderne Subjekt geht allein in der ratio auf, wohingegen das Identitätszentrum des antiken Subjekts allein emotional geprägt ist. Die Entwicklung, die Leopardi hier beschreibt, drängt in Richtung einer Reduktion und damit zum Nichts. Leopardi bezieht sich in seiner Analyse jedoch nicht nur auf einen historischen Prozess, sondern ebenfalls auf einen Wandel, den ein modernes Subjekt erfahren kann. Kurzfristig stimmen das kollektive und das individuelle Bewusstsein in diesem Prozess nicht überein. So kommt es wie bei Montesquieu zum Konflikt, nur dass dieser in der Moderne nun nicht mehr zu einem Systemwandel führt, sondern das Individuum in einen eigenen persönlichen Konflikt gerät. Daraus erklärt sich auch, warum Leopardi die Tugend zu einem kollektiven Phänomen erklärt. 237 Individuelle Formen der Tugend treten zwar auf, sind jedoch hochgradig instabil, wie es sich an der Figur Brutus zeigen wird. 88 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="89"?> 238 Zib. 1565. 5.1.5 Die leere Illusion Bis hier wurde bereits deutlich, dass Leopardis Illusion von innen oder außen vorgegeben werden kann. Eine stabile Illusion wird von außen getragen und vom Individuum übernommen. Der amour propre richtet sich also danach aus. Fällt sie außen weg, kann sie zwar von innen getragen werden, das Individuum wird dabei aber prekär: „L’individuo non è virtuoso, la moltitudine sí“ 238 [Das Individuum ist nicht tugendhaft, das Kollektiv schon]. Der Verlust der Illusionen bildet im Bruto minore die zweite Strophe. In der Figurenrede wendet sich Brutus unmittelbar gegen die Tugend: Stolta virtù, le cave nebbie, i campi Dell’inquiete larve Son le tue scole, e ti si volge a tergo Il pentimento. A voi, marmorei numi, (Se numi avete in Flegetonte albergo O su le nubi) a voi ludibrio e scherno È la prole infelice A cui templi chiedeste, e frodolenta Legge al mortale insulta. Dunque tanto i celesti odii commove La terrena pietà? dunque degli empi Siedi, Giove, a tutela? e quando esulta Per l’aere il nembo, e quando Il tuon rapido spingi, Ne’ giusti e pii la sacra fiamma stringi? (Bruto minore, V.16-30) [Törichte Tugend, die hohlen Nebel, die Felder der ruhelosen Schatten sind alles, was du uns zeigst, und auf dem Fuße folgt dir die Reue. Ihr marmornen Götter (wenn ihr Götter wohnt in des Phlegeton feurigem Fluss oder über den Wolken), ihr lacht und verspottet eure unseligen Kinder, von denen ihr Tempel verlangt. Mit gezinkten Gesetzen verhöhnt ihr den Menschen bitter. Dermaßen also erregt den Unmut der Götter irdische Frömmigkeit? Ruchlosen also zum Schutze thronst du dort oben, Zeus? Und wenn dein Gewitter am Himmel sich ballt und du lässt den raschen Donner kommen, schleuderst den Blitz du auf die Gerechten und Frommen? ] Die Tugend, „Stolta virtù“, hat sich als leere Illusion entpuppt hat; als Trugbild, das sich nur noch in Form von undefinierten Bildern zeigt, „le cave nebbie, i campi | dell’inquiete larve“ (V.16-17) [die hohlen Nebel, die Felder der ruhelosen 5.1 Bruto minore 89 <?page no="90"?> 239 Leopardi zählt auch die Liebe zu den Illusionen. Klar umrissen ist der Begriff, der Sache nach, nicht. 240 Zib.1449. 241 Leopardi kannte De l’Allemagne von Madame de Staël. Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung war Leopardi wahrscheinlich unbekannt. 242 Siehe Kapitel 3. 243 Hervorh. von mir, Zib. 143-144. 244 Siehe Kapitel 4. Schatten]. Virtù, gloria und Patriotismus fallen bei Leopardi in die Kategorie der Illusionen, wodurch er seine Bewusstseinstheorie in den Grenzbereich des Nichts stellt und sie weiter vernebelt. 239 Während der „semplice“ 240 [einfache] Mensch noch instinktiv und unbewusst - mit Schillers Begrifflichkeiten ‚naiv‘ 241 - sein Leben nach Illusionen ausrichtet, weil er die Nichtigkeit in ihnen nicht kennt, verliert die Illusion in der voranschreitenden Zivilisation ihre Kraft. Folglich geht der Rationalisierungsprozess mit einem Illusionsverlust einher. Zudem bedeutet das Ende der Republik (des Idealstaats), dass tugendhafte Hand‐ lungen des Individuums nicht mehr belohnt werden. Das Verhältnis scheint jetzt ins Gegenteil verkehrt, wenn Brutus, ausgeschlossen von dem heroischen und dem göttlichen Zeitalter, den gegenseitigen Ausschluss von Tugend und Glück beklagt: „Dunque tanto i celesti odii commove | la terrena pietà? “ (V.25-26) [Dermaßen also erregt den Unmut der Götter irdische Frömmigkeit? ]. Der Illusionsverlust erfolgt nicht nur durch die Reflexion, sondern auch durch die persönliche Erfahrung des Mangels und des Unglücks, die den Tugendhaften besonders hart trifft, weil er an der Illusion festhält. Deutlich wird dies in einer berühmten Passage des Zibaldone, die, wie eingangs bereits thematisiert wurde, gerne für die Entwicklungshypothese  242 herangezogen wird. Leopardi beschreibt eine Veränderung in sich, die „mutazione totale in me, e il passaggio dallo stato antico al moderno“ [totale Veränderung in mir und der Übergang vom antiken zum modernen Menschen], die sich durch eine Veränderung der Wahrnehmung äußert: „[C]ominciai a sentire la mia infelicità in un modo assai più tenebroso […], a riflettere profondamente sopra le cose […], a sentire l’infelicità certa del mondo in luogo di conoscerla“ 243 [Ich begann, mein Unglück derart finsterer zu fühlen, intensiv über die Dinge zu reflektieren und das sichere Unglück der Welt zu fühlen, statt es zu kennen]. Der eigene Rationalisierungsprozess führt zu dem Wissen, „conoscere“, über das Unglück. Der eigene Erfahrungsprozess hingegen, das Fühlen, „sentire“, des Unglücks, ist die metaphorische Erfahrung des Nichts: „sentendo che tutto è nulla, solido nulla“. 244 Signifikant ist, dass die Vereinigung des Wissens und des Fühlens diese bedient. Aus der Passage ließe sich eine radikale Hoffnungslosigkeit begründen. Wie problematisch derartige Aussagen allerdings sind, zeigt ein Blick auf den Prosatext Comparazione delle sentenze 90 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="91"?> 245 In der Bologneser Edition von 1824 wird der Text dem Bruto minore vorangestellt. 246 Zum Einfluss von Plutarch auf Leopardi und die Comparazione delle sentenze di Bruto minore e di Teofrasto vicini a morte: Vgl. Rosa Giannattasio Andria: „Giacomo Leopardi lettore di Plutarco“, in: Rosa Aguila / Ignacio Alfageme (Hrsg.): Ecos de Plutarco en Europa. De Fortuna Plutarchi Studia Saelecta, Madrid: S.E.P.-Universidad Complutense 2006, S.-107-124. 247 Zu den Quellen: Vgl. Lorenzo Braccesi: Poesia e memoria: nuove proiezioni dell’antico, Roma: ‚L’erma‘ di Bretschneider 1995, S.-52-53. 248 Poesie e prose II, S.-266. 249 Ebd. 250 Ebd. 268. di Bruto minore e di Teofrasto vicini a morte, 245 der ein Jahr nach dem Bruto minore entsteht. Nach dem Modell der Parallelbiographien (Bíoi paralleloi)-von Plutarch, in denen jeweils ein berühmter Grieche und ein ebenso prominenter Römer - unter anderem Brutus und Dion - einander gegenübergestellt werden, parallelisiert Leopardi Marcus Iunius Brutus (85-42 v. Chr.) und Theophrast von Eresos (ca. 371-287 v. Chr.). In dem Vergleich, für den Leopardi auch die dreigeteilte Struktur der Parallelbiographien übernimmt, 246 orientiert er sich weniger an den Biographien, als an den letzten Worten, welche die historischen Figuren kurz vor ihrem Tod geäußert haben sollen. Leopardi zitiert direkt zwei Quellen zu Brutus’ letzten Worten. Nach Florus 247 soll Brutus gesagt haben, „la virtù non fosse cosa ma parola“ [die Tugend sei keine Sache, sondern ein Wort]. 248 Eine weitere Aussage, zitiert nach Cassius Dio, nennt zusätzlich die Fortuna als Gegenspielerin der Tugend: „O virtù miserabile, eri una parola nuda, e io ti seguiva come tu fossi una cosa: ma tu sottostavi alla fortuna“ 249 [O elende Tugend, du warst ein bloßes Wort, und ich folgte dir, als wärst du ein Ding; aber du hast dich dem Schicksal unterworfen]. Die Fortuna setzt die Tugend der Willkür aus. Gemeint ist dabei nicht nur die intrinsische Motivation tugendhaft zu handeln, sondern Tugend als Triebkraft einer Gesellschaft. Sie ist dennoch ein brüchiges Gebilde, denn es hängt von der Gesellschaft ab, ob sie geschätzt wird und der Tugendhafte seinen Lohn erhält. Entsprechend bricht Leopardi die Kausalität auf und schreibt der Antike eine Gleichsetzung von Tugend und Ruhm zu: „Le quali due voci, gloria e virtù, non veramente oggi, ma fra gli antichi sonavano appresso a poco il medesimo“ 250 [Die zwei Stimmen, Ruhm und Tugend, nicht unbedingt heutzutage, aber in der Antike, klangen nahezu gleich]. Durch die Erkenntnis der Willkür wird der Glaube an die Tugend entleert. Wird sie kollektiv hinterfragt, tritt die ihr anhaftende Nichtigkeit in den Vordergrund und die Illusion wird von eigennützigeren Prinzipien verdrängt. Der Verlust für denjenigen, der nun an einem Seienden im Nicht-Seienden festhalten will, wird zur Erfahrung des 5.1 Bruto minore 91 <?page no="92"?> 251 Leopardi zitiert hier Diogenes Laertios. Ebenfalls Zib. 316-318. 252 Poesie e prose II, S.-267. Auch Zib. 316. 253 Zib. 316. 254 Vgl. Stefano Biancu: „Il corpo e la poesia: Leopardi critico delle modernità“, in: Gaiardoni, Chiara (Hrsg.): La prospettiva antropologica nel pensiero e nella poesia di Giacomo Leopardi, Florenz: Leo S. Olschki, 2010, S.-463. 255 Poesie e prose II, S.-1379. 256 Prete versucht die Lebenskunst im Kampf gegen die Vernunft durch die teoria del piacere zu retten: „Il sapere, per esperienza, della infelicità non fa disseccare il desiderio della felicità. L’approdo nichilista della filosofia non distrugge la passione per la vita, anzi da essa prende l’avvio, su di essa radica la conoscenza.“ Antonio Prete: ll pensiero poetante, S.-101. Mangels und zur Erfahrung des Nichts. Dieses Phänomen spricht Leopardi auch dem Ruhm selbst zu. Entsprechend zitiert er die Worte, die Theophrast 251 vor seinem Tod über den Ruhm gesagt haben soll: [D]omandato da’ suoi discepoli se laciasse loro nessun ricordo o comandamento, rispope: Niuno; salvo che l’uomo disprezza e gitta molti piaceri a causa della gloria. Ma non così tosto incomincia a vivere, che la morte gli sopravviene. Perciò l’amor della gloria è così svantaggioso come che che sia. Vivete felici, e lasciate gli studi, che vogliono gran fatica; o coltivategli a dovere, che portano gran fama. Se non che la vanità della vita è maggiore dell’utilità. Per me non è più tempo a deliberare: voi altri considerate quello che sia più spediente. E così dicendo spirò. 252 [Auf die Frage seiner Jünger, ob er ihnen nicht irgendeine Erinnerung oder ein Gebot hinterlassen würde, antwortete er: „Niemand; nur der Mensch verachtet und wirft um des Ruhmes willen viele Freuden weg. Aber kaum beginnt er zu leben, überkommt ihn schon der Tod. Deshalb ist die Liebe zum Ruhm so unvorteilhaft wie alles andere. Lebt glücklich und gebt eure Studien auf, denn sie erfordern viele Mühen; oder pflegt sie tüchtig, denn sie bringen großen Ruhm. Denn die Eitelkeit des Lebens ist größer als der Nutzen. Für mich bleibt keine Zeit mehr, zu entscheiden: Überlegt ihr, was euch dienlicher ist.“ Und mit diesen Worten ist er erloschen.] Theophrast bereut sein lebenslanges Streben nach gloria, die sich ebenso wie die Tugend als leer entpuppt hat. Leopardi erklärt das für den Denker unge‐ wöhnliche Zitat durch eine unglückliche Lebensführung als Philosoph, „sentisse peraltro l’infelicità inevitabile della natura umana, l’inutilità de’ travagli“ 253 , durch die Theophrast, wie er selbst, den Unterschied zwischen „sentire“ und „conoscere l’infelicità“ erfahren hat. 254 Damiani bezeichnet diese Erkenntnis als „nichilismo di matrice greca“ 255 , dabei geht jedoch der Gegenimpuls ver‐ loren, den Leopardis Überlegung enthält. 256 Leopardi insistiert darauf, dass Theophrasts Aussage keinem Überdruss am Ende des Lebens zuzuschreiben sei. 92 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="93"?> 257 Zib. 317-318. 258 Vgl. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse, Paderborn: Fink 112001 [=UTB 580], S.-247-249. 259 Vgl. Michele Dell’Aquila: La virtù negata, Bari: Adriatica 1987, S.-221-246. 260 Siehe Kapitel 6 zum Individuum in Leopardis Dramenkonzeption und Kapitel 7 zum Dichter. 261 Luigi Blasucci: „Saggio di un commento a un canto leopardiano: Bruto minore“, in: Studi in onore di Pier Vincenzo Mengaldo per i suoi settant’anni, a cura degli allievi padovani, Bd.-2, Florenz: Sismel-Edizioni del Galluzzo 2007, S.-858. Stattdessen unterstellt er ihm eine Form des Bewusstseins, die es ermöglicht die Nichtigkeit der Illusion zu erkennen, zu fühlen und trotzdem seine Lebensfüh‐ rung mit allen Konsequenzen danach auszurichten: „[C]onoscendo le illusioni, non però le fuggiva o le proscriveva come i nostri pazzi filosofi, ma le cercava e le amava“ 257 [Obwohl er wusste, dass es Illusionen sind, floh er oder ächtete er sie nicht, wie unsere verrückten Philosophen es tun, sondern er suchte und liebte sie]. Die paradoxe Konzeption dieses Entwurfs zeigt, dass es sich hier um kein historisches Portrait des Philosophen handelt. Leopardi inszeniert Theophrast als transpsychologische Figur; also als Figur, die zwar in ihrer Situation verhaftet ist, sie aber so weit durchschaut, dass sie zur Analyse befähigt ist und ihr Verhalten deshalb bewusst steuern kann. 258 Die Struktur der Comparazione lässt darauf schließen, dass dies auch für Brutus gilt. Bewusst einer entleerten Illusion nachzujagen, sie sogar zu lieben und dafür ein unglückliches Leben in Kauf zu nehmen, ist psychologisch zutiefst widersprüchlich. Trotzdem verklärt Leopardi Brutus und Theophrast zu Vorbildern für das moderne Bewusstsein. Brutus wird zum freiheitlich gesinnten Helden stilisiert, gerecht und fromm, der sein Schicksal selbst bestimmt - zunächst nicht durch den Suizid, sondern im Kampf um seine Ideale. Dafür muss er leiden: „Ne’ giusti e pii la sacra fiamma stringi? “ (V.30) [Schleuderst den Blitz du auf die Gerechten und Frommen? ]. Dell’Aquila geht davon aus, dass sich Leopardi im Bruto minore und ebenfalls im Ultimo Canto di Saffo der neoklassizistischen Poesie bediene, in der die alltägliche und individuelle Realität auf eine heldenhafte antike Person projiziert wird, wodurch sie idealisiert, aber auch generalisiert wird. 259 Die Idealisierung ist offensichtlich, die Generalisierung jedoch nicht. Im Gegensatz dazu stehen Brutus und Saffo für eine Individualität, die sie von anderen Menschen trennt. 260 Häufig wird in der Forschung die Frage aufgeworfen, warum Leopardi ausge‐ rechnet Brutus für die Figurenrede wählt. Blassucci bezeichnet die Dichtung des Bruto minore als „discreto procedimento di ‚filologia poetica‘“ 261 und spricht damit einen wichtigen Punkt an. Durch den ambivalenten Umgang mit Brutus in der Literatur und die häufige Thematisierung seiner Tugend, verbildlicht Leopardi durch ihn seine Illusionstheorie. 262 Brutus ist auf der Epochenschwelle 5.1 Bruto minore 93 <?page no="94"?> 262 Außer durch die genannten Motive wird die Wahl durch die Identifikation von Leopardi mit dem antiken Helden begründet. In dem Brief vom 26. April 1819 an Giordani reflektiert Leopardi den gegenseitigen Ausschluss von Tugend und Schönheit und äußert eine tiefe Verbundenheit: „[I]o non trovo cosa desiderabile in questa vita, se non i diletti del cuore, e la contemplazione della bellezza, la quale m’è negata affatto in questa miseria. […] quante volte io sono quasi strascinato di malissimo grado a bestemmiare con Bruto moribondo“. Der Brief wird meist als Beleg für die autobiogra‐ fische Bedeutung des Gedichts betrachtet. Dell’Aquila erklärt Leopardis Interesse an Brutus vor allem mit einem persönlichen Interesse an besiegten Helden und spricht der Lyrik damit einen geradezu pathologischen Charakter zu: „[D]eclamare versi sulla virtù sfortunata ed elevare al cielo Ettore e Catone, altro l’attrito doloroso con una frustrazione individuale, con l’isolamento sempre maggiore in quel mondo provinciale da cui si sentiva sempre più incompreso, il silenzio e l’indifferenza contrapposti alle sollecitazioni e tentativi d’intervento.“ Michele Dell’Aquila: La virtù negata, S. 35. Auf den folgenden Seiten führt er zahlreiche weitere Fragmente auf, die das Interesse an dem Thema biografisch untermauern. Serban geht in einem anderen Kontext gar so weit zu sagen, dass Leopardi sich grundsätzlich selbst in seinen Lektüren sucht, wodurch auch die Wahl des Brutus-Stoffes erklärt werden kann. Nicholas Serban: Leopardi e la France, essai de littérature comparée, Paris: Edouard Champion 1913, S. 125-126. Problematisch sind diese autobiographischen Lektüren vor allem durch die Suizid-Thematik des Gedichts, die Leopardis Gedanken zur Illusion und zur Verzweiflung überschreibt. Leopardi wird seine Haltung zum Suizid revidieren. Viele Gedanken, die in diesem Gedicht thematisiert werden, bleiben aber erhalten. 263 Vgl. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse, Paderborn: Fink 11 2001 [=UTB 580], S.-213-215. verortet, die Leopardi inszeniert. Im nächsten Kapitel werden die literarischen Konzepte dargelegt, welche die Inszenierung der Figur Brutus beeinflussen und von denen der Bruto minore durchzogen ist. 5.1.6 Ethos - logos - pathos Die Strophen des Bruto minore lassen sich nach den drei Strategien der persu‐ asio - der Kunst der Überzeugung - analysieren, die Aristoteles in seiner Rhetorik darlegt und welche die Grundlage der Dramentheorie schufen. 263 In der logos-Strategie soll das Gegenüber durch einen narrativ-deskriptiven oder einen argumentativen Diskurs von einem bestimmten Sachverhalt überzeugt werden. Sie dominiert im Bruto minore in der dritten, vierten und zu Beginn der fünften Strophe, wenn Brutus’ Anklage von einem philosophischen Diskurs über den Suizid (Strophe 3) und die Entfremdung der Menschen von der Natur (Strophe 4 und 5) unterbrochen wird. Der Übergang zurück in die Anklage erfolgt fließend in der fünften Strophe und außer einer Veränderung des Tons gibt es keinen Marker, der zu verstehen gäbe, dass Brutus’ Figurenrede hier endet. Der philosophische Diskurs muss also Brutus selbst zugesprochen werden. Verhaftet 94 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="95"?> 264 Karl Vossler: Leopardi, Heidelberg: Winter 2 1930, S.-308-308. in seiner Situation trifft er eine reflektierte Entscheidung über sein Leben. Durch die Klarsicht, die Brutus auf sich und das gesamte Geschehen hat, wird der Akt der Verzweiflung konterkariert, weshalb bereits Vossler den aufklärerischen Charakter von Brutus’ Rede betonte. Dabei kommt er jedoch zu dem Schluss, dass Brutus dem Leben schließlich gleichgültig gegenübersteht, da er es zuvor umsonst seinem Glauben an die Tugend geopfert habe. Demnach wäre sein Suizid als Akt der Resignation zu deuten. Sein Bruto ist dem Geist nach ein aufgeklärter Philosoph des Selbstmords, dem Buch‐ staben nach ein trotziger römischer Freiheitskämpfer, der letzte Held einer großen Zeit und zugleich deren bitterer Kritiker, ihr Opfer und ihr Verächter. […] Leopardis Brutus ist kein zerrissenes, sondern ein säuberlich sich auseinandersetzendes Wesen. […I]n der Verzweiflung überkommt ihn die Erkenntnis, und siehe da, seine Raserei kippt um in ein System der völligen Gleichgültigkeit aller Dinge. 264 Von einer Zersetzung kann nicht gesprochen werden, wenn die transpsycholo‐ gische Konzeption der Figur einbezogen wird, und Resignation oder Gleichgül‐ tigkeit, die Vossler am Ende des Gedichts sieht, lassen sich nicht mit Leopardis Heldenkonzeption verbinden. Brutus selbst erörtert diese Möglichkeit in seiner Rede, in der er die Menschen entsprechend in zwei Gruppen kategorisiert: Preme il destino invitto e la ferrata Necessità gl’infermi Schiavi di morte: e se a cessar non vale Gli oltraggi lor, de’ necessari danni Si consola il plebeo. Men duro è il male Che riparo non ha? dolor non sente Chi di speranza è nudo? Guerra mortale, eterna, o fato indegno, Teco il prode guerreggia, Di cedere inesperto; e la tiranna Tua destra, allor che vincitrice il grava, Indomito scrollando si pompeggia, Quando nell’alto lato L’amaro ferro intride, E maligno alle nere ombre sorride. (Bruto minore, V. 31-45) [Ins Joch zwingt unbesiegbar das Schicksal und eiserne Notwendigkeit die schwachen Sklaven des Todes. Und kann er den Schimpf nicht meiden, tröstet der Mann aus dem 5.1 Bruto minore 95 <?page no="96"?> 265 Das Lachen hat bei Leopardi unterschiedliche Bedeutungen. In den Operette Morali dient es beispielsweise der kritischen Distanz zu sich selbst und seinem Leiden, wie etwa im Dialogo di Timandro e di Eleandro: „Ridendo dei nostri mali, trovo qualche conforto; e procuro 10 di recarne altrui nello stesso modo. Se questo non mi vien fatto, tengo pure per fermo che il ridere dei nostri mali sia l’unico profitto che se ne possa cavare, e l’unico rimedio che vi si trovi. Dicono i poeti che la disperazione ha sempre nella bocca un sorriso. Non dovete pensare che io non compatisca all’infelicità umana. Ma non potendovisi riparare con nessuna forza, nessuna arte, nessuna industria, nessun patto; stimo assai più degno dell’uomo, e di una disperazione magnanima, il ridere dei mali comuni; che il mettermene a sospirare, lagrimare e stridere insieme cogli altri, o incitandoli a fare altrettanto“ [Lache ich aber über unsere Leiden, so finde ich darin einigen Trost und hoffe auch andere in gleicher Weise zu trösten. Gelingt mir das nicht, so bin ich dennoch überzeugt, dass das Lachen über unser Leiden der einzige Gewinn ist, den wir aus ihnen ziehen können, und das einzige Heilmittel, das wir gegen sie finden. Sagen die Dichter doch, dass die Verzweiflung immer ein Lächeln auf den Lippen habe. Bitte glauben Sie nicht, ich hätte kein Mitleid mit dem menschlichen Unglück. Aber da ich ihm mit keiner Macht, keiner Kunst, keinem Fleiß oder Bündnis abhelfen kann, halte ich es für der Menschen würdiger und einer hochherzigen Verzweiflung angemessener, über die gemeinsamen Leiden zu lachen, als mit den anderen darüber zu seufzen, zu weinen, zu wehklagen oder sie dazu aufzufordern] Poesie e prose II, S.-177-178. Vgl. dazu: Milan Herold: „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst“, in: ders. / Barbara Kuhn (Hrsg.): Lebenskunst nach Leopardi. Anti-pessimistische Strategien im Werk Giacomo Leopardis, Tübingen: Narr 2020, S.-119-120. Volke sich in dem Gedanken, notwendig sei sein Leid. Doch ist leichter ein Leiden, dem man nicht abhelfen kann? Fühlt der keine Schmerzen, dem man die Hoffnung raubte? Tödlichen, ewigen Kampf mit dir, schändliches Schicksal, kämpft der Tapfere doch, dem Rückzug unbekannt ist. Und selbst wenn siegreich deine tyrannische Faust ihn zu Boden drückt, er rüttelt an ihr und frohlockt triumphierend noch, wenn er mit tödlichem Stoße dem Leben ein Ende macht, die schwarzen Schatten begrüßt und grimmig lacht.] Der Pöbel, „il plebeo“, gibt die Hoffnung auf und akzeptiert sein Schicksal. Er betrachtet das Leiden als Notwendigkeit und findet darin möglicherweise sogar Erlösung vom Schmerz. Der Held hingegen, „il prode“, kämpft gegen das Schicksal an, wenn es denn sein muss auch durch Suizid. Zu der Annahme, dass es sich in den Strophen um eine logos-Strategie handelt, passt die stilistische Konzeption, denn ohne Apostrophen, in einer verhältnismäßig reduzierteren Bildsprache, wird der Suizid nicht nur legitimiert, sondern argumentativ heroi‐ siert, da er die Ermächtigung über das eigene Schicksal ermöglicht. Der Sieg über die Fortuna geht mit Lust einher, weshalb Brutus grimmig lächelt, „maligno alle nere ombre sorride“ (V.45). 265 Brutus wird so zum Boten von Leopardis Theorie über die Lust an der Verzweiflung, il piacere della disperazione: La disperazione medesima contiene la speranza, non solo perchè resta sempre nel fondo dell’anima una speranza, […] ma perchè questa medesima nasce ed è mantenuta 96 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="97"?> 266 Jan Assmann: „Frühe Formen politischer Mythomotorik. Fundierende, kontrapräsen‐ tische und revolutionäre Mythen“, in: Dietrich Harth / ders. (Hrsg.): Revolution und Mythos, Frankfurt: Fischer 1992, S.-39. 267 Vgl. Zib. 2402. dalla speranza o di soffrir meno col non isperare nè desiderare più nulla; […] o di esser più libero e sciolto e padrone di se, e disposto ad agire a suo talento, non avendo più nulla da perdere [… . S]e la disperazione è estrema ed intera cioè su tutta la vita, di vendicarsi della fortuna e di se stesso, di goder della stessa disperazione, della stessa agitazione, vita interiore, sentimenti gagliardi ch’ella suscita ec. Il piacere della disperazione è ben conosciuto, e quando si rinunzi alla speranza e al desiderio di tutti gli altri, non si lascia mai di sperare e desiderar questo. (Zib. 1545-1546) [Die Verzweiflung selbst enthält Hoffnung. Nicht nur, weil in den Tiefen der Seele immer eine Hoffnung bleibt, sondern weil die Verzweiflung selbst aus der Hoffnung geboren und aufrechterhalten wird, entweder weniger zu leiden, indem man weder hofft noch wünscht; oder hofft, freier und ungebundener zu sein und Herr seiner selbst und bereit, so zu handeln, wie man will, da man nichts mehr zu verlieren hat; oder wenn die Verzweiflung letztendlich extrem und vollständig ist, d. h. sich über das ganze Leben erstreckt, bleibt die Hoffnung, sich am Schicksal und an sich selbst zu rächen, die Verzweiflung, die Aufregung, das Innenleben und die starken Gefühle, die sie hervorruft, zu genießen, usw. Die Lust an der Verzweiflung ist wohlbekannt, und selbst wenn man auf die Hoffnung und die Wünsche nach allem anderen verzichtet, lässt man nie davon ab, auf eben diese zu hoffen und sich danach zu sehnen.] Die Intensität der Verzweiflung steht in einem direkten Verhältnis zur Hoffnung, weil Verzweiflung immer eine Form der Hoffnung enthält, wenn auch im intensivsten Fall nur auf Rache. Durch die Gefühle und ein reiches Innenleben, also einen ausgeprägten amour propre, wird die Verzweiflung dann mit Lust empfunden. Um den Suizid als Ermächtigung zu legitimieren, muss jedoch das gesellschaftliche und religiöse Verbot entkräftet werden. Die Personifikation durch Zeus verdeutlicht im Bruto minore, wie stark das Suizidverbot in der Gesellschaft verankert ist; „a voi le morte ripe, | se il fato ignavo pende, | soli, o miseri, a voi Giove contende“ (V. 73-75) [Euch allein versperrt, wenn die Waage des Schicksals träge schwankt, zu den Ufern der Toten Zeus die Wege]. Denn „Mythen beleuchten den Ordnungsaspekt des Gegebenen, indem sie ein Wissen um seine Kontingenz, d. h. des auch anders Möglichen, abdunkeln.“ 266 Ihrer Autorität beraubt, zerfällt ihr Herrschaftsanspruch. Um dies zu zeigen, wechselt Leopardi innerhalb seiner gleitenden Semantik vom Mythos zur Natur und stellt in der vierten Strophe die Behauptung in Frage, dass der Suizid ein Akt wider die Natur sei. 267 5.1 Bruto minore 97 <?page no="98"?> 268 Zib. 1978. Spiace agli Dei chi violento irrompe Nel Tartaro. Non fora Tanto valor ne’ molli eterni petti. Forse i travagli nostri, e forse il cielo I casi acerbi e gl’infelici affetti Giocondo agli ozi suoi spettacol pose? Non fra sciagure e colpe, Ma libera ne’ boschi e pura etade Natura a noi prescrisse, Reina un tempo e diva. Or poi ch’a terra Sparse i regni beati empio costume, E il viver macro ad altre leggi addisse; Quando gl’infausti giorni Virile alma ricusa, Riede natura, e il non suo dardo accusa? (Bruto minore, V.46-60) [Den Göttern missfällt, wer gewaltsam sich Zutritt verschafft zum Tartarus. Es rührt solcher Mut nicht die weichen, ewigen Herzen. Vielleicht erschuf unsere Mühsal der Himmel, die bitteren Geschicke vielleicht, die unseligen Träume und Schmerzen, zu seinem Vergnügen sich als heiteres Schauspiel. Nicht elend und schuldbeladen, uns hatte vorbestimmt in grünenden Wäldern ein freies und lauteres Leben Natur, einst Göttin und Königin. Jetzt, da auf Erden ruchloser Brauch die glückliche Herrschaft verscheucht hat, sind unserem Kummer andere Gesetze gegeben. Will jetzt eine edle Seele dem heillosen Leben entsagen, wird da Natur, was sie nicht verschuldet, beklagen? ] Der Mythos des Goldenen Zeitalters und die Einheit mit der Natur sind längst verloren: „Il suicidio è contro natura. Ma viviamo noi secondo natura? Non l’abbiamo al tutto abbandonata per seguir la ragione? Non siamo animali ragionevoli, cioè diversissimi dai naturali? “ 268 [Der Suizid ist gegen die Natur. Aber leben wir naturgemäß? Haben wir sie nicht vollständig verlassen, um den Gesetzen der Vernunft zu folgen? Sind wir nicht vernünftige Lebewesen und dadurch komplett anders als die Natürlichen? ] Das Suizidverbot erweist sich in einer entgötterten Welt für den Unglücklichen als arbiträr und grausam. Dadurch beleuchtet Leopardi die Relativität von gesellschaftlichen Normen, die blind aufrecht gehalten werden, ohne dass ihr Gehalt überprüft wird. Das Hinterfragen der Norm legitimiert die Grenzüberschreitung von Brutus und ermöglicht Leopardi, sie in das Gegenteil zu verkehren: einen heroischen Akt. 98 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="99"?> 269 Vgl. Sebastiano Timpanaro: Classicismo e illuminismo nell’ottocento italiano. Testo critico con aggiunta di saggi e annotazioni autografe, a cura di Corrado Pestelli, Firenze: Le Lettere 2011, S.-228-233. 270 Ein digitalisiertes Exemplar der 1869 veröffentlichten Version befindet sich in der Bayerischen Staatsbibliothek. http: / / mdz-nbn-resolving.de/ urn: nbn: de: bvb: 12-bsb107 56502-4 (zuletzt angesehen: 18.01.2023). Die Entstehung der Übersetzung und die linguistischen Besonderheiten können nachvollzogen werden in: Luigina Stefani: „La traduzione del secondo libro dell’Eneide‘“ in: Studi e problemi di critica testuale X (1975), S.-123-154. 271 z.B. Zib. 319-320. 272 Luigina Stefani: „La traduzione del secondo libro dell’’Eneide‘“, S.-132. Das pathos soll die Emotionen aufwühlen, wodurch sich der Hörer mit dem Sprecher identifizieren kann. Es zieht sich durch das gesamte Gedicht, dominiert jedoch in den Apostrophen. Leopardi baut die pathos-Strategie allerdings ebenso auf seine philologischen Studien auf. Aus diesen entstanden zunächst auch seine Theorien zur Natur und zu ‚primitiven‘ Zivilisationen, die scheinbar glücklich in Einklang mit der Natur leben. 269 In seinen Übersetzungen - dazu zählen unter anderem Gedichte des bukolischen Dichters Moschos (1815), die ersten beiden Gesänge der Odyssee (publiziert 1816) und der zweite Gesang sowie der Beginn des dritten Gesangs der Aeneis (1816) - und den Essays, die Leopardi in dieser Zeit verfasst, entwickelt er nicht nur einen wertenden Literaturbegriff, sondern auch eine Vorstellung von der idealen Natur und der idealen Zivilisation. Diese finden in Variationen bis zum letzten Gedicht Eingang in seine Literatur. Das Heldenthema wird im Bruto minore auf stilistischer Ebene durch Pathos getragen. Der Heroismus der Sprache unterstreicht den einsamen Kampf des kriegerischen Helden gegen die Barbaren. Die wichtigste Quelle hierfür ist die Aeneis, deren zweites Buch Leopardi in jungen Jahren übersetzt. 270 Die Übersetzungstätigkeit hat einen beträchtlichen Einfluss auf die Entstehung des Bruto minore sowie auch auf spätere Canti. Leopardis Übersetzungsprozess wird von einer Krise aus dem Spannungsfeld begleitet, dem Originaltext gerecht zu werden und trotzdem ein ästhetisch ansprechendes Werk zu produzieren. 271 Raccogliendo più o meno i suggerimenti di Virgilio, ricorre frequentemente all’uso di costrutti particolari, come quelli assoluti, gli accusativi di relazione, gli infiniti narrativi etc. In pari tempo evita la linearità ritmica, nella ricerca di forme articolate, attraverso l’uso di artifici, come le pause e le spezzature interne del verso e gli enjambements. [… Durante la revisione] interviene sulla struttura di molti versi o di interi periodi alla ricerca di armonia e musicalità […]. 272 5.1 Bruto minore 99 <?page no="100"?> 273 Poesie e prose I, S.-571. „sic animis iuvenum furor additus. inde, lupi ceu / raptores atra in nebula, quos improba ventris / exegit caecos rabies catulique relicti / faucibus exspectant siccis, per tela, per hostis / vadimus haud dubiam in mortem mediaeque tenemus / urbis iter; nox atra cava circumvolat umbra.“ Publius Vergilius Maro: Aeneis. Lateinisch / Deutsch, hrsg. u. übers. v. Edith u. Gerhard Binder, Ditzingen: Reclam 2012, S.-87, V.355-360. 274 Siehe Zib. 1140: In der philologischen Analyse zu den frequentativen und den du‐ rativen (kontinuativen) Verben im Lateinischen verdeutlicht Leopardi den heftigen Widerstand, den die Trojaner gegen die Griechen leisten. Ihr Widerstand ist zwar schwach und nutzlos im Angesicht der Übermacht der Griechen, aber er ist so stark wie er eben nur sein kann. 275 Zib. 1140-1141. 276 Poesie e prose I, S. 572. Von dem Vers liegen unterschiedlichen Übersetzungen vor: „Ahi che, nemici i Dei, | Nulla lice sperare! “ (V.544-545) [Ach, Feinde sind die Götter, nichts darf man hoffen! ], Giacomo Leopardi: Studi filologici, a cura di Pietro Pellegrini e Pietro Giordani, Firenze: Le Monnier, 1845, S.-186. Heu nihil invitis fas quemquam fidere divis! (V.402) In mehreren Revisionen feilt er an Harmonie, Musikalität und Stilistik. Der er‐ bitterte Kampf des Aeneas um den Erhalt von Troja dient als Inspirationsquelle für das pathos des Bruto minore: Così furor crebbe in lor alme: e quindi | Come rapaci lupi in atra nebbia, | Cui di lor tane rabidi sbalzare | Fe’ cruda fame, ed aspettando a secche | Fauci si stan gli abbandonati figli, | Andiam fra l’armi e gl’inimici a morte | Indubitata, e a la cittade in mezzo | Teniam nostro sentiero. Intorno vola | Con la cava ombra sua la nera notte. (Eneide, II, V.488-496) 273 [So wuchs die Wut in ihren Seelen und so gingen wir - wie räuberische Wölfe im düsteren Nebel, deren roher Hunger sie rasch aus ihren Höhlen treibt und die verlassenen Kinder mit trockenen Mäulern warten - zwischen den Waffen und unseren Feinden in einen unzweifelhaften Tod, und wir halten unseren Weg zur Mitte der Stadt. Um uns herum fliegt mit ihrem dunklen Schatten die schwarze Nacht.] In philologischen Analysen arbeitet Leopardi heraus, wie Vergil die Intensität des anhaltenden Widerstands Trojas darstellt. 274 Die Teucrer werfen mit bloßen Händen Pfeile auf die Angreifer und ihre verzweifelte Gegenwehr ist zwar schwach, aber nur in Angesicht der Übermacht des Angriffes. 275 Trotzdem ist der Kampf hoffnungslos, weil die Götter die Teucrer verlassen haben: „Ahi, ripugnati i numi | indarno altri s’affida! “ 276 (V.545-546) [Ach, verabscheut sind die Götter, vergebens vertrauen andere auf sie! ]. Aeneas muss schließlich auf Drängen seiner Ehefrau und seiner Mutter Venus hin die Stadt verlassen. Auffällig an Leopardis Gedicht ist, dass er den Kampf selbst, den Widerstand, der ihn so sehr interessiert, nicht darstellt. Für die Parallelisierung wählt er den 100 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="101"?> 277 Poesie e prose I, S. 588. [Als es den Göttern so erschien, als sei das Königreich Asien und Priamus’ unverdientes Blut vergossen, das stolze Ilium gefallen und die aus dem Sand rauchende Stadt des Neptun, treiben uns die Vorzeichen, verschiedene Orte und einsame Länder zu suchen]. „Postquam res Asiae Priamique evertere gentem | immeritam visum superis, ceciditque superbum | Ilium et omnis humo fumat Neptunia Troia, | diversa exsilia et desertas quaerere terras auguriis agimur divum […].“ (V.1-5) 278 Vgl. Luigi Blasucci: „Una fonte linguistica per i ‚Canti‘: la traduzione del secondo libro dell’‚Eneide‘“, in: Leopardi e i segnali dell’infinito, a cura di Luigi Blasucci, Bologna: Il Mulino 1985, S.-9-30. 279 Jeweils aus Leopardis Aeneis-Übersetzung in den Bruto minore: „cava ombra“ (V.495) zu „cave nebbie“ (V.16), zu bedenken auch „nube cava“ (Aen., X, V.636); „molle di sangue“ (V.789) zu „ molle di fraterno sangue“ (V.10); „le somme vette“ (V.936) zu „dalle somme vette“ (V.81). 280 Homer zählt bei Leopardi zu den naiven Dichtern. Zu Leopardis Terminologie im Vergleich zu Schiller siehe: Costadura, Edoardo: „Die verschleierte / entschleierte dritten Gesang, also Aeneas’ Aufbruch zu seiner Heldenreise; konträr zu Brutus’ Ende: Poi che parve a gli Dei sfar d’Asia il regno E’l di Priamo immeritevol sangue, Caduto Ilio superbo e da l’arena La Nettunia città tutta fumante, A cercar vari esigli ed erme terre Ne traggon gli auguri […]. (Eneide, III, V.1-6) 277 Aeneas und Brutus stehen vor der Szenerie eines gestürzten Reichs. Nicht Gerechtigkeit hat den Sturz herbeigeführt, sondern in der Aeneis die Götter, die sich gegen Troja gestellt haben; im Fall von Brutus der Fortgang der Menschheitsgeschichte und der damit verbundene Illusionsverlust. Der leiden‐ schaftliche Kampf und die Passion für die Republik werden nicht besungen, stattdessen sind sie Leerstellen im Text, die durch die antikisierende Sprache, die pathetische Verneinung ihres Werts und die historische Situierung aufgerufen werden. Blasucci zeigt in seinem Aufsatz zu der Übersetzung der Aeneis zahl‐ reiche Beispiele dafür, dass sie als sprachliche Quelle für die Canti diente. 278 Einige Latinismen im Bruto minore lassen sich auf Vergil zurückführen, ebenso Kombinationen, die Leopardi in der gleichen syntaktischen Reihenfolge aus seiner Übersetzung nimmt. 279 Insbesondere die undefinierten Bilder haben einen signifikanten Einfluss auf seine eigene Dichtung; hier „le cave nebbie“ (V.16) im unbestimmten Plural mit der Bedeutung ‚leere Nebel‘. Erst später kommentiert Leopardi die Spannung zwischen den heroischen Idealen aus Vergils und denen aus Homers Zeit. 280 Er betrachtet die Aeneis 5.1 Bruto minore 101 <?page no="102"?> Natur. Leopardi - Schiller - Goethe“, in: ders. / Diana di Maria, et. al.: Leopardi und die europäische Romantik, Heidelberg: Winter 2015, S.-93-107. 281 Vgl. Zib. 2759-2764. Janowski bezeichnet Vergil als sentimentalen Dichter. Vgl. Giacomo Leopardi: Rede eines Italieners über die romantische Poesie. Discorso di un italiano intorno alla poesia romantica. Übers. und eingeleitet von Franca Janowski, Tübingen: Narr 1991, S.-20. 282 Leopardi geht davon aus, dass der Begriff ‚Tugend‘ eine Bedeutungserweiterung erfahren hat: „[C]redo che in tutte le lingue la parola significativa di virtù, non abbia mai originariamente significato altro che forza, vigore (o d’anima o di corpo, o d’ambedue, […]). Tanto è vero che l’uomo primitive, e l’antichità, non riconosce e non riconobbe altra virtù […]“ (Zib. 2216-2217) [Ich denke, dass in allen Sprachen das Wort, das Tugend bedeutet, ursprünglich keine andere Bedeutung hatte als Kraft, Stärke (entweder des Geistes oder des Körpers oder beider). So sehr, dass der primitive Mensch und das Altertum keine andere Tugend kennt und kannten]. 283 Zib. 3608. 284 Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen: Francke 11 1993, S.-181-183. 285 Ebenso Momente, in denen er von seiner Moral abrückt, wie der gnadenlose Mord an Mago in Buch 10,11. 521-36. insgesamt als Anachronismus, da die Figur Aeneas und seine Form der Tugend nicht in die dargestellte Epoche passen. 281 Aeneas ist ein humanistischer Typus des Helden, der sich durch seine moralische Tugend 282 auszeichnet und der, wenn möglich, den Kampf meidet. Leopardi sieht in ihm einen zu perfekten Cha‐ rakter, der dadurch kalt und unsympathisch wirkt: „Troppa virtù morale, poca forza di passione, troppa ragionevolezza, troppa rettitudine, troppo equilibrio e tranquillità d’animo, troppa placidezza, troppa benignità, troppa bontà“ 283 [Zu viel moralische Tugend, zu wenig Kraft der Leidenschaft, zu viel Vernünftigkeit, zu viel Rechtschaffenheit, zu viel Ausgeglichenheit und Ruhe des Geistes, zu viel Gelassenheit, zu viel Wohlwollen, zu viel Güte]. Aeneas’ Verhalten aus dem zweiten Gesang steht im Widerspruch zu der Konzeption eines fehlerfreien Helden. 284 Kopflos und wütend stürzt er sich in den hoffnungslosen Kampf. Leo‐ pardi tut diese Widersprüche aber als Fremdkörper im Werk ab, die er als Kopien von Homers Werk deutet. 285 Homers Form des Heldentums ist für Leopardi die überlegene Form, da sie Ausdruck eines ungebrochenen Naturzustandes sei, während Vergils Held bereits durch die zivilisatorische Moral korrumpiert sei. Unschuldig ist für Leopardi, wer keine Reue kennt. Vergil und Brutus sind Zeitgenossen. Es handelt es sich also um eben jene Moral der Zeit, in der Brutus historisch verortet ist. Während Brutus das Ende der Republik verkörpert, soll Aeneas den Anfang darstellen. Er steht am Beginn des Gründungsmythos von Rom - worauf auch der Verweis auf „Lavinia prole“ (V.84) hindeutet. Die Nachfahren von Aeneas und seiner Frau Lavinia sind die mythischen Könige von Alba Longa, von denen Romulus und Remus abstammen. 286 Ein 102 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="103"?> 286 Leopardi kommentiert nicht, dass die Georgica sowie die Aeneis Auftragsarbeiten des Kaisers Augustus waren, der für all jenes steht, was Leopardi in seiner Geschichte des Verfalls kritisiert. Er identifiziert jedoch den Stellenwert der Aeneis als „poema nazionale“ (Zib. 3126). Zu Leopardis Vergil-Rezeption vgl.: Godo Lieberg: „Die Bedeu‐ tung Vergils für die italienische Literatur, aufgezeigt an Dante, Leopardi, Carducci und Pascoli“, in: Aevum 5 (1973), S.-422-427. 287 Vgl. Aristoteles: Rhetorik, Stuttgart: Reclam 1999, S.-29. 288 Ebd. S.-42. 289 Ebd. S.-43. Gründungsmythos, der in Leopardis Gedicht ebenfalls an Bedeutung verloren hat und nur noch aufgerufen wird, um den Verfall der Gesellschaft auf die Spitze zu treiben. Das Überzeugungsmittel ethos dient dazu, sich oder andere moralisch oder charakterlich überzeugend und vertrauenswürdig wirken zu lassen. Die Argu‐ mente des Sprechers oder der Figur erhalten dadurch Gewicht. Selbstaussagen bezüglich der eigenen Integrität können in der Sprechakttheorie als expressive Sprechakte bezeichnet werden und können sowohl echt als auch fingiert sein. Aristoteles führt ethos zunächst in Verbindung mit der Lobrede an. Gelobt wird zumeist die Tugend einer Person, da aus dieser auf die charakterlichen Anlagen von Personen geschlossen werden kann. Tugend ist für Aristoteles jedoch ein Topos 287 und hat dadurch zahlreiche Bestandteile, wie etwa „Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigkeit, Edelmut, innere Größe, Freigebigkeit, Sanftmut, Einsicht und Weisheit.“ 288 Alle Teile verbindet aber der Rückschluss, dass „das, was Tugend hervorbringt, edel sein muß (es ist ja auf Tugend ausgerichtet)“ 289 . Mit Brutus wählt Leopardi einen literarischen Mythos: In Dantes Commedia sitzt Brutus gemeinsam mit Judas und Cassius im Zentrum der Hölle, Shakespeare inszeniert in Julius Caesar den innerlichen Kampf des tragischen Helden. In Al‐ fieris Bruto secondo ist Brutus der Sohn von Caesar, der den Tyrannen aus reiner Liebe zur Republik tötet und dafür freiwillig den Tod in Kauf nimmt. Leopardis Brutus ist ein Sinnbild der Tugend, trotz oder gerade aufgrund der Bitterkeit seiner Situation. Seine Größe wird in der Exposition durch den Kontrast zu seiner Epoche dargestellt: der Sturz Italiens, die Barbarei der Zeitgenossen, die ruhmreichen, Mauern die eingerissen wurden. In den Trümmern liegt Brutus, der bereit ist zu sterben und seine Klage in den Wind ruft. Eben jener Wind wird in der letzten Strophe aufgegriffen, in der Brutus auf den Nachruhm verzichtet. Non io d’Olimpo o di Cocito i sordi Regi, o la terra indegna, E non la notte moribondo appello; Non te, dell’atra morte ultimo raggio, 5.1 Bruto minore 103 <?page no="104"?> 290 Zu Foscolos Grabszenen, siehe: Georges Güntert: „Poetiken der Grabesdichtung. Fos‐ colo, Leopardi, Montale“, in: Barbara Kuhn / Michael Schwarze (Hrsg.): Leopardis Bilder. Immagini e immaginazione oder Reflexionen von Bild und Bildlichkeit, Tübingen: Narr 2019, S.-129-130. 291 In der Erinnerungsforschung werden drei Formen des Gedächtnisses unterschieden: Das individuelle, das soziale und das kollektive Gedächtnis. Das soziale Gedächtnis, zu dem beispielsweise das Generationengedächtnis zählt, ist ein Kurzzeitgedächtnis; das kollektive Gedächtnis wurde lange als Fiktion, Mythos oder Ideologie beschrieben. Seit den 90ern wird es wieder anerkannt und umfasst u.-a. Narrationen, Bilder, Denkmäler und rituelle Praktiken. Das kollektive Gedächtnis ist historisch konstruiert. Es fördert die Konstitution von Gemeinschaft. Vgl. Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: C.H. Beck 3 2018, S.-23-31. Conscia futura età. Sdegnoso avello Placàr singulti, ornàr parole e doni Di vil caterva? In peggio Precipitano i tempi; e mal s’affida A putridi nepoti L’onor d’egregie menti e la suprema De’ miseri vendetta. A me dintorno Le penne il bruno augello avido roti; Prema la fera, e il nembo Tratti l’ignota spoglia; E l’aura il nome e la memoria accoglia. (Bruto minore, V.106-120) [Nicht des Olymp oder Kokytos taube Herrscher oder die unwürdige Erde oder die Nacht fleh ich an, bevor ich verstumme, nicht dich, des schwarzen Todes letzten Lichtstrahl, du wissendes künftiges Geschlecht. Besänftigen dumme Seufzer, ehrten des Pöbels Reden und Spenden je ein verschmähtes Grab? Die Zeiten verschlimmern sich rasch, und verderbten Enkeln versagt sei die Ehrengabe am Grab der Edlen und Großen und ihres Unglücks späte Vergeltung. Meinen Leib mag umlauern flügelschlagend der schwarze gierige Rabe, den Leichnam der Wolf zerfleischen, der Regen misshandeln. Und der Wind nehme meinen Namen und mein Gedenken auf.] Mit der Übergabe der Erinnerung an den Wind polemisiert Leopardi gegen die Sepolcri von Foscolo und gegen den Optimismus eines positiven Einflusses heroischer Vorbilder auf spätere Generationen; hier gibt es kein versöhnliches Begräbnis, keine Heimkehr, keine geliebten Trauernden, kein Gedenken, kein Grab, welches den Trotz gegen einen materialistischen Zeitgeist verbildlicht. 290 Der Kampf um den Erhalt des Symbols im kollektiven Gedächtnis scheint verloren zu sein. 291 Die Ablehnung des Nachruhms und die Klarstellung, dass es sich bei Brutus’ Klage an die Götter, die Nacht, den Mond und die Nachkommen 104 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="105"?> 292 Vgl. Aristoteles: Rhetorik, S.-44. 293 Lettere, A André Jacopssen, 23. Luglio 1823, S.-430-431. Italiens um kein Flehen handelt, sichert die Integrität von Brutus. Aristoteles zählt zwar den Ruhm zum Topos der Tugend - „Auch Sieg und Ruhm gehören zum Edlen“ 292 -; durch die Erkenntnis der Nichtigkeit der Illusion und die Rolle des Schicksals im Unterfangen ist der tugendhafte Held jetzt aber zwangsläufig ein verzweifelter Held. In Leopardis Heldenkonzeption tritt er allein gegen den kollektiven Illusionsverlust an. Leopardi macht die Verzweiflung zum Kriterium des Heldentums, wodurch der Held ein gespaltenes Verhältnis zu seinem Handeln haben muss. Emotionen, die primär durch pathos ausgelöst werden, sind also Teil der Stilisierung des Helden und damit auch Teil der ethos-Strategie. 5.1.7 Leopardis Heldenkonzeption Helden sind Figuren der Transgression, da die Unterscheidung zwischen Held und Verräter der Narration überlassen bleibt. Leopardis Held ist zwar keine zerrissene, aber eine widersprüchliche und fehlplatzierte Figur, deren Streben konträr zu ihrem Bewusstsein steht und die dadurch direkt mehreren Formen der Nichtigkeit ausgesetzt ist. Sie hängt einer Illusion nach, die sie selbst als Illusion erkannt hat, hebt jedoch ihren Wert so hoch, dass sie trotzdem daran festhält. Durch die kollektive Entwertung hat die Illusion ihren seienden Charakter verloren. Leopardis moderner Idealtyp ist daher ein verzweifelter Held, der fortfährt, obwohl ihm die Nichtigkeit allgegenwärtig ist und er sich da‐ durch gegen die Gesellschaft stellt. Da das moderne Bewusstsein zwangsläufig unglücklich ist, wird das Ertragen einer maximalen Verzweiflung zum Aushän‐ geschild für seinen Kampf. Die Entscheidung von Theophrast und Brutus, ihr Leben bewusst nach einer Illusion auszurichten, impliziert die Idee, man könne ‚heroischere Zeiten‘ durch einen gewollten kollektiven Bewusstseinswandel herbeiführen. Einen entsprechenden Gedanken formuliert Leopardi in dem Brief an André Jacopssen vom 23. Juni 1823: Je conviendrai […] que la vertu, comme tout ce qui est beau et tout ce qui est grand, ne soit qu’une illusion. Mais si cette illusion était commune, si tous les hommes croyaient et voulaient être vertueux, s’ils étaient compatissans, bienfaisans, généreux, magnanimes, pleins d’enthousiasme; en un mot, si tout le monde était sensible […], n’en serait-on pas plus heureux? […] Celle-ci ne devrait-elle pas s’appliquer à réaliser les illusions autant qu’il lui serait possible, puisque le bonheur de l’homme ne peut consister dans ce qui est réel? 293 5.1 Bruto minore 105 <?page no="106"?> 294 Horst Heintze: „Zu Leopardis Petrarca“, in: Hans Ludwig Scheel / Manfred Lentzen (Hrsg.): Giacomo Leopardi. Rezeption - Interpretation - Perspektiven, Tübingen 1992, S.-104-106. [Ich stimme zu, dass die Tugend, wie alles Schöne und Große, nur eine Illusion ist. Aber wenn diese Illusion allgemein wäre, wenn alle Menschen glaubten und tugendhaft sein wollten, wenn sie mitfühlend, wohltätig, großzügig, großmütig und voller Enthusiasmus wären, mit einem Wort, wenn alle sensibel wären, wären wir dann nicht glücklicher? Sollte sich nicht jedes Individuum darauf beschränken, Illusionen so weit wie möglich zu verwirklichen, da das Glück des Menschen nicht in dem bestehen kann, was wirklich ist? ] Die Konzeption seiner Figur kann insofern als Forderung an moderne Philo‐ sophen betrachtet werden, es ihr gleich zu tun. Leopardi bietet dem Leser jedoch weder in der Comparazione noch im Bruto minore direkte Vorbilder im Handeln, sondern höchstens im Geist und in der Haltung; Stilbilder der virtù und der gloria. Für die Dichtung ist auffällig, dass Leopardis Interesse an seinen literarischen Vorbildern nicht bloß ihrer Dichtung gilt, sondern auch ihrem Leidensweg, den sie gehen mussten und der in seiner Darstellung eine Inspirationsquelle für ihre Dichtung wurde, beispielsweise Petrarca, Ariost, Tasso und Alfieri. 294 Durch die Polemisierung gegen Foscolos Sepolcri wird die Hoffnung auf gloria und darauf, einen möglichen Effekt auf die Nachwelt zu haben, im Bruto minore gleichzeitig eingedämmt. Die Frage nach der Illusion, nach dem Seienden im Nicht-Seienden, erfolgt durch die kollektive Wiederho‐ lung durch Einzelne. Bleibt dies aus, kann das Subjekt die Frage zwar für sich selbst klären, es gerät dadurch aber in einen dauerhaften Konflikt. Die Wirk‐ lichkeitsdeutung durch den Einzelnen ist für eine Gesellschaft bedeutungslos. Obwohl der Gedanke der Imitation zu der Konstruktion der Republik passt - nicht nur der antike Geist ermöglichte die heroische Zeit, sondern auch die Staatskonstruktion -, weiß Leopardi, dass dies nicht möglich ist. Nicht zufällig steht diese Hoffnung in unmittelbarer Nähe zu der Suizidthematik des Brutus. Vor allem aber handelt es sich nicht um realistische Modelle der Lebensführung. Die Stilisierung ist vielmehr als Aktualisierung des Heldenmotivs zu verstehen. So wie auch Leopardis Idyllen gleichzeitig antiidyllisch sind, kann auch ein Heldenmotiv nicht mehr ungebrochen verarbeitet werden. Ein Blick auf Leopardis anthropologische Geschichte zeigt die Sehnsuchtsorte in Leopardis Denken; das ungebrochene Evozieren dieser wäre jedoch naiv und zudem anachronistisch. Dadurch ist sein Werk gleichzeitig konservativ und modern; die „assolutezza concettuale e gnomica“ 295 bezüglich der Nichtigkeit des 106 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="107"?> 295 Giorgio Bàrberi Squarotti: Le maschere dell’eroe. Dall’Alfieri a Pasolini, Lecce: Milella 1990, S.-221. 296 Antonio Prete: La poesia del vivente. Leopardi con noi, Torino: Bollati Boringhieri 2019, S.-181. 297 Leopardis ‚sentimentale‘ trägt die Bedeutung von Schillers ‚sentimentalisch‘. 298 Phänomenologische Überlegungen zur Zeit bei Leopardi finden sich in: Milan Herold: Der lyrische Augenblick als Paradigma des modernen Bewusstseins, Göttingen: V&R 2017, S.-181-378. 299 Zib.-214. 300 Ebd. 301 Dialogo di un venditore d’almanacchi e di un passeggere, in: Poesie e prose II, S.-210. Seins wird bejaht und verneint. Es zeigt sich, mit welcher Intensität er idealere Gesellschaftsformen skizziert (siehe Kapitel 6), an denen er sein Zeitalter misst. Il richiamo alla natura non ha la funzione di invito a un ritorno, ma è una soglia per la critica di ciò che la civiltà non vuole che sia naturale; una critica della „matematizzazione“ dell’esistenza, una critica della ratio, che vuole conoscere tutto, tutto vedere, e finisce con vedere il nulla. 