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„Die bloße Macht des Raums“ – Detailrealismus und Topographie in Theodor Fontanes L'Adultera

0717
2023
978-3-8233-9594-2
978-3-8233-8594-3
Gunter Narr Verlag 
Maria Antonia Schellstede
10.24053/9783823395942

In minutiösen Detaillektüren wird die Raffinesse Fontanescher Erzählkunst anhand des Romans L'Adultera (1882) aus literaturwissenschaftlicher sowie kunst- und kulturhistorischer Perspektive beleuchtet. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass dem Detailrealismus Fontanes eine Doppelstruktur von vordergründiger und hintergründiger Bedeutung innewohnt: Vordergründig suggerieren die Realien seiner Texte eine Authentizität der literarischen Welt, hintergründig gelesen erweisen sie sich als sprechende Details, die vielschichtig das Romangeschehen kommentieren und eng mit der Figurenpsyche verwoben sind. Gleichsam wie Indizien eines Tatortes entfalten sich die Realien des Romans und laden das Lesepublikum zu einer Spurensuche ein. Dabei erfährt die literarische Topographie als eine Spielart des Detailrealismus besondere Berücksichtigung, denn Fontane ist laut Eigenbekundung ein "Kartenmensch".

<?page no="0"?> Band 87 Maria Antonia Schellstede „Die bloße Macht des Raums“ - Detailrealismus und Topographie in Theodor Fontanes L’Adultera <?page no="1"?> „Die bloße Macht des Raums“ - Detailrealismus und Topographie in Theodor Fontanes L’Adultera <?page no="2"?> herausgegeben von Anja Bandau (Hannover), Justus Fetscher (Mannheim), Ralf Haekel (Leipzig), Caroline Lusin (Mannheim), Cornelia Ruhe (Mannheim) Band 87 <?page no="3"?> Maria Antonia Schellstede „Die bloße Macht des Raums“ - Detailrealismus und Topographie in Theodor Fontanes L’Adultera <?page no="4"?> Zugleich Dissertation an der philosophischen Fakultät der Universität Mannheim unter dem Titel: „Es ist etwas Eigenthümliches um die bloße Macht des Raums! “ Zum Detailrealismus in Theodor Fontanes Berliner Roman L’Adultera unter besonderer Berücksichtigung der Topographie. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823395942 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0175-3169 ISBN 978-3-8233-8594-3 (Print) ISBN 978-3-8233-9594-2 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0472-2 (ePub) Umschlagabbildung: © Neuester Plan der Stadt Rom / gezeichnet von J. Koenig (1886), BnF/ Gallica (Bildausschnitt) © Stadtplan von Berlin, 1: 20 000, Lithographie, um 1872, SLUB / Deutsche Fotothek (Bildausschnitt) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Für Klara und Konrad <?page no="7"?> Danksagung Die vorliegende Dissertation ist im Dezember 2020 vom Promotionsausschuss der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim angenommen worden. Entstanden ist die vorliegende Arbeit aus dem Wunsch heraus, mich nach meiner Magisterarbeit weiter in den Fontaneschen Detailrealismus zu vertiefen. Daher ist es mir eine angenehme P icht, Herrn Professor Justus Fetscher herzlich für sein mir entgegengebrachtes Vertrauen und seinen Einsatz als Doktorvater zu danken. Dieser hat nicht zuletzt zu unzähligen Espressorunden in der Charlottenburger Knesebeckstraße und im Mannheimer Schloss geführt und mich - mit so manchem erkenntnisreichen Moment - an seinem Sein als ‚wandelnder Bibliothek‘ teilhaben lassen. Gleichfalls gilt mein Dank Frau Professor Cornelia Ortlieb für die Abfassung des Zweitgutachtens und für die Zeit, die Sie meinen Anliegen - vom ersten Semester an - entgegengebracht hat. Außerdem danke ich ebenfalls den anderen Mitgliedern der Prüfungskommission, den Professoren Ulrich Kittstein, Claudia Gronemann und Jochen Hörisch, für ihre Bereitschaft, kurz vor Weihnachten, am 17. Dezember 2020, an meiner Disputation mitzuwirken, sowie Frau Claudia Brendel dafür, diese äußerst beherzt organisiert zu haben. Ferner danke ich meiner Mannheimer Promotionsgefährtin Dr. Milena Bauer für viele Gespräche rund um ‚Fonty‘, Herrn Christian Becker für einige aufschlussreiche Gespäche zu biblischen und römischen Themen sowie Familie v. Berenberg für die außergewöhnliche Möglichkeit meine Dissertation bei etlichen Arbeitsurlauben in ihrer märkischen Sommerfrische voranzubringen, die in Fontanes Wanderungen und - für alle Freunde der Lithographie - der Sammlung Duncker Erwähnung ndet und buchstäblich den krähenden Pfauhahn auf der Veranda zum Leben erweckt hat. Dies wiederum führt mich zur Verlagsbuchhandlung von Dunckers Vater, in der ich während meiner Promotionszeit beru ich tätig war. Dem jetzigen Verleger Dr. Florian Simon sowie meiner Abteilungsleiterin Arlett Günther danke ich für <?page no="8"?> VIII eine ausgesprochen promotionsfreundliche Dreitageswoche und die ein oder andere Aufmunterung bezüglich meines Projekts. Auch meiner Familie möchte von ganzem Herzen für ihre liebevolle Unterstützung danken, insbesondere meiner Tochter Klara für ihre Geduld mit der promovierenden Mutter, meinem Sohn Konrad dafür, mit seiner Geburt bis nach der Disputation gewartet zu haben, meinem Mann Gerold, der - damals ebenfalls promovierend - auch mein Leidensgenosse war, sowie meiner Mutter Birgit, meiner Großmutter Heidemarie und meinen Schwiegereltern, Ingrid und Reinhard, für umfangreiche Stunden der Kinderbetreuung, wobei auch Ingrids Einsatz beim Korrekturlesen nicht unerwähnt bleiben soll. Zu guter Letzt gilt mein Dank den Herausgebern dieser Reihe, den Professoren Anja Bandau, Justus Fetscher, Ralf Haekel, Caroline Lusin und Cornelia Ruhe, sowie dem Verlag, insbesondere Frau Luisa Santo. Berlin, im Juni 2023 Maria Antonia Schellstede <?page no="9"?> Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Realismus - Kunst an der Schwelle zur Wirklichkeit . . . . . . . 1 1.2 Fontanes Realitätse ekt oder ‚ars est celare artem‘ . . . . . . . . 4 1.3 Topographien als Kultur(er)zeugnis . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.4 Fontanes topographischer Blick: „ich bin nämlich Karten mensch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.5 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.6 Zur Rezeptionsgeschichte von „L’Adultera“ . . . . . . . . . . . . 22 1.7 Finden und Er nden: Fontanes arrangierte ‚Wirklichkeit‘ . . . . 26 2 Szenen einer Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.1 „Commercienrath Van der Straaten, Große Petristraße 4“ . . . . 31 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße . . . . . . . . 38 2.2.1 Auftritt der Kommerzienrätin . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2.2 Die Marktszene - Melanies melancholischer Blick . . . 46 2.2.3 Ankunft der ‚Adultera‘-Kopie . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.2.4 Der Ehebruch - topographisch prädestiniert . . . . . . . 66 2.3 Am Mittag: „Dazwischenkunft eines Dritten“ . . . . . . . . . . . 70 2.3.1 Melanies Zimmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2.3.2 Ankündigung eines Dauergastes . . . . . . . . . . . . . 76 2.4 Am Abend: Abschiedsdiner in der Großen Petristraße . . . . . . 89 2.4.1 Der engere Zirkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2.4.2 Ein Heimweg in der Equipage . . . . . . . . . . . . . . . 