296 Der ‚Urzustand‘ und die ausbalancierten Gesellschaftsstufen, die sich in der Griechischen Demokratie und der Römischen Republik stabilisiert haben, sind Sinnbilder für ein glückliches, einfaches und tugendhaftes Leben. Während die Rückkehr in den Urzustand ausgeschlossen ist, schwingt in den Texten die leise Hoffnung mit, dass der Mensch in eine idealere Gesellschaftsform zurückkehren könnte, obwohl Leopardi weiß, dass diese Vorstellung sentimentalisch ist. 297 Und so abwegig Leopardis Heldenkonzeption auch ist, er wird das Thema der Orientierung an einem als nichtig erkannten Phänomen in seinen Gedichten zur Liebe wieder aufgreifen (Kapitel 7). Leopardis Texte sind zumeist in einer (mythischen) Vergangenheit verortet und die dort verortete Zukunft verweist auf die Gegenwart des Schreibens. 298 Im Zibaldone prognostiziert er auf Basis seiner Theorie zur Materie die Rückkehr des Individuums ins ‚Nichts‘, was sicherlich auch auf die gesamte Menschheit übertragen werden kann, wie das Bild des Kindes in der Palinodia al Marchese Gino Capponi verdeutlicht (s. u.). Sonst ist die Zukunft im anthropologischen Sinne kein bedeutender Teil von Leopardis Poetik. Im Zibaldone wird sie als Ort der Hoffnung bezeichnet; der „soliti disegni e castelli in aria intorno alla vita futura“ 299 [üblichen Entwürfe und Luftschlösser rund um das zukünftige Leben]. Die persönliche Zukunft bietet einen Imaginationsraum, der einen Ort der Genesung („ritorno“) 300 von der Verzweiflung bietet: „Quella vita ch'è una cosa bella, non è la vita che si conosce, ma quella che non si conosce; non la vita passata, ma la futura“ 301 [Das Leben, das etwas Schönes ist, ist nicht 5.1 Bruto minore 107 <?page no="108"?> 302 An dieser Stelle würde in den meisten Publikationen „Pessimismus“ stehen und dadurch geht eben jene Spannung, die zwischen Leopardis Materialismus und seinen Forderungen zum Ausdruck der eigenen Affekte besteht, verloren. das Leben, das man kennt, sondern jenes andere, das man nicht kennt; nicht das vergangene, sondern das künftige Leben]. Innerhalb der Verfallsgeschichte müsste sie aber zu beständig mehr Negativität verdammt sein. Die Zukunft eignet sich kaum als Motiv für Leopardis Lyrik, weil eine weitere Negativierung seiner Gesellschaftsphilosophie eine stärkere Annäherung an die Nichtigkeit bedeutet und damit außerhalb des Bereichs der Verbildlichung gerät. Gerade die Leerstelle, die dadurch entsteht, produziert eine beklemmende Bedrohlichkeit. In der Palinodia al Marchese Gino Capponi äußert Leopardi Kritik an den vorherrschenden Zukunftsentwürfen des 19. Jahrhunderts, indem er satirisch deren dogmatischen Fortschrittsoptimismus präsentiert. 5.2 Die Palinodia al Marchese Gino Capponi Kein Gedicht zeigt so deutlich Leopardis Urteil über seine Zeitgenossen wie die Palinodia al Marchese Gino Capponi. In dem Gedicht verarbeitet er überzeich‐ nend die unterschiedlichen Formen des Nichts, die eingangs schon gezeigt wurden. Dabei hebt es sich deutlich von den anderen Canti ab, da Leopardi seine Techniken des indefinito nur reduziert einsetzt und häufig sogar ironisch. Dennoch ist das Gedicht nicht durchgängig satirisch und insbesondere in den allegorischen Versen verbildlicht Leopardi seinen Blick auf die conditio humana. Dadurch zeichnet sich in der Palinodie ein zwar ambivalentes, aber dennoch kohärenteres Weltbild ab, als es in der Forschung häufig wahrgenommen wird. Hier kommen sämtliche Gegenüberstellungen von Vernunft und Imagination, Philosophie und Dichtung, Materialismus und Subjektivismus, 302 die Leopardis Werk kennzeichnen, zum Ausdruck. Während der Bruto minore innerhalb der Verfallsgeschichte Leopardis die Epochenschwelle markiert, die den Beginn des gesellschaftlichen Verfalls besiegelt, behandelt die Palinodia das 19. Jahr‐ hundert. Obwohl mehr als ein Jahrzehnt zwischen der Entstehung der beiden Gedichte liegt und sie in Form und Inhalt auseinanderklaffen, gibt es Gründe, sie gemeinsam zu betrachten. Beide Gedichte thematisieren die Frage nach der Haltung, die das Subjekt in einer Gesellschaft einnehmen kann, die andere Ideale vertritt. Während die Gesellschaftskritik an der aktuellen Zeit aus dem Bruto minore rekonstruiert werden muss, rechnet das lyrische Ich in der Palinodia unmittelbar mit jenen Zeitgenossen ab, die das ‚Goldene Zeitalter‘ in der Ge‐ genwart bzw. in der Zukunft zu erkennen glauben. Es wendet sich gegen die als 108 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="109"?> 303 Zur Figur der Abrechnung in der kritischen Literatur des 19. Jahrhunderts siehe: Ulrich Schulz-Buschhaus: „Ironie und Pathos in Leopardis Palinodia“, in: Italienisch 40 (1998), S.-32-34. 304 Hans Blumenberg: Schriften zur Technik, Berlin: Suhrkamp 2015, S.-32. 305 Achille Tartaro: „La ginestra, o il fiore del deserto“, in: Lectura leopardiana. I quarantuno „Canti“ e „I nuovi credenti“, a cura di Armando Maglione, Venezia: Marsilio 2003, S. 626. dogmatisch empfundenen Fortschrittsideen des 19. Jahrhunderts, die im Gedicht zu einem Epochenbild totalisiert werden 303 - Ideen, die im 20. Jahrhundert als Irrtum erkannt werden: „[D]as Mehr an Wahrheit, das uns die Wissenschaft gebracht hat, ist nicht selbstverständlich auch ein Mehr an Glück, an Frieden und Zufriedenheit, an Bewältigung der uns gestellten Lebensfragen.“ 304 Die Palinodie beginnt mit einem ironischen Irrtumsbekenntnis: „Errai, candido Gino; assai gran tempo, e di gran lunga errai.“ (V.1-2) [Ich habe mich geirrt, guter Gino, allzu lange und abwegig habe ich geirrt]. Gino Capponi wird stellvertretend für eine Gruppe optimistischer Intellektueller angesprochen; ein gewagtes Unterfangen, das zum endgültigen Bruch mit dem intellektuellen Florenz führte. 305 Das lyrische Ich der Palinodie fingiert, dass es die Vorzüge seiner Epoche bis jetzt nicht sehen konnte, nun könne es aber die „pubblica letizia, e le dolcezze | del destino mortal“ (V.21-22) [die allgemeine Fröhlichkeit und die Freuden des Menschenschicksals] erkennen. Die Menschen dieses Zeitalters haben sich selbst in den Stand der Götter erhoben, womöglich sogar die Unsterblichkeit erreicht und wollen von diesem Thron nicht gestürzt werden: „Intolleranda | parve, e fu, la mia lingua alla beata | prole mortal, se dir dee mortale | L’uomo, o si pùo“ (V.5-7) [Unerträglich erschien - und war in der Tat - meine Sprache dem seligen Geschlechte der Sterblichen, wenn man den Menschen denn sterblich nennen darf oder kann]. Gelungen ist ihnen dieses Kunststück durch ihren Glauben an die Technik, „le macchine al cielo emulatrici“ (V.50) [die Maschinen, Konkurrenten des Himmels], an den Fortschritt und die neuen Güter, die das Leben versüßen. Die Ländergrenzen halten sie nicht mehr zurück, da sie sich schnell zwischen den Städten in Europa hin und her bewegen. Kollektives Zusammenleben wird also in Leopardis satirischer Darstellung primär durch technische Möglichkeiten und wissenschaftliche Erkenntnisse gestaltet. Der Geist der Gesellschaft wird durch das Zeitungswesen geprägt und ist dadurch seiner Schnelllebigkeit ausgesetzt. 5.2.1 Fanciullo invitto Der oft kommentierte Wandel von der heilsamen Natur zur feindlichen Natur hat sich in der Palinodia al Marchese Gino Capponi bereits längst vollzogen. 5.2 Die Palinodia al Marchese Gino Capponi 109 <?page no="110"?> 306 La ginestra, V.125. 307 Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen / Culture and Value, Oxford: Basil Black‐ well 2 1980, S.-2. Die Satire kann verallgemeinernd interpretiert werden als das Schreckensbild einer technikgläubigen Menschheit, die einen hoffnungslosen Kampf gegen eine grausame Natur, „natura crudel“ (V.170), führt, ohne einsehen zu wollen, dass sie dieser ausgeliefert ist. Leopardis eigenes Verhältnis zur Natur ist jedoch ambivalenter als diese vereinfachte Darstellung. Für den Schritt von der „natura madre“ [Mutter Natur] zur „matrigna“ 306 [Stiefmutter] beziehungsweise zur „empia madre“ (V.181) [boshafte Mutter], wie Leopardi sie in der Palinodia nennt, musste in seiner Anthropologie der idealisierte Urzustand getilgt werden, der viel mehr literarisch als philosophisch gedacht ist, wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt wurde und bereits in diesen frühen Überlegungen als uner‐ reichbar gilt. Nach dieser Streichung steht der Egoismus des Menschen im Vordergrund und eine Rückkehr in den Naturzustand stellt keine Heilung mehr dar. Leopardis Republik war entsprechend - wenn auch idealisiert - systemisch gedacht und schließt egoistische Interessen der Einzelnen bereits ein. Sie soll durch die Förderung von Enthusiasmus, Phantasie und Illusionen, also naive Erkenntnismittel, zusammengehalten werden: Prinzipien, die in Leopardis gleitender Semantik weiterhin der Natur zugeordnet werden, die jedoch bereits im Bruto minore nicht mehr die dominierende Triebkraft der Gesellschaft sind. Das Wirken der unterschiedlichen Triebkräfte wird in der Palinodia nun durch ein Kind verbildlicht, das Leopardi häufig in einer Gedankenfigur mit der Natur verbindet. Das Kind mit seinem naiven, aber auch fremden, gnadenlosen und undurchdringlichen Wesen dient als Vergleich für die Unzugänglichkeit der Natur. Einerseits erscheint die Kindheit als naiver und glücklicher(er) Sehnsuchtsort, der in der Erinnerung besucht werden kann, und andererseits ist das Kind das Sinnbild für eine gnadenlose, unberechenbare und zerstörerische Kraft - „fanciullo invitto“ (V.170) [unzähmbarer Knabe]. Beide Bereiche, der positive und der negative, teilen die Fähigkeit der Imagination. In der negativen Version fokussiert sich Leopardi auf die grausamen Eigenschaften des Kindes, die sich im Spiel beobachten lassen und die Wittgenstein bereits im Säugling zu erkennen glaubt: „Wer ein Kind mit Verständnis schreien hört, der wird wissen, daß andere Kräfte, furchtbare, darin schlummern, als man gewöhnlich annimmt. Tiefe Wut und Schmerz und Zerstörungssucht.“ 307 Während also die eigene Kindheit idealisiert werden kann, ist die Beobachtung des Kindes ambivalent, weil es eigenartig und fremd in seinen Handlungen erscheinen kann. Durch die Zerstörung der eigenen Werke erhält das Kind seinen Imaginationsprozess in ständiger Bewegung. Dadurch wird Zerstörung zum notwendigen Akt des 110 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="111"?> 308 Das Bild erinnert an ein Zitat von Heraklit, in dem Aion mit einem Kind verglichen wird: „αἰὼν παῖς ἐστι παίζων, πεσσεύων· παιδὸς ἡ βασιληίη“ (22 B 52 DK) [Die Lebenszeit ist ein Knabe, der spielt, hin und her die Brettsteine setzt: Knabenregiment], Heraklit: „Fragmente“, in: Walther Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 1, übersetzt von Hermann Diels, Berlin: Weidmannsche Verlagsbuchhandlung 9 1960, S. 162. Zur Kontroverse um die Bedeutung des Fragments: Sandra Šćepanović: „Heraclitus’ Fragment B 52 DK Re-examined“, in: Rhizomata 3.1 (2015) S.-26-46. 309 Zib. 2037. 310 Jean Piaget stellt in La représentation du monde chez l’enfant die animistischen Ten‐ denzen des Kindes dar: Jean Piaget: Das Weltbild des Kindes, Stuttgart: Klett-Cotta 1978; vor allem: Zweiter Teil: Der kindliche Animismus. Schaffenszyklus, da sie eine erneute kreative Tätigkeit überhaupt erst ermög‐ licht. Diesen Prozess vergleicht Leopardi mit der Natur: La natura è come un fanciullo: con grandissima cura ella si affatica a produrre, e a condurre il prodotto alla sua perfezione; ma non appena ve l’ha condotto, ch’ella pensa e comincia a distruggerlo, a travagliare alla sua dissoluzione. (Zib. 4421) [Die Natur ist wie ein Knabe: Mit größter Sorgfalt müht sie sich ab, zu schaffen und das Erschaffene zur Perfektion zu führen; aber kaum hat sie diese erreicht, denkt und beginnt sie schon, es zu zerstören, an seiner Auflösung zu wirken.] Dieses Spiel ist ein einsames Spiel, denn das Kind spielt es allein. Seine Spielobjekte kennen die Spielregeln nicht; sie haben keine Mitsprache und sind der Gnade und der Willkür des Kindes ausgeliefert. Eben jene Grausamkeit des Kindes, die im Spiel beobachtet werden kann, stellt Leopardi in der Palinodia in den Vordergrund, wenn er die Natur mit dem Kind vergleicht. Die Personifika‐ tion des Schicksals, der Natur oder einer Gottheit durch das Kind eröffnet ein mythisches Bild, das den Ablauf der Zeit aufnimmt 308 und zugleich Leopardis Theorien zur Materie aufgreift. Dabei verweist das Kind einerseits durch den Prozess der Zersetzung und Zerstörung auf das Nichts und andererseits durch Erschaffung und Imagination auf das Sein. In dieser Betrachtung gelingt es dem Kind zumindest dem Schein nach zu durchdringen, was der Erwachsene nicht mehr versteht; denn „quante volte il fanciullo è più metafisico ed anche sofistico, che l’uomo maturo“ 309 [wie oft ist das Kind metaphysischer und auch scharfsinniger als der Erwachsene]. Dadurch vereint Leopardi in der Kind-Natur-Analogie kaleidoskopartig eine animistische Natur, 310 in der alles zusammenhängt, mit einer mechanischen Natur, auf deren Kausalitäten der Mensch keinen Einfluss besitzt. Einerseits findet die Analogie Eingang in die Palinodia, um die undurchsichtig gewordene und als wechselhaft empfundene Natur zu verbildlichen; andererseits bietet sie eine Kontrastfolie, um Kritik an dem Fortschrittselan des 19. Jahrhunderts äußern zu können, in dem Leopardi 5.2 Die Palinodia al Marchese Gino Capponi 111 <?page no="112"?> eine Arroganz sieht, die das Subjekt glauben lässt, die Welt sei sehr wohl durchsichtig und könne vom Menschen dominiert werden. In seinem Irrglauben ähnelt das menschliche Spiel wiederum dem Spiel der Natur. Ein Blick auf die Verben in der 6. (nur der erste Teil der Strophe stellt das Treiben des Knaben dar) und der 7.-Strophe zeigt diese Parallelisierung: Quale un fanciullo, con assidua cura, Di fogliolini e di fuscelli, in forma O di tempio o di torre o di palazzo, Un edificio innalza; e come prima Fornito il mira, ad atterrarlo è volto, Perchè gli stessi a lui fuscelli e fogli Per novo lavorio son di mestieri; Così natura ogni opra sua, quantunque D’alto artificio a contemplar, non prima Vede perfetta, ch’a disfarla imprende, Le parti sciolte dispensando altrove. E indarno a preservar se stesso ed altro Dal gioco reo, la cui ragion gli è chiusa Eternamente, il mortal seme accorre Mille virtudi oprando in mille guise Con dotta man: che, d’ogni sforzo in onta, La natura crudel, fanciullo invitto, Il suo capriccio adempie, e senza posa Distruggendo e formando si trastulla. (Palinodia, V.154-172, Hervorh. von mir) Oh menti, oh senno, oh sovrumano acume Dell’etá ch’or si volge! E che sicuro Filosofar, che sapienza, o Gino, In più sublimi ancora e più riposti Subbietti insegna ai secoli futuri Il mio secolo e tuo! Con che costanza Quel che ieri schernì, prosteso adora Oggi, e domani abbatterà, per girne Raccozzando i rottami, e per riporlo Tra il fumo degl’incensi il dì vegnente! Quanto estimar si dee, che fede inspira Del secol che si volge, anzi dell’anno, Il concorde sentir! con quanta cura Convienci a quel dell’anno, al qual difforme 112 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="113"?> 311 Winfried Wehle: Leopardis Unendlichkeiten: zur Pathogenese einer poesia non poesia; „L'Infinito“, „A se stesso“, S.-51. Fia quel dell’altro appresso, il sentir nostro Comparando, fuggir che mai d’un punto Non sien diversi! E di che tratto innanzi, Se al moderno si opponga il tempo antico, Filosofando il saper nostro è scorso! (Palinodia, V.208-226, Hervorh. von mir) [Wie ein Knabe mit geduldiger Sorgfalt aus Blättern und Zweigen in der Gestalt eines Tempels oder Turmes oder Palastes ein Bauwerk errichtet und wie er, sobald es ihm leidlich gelungen, sein Werk betrachtend, es einzureißen geneigt ist, weil ebendieselben Zweige und Blätter ihm notwendig sind zu neuem tätigen Spiel, so gilt der Natur ein jedes ihrer Werke, sei es auch noch so kunstreich, erst dann als vollendet, wenn sie mit seiner Zerstörung beginnt und die Teile abermals löst und anderen Ortes verwendet. Und vergeblich, sich selbst zu retten und andres im schlimmen Spiel, dessen Sinn ihm ewig verborgen bleiben wird, eilt sich das sterbliche Wesen und lässt tausend Künste spielen auf tausend Arten mit kundiger Hand. Denn aller Mühsal zum Hohne sättigt Natur, der unbezähmbare Knabe, grausam die eigene Laune nur und rastlos vergnügt sie sich, zu zerstören und zu gestalten. O Geist, o Verstand, o übermenschlicher Scharfsinn des Zeitalters, das da kommt! Und welch ein solides Philosophieren! Welche Weisheit, mein Gino, in den erhabensten und den geheimsten Dingen lehrt die künftigen Jahrhunderte mein Jahrhundert und das deine! Mit welcher Beständigkeit betet es heute fußfällig an, was es gestern verhöhnte, und wird es morgen zerschmettern, um dann die Scherben zusammen‐ zukleistern und wieder zurückzutragen am folgenden Tag in den Weihrauch der Lobhudelei! Wie muss man es schätzen, dass uns Vertrauen einflößt in das Jahrhun‐ dert, das anbricht, nein, in das Jahr, die Meinung der Menge! Mit wieviel Sorgfalt müssen wir mit der Meinung des Jahrs, von der abweichen dürfte die Meinung des folgenden Jahres, unsere eigene Meinung vergleichen und streng darauf achten, dass sie in keinem Punkte anders sei! Und wie fortschrittlich hat sich, wenn der modernen die alte Zeit widerspricht, unsere Weisheit beim Philosophieren entfernt! ] Beide Strophen werden dominiert von Verben des Wandels, der Entstehung und des Verfalls und zeigen Leopardis „energetisches Grundgesetz“ 311 . In der 6. Strophe finden sich in Bezug auf die Natur die Verben „innalza“ (V.157), „fornito“, „ad atterrarlo è volto“ (V.158), „disfarla“, „imprende“ (V.163), „dispensando“ (V.164), „senza posa distruggendo“ (V.171-172) und „formando“ (V.172). Die zweite Hälfte der Strophe wechselt bereits in die Perspektive der Menschheit, die „oprando“ (V.168) um ihren Erhalt kämpft. Dies wird in der 7. Strophe durch die 5.2 Die Palinodia al Marchese Gino Capponi 113 <?page no="114"?> Verben „scerní“ (V.214), „abbatterà“ (V.215), „raccozzando“, „riporlo“ (V.216), „si volge“ (V.209, 219) und „è scorso“ (V.226) dargestellt. Dazu kommen Verben der Bewegung: „accorre“ (V.167) und „fuggir“ (V.223). Erhaltung wird als vergebli‐ ches Unterfangen deklariert, „indarno a preservar se stesso“ (V.165). Verben der Wahrnehmung und Deutung finden sich fast ausschließlich in der 7. Strophe: „filosofar“ (V.210, 226), „insegna“ (V.212), „sentir“ (V.220), „comparando“ (V.223), „non sien diversi“ (V.224), „si opponga“ (V.225). Die Verben „contemplar“ (V.162) und „vede“ (V.163) in der 6. Strophe beschreiben lediglich einen Moment, der bereits im Begriff ist zu enden. Das Kind amüsiert sich jedoch in seinem Spiel, „si trastulla“ (V.172) und erscheint böse, weil es nur kreatürliche Absichten hat. Verben, die werten, finden sich aber nur in der 7. Strophe: „adora“ (V.214), „estimar“ und „fede inspira“ (V.218). Während also die Natur „con assidua cura“ (V.154) an der Beschaffenheit der Welt arbeitet, versucht der Mensch „con quanta cura“ (V.220) sie zu durch‐ dringen und auf der Höhe des sich wandelnden Meinungsbildungsprozesses zu bleiben. Er glaubt, mit Hilfe seines Verstandes die Deutungshoheit über die Welt gewonnen zu haben, „oh sovrumano acume“ (V.208). Dabei ist er nicht imstande, den inneren Kern der Welt zu erkennen und er bleibt gefangen im „gioco reo, la cui ragion gli è chiusa“ (V.166). Sein Wahrheitsbildungsprozess findet lediglich an der Oberfläche statt und ist entsprechend wankelmütig. Jährlich ist deshalb eine andere Philosophie oder Wissenschaft in Mode, die sich aus alten Bausteinen zusammensetzt und andere Auffassungen verdrängt. In diesem Zerstörungsprozess entfernt sich der Mensch vom Wissen, statt sich anzunähern, „filosofando il saper nostro è scorso! “ (V.227). Was hier analog zueinander thematisiert wird, ist im Kräfteverhältnis natürlich ungleich. Der Mensch imitiert das oberflächlich erkannte Treiben, ist ihm jedoch ausgeliefert. Der Schaffens- und Zerstörungsprozess vollzieht sich im Subjekt durch Imagi‐ nation und Vernunft. Die Vernunft entreißt ihm alle positiven Wahrheiten, an die er einst geglaubt hat. Bezüglich der Unmöglichkeit, glücklich zu sein, schreibt Leopardi: Il detto del Bayle, che la ragione è piuttosto uno strumento di distruzione che di costruzione, si applica molto bene, anzi ritorna a quello che mi par di avere osservato altrove, che il progresso dello spirito umano dal risorgimento in poi, e massime in questi ultimi tempi, è consistito, […] non nella scoperta di verità positive, ma negative in sostanza; ossia, in altri termini, nel conoscere la falsità di quello che p. lo passato, […] si era tenuto per fermo […]. (Zib. 4192) [Bayles Diktum, dass die Vernunft eher ein Instrument der Zerstörung als der Erschaffung ist, lässt sich sehr gut anwenden und kehrt tatsächlich zu dem zurück, 114 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="115"?> 312 Zib. 2706. Vgl. auch Condillacs Art de penser: „Quand on travaille sur les connoissances humaines, on a plus d’erreurs à détruire que de vérités à établir“ [Wenn man über menschliches Wissen arbeitet, muss man mehr Irrtümer zerstören als Wahrheiten etablieren]. Étienne Bonnot de Condillac: Oeuvres completes de Condillac. L'Art de penser, Bd.-6, Paris: Ch. Houel 1798, S.-156. 313 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2015, S.-368. 314 Siehe: Paul Geyer: Die Entdeckung des modernen Subjekts, zur Stellung des Menschen im Kosmos nach der kopernikanischen Wende. Zu Pascal insbesondere: S.-137. was ich glaube, an anderer Stelle bereits beobachtet zu haben, dass der Fortschritt des menschlichen Geists seit der Renaissance und vor allem in jüngster Zeit nicht aus der Entdeckung von positiven Wahrheiten, sondern substantiell aus negativen bestanden hat. Er besteht, mit anderen Worten, aus Kenntnissen über die Falschheit von dem, was man in der Vergangenheit für unerschütterlich gehalten hat.] Nach diesem Verständnis hat sich Wissen seit der Renaissance reduziert. Leopardi sieht in diesem negativen Erkenntnisprozess keine kontinuierliche Entwicklung von Wissen mehr, sondern zyklische Verschiebungen von Wis‐ sensfetzen, die keinen Platz mehr in einem großen Ganzen finden. Tatsächliche Wissensfortschritte sind lediglich die Entdeckungen von Fehlern im System: „[I] progressi dello spirito umano, e di ciascuno individuo in particolare, consistono la più parte nell’avvedersi de’ suoi errori passati. E le grandi scoperte per lo più non sono altro che scoperte di grandi errori“ 312 [Die Fortschritte des menschlichen Geistes und jedes einzelnen Individuums bestehen hauptsächlich im Innewerden seiner vergangenen Fehler; die größten Entdeckungen bestehen hauptsächlich aus der Aufdeckung von vergangenen Fehlern]. Durch die Paral‐ lelisierung dieses Prozesses mit der Natur bindet er den Menschen zwar in ihr Regime ein; dies geschieht jedoch, ohne ihm größere Kenntnisse zuzugestehen. Aufgrund der Feststellung, dass das Subjekt auf Deutungen und Wertungen angewiesen ist, dass Wissen konstruiert ist und es nicht möglich ist, die Ordnung der Natur einzusehen, kann Leopardi nach Foucaults Maßstäben als Moderner klassifiziert werden. 313 Für Leopardi kann eine Wissenserweiterung nur durch eine Vermittlung zwischen Vernunft, Kreativität und individuellen Affekten entstehen. Als Dichter propagiert er eine poetische Ordnung der Dinge, die nach poetischen Regeln funktioniert. 5.2.2 Eine poetische Ordnung der Dinge Das Problem, dass der Mensch die Welt in ihrer Totalität nicht erblicken kann, findet sich schon bei Pascal: 314 „[L]es parties du monde ont toutes un tel rapport et un tel enchaînement l’une avec l’autre, que je crois impossible de connaître 5.2 Die Palinodia al Marchese Gino Capponi 115 <?page no="116"?> 315 Blaise Pascal: „Pensées, prés. par Dominique Descotes et Marc Escola, Paris: Flammarion 2015, S.-70. 316 So Benne und Zittel zum Zusammenhang von Dichtung und Philosophie im Werk von Nietzsche. Christian Benne / Claus Zittel: „Einleitung“, in: dies. (Hrsg.): Nietzsche und die Lyrik. Ein Kompendium, Stuttgart: Metzler 2017, S.-3. l’une sans l’autre et sans le tout“ 315 [Die Teile der Welt haben alle eine solche Beziehung und eine solche Verkettung untereinander, dass ich es für unmöglich halte, den einen zu kennen ohne den andern und ohne das Ganze]. Für Leopardi ist dieser Mangel das Kernstück seiner Theorien zur Weltwahrnehmung. Die Lücke, die sich durch diese Erkenntnis auftut, kann von der Vernunft nicht geschlossen werden, die sie ja überhaupt erst entblößt hat. Den einzigen Ausweg aus dieser Misere sieht Leopardi in einer Überbrückung durch die Imagination und durch poetisches Denken: „Denn lyrische Gebilde knüpfen feinere Netze, sie fangen Wirklichkeiten ein, ermöglichen differenzierte Weisen des Denkens, Wahrnehmens, Erkennens und eigenen Gestaltens.“ 316 Die Vernunft ohne Ima‐ gination ist für Leopardi kein geeignetes Instrument, um Zusammenhänge zu erkennen: Si può con certezza affermare che la natura, e vogliamo dire l’università delle cose, è composta, conformata e ordinata ad un effetto poetico, o vogliamo dire disposta e destinatamente ordinata a produrre un effetto poetico generale […]. Nulla di poetico si scorge nelle sue parti, separandole l’una dall’altra, ed esaminandole a una a una col semplice lume della ragione esatta e geometrica: […] nulla nella natura decomposta e risoluta, e quasi fredda, morta, esangue, immobile, giacente, per così dire, sotto il coltello anatomico, o introdotta nel fornello chimico di un metafisico che niun altro mezzo, niun altro istrumento, niun’altra forza o agente impiega nelle sue speculazioni, ne’ suoi esami […], se non la pura e fredda ragione. (Zib. 3241-3242) [Man kann mit Sicherheit feststellen, dass die Natur, und damit meinen wir die Universalität der Dinge, nach einem poetischen Effekt zusammengesetzt, geformt und organisiert ist oder eher gesagt arrangiert und absichtlich angeordnet, um einen allgemeinen poetischen Effekt herzustellen. Man erblickt nichts Poetisches, wenn man einen Teil vom anderen trennt und einen nach dem anderen mit dem schlichten Licht der exakten und geometrischen Vernunft untersucht: Nichts an der Natur ist poetisch, wenn sie zerlegt und aufgelöst ist, beinahe kalt, tot, blutleer, bewegungslos, sozusagen unter dem anatomischen Messer liegend oder im chemischen Feuer des Metaphysikers, der kein anderes Mittel, kein anderes Instrument, keine andere Kraft oder Wirken in seinen Spekulationen und Untersuchungen anwendet, außer der puren und kalten Vernunft.] 116 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="117"?> 317 Hier kehrt Leopardi wieder zu seinen Rousseauschen Studien zurück. Der Mensch sieht genau hin und sieht dabei nichts. Imagination könnte diese Lücke überwinden; wie eine Wissenschaft unter dieser Prämisse aussehen kann, bleibt, mit Ausnahme von Verweisen auf frühere Philosophen und Forscher - etwa Galileo Galilei -, relativ unklar. Leopardi strebt aber eine Verbindung aus Vernunft, Imagination und subjektiver Wahrnehmung an. Wir sehen uns im Folgenden deshalb exemplarische Theorien zu den drei Gebieten an und wie diese miteinander verzahnt sind. Für Leopardi ist der gezielte Einsatz von Sprache nicht nur individueller Ausdruck der eigenen Kreativität, sondern Teil der Imagination. Die Verarmung der Moderne schreibt Leopardi auch der Sprache zu. Kreativität ist für ihn abhängig von Kultur und historischer Verortung, 317 weshalb sie in manchen Sprachen ausgeprägter ist als in anderen. Leopardis Denken droht hier jedoch erneut in einen Zirkelschluss zu geraten: Sind es die Zugehörigen einer Kultur, die für den Reichtum einer Sprache verantwortlich sind, oder befeuert eine reichhaltige Sprache die Kreativität der Zugehörigen des Kulturkreises? In Leopardis reziproken Theorien fehlt zumeist der Impuls, der den Prozess in Gang setzt, was er jedoch selbst, zumindest in Ansätzen, realisiert. Dies wird deutlich in seinen Theorien zur Entstehung von Sprache und der Entwicklung des Alphabets: [L]’invenzione dell’alfabeto fu, si può dire, così difficile, ed è così maravigliosa come fu ed è l’invenzione della lingua. Perocchè quel medesimo che dee farci maravigliare intorno alla lingua, cioè come sienosi potute avere idee chiare e distinte senza l’uso delle parole, e come inventar le parole senza avere idee chiare e distinte alle quali applicarle, questa medesima meraviglia ha luogo in proposito dell’alfabeto. Potendosi appena concepire come questo abbia potuto preceder le idee chiare e distinte de’ suoni elementari, o come tali idee abbiano potuto essere innanzi alla cognizione de’ segni che li figurano. Onde si può applicare all’alfabeto quel detto di Rousseau il quale confessava che nella considerazion della lingua […], trovavasi in grandissimo imbarazzo, perchè non sembra possibile una lingua formata innanzi a una società perfetta, nè una società quasi perfetta innanzi all’uso d’una lingua già formata e matura. (Zib. 2957-2958) [Man kann sagen, dass die Erfindung des Alphabets so schwierig und wunderbar wie die Erfindung der Sprache war und ist. Denn der gleiche Grund, der uns bezüglich der Sprache zum Staunen bringen sollte, nämlich, wie man klare und deutliche Ideen haben kann, ohne den Gebrauch von Worten, und wie man Worte erfinden kann, ohne klare und deutliche Ideen zu haben, auf die man sie anwenden kann, dieses 5.2 Die Palinodia al Marchese Gino Capponi 117 <?page no="118"?> 318 Zur Geschichte des Alphabets im Zibaldone: Valerio Camarotto: „L’invenzione dell’al‐ fabeto e l’„incivilmento“, in: Chiara Gaiardoni (a cura di): La prospettiva antropologica nel pensiero e nella poesia di Giacomo Leopardi, Firenze: Olschki 2010, S.-353-364. 319 Linguistisch ausgedrückt beschreibt Leopardi den Übergang von metaphorischem zu metonymischem Sprechen. Vgl. „Leopardi’s ‚L’infinito‘ and the language of the romantic sublime“, S.-55. 320 Zib. 4347. Prete versteht den Canto notturno di un pastore errante dell’Asia als Hommage an die Oralität. Vgl. Prete (2010): S. 8-9. D’Intino beschäftigt sich umfassend mit der Oralität in: Franco D’Intino: L’immagine della voce. Leopardi, Platone e il libro morale, Venezia: Marsilio 2009. Zur Chorlyrik siehe Kapitel 6.1. gleiche Staunen findet in Bezug auf das Alphabet statt. Man kann kaum begreifen, wie dem Alphabet klare und deutliche Ideen von elementaren Lauten vorausgegangen sein könnten oder wie solche Ideen vor der Kenntnis der Zeichen, die sie darstellen, bestanden haben könnten. Man kann daher auf das Alphabet das Dictum von Rousseau anwenden, der gestand, dass er bei der Betrachtung der Sprache in die äußerste Verlegenheit geriet, weil es nicht möglich zu sein scheint, dass eine Sprache vor einer fast perfekten Gesellschaft gebildet werden konnte, noch eine fast perfekte Gesellschaft vor dem Gebrauch einer bereits geformten und reifen Sprache.] Sprache nimmt in Leopardis System eine doppelte Funktion ein. Auf der einen Seite ist sie ein Werkzeug, das der Bezeichnung dient und damit ausdifferenziert, abgrenzt und bestimmt, wenn sie in ihrer prosaischen Form nach den Regeln der Vernunft funktioniert. Diese Funktion wird durch die Alphabetisierung 318 und Normierung von Sprache unterstützt, da diese Sprache uniformieren, Ambiguität auflösen und Komplexität abbauen. Durch die enge Definition eines Begriffs verringern sich die Assoziationen und Bedeutungen, die sonst mitschwingen könnten. 319 Leopardi war kein Freund der Diskurse zur Verein‐ heitlichung von Sprache, die im Rahmen der Questione della lingua geführt wurden. Dagegen idealisiert er die Vorstellung einer archaischen Kommunika‐ tion durch Laute. Da diese Idee kaum greifbar ist, erklärt er eine mündliche Sprache mit einer freien Syntax zur poetischen Form der Kommunikation: „[L]a poesia […] è stata perduta dal popolo per colpa della scrittura“ 320 [Die Poesie ging dem Volk aufgrund der Schrift verloren]. Durch das arbiträre Ver‐ hältnis, das in der Konstruktion eines Alphabets zwischen Ton und Buchstaben besteht, wird das Kontinuum der Laute durchbrochen und die Unmittelbarkeit geht verloren. Innerhalb der Gegebenheiten glaubt er aber, einen Spielraum innerhalb des arbiträren Verhältnisses, das zwischen Signifiant und Signifié besteht, zu finden. Durch dieses bleibt eine Sprache flexibel und es entstehen unendliche Kombinationsmöglichkeiten einer endlichen Anzahl an Elementen; es ergeben sich Möglichkeiten des kreativen Ausdrucks. Diese Flexibilität macht 118 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="119"?> 321 Zur Entwicklung seiner linguistischen Theorien vgl. Sebastiano Timpanaro: Classicismo e illuminismo nell’ ottocento italiano, S.-379-386. 322 Ebd. S.-385. 323 Vgl. Maria Andrea Rigoni: „Leopardi e la lingua universale“, in: Tra Illuminismo e romanticismo, Vol. 181, a cura di Vittore Branca e Armando Balduino, Firenze: Olschki 1983 [=Biblioteca dell’Archivum Romanicum], S.-754-756. 324 Zum historischen und literarischen Bezug zur Vergangenheit: Hans Ludwig Scheel: Leopardi und die Antike, München: Hueber 1959. Oder der Sammelband: Leopardi e il mondo antico. Atti del Quinto Convegno Internazionale di Studi Leopardiani. Zur Vergangenheit als Erinnerungsform: Herold 2015, Herold 2017. 325 1232, Zib. 1789. für Leopardi den Reichtum einer Sprache aus, weshalb er unter den bekannten Sprachen das Griechische für seine freie Syntax schätzt und das starre Latein als kompromittiert betrachtet. 321 Leopardis Überlegungen zum Kontrast der Sprachen der Antike und der Moderne sind Teil seiner gleitenden Semantik und deshalb keine Theorien im strengen linguistischen Sinne. [I]l Leopardi mostra fin dal principio [… la tendenza] ad estendere quelle idee dall’ambito meramente linguistico-letterario a tutta la Weltanschauung, a un giudizio globale su ‚antichi‘ e ‚moderni‘ non solo relativamente al loro valore artistico, ma alla loro felicità e intensità di vita. 322 Die Entwicklung der Sprache denkt Leopardi deshalb zunächst analog zu seiner historischen Anthropologie. Der Vergleich geht so weit, dass Leopardi ihn sogar auf die Konstruktion einer utopischen Universalsprache anwendet. Selbst wenn diese aber entstehen könnte, würde sie auf Dauer zwangsläufig ebenfalls den Gesetzen der Sprachentwicklung unterliegen: Sie wird also individualisiert, fragmentiert und partikularisiert, denn nur so kann sie gelebt werden. 323 Lite‐ rarisches Schreiben wird durch die Zunahme von Vernunft und den Verlust an Natürlichkeit zunehmend schwieriger. Ein erster Ausweg aus dieser Misere ist eine Rückkehr zu den antiken Sprachen, welche noch nach den alten poetischen Prinzipien funktionieren oder wenigstens zu einer antikisierenden Sprache, wie sie vor allem in seinen frühen Gedichten zu finden ist. In jungen Jahren vertritt Leopardi dementsprechend eine puristische Sprachvorstellung, die vor allem in seiner Übersetzung der Aeneis deutlich wird. Eine weitere Möglichkeit stellt das Evozieren der Vergangenheit dar 324 oder aber der verbildlichte Verweis. Im Zibaldone finden sich zahlreiche Einträge zu Begriffen, wie das Adjektiv antico selbst: „Le parole lontano, antico e simili sono poeticissime e piacevole, perchè destano idee vaste, e indefinite, e non determinabili e confuse“ 325 [Wörter wie ‚fern‘, ‚antik‘ und ähnliche sind sehr poetisch und gefällig, da sie weite und 5.2 Die Palinodia al Marchese Gino Capponi 119 <?page no="120"?> 326 Leopardi unterscheidet zwischen parole, die eine vage Idee umreißen und termini, die möglichst eindeutig sind. „Parole, poetical words as Leopardi describes them, are, I would suggest, semantically metaleptic“ oder mit anderen Worten: „[H]e saw parole as signifiers possessing an overabundance of signifieds“. Margaret Brose: „Leopardi’s ‚L’infinito‘ and the language of the romantic sublime“, S.-54. 327 „Dazu rechnet er solche Wörter, die eine ungenaue, zufällige, schillernde, unbegrenzte, irrationale, ungeometrische, ins Lyrische hinausschwingende Bedeutung haben, wie irrevocabile, irremeabile, posteri, posterità, futuro, passato, eterno, eternità, lungo, morte, mortale, immortale, antico, alto, altezza, vago, vagheggiare, notte, notturno, oscurità, profondo, denen er einen poetischen Wert an und für sich zuschreibt.“ Karl Vossler: Leopardi, S. 201 mit Verweis auf Zib. 26-27, 119, 1535, 1798, 1930, 2263, 4287. Brose vertritt die gegenteilige Auffassung: „Parole are the mark of true poetry; semantically metaleptic, their indeterminacy makes them susceptible even to future semantic permutations, and thus they possess that „eternal“ quality which is to be found in the language of all great poetry.“ Margaret Brose: „Leopardi’s ‚L’infinito‘ and the language of the romantic sublime“, S.-54-55. 328 Barbara Kuhn: „Und sie singt doch - Leopardis Palinodie des Ultimo canto di Saffo“, S.-32. undefinierte und nicht bestimmbare und verwirrte Ideen auslösen]. Die Begriffe fallen also in eine Gruppe von Wörtern, denen Leopardi einen für sich selbst stehenden poetischen Wert zuschreibt und welche die Imagination anregen sollen. 326 Ebenso bevorzugt Leopardi eine Reihe von Bildern und Motiven aus dem ländlichen Raum, da diese einen familiären Eindruck hinterlassen und die Emotion steuern. Die Sammlung, die Leopardi über weite Teile des Zibaldone und vor allem in seinen Gedichten ausbaut, birgt einen subjektiven Charakter, den Vossler scharf als Theoretisierung des eigenen Geschmacks bezeichnet. 327 Ein Vorwurf, den man leicht und oft gegen Leopardis Werk richten kann, der aber wenige Erkenntnisse bringt, da Leopardi die Referenz auf die eigenen Affekte in der Dichtung nicht ausschließt, sie dort bisweilen aber auch verfremdet. Der Vorwurf ignoriert vor allem aber die Intention hinter diesen Gedanken, nämlich dass die Worte, die hier verwendet werden, Vorstellungen aufrufen und dadurch einen „Körper der Gedanken konstituieren“ 328 können. Dabei greifen sie mehr als einen Themenkomplex auf: Wie zu Beginn bereits beschrieben wurde, sind diese Wörter, Bilder und Motive Teil von Leopardis gleitender Semantik. Hieraus ergibt sich ein interessanteres Spiel zwischen der Eigenständigkeit des Wortes und den intertextuellen Referenzen im Werk: Je nach Wort oder Motiv wird eine andere Facette des Themenkomplexes aktiviert; von diesem Punkt aus beginnt dann die Assoziationskette, die Verknüpfungen zu anderen Themen herstellt und Gedichte miteinander verbindet. Obwohl Leopardis Werk eher selten als metaphorisch betrachtet wird, nennt er die Metapher als weiteres Beispiel für die Literarizität von Sprache. Er definiert sie über ihre Fähigkeit, Analogien herzustellen, 329 und unterscheidet 120 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="121"?> 329 Zib. 2005-2007. 330 Hofstadter und Sander beschreiben das Phänomen Marking folgendermaßen: „The idea is that a single word of a language can designate both a narrower and a broader category, where the narrower one is wholly contained inside the broader one […]. Although marking can occasionally hinder communication and lead to confusion, it is mostly a useful tool, imbuing language with greater fluidity by allowing several categories to be labeled simultaneously by a single term and by taking advantage of our mind’s natural sensitivity to context.“ Douglas Hofstadter und Emmanuel Sander: Surfaces and Essences. Analogy as the Fuel and Fire of Thinking, New York: Basic Books 2013, S.-186-187. 331 Julien Offray de La Mettrie: L'Homme Machine / Der Mensch eine Maschine, Stuttgart: Reclam 2015. in diesen Aufzeichnungen nicht zwischen Bedeutungswandel durch Metaphern (einer Übertragung auf Basis von Similarität) und dem Marking 330 (der mensch‐ lichen Fähigkeit, Kategorien zu erweitern). Unter seinen Metapher-Begriff fallen Übertragungen, bei denen teilweise die Etymologie nicht mehr zurückverfolgt werden kann, und nahe Analogien, die wohl eher dem Marking zuzuordnen sind. In den Beobachtungen stellt er aber vor allem den Geist und die Denk- und Imaginationsfähigkeit in den Vordergrund. Es geht um die Fähigkeit, Analogien zu erkennen und kreativ damit zu verfahren. Andererseits hat Leopardi selbst eine große Faszination für Analysen, die durch Zerteilung, Anordnung und Kombination von Elementen entstehen und seine Analyse der Sprache ist selbst bereits von der Vernunft diktiert. Dies zeigt sich nicht nur in der Zerlegung der Sprache in ihre Einzelteile und der Frage nach dem Ursprung der Paarung von Signifié und Signifiant: La stessa facilità e semplicità di metodo, e nel tempo stesso fecondità anzi infinità di risultati e combinazioni, che deriva dall’uso degli elementi nella scrittura e nell’arit‐ metica, anzi in tutte le operazioni della vita umana, anzi pure della natura […]; deriva anche dall’uso degli elementi nella lingua. (Zib. 807-808) [Dieselbe Mühelosigkeit und Einfachheit der Methode und gleichzeitig Fülle, sogar Unendlichkeit von Ergebnissen und Kombinationen, die sich aus dem Gebrauch der Elemente in der Schrift und in der Arithmetik, ja in allen Handlungen des menschlichen Lebens, ja sogar in der Natur selbst ergibt, entsteht auch aus dem Gebrauch der Elemente in der Sprache.] Das Zusammenspiel dieser Prozesse bestimmt seine Vorstellung einer Weltver‐ arbeitung. Indem er dann die Welt in ihre Elemente zerteilt, stellt er wiederholt Analogien zwischen Natur, Körper und Sprache etc. her. Entsprechend wird auch die Funktionsweise des menschlichen Körpers in Anlehnung an La Mett‐ rie’s L’homme machine  331 als Maschine beschrieben, also als materielles Wesen, 5.2 Die Palinodia al Marchese Gino Capponi 121 <?page no="122"?> 332 Zib. 1804. Zum wahrscheinlichen Einfluss von La Mettrie’s L’Homme machine auf Leopardi siehe: Daniela Bini (1983): S. 62-95. Es gibt keine Nachweise, dass Leopardi La Mettrie direkt kannte, belegt ist jedoch, dass ihm d’Holbach gut bekannt war, der stark von La Mettrie beeinflusst war. Vgl. ebd. S. 64-66. Strancati sieht in La Mettrie ebenfalls einen möglichen Einfluss auf Leopardis Konzept von Sprache und die Idee, dass Menschen und Tiere die gleichen Kapazitäten besitzen, der Mensch aber über mehr Zeichen verfüge und seine Zeichen arbitär sind. Vgl. Claudia Strancati: „The French Sources of Leopardi’s Linguistics“, in: Lia Formigari / Daniele Gambarara (Hrsg.): Historical Roots of Linguistic Theories, Amsterdam: John Benjamins 1995, S.-134-135. 333 Vgl. Sebastiano Timpanaro: Classicismo e illuminismo nell’ottocento italiano, S. 262; Franca Janowski: „Il piacere dell’immaginazione: visioni del sentire in Giacomo Leo‐ pardi e Lorenzo Magalotti“, in: Sebastian Neumeister (Hrsg.): Die ästhetische Wahrneh‐ mung der Welt: Giacomo Leopardi / Giacomo Leopardi e la percezione estetica del mondo, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2009, S. 153-158. Ebenfalls zu Leopardis Wissenschafts‐ verständnis: Giuseppe Invernizzi: „Leopardi, der antike und moderne Atomismus“, in: Marc Föcking (Hrsg.): Giacomo Leopardi. Dichtung und Wissenschaft im frühen 19.-Jahrhundert, Münster: Lit Verlag 2004, S.-71-90. in dem die unterschiedlichen physikalischen Einheiten zusammenwirken und in einer kausalen Relation zueinander stehen, denn „quanto il sistema nervoso influisca e modifichi tutta la macchina e la vita umana, ciascuno lo sperimenta“ 332 [jeder spürt, wie das Nervensystem die menschliche Maschine und das Leben beeinflusst und modifiziert]. Leopardi besitzt eine große Faszination für derar‐ tige Beobachtungen, betrachtet die Wissenschaft seiner Epoche aber als zu kleinteilig und zu eng strukturiert. Ihr fehlt die Freigeistigkeit und Originalität der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts. 333 So kann beispielsweise der Körper nach modernen Methoden zwar analysiert und in seine einzelnen Funktions‐ weisen unterteilt werden und dennoch bringt dies keine tieferen Erkenntnisse über seinen Inneren Kern. Stattdessen erscheint der analysierte Körper plötzlich tot: Io voglio anche supporre ch’egli arrivino colla loro analisi fino a scomporre e risolvere la natura ne’ suoi menomi ed ultimi elementi, e ch’egli ottengano di conoscere ciascuna da se tutte le parti della natura. Ma il tutto di essa, il fine e il rapporto scambievole di esse parti tra loro, e di ciascuna verso il tutto, lo scopo di questo tutto, e l’intenzion vera e profonda della natura, quel ch’ella ha destinato, […] la cagion finale del suo essere e del suo esser tale, il perchè ella abbia così disposto e così formato le sue parti, nella cognizione delle quali cose dee consistere lo scopo del filosofo, […] dico, è impossibile il ritrovarle e l’intenderle a chiunque colla sola ragione analizza ed esamina la natura. La natura così analizzata non differisce punto da un corpo morto. (Zib. 3238- 3239) [Ich bin bereit anzunehmen, dass es ihnen mit ihrer Analyse gelingt, die Natur in ihre Monome und kleinsten Elemente zu zerlegen und aufzulösen, und dass es ihnen 122 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="123"?> 334 Vgl. Michael Pauen: Pessimismus. Geschichtsphilosophie, Metaphysik und Moderne von Nietzsche bis Spengler, S.-17. 335 Henri Bergson: Matière et Mémoire, Paris: Quadrige 1982 93 , S.-21. gelingt, jeden Teil der Natur einzeln zu kennen. Aber das Ganze, seinen Zweck und das wechselseitige Verhältnis dieser Teile zueinander und eines jeden von ihnen zum Ganzen, den Zweck dieses Ganzen und die wahre, tiefe Absicht der Natur, was sie vorgesehen hat, die letztendliche Ursache ihres Seins und ihres Soseins, der Grund, warum sie ihre Teile so angeordnet und geformt hat, die Erkenntnis dieser Dinge ist das, worin das Ziel des Philosophen bestehen muss. Ich sage, dass diese Dinge von niemandem entdeckt und verstanden werden können, der die Natur allein mit der Vernunft analysiert und untersucht. Die so analysierte Natur unterscheidet sich nicht im Geringsten von einem Leichnam.] Der Moderne hat keinen Sinn mehr für das Lebendige und vertraut stattdessen auf seinen geschärften Blick und seinen Verstand. In der Wissenschaft ist Subjektivität entsprechend kein gültiges Kriterium mehr. In keinem Gedicht wird Leopardis Verhältnis zu seinem Materialismus deutlicher erläutert als in der Palinodia, da es die Widersprüchlichkeit zwi‐ schen Materialismus und der Subjektivität, die sich auch hinter dem Begriff Pessimismus verbirgt, 334 thematisiert. Ein Blick auf Bergsons Definition von Materialismus zeigt das Spannungsverhältnis, das Leopardis Werk prägt. In Matière et Mémoire, dessen Erstauflage 1896 in Paris erscheint, beschreibt er das Problem der Wahrnehmung der Welt. Laut Bergson können Dinge nur in Form von Bildern wahrgenommen werden, weshalb er Materie als die Gesamtheit all dieser Bilder definiert. Bergson denkt diese Bilder in Verbindung mit dem Leib, der ebenfalls als Bild gedacht werden muss, und auf den die anderen Bilder einwirken: Dies ist dann die Wahrnehmung. An der Frage, wie die Bilder dann verarbeitet werden, nimmt Bergson seine Unterscheidung in Idealisten und Materialisten vor: [L]es mêmes images puissent entrer à la fois dans deux systèmes distincts, l’un qui appartient à la science, et où chaque image, n’étant rapportée qu’à elle-même, garde une valeur absolue, l’autre qui est le monde de la conscience, et où toutes les images se règlent sur une image centrale, notre corps, dont elles suivent les variations. […] Et il est aisé de voir que l’idéalisme subjectif consiste à faire dériver le premier système du second, le réalisme matérialiste à tirer le second du premier. 335 [Dieselben Bilder können gleichzeitig in zwei deutlich unterschiedene Systeme eingehen; in eines, das der Wissenschaft (science) zugehört, wo jedes Bild, nur auf sich selbst bezogen, seinen absoluten Wert behält, und in ein anderes, in der Welt des 5.2 Die Palinodia al Marchese Gino Capponi 123 <?page no="124"?> 336 Übersetzung von Margarethe Drewsen. 337 Lettere, 24. Mai 1832, S.-1006 Bewußtseins (conscience), wo sich alle Bilder nach einem zentralen Bilde, unserem Leibe, richten, von dessen Veränderungen sie abhängen. Es ist leicht zu ersehen, daß der subjektive Idealismus sich dadurch kennzeichnet, daß er das erste System aus dem zweiten herleitet, während der materialistische Realismus das zweite auf das erste zurückführt.] 336 Aus dieser Unterscheidung ergibt sich, dass der materialistische Realist das Universum als eine Gesamtheit von Bildern betrachtet, die ohne Zentrum in Beziehung zueinander stehen. Die Bilder unterliegen den Naturgesetzen und ihre Abläufe folgen dem Ursache-Wirkung-Prinzip. Die Wahrnehmung des Subjekts ist ein getrenntes System, das als Teil dieses Universums existiert. Der Leib stellt zwar eine Relation zu diesen Bildern her und ordnet die Verhältnisse beständig neu, wenn sich etwas um ihn herum ändert, lässt jedes Bild aber für sich selbst stehen. Umgekehrt stellt der subjektive Idealist seine Wahrnehmung in das Zentrum des Systems. Sein Leib ist das bevorzugte Bild, nach dem er die Bilder ordnet. Bergsons Unterscheidung verdeutlicht Leopardis Position, die sich im Dilemma zwischen den beiden Wahrnehmungsformen befindet. Die Analogie zwischen Gott, Natur und Kind in der Palinodia und der Verweis auf eine teilnahmslose böse Natur verdeutlichen das ungleiche Kräftemessen. Leopardi weiß, dass sich das Subjekt nicht im Zentrum der Welt befindet und dennoch kann sich das Subjekt selbst nur im Zentrum sehen, um einen Sinn aus der Welt zu machen und die disparaten Elemente zusammenzufügen, weil der Einblick in die Ordnung der Dinge begrenzt ist. Der Begriff Pessimismus, der Leopardis Werk so häufig beschreibt, suggeriert, dass der subjektiven negativen Perspektive ein Anspruch auf Allgemeingültigkeit gegeben wird. Die ständige Wiederholung der Negativität, die Fokussierung auf das Individuum und zahl‐ reiche Passagen im Werk können einen derartigen Anspruch auf Wahrheit untermauern und brachten dem Dichter den Vorwurf ein, er verallgemeinere seine persönliche Situation. Hierzu äußert er sich in einem Brief an Louis de Sinner: [T]andis que de l’autre côté ce n’a été que par effet de la lâcheté des hommes, qui ont besoin d’être persuadés du mérite de l’existence, que l’on a voulu considérer mes opinions philosophiques comme le résultat de mes souffrances particulières […]. 337 [Während auf der anderen Seite, aufgrund der Feigheit der Menschen, die das Bedürfnis haben, von den Vorzügen des Daseins überzeugt zu werden, man meine philosophischen Ansichten als Ergebnis meiner besonderen Leiden ansehen wollte.] 124 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="125"?> 338 Poesie e Prose II, S.-213. 339 Friedrich Rapp: „Technik als Mythos“, in: Hans Poser (Hrsg.): Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, Berlin, u.a.: de Gruyter 1979, S.-113. Gegen eben diesen Verallgemeinerungsvorwurf wehrt sich Leopardi auch in der Palinodia: „Rise l’alta progenie, e me negletto | disse, o mal venturoso […] il proprio fato | creder comune, e del mio mal consorte | l’umana specie“ (V.9-13) [Das edle Geschlecht lachte und nannte mich vereinsamt oder unglücklich, ich betrachte das eigene Schicksal als allgemein und als meines Elends Gefährten die menschliche Gattung]. Einerseits wehrt sich Leopardi gegen Vorwürfe, die seine Überlegungen relativieren und auf eine subjektive Empfindung reduzieren. Andererseits erscheint es häufig so, als wäre das Gegenteil anzunehmen und als würde Leopardi auf einem faktenbasierten Wahrheitsanspruch verharren, der seiner Philosophie berechtigt Kritik einbringen würde. Ein weiteres Beispiel findet sich im Dialogo di Tristano e di un amico, der in vielerlei Hinsicht ähnlich gestaltet ist wie die Palinodie: Perchè in sostanza il genere umano crede sempre, non il vero, ma quello che è, o pare che sia, più a proposito suo. Il genere umano, che ha creduto e crederà tante scempiataggini, non crederà mai nè di non saper nulla, nè di non essere nulla, nè di non aver nulla a sperare. 338 [Denn letztendlich glaubt das Menschengeschlecht nie das Wahre, sondern das, was ihm am besten passt oder zu passen scheint. Das Menschengeschlecht, das so viel dummes Zeug geglaubt hat und weiter glauben wird, wird niemals glauben, dass es nichts weiß, nichts ist und nichts zu erhoffen hat.] Sein Wahrheitsbegriff ist jedoch selbst vollkommen ausgehöhlt und Affekte gehören in Leopardis Erkenntnisprozess zu den wichtigsten Kriterien (auch für seine philosophischen Texte). Durch seine poetische Ordnung versucht er, einen Weg außerhalb eines starren und rationalistischen Systems zu beschreiten. Die Vereinigung, die Leopardi hier eingeht, stellt seinen Kompromiss in einer Welt dar, in der nach der Trennung einer subjektiven Wahrnehmung und eines ob‐ jektiven Naturgeschehens die „spontane[…] Identifizierung von Ich und Welt“ 339 nicht mehr möglich ist. Der antike Mensch konnte durch die Imagination noch Einblicke in die Welt gewinnen: „E di che tratto innanzi, | se al moderno si opponga il tempo antico, | Filosofando il saper nostro è scorso“ (V.224-226) [Und wie fortschrittlich hat sich, wenn der modernen die alte Zeit widerspricht, unsere Weisheit beim Philosophieren entfernt]. Das moderne Subjekt kann gar nicht anders als sich selbst und sein Begehren in das kosmische Zentrum zu stellen, obwohl es weiß, dass ihm dieser Platz nicht zusteht. Dadurch generiert 5.2 Die Palinodia al Marchese Gino Capponi 125 <?page no="126"?> 340 Zib. 1650. 341 Dadurch unterscheidet sich Leopardis Imaginationsbegriff auch von einer supernatu‐ ralistischen Ästhetik. Vgl. zum Supernaturalismus die Bemerkung von Claude Pichois: „L’artiste compose en utilisant les éléments de la nature […] non pour reproduire ces éléments, mais pour traduire sa propre vision, pour la rendre visible […].“ Claude Pi‐ chois: „La Littérature française à la lumière du surnaturalisme“, in: Jean Leblon / Claude Pichois (Hrsg.): Le Surnaturalisme français. Hrsg. vom W. T. Bandy Center for Baudelaire Studies, Neuchâtel: La Baconnière 1979, S.-22. 342 „E un popolo di filosofi sarebbe il più piccolo e codardo del mondo. Perciò la nostra rigenerazione dipende da una, per così dire, ultrafilosofia, che conoscendo l’intiero e l’intimo delle cose, ci ravvicini alla natura“ (Zib. 115) [Und ein Philosophenvolk wäre das kleinlichste und feigste Volk der Welt. Deshalb hängt unsere Regeneration von einer sogenannten Ultraphilosophie ab, die uns durch die Kenntnis des Innersten und Intimsten der Dinge wieder an die Natur annähert]. es selbst einen Mangel. Nach der Entmythisierung der Natur stellt Leopardi an Dichter und Philosophen die Forderung, eine poetische Ordnung der Dinge zu entdecken, „scoprire i rapporti delle cose, anche i menomi, e più lontani, anche delle cose che paiono le meno analoghe“ 340 [Beziehungen zwischen Dingen zu entdecken, selbst zwischen den minimalsten und entferntesten, selbst zwischen den Dingen, die am wenigsten ähnlich erscheinen], und dabei stellt er die sub‐ jektive Wahrnehmung als dritte Komponente neben Imagination und Vernunft. Aus dieser Position heraus kann dann eine Vermittlung erfolgen, welche die viel beschworene Dichotomie aus Vernunft und Imagination, Philosophie bzw. Wissenschaften und Poesie durchbricht. Die Vernunft, als zersetzende Funktion, erhält einen Platz in einem System, in dem die einzelnen Elemente durch die Imagination wieder verbunden werden und sich damit einem Ganzen annähern, wenn dieses auch nicht erreicht werden kann und sich beständig wieder zersetzt. Der Philosoph teilt die Welt zwar durch seine Analysen, kann diese Trennung durch seine Hypothesen aber wieder überbrücken. Dabei ist es nicht seine Aufgabe, unumstößliche und objektiv gültige Wahrheiten zu finden, da ihm dies gar nicht möglich ist. Deutlich wird hier aber auch, dass Leopardi keine Richtung einschlägt, in der sich die Menschheit selbst einen Sinn gibt und sich kraft ihrer Imagination über die Begebenheiten erhebt. 341 Der Unterschied zwischen poetischem und philosophischem Denken wird hier überaus deutlich. In einem frühen Eintrag im Zibaldone (1820) prägt Leopardi hierfür den hochtrabenden Begriff ultrafilosofia, der hier noch eine Rückkehr zur Natur durch die Kenntnis des Innersten und Intimsten der Dinge („l’intiero e l’intimo delle cose“) propagiert. 342 Obwohl Leopardi den Begriff nicht erneut verwendet und Leopardis Verhältnis zur Natur an Ambivalenz zunimmt, hat die Forschung ihn mit Enthusiasmus aufgenommen. Bini stellt die fortentwickelte ultrafilosofia in Korrelation zu einem Nihilismus der ‚letzten 126 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="127"?> 343 Daniela Bini: „Giacomo Leopardi’s Ultrafilosofia“, in: Italica 74 (1997), S.-53. poetischen Phase’, der sich von einer positiven Natur vollständig entfernt hat und nur noch in der Negation Inspiration findet. Lyrik stände dann nicht mehr in Opposition zu einer Philosophie, die Täuschungen aufdeckt: „a poetry of nothingness - a poetry that finds its inspiring source and poetical voice in the very abyss and silence that philosophy has discovered […], it repeats the very activity of nature“. 343 Was von Bini als Radikalisierung einer Negativität verstanden wird, findet sich aber als Idee bereits im Bruto minore. Die Ambivalenz, die durch die nichtige Seite dieses fragilen Konstrukts entsteht, spiegelt sich in dem Kind. Kinder stellen eine letzte Ausnahme der illusionsbegabten Menschen dar, denn ihnen gelingt manchmal der Akt, spontan die Zusammenhänge zu erkennen, statt alles in seine Einzelteile zerlegt zu sehen: [L]a stessa facilità e forza eccessiva di attendere produce o include l’incapacità di attendere […] (come sempre il troppo dà origine o equivale e coesiste al nulla o alla sua qualità o cosa contraria); e l’eccesso della facoltà di attendere si riduce alla mancanza o alla scarsezza di questa facoltà […]. Ciò ha luogo principalmente, p. regola e ordine di natura, ne’ fanciulli. Laddove una sensazione ec. una sola volta ricevuta ed attesa, basta sovente alla reminiscenza anche più viva, salda, chiara, piena e durevole, essa medesima mille volte ripetuta e non mai attesa non basta alla menoma reminiscenza, o solo a una reminiscenza debole, oscura, confusa, scarsa, manchevole, breve e passeggera. (Zib. 3951). [Gerade die Mühelosigkeit und übermäßige Kraft, aufmerksam zu sein erzeugt oder enthält die Unfähigkeit, aufmerksam zu sein […] (wie immer führt das Übermaß zu oder ist gleichzusetzen oder koexistiert mit dem Nichts oder seiner entgegengesetzten Qualität oder Sache), und das Übermaß der Fähigkeit, aufmerksam zu sein reduziert sich auf den Mangel oder die beschränkte Natur dieser Fähigkeit. Dies geschieht hauptsächlich, gemäß der Regel und Ordnung der Natur, bei Knaben. Während eine Empfindung usw., auch wenn sie nur einmal empfangen und beachtet wurde, oft ausreicht, um eine Erinnerung hervorzurufen, die lebendig, fest, klar, voll und dauer‐ haft ist; dieselbe Empfindung, tausendmal wiederholt und nie beachtet, reicht nicht für die geringste Erinnerung oder nur für eine schwache, undeutliche, verworrene, begrenzte, fehlende, kurze und flüchtige Erinnerung.] Wie schon in der teoria del piacere fällt das Nichts mit seinem Gegenteil zu‐ sammen, wenn es ein Übermaß anstrebt oder erreicht. In diesem Fall ermöglicht es, den Eindruck zu produzieren, man könne durch den ziellosen Fokus etwas als Ganzes wahrnehmen und nicht in seinen Einzelteilen. Das Bild des Kindes in der Palinodia sperrt sich gegen einen linearen Wandel vom poetisch-imaginativen 5.2 Die Palinodia al Marchese Gino Capponi 127 <?page no="128"?> zum philosophisch-rationalen System. Die Analogie der erschaffenden Natur und Imagination wird in der Palinodia neben die Analogie der zerstörerischen Natur und Vernunft gestellt. 5.2.3 Gesellschaftskritik und die teoria del piacere Eindeutiger sind Leopardis Skepsis gegenüber einer positivistischen Wissen‐ schaft und die Medienkritik, die er in der Palinodia äußert. Auch der Vorbehalt gegenüber der Globalisierung und einer Technikeuphorie, die alle Probleme lösen soll, sind dem heutigen Leser nicht unbekannt. In seiner Gesellschafts‐ kritik unterstellt er seinen Zeitgenossen eine Form der Täuschung, die als Negativfolie zu Illusion verstanden werden kann. Tatsächlich greift er einen Diskurs auf, der - jenseits des düsteren Bildes einer hoffnungslosen Menschheit und dem Stilbild einer fortschrittsgläubigen Epoche - das Verhältnis des Individuums zum Staat aufgreift: […] Ma novo e quasi Divin consiglio ritrovàr gli eccelsi Spiriti del del secol mio: che, non potendo Felice in terra far persona alcuna, L’uomo obbliando, a ricercar si diero Una comun felicitade; e quella Trovata agevolmente, essi di molti Tristi e miseri tutti, un popolo fanno Lieto e felice: e tal portento, ancora Da pamphlets, da riviste e da gazzette Non dichiarato, il civil gregge ammira. (Palinodia, V.197-207) [Doch fanden zu einer neuen und gleichsam göttlichen Einsicht die großen Genien meines Jahrhunderts. Da sie auf Erden nicht einem Menschen zum Glück verhelfen können, ließen vom Menschen sie ab und begannen die Suche nach allgemeiner Glückseligkeit. Und die fanden sie ohne Mühe und machen nun aus vielen Betrübten und lauter Unglückseligen ein heiteres und glückliches Volk. Und solch ein Gottes‐ wunder, bisher von Magazinen, Pamphleten, Gazetten noch nicht erklärt, bestaunt die Herde der Bürger.] Koselleck beschreibt in Kritik und Krise die Haltung der kosmopolitischen Frei‐ maurer in Europa im 18. Jahrhundert, die sich gegen Staat, Stände und Religion wendeten und das totale Glück anstrebten, das sie als Summe aller glücklichen 128 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="129"?> 344 Rainhart Koselleck: Kritik und Krise, S.-68-74. 345 Gotthold Ephraim Lessing: Sämmtliche Schriften, Bd. 10, hrsg. v. Karl Lachmann, Berlin: Voss 1839, S.-264. 346 Alain Desrosières: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Heidelberg: Springer 2005, S, 59. 347 „Das Dilemma ist, dass die berechtigte Kritik einer Messung meist nicht ohne Bezug auf das heutzutage allgemein nicht mehr akzeptierte ‚Wesen‘ einer zu messenden Eigenschaft auskommt und dass sie deshalb […] oft unterbleibt. […] die Spekulation über die wahre Natur, das ‚Wesen‘ einer Sache wird heute fast einhellig abgelehnt. Der naheliegende Grund ist, dass es unklar und höchst umstritten ist, ob und wie man das ‚Wesen‘ einer Sache erfassen kann.“ Peter von der Lippe: „Die Manie, für alles Zahlen und Statistiken haben zu müssen. Über Messbarkeit, Rankingmethoden und den geistlosen Umgang mit Signifikanztests“, in: IBES Diskussionsbeitrag 219 (2016), htt Individuen betrachteten: 344 „Jede andere Glückseligkeit des Staats, bei welcher auch noch so wenig einzelne Glieder leiden, und leiden müssen, ist Bemäntelung der Tyrannei. Anders nichts! “ erklärt Lessings Falk im zweiten Gespräch mit Ernst. 345 Diese Idee birgt jedoch Gefahren, denn wie soll das allgemeine Glück bemessen werden? Dem Ideal steht deshalb eine Beschreibung der Welt durch Messungen und Statistiken gegenüber, welche die Illusion des totalen Glücks erwecken kann. Durch den Fokus auf eine Gruppe oder gar auf die Nation, kann das Individuum komplett vernachlässigt werden. Bis heute beschäftigt uns deshalb die Frage, welche Bedeutungen Statistiken für das Individuum haben. Was repräsentieren Statistiken, Messungen und Analysen? In seiner Geschichte der statistischen Denkweise - um kurz den poetisch-philosophischen Diskurs zu verlassen - greift Desrosières die Frage auf, wie in unterschiedli‐ chen Denkrichtungen die Neuinterpretation von Objekten vonstattengeht. Der moderne Wissenssoziologe ist, laut Desrosières, gefragt, einen wissenschaftli‐ chen Objektivismus, der Fakten als objektive Fakten betrachtet, mit einem Relativismus zu verbinden, der die Existenz von Objekten von kontingenten Situationen abhängig macht, die auf Konventionen basieren. 346 Nicht nur eine einzige objektive Wahrheit kann den Daten entnommen werden. Desrosières erwähnt in diesem Zusammenhang, dass die Wissenschaft des 17. Jahrhunderts ihre Absicherung gegen Unwissenheit in der Religion gefunden hat, während sich die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts durch einen Glauben an die Quanti‐ fizierung absichert. Selbst aus den Fachrichtungen, die von Statistik abhängen, wird mittlerweile Kritik gegen diese Praxis lauter. Gerade die Skepsis gegenüber der Erkennbarkeit des Wesens der Dinge soll jedoch überhaupt erst dazu geführt haben, dass Kritik an der Notwendigkeit einer Messung schwierig sein kann und im ungünstigsten Fall gelten deshalb nur noch Werte, die quantifizierbar sind. 347 Während es fraglich ist, was eine Statistik über das Individuum aussagen kann, ist gewiss, dass sich Statistiken auf das Individuum auswirken können: 5.2 Die Palinodia al Marchese Gino Capponi 129 <?page no="130"?> ps: / / www.wiwi.uni-due.de/ fileadmin/ fileupload/ WIWI/ Forschung/ IBES_Diskussionbe itraege/ IBES-Beitrag_Nr._219_online.pdf (zuletzt aufgerufen am: 01.02.2023). 348 Alain Desrosières: Die Politik der großen Zahlen, S.-3. 349 Hierzu vor allem: Alexander Bogner: Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet, Ditzingen: Reclam 2021. 350 Hierzu vor allem: Geoffrey C. Bowker und Susan Leigh Star: Sorting Things Out: Classification and Its Consequences, Cambridge: MIT Press 2000. 351 Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmo‐ derne, Berlin: Suhrkamp 3 2019, S.-15. 352 Lettere, 24 Luglio 1828, A Pietro Giordani, S.-839-840. „Auf diesem Untersuchungsgebiet geht es um die Interaktion zwischen der Welt des Wissens und der Welt der Macht, zwischen Beschreibung und Entscheidung, zwischen ‚es gibt‘ und ‚wir müssen‘.“ 348 Wie Statistiken erhoben und ausgewertet und welche Entscheidungen auf Basis der Ergebnisse getroffen werden, kann sich in einem Machtdiskurs auf die Realität des Individuums auswirken. In der Politik verspricht eine Epistemokratie, Probleme sachlich bewerten zu können, und präsentiert sich dabei alternativlos. 349 Aber auch Kategorisierungen, die im Stillen alle Bereiche unserer Welt organisieren, entscheiden häufig über die Frage, wer profitiert und wer verliert, ohne dabei selbst hinterfragt zu werden. 350 Dennoch darf die Fortschrittlichkeit von Leopardis kritischem Denken hier nicht überschätzt werden, da seine Kritik eher intuitiv ist und sie nachträglich aus seinen Schriften rekonstruiert werden muss. Auch sein Festhalten an Imagination und Illusionen dürfte den meisten heutigen Soziologen eher fremd sein: „Illusionslosigkeit kann eine Tugend sein, die einen nüchternen Realismus ermöglicht und einen Raum für die Analyse eröffnet.“ 351 Leopardis Konflikt mit seiner Epoche entzündet sich, wie auch im Bruto minore, an der Frage, wie das Individuum zum Ganzen steht. Für ihn sind Statistiken bedeutungslos, da sie das Individuum nicht ins Auge fassen können: „[Q]ueste discipline secchissime […] anche ottenendo i loro fini, gioverebbe pochissimo alla felicità vera degli uomini, che sono individui e non popoli“ 352 [Diese sehr trockenen Disziplinen, selbst wenn sie ihren Zweck erfüllten, würden dem wahren Glück der Menschen, die ja Individuen sind und keine Völker, nur wenig dienen]. Das versprochene universelle Glück, das nur durch die Interpretation einer Statistik herbeigeführt werden kann, ist bei Leopardi die ironische Verkehrung des kollektiven Glücks, das dem antiken Zufluchtsort vergönnt war. Das autoritative Potential des Diskurses greift das lyrische Ich der Palinodia wiederholt ironisch in der Gedankenfigur auf, dass die gesellschaftlichen Au‐ toritäten seiner Epoche keine Gegenmeinungen zuließen, obwohl sie selbst ständig an neue Wahrheiten glauben, dies aber selbst nicht realisieren. Er unterstellt, seine Position nicht frei äußern zu können: „Intolleranda | parve, 130 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="131"?> 353 Vergil: Hirtengedichte. Bucolica. Landwirtschaft. Georgica, hrsg. u. übersetzt v. Niklas Holzberg, Berlin: de Gruyter 2016, S. 68-69. In der vierten Ekloge wird die Geburt des Göttlichen Knaben prophezeit, die Rückehr des Goldenen Zeitalters und Iustitia. Unter Göttern und Helden soll der Knabe leben (laut Lefèvre unterscheidet Vergil nicht zwischen dem Goldenen und dem Heroischen Zeitalter) und die Welt in Frieden regieren. Nach den Erzählungen von den einzelnen Lebensphasen des Knaben wird er in einer Apostrophe aufgefordert, seiner Mutter zuzulächen, und darf nun am Tisch der Götter speisen. Zum Bezug der Ekloge zu Augustus siehe: Eckard Lefèvre: „Catulls Parzenlied und Vergils vierte Ekloge“, in: Philologus 144 (2000), S. 62-80. „Das Eiserne Zeitalter mit den Bürgerkriegen wird abgelöst durch das von Oktavian heraufgeführte und von seinem Sproß in Zukunft weitergeführte Goldene Zeitalter, in dem eine neue Generation leben wird“ (S. 73). Leopardi äußert sich nicht zu der Rolle, die Vergil in der Mythos-Bildung um Augustus einnimmt. e fu, la mia lingua“ (V.4-5) [Unerträglich erschien, und war in der Tat, meine Sprache]; „però, se nominar lice talvolta | con proprio nome il ver“ (V.190-191) [doch wenn es erlaubt ist, gelegentlich einmal die Wahrheit beim Namen zu nennen]; „al secol proprio vuolsi | non contraddir, non repugnar, se lode | cerchi e fama“ (V.246-248) [man will der eigenen Zeit durch Widerspruch nicht lästig werden, wenn man Lob bei ihr sucht und Ruhm]. Mit dieser rhetorischen Formel werden der gegenpositionierten Meinung dogmatische und autoritäre Züge zugesprochen, die keine andere Position zulassen; wissenschaftlichen Diskursen wirft er eine Blindheit gegenüber ihren eigenen Praktiken vor. Die Annahme, die Oberhand über den Diskurs zu haben, ordnet Leopardi dem Glauben zu. Während Brutus im Bruto minore den Kampf gegen das Schicksal verkörpert, welches sich vom Helden abgewandt hat, wird in der Palinodia vom Zeitungswesen das „aureo secolo“ (V.38) [Goldene Zeitalter] ausgerufen, in dem sich die Menschheit über das Schicksal erhoben hat und sich durch eigene Kraft von ihren Leiden befreit hat. Die Helden dieser Zeit kennzeichnet Leopardi durch ihre modischen Bärte, „barbati eroi“ (V.265) [bärtige Helden] und setzt sie durch die Verbindung mit der Mode auch bildlich der Sprunghaftigkeit und Schnelllebigkeit aus. Sie versprechen Italien endlich wieder zur Größe zu verhelfen: „All’ ombra de’ tuoi velli | Italia crescerà, crescerà tutta | Dalle foci del Tago all’Ellesponto | Europa, e il mondo poserà sicuro.“ (V.267-270) [Im Schatten der Bärte wird Italien wachsen, wird von der Mündung des Tajo bis hin zum Hellesponte Europa wachsen und sichere Ruhe finden die Welt]. Die Menschheit entwickelt sich nun unentwegt „di meglio in meglio“ (V.52) [vom Besseren zum Besseren], also linear nach oben. Leopardi greift erneut ein Motiv von Vergil auf, diesmal aus der vierten Ekloge der Bucolica, in der das ‚Goldene Zeitalter‘ prophezeit wird, „incipe, parve puer, risu cognoscere matrem“ 353 (Ekloge IV, V.60) [Kleiner Knabe, beginn zu erkennen die Mutter durch Lachen]. Der Vers wird persifliert, indem das prophezeite Kind zum allgemeinen Nachwuchs der 5.2 Die Palinodia al Marchese Gino Capponi 131 <?page no="132"?> 354 Blasucci liest die Palinodia und die Referenz auf Vergils Prophezeihung als „sermone sa‐ tirico“. Vgl. Luigi Blasucci: „Modalità satiriche della Palinodia“, in: Sebastian Neumeister (Hg.): Leopardi in seiner Zeit. Leopardi nel suo tempo. Tübingen: Stauffenburg 1995, S.-129-131. 355 Begriffe wie System oder Theorie finden sich häufiger in Leopardis Werk. Sie stehen in einem Spannungsverhältnis zu den labyrinthischen Strukturen seines Denkens. Franco D’Intino zeigt dies am Beispiel der Operette Morali. Vgl. Franco D’Intino: „La prosa“, in: Leopardi, a cura di Franco D’Intino e Massimo Natale, Roma: Carocci 2018, S.-90-95. 356 Vgl. Antonio Prete: ll pensiero poetante, S.-13. 357 Im Zibaldone wird die Theorie im indice unter diesem Titel aufgeführt. Leopardi verwendet selbst den Titel in der Erweiterung von 1821. 358 Leopardi verwendet die Begriffe felicità und piacere ohne Trennschärfe. Menschheit ausgedehnt wird und das lyrische Ich die Kinder tröstet, sie müssten sich nicht vor den Bärten fürchten, die ihre Zukunft sichern, und sollten ihnen ein Lächeln schenken: 354 E tu comincia a salutar col riso Gl’ispidi genitori, o prole infante, Eletta agli aurei dì: nè ti spauri L’innocuo nereggiar de’ cari aspetti. (V.210-274) [Und du beginne, lächelnd zu begrüßen die borstigen Erzeuger, o Säuglingsvolk, auserlesen zu goldenen Tagen, und fürchte dich nicht vor der harmlosen Schwärze der lieben Gesichter.] Das Individuum bleibt gemäß Leopardis Verständnis vom Begehren jedoch zwangsläufig unglücklich, da der Mangel, der in ihm besteht, nicht von äußeren Gütern gefüllt werden kann. Leopardis Theorien zur Abwesenheit bzw. zum Mangel betreffen an erster Stelle die Fähigkeit, Glück zu empfinden. Hierzu entwirft er im Zibaldone eine Lustbzw. Unlust-Theorie: die teoria del piacere. Der Begriff teoria ist irreführend, da er auf ein striktes philosophisches System schließen lässt, und entbehrt dadurch auch nicht einer gewissen Ironie. 355 Leopardi benutzt den Begriff zwar selbst, er entspricht jedoch nicht dem offenen und unabgeschlossenen Charakter dieser Denkbewegung. Tatsächlich handelt es sich um eine Reihe von Essays und Fragmenten, die Leopardi über Jahre hinweg verfasst hat und die erst im Anhang des Zibaldone unter dem Begriff zusammengeführt wurden. 356 Hinter dem positiv klingenden Begriff steht der Grundgedanke, dass jedes Begehren seine negative Seite bereits in sich trägt. Leopardis Glückstheorie ist also vielmehr eine Unglückstheorie, die er bereits 1920 im Zibaldone formuliert. 357 Demnach verspürt der Mensch ein ständiges Begehren nach Glück und Lebensfreude, 358 das niemals erfüllt werden kann, 132 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="133"?> 359 Vgl. Antonio Prete: Il pensiero poetante, S.-36-47. 360 Zib. 166. da es sich um ein unlimitiertes Begehren handelt. Dieses Phänomen erklärt er anhand des Wunsches, ein Pferd zu besitzen: Se tu desideri un cavallo, ti pare di desiderarlo come cavallo, e come un tal piacere, ma in fatti lo desideri come piacere astratto e illimitato. Quando giungi a possedere il cavallo, trovi un piacere necessariamente circoscritto, e senti un vuoto nell’anima, perchè quel desiderio che tu avevi effettivamente, non resta pago. Se anche fosse possibile che restasse pago per estensione, non potrebbe per durata, perchè la natura delle cose porta ancora che niente sia eterno. (Zib. 165-166) [Wenn du dir ein Pferd wünschst, erscheint es dir, als würdest du es dir als ein Pferd wünschen und als eine bestimmte Lust, aber tatsächlich sehnst du dich nach einer abstrakten und grenzenlosen Lust. Wenn du schließlich in den Besitz eines Pferdes gelangst, erlebst du natürlich nur eine begrenzte Lust und du fühlst eine Leere in der Seele, denn der Wunsch, den du hattest, bleibt letztlich unerfüllt. Auch wenn es möglich wäre, dass er in seinen Ausmaßen erfüllt würde, könnte er nicht dauerhaft erfüllt werden, denn die Natur der Dinge bringt mit sich, dass nichts ewig ist.] Das abstrakte Begehren kann nicht durch den Besitz eines konkreten und materiellen Pferdes gestillt werden. In seiner realen Form ist das Pferd begrenzt und löst dadurch lediglich eine begrenzte Freude aus. Eine Freude könnte nur unbegrenzt sein, wenn sie unendlich in Ausmaß und Dauer wäre, weil das Begehren nach Unendlichkeit strebt. Da kein reales Objekt diesen Ansprüchen genügt, kippt die erwartete Freude im Moment der nur scheinbaren Erfüllung in ihr Gegenteil. Der unerfüllte Wunsch („non resta pago“) hinterlässt ein Gefühl der Leere. Leopardi fasst Glück also unter die Leitdifferenz Lust | Unlust. Das konkrete Pferd verdeutlicht, wie limitiert jede Freude im Leben ist, da keine vollständige Erfüllung möglich ist. Zum Begehren gehört also dazu, dass sein Ende immer bereits antizipiert wird. 359 Ein Befund, der sich auch in allen Überlegungen zur unbeschwerten Jugend wiederfindet, die zwangsläufig irgendwann endet. Was der Mensch aber begehrt, ist die Lebenslust an sich: „Il fatto è che quando l’anima desidera una cosa piacevole, desidera la soddisfazione di un suo desiderio infinito, desidera veram. il piacere e non un tal piacere“ 360 [Es ist so, dass die Seele, wenn sie eine angenehme Sache begehrt, sich nach einem unendlichen Vergnügen sehnt; sie begehrt eigentlich die Lust und nicht irgendeine Lust]. Etwas, das unendliche Lust auslöst, müsste also zu einer vollständigen und dauerhaften Befriedigung führen. Wie absurd die Idee des vollständig erfüllten Begehrens an sich eigentlich ist, wird in Straparolas Märchen 2.4 361 deutlich, in der sie instrumentalisiert wird, um die Unersättlichkeit mancher Frauen anzumahnen. 5.2 Die Palinodia al Marchese Gino Capponi 133 <?page no="134"?> 361 Giovan Francesco Straparola: Le piacevoli notti, a cura di Donato Pirovano, 2. Bd., Roma: Salerno 2000. 362 In Machiavellis Novelle Belfagor arcidiavolo, die ebenfalls den Stoff der Folklore behandelt, ist die Handlung plausibler. Die Ehefrau von Belfagor und ihre gesamte Familie nehmen den Teufel, der seiner geliebten Frau alle Wünsche erfüllen will, so lange aus, bis er vor seinen Gläubigern aus Florenz fliehen muss. Niccolò Machiavelli: Belfagor arcidiavolo, Genova: il melangolo 2007. In der Novelle betritt der Teufel die Erde und geht den Bund der Ehe ein, um die Klagen der zahlreichen Ehemänner zu prüfen, die ihren Platz in der Hölle auf ihre gierigen Frauen zurückführen. Kaum verheiratet, versucht der Teufel das Problem der zahlreichen Wünsche in einer Ehe zu umgehen, indem er von seiner Ehefrau verlangt, dass sie all ihre Wünsche auf einmal nennt und er jeden davon erfüllen wird. Danach wird sie ihn jedoch nie wieder um etwas bitten dürfen. Obwohl sie sich alles Erdenkliche wünscht und zeitweise tatsächlich zufrieden ist, bricht sie schließlich das Abkommen, denn neue Moden wecken neue Begehren. Sie sieht jetzt alles Neue, was ihr fehlt, und was sie hat, genügt nicht mehr. Ein zweites Mal darf sie Wünsche nennen, aber auch jetzt ist die Befriedigung von kurzer Dauer und mit ihren neuen Begehren schlägt sie den Teufel letztlich in die Flucht. Er zieht die Hölle der Unersättlichkeit (s)einer Frau vor. 362 Demnach ist das Begehren der Motor, der den Menschen beständig antreibt, und dieses wird in der Palinodia durch das Treiben in den Kaffeehäusern symbolisiert, die wechselnden Meinungen und ebenfalls durch das Kind. Glück ist dann eine Illusion. Ironisch wendet sich das lyrische Ich gegen den Vorwurf jener Zeitgenossen, die ihm lediglich mangelnde Kompetenz in der persönlichen Lebensführung vorwerfen, „di piaceri | o incapace o inesperto“ (V.9-10) [zu genießen unfähig oder unbedarft]. Sie wollen sich nicht damit abfinden zum Unglücklich-Sein verdammt zu sein, und fordern stattdessen eine progressive Haltung und ein Fortschrittsnarrativ von dem Dichter: Un già de’ tuoi, lodato Gino; un franco Di poetar maestro, anzi di tutte Scienze ed arti e facoltadi umane, E menti che fur mai, sono e saranno, Dottore, emendator, lascia, mi disse, I propri affetti tuoi. Di lor non cura Questa virile età, volta ai severi Economici studi, e intenta il ciglio Nelle pubbliche cose. Il proprio petto Esplorar che ti val? Materia al canto Non cercar dentro te. Canta i bisogni 134 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="135"?> 363 Dialogo di Timandro e di Eleandro, Poesie e Prose II, S.-179-180 364 Lettere, 24 luglio 1828, A Pietro Giordani, S.-839. 365 Ebd. Del secol nostro, e la matura speme. (Palinodia, V.227-238) [Einer der Deinen, gepriesener Gino, ein kühner Meister der Dichtkunst, nein, aller Wissenschaften, Künste und menschlichen Fähigkeiten, die es je gab und gibt und geben wird, ein Doktor, ein Weltverbesserer, sagte mir einst: „Lass doch die eigenen Gefühle beiseite! Sie kümmern diese männliche Zeit nicht, die sich mit ernster ökonomischer Arbeit befasst. Sie richtet den Blick auf Gesellschaftsprobleme! Die eigene Brust zu durchforschen, was bringt es? Stoff für Gedichte such nicht in dir selbst! Von den Bedürfnissen unseres Zeitalters singe und von der reifenden Hoffnung.] Eine Ideologie im Namen des Staates, der zukünftigen Generationen oder einer größeren Zukunftsutopie ist für Leopardi aber nicht zulässig und auch eine dialektische Vermittlung kennt er in diesem Fall nicht. Der sezierende Blick auf die Politik, Gesetze und Zahlen entfernt den Fokus von antipessimistischen Strategien, die das Leid lindern könnten oder zumindest davon ablenken: „[S]’ingannano grandemente quelli che dicono e predicano che la perfezione dell’uomo consiste nella conoscenza del vero“ 363 [Sie betrügen sich im großen Stil, jene, die sagen und predigen, dass die Perfektion des Menschen in der Kenntnis der Wahrheit liege]. In diesem Perfektionswahn haben sie den Sinn für „gli studi del bello, gli affetti, le immaginazioni, le illusioni“ 364 [die Studien des Schönen, die Affekte, die Imagination, die Illusionen] verloren: In fine mi comincia a stomacare il superbo disprezzo che qui si professa di ogni bello e di ogni letteratura: massimamente che non mi entra poi nel cervello che la sommità del sapere umano stia nel saper la politica e la statistica. Anzi, considerando filosoficamente l’inutilità quasi perfetta degli studi fatti dall’età di Solone in poi per ottenere la perfezione degli stati civili e la felicità dei popoli, mi viene un poco da ridere di questo furore di calcoli e di arzigogoli politici e legislativi […]. Così avviene che il dilettevole mi pare utile sopra tutti gli utili, e la letteratura utile più veramente e certamente di tutte queste discipline secchissime […]. 365 [Letztlich beginnt die stolze Verachtung, die hier für alle Schönheit und alle Literatur bekundet wird, mich anzuwidern: zumal es nicht in meinen Verstand eindringen will, dass der Gipfel des menschlichen Wissens in der Kenntnis von Politik und Statistik liegen soll. Im Gegenteil, bei der philosophischen Betrachtung der fast vollkommenen Nutzlosigkeit der Studien, die seit dem Zeitalter Solons durchgeführt wurden, um die Vollkommenheit der bürgerlichen Staaten und das Glück der Völker zu erreichen, 5.2 Die Palinodia al Marchese Gino Capponi 135 <?page no="136"?> 366 Marx verweist 1848 in seiner Rede zum Freihandel darauf, dass eine kosmopolitische Politik und Wirtschaft nicht zu mehr Brüderlichkeit oder, wie Leopardi es nennt, universal amor [allumfassende Liebe], führt: „Die Brüderlichkeit, welche der Freihandel zwischen den verschiedenen Nationen der Erde stiften würde, wäre schwerlich brü‐ derlicher; die Ausbeutung in ihrer kosmopolitischen Gestaltung mit dem Namen der allgemeinen Brüderlichkeit zu bezeichnen ist eine Idee, die nur dem Schoß der Bourgeoisie entspringen konnte. Alle destruktiven Erscheinungen, welche die freie Konkurrenz in dem Innern eines Landes zeitigt, wiederholen sich in noch riesigerem Umfange auf dem Weltmarkt. Wir brauchen uns nicht länger bei den Sophismen aufzuhalten, welche die Freihändler über diesen Gegenstand ausspielen […].“ Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, Bd. 4, Berlin: Dietz 1977, S. 456. Leopardi, der mit seiner aristokratischen Haltung sicherlich kein Anhänger des Marxismus gewesen wäre, teilt mit Marx die Kritik an der Illusion, die gesellschaftliche Strukturen unkenntlich macht und beschönigt. muss ich ein wenig über diese Raserei der Berechnungen und der politischen und legislativen Erfindungen lachen. So kommt es, dass mir das Angenehme vor allem Nützlichen nützlich und die Literatur wahrhaftiger und gewiss nützlicher erscheint als all diese sehr trockenen Disziplinen.] Zusätzlich zu dem Bewusstseinswandel, den Leopardi hier nachzeichnet, hat das Zeitalter eine Reihe an Gütern hervorgebracht, die das Leben angenehmer ge‐ stalten. Alle Gesellschaftsschichten genießen nun gemeinsam die irdischen An‐ nehmlichkeiten: „Universale amore, | ferrate vie, moltiplici commerci“ (V.42-43) [Allumfassende Liebe, Eisenbahnen und mannigfache Geschäfte]; „Più molli […] le vesti | o di lana o di seta […]. Meglio fatti al bisogno, o piú leggiadri | certamente a veder, tappeti e coltri, | seggiole, canapé, sgabelli e mense, | letti, ed ogni altro arnese“ (V.109-118) [Weicher die Kleider aus Wolle oder Seide. Besser gestaltet für den Bedarf oder hübscher doch im Design werden sicher Teppiche, Decken, Stühle und Kanapees und Hocker und Tische, Betten und andere Geräte die Wohnungen schmücken]. Dafür nehmen sie Kolonialismus, Handelskriege (V.55-81) und epidemische Krankheiten, wie die Cholera (V.44) in Kauf. 366 Für Leopardi sind diese Fortschritte bedeutungslos, da die Annehmlichkeiten und Güter, gemäß seiner teoria di piacere, die Freude nicht erfüllen können, die sie versprechen, und dadurch echtes Glück nicht steigern können. Beschrieben wird hier eine Gesellschaftsform, die von der Illusion des Fortschritts abhängt. Die Täuschung, der seine Zeitgenossen aufgesessen sind, steht in einem rollen‐ verkehrten Verhältnis zu der Illusion, die Leopardi besingt. Leopardi deutet die Orientierung seiner Zeitgenossen zur Orientierung am Nichts um. Während Leopardi also im Bruto minore das Seiende im Nicht-Seienden und dessen Fragilität erforscht, wird hier auf das Nicht-Seiende im Seienden verwiesen. 136 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="137"?> Die Haltung der Zeitgenossen wird in dem ironischen Irrtumsbekenntnis als Tugend, Verstand und Weisheit bezeichnet: […] Vidi l’eccelso Stato e il valor delle terrene cose, E tutto fiori il corso umano, e vidi Come nulla quaggiù dispiace e dura. Nè men conobbi ancor gli studi e l’opre Stupende, e il senno, e le virtudi, e l’alto Saver del secol mio.-[…] (Palinodia, V.22-28) [Ich begriff und erkannte die allgemeine Fröhlichkeit und die Freuden, die den Menschen bestimmt sind, erkannte den hehren Zustand und den Wert der irdischen Dinge, sah blütenbedeckt die menschliche Bahn und begriff es: Nichts hienieden missfällt uns und dauert ewig. Nicht minder begriff ich das Wunder der Wissen‐ schaften, der Technik und den Verstand und die Tugend und die tiefe Weisheit meines Jahrhunderts.] Ebenso wird Leopardis Credo, dass alles vergänglich ist und ins Nichts zurück‐ kehrt, ironisch umgedeutet auf die Schnelllebigkeit seiner Zeit, die von den Zeitgenossen gepriesen wird. An dem Vers wird die wertende Komponente von Leopardis Ewigkeitsdiskurs sichtbar. Der Aufstieg der Zeitung zum Massenme‐ dium hat die Meinungsbildung beschleunigt. ‚Wahre‘ Tugend, so wie Leopardi sie versteht, ist zum Scheitern verurteilt. Valor vero e virtù, modestia e fede E di giustizia amor, sempre in qualunque Pubblico stato, alieni in tutto e lungi Da’ comuni negozi, ovvero in tutto Sfortunati saranno, afflitti e vinti; Perchè diè lor natura, in ogni tempo Starsene in fondo. Ardir protervo e frode, Con mediocrità, regneran sempre, A galleggiar sortiti. Imperio e forze, Quanto più vogli o cumulate o sparse, Abuserà chiunque avralle, e sotto Qualunque nome. […] (Palinodia, V.69-80) [Wahrer Wert und Tugend, Bescheidenheit, Treue und Gerechtigkeitsliebe werden immer, in jeder Gesellschaftsform, entschieden und gründlich gemeine Geschäfte verschmähen oder gründlich ins Unglück verstrickt, gedemütigt und unterdrückt. Deshalb bestimmte Natur sie, stets am Boden zu bleiben. Anmaßende Dreistigkeit und 5.2 Die Palinodia al Marchese Gino Capponi 137 <?page no="138"?> 367 Eine Politik, die die Interessen des Individuums vertreten kann, ist der Leitgedanke von Leopardis politischen Ideen. Siehe hierzu: Alessandra Mirra: „‚Nazioni senza canti e senza eroi‘. Politics and literature in Leopardi’s ‚Zibaldone‘“ in: Leopardi: immaginazione e realtà a cura di Alessandra Mirra, Venezia: Marsilio 2015, S.-63-76. 368 Inno ai patriarchi, V.11-12. 369 Dialogo della Natura e di un Islandese, Poesie e Prose II, S.-81. Tücke, gepaart mit Mittelmaß, werden immer herrschen, sind auserwählt, oben zu schwimmen. Herrschaft und Macht, wie geballt oder wie zersplittert sie seien, wird jeder missbrauchen, der sie besitzt, welchen Namen immer sie tragen.] Der Zweifel an einer politischen Handlungsfähigkeit, die dem Individuum zugutekommt, betrifft jetzt nicht nur die Gegenwart, sondern jegliche Regie‐ rungsform. 367 Die zweite große Illusion des Bruto minore - die gloria - gebührt jetzt nur noch dem Schmeichler: Chiaro oggimai ch’al secol proprio vuolsi, Non contraddir, non repugnar, se lode Cerchi e fama appo lui, ma fedelmente Adulando ubbidir: così per breve Ed agiato cammin vassi alle stelle. (Palinodia, V.246-250) [Man will der eigenen Zeit durch Widerspruch nicht lästig werden, wenn man Lob bei ihr sucht und Ruhm, man muss ihr getreulich mit Schmeichelworten willfahren: Denn so gelangt man bequemen Schrittes in Kürze hinauf zu den Sternen.] Ebenso wird der antico error  368 - ursprünglich die Entfremdung von der Natur - nun zur eigenen Verirrung umgedeutet und ironisch widerrufen. Die anthro‐ pozentristische Vorstellung, dass die Natur beherrschbar sei, wird als Arroganz seiner Epoche dargestellt. Ein solches Denken verschleiert das eigene rastlose Treiben. Im düsteren Bild des Knaben, der sein Spielzeug zerstört, kommt die zeitliche Dimension des Individuums wie auch der Menschheit und schließlich auch des Universums zum Ausdruck. Leopardi knüpft hier sowohl an seine Theorien zur Materie als auch an seine anthropologischen Theorien zum Verfall an. Der Mensch existiert ohne causa finalis, da sein einziger Zweck in der Schöpfung besteht und diese bereits abgeschlossen ist: „Immaginavi tu forse che il mondo fosse fatto per causa vostra? “ 369 [Hast du dir etwa eingebildet, die Welt sei für euch geschaffen worden? ] Das Kind sei im Gegensatz zum Erwachsenen nicht an Erhaltung interessiert. Diesen Unterschied erklärt er nicht nur durch die unterschiedlich ausgeprägte Lebenserfahrung, sondern durch den Instinkt: Pare che la fanciullezza e la gioventù abbia ingenita e naturale una inclinazione a distruggere, e la età matura e avanzata, a conservare. […] Un fanciullo e un 138 5 Haltung - Der Einzelne und das Ganze <?page no="139"?> 370 Siehe hierzu Nahens Zusammenfassung in dem Kapitel „Glaubenswahrheiten und andere Lügen“. Christof Nahen: Leopardi - Variationen über Poetik als Kulturkritik, Aachen: Shaker 2002, S.-311-328. giovane spessissime volte si piglierà piacere di uccidere una mosca o altro animaletto, cacciandolo anco con fatica, senza altra ragione o altro fine che di prendersi gusto; rarissime volte si compiacerà, o gli verrà pure in capo, di salvar qualche animale, vedendolo in pericolo, e potendolo salvar senza affaticarsi. Un uomo maturo o un vecchio rare volte si piglierà diletto di uccidere, spesso si compiacerà di salvare tali creature, vedendole in qualche pericolo di perdersi, e potendo massimamente soccorrerle senza suo disagio. (Zib. 4231-4232) [Es scheint, als habe die Kindheit und die Jugend eine angeborene und natürliche Neigung, zu zerstören und das reife und fortgeschrittene Alter zu bewahren. Ein Knabe und/ oder ein Jugendlicher haben sehr häufig Lust am Töten einer Fliege oder eines kleinen Tiers, es sogar mit großer Mühe zu jagen, und zwar ohne einen anderen Grund oder zu keinem anderen Zweck als zum Vergnügen; sehr selten werden sie Befriedigung darin finden oder es ihnen überhaupt in den Sinn kommen, ein Tier zu retten, wenn sie dieses in Gefahr sehen und sie das Tier ohne Anstrengung retten kann. Ein reiferer oder älterer Mensch wird selten zum Vergnügen töten, und er wird oft Befriedigung darin finden, solche Geschöpfe zu retten, wenn er sie in irgendeiner Gefahr sieht und, wenn er sie ohne große Mühe retten kann.] Hier wird später das Gedicht La ginestra anknüpfen, in dem die Suche nach einer Haltung in einer Welt, die nicht an dem Erhalt des Individuums interessiert ist, ihren Höhepunkt findet. Das große Projekt ist die Suche nach einem Weg, der ohne einen blinden Glauben an Religion, Technik, Kapitalismus oder Fortschritt auskommt. 370 Hierzu muss die Verbindung vom Subjekt zur Welt geklärt werden, die durch seine mangelnde Erkenntnisfähigkeit geprägt ist. Von dieser wird der tentative Charakter von Leopardis Gedichten bestimmt. 5.2 Die Palinodia al Marchese Gino Capponi 139 <?page no="141"?> 371 Vgl. Emilio Mattioli: „Leopardi e Luciano“, in: Leopardi e il mondo antico. Atti del Quinto Convegno Internazionale di Studi Leopardiani. Ed. Centro Nazionale di Studi Leopardiani, Firenze: Olschki 1982, S.-96. 372 Unter anderem von Sophokles. 6 Gescheiterte Gespräche und der ewige Mangel an Illusionen Wie tentativ Leopardis Denkweise ist, äußert sich in seiner Wahl des Dialogs als Textform, in der unterschiedliche Positionen unmittelbar einander gegen‐ übergestellt werden. Das chaotische Potential des Dialogs, 371 das sich aus der Unordnung der Positionen ergibt, baut Leopardi weiter aus, indem er die Dialoge durch die Wahl des Gesprächspartners ins Absurde überführt. So spricht zum Beispiel im Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie der Arzt Ruysch mit einem Totenchor und im Dialogo di Torquato Tasso e del suo Genio familiare ein betrunkener Tasso mit seinem Geist. Und auch außerhalb der Operette Morali zeigt sich dieses Phänomen insofern, als Leopardi in den Canti gescheiterte Gespräche inszeniert, in denen sich das lyrische Ich Gesprächspartner auswählt, die nicht antworten können: So spricht das lyrische Ich in Alla sua donna zu seinem Idealbild oder im Canto notturno di un pastore errante dell’Asia ein Hirte zum Mond. Diese Gespräche sind schon von Beginn an zum Scheitern verurteilt. 6.1 Der Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie Bis hierhin wurde bereits deutlich, dass Leopardi Stilmittel und literarische Gattungen nutzt, um mit der Erwartung an einen Text zu spielen, den Leser zu überzeugen oder Ideen zu parodieren. Dieses Phänomen lässt sich auch an den gescheiterten Gesprächen nachweisen. In den Jahren 1823/ 24 beschäftigt sich Leopardi mit den Chören der antiken Dramen. 372 Der Chor spiegelt für ihn die imaginativen, illusionären und ästhetischen Fähigkeiten des Menschen und evoziert dadurch einen Raum, der über die Grenzen des Individuums hin‐ ausreicht. Die Gegenüberstellung von Chor und Individuum erinnert insofern an die Bereiche vor und hinter der Hecke im Gedicht L’infinito: La nazione intera […] s’esprimeva in versi lirici e pieni di poesia. Il suono della sua voce non era quello degl’individui umani: egli era una musica un’armonia. […] Questo era quasi lo stesso che legare sulla scena il mondo reale col mondo ideale <?page no="142"?> 373 Vgl. zu Leopardis Theaterbegriff: Simonetta Bosso: „Leopardi e l'idea del teatro“, in: Sebastian Neumeister (Hrsg.): Leopardi in seiner Zeit / Leopardi nel suo tempo, Tübingen: Stauffenburg 1995, S.-139-145. 374 Vgl. Annika Gerigk: „Verwirrung als Programm. Il tramonto della luna, gelesen als er‐ kenntnistheoretisches Problem“, in: Milan Herold / Barbara Kuhn (Hrsg.): Lebenskunst nach Leopardi. Anti-pessimistische Strategien im Werk Giacomo Leopardis, Tübingen: Narr 2020, S.-184. e morale, come essi sono legati nella vita […]. Gli avvenimenti erano rappresentati dagl’individui; i sentimenti, le riflessioni, le passioni, gli effetti ch’essi producevano o dovevano produrre nelle persone poste fuori di essi avvenimenti erano rappresentati dalla moltitudine, da una specie di essere ideale. (Zib. 2806-2808) [Die ganze Nation drückte sich in lyrischen Versen und voller Poesie aus. Der Ton ihrer Stimme war nicht der von menschlichen Individuen: Er war eine Musik, eine Harmonie. Es war fast ebenso, als ob in einer Szene die reale Welt mit der idealen und der moralischen Welt verbunden wird; so wie diese auch im Leben miteinander verbunden sind. Die Geschehnisse wurden von Individuen dargestellt; die Gefühle, die Reflexionen, die Leidenschaften und die Effekte, die diese in den Personen (weitere Figuren des Dramas und das Publikum), die außerhalb der Geschehnisse standen, produzierten oder produzieren sollten, wurden von der Vielzahl (dem Chor) dargestellt; von einer Art des idealen Seins.] Die ‚reale‘ Welt wird, laut Leopardi, durch Individuen repräsentiert, die in ihrer konkreten und dadurch begrenzten Form ein limitiertes Sein darstellen. Daneben wird der Chor auf die Bühne gestellt, der die ideale und moralische Welt 373 verkörpert. Leopardi vertritt damit eine gängige Meinung, geht jedoch weiter, indem er darin eine formale Darstellung der Welt sieht. 374 Während das italienische Adjektiv ‚ideale‘ im Deutschen ‚ideal‘ und ‚ideell‘ bedeuten kann, sind hier beide Varianten möglich, da der Chor auf das Ideal und die Idee verweist. In diesen Überlegungen zum Verhältnis des Einzelnen zum Kollektiven greift er die Gedanken, die bereits Eingang in Bruto minore fanden, wieder auf. Dort beschrieb Leopardi die Tugend als Illusion, die primär als kollektives Phänomen funktioniert und nur selten beim Individuum zu finden ist. Ein Individuum kann zwar tugendhaft handeln, es bleibt jedoch eine individuelle Haltung oder Handlung, die diesem einen Individuum zugeschrieben wird und die es in ein prekäres Verhältnis zur Welt setzt. Der Chor verspricht das Potential, das Gefühl und die Illusion an sich zu vermitteln, und entspricht dementsprechend innerhalb der gleitenden Semantik dem indefinito und dem vago. Durch den Kontakt mit einem Individuum - dem Schauspieler - kann so 142 6 Gescheiterte Gespräche und der ewige Mangel an Illusionen <?page no="143"?> 375 Frederik Ruysch (1638-1731) war ein niederländischer Arzt und Botaniker. 376 Poesie e Prose II, S.-116. 377 Ebd. der poetische mit dem philosophischen Diskurs verbunden werden, das Vage mit dem Konkreten, das Vollständige mit dem Unvollständigen. In das Stück Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie lässt Leopardi diese Überlegungen nicht ohne Ironie einfließen und stellt dabei seine gleitende Semantik auf den Kopf. Am Ende eines kosmischen Zyklus im „anno grande e matematico“ [großen mathematischen Jahr] treten die unbekannten Toten aller Zeiten als Chor auf und sprechen anschließend mit dem entsetzten Forscher Frederik Ruysch: 375 Sola nel mondo eterna, a cui si volve Ogni creata cosa, In te, morte, si posa Nostra ignuda natura; Lieta no, ma sicura Dall’antico dolor. Profonda notte Nella confusa mente Il pensier grave oscura; (Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie) 376 [Du einzig Ew’ges in der Welt, o Tod, Ziel aller Kreatur, dem unsre Staubnatur darf endlich Ruhe danken, nicht froh, doch allem Kranken des alten Seins entrückt, mit tiefer Nacht hüllst im verworr’nen Sinn du ein die Qualgedanken! ] Die viel thematisierte Unendlichkeit kann lediglich im Tod erfahren werden. Schmerzen und Sorgen nimmt der verwirrte Geist nicht mehr wahr und durch den Tod wurde der Zugriff auf die Erinnerungen aus dem Leben versperrt. Leopardi inszeniert das indefinito des Chors einerseits formal durch einen unpersönlichen und meditativen Ton und andererseits inhaltlich durch ein Nachlassen der kognitiven und emotionalen Fähigkeiten. Vivemmo: e qual di paurosa larva, E di sudato sogno, A lattante fanciullo erra nell’alma Confusa ricordanza: Tal memoria n’avanza del viver nostro: ma da tema è lunge Il rimembrar. Che fummo? Che fu quel punto acerbo Che di vita ebbe nome? (Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie) 377 6.1 Der Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie 143 <?page no="144"?> 378 Vgl. Daniela Bini: „Giacomo Leopardi’s Ultrafilosofia“, S.-60. 379 Poesie e Prose II, S.-116-117- [Wir lebten einst. Und wie im Hirn des Säuglings von schauerlichen Larven und bangen Träumen, die die Stirn ihm feuchten, verworrene Erinnerung bleibt, so besteht das Erinnern unseres Lebens; fort doch frei ist das Erinnern von Furcht. Was waren wir? Was jener herbe Zeitpunkt, der Leben einst genannt ward? ] Durch den Einsatz des passato remoto zu Beginn und Ende der inhaltlichen Ein‐ heit, „vivemmo“ und „fummo“, wird die Endgültigkeit des Todes markiert und die Endlichkeit des Lebens der Unendlichkeit des Todes gegenübergestellt. 378 Die Fähigkeit zu Erinnern - memoria, der Akt des Erinnerns - il rimembrar und die Erinnerung - ricordanza werden im Tod der Verwirrung ausgesetzt und dadurch von ihrem Schrecken befreit. Dem Tod wird dadurch aber auch eben jenes abgesprochen, was eine Grundlage von Leopardis Dichtung ausmacht - die Erinnerung; eines der größten poetischen Motive in seinem Werk. Auf diese Weise wird das Subjekt seiner Identität beraubt: „Che fummo? “ [Was waren wir? ]. Durch den Vergleich des Todes mit dem Bewusstsein eines Neugeborenen, dem früher kein Bewusstsein zugeschrieben wurde, und die chiastische Gegenüberstellung mit dem Leben kreiert Leopardi eine zyklische Struktur des Lebens, in dem das Subjekt ein Bewusstsein erlangt, um es dann wieder zu verlieren. Der Tod und der Mangel an Bewusstsein wird mit der Ewigkeit gleichgesetzt, während das Leben auf einen Punkt, „punto acerbo“, reduziert wird und dadurch eine radikale Eingrenzung erfährt. Nach dem Tod erscheint dieses Leben fremd: Cosa arcana e stupenda Oggi è la vita al pensier nostro, e tale Qual de’ vivi al pensiero L’ignota morte appar. Come da morte Vivendo rifuggia, così rifugge Dalla fiamma vitale Nostra ignuda natura; Lieta no ma sicura; Pero ch’esser beato Nega ai mortali e nega a’ morti il fato. (Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie) 379 [Ein wundersam Geheimnis scheint uns das Leben heut, so rätselhaft wie denen, die noch leben, der unbekannte Tod. Wie vor dem Tode wir flohen, da wir lebten, so erschrickt die nackte Staubnatur jetzt vor der Lebensflamme, nicht froh, doch leidentrückt. Versagt doch wahres Glück so Sterblichen wie Toten das Geschick.] 144 6 Gescheiterte Gespräche und der ewige Mangel an Illusionen <?page no="145"?> 380 Vgl. Daniela Bini: „Giacomo Leopardi’s Ultrafilosofia“, S.-60-61. 381 Poesie e Prose II, S.-116-117. 382 Ebd., S.-118. 383 „L’unificazione o riunificazione della singola creatura umana colla divinità […] sarà solo possibile tramite la morte, il ‚transito‘ appunto da uno stato ‚isolato‘ verso un’esistenza senza necessità di coscienza individuale. Sarà la morte a sciogliere, a dissolvere la linea che separa il mondo fisico da quello meta-fisico“. Eine Verbildlichung findet dies in der Beobachtung der Natur im Mönch am Meer von David Caspar Friedrich. Titus Heydenreich: „E il naufragar m’è dolce in questo mare“, S.-230. Neben dem Parallelismus, der beispielsweise die Struktur von Il passero solitario und Il tramonto della luna bestimmt, und Analogien, die letztlich aber meistens ein unterscheidendes Element des Verglichenen verdeutlichen, greift Leopardi häufig zum Chiasmus, um antithetische Relationen hervorzuheben. 380 In dem Chiasmus drücken die Toten aus, dass ihnen das Leben, nachdem sie die Schwelle zum Tode überschritten haben, ebenso fremd und außergewöhnlich geworden ist, „vita al pensier nostro“, wie der Tod den Lebenden, „de’ vivi al pensiero l’ignota morte“. Innerhalb der gleitenden Semantik übernimmt der Tod die Bedeutung des Vergessens, dem hier jedoch im Leben nicht die Erinnerung gegenübergestellt wird, sondern ein Mangel an Wissen. In diesem Mangel werden die Lebenden und die Toten wieder durch den folgenden Chiasmus vereint, der die Flucht vor dem Unbekannten thematisiert: „Come da morte | vivendo rifuggia, così rifugge | dalla fiamma vitale | la nostra ignuda natura“ 381 [Wie vor dem Tode wir flohen, da wir lebten, so erschrickt die nackte Staubnatur jetzt vor der Lebensflamme]. Der Dialog zwischen den Toten und Ruysch wird zwar in diesem seltenen, erhabenen Moment ermöglicht, scheitert aber zugleich. Ruysch konterkariert zunächst das Erhabene, indem er den Gesang als Hahnengesang bezeichnet und sich darum sorgt, wie er sich seiner neuen Mitbewohner schnellstmöglich entledigen kann, damit er sie nicht versorgen muss. Erst nachdem geklärt ist, dass die Kommunikation nur eine Viertelstunde dauern wird, beginnt der Dialog. Doch Ruysch erhält kaum erkenntnisreiche Antworten auf seine Fragen, außer dass der Tod ein Ort ohne Leiden ist, an dem alles in Verwirrung gehüllt wird. Innerhalb des Kontinuums der Toten findet keine Kommunikation statt: „Non possiamo parlare altrimenti, che rispondendo a qualche persona viva […]. Quando anche potessimo, non sentiresti nulla; perchè non avremmo che ci dire“ 382 [Wir können nur sprechen, wenn wir einem Lebenden antworten sollen. Selbst wenn wir es könnten, würdest du nichts hören, denn wir hätten uns nichts zu sagen]. Bei der Vorstellung einer Reunifikation des Individuums mit der Göttlichkeit im Tod 383 würde sich Kommunikation zwar erübrigen, von dieser ist in dem Dialog jedoch keine Rede. Ruyschs letzte Frage - „come 6.1 Der Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie 145 <?page no="146"?> 384 Poesie e prose II, S.-122. 