101 2.4.3 Heimweg der medisierenden Räte . . . . . . . . . . . . . 108 3 Außerhalb der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3.1 Die Tiergartenvilla . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3.1.1 Die Villa als ambivalenter Sehnsuchtsort Melanies . . . 116 3.1.2 Auftritt: Ebenezer Rubehn . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3.1.3 Die Tiergartenvilla als venezianische Villa . . . . . . . . 131 3.2 Landpartie nach Stralau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3.2.1 Ankunft und Spiele auf dem Wiesenplan . . . . . . . . . 144 3.2.2 Löbbeke’s Ka eehaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 <?page no="10"?> X Inhaltsverzeichnis 3.2.3 Überfahrt nach Treptow oder das rechte Paar ndet sich . . . . . . . . . . . . . . 165 3.2.4 Die Bootsfahrt als Imagination Venedigs . . . . . . . . . 173 3.3 Im Palmenhaus der Tiergartenvilla . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3.3.1 Taufe und Imagination Rubehns als Bartholomäus . . . 176 3.3.2 Der Tiergarten als Jagdgebiet . . . . . . . . . . . . . . . 180 3.3.3 Vorspiel: „Unsere Scham ist unsere Schuld“ . . . . . . . 184 3.3.4 Höhepunkt: Im ‚Hot-House‘ . . . . . . . . . . . . . . . . 191 4 Zwischen Ehebruch und Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 4.1 Heiligabend in der Gemäldegalerie . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 4.2 Gang zur Jägerstraße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 4.3 Silvesterball im Hause Gryczinski . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 4.4 Abschiedsgespräch mit Van der Straaten . . . . . . . . . . . . . 221 4.5 Melanie verlässt die Große Petristraße . . . . . . . . . . . . . . . 232 4.6 Droschkenfahrt zum Anhalter Bahnhof . . . . . . . . . . . . . . 235 5 Flucht „Nach Süden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 5.1 Innsbruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 5.2 Verona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 5.3 Florenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 5.4 Rom - Verhinderte Buße, Hochzeit und Depression . . . . . . . 260 5.4.1 Hochzeit und Landpartie nach Tivoli . . . . . . . . . . . 260 5.4.2 Die Villa Farnesina als Ort der Erinnerung an den Ehebruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 5.4.3 Die Via Catena als zweite Große Petristraße . . . . . . . 271 5.5 Venedig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 5.6 Interlaken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 6 „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin . . . . 299 6.1 Die Mansarde als ambivalenter Wohnort . . . . . . . . . . . . . 299 6.1.1 Wohnen im Tiergartenviertel . . . . . . . . . . . . . . . 299 6.1.2 Die reizende Mansarde als ‚Hot-House‘ . . . . . . . . . . 304 6.2 „Die Gesellschaft ist unversöhnlich.“ . . . . . . . . . . . . . . . . 310 6.2.1 Reaktionen der Gesellschaft: Zwischen Ächtung, Neugier und Milde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 6.2.2 „Die Kinder sitzen überall zu Gericht, still und unerbittlich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 <?page no="11"?> Inhaltsverzeichnis XI 6.3 „Ein neues Leben! “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 6.3.1 Ehekrise im Hause Rubehn . . . . . . . . . . . . . . . . 330 6.3.2 „Zusammenbrechen der Rubehn’schen Finanz-Herrlichkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 6.3.3 Gemeinsamer Arbeitsweg im Tiergarten . . . . . . . . . 348 6.4 „Versöhnt.