385 Vgl zur zeitlichen Dimension von Lust und Unlust: Milan Herold: „‚Il presente non può esser poetico‘. Giacomo Leopardis Lesbarkeit der Zeit (Il primo amore, Alla sua donna)“, in: ders. / Michael Bernsen (Hrsg.): Der lyrische Augenblick. Eine Denkfigur der Romania, Berlin: de Gruyter 2015, S.-133-135. conosceste d’essere morti? “ 384 [Woran hattet ihr erkannt, dass ihr gestorben wart? ] - bleibt unbeantwortet. Die Viertelstunde ist abgelaufen und die Toten sind wieder verstummt. Leopardi hat wahrscheinlich nicht zufällig den Arzt und Botaniker für den Dialog gewählt. Ruysch verkennt über das ganze Gespräch hinweg die Bedeutung der seltenen Möglichkeit, die sich ihm hier im „anno grande e matematico“ eröffnet. Stattdessen sorgt er sich um triviale Fragen des Alltags und ist erleichtert, wenn die Toten endlich wieder schweigen, obwohl sie seine letzte und entscheidende Frage nicht beantworten. Gerade die entscheidende Differenz zwischen Leben und Tod bleibt unbekannt. Ruysch kennt zwar die Anatomie des Menschen und die Ordnung der biologischen Welt, er kennt jede einzelne kleine Komponente, jedoch interessiert er sich nicht für die Frage, was das Leben, in Leopardis Sinne, ist. Damit verkörpert Ruysch den modernen Wissenschaftler, den Leopardi in der Palinodia weiter ausführt. Die Kommunikation scheitert also in jeglichem Sinne: Im Kontinuum der Toten gibt es keine Kommunikation, die Toten können Ruyschs Fragen nicht beantworten und Ruysch wird als Forscher präsentiert, der glaubt, er habe die Mysterien der Welt bereits mittels seiner Wissenschaften durchdrungen. Erleichtert kehrt er nach dem Verstummen der Toten ins Bett zurück. 6.2 Einschlafen und Sterben - ein gradueller Prozess Das Einschlafen bildet in dem Stück die Analogie zum Sterben und wird als gradueller Prozess der Ermattung gedacht, in dem der Übergang in den entgegengesetzten Zustand als Abgleiten in eine Dunkelheit, als Verwirrung und Auslöschen dargestellt wird. An das Überschreiten der Lebensgrenze, den Sprung von einem Zustand in den nächsten, kann sich ebenso wenig erinnert werden wie an das Einschlafen. Dieser Analogie stellt Leopardi einen weiteren diametral konträren Gegensatz gegenüber: Lust und Unlust. Beim Sterben lässt der Schmerz des Lebens nach und das Subjekt verspürt durch diese Erleichterung ein Gefühl der Lust. Entgegen aller Befürchtungen soll der Tod also nicht schmerzhaft, sondern ein Übergang von Unlust zur Lust sein. 385 Dieser Lust kappt Leopardi jedoch die Spitze, indem er sie nicht als positives Gefühl definiert, sondern als Mangel an Leben und Schmerz: „Quando la facoltà di sen‐ 146 6 Gescheiterte Gespräche und der ewige Mangel an Illusionen <?page no="147"?> 386 Poesie e Prose II, S.-119-120. 387 Ebd. S.-119. 388 Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S.-24. 389 Siehe Kapitel 1.3. 390 Poesie e Prose II, S.-120-121. 391 Zib. 4074. tire è, non solo debilitata e scarsa, ma ridotta a cosa tanto minima, che ella manca e si annulla, credete voi che la persona sia capace di un sentimento forte? “ 386 [Wenn die Fähigkeit zu fühlen nicht nur geschwächt und verringert, sondern auf ein solches Minimum reduziert ist, dass sie schwindet und erlischt, glaubt ihr, dass der Mensch dann noch zu einer starken Empfindung fähig wäre? ] Auch dieses Szenario spielt sich komplett im Bereich der negativen Bestrafung ab. Der Tod und die Abwesenheit von Schmerz bedeuten das Fehlen von Gefühlen: „Quasi che la morte fosse un sentimento, e non piuttosto il contrario“ 387 [Als ob der Tod eine Empfindung wäre und nicht vielmehr das Gegenteil]. Durch diese Abwesenheit eines Gefühls und der Erinnerungsfähigkeit beschreibt Leo‐ pardis Chor einen Menschen, der seine Menschlichkeit und seine Individualität verliert: Ohne die Erinnerungsfähigkeit „könnten wir kein Selbst aufbauen und nicht mit anderen als individuelle Personen kommunizieren.“ 388 Das Leitmotiv des Todes ohne rimembranza ist auch der kreative Tod. Der Ermattungsprozess führt zwar keine tatsächliche Aufhebung eines Zustandes herbei, sondern eine Unsichtbarkeit, eine Verwirrung, Abwesenheit und Mangel. Das Ideal rückt jetzt plötzlich in den Zugehörigkeitsbereich des ‚Nichts‘. Ruyschs Dialog mit den Mumien ist ein Spiel mit der gleitenden Semantik. 389 Die Analogie zwischen Schlaf und Tod vermittelt einen scheinbaren Zugang zu einem unbekannten Zustand. Der Übergang in den undenkbaren Zustand erfolgt graduell, während der Umschwung von Unlust in Lust punktuell beschrieben wird: „Sappi che il morire, come l’addormentarsi, non si fa in un solo istante, ma per gradi. […] Nell’ultimo di tali istanti la morte non reca né dolore né piacere alcuno, come né anche il sonno“ 390 [Du musst wissen, dass sich das Sterben, wie das Einschlafen, nicht in einem Augenblick, sondern stufenweise vollzieht. Im letzten all dieser Momente erregt der Tod weder Schmerz noch Lustgefühl, ganz wie der Schlaf]. Der Schmerz verschwindet hier auch nicht, sondern kann nicht mehr wahrgenommen werden. Dies korreliert mit einem poetologischen Prinzip, das Leopardi im Zibaldone anführt, wenn er über die Darstellung von Lust in der Lyrik schreibt: „Qualunque poesia o scrittura, o qualunque parte di esse esprime ancora o collo stile o co’ sentimenti formali o con ambedue un abbandono, una noncuranza, una negligenza, una specie di dimenticanza d’ogni cosa“ 391 [ Jede Poesie oder Schrift oder jeder Teil davon, der durch den Stil oder 6.2 Einschlafen und Sterben - ein gradueller Prozess 147 <?page no="148"?> 392 Vgl. Margaret Brose: „Mixing Memory and Desire: Leopardi Reading Petrarch“, in: Annali d’Italianistica 22 (2004), S.-313. 393 Stilistisch lassen sich Einflüsse in den Fragmenten XL Dal greco di Simonide und XLI Dello stesso erkennen, die beide Übersetzungen aus dem Griechischen sind. durch Gefühle Lust oder Vergnügen ausdrückt, drückt wiederum durch die Form des Stiles oder der Gefühle, oder durch beides, ein Aufgeben, eine Achtlosigkeit, eine Gleichgültigkeit, eine Art Vergessenheit von allem aus]. Der Chor erfüllt formal Charakteristika des Undefinierten, des Unendlichen, er verweist auf das Ganze und entspricht somit Leopardis Kategorie des Poetischen. Es ist das Gefühl, das der Chor evozieren soll, das die Störung in der Analogie produziert und zu unkonventionellen Schlüssen führt. In dem Stück teilen die Lebenden und Toten trotz allem ihr Leid und durchbre‐ chen die Dichotomie. Leopardi erklärt Schmerz dadurch zu einer Konstante, die außerhalb des Individuums besteht. Diese Externalisierung von Gefühlen wird uns im Kapitel 7 beschäftigen. Die Empfindung von Gefühlen und Schmerz ist bei Leopardi unumstößlich mit der Lebhaftigkeit und der Empfindungsfähigkeit der Seele verbunden. Der Tod löscht die Empfindungsfähigkeit und vernebelt den Schmerz und insofern wird das Sterben zur Lust erklärt, die als Ermattung des Lebensgefühls, das Schmerz zulässt, definiert wird. Die Definition eines Zustandes ohne Regungen ist ein ironisches Spiel mit dem Konzept der Ataraxie. Die Affektlosigkeit tritt nicht als Disziplinierung des eigenen Geistes ein, sondern als mangelnde Vitalität. Durch die Vernebelung der Erinnerung geht jede Lust verloren, da diese primär aus Hoffnung generiert wird. Die Hoffnung wiederum kann hauptsächlich aus der Kindheit erinnert werden. 392 Im Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie treibt Leopardi es mit Aufhebungen und Verwirrungen so weit, dass das Motiv ad absurdum gerät. Sein einziger Versuch, 393 die Chorlyrik zu imitieren, bleibt dadurch ein ironischer Versuch. Eine Deutung des Todes als ‚ideale‘ Welt scheitert. Zusätzlich schei‐ tert der Chor in seiner traditionellen Funktion, da er weder die moralische Hoheit übernehmen, noch das Geschehen deuten kann. Leopardi wird den refrainartigen Stil des Chors in dieser Form nicht wiederholen, aber das kurze Zwischenspiel gibt Hinweise zu Leopardis formalen und inhaltlichen Interessen an der Interaktion der ‚idealen‘ mit der ‚realen‘ Welt in seiner Lyrik, die er häufig in Gesprächen vermittelt, die zum Scheitern verurteilt sind. Dadurch wird der Gegensatz selbst angegriffen. Dies erfolgt wiederholt in späteren Texten mit unterschiedlichen Ergebnissen. In Amore e Morte und in Aspasia greift Leopardi erneut auf den Tod als Remedium gegen Schmerz zurück und nimmt dabei ebenfalls die Ataraxie unter Beschuss. Das poetisch-ironische Spiel mit den Negationen bindet Leopardi nicht an eine Bedeutung und erlaubt die 148 6 Gescheiterte Gespräche und der ewige Mangel an Illusionen <?page no="149"?> 394 Poesie e Prose II, S.-69. 395 Ebd. S.-69-70. 396 Eine Darstellung zum Traum in Leopardis Frühwerk findet sich in: Tatiana Crivelli: „Tra iatromeccanica, metafisica ed estetica: Note sul sogno nell’opera del primo Leopardi“, in: Sebastian Neumeister (Hrsg.): Die ästhetische Wahrnehmung der Welt: Giacomo Leopardi, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2009, S.-227-244. 397 Poesie e Prose II, S.-71. 398 Ebd. S.-74-75. 399 Ebd. S.-75. Verknüpfung von Motiven in anderen Zusammenhängen. Ein Großteil von Leopardis prüfenden Denkbewegungen vollzieht sich in dieser Form, die es ihm ermöglicht, sich der philosophischen Enge zu entziehen und sie gleichzeitig zu ironisieren. Ähnliches zeigt sich in einem anderen gescheiterten Gespräch, wenn Tasso im Dialogo di Torquato Tasso e del suo Genio familiare im trunkenen Zustand mit seinem Geist spricht. Der tentative Charakter wird hier weiter unterstrichen durch die Frage nach der Erkenntnisfähigkeit: „Che cosa è il vero? “ 394 [Was ist Wahrheit? ]. Tassos Geist beantwortet sich seine Frage selbst: „Sappi che dal vero al sognato, non corre altra differenza, se non che questo può qualche volta essere molto più bello e più dolce, che quello non può mai“ 395 [So wisse denn, zwischen Wahrheit und Traum ist kein anderer Unterschied, als dass letzterer manchmal viel schöner und süßer sein kann, als erstere es je vermag]. Zunächst scheint der Schlaf nun ein Zustand zu sein, der Lust ermöglicht und nicht einfach nur Schmerz vernebelt. Der Geist macht Tasso verlockende Ver‐ sprechungen: Er könne die Geliebte im Traum in ihrer göttlichsten Form treffen, er könne den Mut aufbringen, mit ihr zu sprechen, und sie schließlich sogar berühren. Doch dann wird auch hier die Unterscheidung zwischen Realität und Traum 396 endgültig durchbrochen. Weder im Traum noch im wachen Zustand kann Lust tatsächlich empfunden werden: „Che è quanto dire è sempre nulla“ 397 [Was so viel heißen soll wie: Es ist nie vorhanden]. Dem Remedium-Suchenden wird der Tod oder der Schlaf angeboten, um eben nicht zu leben. Tasso, der sein Leben mit einem locus terribilis vergleicht „[L]a mia tristezza […] è come una notte oscurissima, senza luna né stelle“ 398 [meine Traurigkeit ist wie eine finstere Nacht ohne Mond und Sterne], findet Trost im Gespräch mit seinem Geist, der ihm im alkoholisierten Zustand erscheint: „mentre son teco, somiglia al bruno dei crepuscoli, piuttosto grato che molesto“ 399 [aber wenn du bei mir bist, gleicht sie einer sanften Dämmerung, die eher angenehm als lästig ist]. Leopardi reagiert mit offensichtlicher Ironie auf ein Problem, das sich mit Leopardis Maßstäben an eine Haltung in der Welt nicht lösen lässt oder für das er, und das ist auch wohl kaum seine Aufgabe als Dichter, keine Lösung findet. Für Ruysch, der sich der Vernunft hingegeben hat und dadurch stellvertretend für einen 6.2 Einschlafen und Sterben - ein gradueller Prozess 149 <?page no="150"?> 400 In der Handschrift von Alla sua donna erscheinen die Strophen, über denen jeweils eine Ordnungsnummer eingefügt wurde, in einer anderen Reihenfolge. Moroncini vertritt die Theorie, dass Leopardi zunächst die zweite, dritte und fünfte Strophe verfasste und erst später die erste und die vierte Strophe. Vgl. Poesie e Prose I, S.-956. 401 Vgl. Annika Gerigk: „Verwirrung als Programm“, S. 188-189. Die Varianten der ersten Strophe zeigen, dass Leopardi am Effekt des indefinito gearbeitet hat. Vgl. Giacomo Leopardi: Canti. Edizione fotografica degli autografi e edizione critica di Emilio Peruzzi. Milano: Rizzoli 4 2009, S.-395-396. 402 Vgl. zur Semantik des Scheins: Carlo Mathieu: „Imago, ombre, sembianze. Semantik des Scheins von Alla sua Donna bis Il tramonto della luna“, in: Cornelia Klettke / Sebastian Neumeister (Hg.): Giacomo Leopardi. Dichtung als inszenierte Selbsttäuschung in der Krise des Bewusstseins. Akten des Deutschen Leopardi-Tages 2015. Berlin: Frank & Timme 2017, S.-183-200. unempfindsamen Geist steht, stellt sich dieses Problem nicht. Seine beruhigte Rückkehr ins Bett schließt die zyklische Struktur des Stückes, das damit begann, dass Ruysch vom Gesang der Toten geweckt wurde. 6.3 Die Canzone Alla sua donna Dialoge sind auch in den Canti zu finden; beispielsweise in der Canzone Alla sua donna, in der das lyrische Ich zu seiner idealisierten Geliebten spricht. Es erschien ein Jahr nach der Entstehung des Inno ai Patriarchi und des Ultimo canto di Saffo, weist aber weder in Inhalt noch in Form starke Ähnlichkeiten zu den Canzonen auf. Die größte Irritation entstand aber dadurch, dass von Strophe zu Strophe das Reim- und Versschema wechselt und der Inhalt mit jeder Strophe variiert wird. Dies wurde durch unterschiedliche Entstehungsphasen begründet, 400 obwohl diese Theorie nicht haltbar ist. Stattdessen handelt es sich hierbei um eine stilistische Entscheidung des Dichters, der erneut versucht, die Beschaffenheit der Welt auch über die Form darzustellen. 401 Das Gedicht beginnt mit der Ansprache an eine schöne Frau, die sich als pure Abstraktion der idealen Schönheit, entpuppt. Nur auf ihren Schein kann das lyrische Ich hoffen: 402 Cara beltà che amore Lunge m’inspiri o nascondendo il viso, Fuor se nel sonno il core Ombra diva mi scuoti, O ne’ campi ove splenda Più vago il giorno e di natura il riso; Forse tu l’innocente Secol beasti che dall’oro ha nome, 150 6 Gescheiterte Gespräche und der ewige Mangel an Illusionen <?page no="151"?> Or leve intra la gente Anima voli? o te la sorte avara, Ch’a noi t’asconde, agli avvenir prepara? (Alla sua donna, V.1-11) [Teure Schönheit, die Liebe von fern, oder wenn ich die Augen schließe, mir einflößt, wenn du im Schlaf nicht mein Herz als göttlicher Schatten erschütterst oder auf freiem Felde, wo unbestimmter der Tag erstrahlt und lacht die Natur, beseligst du vielleicht das schuldlose Zeitalter, das man das goldene nennt? Schwebst du jetzt unter den Menschen als sanfter Geist? Oder bereitet voller Geiz das Schicksal, das dich uns verbirgt, für künftige Zeiten dich vor? ] Die erste und die vierte Strophe sind in einem persönlicheren Stil verfasst als die anderen Strophen, die stärker das Motiv der absoluten Schönheit thematisieren. Auch in Alla sua donna greift Leopardi das Motiv des Traums und des Schattens auf, denn nur in diesen vagen Momenten kann die Frau erwogen werden. Als weitere Möglichkeit wird die zeitliche Dimension aufgegriffen: Die ideale Frau passt nicht in dieses ‚Goldene Zeitalter‘ (siehe Kapitel 5.2) und ist möglicher‐ weise nur in anderen Epochen auffindbar. Die nächste Strophe beginnt mit einer klaren Negation des Ideals. Ab hier beginnt ein Hin und Her zwischen Nähe und Ferne zu der Frau: Viva mirarti omai Nulla spene m’avanza; S’allor non fosse, allor che ignudo e solo Per novo calle a peregrina stanza Verrà lo spirto mio. Già sul novello Aprir di mia giornata incerta e bruna, Te viatrice in questo arido suolo Io mi pensai. Ma non è cosa in terra Che ti somigli; e s’anco pari alcuna Ti fosse al volto, agli atti, alla favella, Saria, così conforme, assai men bella. (Alla sua donna, V.12-22) [Dich leibhaftig zu schauen, bleibt keine Hoffnung mir mehr. Es sei denn, dass einstmals, einstmals nackt und allein auf anderem Pfad in eine fremde Welt die Seele gelange. Damals, als morgenfrisch anbrach der Tag meines bangen und dunklen Lebens, träumte ich dich auf diesem unfruchtbaren Boden als Weggefährtin. Doch gibt es kein Wesen auf Erden, das dir vergleichbar wäre. Und wär es dir ähnlich und schaute wie du, bewegte sich, spräche wie du, ihm käme gleichwohl nicht halb so viel Schönheit zu.] 6.3 Die Canzone Alla sua donna 151 <?page no="152"?> 403 Leopardi verneint die platonische Idee, kehrt aber in einer Pluralform zu ihr zurück: „[I]l mio sistema non distrugge l’assoluto, ma lo moltiplica“ [Mein System zerstört das Absolute nicht, es vermehrt es]. Vgl. Carlo Mathieu: „Imago, ombre, sembianze“, S.-194-196. 404 Vgl. Zib. 1339. 405 Zib. 1616. Auch wenn das Ideal in der ‚realen‘ Welt nicht zu finden ist, kann es dennoch nicht vollständig abgeschrieben werden. Ein Blick auf Leopardis Gedanken zur platonischen Idee soll abhelfen, um dieses Verhältnis zu erläutern. Parallel zu der Verfallsgeschichte der Zivilisation (Kapitel 5) denkt Leopardi auch den Verfall der Moralphilosophie, dessen Höhepunkt er im Christentum sieht. Leopardi sieht das Christentum in Bezug zu einer wuchernden philosophischen Basis, die sich die platonische Idee zunutze macht. Da in der Welt keine Begründungen abgelesen werden können, warum etwas gut oder böse sein soll, habe das Christentum das Gute, Schöne und Wahre in Gott personifiziert und außerhalb der Wahrnehmung als Absolutheit vorausgesetzt. Unter Bezugnahme auf Locke verneint Leopardi 1821 die platonische Idee. 403 Ideen werden durch die Erfahrung von Empfindungen geformt und nicht als Form von der Natur in uns eingehaucht: 404 [L]a distruz. delle idee innate distrugge il principio della bontà, bellezza, perfezione assoluta, e de’ loro contrarii. Vale a dire di una perfezione ec. la quale abbia un fondamento, una ragione, una forma anteriore alla esistenza dei soggetti che la contengono, e quindi eterna, immutabile, necessaria, primordiale ed esistente prima dei detti soggetti e indipendente da loro. (Zib. 1340) [Die Zerstörung der angeborenen Ideen zerstört das Prinzip der absoluten Güte, Schönheit, Vollkommenheit und ihrer Gegensätze: Das heißt, das Prinzip einer Vollkommenheit usw., die eine Grundlage, eine Logik, eine Form habe, die der Existenz der Objekte, die sie enthalten, vorausgeht und daher ewig, unveränderlich, notwendig, ursprünglich und vor den besagten Objekten und unabhängig von ihnen existiert.] Kurz: „Niente preesiste alle cose“ [Nichts präexistiert die Dinge]. 405 Leopardi richtet sich dadurch gegen einen ontologischen Rationalismus und gegen alle anderen Ausprägungen eines Rationalismus, der praktische Erfahrungen aus‐ schließt. Entsprechend besitzt er ein relativistisches Verständnis von Wahrheit, Schönheit und Ethik, das aus der Wahrnehmung generiert wird. Die Erfahrung negiert philosophische und abstrakte Überlegung und besitzt insofern ebenfalls ein zersetzendes Potential. Wenn das Absolute dann nicht mehr vorausgesetzt wird, gebietet die phänomenologische Erkenntnis, dass Zustände wechselhaft und damit relativ sein müssen: 152 6 Gescheiterte Gespräche und der ewige Mangel an Illusionen <?page no="153"?> 406 Giacomo Leopardi: Canti. A cura di Mario Fubini, Torino: Loescher 1971, S.-145. Noi stessi nelle nostre riflessioni giornaliere le meno profonde conosciamo e sentiamo che la virtù (p.e.) è un fantasma, e che non c’è ragione per cui la tal cosa sia virtù se non giova, nè vizio se non nuoce; e siccome una cosa ora giova, ora nuoce; a questo giova, a quello no; […] così veniamo a confessare che la virtù, il vizio, il cattivo, il buono è relativo. (Zib. 1461) [Wir selbst wissen und fühlen in unseren am wenigsten tiefgründigen alltäglichen Betrachtungen, dass die Tugend ein Trugbild ist und dass es keinen Grund gibt, warum ein solches Trugbild als Tugend verstanden wird, wenn es nicht nützt, oder als Laster, wenn es nicht schadet; und da etwas mal nützt und mal schadet, einer Person nützt, einer anderen nicht, so kommen wir zu dem Bekenntnis, dass Tugend, Laster, das Schlechte und das Gute relativ sind.] Die Konsequenz aus diesem Denken ist, dass auch Gott seiner Notwendigkeit entzogen wird und die Kontingenz zum Grundprinzip wird. Das ‚absolute Sein‘ gerät in Gefahr, durch ‚das Nichts‘ ersetzt zu werden. Für die Frau bzw. die absolute Schönheit bedeutet dies, dass sie aus der Imagination geschaffen wird - und wir wissen, dass Imagination bei Leopardi auf (literarischer) Erfahrung basiert - und nun durch die Erfahrung wieder zersetzt wird. Es bedeutet aber auch, dass das lyrische Ich selbst Einfluss auf die Entscheidung hat, ob das Ideal nützt oder nicht. Die idealisierte Frau in Alla sua donna ist so weit überhöht, dass ihr bereits keine individuellen Eigenschaften mehr zugesprochen werden können. In dem Ideal versammeln sich Wünsche und Hoffnungen, die keine Erfüllung finden werden. In dieser Abstrahierung ist die Frau die Denkfigur der absoluten Illusion und kommt hier der platonischen Idee nahe. Auf diese nimmt Leopardi in einer Notiz der Edition von 1831 Bezug: La donna, cioè l’innamorata, dell’autore, è una di quelle immagini, uno di quei fantasmi di bellezza e virtù celeste e ineffabile, che ci occorrono spesso alla fantasia nel sonno e nella veglia, quando siamo poco più che fanciulli, e poi qualche rara volta nel sonno, o una quasi alienazione di mente, quando siamo poco più che fanciulli […]. In fine è la donna che non si trova. L’autore non sa se la sua donna (e così chiamandola, mostra di non amare che questa) sia mai nata finora, o debba mai nascere: sa che ora non vive in terra, e che noi non siamo suoi contemporanei; la cerca tra le idee di Platone, la cerca nella luna, nei pianeti del sistema solare, in quei de’ sistemi delle stelle. Se questa canzone si vorrà chiamare amorosa, sará pur certo che questo tale amore non può nè dare nè partir gelosia, perché, fuor dell’autore, nessun amante terreno vorrà fare all’amore col telescopio. 406 6.3 Die Canzone Alla sua donna 153 <?page no="154"?> 407 Vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S.-57-58. 408 Francesco Petrarca: Canzoniere. Rerum vulgatum fragmenta, Bd. II, a cura di Rosanna Bettarini, Torino: Einaudi 2005, S.-1309. [Die Frau, das heißt die Geliebte des Dichters, ist eines dieser Bilder, eines dieser Phantasmen der Schönheit und der unaussprechlichen, göttlichen Tugend, wie sie uns, wenn wir fast noch Kinder sind, häufig in der Phantasie im Traum und im Wachzustand erscheinen; und dann selten noch im Traum oder in einem Anflug von Geistesgestörtheit, wenn wir Jugendliche sind. Schlussendlich ist sie die Frau, die nicht anzutreffen ist. Der Autor weiß nicht, ob seine Frau (und sie so nennend zeigt er, dass er keine andere liebt) jemals geboren wurde, oder je geboren wird: Er weiß, dass sie jetzt nicht auf Erden lebt; er sucht sie zwischen den Ideen des Platon, er sucht sie im Mond, in den Planeten des Sonnensystems und in jenen der anderen Sternensysteme. Wenn man diese Canzone als Liebeslied bezeichnen wollte, dann steht fest, dass von dieser Liebe keine Eifersucht ausgehen kann, denn kein Liebhaber der Erde, mit Ausnahme des Autors, will die Liebe nur durch ein Teleskop erleben.] Wenn es sich hier um tatsächliche Liebe handeln würde, dann nur um eine Liebe um ihrer selbst willen und nicht um eine Liebe zu der besungenen Frau. Auf Erden hat das lyrische Ich die Hoffnung aufgegeben, sie zu finden, nachdem es in seiner Jugend noch glaubte, dass sie seine Begleiterin und Führerin durchs Leben sein würde. Gäbe es sie, dann wäre alles Unglück auf Erden durch das Glück, das sie ihm bescheren würde, aufgewogen. Wenn dies nicht möglich ist, wünscht sich das lyrische Ich zumindest ihren Anschein: „E potess’io, | nel secol tetro e in questo aer nefando, | l’alta specie serbar; che dell’imago, poi che del ver m’è tolto, assai m’appago“ (V.41-44) [Ach, könnt ich zumindest im Pesthauch dieses dunklen Jahrhunderts dein edles Bild mir bewahren. Ich würde ja mit dem Schein, seit ich dich selbst verloren, zufrieden sein]. Die Literatur der italienischen Renaissance idealisiert die Liebe und bedient sich insofern einer Perfektionsidee. Erstrebt wird eine höhere, heilbringende Form der Liebe, in die religiöse Gehalte eingebunden werden, obwohl trotzdem Widersprüche inszeniert werden, 407 wie beispielsweise in der Renaissance be‐ reits Petrarcas bittere Süße der Liebe, „dolce amaro | colpo“ 408 (Canzoniere, CCXCVI, V.3-4) [bittersüßer Hieb]. Laut Luhmann sind es eben diese Wider‐ sprüche, die die Paradoxierung des Liebescodes im 17. Jahrhundert nähren. Während sich die veralteten Gegensätze aus „hoher“ und „sinnlicher“ Liebe auflösen, bleibt der Liebescode einem Ideal verschrieben. Trotzdem ist der Literatur des 17. Jahrhunderts bereits bekannt, „daß der Code ‚nur ein Code‘ und die Liebe ein literarisch präformiertes, geradezu vorgeschriebenes Gefühl ist […], 154 6 Gescheiterte Gespräche und der ewige Mangel an Illusionen <?page no="155"?> 409 Niklas Luhmann: Liebe als Passion, S.-53. 410 Ebd., S.-172. 411 Vgl. Zib. 4231-4232. 412 Giacomo Leopardi: Canti. A cura di Mario Fubini, Torino: Loescher 1971, S.-145. gebunden an ihre eigene Semantik“ 409 . Luhmann beschreibt Liebe insofern als einen Code, der als Code durchschaut wurde, dem man sich jedoch trotz des Bewusstseins über den illusionären Gehalt der Ansprüche hingibt. Durch die Individualisierung und die Inanspruchnahme von Freiheit, die sich nun langsam einstellt, kann der Liebescode jedoch nicht weiterhin durch Idealisierung regu‐ liert werden. An seine Stelle rückt stattdessen die Imagination: In all dem setzt sich eine neuartige, typisch romantische Paradoxie durch: die Erfah‐ rung der Steigerung des Sehens, Erlebens, Genießens durch Distanz. Der Abstand ermöglicht jene Einheit von Selbstreflexion und Engagement, die im unmittelbaren Genuß verloren gehen würde. So wird der Akzent von der Erfüllung in die Hoffnung, in die Sehnsucht, in die Ferne verlagert […]. 410 Eben diese Distanz entfernt das lyrische Ich von der Frau, die dem Blick ver‐ borgen bleibt: „Lunge m’inspiri“ (V.2) [mir aus der Ferne einflößt], „ombra diva“ (V.4) [göttlicher Schatten], „del ver m’è tolto“ (V.44) [dem Blick mir entzogen]. Bei Leopardi wird aber auch die Hoffnung oder die Empfindung von Lust negiert: „Viva mirarti omai | nulla spene m’avanza“ (V.12-13) [Dich leibhaftig zu schauen, bleibt keine Hoffnung mir mehr], „i perduti desiri, e la perduta | speme“ (V.39-40) [die verlorene Sehnsucht und die verlorene Hoffnung]. Diese Negation wird jedoch eingeschränkt, „di te pensando, | a palpitar mi sveglio“ (V.40-41) [denk ich an dich und wieder pocht mir das Herz], da zumindest die Erinnerung an die Illusion noch Empfindungen auslösen kann. Dabei handelt es sich aber nur noch um einen selbstreflexiven Akt. 411 Das lyrische Ich entscheidet sich, die Illusion aufrecht zu erhalten: „Di qua dove son gli anni infausti e brevi, | questo d’ignoto amante inno ricevi“ (V.54-55) [von hier, wo das heillose Leben nur kurze Zeit währt, empfange das Lied eines Fremden, der dich verehrt]. Zu diesem Akt nimmt Leopardi in der Notiz zu seinem Gedicht eine ironische Distanz ein, die vor allem durch die Beschreibung dieser Liebeskonzeption als „fare all’amore col telescopio“ 412 deutlich wird. In ihrer idealisierten Form ist die absolute Schönheit ein Teil von Leopardis gleitender Semantik und wird hier dem Gedankenprogramm des absoluten Seins zugeordnet. Durch den Verweis auf die Imagination wird sie aber bereits in den Grenzbereich verschoben und durch die Zersetzung läuft sie Gefahr, in das Gedankenprogramm des Nichts verschoben zu werden. Es entsteht ein Flimmern zwischen den Bedeutungen. 6.3 Die Canzone Alla sua donna 155 <?page no="156"?> 413 Vgl. Annika Gerigk: „Verwirrung als Programm“, S.-190. 414 Vgl. Winfried Wehle: Leopardis Unendlichkeiten, S.-69. 415 Vgl. Milan Herold: „‚Il presente non può esser poetico‘“, S.-145. 416 Cesare Galimberti: „Leopardi: meditazione e canto“, in: Giacomo Leopardi: Poesie e prose I. Poesie. A cura di Mario Andrea Rigoni, Milano: Mondadori 2011, S.-XXIX. Rhythmisch variiert das Gedicht zwischen Schwere und Leichtigkeit, um dieses Spannungsverhältnis wiederzugeben. 413 Auch in Leopardis Helden-Konzeption werden eine utopische und eine realitätsnahe Lebensweise miteinander abgeglichen und auch hier konnte ein ähnliches Phänomen gezeigt werden: Brutus hängt einer Illusion nach, die durch den Rationalisierungsprozess entleert wurde und die unerreichbar ist. Dennoch kann das Ideal nicht vollständig aufgegeben werden und behält eine Funktion in der Orientierung. Allerdings nicht in seiner abstrakten Form, sondern so, wie es in realen Szenen des Alltags angetroffen wird und wie Leopardi es in seinen idyllischen Szenen evoziert. 414 Den Anschein der idealen Frau verknüpft Leopardi in Alla sua donna in petrarkistischer Manier mit dem Mond: 415 „Se dell’eterne idee | l’una sei tu“ (V.45-46, Hervorh. von mir) [Wenn aber von den ewigen Ideen du eine bist]. Die Schönheit und der Mond verweisen auf eine andere Art des Seins, eine ideale Art des Seins. Diese kann aber nicht mehr unbedroht existieren, weil sie in Leopardis Denkbewegung der Zersetzung freigegeben ist und vom ‚Nichts‘ kontaminiert wurde. Da dieses Phänomen in Leopardis Werk insbesondere durch den Mond illustriert wird, blicken wir im nächsten Kapitel auf das gescheiterte Gespräch zwischen dem Pastore errante und dem Mond. 6.4 Der Canto notturno di un pastore errante dell’Asia Unter den gescheiterten Gesprächen nimmt der Canto notturno di un pastore errante dell’Asia eine besondere Rolle ein. Der Mond ist innerhalb der Canti omnipräsent und verweist auf eine andere Form des Seins, wodurch er eine Rolle in der gleitenden Semantik einnimmt. Der Mond, „la luna“, besitzt im Italienischen ein weibliches Genus und verschwimmt hier unter anderem mit dem Bild der Weiblichkeit, wie es in Alla sua donna bereits versteckt - L’una sei tu“ (V.46) - Eingang fand: „Immagine femminile, che può rinviare a una platonica idea di bellezza, e disco lunare sono tra le manifestazioni predilette dal poeta nel suo vagheggiamento di un altro modo di essere. E tendono a sfumare l’una nell’altra“ 416 . Der Canto notturno di un pastore errante dell’Asia handelt nicht mehr primär vom Zusammenspiel einer ‚realen‘ und einer ‚idealen‘ Welt 156 6 Gescheiterte Gespräche und der ewige Mangel an Illusionen <?page no="157"?> - obwohl dieses durch den Hirten und den Mond anklingt - sondern vom Verhältnis des Individuums zur Welt. Die zwei Welten, die hier in Form des Hirten und des Mondes zusammenprallen, entwickeln, wie in den vorherigen Gesprächen, eine Eigendynamik. Der Canto notturno lässt aber zartere Töne anklingen und kommt ohne die offensichtliche Ironie aus, die in den anderen Texten dieses Kapitels vorherrscht. Dennoch ist der Informationsaustausch, aufgrund der Asymmetrie zwischen den ungleichen Gesprächspartnern, zum Scheitern verurteilt und könnte insofern doch als komisch betrachtet werden, wenn auch weniger offensichtlich. Che fai tu, luna, in ciel? dimmi, che fai, Silenziosa luna? Sorgi la sera, e vai, Contemplando i deserti; indi ti posi. Ancor non sei tu paga Di riandare i sempiterni calli? Ancor non prendi a schivo, ancor sei vaga Di mirar queste valli? Somiglia alla tua vita La vita del pastore. Sorge in sul primo albore Move la greggia oltre pel campo, e vede Greggi, fontane ed erbe; Poi stanco si riposa in su la sera: Altro mai non ispera. Dimmi, o luna: a che vale Al pastor la sua vita, La vostra vita a voi? dimmi: ove tende Questo vagar mio breve, Il tuo corso immortale? (Canto notturno, V.1-20) [Was tust du da am Himmel, sage mir, Mond, was tust du, stiller, schweigsamer Mond? Du erhebst dich am Abend und gehst und betrachtest die einsame Erde, dann ruhst du. Wirst du es nie müde, die ewig gleichen Himmelswege zu gehen? Bist du dessen nicht überdrüssig? Reizt dich noch immer, diese Täler zu sehen? Ähnlich deinem Leben ist das Leben des Hirten. Er erhebt sich im Morgengrauen, treibt seine Schafe über Hänge und Auen, sieht Herden, Quellen und Kräuter und sucht am Abend schließlich ermüdet Ruhe, und nichts erhofft er sich weiter. Sage mir, Mond, welchen Wert hat für den Hirten das Leben, hat euer Leben für euch? Sag, was ist der Sinn meiner kurzen Reise, deiner unsterblichen Kreise? ] 6.4 Der Canto notturno di un pastore errante dell’Asia 157 <?page no="158"?> Der Canto notturno beginnt in medias res und mit einer Apostrophe an einen anthropomorphisierten Mond, der still am Himmel steht. Sein Kreislauf wird mit dem Tagesablauf eines Hirten verglichen: „Somiglia alla tua vita | la vita del pastore“ (V.9-10). Beide führen sie ein Leben, das aus beständig repetitiven Abläufen besteht: aufstehen, umherwandern und beobachten, schlafen gehen. Irritation entsteht in dem Gespräch durch eine doppelte Personalität, die sich hier bereits andeutet. Diese besteht aus einem lyrischen Ich, das auf den Mond blickt, und dem Hirten, in den sich das lyrische Ich hineinversetzt. Durch diese Dopplung wird der Gesang des Hirten, der ab der vierten Strophe einsetzt, mit einer anderen Bedeutung belegt, und es entsteht ein Flimmern zwischen diesen Bedeutungen. Zunächst werden in der zweiten und dritten Strophe aber der Hirte und sein rastloses, hartes Leben, das lediglich den Tod zum Ziel hat, stellvertretend für die Menschheit beschrieben. Leopardi greift hier die Thematik des Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie erneut auf: „Abisso orrido, immenso, | ov’ei precipitando, il tutto obblio“ (V.35-36) [Die schreckliche, klaffende Tiefe, in die ich stürzen werde und alles vergessen]. In beiden Strophen wird dem tristen Leben ein teilnahmsloser, unsterblicher, jungfräulicher Mond gegenübergestellt. An diesen richtet sich in der vierten Strophe der Gesang des Hirten: Spesso quand’io ti miro Star così muta in sul deserto piano, Che, in suo giro lontano, al ciel confina; Ovver con la mia greggia Seguirmi viaggiando a mano a mano; E quando miro in cielo arder le stelle; Dico fra me pensando: A che tante facelle? Che fa l’aria infinita, e quel profondo Infinito seren? che vuol dir questa Solitudine immensa? ed io che sono? Così meco ragiono: e della stanza Smisurata e superba, E dell’innumerabile famiglia; Poi di tanto adoprar, di tanti moti D’ogni celeste, ogni terrena cosa, Girando senza posa, Per tornar sempre là donde son mosse; Uso alcuno, alcun frutto Indovinar non so. Ma tu per certo, Giovinetta immortal, conosci il tutto. 158 6 Gescheiterte Gespräche und der ewige Mangel an Illusionen <?page no="159"?> 417 Vgl. Jens Saathoff: Motive krisenhafter Subjektivität. Eine vergleichende Studie zu deut‐ scher und englischer Schauerliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2001, S.-221-231. Questo io conosco e sento, Che degli eterni giri, Che dell’esser mio frale, Qualche bene o contento Avrà fors’altri; a me la vita è male. (Canto notturno, V.79-104) [Oft, wenn ich dich betrachte, so stumm verharrend über der einsamen Erde, die den Himmel begrenzt in weitem Kreis, oder mich mit meiner Herde begleitend Schritt für Schritt auf der Reise, und wenn ich am Himmel die Sterne funkeln sehe, frag ich gedankenvoll: So viele Fackeln? Was macht diese unendliche Luft und jene unendliche klare Tiefe? Diese unmessbare Einsamkeit, was bedeutet sie uns? Und was bin ich? So fragte ich mich und bedenke des Raumes erhabene, unermessliche Weiten und die unzählbaren Scharen seiner Geschöpfe, denn all das vielfache Regen, sich Fortbewegen der Körper am Himmel, auf Erden, die rastlos kreisen und immer dorthin, von wo sie kamen, zurückkehren werden, und errate nicht, wem das nützt, wozu das fruchtet. Du aber gewiss besitzt Kenntnis von allem, ewig junger Mond. Ich weiß und fühle nur, dass aus dem ewigen Kreisen, aus meinem zerbrechlichen Leben andere vielleicht Glück und Behagen schöpfen; zu mir ist das Leben schlecht.] In verdichteter Form stellt der Hirte vier rhetorische Fragen an den Mond, in denen er sich nach der Beschaffenheit und Größe des Universums, der damit verbundenen Einsamkeit und schließlich nach sich selbst erkundet. Im Kontrast zur Größe des Universums, der Vielzahl an Sternen und der unendlichen Tiefe des Kosmos wirkt der Hirte klein und einsam. In La ginestra (siehe Kapitel 8.1) wird Leopardi das Nichts, das der Mensch im Verhältnis zum Kosmos darstellt und das hier nur in den Fragen angedeutet wird, weiter ausbauen. Der Hirte will wissen, wie er in diese Existenz eingebunden ist. Das Nichts stellt in August Klingemanns Nachtwachen des Bonaventura aus dem Jahre 1804 die eigene Identität des Ichs in Frage. Hat das Subjekt noch eine Identität, wenn die Maske abgenommen wird, oder blickt es dann auf das Nichts? 417 Gebt mir einen Spiegel, ihr Fastnachtsspieler, daß ich mich selbst einmal erblicke - […] Ihr schüttelt - wie? steht kein Ich im Spiegel, wenn ich davor trete - bin ich nur der Gedanke eines Gedanken, der Traum eines Traumes […] Hu! Das ist ja schrecklich einsam hier im Ich, wenn ich euch zuhalte, ihr Masken, und ich mich selbst anschauen will - alles verhallender Schall ohne den verschwundenen Ton - nirgends Gegenstand, und ich sehe doch - - das ist wohl das Nichts, das ich sehe! 418 6.4 Der Canto notturno di un pastore errante dell’Asia 159 <?page no="160"?> 418 August Klingemann: Die Nachtwachen des Bonaventura, Leipzig: Insel 1919, S.-95. 419 Klingemann steht hier eher in geistiger Nähe zu Pirandello. Vgl. Scheel: „Positionen der Hoffnungslosigkeit und Hoffnung im „poetischen Nihilismus“ der deutschen Romantik und bei Giacomo Leopardi“, S.-152. 420 Antonio Prete: La poesia del vivente, S.-39. 421 Edoardo Costadura: „Die verschleierte / entschleierte Natur. Leopardi - Schiller - Goethe“, in: ders. / Diana di Maria / Sebastian Neumeister (Hrsg.): Leopardi und die europäische Romantik, Heidelberg: Winter 2015, S.-106. 422 Alberto Folin: Leopardi e l’imperfetto del nulla, Venezia: Marsilio 2001, S.-18-19. Im Gegensatz zu Klingemanns Figuren 419 fragen Leopardis Figuren nicht nach ihrer Identität. Ganz im Gegenteil dazu scheint das eigene Leiden dem Subjekt Gewissheit über sich selbst zu verschaffen. Dem Hirten bleibt Sinn und Zweck seiner Zugehörigkeit zur Welt verborgen; er kennt und fühlt lediglich seine eigene unbehagliche Existenz. Die Erkundung von und Erkundigung über sich selbst findet im Canto notturno di un pastore errante dell’Asia in Abhängigkeit zur Welt beziehungsweise zum Universum statt, und entsprechend fragt der Hirte nicht, wer er ist, sondern was er ist: „Ed io che sono? “ (V.89) [Und ich, was bin ich]. Die Brücke zwischen diesen Weiten und dem Kosmos bildet der ewige Mond, dem Kenntnisse über die Zusammenhänge der Welt zugesprochen werden. Hier wirkt sich die Verdopplung der Personalität besonders stark aus. Prete verbindet den Gesang des Hirten mit einem antiken Glauben an das Leben der Sterne. 420 Durch die Sicht des lyrischen Ichs auf den Hirten wird der Mond aber zugleich erneut mit einer Göttlichkeit assoziiert, welche nicht mehr anwesend ist oder die ihre Präsenz verschleiert 421 und dadurch ebenso wie das Absolute in Alla sua donna in Frage gestellt wird: [I]l pastore usa il che, neutro, e la luna, che assiste a questo domandare, è già da sempre assente, in quanto non condivide con l’uomo il suo essere mortale, e cioè la fuoriuscita dal ni-ente che ne decide la finitezza. Dunque il pastore interroga un’assenza, o (che è lo stesso) una presenza divina (in quanto si tratterebbe pur sempre di una presenza assente), aprendosi a una domanda che riguarda quel che gli è più prossimo: il proprio evenire dal ni-ente dell’essere al qui e ora dell’esistenza, e cioè dal nulla dell’eterno alla temporalità dell’evento. 422 Durch das Schweigen des Mondes entsteht eine Fremdheit, die den Hirten in der Einsamkeit der Landschaft isoliert. Im Canto notturno wird durch die evaluative Wirkung des Pronomens ‚non‘ der Mangel, der das Leben des Hirten bestimmt, ausgedrückt: „Ancor non sei tu paga“ (V.5) [Wirst du es nie müde], „altro mai non ispera“ (V.15) [nichts erhofft er sich weiter], „altro ufficio più grato | non si fa da parenti alla lor prole“ (V.50-51) [andere, bessere Dienste vermögen Eltern den Kindern nicht zu leisten], „ma tu mortal non sei“ (V.59) [doch du 160 6 Gescheiterte Gespräche und der ewige Mangel an Illusionen <?page no="161"?> 423 Vgl. hier aber im Bezug zu Alla sua donna: Francesco De Rosa: „Alla sua donna“, in: Lectura leopardiana. I quarantuno „Canti“ e „I nuovi credenti“, a cura di Armando Maglione, Venezia: Marsilio 2003, S.-325. 424 Antonio Prete: La poesia del vivente, S.-25-27. bist nicht sterblich]. Diese Beschreibungen gehen dem Gesang jedoch voraus und stimmen den Leser ein. Zusammengefasst wird dieser Mangel in einem Vers des Hirten „a me la vita è male“ (V.104) [zu mir ist das Leben schlecht]. Demgegenüber schreibt Leopardi dem Mond im Canto notturno eine Reinheit zu, die dem Menschen vorenthalten bleibt: „Vergine luna“ (V.37), „Intatta luna“ (V.57), „eterna peregrina“ (V.61), „giovinetta immortal“ (V.99), „candida luna“ (V.137). Durch die ständige Gegenüberstellung mit dem Mangel und das ewige Schweigen des Mondes wird aber auch dieser vom Mangel kontaminiert und er verkörpert keine ideale Form des Seins mehr. Der Mond ist in den Weiten des Kosmos selbst bedeutungslos klein, und sein göttlicher Status kann vom Menschen - hier vom lyrischen Ich - jederzeit wieder aberkannt werden kann, wodurch er selbst prekär ist. Durch die doppelte Personalität und den prekären Status des Mondes sind beide Gesprächspartner nicht mehr vollständig anwesend. 423 Der Hirte selbst vergleicht sein Leben in der fünften Strophe mit dem seiner Herde, die zufrieden und unwissend ihr Dasein verbringt. Durch die doppelte Personalität wirft der Canto notturno aber ebenfalls die Frage auf, ob die Leiden des Hirten denen des modernen städtischen Intellektuellen entsprechen. Durch seine semplicità sollte er, laut Leopardi, weniger betroffen sein von den Leiden, die mit der Vernunft einhergehen. Sein Gesang verweist auf die poetische Ord‐ nung (siehe Kapitel 5.2.2), die Leopardi den mündlichen Traditionen zuspricht. 424 Dadurch ist er nicht vollständig haltlos und orientierungslos. Er lebt aber auch nicht mehr in dem glücklichen naiven Zustand, den sich Leopardi in früheren Texten noch als Sehnsuchtsort vorstellte. Anstelle einer Rückkehr zu einem Naturzustand imaginiert das lyrische Ich zaghaft, „forse“ (V.133), einen glücklichen Zustand in der Tierwelt: Forse s’avess’io l’ale Da volar su le nubi, E noverar le stelle ad una ad una, O come il tuono errar di giogo in giogo, Più felice sarei, dolce mia greggia, Più felice sarei, candida luna. O forse erra dal vero, Mirando all’altrui sorte, il mio pensiero: 6.4 Der Canto notturno di un pastore errante dell’Asia 161 <?page no="162"?> 425 Alberto Folin: Leopardi e l’imperfetto del nulla, S.-22. 426 Leopardi schreibt diese Passage in Abgrenzung zu Leibniz’ Optimismus, will diesen aber - aufgrund der mangelhaften Erkenntnisfähigkeit des Menschen - nicht ins Gegenteil verkehren: „Non ardirei però estenderlo a dire che l’universo esistente è il peggiore degli universi possibili, sostituendo così all’ottimismo il pessimismo. Chi può conoscere i limiti della possibilità? “ (Zib. 4174) [Ich würde es aber nicht wagen, zu sagen, dass das existierende Universum das schlechteste aller möglichen Universen ist und dadurch Forse in qual forma, in quale Stato che sia, dentro covile o cuna, È funesto a chi nasce il dì natale. (Canto notturno, V.133-1143) [Vielleicht, wenn ich Flügel hätte, über den Wolken zu fliegen, die Sterne zu zählen, einen nach dem anderen, oder wie der Donner von Berg zu Berg zu wandern, wäre ich glücklicher, meine geliebte Herde, könnte ich glücklicher sein, schneeweißer Mond. Vielleicht auch, wenn ich das Schicksal andrer bedenke, dass ich die Wahrheit verfehle. Vielleicht ist jede Seele, ob in der Höhle, ob in der Stube geboren, am Tage, der sie zur Welt bringt, schon verloren.] Selbstbewusstsein entsteht bei Leopardi durch die Reflexion der eigenen Leiden; eine Fähigkeit, die Leopardi einem Tier nicht zuschreibt. Im Canto notturno stellt die Tierwelt einen Sehnsuchtsort dar, dessen illusorischer Charakter jedoch bereits durch das wiederholte „forse“ markiert wird. Jede Existenz scheint nun vom Mangel und vom Leiden bedroht. Folin definiert das Böse und Schlechte bei Leopardi als „mancanza a essere o una mancanza di essere“ 425 . Zur Bösartigkeit aller Existenz verfasst Leopardi im Jahr 1826 einen berühmten Eintrag im Zibaldone: Tutto è male. […] Non v’è altro bene che il non essere; non v’ha altro di buono che quel che non è; le cose che non son cose: tutte le cose sono cattive. […] L’esistenza, per sua natura ed essenza propria e generale, è un’imperfezione, un’irregolarità, una mostruosità. [… I]l tutto esistente è infinitamente piccolo a paragone della infinità vera, p. dir così, del non esistente, del nulla. (Zib. 4174) [Alles ist böse. Es gibt nichts anderes Gutes als das Nicht-Sein; es gibt nichts anderes Gutes als das, was nicht ist; die Dinge, die keine Dinge sind: alle Dinge sind böse. Das Dasein ist seiner Natur und seinem Wesen nach eine Unvollkommenheit, eine Unregelmäßigkeit, eine Ungeheuerlichkeit. Die gesamte Existenz ist winzig im Vergleich zur - sozusagen - wahren Unendlichkeit des Nicht-Existierenden, des Nichts]. Durch den Fokus auf den Mangel weitet sich dieser jeweils auf das nächste übergeordnete System aus. 426 In einem derartigen Denken dehnt sich das 162 6 Gescheiterte Gespräche und der ewige Mangel an Illusionen <?page no="163"?> den Optimismus durch Pessimismus zu ersetzen. Wer kann die Grenzen des Möglichen kennen? ]. Nichts beständig aus, bis es schließlich alles einnimmt. Dies betrifft auch die Gegenprogramme, die Leopardi als Sehnsuchtsorte gegen das Nichts aufgebaut hat. Im Zibaldone verbildlicht er das allumfassende Leiden in einem Garten der souffrance: Entrate in un giardino di piante, d’erbe, di fiori. Sia pur quanto volete ridente. Sia nella più mite stagione dell’anno. Voi non potete volger lo sguardo in nessuna parte che voi non vi troviate del patimento. Tutta quella famiglia di vegetali è in istato di souffrance, qual individuo più, qual meno. Là quella rosa è offesa dal sole, che gli ha dato la vita; si corruga, langue, appassisce. Là quel giglio è succhiato crudelmente da un’ape, nelle sue parti più sensibili, più vitali. (Zib. 4175) [Geh in einen Garten mit Pflanzen, Gras und Blumen. Wie schön er auch erscheint. Selbst in der mildesten Jahreszeit. Du wirst nirgendwo hinschauen können, ohne Leid zu finden. Die ganze Familie der Vegetation ist in einem Zustand der souffrance, das eine Wesen mehr, das andere weniger. Hier wird eine Rose von der Sonne angegriffen, die ihr Leben gegeben hat; sie verdorrt, schmachtet, verwelkt. Dort wird eine Lilie von einer Biene grausam ausgesaugt, an ihren empfindlichsten, lebensspendenden Stellen.] Doch dieses Denken dringt von außen und über das lyrische Ich in den Canto not‐ turno ein. Die Fragen und Überlegungen des Hirten sind vorsichtiger, sanfter und melancholischer. Der Hirte imaginiert eine andere Form des Seins, zerstört diese aber nicht unmittelbar vollständig. Durch die doppelte Personalität entsteht ein Flimmern zwischen diesen beiden Wahrnehmungen der Welt. In den Operette Morali vertritt häufig einer der Gesprächspartner eine Position, die verdeutlicht, wie anthropozentristisch das Denken der Menschheit ist. Im Canto notturno wird der Mond durch die doppelte Personalität im Gespräch zur Projektionsfläche der Ambivalenz der gesamten Existenz. 6.4 Der Canto notturno di un pastore errante dell’Asia 163 <?page no="165"?> 427 „Sono presenti così, quasi in un compendio esclusivo, i temi fondamentali del poeta: la tragica illusione di felicità che tuttavia ci consente di vivere, la frattura lancinante fra gioventù e vecchiaia, il dolore che l’uso della ragione inevitabilmente produce, la cecità della natura e la consapevolezza dell’uomo, lo sconfinato e inesausto desiderio d’amore, il terrore dell’età adulta, la bellezza del paesaggio, l’inevitabile conformismo della società.“ Eraldo Affinati: „Il passero solitario“, in: Lectura leopardiana. I quarantuno „Canti“ e „I nuovi credenti“, a cura di Armando Maglione, Venezia: Marsilio 2003, S. 225. 428 Vgl. Marco Dondero: Leopardi personaggio. Il poeta nei Canti e nella letteratura italiana contemporaneo, Roma: Carocci 2020, S.-13. 7 Das Nichts in der Liebe Eine Frage, die noch im Raum steht, ist wie sich ‚das Nichts‘ zur Dichtung verhält. Innerhalb der Verknüpfungen, die Leopardi zwischen Dichtung und Weltwahrnehmung produziert, erklärt Leopardi eine poetische Lebensführung zum elegantesten und ehrlichsten Weg, wie schon in den Betrachtungen zur Haltung des Subjekts in der Welt erläutert wurde. Viele Gedichte von Leopardi - wahrscheinlich sogar alle - können metapoetisch gelesen werden. Dies ist unter anderem der gleitenden Semantik geschuldet ist, wie bereits am bekanntesten metapoetischen Gedicht L’infinito in Kapitel 4.5 dargelegt wurde. Auch der Passero solitario wäre hier einschlägig, in dem der Vogel als Analogie für das einsame Dichter-Ich steht: „Oimè, quanto somiglia | al tuo costume il mio“ (V.17-18) [Weh mir, wie ähnlich im Grunde ist deine Art zu leben der meinen]. Sein verirrter Gesang erfüllt die Täler, während die Blütezeit seines Lebens verstreicht: „Canti, e così trapassi | dell’anno e di tua vita il più bel fiore“ (V.15-16) [Du singst, und so verbringst du des Jahrs und des eigenen Lebens Blütezeit]. Eine Vielzahl an typischen Motiven und Themen finden sich in dem Gedicht wieder, 427 von denen vor allem die zeitliche Dimension einen starken Bezug zum ‚Nichts‘ hat. In einigen Gedichten wird die vermittelnde Rolle von einer Dichterfigur übernommen, die zwischen der Antike und der Moderne, zwischen Gefühl und Vernunft, zwischen Ich und Welt vermittelt. Dondero erkennt die Dichter-Figuren in Sopra il monumento di Dante, Il primo amore, Al conte Carlo Pepoli, Il risorgimento, A Silvia, Le ricordanze, Palinodia al marchese Gino Capponi und Scherzi als Autorepräsentationen des Dichters selbst. 428 Obwohl er in den einzelnen Kapiteln die Auswahl der jeweiligen Gedichte begründet, bleibt unklar, warum andere Gedichte, wie etwa der Ultimo canto di Saffo, aus der Analyse ausgeschlossen wurden. Dondero zeigt die unterschiedlichen Kontexte, in denen die Dichterfigur sich äußert, die weit über den Bereich der Dichtung hinausgehen. Da Leopardis kritische Distanz zu der Dichter-Figur fehlt und <?page no="166"?> 429 Die maskuline Form ist bei Leopardi angebracht, da er nur Männer zu einer Sensibilität befähigt sieht, die ein Dichter benötigt. Dichterinnen wie Saffo, die eine außergewöhn‐ liche Sensibilität besitzen, stellen eine Ausnahme in Leopardis misogyner Konzeption dar. 430 Vgl. Zib. 156. 431 Das Zusammentreffen mit der Cousine ist zwar der biographische Anlass, in der literarischen Verarbeitung kann die Thematik jedoch nicht auf eine Frau fixiert werden. Vgl. Matteo Palumbo: „Il primo amore di Giacomo Leopardi: donna reale, donna sognata“, in: Femmes italiennes 3 (1999), S.-215-229. 432 In der Elegia IV werden die Begegnung und die ambivalenten Gefühle, die mit ihr verbunden sind, imaginiert und das Liebesgefühl wird konserviert: „Io giuro al ciel che rivedrò la mia | donna lontana ond’il mio cor tace | ancor posando e palpitar desia. | Giuro che perderò questa mia pace | un’altra volta poi ch’il pianger solo | per lei tuttora die Variationen weniger auffällig sind als bei der Philosophen-Figur, die vor allem in den Operette Morali auftritt, wird der Dichter dennoch immer wieder mit Leopardi gleichgesetzt, und auch die Inszenierung findet wenig Beachtung. Beide Figuren, in all ihrer Polyvalenz, weisen ähnliche Tendenzen wie die anderen Gegensätze der gleitenden Semantik auf. Während ausdifferenziert werden kann, welche Positionen die Philosophen-Figur vertritt, entzieht sich die Dichter-Figur in die Sphären des Unbestimmten, da sie eher in Gedichten zu Wort kommt. Für das ambivalente Verhältnis der Dichtung zum ‚Nichts‘ sind jedoch die Liebesgedichte bezeichnend, in denen das lyrische Ich an seiner unerwiderten Liebe leidet. In Leopardis Poetik sind die Affekte, neben Imagination und Illusionen, die wichtigste Quelle für die Dichtung, wobei diese eng miteinander verwoben sind. Nur der Dichter 429 spürt durch seine Sensibilität die Leiden der Welt. Für Leopardi ist eine Poesie der Affekte die einzige Form der Dichtung, die Innovation und Originalität leisten kann. 430 Als Gegensatz zur Prosa nimmt sie in seiner gleitenden Semantik einen Platz ein und findet in seinen poetologischen Studien Anknüpfungen an andere Themengebiete: Poesie wird als Ausdruck von Affekten und Enthusiasmus unter dem Einsatz von Eloquenz und Imagination definiert. Affekte wurden bereits als theoretisches Konstrukt (teoria del piacere) betrachtet und in ihren pathetischen (Bruto minore), abstrakten (Alla sua donna) und undefinierten, vernebelten (Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie) Ausformungen. Die dichterische Selbstreferenz und ihre starke Tendenz zum Nichts - „Arcano è tutto | fuor che il nostro dolor“ (Ultimo canto di Saffo, V.46-47) [Dunkel ist alles, außer unserem Schmerz] - ist eines der Fundamente von Leopardis Lyrik, sollte jedoch nicht als biographisches Phänomen verstanden werden. Bereits in Leopardis Elegie Il primo amore liegt der Verdacht nah, dass er das Sich-Hineinsteigern in die Liebesgefühle für seine Cousine Geltrude Cassi 431 ausreizt, um die Gefühle für das literarische Werk fruchtbar zu machen. 432 166 7 Das Nichts in der Liebe <?page no="167"?> e l’sospirar mi piace“ [Ich schwöre dem Himmel, dass ich meine ferne Frau wiedersehen werde, damit mein Herz, das schweigt, noch einmal posiert und sehnsüchtig schlägt. Ich schwöre, dass ich meinen Frieden noch einmal verlieren werde, weil ich für sie allein gerne weine und seufze], Poesie e Prose I, S 618. Leopardi verwirft diese exaltierten Entwürfe jedoch größtenteils. Vgl. Karl Maurer: Giacomo Leopardis „Canti“ und die Auflösung der lyrischen Genera, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1957, S.-39-44. 433 Vgl. Zib. 3050-3051; Baldassar Castiglione: Il libro del Cortegiano. A cura di Walter Barberis, Torino: Einaudi 1998, S.-59. 434 Im Discorso di un italiano intorno alla poesia romantica richtet sich Leopardi gegen den artifiziellen und übertrieben pathetischen Charakter, den er den Romantikern zuschreibt. 435 Edoardo Costadura: „Die verschleierte / entschleierte Natur, S.-93-107. 436 Vgl. ebd., S. 99-101. Costadura bezieht sich auf Pierre Hadots Studie zur Geschichte des Topos der verschleierten Natur im Abendland und auf Jan Assmanns Arbeiten. In dem Topos, der sich bereits bei Heraklit finden lässt, ist der Entschleierungsprozess ein Zivilisationsprozess, in dem die Geheimnisse der Natur gelüftet werden und die Natur, wenn die Enthüllung gewaltsam oder zu schnell erfolgt, entweiht wird. Laut Costadura verkehrt Leopardi den zeitlichen Ablauf und die Kausalität des Topos, indem eine nackte Natur sich durch den Zivilisationsprozess verdeckt. Zum Topos siehe: Pierre Hadot: Le Voile d’Isis. Essai sur l’histoire de l’idée de nature, Paris: Gallimard 2004. 437 Discorso di un Italiano intorno alla poesia, Poesie e prose II, S.-377 Eloquenz bedeutet bei Leopardi kein artifizielles Sprachwerk, sondern lehnt sich an Castigliones Konzept der sprezzatura  433 an. Die Mühen, die in die sprachliche Ausgestaltung fließen, sollen unsichtbar bleiben. 434 Einfache Bilder aus dem ländlichen Alltag genügen, um die Imagination eines sensiblen Dichters anzuregen, und suggerieren Einfachheit. Dennoch ist eine hohe Kunstfertigkeit gefragt, um Affekte auszulösen und die Imagination anzuregen. Jene Bilder und die Sinneswahrnehmungen, die mit diesen verbunden sind, sollen die doppia vista auslösen, in der das Wahrgenommene durch die Imagination verdoppelt wird (siehe Kapitel 4.4). Natura naturata und natura naturans finden dadurch nebeneinander statt. Dieser Prozess kann unterschiedlich verstanden werden, wie Costaduras Analyse zur verschleierten bzw. entschleierten Natur zeigt. 435 Er bestätigt die Entwicklungshypothese, indem er der ersten Phase eine verschlei‐ erte und der zweiten Phase eine unverschleierte Natur zuspricht: Die verschlei‐ erte Natur stehe in der ersten Phase in Korrelation zur Verfallsgeschichte, da der Zivilisationsprozess nicht nur den Menschen, sein Bewusstsein und seine Wahrnehmung verändert (Kapitel 5) habe, sondern auch die Natur selbst. Sie habe sich mit einem Schleier bedeckt und zeige sich nach ihrer Korruption kaum noch: 436 „[I]l mantello dell’incivilmento che nasconde tante parti della natura“ 437 [Der Mantel der Zivilisierung, der die Natur größtenteils versteckt]. Den Mond versteht Costadura als Verweis auf die unverschleierte Natur. Erst durch den schöpferischen Akt des Dichtens, des natürlichen Nachahmens, werde die Natur 7 Das Nichts in der Liebe 167 <?page no="168"?> 438 Vgl. Edoardo Costadura: „Die verschleierte / entschleierte Natur“, S.-104-107. 439 Anzumerken ist hier, dass der größte zusammenhängende Teil der poetologischen Überlegungen in Leopardis frühe Schaffensphasen fällt. Spätere Überlegungen sind fragmentarischer. 440 Degner deutet den Kontrast als „Möglichkeit eines Widerstands gegen ‚äußeres‘ durch ‚inneres‘ Leben“. Uta Degner: „Belebende Kunst“. Zur ‚Sapphischen‘ Konzeption einer enthüllt und in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt. In der zweiten Phase sei die Natur hingegen entschleiert und zeige jedem, der sie sehen will, offen ihre Stiefmütterlichkeit (matrigna). Jetzt sei es der Blick des Menschen, der vernebelt ist, da er alles durch seine Vernunft betrachte. 438 Bis hierhin wurde bereits deutlich, dass eine derartige Einteilung einem genaueren Blick nicht standhält, vielmehr wechselt sie zwischen Verschleierung und Entschleierung. Der frühe Leopardi lässt bereits die Erkenntnis durchbli‐ cken, dass eine Rückkehr zur Natur ein literarisches Konstrukt ist. Der späte Leopardi hat ein hochgradig ambivalentes Verhältnis zur Natur, und auch wenn sie ihre Stiefmütterlichkeit zeigt, bleibt sie dennoch undurchsichtig und ihre Handlungen bleiben verschleiert. Ausgehend von dieser These wird auch die doppia vista ambivalent. 439 In einer verschleierten Natur sieht der Dichter durch die Imagination die nackte Natur, so wie der antike Mensch sie gesehen haben soll. Aber was sieht er in einer entschleierten Natur? Eine Illusion, in der die am Mangel krankende Realität durch die Imagination bereichert wird? Dass der Dichter lediglich letzteren Beitrag zur Existenz leisten kann, ist der bedrohlichste Gedanke in Leopardis Werk. Dieser wird jedoch weder endgültig bejaht noch verneint. Dichtung hätte so zwar einen Wert, aber alle weiteren Ambitionen des Dichters wären gescheitert. Dies wäre eine poesia del nulla. Stattdessen kommt es aber erneut zum Flimmern der Bedeutungen und die Diskrepanz bleibt unaufgelöst. Im Ultimo canto di Saffo wird sie durch den Gegensatz zwischen außen und innen, Form und Inhalt deutlich. Die Dichterin, die sich, dem Mythos nach, aufgrund der unglücklichen Liebe zu dem Schiffer Phaon von dem Leukadischen Felsen ins Meer gestürzt haben soll, ist eine seiner Figuren, die ihr Leid in Dichtung überführt. Leopardi unterscheidet dabei nicht zwischen den beiden Saffos, die inzwischen unterschieden werden, und nimmt antike sowie auch moderne Elemente in seine Darstellung auf. Während Brutus als letzter Held in einem unheroischen Zeitalter lebt und als Stilisierung der Tugend eine märtyrerhafte Haltung gegenüber seinen Zeitgenossen repräsen‐ tiert, liegen bei Saffo die Widersprüche innerhalb der Figur selbst. Durch ihr tugendhaftes, poetisches Inneres in einem hässlichen Körper ist sie selbst eine Reflexionsfigur des Scheins, die Dichtung in einer unpoetischen Welt repräsen‐ tiert. 440 Dadurch hebt sie sich von der antiken Rezeption ab. In Saffo wird das 168 7 Das Nichts in der Liebe <?page no="169"?> ästhetischen Wahrnehmung der Welt in Leopardis Ultimo canto di Saffo und Hölderlins Thränen“ in: Sebastian Neumeister (Hrsg.): Die ästhetische Wahrnehmung der Welt: Giacomo Leopardi/ Giacomo Leopardi e la percezione estetica del mondo, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2009, S.-190. 441 Nicht mehr bedeutet nicht, dass die Natur zu irgendeinem Zeitpunkt in Leopardis Gedichten mit dem lyrischen Ich gesprochen hätte (mit Ausnahme der satirischen Stücke), sondern, dass sie in einer imaginierten Vergangenheit zugänglich war. 442 Zum Aspasia-Zyklus werden gemeinhin die Gedichte Il pensiero dominante, Amore e Morte, Consalvo, A se stesso und Aspasia gezählt. volle Ausmaß von Leopardis Widersprüchlichkeit deutlich. Die Canzone wird zeitlich ein Jahr vor einer Phase verortet, die in der Literaturforschung gerne als silenzio poetico (siehe Kapitel 3) bezeichnet wird. Zwischen 1823 und 1828 soll Leopardi, desillusioniert durch den Verlust der Natur als Inspirationsquelle, einen prosaischen Weg eingeschlagen haben, da seine Literatur nun nicht mehr auf Illusionen fußen konnte. In Folge dessen soll er sich primär den Operette Morali gewidmet haben und seine dichterischen Tätigkeiten reduziert haben. In den vorangehenden Kapiteln wurde schon deutlich, dass eine derart lineare Deutung bei genauerem Hinsehen nicht möglich ist. Dennoch wird der Begriff hier aufgegriffen, da er mutatis mutandis ein allgemeines Phänomen in Leopardis Universum beschreibt: In den Gedichten spricht die Natur nicht mehr mit dem lyrischen Ich. 441 Im Ultimo canto werden Saffo nun alle positiven Sinneserfahrungen nach‐ einander entzogen. Dieser Akt kann als Verschleierung oder Entschleierung gewertet werden. Obwohl das Gedicht metapoetisch gelesen werden kann, geht seine stärkste Wirkung von dem unglücklichen Liebesdiskurs aus. Hier werden Widersprüche deutlich: Die Verschleierung der positiven Natur und eine Exter‐ nalisierung der Affekte des unglücklichen Subjekts finden gleichzeitig statt und entkräften den Aktiv-Passiv-Gegensatz. Ebenso bedeutsam ist diesbezüglich das Gedicht A se stesso aus einer späten Schaffensphase. In dem kurzen Gedicht versucht das lyrische Ich sich selbst zu überzeugen, dass es alle Emotionen aufgeben kann, nachdem seine Desillusionierung abgeschlossen ist. Grund und Art dieser Desillusionierung bleiben unbekannt. Lediglich die Betrachtung innerhalb des Aspasia-Zyklus, 442 in dem Variationen von enttäuschter Liebe durchgespielt werden, gibt einen Kontext. 7.1 Eine Poesie der Affekte: Ultimo canto di Saffo Der Ultimo canto di Saffo entzieht sich bereits formal, durch die unklare Perso‐ nalität, einer Phaseneinteilung: Das Gedicht kann als Ausdruck der historischen 7.1 Eine Poesie der Affekte: Ultimo canto di Saffo 169 <?page no="170"?> 443 Es dominiert die autobiographische Deutung, die meistens mit den anderen Deutungen verknüpft wird. Damiani benont das persönliche Motiv: „L’ispirazione della Canzone, che del Bruto minore riprende - con i toni amari e blasfemi - il motivo del suicidio, è dunque fornita da un trasposto ma evidentissimo motivo personale e può risollevare la questione, lungamente dibattuta dalla critica, del rapporto tra pensiero e biografia in Leopardi“, Poesie e Prose I, S. 939; ebenso Timpanaro: „Il lamento rivolto alla natura ha, in queste poesie, una forte impronta autobiografica: è la deformità fisica del poeta che lo porta a sentirsi figlio negletto della natura“, Sebastiano Timpanaro: Classicismo e illuminismo nell’ ottocento italiano, S. 389; Fubini begründet die Vermengung durch den persönlichen Gehalt: „[U]na materia così intimamente e delicatamente personale che difficilmente avrebbe potuto trovare espressione nella forma della confessione diretta“; Giacomo Leopardi: Canti. A cura di Mario Fubini, Torino: Loescher 1976, S. 97; Giuseppe und Domenico De Robertis begründen den Universalisierungsanspruch durch das persönliche Leiden: „A Saffo l’infelicità appare universale, ma solo alla luce di un’esperienza individuale.“ Giacomo Leopardi: Canti, a cura di Giuseppe e Domenico De Robertis, Milano, Mondadori, 1978, S. 129-139. Ebenso Spinelli, Vgl. Alice Spinelli: „Ent-Täuschung in den Selbstmord-Kanzonen“, in: Cornelia Klettke / Sebastian Neumeister (Hrsg.): Giacomo Leopardi - Dichtung als inszenierte Selbsttäuschung in der Krise des Bewusstseins, Berlin: Frank & Timme 2017, S.-114. 444 Vgl. Zib. 2891-2892. 445 Barbara Kuhn: „Und sie singt doch“, S.-29-51. Figur Saffo beziehungsweise des Mythos (individual), als Vermengung von Leopardi und Saffo (persönlich) oder als Generalisierung des Unglücks zur conditio humana (universal) gelesen werden. 443 Vermutlich beginnt der Ultimo canto in Figurenrede, dabei steht das artikulierte Ich, „sembianze agli occhi miei“ (V.6), im Wechsel mit dem artikulierten „noi“, „Noi l’insueto allor gaudio ravviva“ (V.8), und der Figur Saffo, „Ahi di cotesta | infinita beltà parte nessuna | alla misera Saffo i numi e l’empia | sorte non fenno“ (V.20-23). Im Zibaldone stellt Leopardi Überlegungen zum „noi“ in seiner Bedeutung als erste Person Singular im Lateinischen an. 444 In dieser Bedeutung hätte das „noi“ einen antikisierenden Effekt und in diesem Sinne wird es hier betrachtet. Kuhn zeigt in ihrem Aufsatz „Und sie singt doch“, dass die Alternanzen nicht willkürlich im Text verstreut sind. 445 In der ersten Strophe - sie findet in einer Art Figurenrede statt, die nicht formal markiert wird - äußert sich das Ich in Form von Anrufungen an die Natur: An die „placida notte“, „la cadente luna“, den „nunzio del giorno“ und die „dilettose sembianze“. Demgegenüber steht in der zweiten Hälfte der ersten Strophe vier Mal das artikulierte „noi“. Im Verlauf des Gedichtes reduzieren sich die Apostrophen und die Präsenz der Personalität schwindet. Die letzte Strophe enthält nur noch eine einzige Apostrophe, diesmal nicht mehr an die Natur gerichtet, sondern an den Geliebten, der die Liebe nicht erwidert. Dieses graduelle Verstummen geht mit einem Entzug von Sinneswahrnehmungen einher, der bereits in der ersten Strophe angekündigt wird: „[G]ià non arride | 170 7 Das Nichts in der Liebe <?page no="171"?> spettacol molle ai disperati affetti“ (V.6-7) [Nun lächelt kein sanftes Bild mehr den verzweifelten Affekten]. Die Synästhesie aus Sehen und Tasten in der ersten Strophe leitet die Trennung von der Natur ein, die im Verlauf des Gedichts durch einen zunehmenden Entzug der materiellen Grundlagen erfolgt. Placida notte, e verecondo raggio Della cadente luna; e tu che spunti Fra la tacita selva in su la rupe, Nunzio del giorno; oh dilettose e care, Mentre ignote mi fur l’erinni e il fato, Sembianze agli occhi miei; già non arride Spettacol molle ai disperati affetti. Noi l’insueto allor gaudio ravviva, Quando per l’etra liquido si volve E per li campi trepidanti il flutto Polveroso de’ Noti, e quando il carro, Grave carro di Giove a noi sul capo, Tonando, il tenebroso aere divide. Noi per le balze e le profonde valli Natar giova tra’ nembi, e noi la vasta Fuga de’ greggi sbigottiti, o d’alto Fiume alla dubbia sponda Il suono e la vittrice ira dell’onda. (Ultimo canto di Saffo, V.1-18) [Friedliche Nacht und keuscher perlmuttener Schimmer des sinkenden Mondes dort und du, der du aufsteigst über dem schweigenden Walde, über den Felsen, Bote des Tages, o ihr Gestalten, den Augen teuer und lieb, solange mir unbekannt waren der Erinnyen Gewalt und das Schicksal! Nun lächelt kein sanftes Bild mehr den verzweifelten Affekten. Uns belebt nur noch ungewohnte Freude, dann wenn durch den fließenden klaren Äther über die bangen Gefilde die stäubende wilde Woge des Notos sich wälzt und wenn der Wagen, der schwere Wagen des Zeus über meinem Haupte mit Blitz und Donner den finsteren Himmel aufreißt. Mir tut gut, über steile Hänge, durch tiefe Täler im Nebel zu wandern, uns der Herden schreckhafte Flucht am gefährdeten Ufer des tiefen Stromes brausendes Schwellen und die siegreiche Wut seiner stürmischen Wellen.] Die Natur schenkt durch den Tag-/ Nachtzyklus Orientierung und Struktur und spendet durch ihre Schönheit freudige Ablenkung und Ruhe, doch der verzwei‐ felten Seele bietet sie keinen Trost mehr. Nur noch dramatische Naturereignisse können sie jetzt bewegen und der Südwind Notos personifiziert dieses innere Drama. Erneut bilden der Wind und der Mond das bildliche Gerüst - Wandel 7.1 Eine Poesie der Affekte: Ultimo canto di Saffo 171 <?page no="172"?> 446 Nach dem antiken Modell der fünf Sinne. Zur Sinneswahrnehmung bei Leopardi: Franca Janowski: „Die Materialität des Denkens: Leopardi und die Sinne“, in: Marc Föcking (Hrsg.): Giacomo Leopardi. Dichtung und Wissenschaft im frühen 19. Jahrhundert, Münster: Lit Verlag 2004, S.-49-69. 447 Vgl. Barbara Kuhn: „Und sie singt doch“, S.-32-33. und undurchdringliche Beständigkeit - für Leopardis Gedicht und tragen die gleitende Semantik in sich. Der Mangel, den Saffo erfährt, wird dann ab der zweiten Strophe konkretisiert, wenn allen fünf Sinnen 446 eine positive Erfahrung versagt wird: 447 Bello il tuo manto, o divo cielo, e bella Sei tu, rorida terra. Ahi di cotesta Infinita beltà parte nessuna Alla misera Saffo i numi e l’empia Sorte non fenno. A’ tuoi superbi regni Vile, o Natura, e grave ospite addetta, E dispregiata amante, alle vezzose Tue forme il core e le pupille invano Supplichevole intendo. A me non ride L’aprico margo, e dall’eterea porta Il mattutino albor; me non il canto De’ colorati augelli, e non de’ faggi Il murmure saluta: e dove all’ombra Degl’inchinati salici dispiega Candido rivo il puro seno, al mio Lubrico piè le flessuose linfe Disdegnando sottragge, E preme in fuga l’odorate spiagge. (Ultimo canto di Saffo, V.19-36) [Schön ist dein Kleid, du göttlicher Himmel, und schön bist auch du, taufeuchte Erde. Ach, an dieser unermesslichen Schönheit gönnten der armen Saffo die Götter und das erbarmungslose Geschick keinen Anteil. Deinem stolzen Reich, Natur, dem ich zugehöre als ein lästiger, verachteter Gast, als verschmähte Geliebte, deiner reizvollen Anmut wende ich Herz und Augen vergeblich bittflehend zu. Mir lächelt nicht mehr der sonnige Strand und vom Himmelstor im Osten die frühe Blässe des Morgens. Mich begrüßt nicht der farbigen Vögel froher Gesang, nicht der Buche geheimnisvolles Ge‐ murmel, und wo im Schatten der Weiden mit ihren hängenden Zweigen schimmernd die reine Brust ausdehnt der Bach, da sucht er meinem schlüpfrigen Fuße voller Verachtung das geschmeidige Nass zu entziehen und stört die Stille der duftenden Ufer im Fliehen.] 172 7 Das Nichts in der Liebe <?page no="173"?> 448 Obwohl Ovids Sappho sich deutlich von Leopardis Saffo unterscheidet, ist auch hier das Thema der Freudlosigkeit, nachdem Phaon sie verlassen hat, vorhanden. Junge Frauen bereiten ihr keine Freude mehr: „Anactorie mag ich nicht mehr, nicht die strahlende Cydro, | mag auch die Atthis nicht sehn, die ich zuvor so geliebt, | hundert andere nicht, die ich liebte - nicht ohne Vorwurf “ (V.18-20). Ohne Phaon erscheint ihr der zuvor geliebte Wald wertlos: „Doch ich finde ihn nicht, meinen Liebling und den dieses Waldes, | schäbig ist jetzt dieser Platz, er war der Schatz dieses Orts“ (V.145-146). Auch visuell und akustisch hat sich der Wald verändert: „Ja sogar die Zweige lassen aus Trauer die Blätter | fallen, so scheint's, und es fehlt lieblicher Vogelgesang“ (V.151-152) und Sappho kann nicht mehr singen: „Wäre ich doch noch beredt! Der Schmerz ist den Künsten ein Hemmnis, | all meine geistige Kraft stockte, vom Leiden erschöpft. | Nicht mehr regt sich bei mir meine einstige Gabe zu singen, | nun schweigt das Plektrum vor Schmerz, stumm ist die Lyra vor Schmerz.“ Publius Ovidius Naso: Liebesbriefe: lateinisch und deutsch. Heroides epistulae / Publius Ovidius Naso, hrsg. u. übers. v. Bruno W. Häuptli, Düsseldorf, u.a.: Artemis und Winkler 2 2001 [Sammlung Tusculum]. 449 In den meisten Versionen der Liebesgeschichte wird Saffo als unansehnlich betrachtet, da sie klein, dunkelhäutig, unattraktiv und deutlich älter als Phaon gewesen sein soll. In der zweiten Strophe wird die schöne, göttliche und reine Natur gezeigt, die Saffo unzugänglich geworden ist. Zunächst wird ihr das Sehen „A me non ride | l’aprico margo“ (V.27-28), dann das Hören „me non il canto | de colorati augelli“ (V.29-30), das Tasten „al mio | lubrico piè le flessuose linfe“ (V.33-34) und schließlich das Riechen - „l’odorate spiagge“ (V.36) versagt. Der Entzug des Geschmacks erfolgt erst in der finalen Strophe und vollendet die Trennung zwischen ihr und der Natur: „Me non asperse | del soave licor“ (V.62-63) [Mich benetzte nicht mit süßem Nektar]. 448 Die Nicht-Wahrnehmung wird zur größten Qual für die Dichterin, die das Leiden des modernen Subjekts erfährt. Aus der Perspektive der Natur kann der Entzug als Verschleierung gedeutet werden. Die Natur verändert sich gemeinsam mit Saffo, die reflexiv geworden ist. Saffo übertritt, ebenso wie Brutus, die Grenze von der Antike zur Moderne. Durch die Beschreibung der verschleierten Natur bleibt Saffos Rolle jedoch unklar. Saffo ist gleichzeitig Teil und kein Teil der Natur, von der Natur verstoßen und dennoch von ihr abhängig: „A’ tuoi superbi regni vile, o Natura, e grave ospite addetta, e dispregiata amante, alle vezzose tue forme il core e le pupille invano supplichevole intendo“ (V.23-27) [Deinem stolzen Reich, Natur, dem ich zugehöre als ein lästiger, verachteter Gast, als verschmähte Geliebte, deiner reizvollen Anmut wende ich Herz und Augen vergeblich bittflehend zu]. In dem Versuch, Leopardis Gedichte zu vereindeutigen, wird aber meistens nur eine Perspektive betrachtet. Der Ultimo canto di Saffo bietet durch seine Mehrschichtigkeit auch gegenläufige Thesen an. Saffo erfährt das Gefühl des Mangels überhaupt erst in dieser Intensität durch ihre Sensibilität. Durch die Beschaffenheit ihres Geistes und ihres Körpers 449 verspürt sie in vollem Ausmaß 7.1 Eine Poesie der Affekte: Ultimo canto di Saffo 173 <?page no="174"?> 450 Poesie e Prose I, S.-163. 451 Zur Kalokagathia siehe: Werner Jaeger: Paideia: the Ideals of Greek Culture, Bd. 1, Oxford: Basil Blackwell 1946, S. 3-4. Giuseppe Limone: „Kalos kai agathos: una formula, una pietra di scandalo e una sfida. La bellezza salverà il mondo? , in: Kalos kai agathos. Il bello e il buono come crocevia di civiltà, a cura di Giuseppe Limone, Milano: Franco Angeli 2018, S.-7-67. die Negativität der conditio humana. Leopardi beschreibt den Kontrast, der bereits innerhalb der Figur vorherrscht, in der Präambel des Nuovo Ricoglitore. Die Canzone „intende di rappresentare la infelicità di un animo delicato, tenero, sensitivo, nobile e caldo, posto in un corpo brutto e giovane“ 450 [Die Canzone versucht, das Unglück einer zarten, sanften, sensiblen, noblen und glühenden Seele in einem hässlichen und jungen Körper darzustellen]. Leopardis Saffo verstößt dadurch gegen die Verbindung des Schönen und des Guten, die von den Griechen Kalokagathia  451 genannt wurde. Die Tugend kann nach außen nicht sichtbar werden, wenn der schöne Schein fehlt, „virtù non luce in disadorno ammanto“ (V.54) [nimmer glänzt im schmucklosen Kleide der Tugend Schimmer]. Auch hier bricht Leopardi mit der antiken Weltsicht und positioniert die Dichterin innerhalb dieser Gegensätze als Gegenthese zur Natur. Die Natur vermag es, durch die Schönheit ihrer Spektakel, durch die Freuden, die sie auslöst, und durch die scheinbare Orientierung, die sie durch ihre Zyklen bietet, von ihrer Grausamkeit abzulenken. Ihr Schleier ist schön und ihr Inneres ist grausam. Ist dies einmal durchschaut, verhindert die Erkenntnis die ungetrübte Wahrnehmung. Das reflexiv gewordene Subjekt ist sich schmerzhaft des Scheins bewusst, der nicht dem Gehalt entspricht. Insofern könnte Saffos Blick auf die Natur als entschleiert gedeutet werden und der Rationalismus verursacht erneut das veränderte Verhältnis zur Natur. Doch die Vernunft arbeitet hier nicht ohne den Affekt. Häufig wird die Canzone mit einem Eintrag im Zibaldone (Zib. 718-720) aus dem Jahr 1821 in Verbindung gebracht, in dem das Leiden, das durch den Widerspruch aus Äußerlichkeit und Innerlichkeit entsteht, geschildert wird. Die Liebe, die eine hässliche Person der Natur entgegenbringt, wird von der Natur nicht erwidert, und so fühlt sie, dass sie von allem Schönen ausgeschlossen wird, sie fühlt Ekel, Schmerz und Neid. Doch innerhalb des Mangels kann sie die Natur dennoch in sich spüren. Dies betrifft auch Saffos Sein: Selbstwahrneh‐ mung und Fremdwahrnehmung sind jetzt so weit voneinander getrennt, dass sie Saffo in eine Krise stürzen. Doch in einer Deutung des Gedichts, in der Saffo lediglich eine verschmähte und ungeliebte Frau ist, wird ihr eine klägliche Passivität zugesprochen. Als Dichterin ist der Affekt schließlich eine Quelle der Inspiration. Auch findet Saffo in der ersten Strophe Gefallen an einer negativen Natur und ist nicht von allem 174 7 Das Nichts in der Liebe <?page no="175"?> 452 Poesie e Prose I, S.-509. 453 In den letzten beiden Versen bleibt in Leopardis Übersetzung mehrdeutig, ob der Bach nie den „villanel“ aufscheucht oder ob der „villanel“ nie den Bach stört. 454 In der Sammlung bukolischer Dichtung von J.M. Edmonds handelt es sich um die vierte Idylle und er gibt ihr den Titel A Comparison: Moschos: „Idylle IV“, in: The Greek Bucolic Poets. London: William Heinemann 3 1919, S.-485-486. entfremdet. Leopardi verkehrt hier das Motiv der fünften Idylle von Moschos, die er als Jugendlicher übersetzt und 1815 im Spettatore italiano veröffentlicht. Quando il ceruleo mar soavemente Increspa il vento, al pigro core io cedo: La Musa non mi alletta, e al mar tranquillo, Più che alla Musa, amo sedere accanto. Ma quando spuma il mar canuto, e l’onda Gorgoglia, e s’alza strepitosa, e cade, Il suol riguardo, e gli arbori, e dal mare Lungi men fuggo: allor sicura, e salda Parmi la terra, allora in selva oscura Seder m’è grato, mentre canta un pino Al soffiar di gran vento. O quanto è trista Del pescator la vita, a cui la barca È casa, e campo il mar infido, e il pesce È preda incerta! Oh quanto dolcemente D’un platano chiomato io dormo all’ombra! Quanto m’è grato il mormorar del rivo, Che mai nel campo il villanel disturba! 452 [Wenn der Wind das bläuliche Meer leicht bewegt; gebe ich meinem trägen Herz nach: Die Muse lockt mich nicht und ich liebe es, neben dem stillen Meer zu sitzen, mehr als bei der Muse. Aber sobald das weißhauptige Meer aufschäumt, die Welle gurgelt und sich lärmend aufbäumt und fällt, blicke ich zum Land und den Bäumen und fliehe weit von dem Meer. Dann erscheint mir die Erde sicher und unerschütterlich, dann gefällt es mir, im schattigen Wald zu sitzen, während die Pinie singt im Wehen des großen Windes. Oh, wie traurig ist das Leben des Fischers, dem Wohnung das Boot ist, dem das Feld die See ist, dem Fisch ein unsicherer Fang ist! Oh, wie süß schlafe ich im Schatten der umlaubten Platane! Wie lieb ist mir das Rauschen des Baches, der nie den Ländlichen aufscheucht.] 453 In konventionelleren Übersetzungen von Moschos’ Idylle 454 wägt das lyrische Ich zwischen seiner Liebe zum Land und seiner Lust nach dem Meer ab. Leopardis Übersetzung enthält die auffällige Variation „musa“, die in den ersten 7.1 Eine Poesie der Affekte: Ultimo canto di Saffo 175 <?page no="176"?> 455 Auch im Deutschen sind die Unterschiede in den Übersetzungen bemerkenswert. Dies zeigt Eduard Friedrich Mörikes Blütenlese der Übersetzungen von Johann Heinrich Voss, Friedrich Jacobs und Ämil Wilhelm Robert Naumann: Vgl. Eduard Friedrich Mörike: Werke und Briefe. Übersetzungen. Bearbeitungsanalysen, Bd. 8.3, Stuttgart: Klett 1981, S.-215. 456 De Sanctis betrachtet die Übersetzung als Vorgänger von L’infinito. Francesco De Sanctis: La letteratura italiana nel secolo XIX. Leopardi, S.-43-44. 457 Siehe Kapitel 5.1.4 zum amour propre und zu seiner Vermittlung zwischen dem Subjekt und der Außenwelt. vier Versen den Kontrast zwischen dem Land und dem Meer ersetzt. 455 Er stellt also die stille Kontemplation der Imagination gegenüber. Gemeinsam haben die Übersetzungen, dass nur das stille Meer das Ich erfreuen kann und es ins Inland zurückkehrt, wenn die See zu stürmisch wird. Das Ich genießt hier die angenehmen Freuden der Natur. Diese Regungen werden im Ultimo canto di Saffo verkehrt, in dem Saffo nur noch Freude an den dramatischen Naturspektakeln finden kann. Ihr Blick wandert in der ersten Strophe nach oben in den bewegten Himmel, bevor er auf das brausende Meer fällt. Dennoch bleibt auch die freundliche Natur im canto bis zur dritten Strophe unangetastet als Kontrast bestehen. Nur Saffo betrifft zunächst die Entfremdung von der positiven Natur. Dem „villanel“, der zwar im canto keine Erwähnung findet, in Leopardis Werk aber bis zum Schluss präsent bleibt und sich durch seine ‚semplicità‘ auszeichnet, wird der Zugang nicht verwehrt. Leopardi beschreibt dies im Zibaldone häufig als das Schicksal des sensiblen modernen Menschen. Auffälliger ist jedoch Saffos Austritt aus der Passivität, der deutlich wird durch den Kontrast zur fünften Idylle. De Sanctis beschreibt in seiner Analyse von Leopardis Übersetzung ein Ich, das passiv in die Natur eingebunden ist: Il motivo o il sentimento di questo idillio è l’anima isolata dalla società; pura di passioni e di cure, nella sua solitudine e nella sua tranquillità divenuta una con la natura, e in quella vive e si appaga. Sentimento primitivo e semplice. Questa vita in grembo alla natura non se ne stacca mai, non si rivela come personalità umana, non sale di là a concetti e a giudizii, rimane senza iniziativa e senza movimento proprio, in balìa delle impressioni. La natura è bella perché sentita e goduta dall’uomo; e l’uomo gode perchè la contempla e rimane tuffato in quella contemplazione. 456 Saffo ist nicht so passiv, wie es der Entzug der positiven Sinneswahrnehmungen suggeriert, und verwandelt selbst die Natur in eine Projektionsfläche ihrer Affekte. 457 Ihre Entfremdung vom Ideal ermöglicht überhaupt erst den lyrischen Ausdruck der Affekte. Der Ultimo canto di Saffo ist kein homogener Ausdruck einer Perspektive, sondern diese wechselt. Möglich wird dies unter anderem durch den Wechsel der Personalität, die anakoluthische Syntax und das indefi‐ 176 7 Das Nichts in der Liebe <?page no="177"?> nito. Es bleibt unklar, ob die Natur verschleiert oder entschleiert wird bzw. sich selbst verschleiert. In der dritten Strophe versucht Saffo zunächst ihr Schicksal zu erörtern. Dann wird der in der Natur verankerte Mangel dargestellt: Qual fallo mai, qual sì nefando eccesso Macchiommi anzi il natale, onde sì torvo Il ciel mi fosse e di fortuna il volto? In che peccai bambina, allor che ignara Di misfatto è la vita, onde poi scemo Di giovanezza, e disfiorato, al fuso Dell’indomita Parca si volvesse Il ferrigno mio stame? Incaute voci Spande il tuo labbro: i destinati eventi Move arcano consiglio. Arcano è tutto, Fuor che il nostro dolor. Negletta prole Nascemmo al pianto, e la ragione in grembo De’ celesti si posa. Oh cure, oh speme De’ più verd’anni! Alle sembianze il Padre, Alle amene sembianze eterno regno Diè nelle genti; e per virili imprese, Per dotta lira o canto, Virtù non luce in disadorno ammanto. (Ultimo canto di Saffo, V.37-54) [Welche Schuld denn, welch derart verruchtes Vergehen besudelte meine Geburt, dass so verfinstert der Himmel mir und das Antlitz des Glückes begegnen? Worin denn habe ich so gefehlt in der Kindheit, wo Frevel dem Leben noch unbekannt sind, dass später, um die blühende Jugend verkürzt, die Spindel der unerbittlichen Parze meines Lebens ehernen Faden spann? Ach, törichtes Zeug verbreiten deine Lippen. Das vorbestimmte Geschehen leitet ein dunkler Ratschluss. Dunkel ist alles außer unserem Schmerz. Ein vernachlässigtes Geschlecht, zum Weinen geboren und im Schoße der Götter ruht alle Erklärung. O Sorgen und Hoffen der blühenden Jugendzeit! Den Erscheinungen schenkte Gottvater, dem schönen, anmutigen Scheine ewige Herrschaft unter den Völkern, und ob mannhafte Taten, ob sinnreiche Lieder, nimmer glänzt im schmucklosen Kleide der Tugend Schimmer.] Saffo versucht zunächst, in aporetischen Fragen, die den ersten Teil der Strophe bestimmen, die Gründe für ihr eigenes Leiden und ihre eigene Verantwortung für ihr Schicksal zu erörtern. Doch dieses Vorhaben wird für sinnlos erklärt und die Fragen werden in ihrem aporetischen Charakter bestärkt: „Incaute voci spande il tuo labbro“ (V.44-45) [Ach, törichtes Zeug verbreiten deine Lippen]. Die Natur und ihre Beweggründe bleiben fremd. Kontrolle, Teilhabe 7.1 Eine Poesie der Affekte: Ultimo canto di Saffo 177 <?page no="178"?> 458 Zum Anschein siehe Kapitel 6.3. und Erkenntnis bleiben der Menschheit verwehrt. Faktisch ist Saffo in ihrer Immanenz gefangen, doch das Gefühl bildet eine Ausnahme: „Arcano è tutto, fuor che il nostro dolor“ (V.46-47) [Dunkel ist alles außer unserem Schmerz]. Die Affekte bilden Saffos Kompass und befähigen sie zum Widerstand. Dass Saffo hier nicht mehr nur von sich selbst spricht, wird dadurch deutlich, dass Leopardi hier das antike Setting durchbricht. Nicht mehr Zeus bestimmt das Schicksal, sondern „il Padre“, der dem Anschein 458 die Herrschaft geschenkt hat und nicht dem Gehalt. Durch den Widerspruch von Passivität und Aktivität, der in dem Gedicht durch eine deprivierende Natur und die Affekte dargestellt wird, muss die Verallgemeinerung des Leidens zur conditio humana nicht als Kausalität aus den Affekten verstanden werden, sondern als Widerspruch. Saffo wird von der Natur und von ihrem Geliebten verschmäht. Die letzte Strophe enthält entsprechend nur noch eine einzige Apostrophe, diesmal nicht an die Natur, sondern an den Geliebten, der in Leopardis Gedicht anonym bleibt: Morremo. Il velo indegno a terra sparto, Rifuggirà l’ignudo animo a Dite, E il crudo fallo emenderà del cieco Dispensator de’ casi. E tu cui lungo Amore indarno, e lunga fede, e vano D’implacato desio furor mi strinse, Vivi felice, se felice in terra Visse nato mortal. Me non asperse Del soave licor del doglio avaro Giove, poi che perìr gl’inganni e il sogno Della mia fanciullezza. Ogni più lieto Giorno di nostra età primo s’invola. Sottentra il morbo, e la vecchiezza, e l’ombra Della gelida morte. Ecco di tante Sperate palme e dilettosi errori, Il Tartaro m’avanza; e il prode ingegno Han la tenaria Diva, E l’atra notte, e la silente riva. (Ultimo canto di Saffo, V.55-72) [Sterben werde ich. Die unwürdige Hülle der Erde belassend, wird nackt zum Hades fliehen die Seele. Und auslöschen wird sie den grausamen Fehlgriff dessen, der blind die Lose verteilt. Und du, an den lange, unerwiderte Liebe, beharrliche Treue und ungestillten Begehrens sinnlose Glut mich fesselten, du lebe glücklich, wenn glücklich 178 7 Das Nichts in der Liebe <?page no="179"?> 459 Publius Vergilius Maro: Aeneis, 4, V.659-660, S.-218. auf Erden je ein Sterblicher lebte. Mich benetzte nicht mit süßem Nektar aus geizigem Krug Zeus, als die trügerischen Bilder und Träume meiner Kindheit zerstoben. Jeder frohere Tag unseres Lebens stiehlt sich eilig davon. Verdrängen sich Krankheit und Alter und der Schatten des eisigen Todes. Siehe, von so viel erhofften Palmenzweigen des Ruhms und beglückenden Träumen bleibt mir der Tartarus. Tapfer fügt sich die Seele der unterirdischen Macht, dem schweigenden Ufer und der düsteren Nacht.] Als Antwort auf „nascemmo“ (V.48) folgt in der finalen Strophe die letzte Pluralform: „Morremo“ (V.55). Der Plural kann entweder als Generalisierung, als Pluralis Majestatis oder entsprechend der Randnotiz, die Leopardi auf dem Manuskript vermerkt, als intertextueller Verweis auf das Zitat der Dido gelesen werden: „Moriemur inultae, | sed moriamur, ait. Sic, sic iuvat ire sub umbras“ [Ich werde ohne Vergeltung sterben, doch sterben will ich, und so, ja so gehe ich gern hinab zu den Schatten]. 459 Vergils Dido begeht Suizid, nachdem Aeneas sie verlässt, um seinen Pflichten nachzukommen. Bevor sie stirbt, beschwört sie jedoch den Krieg zwischen Rom und Karthargo und geht nicht ohne Rache in den Freitod. Leopardi beschreibt Didos Ausruf im Zibaldone als detaillierte und überzeichnete Darstellung der Verzweiflung und des Unglücks. Diese kann vom Verzweifelten genossen werden: Virgilio volle qui esprimere […] quel piacere che l’animo prova nel considerare e rappresentarsi non solo vivamente, ma minutamente, intimamente e pienamente la sua disgrazia, i suoi mali; nell’esagerarli, anche, a se stesso […] o nel figurarsi, ma certo persuadersi fermamente, ch’essi sono eccessivi, senza fine, senza limiti, senza rimedio […]. L’uomo in tali pensieri ammira, anzi stupisce di se stesso, riguardandosi […] come per assolutamente straordinario […]; o come abbastanza forte da potere pur vedere chiaram. pienam. vivam. e sentire profondamente tutta quanta la sua disgrazia. (Zib. 2217-2219) [Vergil will hier die Lust ausdrücken, welche die Seele empfindet, wenn sie nicht nur lebhaft, sondern minutiös, intim und ungeschmälert ihr Unglück und ihre Leiden abwägt und vor sich abbildet; sogar indem sie sie vor sich selbst übertreibt oder indem sie sich vorstellt und sich fest davon überzeugt, dass sie extrem, ohne Ende und ohne Abhilfe sind. Inmitten derartiger Gedanken bewundert der Mensch sich selbst, ist sogar erstaunt über sich selbst und betrachtet sich als außergewöhnlich oder ausreichend stark, um klar, vollständig und lebhaft zu sehen und zutiefst sein ganzes Unglück zu spüren.] 7.1 Eine Poesie der Affekte: Ultimo canto di Saffo 179 <?page no="180"?> 460 Unter anderem in dem fünfteiligen Werk Analysis of the Rose as Sentimental Despair (1985), in dem Cy Twombly ebenfalls Rilke und Rumi zitiert. Ich danke Thierry Greub für den Hinweis auf die Bilder. 461 Zib. 214. Erneut verweist Leopardi auf den Charakter des Leidens und er erklärt den performativen Akt zur Kompensationsstrategie. Indem er die Worte mit einer Dichterfigur - Saffo - verknüpft, schreibt er dem Leid inspirative Fähigkeiten zu. Auf seinen eigenen Schmerz zurückgeworfen, wird der Dichter zur Kreativität befähigt. Die Erhabenheit dieses Gefühls deckt sich mit dem hohen Stil des Gedichts. Leopardis Poetik der Verzweiflung findet Anklang bei Cy Twombly, der wiederholt in seinen Werken das Zitat „in his despair he drew the colors from his own heart“ aufnimmt, 460 das er frei aus einer Passage des Zibaldone übersetzt: „Quasi tutti gli scrittori di vero e squisito sentimentale, dipingendo la disperazione e lo scoraggiamento totale della vita, hanno cavato i colori dal proprio cuore“ 461 [Um die Verzweiflung und die absolute Verzagtheit des Lebens zu malen, haben fast alle echten und sentimentalischen Schriftsteller die Farben aus ihrem eigenen Herzen herausgezogen]. In einer derartigen Poetik, die eine klare Vorstellung von einem Dichter enthält, wird auch klar, warum in Leopardis Deutung von Moschos’ Idylle die Muse am friedlichen Gewässer das Ich nicht lockt, dessen Herz faul ist. 7.2 Das Flimmern des Nichts Leopardi greift im Ultimo canto di Saffo mehrere Thematiken auf, in denen er die Frage nach dem Nichts stellt: Entzug und Mangel (Sinne), Trennung (Subjekt - Natur), Schein (Inneres - Äußeres), Zerfall (historisch), Verstummen (Schwinden der Apostrophen und eine stille Natur, „la silente riva“, V.72), Endlichkeit (Saffos Suizid, der aber nicht explizit genannt wird) und Unfähigkeit, die Zusammenhänge zu erkennen. All diese Verweise auf das Nichts werden in und um Saffo herum ausgetragen. Westerwelle stellt entsprechend drei Thesen zum Subjekt auf: Die Leidenschaften bleiben auf der Ebene der anschaulich werdenden Natur ohne Erwiderung; das sprechende Subjekt erfährt sich aufgrund dieser Nicht-Entsprechung als kontingent und jenseits göttlicher Transzendenz; die kathartische Reinigung besteht darin, dass sich das selbstbewusste und reflexive Subjekt, das über die 180 7 Das Nichts in der Liebe <?page no="181"?> 462 Karin Westerwelle: „Die Darstellung von Subjekt und Affekt in Giacomo Leopardis Ultimo canto di Saffo“, in: Alexander Arweiler / Melanie Möller (Hrsg.): Vom Selbst-Ver‐ ständnis in Antike und Neuzeit / Notions of the Self in Antiquity and Beyond, Berlin, u.a.: De Gruyter 2009, S.-296. bestehende Weltordnung hinaus Glückseligkeit anstrebt, als einen Irrtum in der göttlichen Schöpfung begreift und auslöscht. 462 Trotz aller Gegensätze, die im Folgenden dargestellt werden, bleiben diese negativen Leitmotive für das Subjekt Saffo bestehen. Durch die metapoetische Ebene und Leopardis pathos-Strategien entsteht jedoch mehr Widerspruch, als dem Gedicht zumeist zugeschrieben wird. Im Bruto minore verteidigt Leopardi bereits Brutus’ Suizid und verklärt die Wahrnehmung des Unglücks zu einem Teil seiner Helden-Konzeption (Kapitel 5.1.6). Dieses Konzept existiert aber auch in einer variierten Form für den Dichter. Westerwelle setzt mit ihrer These voraus, dass Saffos Liebesdesillusionierung nicht primär die Verschmähung durch den Geliebten betrifft, sondern die enttäuschte und unerwiderte Liebe zur Natur. Das klassische Liebesmotiv der unerfüllten Liebe wäre dann eine Meta‐ lepse für Saffos Verhältnis zur Natur. Es entsteht jedoch ein Flimmern zwischen einer Natur, die einer reflexiv gewordenen Saffo ihre Gaben verwehrt, einer Saffo, die durch ihre außerordentliche Sensibilität den Ausschluss aus der Natur provoziert, und einer Saffo, die ihre Desillusionierung in die Natur externalisiert. In letzterer Betrachtung zeigt Saffos durch die Liebesdesillusionierung geprägter Blick ihr Innenleben. Leopardi kann mittels dieses kaleidoskopartigen Effekts ein maximales Ausmaß an Verzweiflung evozieren. Zum Ende des Gedichtes bleibt Saffos unwürdigem und depriviertem Körper nichts als der Tod in einer Welt ohne sinnliche Bereicherung: „Il velo indegno a terra sparto, | rifuggirà l’ignudo animo a Dite“ (V.55-56) [Die unwürdige Hülle der Erde belassend, wird nackt zum Hades fliehen die Seele]. Bohrer deutet den Suizid als Resultat eines dialektischen Verhältnisses aus Selbstliebe und Selbstvernichtung. In diesem kann ein starker amour propre durch die Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit zum gestörten Selbstschutzmechanismus mutieren: „Effetto dell’amor proprio che preferisce la morte alla cognizione del proprio niente“ (Zib. 71) [Ein Effekt des amour propre besteht darin, dass der Tod der Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit vorgezogen wird]. Das Identi‐ tätszentrum, das die Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit unbedingt vermeiden will, wird zum Auslöser des Suizids. Dadurch stellt Bohrer Leopardis Thema der Verzweiflung in die Nähe zu Kierkegaard: Das Ich flieht nicht vor dem äußeren Leiden, sondern vor sich selbst. 463 Der amour propre ist bei Leopardi aber gerade nicht konsequent dialektisch gedacht. 7.2 Das Flimmern des Nichts 181 <?page no="182"?> 463 Vgl. Karl-Heinz Bohrer: Ästhetische Negativität, S.-33. 464 Vgl. Zib. 2220. 465 Vgl. Zib. 2219. 466 Vgl. Alice Spinelli: „Ent-Täuschung in den Selbstmord-Kanzonen“, S.-103-104. Der amour propre steuert das Verhältnis des Subjekts zur Welt und reguliert zwischen Innerem und Äußerem. Verzweiflung ist bei Leopardi kein rein negativer Gemütszustand, sondern vielmehr ist ihr Gutes beigemischt oder sie kann es zumindest generieren. 464 Im Stadium der absoluten Verzweiflung blickt das Subjekt auf sich selbst und sieht Größe. Es steigert sich in einen Heroismus hinein und nimmt dadurch jene Haltung und Stellung gegen das Schicksal, die bereits bezüglich des Bruto minore beschrieben wurde. Im Exzess der Verzweif‐ lung wird der amour propre befriedigt und es stellt sich ein intensives Gefühl der Erhebung sowie auch Genuss ein. 465 Dies ist der heroische Effekt von Leopardis amour propre, durch den er größer wird. Die Erhebung über das Schicksal und die Abgrenzung von der Außenwelt führt zu einer Stärkung des amour propre. An dieser Stelle tritt ein Problem auf, wenn der Bruto minore und der Ultimo canto als Zwillingscanzonen 466 gelesen werden. Während Brutus Befriedigung im Kampf gegen die Außenwelt erfährt, wirkt es so, als würde sich Saffo komplett nach innen richten und Halt in ihrem eigenen Leiden suchen: „Arcano è tutto / Fuor che il nostro dolor“ (V.46-47) [Dunkel ist alles, außer unser Schmerz]. Dadurch nimmt Leopardi den amour propre auch für seine Dichter-Konzeption in Dienst. In seiner Poetik ist Verzweiflung der ideale Gemütszustand, um den modernen Menschen zur Poesie zu befähigen. Seelenruhe ist der empfindsamen Seele nicht zugänglich und in der Kontemplation der Schönheit oder der Ataraxie kann der Dichter nicht (mehr) poetisch aktiv werden. Der gegensätzliche Gemütszustand zur Verzweiflung ist in einer Welt ohne echte Freuden die Langeweile, die den amour propre reduziert. Sie droht sich immer in der Abwesenheit anderer Affekte einzustellen und somit auch nach dem Abebben der Verzweiflung. Langeweile ist für Leopardi ein Zustand der Moderne, der in der Natur nicht vorkommt: Così il detto indebolimento [dell’amor proprio] secca la vena della poesia, e dell’im‐ maginazione, e l’uomo, non amando, se non poco, se stesso, non ama più la natura; non sentendo il proprio affetto, non sente più la natura, nè l’efficacia della bellezza ec. Una nebbia grevissima d’indifferenza […] si spande su tutto l’animo suo e su tutte le sue facoltà […]. (Zib. 959-960) [So trocknet die Schwächung des amour propre die Vene der Poesie und der Imagina‐ tion aus und der Mensch, der sich nur noch ein wenig oder nicht mehr liebt, liebt auch die Natur nicht mehr; wenn er den eigenen Affekt nicht mehr fühlt, spürt er auch 182 7 Das Nichts in der Liebe <?page no="183"?> 467 Vgl. Zib. 2220. 468 Poesie e Prose II, S.-68. 469 Siehe Kapitel 6.3 zur Liebesillusion und zur glorifizierten Liebe die Natur nicht mehr oder die Wirkkraft der Schönheit etc. Ein schwerer Nebel der Gleichgültigkeit breitet sich über seiner Seele und all seinen Fähigkeiten aus.] Das gelangweilte Subjekt erfährt den Tod im Leben und das Nichts der Exis‐ tenz. 467 Ohne Enthusiasmus, Imagination und Illusionen wird es schließlich inaktiv und seiner schöpferischen Kraft beraubt. Anders sind die Erhebung und die schöpferische Kraft, die aus der Verzweiflung gewonnen werden können. Hierfür muss dem Nichts jedoch Einlass gewährt werden. Was passiert, wenn dieser Prozess zu weit geht und der amour propre reduziert wird, schildert Tasso im Dialogo di Torquato Tasso. Die Reduktion führt zum Tod des „primo uomo“ [erster Mensch]; dieses ursprüngliche Ich ist bei Leopardi ein Subjekt voller Illusionen, Phantasie und Enthusiasmus (siehe Kapitel 5.1.4). Der Selbstverlust wird als gradueller Prozess des Einschlafens beschrieben, durch den sich das ursprüngliche Wesen des Subjekts in sich zurückzieht und schließlich stirbt: In vero, io direi che l’uso del mondo, e l’esercizio de’ patimenti, sogliono come profondare e sopire dentro a ciascuno di noi quel primo uomo che egli era: il quale di tratto in tratto si desta per poco spazio, ma tanto più di rado quanto è il progresso degli anni; sempre più poi si ritira verso il nostro intimo, e ricade in maggior sonno di prima; finchè durando ancora la nostra vita, esso muore. 468 [Wahrlich würde ich sagen, dass die Erfahrung der Welt und das Erleben der Leiden in jedem von uns den ursprünglichen Menschen, der einst war, gleichsam niederdrücken und einschläfern. Gelegentlich wacht er für kurze Zeit wieder auf, doch im fortgeschrittenen Alter immer seltener. Immer mehr zieht er sich dann in unser Innerstes zurück und versinkt in noch tieferen Schlaf, bis er schließlich, noch zu unseren Lebzeiten, stirbt.] Das Äußere spiegelt das Innere des Subjekts nicht und durch die Leiden der Welt wird das ursprüngliche Ich unterdrückt, der amour propre schwindet und erlischt schließlich. Diesen Punkt hat Tasso aber noch nicht erreicht, der noch an der Illusion der Liebe festhält, die standhafter als andere Illusionen ist. Tasso lebt zumindest ein wenig auf, wenn er an Leonora denkt, die seine Liebe zwar nicht erwidert, aber aus der Ferne wie eine Göttin auf ihn wirkt. 469 Im Ultimo canto sorgt das besagte Flimmern, das zwischen Saffo und der Natur entsteht, dafür, dass die Frage, ob Saffo dem Nichts vollständigen Einlass gewährt, ungeklärt bleibt, was auch dadurch möglich wird, dass Leopardi auf die Darstellung des Suizids verzichtet. Kuhn zeigt in ihrer Studie, wie 7.2 Das Flimmern des Nichts 183 <?page no="184"?> 470 Siehe hierzu: Barbara Kuhn: „Und sie singt doch“. 471 Vgl. Rainer Stillers: „Der ‚canto‘ in den Canti. Beobachtungen zu einem poetologischen Motiv“, S.-59. 472 Wehle geht davon aus, dass das Herz nur im Stil weiterspricht. Er betrachtet das Gedicht als das finale Stadium von Leopardis Dichtung. Zum Beginn der Dichtung siehe Kapitel 4.5.2. Winfried Wehle: Leopardis Unendlichkeiten, S.-96-98. stark die poetische Konzeption des Ultimo canto den Inhalt unterläuft: Alle Sinneswahrnehmungen müssen in dem Gedicht zunächst evoziert werden und diese Evokation bleibt von der Verneinung ausgeschlossen. 470 Eben deshalb schreibt Stillers der imaginativen Dimension eine autonome Rolle im Werk zu. 471 Obwohl Leopardi also alle positiven Sinneswahrnehmungen negiert, lässt er sie trotzdem in der Imagination zustande kommen beziehungsweise lässt sie bestehen, da sie durch die repetitive Lektüre des Gedichts beständig erneut evoziert werden können. In der Literatur verstummt Saffo nicht und trotzt durch ihren Gesang der Endlichkeit. Dadurch wird der Gehalt des Gedichtes nicht in das Gegenteil aufgelöst - also ein positives Weltbild oder einen hoffnungsvollen Ausblick -, vielmehr zeigt sich die Ambiguität, die im Zusammenspiel von Affekten, Enthusiasmus, Eloquenz und Imagination ausgespielt wird. 7.3 Selbstverlust durch Illusionsverlust? - A se stesso Der Extremfall von Leopardis Liebesdichtung ist A se stesso (1833), in dem weder das innamoramento noch die Desillusionierung gezeigt wird. Während der Ultimo canto di Saffo durch seine kaleidoskopartige Struktur viele Informationen liefert, wirft A se stesso Rätsel auf, da es in seiner kurzen Form und ohne Vorgeschichte wenig Kontext bietet, wenn für einen Augenblick die Rahmung innerhalb der Canti außer Acht gelassen wird. Das Gedicht setzt in medias res ein, mit einem lyrischen Ich, das versucht, sich selbst davon zu überzeugen, dass sein Herz jetzt aufhören könne zu schlagen. 472 Unklar bleibt, was der Auslöser der Verzweiflung war, die nun ein Ende haben soll. Wir erfahren lediglich, dass eine Desillusionierung stattgefunden hat, nach der alles sinnlos und schlecht geworden ist, „fango è il mondo“ (V.10) [Schlamm ist die Welt]. Or poserai per sempre, Stanco mio cor. Perì l’inganno estremo, Ch’eterno io mi credei. Perì. Ben sento, In noi di cari inganni, Non che la speme, il desiderio è spento. Posa per sempre. Assai 184 7 Das Nichts in der Liebe <?page no="185"?> 473 Zur teoria del piacere siehe Kapitel 5.2.3. Palpitasti. Non val cosa nessuna I moti tuoi, nè di sospiri è degna La terra. Amaro e noia La vita, altro mai nulla; e fango è il mondo. T’acqueta ormai. Dispera L’ultima volta. Al gener nostro il fato Non donò che il morire. Omai disprezza Te, la natura, il brutto Poter che, ascoso, a comun danno impera, E l’infinita vanità del tutto. (A se stesso, V.1-16) [Nun hast du Ruhe für immer, mein müdes Herz. Es verging die äußerste Täuschung, die ich ewig glaubte. Sie verging. Ich fühle, nach süßem Selbstbetrug ist nicht nur die Hoffnung, ist auch die Sehnsucht erloschen. Ruh aus für immer. Genug hast du gepocht. Kein Ding ist es wert, dass du dich regst und keinen Seufzer verdient die Erde. Bitterkeit und Langeweile, nichts anderes ist das Leben und Schlamm ist die Welt. Gib dich zufrieden. Verzweifle das letzte Mal. Unserem Geschlecht vermachte das Schicksal nur das Sterben. Nun verachte dich selbst, die Natur und die hässliche Gewalt, die insgeheim herrscht zu aller Verderben und diese unendliche Nichtigkeit von allem.] Das lyrische Ich, das zu seinem müden Herzen spricht, hat einen Illusionsverlust erlitten, der in dem Gedicht nicht weiter erläutert wird. Lediglich die außeror‐ dentliche Bedeutung des Verlustes kommt in der hyperbolischen Bekundung „Perì l’inganno estremo“ (V.2) [Es verging die äußerste Täuschung] zum Aus‐ druck und wird noch durch die syntaktische Zäsur betont, die das doppeldeutige Adjektiv „estremo“ an das Ende des Verses stellt und unklar lässt, ob es sich um die absolute (extreme) Illusion oder um die letzte handelt, nachdem alle anderen verschwunden sind. Auf die Zäsur folgt eine zweite Desillusionierung, weil der Glaube, es handle sich um eine ewige, unzerstörbare Illusion, „ch’eterno io mi credei“ (V.3) [die ich ewig glaubte], sich ebenfalls als Täuschung entpuppt hat. Entsprechend folgt ein erneutes alleinstehendes „Perì“ (V.3) [Sie verging]. Mit dem Ende des Selbstbetruges verschwindet auch die Hoffnung und das Begehren selbst, wodurch der Mensch eben jene Eigenschaft verliert, die Leopardi zur Kerneigenschaft des Subjekts 473 erklärt. Wenn dieser Verlust tatsächlich erfolgt, entzieht er dem Ich dadurch die Menschlichkeit, da die Befreiung von dem ständigen Begehren nicht durch eine erfolgreiche Reintegration in die Natur erfolgt. Für A se stesso hat sich die Deutung des „inganno estremo“ als die 7.3 Selbstverlust durch Illusionsverlust? - A se stesso 185 <?page no="186"?