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 6.4.1 An der Löwenbrücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 6.4.2 „Julklapp“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 7 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Technische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 <?page no="13"?> 1 Einleitung 1.1 Realismus - Kunst an der Schwelle zur Wirklichkeit Theodor Fontane (1819-1898) gilt in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts als einer der wichtigsten Vertreter des Realismus. 1 Dieser Epochenbegri wird gemeinhin von der Vorstellung begleitet, Realität gleichsam angemessen wiederzugeben, so dass der Leser realistischer Literatur geneigt ist, das Dargestellte in den Rang tatsächlich geschehener Wirklichkeit zu erheben. 2 Dadurch steht realistische Literatur im Spannungsfeld zwischen Kunst und Wirklichkeit; 3 zwischen der Erzeugung einer „Referenzillusion“, 4 die einer stimmigen Bezugnahme auf die real-empirische Welt verp ichtet ist, 5 bei gleichzeitigem Versuch, ihre Künstlichkeit zu verschleiern. 6 Trotz ihrer Bindung zur real-empirischen Welt ist realistische Literatur somit in erster Linie hocharti ziell: 7 „Sie erstrebt keine Eins-zu-Eins-Replik der Wirklichkeit, sondern deren sorgfältig ge lterte, aufs Wesentliche kondensierte, kunstgemäße, modellhafte 1 Vgl. hierzu exemplarisch Ursula Amrein und Regina Dieterle: Einleitung. In: Gottfried Keller und Theodor Fontane. Vom Realismus zur Moderne. Hrsg. von dens. Berlin, New York 2008 (= Schriftenreihe der Theodor Fontane Gesellschaft; Band 1), S. 1-18, hier S. 1. 2 Vgl. Christian Begemann: Einleitung. In: Realismus. Das große Lesebuch. Hrsg. von dems. Frankfurt am Main 2011, S. 13-22, hier S. 15. 3 Vgl. Hugo Aust: Literatur des Realismus. 3. überarbeitete und aktualisierte Au age. Stuttgart 2000, S. 1. 4 Ebd., S. 3. 5 Vgl. Gertrud Maria Rösch: Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. Tübingen 2004 (= Studien zur deutschen Literatur; Band 170), S. 162. 6 Vgl. Hugo Aust: Literatur des Realismus, S. 3. 7 Vgl. Christian Begemann: Einleitung, S. 18. Analogien hierzu lässt die niederländische und ämische Stilllebenmalerei des 17. Jahrhunderts erkennen, denn auch hier wohnt dem Detailrealismus eine versteckte Symbolik inne. (Vgl. ausführlicher Norbert Schneider: Stilleben. Realität und Symbolik der Dinge. Die Stillebenmalerei der frühen Neuzeit. Köln 2003, S. 17.) Ebenso ist der englische Landschaftsgarten in seiner scheinbaren Natürlichkeit nicht weniger künstlich angelegt als beispielsweise der französische Barockgarten; jedoch trägt letzterer im Unterschied zu ersterem seine künstlichen Arrangements o en zur Schau. (Vgl. dazu ausführlicher Fußnote 35 auf Seite 122 dieser Arbeit.) <?page no="14"?> 2 Kapitel 1: Einleitung Darstellung; nicht eine beliebige Photographie, sondern ein genau perspektiviertes und retouchiertes Bild.“ 8 Der Begri Realismus leitet sich etymologisch vom lateinischen ‚realis‘ ab, dem wiederum die ‚res‘ eingeschrieben sind. Weil letztere die Welt und ihre Wirklichkeit repräsentieren und beglaubigen sollen, sind sie für den Realismus essentiell. 9 Zum realistischen Verfahren gehört es entsprechend nicht nur Dinge zu beschreiben, sondern auch den genauen Blick auf das Detail zu richten. 10 Dies ist nicht zuletzt ein Ergebnis folgender historischer Entwicklung, deren Ausgangspunkt in der Abscha ung der Folterstrafe gründet; das hierdurch aufkommende Indizienverfahren wird zur Geburtsstunde der Kriminalistik. Während zuvor der mutmaßliche Täter und das - mitunter durch Folter entstandene - Geständnis im Zentrum jeder kriminalistischen Untersuchung gestanden haben, werden nunmehr die Spuren einer Tat zum Dreh- und Angelpunkt. 