> 474 Obwohl Leopardi Ariost sehr geschätzt hat, ist unklar, ob es eine intertextuelle Beziehung zwischen dem Gedicht und der Szene gibt. Auf der Bildebene konnten aber auch Ähnlichkeiten zu Il passero solitario festgestellt werden: Vgl. Raffaele Morabito: „Il Passero solitario e l’Ariosto,“ Studi e problemi di critica testuale 27 (1983), S.-167-171. 475 Ludovico Ariosto: Orlando furioso, II., a cura di Lanfranco Caretti, Torino: Einaudi 3 2015, S.-688, Canto ventesimoterzo, CIV , (Hervorh. von mir). Illusion der Liebe durchgesetzt, was durch die Sprache zum Herzen und durch die Stellung in den Canti zwischen Amore e morte und Aspasia naheliegt. Auch biographische Verweise auf Leopardis unerwiderte Liebe zu Fanny sind üblich. Um zu zeigen, wie stark Leopardi von anderen literarischen Darstellungen der Liebesdesillusionierung abweicht, werden deshalb zunächst die Desillusionie‐ rungsszenen in Ariosts Orlando furioso zum Vergleich herangezogen, bevor die Stellung des Gedichtes innerhalb der Canti betrachtet wird. 474 Ariost, der die Liebesdesillusionierung in einer anderen Form und mit einem anderen Ausgang behandelt, erschafft in seinem Epos, das bisher keine Innerlichkeit kannte, einen fast modernen Helden. Seine Desillusionierungsszene kann als Inversion zu A se stesso gelesen werden. In dem Moment, in dem Orlando, der sich auf der Suche nach seiner geliebten Angelica befindet, endlich beschließt, seinen Pflichten nachzukommen, und zum Feldzug von Karl dem Großen zurückkehren will, findet er plötzlich Zeichen von seiner Geliebten und muss feststellen, dass sie ihr Liebesglück mit einem anderen Mann gefunden hat. Nun setzt ein Prozess ein, in dem Orlando seine Illusion, seine Hoffnung und schließlich auch seinen Verstand verliert. Der Prozess wird jedoch in die Länge gezogen, weil Orlando wiederholt versucht, seine Illusion zu bewahren und an der Hoffnung festzuhalten. Orlando findet überall im Wald Nachrichten von Angelica, die von ihrem Liebesglück mit Medoro berichten. Der unglücklich verliebte Orlando versucht zunächst, sich selbst zu überzeugen, dass sie nicht von seiner Angelica stammen. Doch diese Illusion ist nicht überzeugend genug; so redet er sich ein, dass Angelica ihm den Namen Medoro gegeben habe: Finger questo Medoro ella si puote: forse ch’a me questo cognome mette. - Con tali opinïon dal ver remote usando fraude a sé medesmo, stette ne la speranza il malcontento Orlando, che si seppe a se stesso ir procacciando. 475 [Sie könnte diesen Medor erfunden haben, vielleicht hat sie mir diesen Namen gegeben. - So hat den Selbstbetrug für sich erlesen und von der Wahrheit ganz sich 186 7 Das Nichts in der Liebe <?page no="187"?> 476 Übersetzung in Anlehnung an: Alfons Kissner; Ludovico Ariosto: Sämtliche poetische Werke, Bd.-1-3, Berlin, Propyläen Verlag 1922. 477 Ludovico Ariosto: Orlando furioso, Canto ventesimoterzo, CVII. 478 Ebd., CXI. 479 Ebd. 480 Ebd., CXXVIII. abgewandt der arme Roland, Hoffnung zu erraffen, von der er fühlt, dass er sie selbst geschaffen.] 476 Der Selbstbetrug ist transparent und sogar Orlando weiß dies unterbewusst, doch die Bewusstseinsspaltung, die nun eintritt, erlaubt ihm Hoffnung und das Festhalten an der Illusion. Sie wird jedoch erneut auf die Probe gestellt, wenn Orlando eine Inschrift von Medoro findet, die vom „gran piacer“ 477 [große Lust] berichtet, welches ihm eben versagt blieb. Die Täuschung droht erneut zu platzen und vergeblich sucht er nach Erklärungen. Ihm schnürt sich das Herz zu, „stringersi il cor sentia con fredda mano“ 478 [als ob ihm eine kalte Hand das Herz zuschnürte], bis es versteinert: „Rimase al fin con gli occhi e con la mente | fissi nel sasso, al sasso indifferente“ 479 [Die Augen und der Verstand blieben am Stein haften, der ihm gleich war]. Doch dieser Zustand hält nicht an und noch kann Orlando auch den Schmerz nicht zulassen. So rappelt er sich erneut auf, schöpft Hoffnung - er möge sich doch täuschen - und aus der Hoffnung zieht er genug Kraft, um seine Reise fortzusetzen. Doch das Haus, das er wählt, um sich von den Strapazen auszuruhen, gehört ausgerechnet dem Hirten, bei dem das Liebespaar Unterschlupf fand. Und so steht Orlando vor Tatsachen, die keine weitere Täuschung mehr erlauben. Endlich kann er dem Schmerz freien Lauf lassen, und der Mann, der nach der Desillusionierung zum Vorschein kommt, ist nicht mehr Orlando: Non son, non sono io quel che paio in viso: quel ch’era Orlando è morto et è sotterra; la sua donna ingratissima l’ha ucciso: sí, mancando di fé, gli ha fatto guerra. Io son lo spirto suo da lui diviso, ch’in questo inferno tormentandosi erra, acciò con l’ombra si, che sola avanza, esempio a chi in Amor pone speranza. 480 [Nicht ich, nicht ich bin, was ich scheine. Roland war das; tot ist er und im Grab. Die undankbare Herrin hat ihn umgebracht: ja, durch die Treuelosigkeit, hat sie ihm den Krieg erklärt. Ich bin sein Geist, von ihm getrennt und muss in Qualen durch diese 7.3 Selbstverlust durch Illusionsverlust? - A se stesso 187 <?page no="188"?> 481 Ebd. Canto ventesimoquarto, I. 482 Paul Geyer: Von Dante zu Ionesco. Literarische Geschichte des modernen Menschen in Italien und Frankreich, Hildesheim: Olms 2013, S. 246. Georg Lukács: Die Theorie des Romans, Darmstadt: Luchterhand 1971. Hölle irren, damit sein Schatten, der einsam fortschreitet, demjenigen Warnung ist, der seine Hoffnung in Amor setzt.] Die Illusion wurde auf dem Schlachtfeld der Liebe zerstört und damit ist auch jener Teil in Orlando, der zu Glaube und Hoffnung befähigt war, gestorben. Als Geist seiner selbst irrt er nun verstört umher, bis er schließlich müde zu Boden fällt. Als er nach drei Tagen wieder aufsteht, hat die Wut seinen Verstand ausgelöscht. Orlando hat sich selbst verloren und lebt vorerst wie ein wildes Tier. Der Erzähler im Orlando furioso bietet dem Leser das Fazit für die Geschichte, man möge sich besser von der Liebe fernhalten, da sie lediglich eine süße Tollheit sei: „E quale è di pazzia segno piú espresso | che, per altri voler, perder se stesso? “ 481 [Was kann vom Wahnsinn klarstes Zeugnis geben, dass man um andre sich selbst verliert? ]. Vernunft ist also geboten, wobei die Ernsthaftigkeit des Erzählers in Frage zu stellen ist. Der Verlust, den Orlando erleidet, ist aber in der Tat teuer, denn es ist der Verlust seiner selbst. Ariost konzipiert einen Helden, der sich durch seine Innerlichkeit vom traditionellen Epos abhebt und bereits Ähnlichkeiten zum modernen Romanhelden aufweist, der sich auf die Suche nach sich selbst begibt. Geyer zeigt in Anlehnung an Lukács: Die Seele des epischen Helden weiß nicht nur nicht, dass sie sich verlieren kann, sondern sie kann sich tatsächlich nicht verlieren, da sie sich in ihrer Gemeinschaft und ihren überindividuellen Sinnstiftungssystemen immer schon gefunden hat. „[E]s gibt noch kein Außen, kein Anderes für die Seele“, da sie noch relativ identisch ist mit der Identität ihrer Gemeinschaft; von Außen und Innen lässt sich da noch gar nicht spre‐ chen. Der epische Held ist in erster Linie Repräsentant eines Überindividuellen, das sich in ihm spiegelt und bestätigt. […] Orlando kündigt den modernen Romanhelden an, der in seiner Welt nicht mehr heimisch ist und sich selbst verloren hat. 482 Doch Leopardis Helden-Entwürfe unterscheiden sich von dem epischen und dem modernen Romanhelden, wie auch in dem überaufgeklärten Brutus schon deutlich wurde. Leopardis Helden wissen, dass der Selbstverlust auf dem Spiel steht beziehungsweise durch das Leben herbeigeführt werden kann. Die Darstellung von Orlandos Innenleben und der Kampf um den Erhalt der Illusion, der sich bis hin zur Bewusstseinsspaltung steigert, verdeutlicht, was in A se stesso nicht dargestellt, aber vorausgesetzt wird. Das lyrische Ich, dessen „inganno estremo“ gelüftet wurde, ist zwar kein wildes Tier, steht jedoch ohne 188 7 Das Nichts in der Liebe <?page no="189"?> Hoffnung, Illusionen und Begehren vor der Bitterkeit der freudlosen Existenz: „Amaro e noia | la vita, altro mai nulla; e fango è il mondo“ (V.9-10) [Bitterkeit und Langeweile, nichts anderes ist das Leben und Schlamm ist die Welt]. Doch erleidet das lyrische Ich tatsächlich einen Selbstverlust? Während Orlando gegen das Ende seines Selbstbetrugs ankämpft und dann den Verstand verliert, scheint das lyrische Ich in A se stesso sich selbst überreden zu wollen, dass es nun keine Illusionen mehr gibt und das Leben wertlos geworden ist: „Posa per sempre. Assai palpitasti. […] T’acqueta ormai. Dispera l’ultima volta“ (V.8-12) [Ruh aus für immer. Genug hast du gepocht. Gib dich zufrieden. Verzweifle das letzte Mal]. Die Vernunft versucht Einfluss über die Emotionslage zu gewinnen, die Ausweglosigkeit der menschlichen Existenz zu zementieren und das Ich zur Aufgabe zu bewegen. Ein Selbstverlust wäre in diesem Fall ein Verlust der Affekte. Ebenso unbekannt wie der Auslöser für die Desillusionierung ist aber der Ausgang des Selbstgesprächs. Wir blicken deshalb auf die Verarbeitung des Motivs im restlichen Aspasia-Zyklus, in dem ebenfalls einige Nichts-Kon‐ zepte, die in die Beschreibung der faden und feindlichen Realität einfließen, aufgegriffen werden. 7.4 Der Aspasia-Zyklus In Il pensiero dominante wird ein Gedanke beschrieben, der die vollständige Kontrolle über das lyrische Ich übernommen hat: „Dolcissimo, possente | domi‐ nator di mia profonda mente; | terribile, ma caro | dono del ciel“ (V.1-4) [Süßer, mächtigster Herrscher, dem ich mein Innerstes ganz geöffnet habe, schreckliche, aber teure, Himmelsgabe]. Neben diesem sind alle anderen Freuden Trugbilder. Erst in der letzten Strophe wechselt die Apostrophe zum Objekt des Gedankens: „Da che ti vidi pria, | di qual mia seria cura ultimo obbietto / non fosti tu? […] Bella qual sogno, | angelica sembianza“ [Seit ich dich erblickte, welche ernsthafte Sorge hatte nicht dich zum Gegenstand? Schön bist du wie ein Traum, engelhafte Gestalt]. Der pensiero dominante greift die Gedankenfigur des „null’altro“ auf, die Leopardi vor allem in La ginestra, wenn auch in anderer Form, inszeniert (Kapitel 8.1). In A se stesso wird die Figur verkehrt und dem Nichts wird kein dominierender Gedanke, sondern Bitterkeit und Langeweile (V.9) gegenübergestellt. In Consalvo kommt das Zusammenspiel von Leben und Tod zum Ausdruck. Der sterbende Consalvo offenbart der bildschönen Elvira seine Liebe und bittet sie um einen lang ersehnten Kuss. In Amore e morte wird eine Liebeskonzeption vorgestellt, in der die Todesgöttin als schöne Begleiterin ihres Zwillings - dem Liebesgott - dargestellt wird. Beide sind sie Kinder, die 7.4 Der Aspasia-Zyklus 189 <?page no="190"?> entsprechend die mythische Ambivalenz in sich tragen, die in Kapitel 5.2 schon gezeigt wurde. Die Liebe löst in dem Verliebten eine Todessehnsucht aus, da er durch sie erkennt, dass sein Begehren keine adäquate Erfüllung in dieser Welt finden kann. Durch die Liebe wird die Welt unbewohnbar, da das Subjekt durch sie ihre Grenzen erkennen kann. Forse il mortale inabitabil fatta Vede omai senza quella Nova, sola, infinita Felicità che il suo pensier figura: Ma per cagion di lei grave procella Presentendo in suo cor, brama quiete Brama raccorsi in porto Dinanzi al fier disio, Che già, rugghiando, intorno intorno oscura. (Amore e morte, V.36-44) [Mag sein, der Sterbliche erkennt, dass für ihn nun die Erde unbewohnbar werde, wenn, grenzenlos, einzig und neu, das Glück ihm versagt bliebe, das sein Denken bestimmt. Er spürt, wie im Herzen wild Sturm heraufzieht, und wünscht sich sehnlich zu schlafen, wünscht sich Zuflucht im Hafen vor jenem Begehren, das schwillt und tosend alles ringsum in Finsternis hüllt.] In Amore e morte findet also eine ähnliche Umdeutung in Leopardis gleitender Semantik statt wie im Ultimo Canto del Saffo, denn jetzt ist es nicht die Vernunft, die das Subjekt die Nichtigkeit erkennen lässt, sondern das Gefühl, als zersetzendes Prinzip. Durch den daraus folgenden Desillusionierungsprozess erhält das lyrische Ich einen entzauberten Blick auf die Welt. Der Ultimo Canto del Saffo gibt uns eine Vorstellung, wie diese Welt aussieht. Der Tod verheißt in Amore e morte Affektlosigkeit, also Ataraxie, die allerdings durch das Adverb „forse“ relativiert wird: eine Deutung des Todes, die sich bereits neun Jahre zuvor im Dialogo di Federico Ruysch e le sue mummie wiederfindet (siehe Kapitel 6.1). Und auch in Aspasia wird die Ataraxie erwogen. Liebe ist auch hier nur eine Illusion, die durch die Verdopplung der geliebten Frau entsteht. Drastischer noch als in Tassos Dialog liebt das lyrische Ich in Aspasia nur das idealisierte Bild der Frau; ein Bestand, über den sich das Ich zu Beginn der Liebe noch nicht bewusst ist. In dem Gedicht verwendet Leopardi erneut die Verdopplung des Bildes - wie bereits in L’infinito -, jetzt jedoch nicht als poetisches Prinzip, sondern in der Negativ-Version als unbewusste Selbsttäuschung. Obwohl die Liebe zu Aspasia keine Erfüllung zu finden scheint, ist dies nicht der Grund der Desillusionierung, denn der Prozess wird mit einer Liebe verglichen, die durchaus Erfüllung findet: Selbst in der Umarmung liebt ein Mann nur das Bild 190 7 Das Nichts in der Liebe <?page no="191"?> von einer Frau und nicht die reale Frau; erkennt er aber schließlich, dass er die reale Frau vor sich stehen hat, erzürnt er, „l’errore e gli scambiati oggetti | conoscendo, s’adira“ [den Fehler und die Verwechslung erkennend, gerät er in Zorn] (V.46-47). Ähnlich der Täuschung in der Palinodia kommt nun das Nicht-Seiende im Seienden zum Vorschein. Die Verdopplung des Bildes wird, sobald sie erkannt wurde, auch schon aufgehoben, denn nun steht nur noch die reale Frau vor ihm, die er nicht liebt. „Or quell’Aspasia è morta | che tanto amai. Giace per sempre, oggetto | della mia vita un dì. […] Tu vivi […] Pur quell’ardor che da te nacque è spento: | Perch’io te non amai, ma quella Diva | che già vita, or sepolcro, ha nel mio core“ (V.70-79) [Nun ist jene Aspasia tot, die ich so liebte. Sie ruht für immer, die Ziel meines Lebens einst war. Du lebst. Doch jene Glut, die du schürtest, sie ist erloschen. Denn ich liebte nicht dich, sondern jene Göttin, die einst lebte und jetzt begraben ist in meinem Herzen]. Das Idealbild kann jetzt nur noch flüchtig in der Erinnerung aufgesucht werden und wird dadurch verzeitlicht. Die Misogynie in diesem Gedicht - weniger durch das Scheitern der Frau an dem ihr gegenübergestellten Ideal (siehe Kapitel 6.3), als durch ihre Reduktion auf eine schöne Hülle mit einem kleinen, schwachen Geist und geringen Imaginationsfähigkeiten - ist offensichtlich und auch kein Einzelfall in Leopardis Werk. Während Ariost noch äußere Faktoren benötigt, um eine Desillusionierung hervorzurufen, erfolgt diese in Aspasia allein durch die Reflexion über die eigene Emotion. Durch den mangelnden Bezug zur Welt, der entsteht, weil das Ich keinen eigenen Entwurf mehr in sie hineinprojiziert, erleidet das Ich die totale Entfremdung. Der Verlust besteht in Aspasia aus einem Teil des verdoppelten Bildes, „quell’Aspasia“. Das übrig gebliebene Bild kann im Ich höchstens noch Wut erregen und es flüchtet in einen Entwurf, in dem die Welt nur noch als bloße Tatsache empfunden wird. Entsprechend empfiehlt das lyrische Ich in Aspasia gar eine Zuwendung zur Vernunft und damit eine vollständige Abkehr vom Prinzip der Illusionen: […] Cadde l’incanto, E spezzato con esso, a terra sparso Il giogo: onde m’allegro. E sebben pieni Di tedio, alfin dopo il servire e dopo Un lungo vaneggiar, contento abbraccio Senno con libertà. Che se d’affetti Orba la vita, e di gentili errori, È notte senza stelle a mezzo il verno, Già del fato mortale a me bastante E conforto e vendetta è che su l’erba 7.4 Der Aspasia-Zyklus 191 <?page no="192"?> 483 Die Ataraxie-These wurde schon früh vertreten; so John Van Horne 1918: „It is probable that Leopardi aimed at a stoical submission to destiny. Without feeling the slightest inclination toward reconciliation with the system of the universe as it affects the human race, he desired to bid farewell to illusion, to cherish no more hope“ John Van Horne: „Comment on Some Posthumous Poems and Fragments of Leopardi“ in: Modern Language Notes, 33 (1918), S.-162. Qui neghittoso immobile giacendo, Il mar la terra e il ciel miro e sorrido. (Aspasia, V.101-112) [Der Zauber fiel ab, und mit ihm zerbrach, am Boden zersplitternd, das Joch. Nun ist mir wohl. Und wenn voller Verdruss die Zeit war, am Ende der Knechtschaft und eines langen Fiebertraumes umarme ich zufrieden mit der Freiheit zugleich die Vernunft. Denn mag auch ohne Empfindung und edle Verirrung das Leben eine sternlose, eisige Winternacht sein, so finde ich doch für mein sterbliches Los schon darin hinlänglich Trost und hinlänglich Rache, dass ich, hier müßig und reglos im Gras liegend, die Erde, das Meer und den Himmel betrachte und lächle.] Die Desillusionierung leitet in eine Affektlosigkeit über, die als winterliche Nacht ohne Sterne - locus terribilis - dargestellt wird und der Ausweg durch Ataraxie wird parodiert. 483 Diese Negativität findet sich auch in dem Gedicht A se stesso, in dem das Ende des Herzschlages erneut das Leitmotiv des Todes aufgreift und eine Welt des Mangels gezeigt wird. A se stesso wird traditionell gerne durch seine kurze Form und seinen nega‐ tiven Inhalt im Kontrast zu L’infinito gelesen. Während dann der imaginative Blick hinter die Hecke in L’infinito auf das Ganze, beziehungsweise die Fülle, verweist, bleibt in A se stesso nur noch das Nichts zurück bzw. „l’infinita vanità del tutto“ (V.2) [diese unendliche Nichtigkeit von allem] und die Verdopplung wird aufgehoben. In der Beschreibung der Unendlichkeit kommt Leopardi letztlich zu dem Schluss, dass die Unendlichkeit mit dem Nichts identisch ist, da sie eigenschaftslos ist. [L]’infinito è un’idea, un sogno, non una realtà: almeno niuna prova abbiamo noi dell’esistenza di esso, neppur per analogia […]. Pare che solamente quello che non esiste, la negazione dell’essere, il niente, possa essere senza limiti, e che l’infinito venga in sostanza a esser lo stesso che il nulla. Pare soprattutto che l’individualità dell’esistenza importi naturalmente una qualsivoglia circoscrizione, di modo che l’infinito non ammetta individualità e questi due termini sieno contraddittorii; quindi non si possa supporre un ente individuo che non abbia limiti. (Zib. 4178) [Das Unendliche ist eine Idee, ein Traum, keine Realität: Zumindest haben wir keinen Beweis für seine Existenz, nicht einmal als Analogie. Es scheint, als ob nur das, 192 7 Das Nichts in der Liebe <?page no="193"?> was nicht existiert, die Negation des Seins, das Nichts, grenzenlos sein kann und als ob das Unendliche substanziell das Gleiche wie das Nichts ist. Es scheint darüber hinaus, als ob die Individualität der Existenz eine natürliche Begrenzung in sich trägt, was bedeutet, dass Individualität keine Unendlichkeit zulässt und dass diese beiden Begriffe widersprüchlich sind; insofern können wir kein individuelles Wesen ohne Grenzen annehmen.] Der ironische Charakter, der alle Ataraxie-Versionen in Leopardis Werk vereint, zeigt jedoch, dass Leopardi die Aufgabe der Illusion auch im Spätwerk nicht propagiert. Der Aspasia-Zyklus zeigt Variationen des Liebestopos, die keine Chronologie besitzen und teilweise zu gegensätzlichen Ergebnissen kommen. Die Liebesillusion ist in der modernen Gesellschaft eine Illusion, auf die sich das Kollektiv verständigt hat (Kapitel 6.3) und die sich deshalb als Orientierung an‐ bietet. Innerhalb der Orientierungsversuche erkunden die Anti-Liebesgedichte das Nichts, das dem Subjekt droht, wenn es sich in eine Immanenz begibt, in der es keinen Entwurf mehr auf die Welt projiziert. 7.4 Der Aspasia-Zyklus 193 <?page no="195"?> 484 Giacomo Leopardi: Poesie e prose. Vol. I. Poesie. A cura di Mario Andrea Rigoni. Milano: Mondadori 11 2011, S.-989. 485 Vgl. Walter Binni: La protesta di Leopardi, S.-159. 486 Vgl. Poesie e Prose I, S.-988-989. 8 Der Abbruch einer gleitenden Semantik Die Forschung hat lange versucht, einen Endpunkt für Leopardis Gedanken‐ bewegungen zu finden, und wirft dabei Probleme auf, für die es kaum befrie‐ digende Lösungen gibt. Im Zentrum stehen die beiden letzten Gedichte La ginestra und Il tramonto della luna, die stellvertretend für den Abschluss eines Werks besprochen werden, das keinen Abschluss hat und ihn vermutlich auch angesichts einer längeren Lebensspanne des Autors nicht gehabt hätte. Die Hierarchie, die unweigerlich bei einer abschließenden Betrachtung des einen oder des anderen Gedichtes entsteht, führt schnell zu einer finalen Beurteilung des gedanklichen Weges: Leopardis Werk erhält durch einen Abschluss mit La ginestra einen heroischen Ton, während mit Il tramonto della luna gerne ein düsteres Ende heraufbeschwört und das Gedicht als radikaler Ausdruck von Leopardis Lebensüberdruss gedeutet wird, als „definitivo distacco“ 484 und als Synthese seines Pessimismus. 485 Erschwert wird dies durch die biografische Lektüre und den langen Streit über die Reihenfolge der Entstehung. Einerseits eignete sich die Entstehungsgeschichte von Il tramonto della luna lange zur weiteren Negativierung der Interpretation, denn Leopardi soll die letzten sechs Verse auf dem Sterbebett verfasst haben. Dies gilt zwar zwischenzeitlich als widerlegt, aber selbst der Verweis auf die Falsifikation 486 dieser Entstehungsge‐ schichte ruft immer wieder die biografische Komponente hervor. Diese wird hier als gegenstandslos betrachtet und die Reihenfolge der Analyse soll keinen Beitrag zu dieser Diskussion leisten. La ginestra wird hier zuerst betrachtet, weil in dieser Arbeit zuerst die anthropologische Linie in Leopardis Werk dargestellt wurde und sich in diesem Gedicht seine letzten poetischen Überlegungen zur Haltung finden, die in einer feindlichen Welt eingenommen werden kann. Abschließende Betrachtungen zur gleitenden Semantik können hingegen am Gedicht Il tramonto della luna gezeigt werden, das vor allem formal durch seine labyrinthischen Strukturen, seine Vagheit und die Mehrdeutigkeit der zentralen Konzepte und Motive einen starken Gegensatz zu La ginestra darstellt. <?page no="196"?> 487 Siehe Kapitel 4.4 8.1 La ginestra Das späte Gedicht La ginestra, o il fiore del deserto knüpft in vielerlei Hinsicht an Leopardis anthropologische Studien an. Das präsentierte Szenario gleicht dem Schlachtfeld des Bruto minore, auf dem der einsame Held zum Sterben liegt. Hier wächst ein Ginsterbusch auf den Hängen des Vesuvs und erfüllt die karge Land‐ schaft mit seinem Duft. Der junge Leopardi verwendet primär in Briefen und Tagebucheinträgen die Metapher „il deserto della vita“ 487 [Wüste des Lebens], die alles umgibt und ‚das Nichts‘ als Abwesenheit von ‚allem‘ zum Ausdruck bringt. Durch diese Metapher wird der Mangel zur unumstößlichen Realität er‐ klärt. An die Stelle der Wüste des Lebens tritt nun in La ginestra der „Sterminator Vesevo“ (V.3) [Vernichter Vesuv]. Metonymisch steht er für eine feindliche Natur und die Wüste auf seinen Hängen verbildlicht eine deprivierte Welt, in welcher der Mangel regiert. Entsprechend häuft sich das Vokabular der Einsamkeit, Stille und Verlassenheit: „l’erme contrade“ (V.8) [die einsamen Weiten], „taciturno“ (V.12) [schweigsam], „abbandonati“ (V.15) [verlassen], „infeconde“ (V.18) [un‐ fruchtbar]. Dieser Mangel erhöht die Tugenden des Ginsterbusches, neben dem „null’altro“ (V.4) [kein anderer] die Einöde schmückt. Erneut werden durch den Ginsterbusch die Singularität, Heldenhaftigkeit und Überhöhung aufgegriffen, die zu Beginn bereits im Zeichen der Illusion verhandelt wurde. ‚Das Nichts‘ dient in La ginestra also zunächst als Relation. Der Anblick des Ginsterbuschs auf den Ruinen von Pompeji weckt die Erinnerung daran, wie schnell und mit welcher Gewalt die Natur sich ihren Raum nimmt. In der ersten Strophe stellt Leopardi dieses Szenario einer fortschrittsorientierten Weltsicht gegenüber, in der die technischen Errungenschaften gepriesen werden: […] Or tutto intorno Una ruina involve, Dove tu siedi, o fior gentile, e quasi I danni altrui commiserando, al cielo Di dolcissimo odor mandi un profumo, Che il deserto consola. A queste piagge Venga colui che d’esaltar con lode Il nostro stato ha in uso, e vegga quanto È il gener nostro in cura All'amante natura.-E la possanza Qui con giusta misura Anco estimar potrà dell’uman seme, 196 8 Der Abbruch einer gleitenden Semantik <?page no="197"?> 488 Es handelt sich bei dem Vers um ein invertiertes Zitat aus dem Vorwort der Inni sacri von Leopardis Cousin Terenzio Mamiani. Cui la dura nutrice, ov’ei men teme, Con lieve moto in un momento annulla In parte, e può con moti Poco men lievi ancor subitamente Annichilare in tutto. Dipinte in queste rive Son dell'umana gente Le magnifiche sorti e progressive. (La ginestra, V.32-51) [Heute ist ringsum alles nur Trümmerstätte, in der du Wurzeln schlägst, freundlicher Strauch, und wo du, als ob das Unglück andrer dein Mitleid errege, süßesten Blütenduft emporschickst zum Himmel und Trost der Einöde spendest. Zu diesen Hängen sollten sie kommen, sie, die das menschliche Los zu preisen gewohnt sind, und sehen, wie liebreich und zart, besorgt um unsere Art, Natur sich erweist. Sie werden hier auch die Macht mit dem richtigen Maße messen können, die Macht der Menschenkinder, welche die grausame Amme, ehe sie’s denken, plötzlich zum Teil vernichtet mit leichter Bewegung und im Augenblick mit einer nur um weniges stärkeren Regung völlig auslöschen kann. Diese Hänge veranschaulichen des Menschengeschlechts großartige und fortschrittliche Geschicke.] Es handelt sich hierbei um eine Variation des Zusammenspiels der ‚idealen‘ und der ‚realen‘ Welt, die im Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie und in Alla sua donna zu sehen ist. Leopardi pocht nun darauf, die reale Welt in Augenschau zu nehmen, statt sich in einer trügerischen Welt voller Fortschrittsillusionen - le magnifiche sorti e progressive  488 (V.51) [großartige und fortschrittliche Geschicke] - zu verlieren. Die Natur aber ist in der Lage die Errungenschaften der Menschheit mit einem Strich tilgen. Gleichzeitig bietet sie Trost durch den Geruch des Ginsters und lässt durch diesen die ideale Welt anklingen. Zu dieser kehrt das Gedicht aber erst in der letzten Strophe zurück. Das Leitmotiv des Gedichts schließt also an das Thema der Palinodia an, in der eine undurchdringliche Natur gezeigt wird, die zerstört, um neu zu schaffen (siehe Kapitel 5.2) Während in der ersten Strophe von La ginestra der Kontrast zwischen Realität und Trugbild szenisch dargestellt wird, richtet sich das lyrische Ich in der zweiten Strophe direkt an sein Jahrhundert. Qui mira e qui ti specchia, Secol superbo e sciocco, Che il calle insino allora 8.1 La ginestra 197 <?page no="198"?> Dal risorto pensier segnato innanti Abbandonasti, e volti addietro i passi, Del ritornar ti vanti, E procedere il chiami. (La ginestra, V.52-58) [Betrachte dich hier im Spiegel, hochmütiges und dummes Jahrhundert! Du bist vom geraden Weg, den einst die wiedererwachte Vernunft dir wies, abgewichen und gehst stattdessen zurück und rühmst dich der Umkehr. Und dies bezeichnest du als Fortschritt.] „Secol superbo“ (V.53) [hochmütiges Jahrhundert] straft Leopardi sein Zeitalter, dem Leopardi seinen Anthropozentrismus vorwirft. Auch in La ginestra dient die Vergangenheit der Abgrenzung, nun aber die Renaissance an Stelle der Antike. Während Leopardi in der Renaissance das Wiederaufleben des Denkens verortet, das die Menschheit erneut aus der Barbarei befreit hat, droht seinem Zeitalter die Versklavung des Denkens: „Libertà vai sognando, e servo a un tempo | vuoi di novo il pensiero“ (V.72-73) [Du träumst von Freiheit und willst zugleich das Denken wieder versklaven]. Abgesehen von den Vorwürfen, die bereits in der Palinodia geäußert wurden - Erfolg habe nur, wer den Moden der Meinung nicht widerspricht -, ist besonders auffällig an der Strophe, dass sich die Beurteilung von Vernunft und Natur seit den ersten Gedichten verkehrt zu haben scheint. Die erneute Abkehr von der Vernunft habe die Situation der Menschen verschlechtert und sein Zeitalter sei in die metaphorische Dunkelheit zurückgekehrt: Così ti spiacque il vero Dell’aspra sorte e del depresso loco Che natura ci diè. Per questo il tergo Vigliaccamente rivolgesti al lume Che il fe palese: e, fuggitivo, appelli Vil chi lui segue, e solo Magnanimo colui Che se schernendo o gli altri, astuto o folle, Fin sopra gli astri il mortal grado estolle. (La ginestra, V.78-86) [Die Wahrheit gefiel dir nicht, dass ein bitteres Los, einen niederen Stand Natur uns bestimmte. Deshalb hast du feige dem Licht der Vernunft, die alles enthüllte, den Rücken gekehrt, und, selbst auf der Flucht, nennst du nichtswürdig den, der ihr folgt, und allein jenen edel gesinnt, der sich oder andere täuschend, gewitzt oder blöd, den Rang der Sterblichen bis zu den Sternen erhöht.] 198 8 Der Abbruch einer gleitenden Semantik <?page no="199"?> Was also wie eine Verkehrung innerhalb der gleitenden Semantik aussieht, ist tatsächlich der Polyvalenz der Konzepte geschuldet. Leopardi greift hier erneut jenes poetische Denken auf, das bereits in Kapitel 5.2.2 beschrieben wurde und das sich nicht vollständig von der Natur abgrenzt. Auf die Polyvalenz der Natur kommen wir im Folgenden noch zurück. Zunächst wird uns diese aber als feindliche Stiefmutter präsentiert, welche die Schuld an der miserablen Lage der Menschheit trägt: Magnanimo animale Non credo io già, ma stolto, Quel che nato a perir, nutrito in pene, Dice, a goder son fatto, E di fetido orgoglio Empie le carte, eccelsi fati e nove Felicità, quali il ciel tutto ignora, Non pur quest’orbe, promettendo in terra A popoli che un’onda Di mar commosso, un fiato D’aura maligna, un sotterraneo crollo Distrugge sì, che avanza A gran pena di lor la rimembranza. Nobil natura è quella Che a sollevar s’ardisce Gli occhi mortali incontra Al comun fato, e con franca lingua, Nulla al ver detraendo, Confessa il mal che ci fu dato in sorte, E il basso stato e frale; Quella che grande e forte Mostra se nel soffrir, nè gli odii e l’ire Fraterne, ancor più gravi D’ogni altro danno accresce Alle miserie sue, l’uomo incolpando Del suo dolor, ma dà la colpa a quella Che veramente è rea, che de’ mortali Madre è di parto e di voler matrigna. (La ginestra, V.98-125) [Nicht edel gesinnt, sondern töricht ist ein Geschöpf, will mir scheinen, das, zum Sterben bestimmt und in Qualen aufgezogen, sagt: Ich bin zur Freude geschaffen, das widerwärtig prahlt, Papier mit Worten füllt und erhabene Geschicke und neue 8.1 La ginestra 199 <?page no="200"?> Glückseligkeit, wie sie der Himmel nicht, wie sie die Welt nicht kennt, auf Erden verspricht Völkern, die eine Woge des aufgewühlten Meeres, ein giftiger Pesthauch, ein unterirdisches Beben derart gründlich vernichtet, dass kaum noch Erinnerung von ihnen berichtet. Edler Natur ist jener, der mutig die sterblichen Augen aufschlägt und das Geschick der Menschheit betrachtet und mit freiem Wort, das nicht die Wahrheit mindert, das Böse eingesteht, das uns zugelost wurde und der niedere und schwache Stand. Jener, der tapfer und groß im Leiden sich zeigt und nicht mit Bruderhass, dem Schlimmsten aller Übel, das eigene Elend vermehrt und nicht dem Menschen die Schuld gibt am eigenen Schmerz, sondern jene verklagt, die in Wahrheit die Schuld trägt, die als Mutter die Sterblichen gebar und willentlich ihre Stiefmutter ist.] Die dritte Strophe kommt ohne Ansprache aus und in ihr werden Menschen eingeteilt in eine Gruppe, die ihr Schicksal negiert, und eine, die es versteht und akzeptiert. Töricht, „stolto“ (V.99), nennt Leopardi die erste Gruppe, die glaubt, sie könne in dieser Welt glücklich werden, „a goder son fatto“ (V.101) [ich bin zur Freude geschaffen]. Edel, „nobile“ (V.111), ist die zweite Gruppe, die mit offenen Augen auf ihr Schicksal blickt. Als Teil des menschlichen Intellekts erhält der Mensch durch die Vernunft die Fähigkeit, seine geringe Größe und seine Bedeutungslosigkeit im Universum zu erkennen. In Anlehnung an das Pascalsche Motiv der grandes âmes beschreibt Leopardi im Zibaldone diese Form von Seelenadel: Niuna cosa maggiormente dimostra la grandezza e la potenza dell’umano intelletto, nè l’altezza e nobiltà dell’uomo, che il poter l’uomo conoscere e interam. comprendere e fortemente sentire la sua piccolezza. Quando egli considerando la pluralità de’ mondi, si sente essere infinitesima parte di un globo ch’è minima parte d’uno degli infiniti sistemi che compongono il mondo, e in questa considerazione stupisce della sua piccolezza, e profondamente sentendola e intentamente riguardandola, si confonde quasi col nulla, e perde quasi se stesso nel pensiero della immensità delle cose, e si trova come smarrito nella vastità incomprensibile dell’esistenza […]. (Zib.-3171) [Nichts beweist die Größe und Kraft des menschlichen Intellekts oder die Höhe und den Adel des Menschen mehr als die Tatsache, dass der Mensch in der Lage ist, seine Kleinheit zu kennen und vollkommen zu begreifen und stark zu fühlen. Wenn er, die Pluralität der Welten betrachtend, sich selbst als einen infinitesimalen Teil eines Globus empfindet, der der kleinste Teil eines der unendlichen Systeme ist, aus denen die Welt besteht, und bei dieser Betrachtung über seine Kleinheit staunt und sie tief empfindet und aufmerksam betrachtet, verschmilzt er fast mit dem Nichts und verliert sich fast in dem Gedanken an die Unermesslichkeit der Dinge und findet sich wie verloren in der unbegreiflichen Weite des Daseins.] 200 8 Der Abbruch einer gleitenden Semantik <?page no="201"?> 489 Dialogo di Tristano e di un amico, Poesie e Prose II, S.-213. 490 Zib. 4525. 491 Vgl. Barbara Kuhn: „Und sie singt doch“, S.-39. Sie stellt die Verbindung zu den Versen 47-48 im Ultimo Canto di Saffo her: „Negletta prole | nascemmo al pianto“. In den Operette Morali ist Tristano ein Vertreter dieser Gruppe: „[H]o il coraggio di sostenere la privazione di ogni speranza, mirare intrepidamente il deserto della vita, non dissimularmi nessuna parte dell’infelicità umana“ 489 [Ich habe den Mut, die vollständige Hoffnungslosigkeit zu ertragen, furchtlos in die Wüste des Lebens zu blicken, mir das menschliche Unglück nicht im Geringsten zu verschleiern]. In einem der letzten Einträge des Zibaldone wiederholt Leopardi eine weitere Aussage von Tristano: „Due verità che gli uomini generalmente non crederanno mai: l’una di non saper nulla, l’altra di non esser nulla“ 490 [Zwei Wahrheiten, die die Menschen nie glauben werden: die eine, nichts zu wissen, die andere, nichts zu sein]. Zusammengeführt werden beide Gruppen - unabhängig von ihrer Haltung - im Vers 100, „nato a perir, nutrito in pene“ [zum Sterben bestimmt und in Qualen aufgezogen], der durch die alternierend assonierenden Anlautkonsonanten n-p-n-p wie eine geschlossene Einheit wirkt, die sich von den anderen Versen abhebt. 491 Dieser Zusammenschluss ist ent‐ scheidend für den solidarischen Menschenbund gegen die feindliche Natur, der das Thema der zweiten Hälfte der dritten Strophe setzt: Costei chiama inimica; e incontro a questa Congiunta esser pensando, Siccome è il vero, ed ordinata in pria L’umana compagnia, Tutti fra se confederati estima Gli uomini, e tutti abbraccia Con vero amor, porgendo Valida e pronta ed aspettando aita Negli alterni perigli e nelle angosce Della guerra comune. Ed alle offese Dell’uomo armar la destra, e laccio porre Al vicino ed inciampo, Stolto crede così, qual fora in campo Cinto d’oste contraria, in sul più vivo Incalzar degli assalti, Gl’inimici obbliando, acerbe gare Imprender con gli amici, E sparger fuga e fulminar col brando 8.1 La ginestra 201 <?page no="202"?> Infra i propri guerrieri. Così fatti pensieri Quando fien, come fur, palesi al volgo, E quell’orror che primo Contra l’empia natura Strinse i mortali in social catena, Fia ricondotto in parte Da verace saper; l’onesto e il retto Conversar cittadino, E giustizia e pietade altra radice Avranno allor che non superbe fole, Ove fondata probità del volgo Così star suole in piede Quale star può quel c’ha in error la sede. (La ginestra, V.126-157) [Sie nennt er seine Feindin und weil er denkt, die menschliche Gemeinschaft habe sich gegen diese vereint, wie es wahr ist, und zur Ordnung gefügt, hält für Bundesgenossen er die Menschen alle, und umarmt sie in herzlicher Liebe und schenkt und erwartet rasche und wirksame Hilfe im dauernden Wechsel der Nöte und der Gefahren gemeinsamen Krieges. Und da, wo ein Mensch ihn kränkt, zur Waffe zu greifen, mit Hindernissen und Schlingen den Nächsten zu Fall zu bringen, hält er für ebenso töricht, als würde er im Felde, wenn feindliche Haufen drohend das Lager umringen und hitzig zum Sturm ansetzen, die Feinde vergessen, einen grimmigen Streit mit den Freunden beginnen und Schrecken verbreiten und mit dem Schwerte wüten unter den eigenen Gefährten. Wenn einmal wiederkehrten solche Gedanken, denen die Völker einst folgten, und jenes Entsetzen, das anfangs gegen die rohe Natur die Sterblichen in gesellige Bindung zwang, wieder erwachen sollte in reiner Erkenntnis, dann werden Anstand und Ehre und redlicher Bürgersinn, Gerechtigkeit und Erbarmen auf festerem Grunde fußen als auf eitlen, verlogenen Märchen, auf denen heute die Redlichkeit des Volkes so sicher zu stehen pflegt, wie einer zu stehen vermag, wenn Irrtum ihn trägt.] Im Kapitel zum Bruto minore wurde bereits angekündigt, dass Leopardi die Union zwischen Natur und Mensch im Urzustand aufgeben und dadurch seine Anthropologie und seine Verfallsgeschichte ändern wird. Gesellschaften ent‐ stehen nun dadurch, dass die Natur die Menschen, die von Natur aus eigentlich egoistisch sind, in einen sozialen Bund zwingt (V.147-149). Das Verhältnis der Natur zur Zivilisation ist nun kein Gegensatz mehr, sondern eine Kausalität. Diese erklärt Leopardi zur wahren Anthropologie, während den Zeitgenossen erneut die Orientierung an einem Trugbild zugeschrieben wird. Leopardis späte 202 8 Der Abbruch einer gleitenden Semantik <?page no="203"?> 492 Vgl. Sebastiano Timpanaro: Classicismo e illuminismo nell’ ottocento italiano, S. 222-223. 493 Lettere, A Vieusseux, 4. März 1826, S.-632. Anthropologie wird deshalb nicht mehr mit Rousseau, sondern mit Lucrez’ De rerum natura in Verbindung gebracht. 492 Im Bruto minore unterscheidet Leopardi noch zwischen dem „plebeo“ (V.35) [dem Pöbel] und dem „prode“ (V.39) [Tapferen]. Der mutige Held stellt sich gegen sein Schicksal, bleibt der Tugend treu und leidet dabei unter seinen Existenzbedingungen, die durch sein reiches Innenleben noch unerträglicher sind. Der feige Pöbel aber nimmt seine Lebenskonditionen kampflos hin. Der Appell in La ginestra unterscheidet sich kaum von dem, was Leopardi im Bruto minore schon festhält, nur richtet sich der Kampf nicht mehr gegen ein abstraktes Schicksal - das auch die Gesellschaft umfasst -, sondern allein gegen die Natur. Eine erstaunliche Bekundung inmitten der Polemik über seine Zeitgenossen, durch die ein derartiges Unterfangen bereits negiert wird, zumal Leopardi in seinen Briefen häufig bekundet, wie wenig ihn soziale Interaktion und Politik interessieren: „[I] miei rapporti con loro e i loro rapporti scambievoli non m’interessano punto, e non interessandomi, non gli osservo se non superficialissimamente“ 493 [Meine Beziehungen zu ihnen und ihre wech‐ selhaften Beziehungen interessieren mich überhaupt nicht, und da ich nicht daran interessiert bin, beobachte ich sie nur sehr oberflächlich]. In der vierten Strophe richtet sich das lyrische Ich nun direkt an das Menschengeschlecht und präsentiert ihm seine bedeutungslose Stellung im Kosmos: E poi che gli occhi a quelle luci appunto, Ch’a lor sembrano un punto, E sono immense, in guisa Che un punto a petto a lor son terra e mare Veracemente; a cui L’uomo non pur, ma questo Globo ove l’uomo è nulla, Sconosciuto è del tutto; e quando miro Quegli ancor più senz’alcun fin remoti Nodi quasi di stelle, Ch’a noi paion qual nebbia, a cui non l’uomo E non la terra sol, ma tutte in uno, Del numero infinite e della mole, Con l’aureo sole insiem, le nostre stelle O sono ignote, o così paion come Essi alla terra, un punto 8.1 La ginestra 203 <?page no="204"?> 494 „Les sciences ont deux extrémités qui se touchent. La première est la pure ignorance naturelle où se trouvent tous les hommes en naissant. L'autre extrémité est celle où arrivent les grandes âmes, qui, ayant parcouru tout ce que les hommes peuvent savoir, trouvent qu'ils ne savent rien, et se rencontrent en cette même ignorance d'où ils étaient partis; mais c’est une ignorance savante qui se connaît“ (§ 327) [Die Wissenschaften haben zwei Extreme, die sich berühren. Das erste ist die rein natürliche Unwissenheit, mit der alle Menschen geboren werden. Das andere Extrem ist das, was von großen Geistern erlangt wird, die den ganzen Bereich des menschlichen Wissens durchlaufen haben und feststellen, dass sie nichts wissen, und sich in derselben Unwissenheit wiederfinden, mit der sie begonnen haben; aber es ist eine weise Unwissenheit, die sich selbst kennt]. Blaise Pascal: Pensées, Paris: GF Flammarion 2015, S.-162. Di luce nebulosa; al pensier mio Che sembri allora, o prole Dell’uomo? […] (La ginestra, V.167-185) [Und wenn ich dann jene Lichter betrachte, die meinen Augen als Punkt erscheinen und so unendlich groß sind, dass neben ihnen Erde und Meer tatsächlich nur ein Punkt sind, und denen nicht nur der Mensch, auch die Erde, auf der der Mensch ein Nichts ist, völlig unbekannt ist, und wenn ich jene unfassbar weiter entfernten Gestirne sehe, die, wie Knoten verschlungen, auf uns wie ein Nebel wirken und denen der Mensch nicht nur und die Erde, sondern sie alle zusammen in ihrer unermesslichen Zahl und Masse unserer Sterne mitsamt der goldenen Sonne unbekannt sind oder so erscheinen, wie sie uns auf der Erde, als Punkt nebelhaften Lichts; wenn ich das bedenke, wie kommst du mir vor, Menschengeschlecht? ] Der Mensch, dessen Existenz auf der Erde bereits so unerheblich ist, dass er einem Nichts gleichkommt, verliert in den Weiten des Kosmos vollständig seine Bedeutung. Dieser Gedanke wird in der Strophe intellektuell, „al pensier mio | che sembri allora“ (V.183-184) [wenn ich das bedenke, wie kommst du mir vor], und emotional, „o qual pensiero | verso te finalmente il m’assale“ (V.199-200) [welcher Gedanke an dich überfällt schließlich mein Herz] verarbeitet. Die Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit ist keine reine Vernunftoperation. In der Trias aus Wissen, Verstehen (durch Imagination) und Fühlen könne der Mensch erkennen, dass er quasi ein Nichts sei, „si confonde quasi col nulla“ [er ver‐ schmilzt fast mit dem Nichts]. 494 In der fünften Strophe, die wieder ohne Ansprache auskommt, werden die Menschen wiederum mit Ameisen verglichen, die von einem herunterfallenden Apfel zerquetscht werden. Um aber die Verletzlichkeit der Menschheit über Emotionen näher zu bringen, schildert Leopardi in der sechsten Strophe un‐ terschiedliche Perspektiven auf den Vulkanausbruch: die Sicht eines Bauern, der 1800 Jahre nach der Zerstörung Pompejis mit Sorge auf den noch immer 204 8 Der Abbruch einer gleitenden Semantik <?page no="205"?> aktiven Vulkan blickt. Bei jedem Ausbruch flieht er mit seiner Familie und muss die Vernichtung seines Heims und seiner Felder mitansehen; die Sicht eines Wanderers, der auf den rauchenden Gipfel blickt, und schließlich die Perspektive der Natur: E nell’orror della secreta notte Per li vacui teatri, Per li templi deformi e per le rotte Case, ove i parti il pipistrello asconde, Come sinistra face Che per vóti palagi atra s’aggiri, Corre il baglior della funerea lava, Che di lontan per l’ombre Rosseggia e i lochi intorno intorno tinge. Così, dell’uomo ignara e dell’etadi Ch’ei chiama antiche, e del seguir che fanno Dopo gli avi i nepoti, Sta natura ognor verde, anzi procede Per sì lungo cammino Che sembra star. Caggiono i regni intanto, Passan genti e linguaggi: ella nol vede: E l’uom d’eternità s’arroga il vanto. (La ginestra, V.280-296) [Und im Grauen der dunklen verschwiegenen Nacht, durch menschenleere Theater, gespenstisch entstellte Tempel, zerbrochene Häuser, in denen die Fledermaus ihre Jungen versteckt, wie eine Totenfackel, die in verwaisten Palästen unheilvoll umgeht, wandert der Schimmer der Lava, die alles tötet, ein ferner Schein, der die Schatten durchbricht und in weitem Runde die Trümmer rötet. So also, ohne den Menschen zu kennen, die Zeiten, die er Altertum nennt, die Geschlechterfolge der Ahnen und der Erben, bleibt die Natur immer jung. Sie bewegt sich zwar, aber so langsamen Schrittes, als stehe sie still. Reiche gehen zugrunde, Völker und Sprachen verschwinden: Sie nimmt es nicht wahr. Der Mensch aber prahlt, mit der Ewigkeit sei er im Bunde.] Die Hektik, die in der Palinodia im Bild des Kindes zum Ausdruck kam, wird nun durch eine langsame Natur, die ewig Zeit hat, konterkariert. Zeitlich betrachtet kommt in diesem Kontrast nicht nur der Mensch einem Nichts gleich, auch die gesamte Geschichte der Menschheit ist für die Natur bedeutungslos. Die Fledermaus belebt die Landschaft wieder, „i parti il pipistrello asconde“ (V.283), und setzt den Kreislauf der Natur fort. Nach der Darstellung dieser Bildgewalt der Zerstörung und Anteilslosigkeit kehrt die Szenerie in der siebten Strophe 8.1 La ginestra 205 <?page no="206"?> zum Anfang des Gedichtes zurück und das lyrische Ich richtet sich erneut an den duftenden Ginsterbusch: E tu, lenta ginestra, Che di selve odorate Queste campagne dispogliate adorni, Anche tu presto alla crudel possanza Soccomberai del sotterraneo foco, Che ritornando al loco Già noto, stenderà l’avaro lembo Su tue molli foreste. E piegherai Sotto il fascio mortal non renitente Il tuo capo innocente: Ma non piegato insino allora indarno Codardamente supplicando innanzi Al futuro oppressor; ma non eretto Con forsennato orgoglio inver le stelle, Nè sul deserto, dove E la sede e i natali Non per voler ma per fortuna avesti; Ma più saggia, ma tanto Meno inferma dell’uom, quanto le frali Tue stirpi non credesti O dal fato o da te fatte immortali. (La ginestra, V. 297-317) [Und du, geschmeidiger Ginster, der du mit duftenden Wäldern diese verödeten Hänge schmückst und verschönst, auch du wirst bald der grausamen Allgewalt des unterir‐ dischen, lauernden Feuers erliegen. Zur schon vertrauten Stätte wird es zurückkehren, wird in seinen gierigen Rand über die zarten Büsche schieben, und beugen wirst du dein schuldloses Haupt und Widerstand nicht leisten der tödlichen Last. Aber bis dahin beugst du dich nicht, gehst feige nicht in die Knie vor dem drohenden Unterdrücker. Bis dahin überhebst du dich nicht und greifst nicht verblendet und vermessen nach den Sternen hier in der Öde, wo du wohnst und geboren wurdest nicht aus freiem Willen, sondern durch Zufall. Klüger bist du und minder schwach als der Mensch, denn du glaubst nicht, dass deine Kinder unsterblich werden sollten, weil das Schicksal oder du es selbst so wollten.] 206 8 Der Abbruch einer gleitenden Semantik <?page no="207"?> 495 PUR. I, V.94-105. Dante Alighieri: La Commedia / Die göttliche Komödie, 3 Bd., übers. v. Hartmut Köhler, Stuttgart: Reclam 2012. 496 Lettere, A Pietro Giordani, 17. Dezember 1819, S.-233. 497 Vgl. Kapitel 4.2. Vgl. Dieter Henrich: Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, S.-113, 116. Der biegsame Ginsterbusch greift die Symbolik des Schilfs in Dantes Purgatorio auf, 495 das sich demütig im Wasser biegt und als einzige Pflanze an diesem Ort bestehen kann. Leopardis Ginsterbusch beugt sich nicht demütig im Leben vor der Übermacht, die ihm gegenübersteht, sondern erst im Moment des Sterbens vor der Feuerflut. 8.2 Das Nichts als Relation Der Ginsterbusch ist nicht das einzige ironische Motiv in La ginestra. Leopardi stellt seinem Gedicht den Vers Joh III, 19 voran: „Καὶ ἠγάπησαν οἱ ἄνθρωποι µᾶλλον τὸ σκότος ἢ τὸ φῶς. E gli uomini vollero piuttosto le tenebre che la luce“ [Und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht]. Doch nicht Gott ist hier das Licht, sondern die poetische Vernunft. Die Finsternis kann als der anthropozentrische Glaube gelesen werden, durch den technischen Fortschritt einen Sieg über die Natur zu erringen: „Le magnifiche sorti e progressive“ (V.51) [Großartige und fortschrittliche Geschicke]. In La ginestra ist alles der willkür‐ lichen Zerstörung und Vernichtung preisgegeben und Leopardi spart nicht an Vokabular, um dies zu vermitteln: „Sterminator Vesevo“ (V.3) [Vernichter Vesuv], „in un momento annulla“ (V.45) [in einem Moment zunichtemacht], „annichilare“ (V.48) [vernichten], „nato a perir, nutrito in pene“ (V.100) [geboren, um zu vergehen, von Schmerzen genährt], „distrugge sì che avanza | a gran pena di lor la rimembranza“ (V.109) [gründlich vernichtet, dass kaum noch die Erinnerung an sie bleibt], „schiaccia, diserta e copre“ (V.211) [zerdrückt, verlassen und verschüttet]. Was bleibt ist eine Wüste, ein Bild, das der junge Leopardi primär verwendet, um in Briefen und im Zibaldone metaphorisch seine persönliche Erfahrung des Nichts auszudrücken. So bezieht sich Leopardi in dem in Kapitel 4.1 bereits kommentierten Brief aus dem Jahr 1819 an Pietro Giordani auf „questo formidabile deserto del mondo“ [diese außerordentliche Wüste der Welt]. 496 Die Wüste beschreibt ein Nichts, das auf Mangel bzw. der Abwesenheit von ‚etwas‘ basiert. In dieser Bedeutung des ‚Nichts‘ schwingt eigentlich eine Eigenschaft mit, die von dem Pronomen ‚nichts‘ herrührt, das eine evaluative Tönung annehmen kann. Im Sprachgebrauch führt die Substantivierung des Pronomens ‚nichts‘ zu einer Erhöhung des ‚Nichts‘ zur Realität. 497 Es handelt 8.2 Das Nichts als Relation 207 <?page no="208"?> 498 Vgl. Daniela Bini: A Fragrance from the Desert, S.-102-103. 499 Vgl. Gennaro Mercogliano: Leopardi. Saggio sulla Ginestra, Manduria: Piero Lacaita 1989, S.-108. 500 Vgl. John Alcorn und Dario del Puppo: „Giacomo Leopardi’s „La ginestra“ as Social Art“, in: The Modern Language Review 4 (1994), S.-869. sich also um ein regionales Nichts, das totalisiert werden kann. Der locus terri‐ bilis, der in La ginestra beschrieben wird, soll einen Teil der Natur verbildlichen, der von vielen ungerne akzeptiert wird: „Dice, a goder son fatto“ (V.101) [Er sagt: Ich bin zur Freude geschaffen]. Um diesen anthropozentristischen Glauben zu zerstören, zeigt Leopardi dem Menschen, dass er ein Nichts im Kosmos ist: „L’uomo non pur, ma questo | globo ove l’uomo è nulla, | sconosciuto è del tutto“ (V.172-174) [nicht nur der Mensch, auch die Erde, auf der der Mensch ein Nichts ist, ist völlig unbekannt]. Und selbst unser Sonnensystem ist lediglich „un punto | di luce nebulosa“ (V.182-183) [ein Punkt nebelhaften Nichts]. Zu diesem Nichts, das auf einer räumlichen Relation basiert, fügt Leopardi ein zeitliches Nichts hinzu: Im Verhältnis zur ewig jungen Natur sind selbst lange Erbfolgen ein Nichts. Leopardi polemisiert, dass „la prole dell’uomo“ (V.184-185) [das Menschengeschlecht] sich dennoch im Zentrum des Universums verortet: „[E] poi dall’altra parte | che te signora e fine | credi tu data al Tutto“ (V.188-189) [und dass ihr dennoch als Herren euch, als höchsten Zweck dem All verordnet glaubt]. Die ironische Substantivierung von „Tutto“ erhöht durch das relationale Verhältnis gleichzeitig das „nulla“. Diesem Nichts stellt Leopardi den Ginsterbusch entgegen, neben dem es „null’altro“ gibt. Der Ginsterbusch wird häufig als Sinnbild für Leopardis Lyrik gelesen. 498 Demnach ist der Mensch in einer sinnlosen Welt selbst gezwungen, Sinn zu schaffen, beispielsweise durch die Dichtung. Gerne wird dieses Gedicht als Verkehrung von Leopardis Natur gelesen, die nun endgültig grausam ist. Dabei spaltet Leopardi die Ambivalenz der Natur, die er in der Palinodia im Kind vereinigt hat (siehe Kapitel 5.2.1), in zwei Bilder auf: Der Vulkan repräsentiert die destruktive Seite und der Ginsterbusch die kreative Seite, die trotz der Bedrohung durch das Nichts fortbesteht. In einer vollständig metaphorischen Lektüre des Gedichtes kann der Vulkan auch als die zerstörerische Seite des Menschen gelesen werden, die ihren Ausdruck in Religion und Politik findet. 499 Durch diese Doppeldeutigkeit ist das Gedicht gleichzeitig kritisch gegenüber einem Anthropozentrismus und trotzdem selbst anthropomorphisierend. 500 Normalerweise verbindet Leopardi ein Liebesmotiv mit der Figur ‚etwas‘, neben dem ‚nichts‘ besteht. So etwa in Amore e Morte - „null’altro in alcun tempo | sperar, se non te sola“ [nie werde ich etwas anderes als einzig dich ersehnen] - oder in Il pensiero dominante: 208 8 Der Abbruch einer gleitenden Semantik <?page no="209"?> 501 Neumeister untersucht Leopardis Überlegungen zu Kalifornien, einem „pays de chi‐ mères“ (Zib. 4500), das Leopardi ebenfalls mit seinen Projektionen belegt und ordnet dieses Phänomen der Romantik zu. Vgl. Sebastian Neumeister: „Leopardi in Kalifor‐ nien“, in: Barbara Kuhn / Michael Schwarze (Hrsg.): Leopardis Bilder. Immagini e immaginazione oder Reflexionen von Bild und Bildlichkeit, Tübingen: Narr 2019, S. 96. Das Zitat aus dem Zibaldone stammt aus La Nouvelle Héloise, VIII von Rousseau. 502 Vgl. John Alcorn und Dario del Puppo: „Giacomo Leopardi’s „La ginestra“ as Social Art“, S.-874-875. Come solinga è fatta La mente mia d’allora Che tu quivi prendesti a far dimora! Ratto d’intorno al par del lampo Gli altri pensieri miei Tutti si dileguàr. Siccome torre In solitario campo, Tu stai solo, gigante, in mezzo a lei. Che divenute son, fuor di te solo, Tutte l’opre terrene, Tutta intera la vita al guardo mio! (Il pensiero dominante, V.13-23) [Wie einsam ist meine Seele, seit du von ihr Besitz ergriffen hast, seit du sie beherrschst und bewohnst! Schlagartig schwanden rings, als habe ein Blitz plötzlich alles ver‐ trieben, meine anderen Gedanken. Du bist geblieben. Wie ein Turm in vereinsamtem Land stehst du allein in meiner Seele, Gigant. Dich allein ausgenommen, wozu denn taugen alle die irdischen Mühen, das Leben überhaupt in meinem Leben.] Das ‚Nichts‘ in Il pensiero dominante entsteht überhaupt erst durch die Obses‐ sion. Dieses Phänomen ist auch in La ginestra nicht fern. Der Ginsterbusch wird in der Wüste zum Einzigartigen, Singulären erhöht und ist dadurch bereits prekär, ebenso wie alles, was sich gegen ‚das Nichts‘ stellt. Leopardi nimmt in La ginestra seine anthropologische Gedankenlinie auf und gibt uns einen letzten Entwurf einer Gesellschaftsform. Im Bruto minore und den Texten, die zu seiner Entstehung beitrugen, sehnt Leopardi einen kollektiven Bewusstseinswandel herbei. Eine Ausrichtung auf virtù und gloria soll zu einem glücklicheren und egalitären Leben führen. Hierfür sollen die Bürger durch Enthusiasmus, Inspiration und Imitation an ihren Staat gebunden werden. Derartig romanti‐ sche Ideen 501 liegen Leopardis letztem Entwurf nicht zugrunde. Pragmatisch wird nun ein Zusammenhalt mit reziproker Unterstützung gefordert. 502 Das Grauen soll die Menschen zusammenbringen. Eine solche Haltung kann aber nur einnehmen, wer die illusionslose ‚Wahrheit‘ anerkennt. 503 An dieser Stelle 8.2 Das Nichts als Relation 209 <?page no="210"?> 503 Schon Kleist zeigt in Das Erdbeben in Chili, dass Menschen nach einer Katastrophe nur vorübergehend zusammenfinden. 504 Vgl. Giorgio Petrocchi: Il tramonto della luna. Studi tra Leopardi e oggi. Napoli: Edizione Scientifiche Italiane 1993, S.-46-47. 505 Wanning bezeichnet diesen Zugang zum Werk als Entwicklungshypothese. Vgl. Frank Wanning: „Die Verführung durch das Nichts“, S.-65. 506 Bárberi Squarotti sieht in dem Gedicht eine Parodie auf einen Mond-Gott, der für die Materie steht und die Reisenden in der Dunkelheit allein lässt. Der Mensch ist bis zum Tod einer grausamen und indifferenten Natur ausgesetzt. Vgl. Giorgio Bárberi Squarotti: „La luna in cielo“, in: Sebastian Neumeister (Hrsg.): Leopardi in seiner Zeit. Leopardi nel suo tempo. Tübingen: Stauffenburg 1995, S.-104-106. schließt die Lektüre von Il tramonto della luna an, die zeigt, warum auch diese soziale Lösung hypothetisch bleibt. 8.3 Il tramonto della luna Mit Il tramonto della luna setzt Leopardi die Reihe der poetologischen Text fort, die in Kapitel 6 besprochen wurden. Erneut stehen sich eine ‚reale‘ und eine ‚ideale‘ Welt gegenüber und kontaminieren sich dabei gegenseitig. Diesmal wird der Gegensatz aber nicht mehr als gescheitertes Gespräch präsentiert. Stattdessen präsentiert Leopardi ihn über den Aufbau des Gedichts, das aus einer komplizierten Struktur parallelisierter und chiastischer Strophen besteht. Beim Blick auf die rein inhaltliche Ebene eröffnet sich in diesem späten Gedicht ein rein pessimistischer Blick auf die conditio humana. Leopardi thematisiert in dem Gedicht das rasche Ende der jugendlichen Illusionen, das illusionslose Alter, die Fremde zwischen Mensch und Welt, die Sinnlosigkeit des Lebens und den linearen Weg ins Grab. Der negative Inhalt scheint stilistisch zudem von einem unpersönlichen Ton, 504 durch das Fehlen eines lyrischen Ichs, durch die Unterbrechung des lyrischen Stils und durch einen langsamen, gedämpften Rhythmus, der die Grabthematik untermalt, unterstrichen zu werden. Diese Stilmittel fügen sich ein in eine chronologische Lektüre des Werks mit einem graduellen Abstieg in einen tieferen Pessimismus, 505 der die Dichtung in der Dunkelheit verenden lässt. 506 Es ist also nicht verwunderlich, dass in der Gegenüberstellung von La ginestra und Il tramonto della luna ersteres als der positive Abschluss des Werks und letzteres als Ausdruck von Überdruss gewertet wird. Die Spannung zwischen den scheinbaren Gegensätzlichkeiten der beiden Gedichte durch Entstehungsphasen oder Stimmungsschwankungen zu erklären, wird diesem Problem wohl kaum gerecht. Die beiden Gedichte ver‐ mitteln gemeinsam einen letzten Entwurf von Leopardis poetischer Denkweise, 210 8 Der Abbruch einer gleitenden Semantik <?page no="211"?> 507 Entsprechend das idyllische Vokabular: „notte“, „campagne“, „acque“, „zefiro“, „l’ombre lontane“, „l’onde tranquille“, „rami e siepi e collinette e ville“, „luna“, „ombre“, „valle“, „notte“, „albor della fuggente luce“. indem in La ginestra erneut die Haltung des Subjekts in den Blick genommen wird und in Il tramonto della luna die Erkenntnisfähigkeit und Wahrnehmung des Menschen. Zunächst betrachten wir aber den Aufbau und die Struktur des Gedichtes. Die Szenerie der ersten Strophe des Gedichts evoziert eine idyllisch anmutende Landschaft, 507 auf der das schummrige Licht des Mondes unzählige vage Schat‐ tengebilde produziert. Ein einsamer Fuhrmann singt ein Lied und verabschiedet sich bei dem schließlich untergehenden Mond, der ihm zuvor den Weg wies. Quale in notte solinga, Sovra campagne inargentate ed acque, Là ’ve zefiro aleggia, E mille vaghi aspetti E ingannevoli obbietti Fingon l’ombre lontane Infra l’onde tranquille E rami e siepi e collinette e ville; Giunta al confin del cielo, Dietro Apennino od Alpe, o del Tirreno Nell’infinito seno Scende la luna; e si scolora il mondo; Spariscon l’ombre, ed una Oscurità la valle e il monte imbruna; Orba la notte resta, E cantando, con mesta melodia, L’estremo albor della fuggente luce, Che dianzi gli fu duce, Saluta il carrettier dalla sua via; (Il tramonto della luna, V.1-19) [Wie in einsamer Nacht über silberglänzenden Feldern und Wassern der Westwind säuselnd weht und tausend unbestimmte Bilder und trügerische Gestalten die fernen Schatten entfalten zwischen den schimmernden, stillen Wellen, den Zweigen und Hecken, den Hügeln und Villen und wie am Rande des Himmels hinter dem Apennin oder den Alpen oder am tuskischen Meer im unendlichen Schoß der Mond versinkt und die Welt sich entfärbt und verblasst, die Schatten schwinden und ringsum Finsternis schwillt und Tal und Berg in ein einziges Dunkel hüllt, die Nacht erblindet zurückbleibt und mit einem Liede, einer traurigen Weise, den letzten Schimmer des 8.3 Il tramonto della luna 211 <?page no="212"?> fliehenden Lichts, das ihm eben als Führer noch Rat gegeben, der Fuhrmann zum Abschiede grüßt auf seiner Reise; ] Die zweite Strophe ist argumentativ parallel zu der ersten Strophe aufgebaut, wie bereits die korrelative Verknüpfung in Vers 1 „Quale“ und Vers 20 „tal“ und „tale“ ankündigt. Die Strophen können parallel zueinander gelesen werden, um die Landschaft mit einer neuen Bedeutung zu verknüpfen. Erst dann wird deutlich, dass die Landschaft den Lebenszyklus des Menschen verbildlicht. Tal si dilegua, e tale Lascia l’età mortale La giovinezza. In fuga Van l’ombre e le sembianze Dei dilettosi inganni; e vengon meno Le lontane speranze, Ove s’appoggia la mortal natura. Abbandonata, oscura Resta la vita. In lei porgendo il guardo, Cerca il confuso viatore invano Del cammin lungo che avanzar si sente Meta o ragione; e vede Che a se l’umana sede, Esso a lei veramente è fatto estrano. (Il tramonto della luna, V.20-33) [so entschwindet und so hinterlässt die flüchtige Jugend das sterbliche Leben. Es fliehen die Schatten und Schemen geliebter Träume, und von der stillen Hoffnung gilt es, Abschied zu nehmen, die im Leben der Sterbliche braucht, um Mut zu fassen. Dunkel und verlassen verbleibt das Leben. Den Blick in es richtend sucht vergeblich der verwirrte Wandrer des weiten, ihm bestimmten Weges Ziel und Zweck und erkennt, dass die Welt, die er für die seine hält, ihm nicht mehr und er ihr nicht mehr zugehört.] Leopardi wendet hier erneut das Verfahren einer Parallelisierung aus Il passero solitario an, verlegt aber den Topos des Tagesablaufs, als Analogie zum Lebens‐ verlauf, in die Nacht. Während in der Analogie zwischen Leben und Tagesablauf der Sonnenuntergang den Tod bedeutet, leitet der Monduntergang in Il tramonto della luna das Ende der Jugend ein. Der Monduntergang kann dadurch als metaphorisches Absterben der Illusionen und Hoffnungen im Erwachsenalter gelesen werden oder drastischer als erster Tod im Leben. Weiter verkompliziert wird die Parallelisierung durch einen Zeitsprung: Während die erste Strophe den Augenblick vor dem Untergang festhält, ist der Mond in den letzten Versen der 212 8 Der Abbruch einer gleitenden Semantik <?page no="213"?> zweiten Strophe bereits untergegangen. Nicht der Strophenwechsel markiert also den Zeitsprung, sondern der Punkt am Ende des 26. Verses. Der Fuhrmann wird in der zweiten Strophe durch den verwirrten Wanderer ersetzt, der hier bereits ohne Aussicht auf Erfolg den Weg in der Dunkelheit sucht. Die dritte Strophe zieht die kühle Bilanz der conditio humana und dient der Beschreibung einer aversiven Welt, in der Menschen die höchste Strafe erleiden. Sie kann als die rationale Synthese des Gedichts gelesen werden; dabei bricht sie aber mit der argumentativen Reihenfolge des Textes. Troppo felice e lieta Nostra misera sorte Parve lassù, se il giovanile stato, Dove ogni ben di mille pene è frutto, Durasse tutto della vita il corso. Troppo mite decreto Quel che sentenzia ogni animale a morte, S’anco mezza la via Lor non si desse in pria Della terribil morte assai più dura. D’intelletti immortali Degno trovato, estremo Di tutti i mali, ritrovàr gli eterni La vecchiezza, ove fosse Incolume il desio, la speme estinta, Secche le fonti del piacer, le pene Maggiori sempre, e non più dato il bene. (Il tramonto della luna, V.34-50) [Allzu glücklich und heiter schiene unser Los denen dort droben, wenn die Jahre der Jugend, wo jede Freude mit tausend Leiden erkauft wird, dauern sollte bis an des Lebens Ende, allzu mild der Beschluss, dass jedes Geschöpf sich dem Tod unterwerfen muss, wenn man der Hälfte des Lebens nicht noch härtere Not zugedacht hätte als den schrecklichen Tod. Ihres unsterblichen Geistes würdig befanden die Götter und entdeckten das äußerste aller Übel, das gebrechliche Alter, wo ungebrochen die Sehnsucht, die Hoffnung erloschen, vertrocknet sein sollte der Quell der Freuden, die Plagen ständig vermehrt und versagt jedes Wohlbehagen.] Dem Menschen wurde das grausamste aller Schicksale vorbestimmt. Statt zu sterben, muss er zunächst das illusionslose Alter durchleben. Seine Existenz unterliegt nicht denselben Regeln, die für die Natur gelten, die sich beständig zyklisch erneuert, wie es die vierte Strophe im Anschluss antithetisch verdeut‐ lichen wird. Das Leben des einzelnen Menschen hingegen ist entgegen allem 8.3 Il tramonto della luna 213 <?page no="214"?> Anschein linear und endet schließlich im Grab. Während in der Natur die Sonne wieder aufgeht, markiert der Sonnenaufgang den Tod des Menschen, da dieser die Sonne nie sehen wird. Voi, collinette e piagge, Caduto lo splendor che all’occidente Inargentava della notte il velo, Orfane ancor gran tempo Non resterete, che dall’altra parte Tosto vedrete il cielo Imbiancar novamente, e sorger l’alba: Alla qual poscia seguitando il sole, E folgorando intorno Con sue fiamme possenti, Di lucidi torrenti Inonderà con voi gli eterei campi. Ma la vita immortal, poi che la bella Giovinezza sparì, non si colora D’altra luce giammai, nè d’altra aurora. Vedova è insino al fine; ed alla notte Che l’altre etadi oscura, Segno poser gli Dei la sepoltura. (Il tramonto della luna, V.51-68) [Ihr, ihr Hügel und Strände, werdet, wenn jener Glanz erlischt, der im Westen den Schleier der Nacht in silbernen Schimmer fasst, nicht lange verwaist sein. Denn bald schon werdet ihr auf der anderen Seite sehen, wie der Himmel erblasst und wie in zarter Röte der Morgen emporsteigt. Und auf dem Fuße folgen wird ihm die Sonne, und blitzend wird sie ringsum mit ihren flammenden Gluten in gleißenden, mächtigen Fluten zugleich mit euch die Weiten des Himmels erhellen. Aber das Menschenleben, wenn erst die schöne Jugend entschwand, wird nie mehr die Farbe sich borgen von einem anderen Licht, einem anderen Morgen. Witwe bleibt es. Und für das Dunkel der Nacht, in das alle Zeiten entweichen, schufen die ewigen Götter das Grab zum Zeichen.] Wer das Gedicht deuten will, muss zunächst einen Akt der inhaltlichen Re‐ konstruktion leisten. Der Leser muss in einer labyrinthischen Lektüre, in der er Strophen parallel lesen muss, den Sinn des Gedichts erarbeiten, wodurch die Bildsprache auf den Kopf gestellt wird. Wenn diese Struktur ohne Bedeu‐ tung bleibt, dann wird auch deutlich, warum Fubini das Gedicht als artifiziell 214 8 Der Abbruch einer gleitenden Semantik <?page no="215"?> 508 Vgl. Giacomo Leopardi: Canti. A cura di Mario Fubini, Torino: Loescher 1971, S.-243. 509 Vgl. Annika Gerigk: „Verwirrung als Programm“, S.-180-184. 510 Durch den intertextuellen Verweis auf den Tagestopos, den Leopardi in Il passero solitario als Analogie verwendet, kann Il tramonto della luna als radikalerer Pessimismus gelesen werden. bezeichnet. 508 Die Bauart des Gedichts erzeugt durch die Sprünge, Parallelisie‐ rungen und die verdrehte Reihenfolge eine Spannung in Bezug zum Inhalt des Gedichts, da sie eben nicht linear ist. Alle Texte, in denen Gegensätze parallelisiert und chiastisch miteinander verwoben werden, sind grundlegend für Leopardis Poetologie (siehe Kapitel 6). Diese Aspekte der Struktur müssen also ebenso genau wie der hyperbolische Charakter des Sonnenaufgangs in der vierten Strophe betrachtet werden. Seine Bildgewalt sperrt sich gegen seine Einordnung als unerreichbarer Ort und dadurch auch gegen eine Lektüre als einfacher Desillusionierungsprozess. Eine Bildgewalt aus Wärme und Licht wird evoziert und gleichzeitig dem Menschen versagt und für nichtig erklärt. Dadurch entsteht ein Flimmern zwischen der Erwartung an den Text und seinem negativen Inhalt. 509 8.4 Der Mond und der Wind Il tramonto della luna beginnt mit einer Mondlandschaft, die das jugendliche Leben verbildlichen soll. Leopardi wählt mit dem Mond kein salientes Bild für den Lebenszyklus, weil der Mondzyklus mit seinen wechselhaften Phasen - im Gegensatz zur Sonne - nicht den Tagesrhythmus des menschlichen Lebens strukturiert. Was zunächst im Kontrast zum Tagestopos 510 wie eine Verdunklung des Themas anmutet, ist aber ein Teil der leopardischen Illusion bzw. Imagination, die durch das vage Licht des Mondes evoziert werden kann: Ed è pur piacevole […] la vista di un cielo diversamente sparso di nuvoletti, dove la luce del sole o della luna produca effetti variati, e indistinti, e non ordinari ec. […] A questo piacere contribuisce la varietà, l’incertezza, il non veder tutto, e il potersi perciò spaziare coll’immaginazione, riguardo a ciò che non si vede. (Zib. 1745-1746) [Die Sicht auf einen Himmel mit einem Flickwerk aus Wolken, durch die hindurch das Licht der Sonne oder des Mondes abwechslungsreiche und unbestimmte und un‐ gewöhnliche Effekte produziert, ist ebenfalls angenehm. Abwechslung, Unsicherheit, nicht alles sehen können und deshalb mit der Imagination umherstreifen zu können, durch das, was nicht sichtbar ist, trägt zur Lust bei.] 8.4 Der Mond und der Wind 215 <?page no="216"?> 511 Vgl. Fernando Bandini: „Il tramonto della luna“, in: Lectura leopardiana. I quarantuno „Canti“ e „I nuovi credenti“, a cura di Armando Maglione, Venezia: Marsilio 2003, S.-609-610. 512 Mengaldo hingegen betrachtet Leopardis Werk als unmetaphorisch: Mengaldo, Pier Vincenzo: „Leopardi non è un poeta metaforico“, in: Strumenti critici 20.1 (2005), S. 1-25. Siehe hierzu auch: Barbara Kuhn/ Michael Schwarze: „Von Erde, Mond und anderen Bildern: Einleitende Überlegungen zur Frage von Bild, Bildlichkeit und Einbildungskraft im Werk Giacomo Leopardis“, in: dies.: Leopardis Bilder. Immagini e immaginazione oder Reflexionen von Bild und Bildlichkeit, Tübingen: Narr 2019, S.-7-19. 513 Antonella Del Gatto: „Meta-Metafore: la Luna“, in: dies.: Quel punto acerbo. Temporalità e conoscenza metaforica in Leopardi. Firenze: Olschki 2012, S.-71. Die Schatten nehmen in diesen Lichtverhältnissen die Formen von unbe‐ stimmten Gebilden an und verändern den Eindruck der Landschaft: „E mille vaghi aspetti | e ingannevoli obbietti | fingon l’ombre lontane“ (V.4-6). Der vage Charakter der Strophe wird unterstrichen durch weitere unbestimmte Beschreibungen der Landschaft: Wo verschwindet der Mond? „Dietro Apennino od Alpe, o del Tirreno? “ (V.10). Es bricht eine Form der Dunkelheit - „una oscurità“ (V.13) - und nicht die Dunkelheit herein. Formen verschwinden und die Landschaft verändert sich: „si scolora il mondo“ (V.12), „spariscon l’ombre“ (V.13). Ebenso vage sind die örtliche Deixis, durch die antike Präposition „infra“ (V.7), die Leopardi vermutlich im Sinne von „nel“ und nicht „tra“ oder „fra“ verwendet, 511 und der zeitliche Verweis „L’estremo albor della fuggente luce“ (V.17). Es wurde bereits festgestellt, dass der Mond in Leopardis Gedichten auf andere Formen des Seins verweist. Aufgrund seiner allgegenwärtigen Präsenz erklärt ihn Antonella del Gatto zur Meta-Metapher des gesamten Werks 512 : Nel panorama poetico leopardiano, la luna gode di un particolare statuto metaforico: metaforizza l’immagine poetica in quanto tale, che è come dire che metaforizza la metafora stessa o, meglio, il potenziale metaforico insito in ogni immagine lirica. Essa è metafora del percorso poetico dell’io, riunendo in sé l’essere presente […e] traduce metaforicamente la parabola di morte che investe l’opera leopardiana […]. 513 Der Mond nimmt in Leopardis Gedichten aber mehrere Funktionen ein, die über die gleitende Semantik sichtbar werden und die durchaus ambivalent sind. Im Bruto minore verkörpert der Mond die Reinheit und Ewigkeit, die der Menschheit verwehrt bleibt: „E tu dal mar cui nostro sangue irriga, | candida luna, sorgi, | e l’inquieta notte e la funesta | all’ausonio valor campagna esplori“ (V.76-79) [Und du, aus dem Meer, das unser Blut bespült, steigst du empor, reiner Mond, und die ruhlose Nacht, des ausonischen Mutes Grabstatt erforschst du]. Er stellt dadurch die Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 216 8 Der Abbruch einer gleitenden Semantik <?page no="217"?> 514 Zur Synästhesie und zur Hierarchie der Sinne siehe: Heydenreich, Titus: „Cieco tuono“, „stridenti stelle“: Sinne und Sinnesverknüpfungen im Werk Leopardis“, in: Sebastian Neumeister (Hrsg.): Die ästhetische Wahrnehmung der Welt: Giacomo Leopardi, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2009, S.-87-99. dar (6. Strophe) und evoziert ein Gefühl der Dauer. Als Beobachter der Ereignisse könnte er Einblicke in die Natur gewähren. Der Mond aber teilt sein Wissen nicht, „tu sí placida sei? “ (V.83) [und du bleibst so still? ]. Die Synästhesie, „e tu su l’alpe l’immutato raggio | tacita verserai“ (V.86-87) 514 [Und über die Berge wirst du schweigend dein unverändertes Licht ergießen], bringt zum Ausdruck, dass der Mond nur visuell ein vertrauter Gefährte und sonst ein Außenstehender ist. Im Canto notturno di un pastore errante beantwortet der Mond keine Fragen zur Existenz, obwohl ihm sogar die Kenntnis über die Zusammenhänge der Welt zugeschrieben werden: „Ma tu per certo, | Giovinetta immortal, conosci il tutto“ (V.98-99) [Du aber besitzt Kenntnis von allem, ewig junger Mond]. Dadurch nimmt er hier noch fremdere Züge an als im Bruto minore. Dem Liebenden bietet er in Alla sua donna lediglich den Anschein von Erfüllung und Halt: „Se dell’eterne idee | L’una sei tu“ (V.45-46) [Wenn aber von den ewigen Ideen du eine bist]. Der Mond ist in Leopardis Gedichten die ewige Gegenspielerin - la luna - des Windes, der den Wandel herbeiführt. Dem Wind übergibt Brutus seinen Namen und gibt ihn dadurch dem Wandel oder der Vergessenheit preis: „E l’aura il nome e la memoria accoglia“ (V.120) [Und der Wind nimmt meinen Namen und mein Gedenken]. Im Canto notturno ist der Hirte dem Wind und anderen Wetterlagen schutzlos ausgesetzt (V.26-27). In L’infinito leitet der Wind die Bewegung zurück ins Diesseits ein, durch die das lyrische Ich die Ewigkeit erfährt: „E come il vento | odo stormir tra queste piante, io quello | infinito silenzio a questa voce | vo comparando: e mi sovvien l’eterno, | e le morte stagioni, e la presente | e viva, e il suon di lei“ (V.8-13). Der Mond ist nicht Teil der Szenerie; der Anschein der Unendlichkeit wird hier über die Hecke und die Versperrung des Horizontes evoziert. In La sera del dì di festa (1820) wiederum tritt ohne den Wind Stillstand ein: Dolce e chiara è la notte e senza vento, E queta sovra i tetti e in mezzo agli orti Posa la luna, e di lontan rivela Serena ogni montagna. O donna mia, Già tace ogni sentiero, e pei balconi Rara traluce la notturna lampa: Tu dormi, che t’accolse agevol sonno Nelle tue chete stanze; e non ti morde 8.4 Der Mond und der Wind 217 <?page no="218"?> 515 Herold stellt fest, dass der „estremo albor“, den er als Ferne liest, einen Eindruck der Unendlichkeit auslösen müsste. Dieser verschwindet aber mit dem Untergang des Mondes. Insofern liest er das Gedicht als Abschied von der Idyllen-Dichtung. Vgl. Milan Herold: Der lyrische Augenblick als Paradigma des modernen Bewusstseins, S.-302-303. Cura nessuna; e già non sai nè pensi Quanta piaga m’apristi in mezzo al petto. (La sera del dì di festa, V.1-10) [Lieblich und klar ist die Nacht, kein Windhauch regt sich, und friedlich über den Dächern inmitten der Gärten ruht der Mond, und in deutlichem Umriss enthüllt er jeden Berg in der Ferne. Meine Geliebte, nun schweigen alle Straßen, und von den Balkonen schimmert spärlich nur das nächtliche Licht: Du schläfst, weil nächtlicher Schlummer dich umfing in deinen stillen Räumen. An deinem Herzen nagt kein Kummer. Du weißt ja nicht und bedenkst nicht, welche Wunde du öffnetest in meiner Brust.] In der ersten Szene des Gedichts wird eine klare, stille Nacht geschildert, die Geliebte des lyrischen Ichs schläft und die Lichter der Stadt sind fast vollständig erloschen. Statt einer vagen Szenerie ist die Landschaft deutlich zu erkennen - „e di lontan rivela serena ogni montagna“ (V.3-4). In der zunächst idyllisch anmutenden Szene erleidet das lyrische Ich Kummer, während die Welt stillzustehen scheint. Il tramonto della luna beginnt zwar mit einer ruhigen Szene, nimmt aber schnell Beschleunigung an, die von Zephir, dem Westwind, in der ersten Strophe bereits angekündigt wird. Die ganze Strophe scheint den Übergang vom Undefinierten in das Nichts zu verbildlichen. Der Mond geht unter, die Welt entfärbt sich, Schattengebilde verschwinden, Täler und Berge werden von der Dunkelheit verhüllt. Im Vers 17 findet sich ein Versuch, den Bruchteil des Mo‐ ments, „l’estremo albor della fuggente luce“ [der letzte Schimmer des fliehenden Lichts], zwischen einem Rest von Definition und der kompletten Auflösung festzuhalten. 515 Die Nacht mit ihrer Dunkelheit, ohne Differenzen, Formen und Farben, in der nicht einmal Schatten bestehen, verbildlicht die Gedankenfigur des Nichts. Hier nimmt das Gedicht plötzlich Tempo auf. Während die erste Strophe den Moment des Untergangs festhält, ist der Mond in der zweiten Strophe, obwohl sie strukturell parallel angelegt ist, bereits untergegangen. Der Wanderer läuft jetzt ziellos durch die Dunkelheit. Die Fremde, die in den anderen Gedichten die Ambivalenz des Mondes ausmacht, wird in diesem Gedicht durch seinen Untergang verbildlicht. Während in der Jugend noch die Illusion von Sinn und Zweck des Lebens besteht, schwindet diese später. Hier zeigt sich ein ähnliches Phänomen wie in La ginestra, wo die Ambivalenz der Natur aufgeteilt wird, statt sie in einem Bild zu vereinigen. Durch das Fehlen der Brücke wird 218 8 Der Abbruch einer gleitenden Semantik <?page no="219"?> 516 Vgl. Albert Gier: „Die Gegenwart als Vor-Vergangenheit. Il passero solitario von Gia‐ como Leopardi“, in: Hans Ludwig Scheel / Manfred Lentzen (Hrsg.): Giacomo Leopardi. Rezeption - Interpretation - Perspektiven, Tübingen 1992, S.-63-84. 517 Oder gar als Abwesenheit des Dichters. Vgl. Fernando Bandini: „Il tramonto della luna“, S.-612. nun die beidseitige Entfremdung durch ein Zeugma ausgedrückt: „E vede | che a se l’umana sede, | esso a lei veramente è fatto estrano“ (V.31-33) [und erkennt, dass die Welt, die er für die seine hält, ihm nicht mehr und er ihr nicht mehr zugehört]. In anderen Texten wurde diese Entfremdung in der Reflexion zum Ausdruck gebracht (siehe Kapitel 6.4). Die Bedeutung des Mondes kann in Il tramonto della luna aber erst durch die Klärung der Personalität im Gedicht erfasst werden. 8.5 Die vage Personalität im Gedicht Doch wessen Personalität kommt in diesem Gedicht ohne lyrisches Ich oder Rollen-Ich zum Ausdruck? Obwohl Leopardi in einem Großteil seiner Gedichte die Verwendung des Ichs vermeidet, wird gerade den Gedichten der Spätphase ein unpersönlicher Ton zugesprochen, der ebenfalls als radikaler Ausdruck eines kosmologischen Pessimismus diskutiert wird. Dieser Eindruck mag auch durch den Vergleich zu dem Gedicht Il passero solitario liegen, das strukturelle und thematische Ähnlichkeiten zu Il tramonto della luna aufweist, durch die Analogie zum Vogel aber im gesamten Gedicht eine Figur als Anhaltspunkt bietet. Das Gedicht ist zwar ebenfalls komplex, weil die Gegenwart als Vor-Ver‐ gangenheit fungiert, 516 in der szenischen Momentaufnahme kann sich der Leser aber verorten. Durch die Hektik und die versteckte Personalität, wird die Orientierung in Il tramonto della luna erschwert. Das Gedicht beginnt mit einer Mondlandschaft, in der uns zunächst ein Wagenführer, „carrettier“ (V.19), begegnet, der in der zweiten Strophe bereits durch einen Wanderer, „viatore“ (V.29), ersetzt wird. Die vierte Strophe besitzt zusätzlich dazu, dass keine dieser Figuren erneut auftaucht, eine untypische Bildsprache. Abgesehen von dem vagen „Là ’ve“ (V.3) fehlen sogar die deiktischen Verweise, die in Leopardis Gedichten (besonders in L’infinito: „questo“, „di là da quella“ etc.) zu finden sind und als Personalität gedeutet werden können, weil sie den Blick durch das Gedicht anleiten. Der Verzicht auf deiktische Verweise kann als Abwesenheit des lyrischen Ichs interpretiert werden, das den Leser nicht mehr durch die Landschaft führt. 517 Stattdessen erfolgt der Blick auf die Landschaft scheinbar von außen aus einer unbekannten Perspektive. Der Zeuge dieses Spektakels 8.5 Die vage Personalität im Gedicht 219 <?page no="220"?> 518 Antonio Prete: Il pensiero poetante, S.-38. 519 Vgl. Margherita Pieracci Harwell: I due poli del mondo leopardiano, Firenze: Franco Cesati 1986, S.-125-126. 520 Es gibt viele Versuche, einen parallelen Wandel zwischen der Beschreibung des Mondes und Leopardis Blick auf die Welt herzustellen. Greco erstellt hierzu eine Auflistung und sieht darin einen Wandel von einem beobachtenden, rationalen Blick zu einer poetischen Wahrnehmung des Mondes. Der Mond ist dann in der Endphase kein realistisches Element mehr und stattdessen ein allegorisches. Bruto minore: „Candida luna“ (V.77); Inno ai patriarchi: „l’aurea luna (V.34); Ultimo canto di Saffo: „cadente luna“ wählt eine Mischung aus detaillierten Aufzählungen, „rami e siepi e collinette e ville“ (V.8) oder „confin del cielo“ (V.9), und unbestimmten Beschreibungen, wie „vaghi aspetti“ (V.4), „ingannevoli obbietti“ (V.5), „l’ombre lontane“ (V.6), „dietro Apennino od Alpe, o del Tirreno“ (V.10), „nell’infinito seno“ (V.11), zwischen denen die Details verschwimmen. Durch die Unbestimmtheit kann die Beobachtung aus jeder Perspektive erfolgen oder aus der Erinnerung aufgerufen werden und wird, entgegen der thematisierten Linearität, zum wiederholbaren Akt. Durch das Durchbrechen der Linearität gelingt es, „di interrompere catene di sensazioni dolorose, di fare della ripetizione un gioco, insomma di ricondurre il soggetto entro un ordine simbolico.“ 518 Die Enjambements wiederum lassen die erste und die vierte Strophe zu Musik heranschwellen und regen dadurch Emotionen an, wie sie bei der Beobachtung von Naturschauspielen empfunden werden. Diese können einer beobachtenden Instanz zugeordnet werden. Die entstehende Harmonie suggeriert für einen Moment Ordnung und Kausalität im Chaos. 519 Bis hierhin wurde aber bereits deutlich, dass Leopardi unterschiedliche sprachliche und stilistische Techniken verwendet, um Personalität auszudrü‐ cken. In Alla sua donna wird das Zusammenspiel der ‚realen‘ und der ‚idealen‘ Welt durch den Wechsel zwischen persönlichen und unpersönlichen Strophen begleitet, ohne dabei eine scharfe Trennlinie zu ziehen. Der hoffnungsvolle Ausdruck am Ende der einzelnen Strophen verleiht den Strophen Personalität, deren Aussicht auf Erfüllung dann von einer Instanz, die den Illusionscharakter durchschaut, getilgt wird. So gelingt Leopardi ein Selbstgespräch, welches ohne ein lyrisches Du auskommt. Auf sprachlicher Ebene zeigen sich Spuren einer Personifikation in der Mondlandschaft. Durch Zephir, den Westwind, der den Frühling ankündigt, thematisiert die erste Strophe bereits das Thema der Jugend. Der Wind ist in Leopardis Gedichten zumeist an die Personalität gebunden, weil er den Wandel und das Vergehen der Zeit symbolisiert. Und auch der Mond verweist auf die illusionsreiche Jugend. Der Canto notturno ist das letzte Gedicht, in dem der Mond - „silenziosa luna“ (V.2), „vergine luna“ (V.37) „intatta luna“ (V.57) „candida luna“ (V.138) - mit einem Adjektiv beschrieben wird. 520 220 8 Der Abbruch einer gleitenden Semantik <?page no="221"?> (V.2); Alla luna: „graziosa luna“ (V.1), „diletta luna“ (V.10); La vita solitaria: „cara luna“ (V.75); Al conte Carlo Pepoli: „tacita luna“ (V.132); Canto notturno: „silenziosa luna“ (V.2) „vergine luna“ (V.37) „intatta luna“ (V.57) „candida luna“ (V.138); Il sabato del villaggio: „recente luna“ (V.19); XXXIX Spento il diurno raggio: „rugiadosa luna“ (V.18). Vgl. Pietri Greco: L’astro narrante. La luna nella scienza e nella letteratura italiana, Milano: Springer 2009, S.-239. 521 Vgl. Fernando Bandini: „Il tramonto della luna“, S.-616. 522 Vgl. Annika Gerigk: „Verwirrung als Programm“, S.-194-195. Dadurch, dass er in Il tramonto della luna personifiziert ist, benötigt er keine Umschreibung mehr. Ein weiteres Indiz für die Personifikation der Landschaft findet sich im zwölften Vers: „Scende la luna; e si scolora il mondo“. Das Verb „scolorare“ wird von Leopardi sonst vornehmlich für die Liebe und den Tod verwendet. 521 Die Ausnahme für diese Verwendung stellt der Bruto minore dar, in dem die Landschaft eben noch nicht von den Leiden berührt wird. Dolcemente appressando al volto afflitto E scolorato dal mortale affanno, (Consalvo, V.70-71, Hervorh. von mir) [Sanft sich dem Antlitz nähernd, das betrübt und entfärbt war vom Todeskampf] Quando soleva ogni lontano accento Del labbro tuo, ch’a me giungesse, il volto Scolorarmi? […] (Le ricordanze, V.146-148, Hervorh. von mir) [Wie einst, als jeder ferne Laut deiner Lippen, wenn er mich nur erreichte, mein Antlitz erbleichen ließ? ] Che sia questo morir, questo supremo Scolorar del sembiante (Canto notturno di un pastore errante dell’Asia, V.65-66, Hervorh. von mir) [Wozu taugt dieses Sterben, dieses letzte Erblassen des Antlitzes.] […] e non le tinte glebe, Non gli ululati spechi Turbò nostra sciagura, Nè scolorò le stelle umana cura. (Bruto minore, V.102-105, Hervorh. von mir) [Weder den blutigen Boden noch die Höhlen, in denen unsere Schreie widerhallen, störten unsere Plagen, noch hat menschliche Sorge die Sterne entfärbt.] Auch wenn die Personalität in dem Gedicht vage bleibt, handelt es sich in Il tramonto della luna um eine personifizierte Landschaft, in der eine lyrische Instanz zumindest anklingt, 522 die diese betrachtet oder aber erinnert. Dadurch 8.5 Die vage Personalität im Gedicht 221 <?page no="222"?> 523 Vgl. Sylwia Chomentowska: „Das Nichts (re)präsentieren. Negation und Episteme in der Kunst um 1800“, S.-185. 524 Vgl. Rainer Stillers: „Der ‚canto‘ in den Canti. Beobachtungen zu einem poetologischen Motiv“, S.-59. 525 Ebd., S.-145. Vgl. Kapitel 6.3. wird auch in diesem Gedicht eine Hoffnung evoziert, die im Wechsel mit der Negation flimmert. 8.6 Verwirrungen Die Nacht ohne Mond, in ihrer Dunkelheit, ohne Differenzen, Formen und Farben, in der nicht einmal Schatten bestehen, wird in Il tramonto della luna zur Gedankenfigur des Nichts. Die Mondthematik bildet innerhalb der Canti also das komplette Spektrum vom Sein zum Nichts ab. In Il tramonto della luna wird dieser Prozess durch seinen Untergang sowie durch den Aufgang der Sonne konterkariert, die dem Menschen zwar im Gedicht versagt werden, aber dennoch vom Leser wiederholt erfahren werden können. Dadurch, dass Leopardi mit der Frage spielt, was wir überhaupt erkennen, erfahren und akzeptieren können, reiht sich Il tramonto della luna in die Texte ein, die in Kapitel 6 besprochen wurden. In dem Gedicht wird zwar inhaltlich Eindeutigkeit suggeriert, diese wird aber nicht nur bildlich angefochten, sondern auch formal durch Verwirrungen. Durch die Loslösung von der argumentativen Rekonstruk‐ tion, die sich der Rezipierende erarbeiten musste, können Zweifel erkannt werden, die evoziert, aber nicht direkt thematisiert werden. Hier wird erneut der Widerspruch zwischen der Fähigkeit von Sprache zu negieren und dem affir‐ mierenden Potential von Bildern deutlich. 523 Die imaginative Dimension besitzt eine autonome Rolle im Werk, weil sie trotz einer Verneinung fortbestehen kann. 524 Illusionen werden zwar verneint, aber gleichzeitig evoziert. Die Formgebung durchläuft in den Canti eine ständige Veränderung. Auch wenn Gegenüberstellungen, wie etwa der ‚realen‘ und der ‚idealen‘ Welt, wie‐ derholt auftauchen, wählt Leopardi unterschiedliche Strategien und verändert ihre Bedeutung. Der Sonnenaufgang in der vierten Strophe von Il tramonto della luna kann als die ‚ideale‘ Welt in ihrer Reinform verstanden werden, als „la donna che non si trova“ 525 [die Frau, die nicht anzutreffen ist]. Die Erkenntnis der Illusionshaftigkeit der Jugend, das illusionslose Alter, der fehlende Sinn des Lebens, die Bedingungen der Menschheit und ihr linearer Weg in das Grab, entsprächen dann dem philosophischen Diskurs, der die ‚reale‘ Welt repräsen‐ tiert. Während das lyrische Ich in Alla sua Donna zweifelt, seine Erkenntnisse im 222 8 Der Abbruch einer gleitenden Semantik <?page no="223"?> 526 Vgl. Charles Siewert: „Attention and Sensorimotor Intentionality“, in: David Woodruff Smith / Amie L. Thomasson (Hrsg.): Phenomenology and Philosophy of Mind, Oxford: Oxford University Press 2005, S. 283. Söffner wirft mit Blick auf Merleau-Pontys Bild die Frage auf, wie Literaturverständnis im „Wald der Textbedeutung aus Wörterbäumen“ zustande kommt. Jan Söffner: Partizipation. Metapher, Mimesis, Musik - und die Kunst, Texte bewohnbar zu machen, Paderborn: Fink 2014, S.-93. 527 Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard 1945, S.-24. 528 Der Blick des Literaturkritikers kann verglichen werden mit dem Gehör des Musikkri‐ tikers, der urteilend an die Musik herantritt. Der Laie hingegen hört die Musik und bildet auf Basis seiner Wahrnehmung ein Urteil. „[G]l’intendenti giudicano, e giudicando sentono (cioè col fattizio, ma reale sensorio dell’intelletto e della memoria), secondo i principii e le norme della loro scienza; e i non intendenti sentono e sentendo giudicano secondo le loro assuefazioni relative al proposito“ (Zib. 3218) [Die Wissenden urteilen Konjunktiv, in Fragen und durch das Adverb „forse“ ausgedrückt und der Tonfall durch Nostalgie geprägt ist, suggeriert Il tramonto della luna eine scheinbare Gewissheit über das Ende der Illusionen. Diese entsteht allerdings erst durch die Entschlüsselung des Diskurses, da die Gegenüberstellung von der Struktur des Textes verhüllt wird. Leopardi hat einen Großteil seiner Überlegungen und Dichtungen den Illusionen und der Imagination gewidmet. In Kapitel 4 wurden schon jene Illusionen besprochen, die aus einer Versperrung oder einer bestimmten Perspektive entstehen. Es handelt sich dabei um Illusionen, die einen Effekt des in(de)finito hervorrufen können. Die Versperrung soll dabei nicht aufgehoben werden, sondern, gemäß der doppia vista, das Schweifen der Imagination und die Erkundung unzugänglicher Räume ermöglichen. Bei dieser Form der Illusion handelt es sich um eine solche Illusion, die wie Figuren aus psychologischen Textbüchern erst durch einen Perspektivwechsel oder die Hinzunahme oder Entfernung von etwas sichtbar wird. 526 Merleau-Ponty beschreibt in der Phénoménologie de la perception eine andere Form der visuellen Illusion, die nicht auf einer Versperrung basiert: Ein Spaziergänger läuft an einer Küste entlang und sieht vor sich ein Schiff und dahinter einen Wald. Erst beim Näherkommen stellt er fest, dass sich vor dem Wald auch die Masten des Schiffes erheben, die er zuvor als Teil des Waldes wahrgenommen hat, da sie nicht vom Hintergrund differenziert wurden. 527 Jene Illusion, die Merleau-Ponty beschreibt, spielt mit den Vorerwartungen, die beim Anblick eines Gegenstandes oder einer Szenerie entstehen. Derartige Vorerwartungen betreffen auch Gattungen oder wie in diesem Fall Gedichtformen. Die Differen‐ zierung zwischen der Erwartung und dem tatsächlich Dargestellten erfolgt erst durch den zielgerichteten Blick bzw. durch die genaue und wiederholte Lektüre; durch jenen chirurgischen Blick, der Gefahr läuft, die Vagheit aufzulösen, ohne ihre Bedeutung in der Gesamtkonstruktion zu sichern. 528 Durch diesen Effekt 8.6 Verwirrungen 223 <?page no="224"?> und während sie urteilen, hören sie (d. h. mit dem artifiziellen, aber realen Sinnesorgan des Intellekts und des Gedächtnisses) nach den Grundsätzen und Normen ihrer Wis‐ senschaft; während die Unwissenden zuhören und währenddessen hinsichtlich ihrer diesbezüglichen Gewohnheiten urteilen]. 529 Vgl. Annika Gerigk: „Verwirrung als Programm“, S.-192-193. 530 Zib. 4129. 531 Zib. 56. 532 Vgl. Michael Pauen: Pessimismus. Geschichtsphilosophie, Metaphysik und Moderne von Nietzsche bis Spengler, S.-17. verhüllt Leopardi das Zusammenspiel der ‚realen‘ und der ‚idealen‘ Welt und zeigt Zweifel. 529 Abseits der poetologischen Ebene entspricht dieser Widerspruch Leopardis Subjekt-Konzeption. Auf der Grundlage der conditio humana kehrt Leopardi vom Satz des Widerspruchs - non potest idem simul esse et non esse  530 - ab: Der Mensch ist für ihn ein Widerspruch in sich, weil er durch seine Vernunftfähigkeit unglücklich ist, jedoch durch seinen Erhaltungstrieb, „la cura di conservare la propria esistenza“ 531 [der Selbsterhaltungstrieb], trotzdem fortbesteht (siehe Kapitel 3). Indem Leopardi grundlegende Prinzipien der Logik anzweifelt, stellt er die allgemeine Erkenntnisfähigkeit des Menschen in Frage. Leopardi selbst sieht das Prinzip als die Grundlage für alle Diskussionen und Argumentationen und stellt dadurch das gegenseitige Verständnis in einer Kommunikation auf einen wackeligen Boden, wie wir im Text Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie sehen konnten. Die Zweifel, die in Il tramonto della luna dargestellt werden, sind nicht zu vernachlässigen, weil insbesondere die Gewissheit und der Anspruch auf Ver‐ allgemeinerung den Pessimisten zugeschrieben wird. 532 Die einzige Gewissheit, die in dem Gedicht vermittelt wird, ist die, dass das Leben zwar zwangsläufig im Grab endet, wie es die letzten Verse verdeutlichen. Die Linearität der menschlichen Existenz wird aber immer wieder verdeckt. Der Mensch ist nicht in der Lage, den Blick ununterbrochen auf das Nichts zu richten. In La ginestra wird die Frage erörtert, wie eine Akzeptanz des Nichts aussehen mag. Der Mensch muss dieses mutig akzeptieren, soll aber nicht in ständiger Angst vor ihm leben. Der Grenzgang ans Nichts dient lediglich der Orientierung. Während also in La ginestra primär die Handlungsfähigkeit und die Haltung des Subjekts in den Blick genommen wird, verdeutlicht Leopardi in Il tramonto della luna die mangelnde Fähigkeit, das Nichts überhaupt zu akzeptieren. Die Aussicht auf einen Zusammenhalt, der in La ginestra gefordert wird, um die negativen Bedingungen der Existenz zu lindern, erweist sich entsprechend ebenfalls als illusionär. 224 8 Der Abbruch einer gleitenden Semantik <?page no="225"?> 533 Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg: Suhrkamp 2 1976, S.-83. 9 Fazit Das Nichts stellt eine Konstante in Leopardis Werk dar, deren Darstellung bei Weitem nicht auf die bloße Nennung des ‚nulla‘ beschränkt ist. Es erweist sich als polyvalente Denkfigur, die unter anderem auf Mangel, Abwesenheit, Wertlo‐ sigkeit, Zersetzung und Vergehen verweist. Dies ist aber nicht die einzige Funk‐ tion, die das Nichts in Leopardis Gedankenbewegungen einnimmt: Das Nichts entpuppt sich vielerorts als Orientierungspunkt. Eine genaue Betrachtung der unterschiedlichen Nichts-Konzeptionen und eine Analyse der einzelnen Gedankenbewegungen sowie deren Orientierung am Nichts hat gezeigt, dass die in der bisherigen Forschung oftmals kolportierte Phaseneinteilung eines sich beständig radikalisierenden Pessimismus haltlos ist. Stattdessen konnte eine gleitende Semantik identifiziert werden, die im ganzen Werk dynamisch bleibt und keinen permanenten Endpunkt findet. Die gleitende Semantik entsteht durch die Parallelisierung von gegensätzlichen Begrifflichkeiten wie ‚Vernunft und Natur‘, ‚Antike und Moderne‘, ‚Dichtung und Philosophie‘, ‚Materie und Geist‘, ‚Leben und Tod‘, ‚Inneres und Äußeres‘ etc., die wiederholt als Gegen‐ begriffe aufgestellt werden. Durch die repetitive Gegenüberstellung wird mit jedem Begriff nicht nur immer auch das jeweilige Gegenprogamm evoziert, 533 es kommt, durch die wiederholte Verknüpfung dieser Gegensätze, auch zu einem Gleiten von einer Thematik zur nächsten. Im Zentrum der gleitenden Semantik befindet sich die Gegenüberstellung von ‚Natur und Vernunft‘, die den Orientierungsraum des Subjekts absteckt; ‚der antike und der moderne Mensch‘ fügen eine historische Komponente hinzu; ‚das Ideale und das Reale‘ bringt eine normative, aber auch eine poetologische Komponente ein; in der Unterschei‐ dung von ‚Poesie und Philosophie‘ wird die Erfahrungs- und Wissensverarbei‐ tung diskutiert. Die komplexe Struktur, die sich aus den Parallelisierungen der einzelnen Begriffe entwickelt, kann beliebig erweitert werden, weil Leopardi sie mit der Bildebene verknüpft. Innerhalb der gleitenden Semantik findet dadurch eine ständige Bedeutungserweiterung der Signifikanten statt. Dadurch entsteht eine rhizomatische Struktur von Signifikaten, in der sich Begriffe fortentwickeln und in anderen Texten wiederfinden. Dabei können die Gegen‐ sätze aufgebrochen werden. Infolgedessen werden die Begriffe polyvalent: So umfasst beispielsweise je nach dem zugrundeliegenden Natur-Begriff diese den <?page no="226"?> Menschen, stattet ihn mit kreativen Fähigkeiten aus, stellt sich gegen ihn oder schließt ihn aus; die Vernunft kann vernichtend wirken oder eine kreative Form des Denkens ermöglichen. Der Einstieg in diese Struktur kann in jedem Text über unterschiedliche Signifikanten erfolgen, die dann den Assoziationsvorgang auslösen und die Mehrdeutigkeit innerhalb der Canti steigert. Dadurch kommt der kaleidoskopartige Charakter zustande, der Leopardis Werk ausmacht. Negativität ist bekanntlich ein Leitmotiv in Leopardis Lyrik, aber durch einen genaueren Blick auf sein ‚Nichts‘ offenbart dieses sich als Orientierungsmodell im Chaos. Wenn ‚das Nichts‘ und ‚das Sein‘ in Beziehung zueinander gedacht werden, können sie als allbezügliche Totalitäten verstanden werden. Wiederholt richtet Leopardi seine gleitende Semantik nach diesen Totalitäten aus. Dabei können die Gehalte beständig neu befragt werden, ob sie nun dem ‚Nichts‘ oder dem ‚Sein‘ zuzuordnen sind. Das repetitive Fragen nach ‚dem Nichts‘ sorgt dafür, dass alle Gehalte der gleitenden Semantik beständig neu befragt werden: Was ist ‚das Nichts‘, wo begegnen wir ihm, wie viel Einlass gewähren wir ihm und wie verhindern wir ein Leben in der Nichtigkeit? Leopardi kann sich nicht mehr am ‚Sein‘ orientieren, weil es dauerhaft bedroht ist. Das ‚Nichts‘ ist zur Konstante geworden und wird deshalb zum neuen Orientierungspunkt. Ein Anspruch auf Einheitlichkeit oder eine klare Richtung, in die Leopardis Denken sich bewegt, kann nicht erhoben werden. Innerhalb der gleitenden Semantik können sich spontan Veränderungen in einem Gedankenprogramm auf das nächste auswirken. Die gleitende Semantik konnte an der Rezeption des Gedichts L’infinito (Kapitel 4.5) demonstriert werden, die verdeutlicht, dass jene während der Lektüre und Relektüre von Leopardis Texten erlernt wird. Im Gedicht erlaubt die räumliche Gegenüberstellung eines Bereichs vor der Hecke und eines Bereichs hinter der Hecke eine Interpretation durch die Anwendung der gleitenden Semantik. Der Raum hinter der Hecke besitzt lediglich aufgrund einer optischen Täuschung - die Illusion der Unendlichkeit wird durch die Versperrung des Horizonts produziert - seine Eigenschaften und kann nur durch die Imagination erkundet werden. Der Erkundungsgang endet diesseits der Hecke und ist dadurch exemplarisch für Leopardis Gedankengänge. Die räumliche Gestaltung kann aufgrund der Deixis in zeitliche Überlegung überführt werden, wodurch der Gegensatz zwischen der Erfahrung der Gegenwart und der Erinnerung aufgerufen wird. Auch die Gegenüberstellung der Moderne und Antike ist an dieser Stelle möglich. Ebenfalls kann das Gedicht als Verbildlichung von Leopardis teoria del piacere gelesen werden, wodurch der Bereich hinter den He‐ cken das Begehren nach einer grenzenlosen Lust symbolisiert und der Bereich diesseits der Hecke die Unlust. Dann wiederum kann L’infinito poetologisch 226 9 Fazit <?page no="227"?> gelesen werden, weil es das in(de)finito in ein Bild überführt. Auch wenn den einzelnen Gegensätzen unterschiedliche Dynamiken zugrunde liegen, können sie aufgrund der gleitenden Semantik in der Bildsprache des Gedichts erkannt werden und sorgen hier im Zusammenspiel für die Mehrdeutigkeit des kleinen Gedichts. Geleitet wird der Erkundungsprozess des Ichs durch die sinnlichen Erfahrungen und die Reflexion. In Kapitel 5 wurde erörtert, welche Haltung das Subjekt in und zu seiner Epoche einnehmen kann. Auch hier verschafft die Frage nach dem ‚Nichts‘ Orientierung, um keinen blinden Glauben an Religion, Technik, Kapitalismus oder Fortschritt anzunehmen. Im Bruto minore und in seinen anthropologischen Schriften entwickelt Leopardi einen Naturbegriff in Relation zum Mensch-Sein. Leopardi entwickelt unterschiedliche Zivilisationsstadien, in denen der Mensch sich zunehmend von der Natur und der Gesellschaft entfremdet, sich vereinzelt und egoistisch wird. Im Bruto minore inszeniert Leopardi einen Helden auf der Schwelle des Verfalls der Römischen Republik, der an seiner Tugend festhält. Brutus vertritt dadurch Leopardis Heldenkonzeption, die vorsieht, dass ein Held in einem illusionslosen Zeitalter ein verzweifelter Held sein muss. Tugend ist bei Leopardi eine Illusion, aber - in Anlehnung an Montesquieu - auch eine Triebkraft. Dadurch, dass Leopardi die Tugend aber auch als Illusion denkt, verschiebt er diese in den Grenzbereich des Nichts und geht überdies davon aus, dass sich Menschen der Nichtigkeit der Illusion bewusst sind und trotzdem ihr Leben danach ausrichten. Durch diesen kognitiven Akt sind Leopardis Helden verzweifelt, verbildlichen aber auch Leopardis Sehnsucht nach einem gesell‐ schaftlichen Umschwung durch einen kollektiven Bewusstseinswandel. In der Palinodia al Marchese Gino Capponi zeigt Leopardi die moderne Gesellschaft und ihr bedeutungsloses, hektisches Treiben und stellt satirisch ihre Orientierung an Trugbildern dar. Während Leopardis Illusion das Seiende im Nicht-Seienden hochhält, beschreibt er Trugbilder als das Nicht-Seiende im Seienden. Dem kritiklosen Fortschrittsdrang stellt Leopardi eine Natur entgegen, die als Kind verbildlicht wird. Im Bild des Kindes zeigt er das Zusammenspiel der Vernunft und der Phantasie, die anregen, bereichern und erschaffen kann, statt wie die reine Vernunft zu zersetzen und letztlich nur das Nichts bloßzulegen. In der Palinodia ist die Vernunft aber nicht alleinig für den Verfall verantwortlich, sondern genauso ambivalent wie ihre Gegenspielerin, die Natur. Im Zibaldone wird nach diesem Vorbild die gleitende Semantik durch analoges Denken produktiv gemacht, das Leopardi nutzt, um Gemeinsamkeiten zwischen nicht zusammengehörig erscheinenden Themengebieten herzustellen. Diese Art zu denken befindet sich in einem beständigen Widerstreit mit einem Denken, das differenziert und dadurch teilt und umschreibt. In einer Verbindung 9 Fazit 227 <?page no="228"?> 534 Antonio Prete: „Sull’Antropologia poetica di Leopardi“, in: Chiara Gaiardoni (a cura di): La prospettiva antropologica nel pensiero e nella poesia di Giacomo Leopardi, Firenze: Olschki 2010, S.-3-9. der beiden Denkformen, die er in der Renaissance verortet, sieht Leopardi ein Vorbild für eine Wissenschaft, die Erkenntnisse produzieren kann. Betrachtet man die kultur- und geisteswissenschaftliche Bedeutung von Leopardis Überle‐ gungen also nach wissenschaftlichen Standards, kann man ihnen nicht gerecht werden. Wie Prete feststellt, handelt es sich um eine poetische Anthropologie. 534 Die Überlegungen eröffnen einen Blick auf Leopardis Werk, der trotz der Souffrance, des Schmerzes und des Unglücks nicht nur die negativen Impulse ins Auge fasst. Auch wenn die Sehnsuchtsorte selbst nur Illusionen sind, verschaffen sie Orientierung. In Kapitel 6 wurden poetologische Texte betrachtet, in denen das ‚Ideal‘ und die ‚Realität‘ einander gegenübergestellt werden. Hinter dem Begriff ‚real‘ verbergen sich ein phänomenologisches Konzept und eine materialistische Weltauffassung; das heißt der Begriff ist bei Leopardi eng verbunden mit der individuellen Erfahrung von Negativität und dem Paradigma, dass alles Materie ist. Im Zusammenspiel mit dem Begriff ‚ideal‘, der unter anderem die Illusion umfasst, wird die ‚reale‘ Welt beständig hinterfragt. Im Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie, in Alla sua donna und im Canto notturno di un pastore errante dell’Asia werden diese Gegensätze als gescheiterte Gespräche verbild‐ licht. Zunächst wirkt es so, als würde die ‚reale‘ Welt am Ideal kranken, weil sie dieses nicht erreichen kann. Durch die Unmöglichkeit, hinter die Grenzen der Erfahrung zu blicken oder den unintelligiblen Bereich zu imaginieren, sowie durch die Ablehnung der platonischen Idee lässt Leopardi das Ideal in seinen Texten aber ins Ironische abdriften. Ironie kommt insbesondere in Leopardis Theorien zur mangelnden Erkenntnis von Sinn und Existenz zum Tragen, da er dem Menschen die Fähigkeit abspricht, eben diese mit allen Konsequenzen zu akzeptieren. Wiederholt wird durch Parallelisierungen der Versuch einer Vermittlung zwischen dem ‚Ideal‘ und der ‚Realität‘ unternommen, um dann zu scheitern. Das Ideal wird dabei zunehmend verfremdet und verliert seine begehrenswerten Züge. Der Chor der Toten des Dialogo bemerkt zwar seinen Schmerz nicht mehr, besitzt aber auch keine kreativen Fähigkeiten mehr und kann nicht mehr auf seine Erinnerungen zugreifen. Die ideale Frau in Alla sua donna verweist zwar auf ein ideales Sein, aber dieses wurde bereits als Nicht-Seiend durchschaut und so vermittelt es nur noch eingeschränkt Halt. Der Mond im Canto notturno ist zwar ewig, wird aber das Sinnbild dafür, dass die Ewigkeit nicht verfügbar ist und auch nicht verstanden werden kann. Der Mond, der als nächtlicher Begleiter eigentlich eine vertraute Konstante sein 228 9 Fazit <?page no="229"?> sollte, verbildlicht gleichzeitig die Fremdheit. So entsteht ein Flimmern zwischen den gegensätzlichen Eigenschaften. Leopardi konstatiert in den Texten die menschliche Eigenschaft, kontinuierlich nach dem Unerreichbaren streben zu wollen. Eine blinde Orientierung am idealen Sein enttarnt sich zwar als eine Orientierung am Nichts, ein kreativer Umgang birgt jedoch Potentiale. Statt das ideale Sein in vergeistigten oder entfernten Dimensionen in seiner Reinform zu suchen, kann es spontan im Alltag gefunden werden. Hier schließen Leopardis poetologische Überlegungen zum indefinito an. In Kapitel 7 wurden anhand der Thematik der unglücklichen Liebe die Affekte besprochen. Nicht nur Vernunft entblößt das Nichts, letztendlich ist es das emotive Spüren der Nichtigkeit, das sie allgegenwärtig macht und alles kontaminiert. Leopardi beschreibt in jungen Jahren dieses Nichts als Wüste des Lebens. Er greift im Ultimo canto di Saffo mehrere Thematiken auf, in denen er die Frage nach dem Nichts stellt: Entzug und Mangel (Sinne), Trennung (Subjekt - Natur), Schein (Inneres - Äußeres), Zerfall (historisch), Verstummen (Schwinden der Apostrophen und eine stille Natur, „la silente riva“ [das stille Ufer], V.72), Endlichkeit (Saffos Suizid, der aber nicht explizit genannt wird) und Unfähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen. Leopardis Texte zum Subjekt weisen jedoch, durch seinen polyvalenten Natur-Begriff, der den Menschen teils ein- und teils ausschließt, einen hohen Grad an Unschärfe auf. Hieraus entsteht von Seiten der Natur wie auch von Seiten des Subjekts ein Gefühl der Fremde. Das Subjekt nimmt abwechselnd eine passive und eine aktive Haltung an. In A se stesso zeigt sich schließlich, dass ein Affektverlust zum Selbstverlust führt. Dies wird im Vergleich zu der Verzweiflungsszene in Ariosts Orlando furioso deutlich, in der Orlando seinen Verstand verliert und dadurch auch seine Menschlichkeit. A se stesso kann insofern als Inversion des Motivs gelesen werden, da das lyrische Ich hier versucht, sein Herz zu überzeugen, nicht mehr zu schlagen, zu hoffen und zu fühlen. In Kapitel 8 wurden abschließende Überlegungen an den beiden letzten Gedichten, Il tramonto della luna und La ginestra, angestellt. Die beiden Gedichte zeigen die letzten Ausformungen von Leopardis Gedankengängen, können aber nicht als Abschluss betrachtet werden, weil Leopardis Gedankenbewegungen, ihrer Natur nach, ziellos sind. Anstatt allzu viele Gedanken auf die Feststellung der relativen Entstehungszeitpunkte zu verwenden, sollten die beiden Gedichte gemeinsam gelesen werden, obwohl oder gerade weil sie unterschiedliche Denkrichtungen vertreten. La ginestra folgt der anthropologischen Linie (Ka‐ pitel 5), in der das Singuläre gegen eine aversive Realität gestellt wird - eine Realität, die vom Nichts vereinnahmt wird. Entsprechend konstruiert Leopardi in La ginestra ein raffiniertes Spiel unterschiedlicher Nichts-Begriffe. Zunächst 9 Fazit 229 <?page no="230"?> präsentiert Leopardi eine Landschaft, welche die zerstörerischen Eigenschaften einer Natur demonstriert, die alles vernichtet. Hier wird die Sehnsucht nach einem Umdenken der gesellschaftlichen Strukturen erneut deutlich. Statt eines Bewusstseinswandels soll dieser nun aber durch einen Bund der reziproken Unterstützung entstehen. Nicht nur der kollektive Nutzen steht jetzt im Vorder‐ grund, jeder Einzelne kann jetzt auch Forderungen stellen. Dadurch wird die Beziehung des Subjekts, die in der Römischen Republik durch ein Verhältnis aus utilità und virtù geprägt war, in Leopardis letztem gesellschaftlichen Entwurf pragmatisch auf die utilità verkürzt. In Il tramonto della luna stehen sich eine ‚reale‘ und eine ‚ideale‘ Welt gegen‐ über und kontaminieren sich dabei gegenseitig. Dadurch steht das Gedicht eher in einer Reihe mit den Gedichten, die in Kapitel 6 besprochen wurden. In diesen Texten, die grundlegend für Leopardis Poetologie sind, werden Gegensätze parallelisiert und chiastisch miteinander verwoben. In Il tramonto della luna wird die Nacht als Analogie zum Leben präsentiert. Der Leser muss in einer labyrinthischen Lektüre, in der er Strophen parallel lesen muss, den Sinn des Gedichts erarbeiten, wodurch die Bildsprache auf den Kopf gestellt wird. Zwar kann der Prozess dieser Lektüre selbst als Desillusionierungsprozess gedeutet werden - was den Inhalt des Gedichts spiegeln würde -; diesen kann der Leser aber jederzeit wiederholen, weil sich die Bildsprache mit aller Kraft gegen den Inhalt stemmt. Es entsteht ein Flimmern zwischen der Erwartung an den Text und seinem negativen Inhalt, das durch den Gegensatz zwischen der Bildgewalt des Sonnenaufgangs und seiner Unzugänglichkeit radikalisiert wird. 230 9 Fazit <?page no="231"?> 535 Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg: Suhrkamp 2 1976, S.-83. 10 Riassunto Affrontare il Nulla. Tentativi di orientamento nei Canti di Giacomo Leopardi ll nulla è onnipresente nell’opera di Leopardi e la sua rappresentazione non si limita alla semplice menzione di esso. Si rivela essere una figura di pensiero polivalente che si riferisce a diversi concetti come per esempio alla mancanza, all’assenza, all’inutilità, alla decomposizione e al decadimento. Questa non è però l’unica funzione che il nulla assume nel pensiero di Leopardi: in diversi casi, il nulla risulta essere un punto di orientamento. Una più attenta osservazione delle varie concezioni del nulla e un’analisi dei vari pensieri di Leopardi e del loro orientamento verso il nulla ha dimostrato che la suddivisione in fasi di un pessimismo sempre più radicale, diventato un luogo comune negli studi leopardiani, è inconsistente. Invece, è stato possibile identificare una semantica scorrevole che rimane dinamica in tutte le opere e non arriva a un punto finale. La semantica scorrevole prende forma attraverso la giustapposizione di concetti come ‘ragione e natura’, ‘antichità e modernità’, ‘poesia e filosofia’, ‘materia e spirito’, ‘vita e morte’, ‘dentro e fuori’, ecc. Attraverso tale giustapposizione ripetuta, ogni termine non solo evoca sempre il rispettivo controprogetto, 535 ma dal ripetuto collegamento di questi opposti risulta anche il passaggio da un tema all’altro. Al centro della semantica scorrevole vi è la giustapposizione di ‘natura e ragione’, che delimita lo spazio di orientamento del soggetto; ‘uomo antico e moderno’, aggiungono una componente storica; ‘l’ideale e il reale’ apportano una componente normativa, ma anche poetica; infine, nella distinzione tra ‘po‐ esia e filosofia’, si discute l’assimilazione dell’esperienza e della conoscenza. La struttura complessa che si sviluppa dalle giustapposizioni dei singoli termini può essere ancora ampliata, perché Leopardi la collega al livello dell’immagine. All’interno della semantica scorrevole, si verifica così una costante espansione di significato dei significanti e si crea una struttura rizomatica di significanti in cui i concetti si evolvono in ogni testo e si ritrovano in altri testi. In questo processo, gli opposti possono essere scomposti. Di conseguenza, i concetti diventano polivalenti: per esempio, a seconda del concetto sottostante di natura, essa può inglobare l’uomo, dotarlo di capacità creative, opporsi a lui o escluderlo; la ragione può essere distruttiva o rendere possibile una forma di pensiero creativo. L’accesso a questa struttura può avvenire in ogni testo attraverso diversi <?page no="232"?> significanti, che successivamente innescano il processo associativo e aumentano l’ambiguità all’interno dei canti. Da ciò deriva il carattere caleidoscopico della letteratura di Leopardi. La negatività è nota per essere un leitmotiv nella poesia di Leopardi, ma attraverso uno sguardo più attento al suo ‘nulla’, questo si rivela come un modello di orientamento nel caos. Quando ‘il nulla’ e ‘l’essere’ sono pensati in relazione l’uno con l’altro, possono essere compresi come totalità onnicom‐ prensive. Leopardi allinea ripetutamente la sua semantica scorrevole a queste totalità. Così facendo, i contenuti possono essere costantemente rimessi in discussione, in base alla loro appartenenza al concetto del ‘nulla’ o dell’‘essere’. La continua messa in discussione del ‘nulla’ fa sì che tutti i contenuti della semantica scorrevole siano costantemente ripensati: cos’è il ‘nulla’, dove lo incontriamo, quanto lo ammettiamo e come possiamo evitare una vita nella nullità? Leopardi non può più orientarsi verso l’essere perché quest’ultimo è permanentemente in pericolo. Il ‘nulla’, invece, è diventato una costante e quindi si rivela essere il nuovo punto di orientamento. Una pretesa di uniformità o di una direzione chiara del pensiero leopardiano non può essere avanzata. All’interno della semantica scorrevole, infatti, il mutare del pensiero di Leopardi può influenzare tutte le giustapposizioni successive. La semantica scorrevole, che si apprende attraverso una continua rilettura e rielaborazione dei testi di Leopardi, viene illustrata, nel presente lavoro, della poesia L’infinito (capitolo 4.5). Nella lirica, la giustapposizione spaziale della zona davanti e quella dietro la siepe permette di applicare la semantica scorrevole a fini interpretativi. Lo spazio dietro la siepe possiede le sue proprietà solo per un’illusione ottica - l’illusione dell’infinito è prodotta dall’ostacolo che impedisce di vedere l’orizzonte - ed esso può così essere esplorato solo attra‐ verso l’immaginazione. La passeggiata esplorativa termina dal lato delimitato della siepe ed è quindi esemplare per lo sviluppo del pensiero di Leopardi. Il disegno spaziale può essere traslato in una riflessione temporale a causa della deissi, che mette in risalto il contrasto tra l’esperienza del presente e la memoria. Anche la giustapposizione di modernità e antichità è, a questo punto, anche possibile. Allo stesso modo, la poesia può essere letta come una metaforizzazione della teoria del piacere di Leopardi, per cui l’area di là della siepe simboleggia il desiderio di un piacere senza limiti e l’area delimitata della siepe simboleggia il non-piacere. Inoltre, L’infinito può ancora essere letto poetologicamente perché traspone l’in(de)finito in un’immagine. Anche se alla base dei singoli opposti ci sono dinamiche diverse, queste possono essere riconosciute nell’immaginario della poesia grazie alla semantica scorrevole, e qui interagiscono originando 232 10 Riassunto <?page no="233"?> 536 Le parole ‘inganno’ e ‘illusione’ non vengono nettamente separate. Bisogna considerare il contesto. l’ambiguità del breve poema. A guidare il processo di esplorazione dell’io lirico sono le esperienze sensoriali e la riflessione. Nel quinto capitolo viene discusso l’atteggiamento che il soggetto può assumere all’interno e nei confronti della propria epoca. Anche qui, la questione in merito al ‘nulla’ fornisce un orientamento, una sorta di opposizione a una fede cieca nella religione, nella tecnologia, nel capitalismo o nel progresso. Nel Bruto minore e nei suoi scritti antropologici, Leopardi sviluppa un concetto di natura in relazione all’essere umano. Leopardi sviluppa diversi stadi di civiltà in cui l’uomo si aliena progressivamente dalla natura e dalla società, si isola e diventa egoista. Nel Bruto minore, opera concepita come un dramma teatrale, Leopardi mette in scena un eroe al declino della Repubblica Romana che rimane fedele alla propria virtù. Bruto rappresenta così la concezione leopardiana dell’eroe, secondo la quale l’eroe in un’epoca priva di illusioni debba essere un eroe disperato. La virtù, per Leopardi, è un’illusione, ma egli prende spunto dall’antropologia di Montesquieu, secondo la quale la virtù è anche una forza motrice. Tuttavia, se la virtù e la gloria vengono pensate come illusioni, esse rientrano nella categoria del nulla. Leopardi ritiene che gli eroi siano consapevoli di tale nullità e che vivano comunque la propria vita in base ad essa. Attraverso questa presa di coscienza, gli eroi di Leopardi sono disperati, ma simboleggiano anche il suo desiderio di una svolta sociale attraverso un cambiamento della coscienza collettiva. Nella Palinodia al Marchese Gino Capponi, Leopardi ritrae la società moderna e la sua attività frenetica e priva di senso, rappresentando in modo satirico il suo orientamento verso l’inganno 536 . Mentre l’illusione di Leopardi sostiene l’esistente nel non esistente, egli descrive l’inganno come il non esistente nell’esistente. Leopardi si oppone alla smania acritica di progresso opponendole una natura che viene raffigurata come un bambino. Nell’immagine del bambino, egli mostra l’interazione tra ragione e immaginazione, che può stimolare, arricchire e creare, invece di decomporsi come la pura ragione, che rappresenta solamente ‘il nulla’; nella Palinodia la ragione non è l’unica responsabile della decadenza, ma è ambivalente come la sua antagonista, la natura. Nello Zibaldone, seguendo questo modello, la semantica scorrevole viene resa produttiva attraverso il pensiero analogico, che Leopardi utilizza per stabilire un terreno comune tra aree tematiche che non sembrano avere che fare l’una con l’altra. Questo modo di pensare è in costante conflitto con il pensiero che differenzia e quindi divide e circoscrive. In una combinazione delle due forme di 10 Riassunto 233 <?page no="234"?> 537 Antonio Prete: „Sull’Antropologia poetica di Leopardi“, in: Chiara Gaiardoni (a cura di): La prospettiva antropologica nel pensiero e nella poesia di Giacomo Leopardi, Firenze: Olschki 2010, S.-3-9. 538 „Flimmern“, vgl. Dieter Henrich: Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, München: Beck 2016, S.-134. pensiero, che egli colloca nel Rinascimento, Leopardi vede un modello per una scienza che può produrre conoscenza. Così, se si considera il significato culturale e umanistico delle riflessioni di Leopardi secondo gli standard scientifici, non si può rendere loro giustizia. Come nota Prete, si tratta di un’antropologia poetica. 537 Le riflessioni aprono una visione della letteratura di Leopardi che, nonostante la souffrance, il dolore e l’infelicità, non si concentra solo su tale negatività. Anche se i luoghi del desiderio sono essi stessi solo illusioni, essi forniscono un punto di orientamento. Nel sesto capitolo vengono considerati i testi poetologici nei quali l’ideale e il reale vengono giustapposti. Il termine ‘reale’ rappresenta un concetto fenomenologico e una concezione materialista del mondo; ovvero, nell’opera leopardiana il termine è strettamente associato all’esperienza individuale della negatività e al paradigma secondo il quale tutto è materia. Insieme al concetto di ‘ideale’, che include l’illusione, il mondo ‘reale’ è costantemente messo in discussione. Nell Dialogo di Federico Ruysch e delle sue mummie e i poemi Alla sua donna e Canto notturno di un pastore errante dell’Asia queste contraddizioni sono visualizzate come conversazioni fallite. All’inizio sembra che il mondo reale sia, rispetto a quello ideale, malato, in quanto non è altro che un mancato raggiun‐ gimento della dimensione ideale. Ma attraverso l’impossibilità di guardare oltre i limiti dell’esperienza o di immaginare tale mondo intellegibile, e così rifiutando l’idea platonica, Leopardi fa assumere all’ideale una sfumatura ironica. L’ironia entra in gioco soprattutto nelle teorie di Leopardi sulla mancanza di conoscenza del senso e dell’esistenza, poiché egli nega all’uomo la capacità di accettare ciò e tutte le conseguenze che ne derivano. Ripetutamente, il tentativo di mediare tra l’ideale e la realtà si svolge attraverso le giustapposizioni, per poi fallire. L’ideale, così, si aliena progressivamente e perde le sue caratteristiche desiderabili. Il coro dei morti nel Dialogo di Federico Ruysch non si accorge più del proprio dolore, ma non può nemmeno accedere ai propri ricordi e non è più in possesso di capacità creative. La donna in Alla sua donna rimanda a un essere ideale, che tuttavia si rivela un non-essere e quindi trasmette solo un supporto limitato. La luna nel Canto notturno, pur essendo eterna, trasmette l’inconoscibilità dell’eternità e quindi non può essere compresa. Essa, che come compagna notturna dovrebbe essere in realtà una costante familiare, simboleggia allo stesso tempo l’estraneità. Così si genera una sorta di scintilla 538 che mette in relazione gli 234 10 Riassunto <?page no="235"?> 539 Lettere, A Louis de Sinner, 24. Mai 1832, S.-1006. opposti. In questi testi, Leopardi ribadisce la caratteristica propria della natura umana per cui si lotta continuamente al fine di pervenire all’irraggiungibile. Un orientamento cieco verso l’essere ideale non è altro che un orientamento verso il nulla, ma un approccio creativo possiede delle potenzialità. Invece di cercare l’essere ideale nella sua forma pura in dimensioni spirituali o lontane, esso si può ritrovare semplicemente nella vita quotidiana. È qui che entrano in gioco le riflessioni poetologiche di Leopardi sull’indefinito. Nel settimo capitolo è oggetto di discussione la tematica degli affetti, che si inserisce nel più ampio tema dell’amore infelice. Non solo la ragione mette a nudo il nulla, in definitiva è la percezione emotiva del nulla che lo rende onnipresente e che quindi contamina tutto. Leopardi, in giovane età, descrive questo nulla come il “deserto della vita” 539 . Riprende diversi temi nel’Ultimo canto di Saffo in cui solleva la questione del nulla: privazione e mancanza (sensi), separazione (soggetto - natura), apparenza (dentro - fuori), decadenza (storica), silenziamento (dissolvenza degli apostrofi e una natura silenziosa, “la silente riva”, V.72), finitudine (il suicidio di Saffo, che però non è esplicitamente menzionato), e incapacità di diriconoscere collegamenti. I testi di Leopardi sull’argomento presentano un basso livello di chiarezza a causa della sua idea polivalente di natura, che in parte include e in parte esclude l’uomo. Ne deriva un senso di estraneità sia da parte della natura che del soggetto. Il soggetto adotta quindi alternativamente un atteggiamento passivo e uno attivo. Infine, in A se stesso, si dimostra che una perdita di affetto provoca una perdita dell’io stesso. Questo è evidente, se si pone a confronto con la scena scena di disperazione nell’Orlando furioso di Ariosto, in cui Orlando perde il senno e quindi la sua umanità. L’opera A se stesso può essere letta come un’inversione del motivo, in quanto l’io lirico cerca qui di convincere il suo cuore a smettere di battere, sperare e sentire. Nel ottavo capitolo si traggono riflessioni conclusive sulle due poesie finali Il tramonto della luna e La ginestra. Le due poesie mostrano la formazione dell’ultimo pensiero di Leopardi, ma non possono essere considerate una conclusione perché il susseguirsi dei pensieri di Leopardi è, per sua natura, senza meta. Piuttosto che concentrarsi sullo stabilire le relative date di origine, le due poesie dovrebbero essere lette insieme, anche se, o proprio perché, rappresentano diverse linee di pensiero. La ginestra segue la linea antropologica (quinto capitolo) in cui il singolare è contrapposto a una realtà avversa, una realtà ormai proprio nulla. Di conseguenza, Leopardi costruisce nella La ginestra un gioco sofisticato di diverse nozioni di nulla. In primo luogo, Leopardi presenta 10 Riassunto 235 <?page no="236"?> un paesaggio che dimostra le qualità distruttive di una natura che annichilisce tutto. Qui, il desiderio di un ripensamento delle strutture sociali diventa ancora una volta evidente. Invece di un cambiamento della coscienza collettiva, questo deve avvenire attraverso il rafforzamento del sostegno reciproco. Non solo il beneficio collettivo è ora di primaria importanza, ma ogni individuo può ora avanzare delle richieste. Di conseguenza, il rapporto del soggetto, che nella Repubblica Romana era caratterizzato da utilità e virtù, nell’ultimo disegno sociale di Leopardi è pragmaticamente ridotto all’utilità. Nella poesia Il tramonto della luna, un mondo ‘reale’ e un mondo ‘ideale’ sono messi a confronto e si contaminano a vicenda. Questo pone la lirica in linea con le poesie discusse nel sesto capitolo. In questi testi, fondamentali per la poetica leopardiana, gli opposti sono messi in parallelo e si intrecciano in modo chiastico. Nel Tramonto della luna, la notte è presentata come un’analogia della vita. Il lettore deve elaborare il significato della poesia in una lettura labirintica in cui l’argomento delle strofe risulta essere in contraddizione con le immagini trasmesse. Mentre il processo di questa lettura può essere interpretato come un processo di disillusione - che rispecchierebbe il contenuto della poesia - ciò può essere ripetuto dal lettore in qualsiasi momento, perché le immagini trasmesse resistono al contenuto con tutte le loro forze. Anche in questo caso una sorta di scintilla nasce tra l’aspettativa che il lettore ha del testo e il suo argomento negativo, reso radicale dal contrasto tra la potenza visiva dell’alba e, allo stesso tempo, la sua inaccessibilità. 236 10 Riassunto <?page no="237"?> 11 Literaturverzeichnis Leopardi: Leopardi, Giacomo: Canti. A cura di Mario Fubini, Torino: Loescher 1971. —: Canti. Edizione fotografica degli autografi e edizione critica di Emilio Peruzzi, Milano: Rizzoli 4 2009. —: Lettere. A cura di Rolando Damiani, Milano: Mondadori 2 2015. —: Poesie e prose. Vol. I. Poesie. A cura di Mario Andrea Rigoni, Milano: Mondadori 11 2011. —: Poesie e prose. Vol.-II. Prose. A cura di Rolando Damiani, Milano: Mondadori 12 2016. —: Studi filologici. A cura di Pietro Pellegrini e Pietro Giordani, Firenze: Le Monnier, 1845. —: Zibaldone. Ediziona commentata a cura di Rolando Damiani, 3 vol., Milano: Mondadori 4 2015. —: Zibaldone di Pensieri: Manuale di filosofia pratica. Ed. Fabiana Cacciapuoti, prefazione di Antonio Prete, Vol. 2, Roma: Donzelli 1998. Übersetzungen: Giacomo Leopardi: Canti e Frammenti / Gesänge und Fragmente, Stuttgart: Reclam 1990. —: Rede eines Italieners über die romantische Poesie. Discorso di un italiano intorno alla poesia romantica. Übers. und eingeleitet von Franca Janowski, Tübingen: Narr 1991. —: Opuscula moralia oder Vom Lernen, über unsere Leiden zu lachen (Operette morali), Übersetzung von Burkhart Kroeber, Berlin: Aufbau Verlag 2017. —: Zibaldone, edited by Michael Caesar / Franco D'Intino, New York: Farrar, Straus and Giroux 2013. Vor 1800: Alighieri, Dante: La Commedia / Die göttliche Komödie, 3 Bd., übers. v. Hartmut Köhler, Stuttgart: Reclam 2012. Ariosto, Ludovico: Orlando furioso, 2 Bd., a cura di Lanfranco Caretti, Torino: Einaudi 3 2015. —: Sämtliche poetische Werke, Bd.-1-3, übers. v. Alfons Kissner, Berlin, Propyläen Verlag 1922. Aristoteles: Rhetorik, Stuttgart: Reclam 1999. Calderón de la Barca, Pedro: La vida es sueño. Das Leben ist ein Traum. Übersetzt von Hartmut Köhler, Stuttgart: Reclam 2009. Castiglione, Baldassar: Il libro del Cortegiano. A cura di Walter Barberis, Torino: Einaudi 1998. <?page no="238"?> Condillac, Étienne Bonnot de: Oeuvres completes de Condillac. L'Art de penser, Bd. 6, Paris: Ch. Houel 1798. Gorgias von Leontinoi: Reden, Fragmente und Testimonien, hrsg. u. übers. v. Thomas Buchheim, Hamburg: Felix Meiner- 2 2012. Heraklit: „Fragmente“, in: Walther Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd.-1, übersetzt von Hermann Diels, Berlin: Weidmannsche Verlagsbuchhandlung 9 1960. La Mettrie, Julien Offray de: L'Homme Machine / Der Mensch eine Maschine, Stuttgart: Reclam 2015. Lessing, Gotthold Ephraim: Sämmtliche Schriften, Bd. 10, hrsg. v. Karl Lachmann, Berlin: Voss 1839. Machiavelli, Niccolò: Belfagor arcidiavolo, Genova: il melangolo 2007. Montesquieu: Ouvres complètes, Paris: Lefèvre 1839. Moschos: „Idylle IV“, in: The Greek Bucolic Poets. With an english translation by J.M. Edmonds, London: William Heinemann 3 1919, S.-485-486. Ovidius, Naso Publius: Liebesbriefe: lateinisch und deutsch. Heroides epistulae / Publius Ovidius Naso, hrsg. u. übers. v. Bruno W. Häuptli, Düsseldorf, u.a.: Artemis und Winkler 2 2001 [Sammlung Tusculum]. Pascal, Blaise: „Pensées, prés. par Dominique Descotes et Marc Escola, Paris: Flammarion 2015. Parmenides: „Fragmente“, in: Walther Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd.-1, übersetzt von Hermann Diels, Berlin: Weidmannsche Verlagsbuchhandlung 9 1960. Petrarca, Francesco: Canzoniere. Rerum vulgatum fragmenta, Bd. II, a cura di Rosanna Bettarini, Torino: Einaudi 2005. Platon: Der Sophist, hrsg. u. übers. v. Helmut Meinhardt, Stuttgart: Reclam 1990. Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung, Stuttgart: Reclam 2002. Straparola, Giovan Francesco: Le piacevoli notti, a cura di Donato Pirovano, 2. Bd. Roma: Salerno 2000. Vergilius Maro, Publius.: Aeneis. Lateinisch / Deutsch, hrsg. u. übers. v. Edith u. Gerhard Binder, Ditzingen: Reclam 2012. —: Hirtengedichte. Bucolica. Landwirtschaft. Georgica, hrsg. u. übersetzt v. Niklas Holz‐ berg, Berlin: de Gruyter 2016. Vico, Giambattitsta: Opere, a cura di Fausto Nicolini, Milano: Riccardo Ricciardi 1953 [La letteratura italiana. Storia e testi. Vol. 43]. Nach 1800: Abrams, M.H: „Structure and Style in the Greater Romantic Lyric“, in: From Sensibility to Romanticism: Essays Presented to Frederick A. Pottle, edited by Frederick W. Hilies / Ha‐ rold Bloom, New York: Oxford University Press 1965, S.-527-560. 238 11 Literaturverzeichnis <?page no="239"?> Affinati, Eraldo: „Il passero solitario“, in: Lectura leopardiana. I quarantuno „Canti“ e „I nuovi credenti“, a cura di Armando Maglione, Venezia: Marsilio 2003, S.-223-227. Agamben, Giorgio: Il linguaggio e la morte. Un seminario sul luogo della negatività, Torino: Einaudi 3 1982. Alcorn, John / del Puppo, Dario: „Giacomo Leopardi’s „La ginestra“ as Social Art“, in: The Modern Language Review 89.4 (1994), S.-865-888. Asmuth, Christoph: Bilder über Bilder, Bilder ohne Bilder. Darmstadt: WBG 2011. —: „Sein - Nichts - Sein. Überbietung und Kritik“ in: Alessandro Bertinetto / Chris‐ toph Binkelmann (Hrsg.): Nichts, Negation, Nihilismus, Die europäische Moderne als Erkenntnis und Erfahrung des Nichts, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2010, S.-19-30. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Ge‐ schichtspolitik, München: C.H. Beck 3 2018. Assmann, Jan: „Frühe Formen politischer Mythomotorik. Fundierende, kontrapräsenti‐ sche und revolutionäre Mythen“, in: Dietrich Harth / ders. (Hrsg.): Revolution und Mythos, Frankfurt: Fischer 1992, S.-39-61. Bandini, Fernando: „Il tramonto della luna“, in: Lectura leopardiana. I quarantuno „Canti“ e „I nuovi credenti“, a cura di Armando Maglione, Venezia: Marsilio 2003, S.-607-623. Bárberi Squarotti, Giorgio: „La luna in cielo“, in: Sebastian Neumeister (Hrsg.): Leopardi in seiner Zeit. Leopardi nel suo tempo. Tübingen: Stauffenburg 1995, 83-108. —: Le maschere dell’eroe. Dall’Alfieri a Pasolini, Lecce: Milella 1990. Beckett, Samuel: Malone meurt, Paris: Ed. de Minuit 1951. Benne, Christian / Zittel, Claus: „Einleitung“, in: dies. (Hrsg.): Nietzsche und die Lyrik. Ein Kompendium, Stuttgart: Metzler 2017, S.-1-8. Benedetto, Arnaldo di: „Leopardi und die Romantik“, in: Edoardo Costadura / Diana di Maria / Sebastian Neumeister (Hrsg.): Leopardi und die europäische Romantik, Heidelberg: Winter 2015, S.-15-34. Bergson, Henri: Matière et Mémoire, Paris: Paris: Quadrige 93 1982. Biancu, Stefano, „Il corpo e la poesia: Leopardi critico delle modernità“, in: Chiara Gaiardoni (Hrsg.): La prospettiva antropologica nel pensiero e nella poesia di Giacomo Leopardi, Florenz: Leo S. Olschki, 2010, S.-461-475. Biasin, Gian-Paolo: Italian Literary Icons, New Jersey: Princeton University Press 1985. Bigi, Emilio: Una vita più vitale. Stile e pensiero in Leopardi, a cura di Cristina Zampese, Venezia: Marsilio 2011. Bini, Daniela: A Fragrance from the Desert. Poetry and Philosophy in Giacomo Leopardi, Saratoga: Amma Lirbi 1983. —: „Giacomo Leopardi’s Ultrafilosofia“, in: Italica 74 (1997), S.-52-66. Binni, Walter: La protesta di Leopardi. Firenze: Sansoni 1973. Biral, Bruno: La posizione storica di Giacomo Leopardi, Turin: Einaudi 1974. —: La crisi leopardiana del’anno 1821, Venezia: Stamperia di Venezia 1966. 11 Literaturverzeichnis 239 <?page no="240"?> Blasucci, Luigi: „Modalità satiriche della Palinodia“, in: Sebastian Neumeister (Hrsg.): Leopardi in seiner Zeit. Leopardi nel suo tempo. Tübingen: Stauffenburg 1995, S. 125-137. —: „Saggio di un commento a un canto leopardiano: Bruto minore“, in: Studi in onore di Pier Vincenzo Mengaldo per i suoi settant’anni, a cura degli allievi padovani, Bd.-2, Florenz: Sismel-Edizioni del Galluzzo 2007. —: „Dall’imitazione al rimpianto. Leopardi tra il ‚Discorso di un italiano intorno’ alla „poesia romantica e l’Inno ai patriarchi“, in: Humanitas, 1-2 (1988), S.-12-28. —: „Una fonte linguistica per i ‚Canti‘: la traduzione del secondo libro dell’‚Eneide‘“, in: Leopardi e i segnali dell’infinito, a cura di Luigi Blasucci, Bologna: Il Mulino 1985, S.-9-30. Blumenberg, Hans: Schriften zur Technik, Berlin: Suhrkamp 2015. Bogner, Alexander: Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet, Ditzingen: Reclam 2021. Bohrer, Karl-Heinz: Ästhetische Negativität, München: Carl-Hanser 2002. Bosso, Simonetta: „Leopardi e l’idea del teatro“, in: Sebastian Neumeister (Hrsg.): Leopardi in seiner Zeit. Leopardi nel suo tempo. Tübingen: Stauffenburg 1995, S.-139-145. Bova, Anna Clara: Illaudabil maraviglia. La contraddizione della natura in Giacomo Leopardi, Napoli: Liguri 1992. Bowker, Geoffrey C. / Star, Susan Leigh: Sorting Things Out: Classification and its Conse‐ quences, Cambridge: MIT Press 2000. Braccesi, Lorenzo: Poesia e memoria: nuove proiezioni dell’antico, Roma: ‚L’erma‘ di Bretschneider 1995. Brose, Margaret: „Mixing Memory and Desire: Leopardi Reading Petrarch“, in: Annali d’Italianistica 22 (2004), S.-303-319. —: „Leopardi’s ‚L’infinito‘ and the language of the romantic sublime“, in: Poetics Today, Vol. 4,1 (1983), S.-47-71. Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart / Weimar: Metzler 1997. Cauchi-Santoro, Roberta: Beyond the suffering of being. Desire in Giacomo Leopardi and Samuel Beckett, Firenze: Firenze University Press 2016. Camarotto, Valerio: „L’invenzione dell’alfabeto e l’„incivilmento“, in: Chiara Gaiardoni (a cura di): La prospettiva antropologica nel pensiero e nella poesia di Giacomo Leopardi, Firenze: Olschki 2010, S.-353-364. Capitano, Luigi: Leopardi. L’alba del nichilismo, Napoli: Orthotes 2016. Chomentowska, Sylwia: „Das Nichts (re)präsentieren. Negation und Episteme in der Kunst um 1800“, in: Alessandro Bertinetto / Christoph Binkelmann (Hrsg.): Nichts - Negation - Nihilismus, Frankfurt a.M.: Lang 2010, S.-185-199. Citati, Pietro: Leopardi, Milano: Mondadori 2016. Consoli, Domenico: Leopardi. Natura e società, Roma: Edizioni Studium 1977. 240 11 Literaturverzeichnis <?page no="241"?> Costadura, Edoardo: „Die verschleierte / entschleierte Natur. Leopardi - Schiller - Goethe“, in: ders. / Diana di Maria / Sebastian Neumeister (Hrsg.): Leopardi und die europäische Romantik, Heidelberg: Winter 2015, S.-93-107. Crivelli, Tatiana: „Tra iatromeccanica, metafisica ed estetica: Note sul sogno nell’ opera del primo Leopardi“, in: Sebastian Neumeister (Hrsg.): Die ästhetische Wahrnehmung der Welt: Giacomo Leopardi, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2009, S.-227-244. Croce, Benedetto: Poesia e non poesia, Bari: Laterza 1950. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen: Francke 11 1993. De Rosa, Francesco: „Alla sua donna“, in: Lectura leopardiana. I quarantuno „Canti“ e „I nuovi credenti“, a cura di Armando Maglione, Venezia: Marsilio 2003, S.-317-334. De Sanctis, Francesco: La letteratura italiana nel secolo XIX. Leopardi, Bd.-3, a cura di Walter Binni, Bari: Laterza 1953. Degner, Uta: „Belebende Kunst“. Zur ‚Sapphischen‘ Konzeption einer ästhetischen Wahrnehmung der Welt in Leopardis Ultimo canto di Saffo und Hölderlins Thränen“ in: Sebastian Neumeister (Hrsg.): Die ästhetische Wahrnehmung der Welt: Giacomo Leopardi/ Giacomo Leopardi e la percezione estetica del mondo, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2009, S.-185-214. Del Gatto, Antonella: „Meta-Metafore: la Luna“, in: dies.: Quel punto acerbo. Temporalità e conoscenza metaforica in Leopardi. Firenze: Olschki 2012, S.-71-88. Dell’Aquila, Michele: La virtù negata, Bari: Adriatica 1987. Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 14 2019. Desrosières, Alain: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denk‐ weise, Heidelberg: Springer 2005. D’Intino, Franco: „La Prosa“, in: Leopardi, a cura di Franco D’intino e Massimo Natale, Roma: Carocci 2018, S.-63-100. —: L’immagine della voce. Leopardi, Platone e il libro morale, Venezia: Marsilio 2009. Dondero, Marco: Leopardi personaggio. Il poeta nei Canti e nella letteratura italiana contemporaneo, Roma: Carocci 2020. Eagleton, Terry: Materialismus. Die Welt erfassen und verändern, Wien: Promedia 2018. Felici, Lucio: „Il nulla e il riso“, in: Il riso Leopardiano. Comico, Satira, Parodia, a cura di Rolando Garbuglia, Firenze: Olschki 1998, [= Atti del IX Convegno internazionale di studi leopardiani], S.-11-24. Folin, Alberto: Leopardi e l’imperfetto del nulla, Venezia: Marsilio 2001. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2015. Gabellone, Pascal: „Impossible demeure: l'expérience poétique du vide“, in: Critique 90 (1990), S.-133-148. Gabriel, Gottfried: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftli‐ cher und ästhetischer Weltauffassung, Münster: mentis 2 2013. 11 Literaturverzeichnis 241 <?page no="242"?> Galimberti, Cesare: „Leopardi: meditazione e canto“, in: Giacomo Leopardi: Poesie e prose. Vol.-I. Poesie. A cura di Mario Andrea Rigoni. Milano: Mondadori 2011, XI-LXXIX. —: Linguaggio del vero in Leopardi, Firenze: Olschki 1959. Gerigk, Annika: „Verwirrung als Programm. Il tramonto della luna, gelesen als erkennt‐ nistheoretisches Problem“, in: Milan Herold / Barbara Kuhn (Hrsg.): Lebenskunst nach Leopardi. Anti-pessimistische Strategien im Werk Giacomo Leopardis, Tübingen: Narr 2020, S.-177-198. Geyer, Paul: „Sartres Weg aus der Postmoderne in die Moderne: Literarische Konfigura‐ tionen von Subjektivität in La Nausée und Les Mots“ in: Paul Geyer / Claudia Jünke (Hrsg.): Von Rousseau zum Hypertext. Subjetivität in Theorie und Literatur der Moderne, Würzburg: Königshausen und Neumann, 2001. —: Die Entdeckung des modernen Subjekts, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. —: Von Dante zu Ionesco. Literarische Geschichte des modernen Menschen in Italien und Frankreich, Bd.-1, Hildesheim: Olms 2013. —: Von Dante zu Ionesco. Literarische Geschichte des modernen Menschen in Italien und Frankreich, Bd.-2, Hildesheim: Olms 2017. Giannattasio Andria, Rosa: „Giacomo Leopardi lettore di Plutarco“, in: Rosa Aguila / Ig‐ nacio Alfageme (Hrsg.): Ecos de Plutarco en Europa. De Fortuna Plutarchi Studia Saelecta, Madrid: S.E.P.-Universidad Complutense 2006. Gioanola, Elio: „L’infinito“, in: Lectura leopardiana. I quarantuno „Canti“ e „I nuovi credenti“, a cura di Armando Maglione, Venezia: Marsilio 2003, S.-229-243. —: Psicanalisi e interpretazione letteraria, Milano: Jaca Book 2005. Gier, Albert: „Die Gegenwart als Vor-Vergangenheit. Il passero solitario von Giacomo Leopardi“, in: Hans Ludwig Scheel / Manfred Lentzen (Hrsg.): Giacomo Leopardi. Rezeption - Interpretation - Perspektiven, Tübingen 1992, S.-63-84. Giusso, Lorenzo: Leopardi e le sue due ideologie, Firenze: Sansoni 1935. Greco, Pietri: L’astro narrante. La luna nella scienza e nella letteratura italiana, Milano: Springer 2009. Güntert, Georges: „Poetiken der Grabesdichtung. Foscolo, Leopardi, Montale“, in: Barbara Kuhn / Michael Schwarze (Hrsg.): Leopardis Bilder. Immagini e immaginazione oder Reflexionen von Bild und Bildlichkeit, Tübingen: Narr 2019, S.-125-150. Habermas, Jürgen: Theorie und Praxis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978. Hadot, Pierre: Le Voile d’Isis. Essai sur l’histoire de l’idée de nature, Paris: Gallimard 2004. Heintze, Horst: „Zu Leopardis Petrarca“, in: Hans Ludwig Scheel / Manfred Lentzen (Hrsg.): Giacomo Leopardi. Rezeption - Interpretation - Perspektiven, Tübingen 1992, S.-101-108. Henrich, Dieter: Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, Mün‐ chen: Beck 2016. 242 11 Literaturverzeichnis <?page no="243"?> Herold, Milan: „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst“, in: ders. / Barbara Kuhn (Hrsg.): Lebenskunst nach Leopardi. Anti-pessimistische Strategien im Werk Giacomo Leopardis, Tübingen: Narr 2020, S.-91-127 —: „Funktionale Bildlichkeit - Leopardis Denkbilder (Frammento XXXIX Spento il diurnoraggio in occidente)“, in: Barbara Kuhn / Michael Schwarze (Hrsg.): Leopardis Bilder. Immagini e immaginazione oder Reflexionen von Bild und Bildlichkeit, Tübingen: Narr 2019, S.-41-64. —: Der lyrische Augenblick als Paradigma des modernen Bewusstseins. Kant, Schlegel, Leopardi, Baudelaire, Rilke, Göttingen: V&R 2017. —: „‚Il presente non può esser poetico’. Giacomo Leopardis Lesbarkeit der Zeit (Il primo amore, Alla sua donna)“, in: ders. / Michael Bernsen (Hrsg.): Der lyrische Augenblick. Eine Denkfigur der Romania, Berlin: de Gruyter 2015, S.-127-148. Heydenreich, Titus: „Cieco tuono“, „stridenti stelle“: Sinne und Sinnesverknüpfungen im Werk Leopardis“, in: Sebastian Neumeister (Hrsg.): Die ästhetische Wahrnehmung der Welt: Giacomo Leopardi, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2009, S.-87-99. —: „E il naufragar m’è dolce in questo mare“, in: Leopardi. Poeta e pensatore / Dichter und Denker, a cura di Sebastian Neumeister e Raffaele Sirri, Napoli: Afredo Guida 1997, S.-227-234. Hofstadter, Douglas / Sander, Emmanuel: Surfaces and Essences. Analogy as the Fuel and Fire of Thinking, New York: Basic Books 2013. Huth, Lutz: „Repräsentative Personen“, in: id. / Michael Krzeminski: Repräsentation in Politik, Medien und Gesellschaft, Würzburg: Königshausen und Neumann 2007. Invernizzi, Giuseppe: „Leopardi, der antike und moderne Atomismus“, in: Marc Föcking (Hrsg.): Giacomo Leopardi. Dichtung und Wissenschaft im frühen 19.-Jahrhundert, Münster: Lit Verlag 2004, S.-71-90. —: „Leopardi, Schopenhauer e il pessimismo europeo“, in: Italienisch 40 (1998), S.-16-31. Jaeger, Werner: Paideia: the Ideals of Greek Culture, Bd.-1, Oxford: Basil Blackwell 1946. Janowski, Franca: „Il piacere dell’immaginazione: visioni del sentire in Giacomo Leopardi e Lorenzo Magalotti“, in: Sebastian Neumeister (Hrsg.): Die ästhetische Wahrnehmung der Welt: Giacomo Leopardi/ Giacomo Leopardi e la percezione estetica del mondo, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2009, S.-153-183. —: „Die Materialität des Denkens: Leopardi und die Sinne“, in: Marc Föcking (Hrsg.): Giacomo Leopardi. Dichtung und Wissenschaft im frühen 19. Jahrhundert, Münster: Lit Verlag 2004, S.-49-69. Klingemann, August: Die Nachtwachen des Bonaventura, Leipzig: Insel 1919. Klinkert, Thomas: Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Untersuchungen zur Liebessemantik bei Rousseau und in der europäischen Romantik (Hölderlin, Foscolo, Madame de Stael und Leopardi), Freiburg i.Br.: Rombach 2002. 11 Literaturverzeichnis 243 <?page no="244"?> Koopmann, Susanne: Studien zur verborgenen Präsenz Rousseaus im Werk Giacomo Leopardis, Tübingen: Stauffenberg 1998. Kuhn, Barbara: „‚Raziocinando a rovescio‘ - Leopardis Logomythie in ‚Il Copernico. Dialogo‘“, in: Gisela Febel / Françoise Joly / Silke Pflüger (Hrsg.): Paradox oder über die Kunst, anders zu denken: Mélanges für Gerhart Schröder, Kemnat: Quantum Books 2001, S.-327-345. —: „Und sie singt doch - Leopardis Palinodie des Ultimo canto di Saffo“ in: Ginestra 15 (2005), S.-29-51. Kuhn, Barbara / Schwarze, Michael: „Von Erde, Mond und anderen Bildern: Einleitende Überlegungen zur Frage von Bild, Bildlichkeit und Einbildungskraft im Werk Giacomo Leopardis“, in: dies. (Hrsg.): Leopardis Bilder. Immagini e immaginazione oder Refle‐ xionen von Bild und Bildlichkeit, Tübingen: Narr 2019, S.-7-19. Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg: Suhrkamp 2 1976. Kristeva, Julia: Soleil noir. Dépression et mélancolie, Paris: Gallimard 1987. Lefèvre, Eckard: „Catulls Parzenlied und Vergils vierte Ekloge“, in: Philologus 144 (2000), S.-62-80. Lieberg, Godo: „Die Bedeutung Vergils für die italienische Literatur, aufgezeigt an Dante, Leopardi, Carducci und Pascoli“, in: Aevum 5 (1973), S.-417-440. Limone, Giuseppe: „Kalos kai agathos: una formula, una pietra di scandalo e una sfida. La bellezza salverà il mondo? , in: Kalos kai agathos. Il bello e il buono come crocevia di civiltà, a cura di Giuseppe Limone, Milano: FrancoAngeli 2018, S.-7-67. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M.: Suhr‐ kamp 1994. Lukács, Georg: Die Theorie des Romans, Darmstadt: Luchterhand 1971. Marx, Karl / Engels, Friedrich: Werke, Bd.-4, Berlin: Dietz 1977. Mathieu, Carlo: „Imago, ombre, sembianze. Semantik des Scheins von Alla sua Donna bis Il tramonto della luna“, in: Cornelia Klettke / Sebastian Neumeister (Hg.): Giacomo Leopardi. Dichtung als inszenierte Selbsttäuschung in der Krise des Bewusstseins. Akten des Deutschen Leopardi-Tages 2015. Berlin: Frank & Timme 2017, S.-183-200. Mattioli, Emilio: „Leopardi e Luciano“, in: Leopardi e il mondo antico. Atti del Quinto Convegno Internazionale di Studi Leopardiani. Ed. Centro Nazionale di Studi Leopar‐ diani, Firenze: Olschki 1982, S.-75-98. Maurer, Karl: Giacomo Leopardis „Canti“ und die Auflösung der lyrischen Genera, Frank‐ furt a.M.: Vittorio Klostermann 1957. Mazur, James E.: Lernen und Verhalten, München: Pearson 6 2006. Mengaldo, Pier Vincenzo: „Leopardi non è un poeta metaforico“, in: Strumenti critici 20.1 (2005), S.-1-25. Mercogliano, Gennaro: Leopardi. Saggio sulla Ginestra, Manduria: Piero Lacaita 1989. 244 11 Literaturverzeichnis <?page no="245"?> Merleau-Ponty, Maurice: Phénoménologie de la perception. Paris: Gallimard 1945. Mirra, Alessandra: „‚Nazioni senza canti e senza eroi‘. Politics and literature in Leopardi’s ‚Zibaldone‘“ in: Leopardi: immaginazione e realtà, a cura di Alessandra Mirra, Venezia: Marsilio 2015, S.-63-76. Morabito, Raffaele: „Il Passero solitario e l'Ariosto,“ Studi e problemi di critica testuale 27 (1983), S.-167-171. Mörike, Eduard Friedrich: Werke und Briefe. Übersetzungen. Bearbeitungsanalysen, Bd. 8.3, Stuttgart: Klett 1981. Musarra, Franco: „Marche ironiche nella Storia del genere umano delle Operette morali“, in: Hans Ludwig Scheel / Manfred Lentzen (Hrsg.): Giacomo Leopardi. Rezeption - Interpretation - Perspektiven, Tübingen 1992, S.-217- 226. Nahen, Christof: Leopardi - Variationen über Poetik als Kulturkritik, Aachen: Shaker 2002. Neumeister, Sebastian: „Leopardi in Kalifornien“, in: Barbara Kuhn / Michael Schwarze (Hrsg.): Leopardis Bilder. Immagini e immaginazione oder Reflexionen von Bild und Bildlichkeit, Tübingen: Narr 2019, S.-85-102. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari, München u.a.: De Gruyter 2 1988. Palumbo, Matteo: „Il primo amore di Giacomo Leopardi: donna reale, donna sognata“, in: Femmes italiennes 3 (1999), S.-215-229. Papi, Fulvio: Le grandi confessioni e il nulla, Milano: Viennepierre 2009. Pauen, Michael: Pessimismus. Geschichtsphilosophie, Metaphysik und Moderne von Nietz‐ sche bis Spengler. Berlin: Akademie Verlag 1997. Perella, Nicolas James: Night and the Sublime in Giacomo Leopardi, Berkeley: California UP 1970. Petrocchi, Giorgio: Il tramonto della luna. Studi tra Leopardi e oggi. Napoli: Edizione Scientifiche Italiane 1993. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse, Paderborn: Fink 11 2001 [=UTB 580]. Piaget, Jean: Das Weltbild des Kindes, Stuttgart: Klett-Cotta 1978. Pocai, Romano: „Kritische Darstellung des Nihilismus. Zu Giacomo Leopardis Operette morali“, in: Sebastian Neumeister (Hrsg.): Leopardi in seiner Zeit. Leopardi nel suo tempo, Tübingen: Narr 1995, S.-293-341. Prete, Antonio: La poesia del vivente. Leopardi con noi, Torino: Bollati Boringhieri 2019. —: ll pensiero poetante. Saggio su Leopardi. Milano: Feltrinelli 2006. —: „Sull’Antropologia poetica di Leopardi“, in: Chiara Gaiardoni (a cura di): La prospettiva antropologica nel pensiero e nella poesia di Giacomo Leopardi, Firenze: Olschki 2010, S.-3-9. Pichois, Claude: „La Littérature française à la lumière du surnaturalisme“, in: Jean Leblon / ders. (Hrsg.): Le Surnaturalisme français, Neuchâtel: La Baconnière 1979. Pieracci Harwell, Margherita: I due poli del mondo leopardiano. Firenze: Cesati 1986. 11 Literaturverzeichnis 245 <?page no="246"?> Rapp, Friedrich: „Technik als Mythos“, in: Hans Poser (Hrsg.): Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, Berlin, u.a.: de Gruyter 1979, S.-110-129. Reckwitz, Andreas: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmo‐ derne, Berlin: Suhrkamp 3 2019. Rigoni, Maria Andrea: „Leopardi e la lingua universale“, in: Tra Illuminismo e romanti‐ cismo, Vol. 181, a cura di Vittore Branca e Armando Balduino, Firenze: Olschki 1983 [Biblioteca dell’Archivum Romanicum], S.-751-759. Rorty, Richard: Consequences of Pragmatism, Brighton: Harvester Press 1982. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp 2019. Roselli, Daria: Giacomo Leopardi e gli orizzonti dell’infinto-nulla, Roma: Aracne 2014. Rozin, Paul / Royzman, Edward B.: „Negativity Bias, Negativity Dominance, and Conta‐ gion“, in: Personality and Social Psychology Review, Vol. 5.4 (2001), S.-296-320. Saathoff, Jens: -Motive krisenhafter Subjektivität. Eine vergleichende Studie zu deutscher und englischer Schauerliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2001 [= Beiträge aus Anglistik und Amerikanistik]. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg: Rowohlt 11 2005. Scheel, Hans Ludwig: „Leopardi und die Antike. Die wesentlichen Aspekte“, in: ders. / Manfred Lentzen (Hrsg.): Giacomo Leopardi. - Interpretation - Perspektiven, Tübingen: Stauffenburg 1992, S.-261-272. —: Leopardi und die Antike. Die Jahre der Vorbereitung (1809---1818) und ihre Bedeutung für das Gesamtwerk, München: Hueber 1959. Schulz-Buschhaus, Ulrich: „Ironie und Pathos in Leopardis Palinodia“, in: Italienisch 40 (1998), S.-32-48. Sandra Šćepanović: „Heraclitus’ Fragment B 52 DK Re-examined“, in: Rhizomata 3.1 (2015), S.-26-46. Serban, Nicholas: Leopardi e la France, essai de littérature comparée, Paris: Edouard Champion 1913. Severino, Emanuele: Il nulla è la poesia. Alla fine dell’èta della tecnica: Leopardi, Milano: Rizzoli 1990. Siewert, Charles: „Attention and Sensorimotor Intentionality“, in: David Woodruff Smith / Amie L. Thomasson (Eds.): Phenomenology and Philosophy of Mind. Oxford: Oxford University Press 2005, S.-270-294. Silk, Michael: „Style, Voice and Authority in the Choruses of Greek Drama“, in: Peter Riemer / Bernhard Zimmermann (Hrsg.): Der Chor im antiken und modernen Drama. Stuttgart: Metzler 1998, S.-1-26. Söffner, Jan: Partizipation. Metapher, Mimesis, Musik - und die Kunst, Texte bewohnbar zu machen. Paderborn: Fink 2014. 246 11 Literaturverzeichnis <?page no="247"?> Spitzer, Leo: „Zwei Einsamkeiten. Leopardis ‚L’infinito‘ und Lamartines ‚L’Isolement‘, in: Archivum Romanicum 16 (1932), S.-521-539. Spinelli, Alice: „Ent-Täuschung in den Selbstmord-Kanzonen“, in: Cornelia Klettke / Se‐ bastian Neumeister (Hrsg.): Giacomo Leopardi - Dichtung als inszenierte Selbsttäu‐ schung in der Krise des Bewusstseins, Berlin: Frank & Timme 2017, S.-101-164. Stefani, Luigina: „La traduzione del secondo libro dell’‚Eneide‘“ in: Studi e problemi di critica testuale X (1975), S.-123-154. Stegmaier, Werner: Orientierung im Nihilismus - Luhmann meets Nietzsche, Berlin: De Gruyter 2016. Stillers, Rainer: „Der ‚canto‘ in den Canti. Beobachtungen zu einem poetologischen Motiv“, in: Italienisch. Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur 40 (1998), S.-50-63. —: „Leopardi und die Mythologie“, in: Romanistisches Jahrbuch 40 (1989), S.-130-150. Strancati, Claudia: „The French Sources of Leopardi’s Linguistics“, in: Lia Formigari / Da‐ niele Gambarara (Hrsg.): Historical Roots of Linguistic Theories, Amsterdam: John Benjamins 1995, S.-129-140. Tartaro, Archille: „La ginestra, o il fiore del deserto“, in: Lectura leopardiana. I quarantuno „Canti“ e „I nuovi credenti“, a cura di Armando Maglione, Venezia: Marsilio 2003, S.-625-645. Timpanaro, Sebastiano: Classicismo e illuminismo nell’ ottocento italiano. Testo critico con aggiunta di saggi e annotazioni autografe, a cura die Corrado Pestelli, Firenze: Le Lettere 2011. —: „Antileopardiani e neomoderati nella sinistra italiana“, in: Belfagor 30 (1975), S.-129-156. Ungaretti, Giuseppe: Vita d’un uomo. Saggi e interventi, a cura di Mario Diacono e Luciano Rebay, Milano: Mondadori 1997 4 . Van Horne, John: „Comment on Some Posthumous Poems and Fragments of Leopardi“ in: Modern Language Notes, 33 (1918), S.-154-163. Von der Lippe, Peter: „Die Manie, für alles Zahlen und Statistiken haben zu müssen. Über Messbarkeit, Rankingmethoden und den geistlosen Umgang mit Signifikanz‐ tests“, in: IBES Diskussionsbeitrag 219 (2016), https: / / www.wiwi.unidue.de/ fileadmin/ f ileupload/ WIWI/ Forschung/ IBES_Diskussionbeitraege/ IBES-Beitrag_Nr._219_online .pdf (zuletzt aufgerufen am: 01.02.2023). Vossler, Karl: Leopardi, Heidelberg: Winter 2 1930. Wanning, Frank: „Die Verführung durch das Nichts. Negativität und Zeiterfahrung in Leopardis Canti“, in: Italienisch 40 (1998), S.-64-77. Wehle, Winfried: „Über Leopardis Modernität wider Willen“ 11 Literaturverzeichnis 247 <?page no="248"?> —: „Arkadien oder das Venus-Prinzip der Kultur“, in: Roger Friedlein / Gerhard Poppen‐ berg / Annett Volmer (Hrsg.): Arkadien in den romanischen Literaturen: zu Ehren von Sebastian Neumeister zum 70. Geburtstag. Heidelberg: Winter 2008, S.-41-71. —: „Auf der Höhe einer abgründigen Vernunft: Giambattista Vicos Epos einer ‚Neuen Wissenschaft‘“, in: Roland Galle / Helmut Pfeiffer (Hrsg.): Aufklärung, München: Fink 2007, S.-149-170. —: Leopardis Unendlichkeiten: Zur Pathogenese einer poesia non poesia; „L’Infinito“ / „A se stesso“, Tübingen: Narr 2000. Westerwelle, Karin: „Die Darstellung von Subjekt und Affekt in Giacomo Leopardis Ultimo canto di Saffo“, in: Alexander Arweiler / Melanie Möller (Hrsg.): Vom Selbst-Ver‐ ständnis in Antike und Neuzeit / Notions of the Self in Antiquity and Beyond, Berlin, u.a.: De Gruyter 2009, S.-283-308. Wittgenstein, Ludwig: Vermischte Bemerkungen/ Culture and Value, Oxford: Basil Black‐ well 2 1980. 248 11 Literaturverzeichnis <?page no="249"?> ISBN 978-3-8233-8589-9 Das Nichts stellt eine Konstante in Leopardis Werk dar, deren Darstellung bei Weitem nicht auf die bloße Nennung des ‚nulla‘ beschränkt ist. Es erweist sich als polyvalente Denkfigur, die unter anderem auf Mangel, Abwesenheit, Wertlosigkeit, Zersetzung und Vergehen verweist. Durch eine genaue Betrachtung der unterschiedlichen Nichts-Konzeptionen wird eine gleitende Semantik sichtbar, die im ganzen Werk dynamisch bleibt. Diese entsteht durch die wiederholte Parallelisierung von gegensätzlichen Begrifflichkeiten wie ‚Vernunft und Natur‘, ‚Antike und Moderne‘, ‚Dichtung und Philosophie‘, ‚Materie und Geist‘, ‚Leben und Tod‘, ‚Inneres und Äußeres‘, etc. Dies ist aber nicht die einzige Funktion, die das Nichts in Leopardis Gedankenbewegungen einnimmt: Das Nichts entpuppt sich vielerorts als Orientierungspunkt.