11 Diese Entwicklung erweist sich auch als folgenreich für den Ort eines Verbrechens, der nun als Tatort mit seinen Indizien in den Fokus rückt und buchstäblich für sich spricht. Jener historische Paradigmenwechsel beein usst auch die literarische Erzählweise, die etwa eine tatortgleiche Inszenierung der poetischen Schauplätze bewirkt: Um verschlüsselte Botschaften des Textes zu entzi ern, wird das Lesepublikum gewissermaßen zum spurenlesenden Kriminalisten. 12 Dabei sind Erzählungen, die auf eine solche Spurenanalyse setzen, nicht mehr allein auf die Ausgestaltung ih- 8 Justus Fetscher: Rezension zu Nicole Kaminski: Literaturkritik ohne Sprachkritik? Theodor Fontane, Alfred Kerr, Karlheinz Deschner, Marcel Reich-Ranicki und Kollegen. Frankfurt am Main 2015 (= Frankfurter Forschungen zur Kultur- und Sprachwissenschaft; Band 20). In: Fontane-Blätter 102 (2016), S. 116-121, hier S. 117. 9 Vgl. Christian Begemann: Die Dinge des Realismus. Einleitung. In: Realismus. Das große Lesebuch. Hrsg. von dems. Frankfurt am Main 2011, S. 359-360, hier S. 359. 10 Vgl. Uta Schürmann: „Dingwelten“. Das Entzi ern narrativer Spuren in Fontanes Prosawerk im Kontext zeitgenössischer Kriminalistik. In: Realien des Realismus. Wissenschaft - Technik - Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa. Hrsg. von Stephan Braese und Anne-Kathrin Reulecke. Berlin 2010, S. 182-200, hier S. 187-188. Aufgrund der im Vergleich zu früheren Epochen stark gestiegenen Anhäufung von Dingen bezeichnet Hartmut Böhme daher das 19. Jahrhundert als das „Saeculum der Dinge“. (Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 17.) 11 Vgl. Uta Schürmann: „Dingwelten“, S. 188 sowie Melanie Wigbers: Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart. Würzburg 2006, S. 22. 12 Vgl. hierzu ausführlich mit Blick auf Fontanes „Unterm Birnbaum“ (1885) Elisabeth Strowick: Gespenster des Realismus. Zur literarischen Wahrnehmung von Wirklichkeit. Paderborn 2019, S. 252-278, insbesondere S. 269-278. <?page no="15"?> 1.1 Realismus - Kunst an der Schwelle zur Wirklichkeit 3 res Figurenpersonals angewiesen, 13 denn überdies können nunmehr wesentliche Aspekte der Romanhandlung auf der Ebene allgemeiner Detailbeschreibungen transportiert werden: So kann beispielsweise die topographische Situierung eines Wohnortes Aufschluss über das Romangeschehen geben. 14 Jene Fülle an Detailinformationen, die für das realistische Schreiben konstituierend ist, erzeugt einen „Detailrealismus“. 15 Insbesondere die frühere Forschung, aber auch das Standardwerk der Erzähltheorie in seiner aktuellen Au age aus dem Jahr 2016 will die Details im Rekurs auf Roland Barthes (1915-1980) als „funktional überschüssi[g]“ 16 für die Romanhandlung begreifen und sieht ihre Aufgabe vielmehr auf die Suggestion von Authentizität beschränkt. 17 Die jüngere Forschung hingegen richtet ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf genau diese Detailinformationen, weil in ihnen neben besagtem „Realitätse ekt“ 18 eine zusätzliche Semantisierung der ktionalen Welt erkannt wird. 19 Jene Details werden nun 13 Vgl. hierzu ausführlich Uta Schürmann: „Dingwelten“, S. 187-188. 14 So wird beispielsweise in Fontanes „Irrungen, Wirrungen“ (1888) bereits eingangs mit der topographischen Situierung „schräg“ (IW, S. 5.) auf eine unstandesgemäße Beziehung Bezug genommen. Ebenso re ektiert die erste Romanseite von „Unwiederbringlich“ (1891) mit der Topographie die grundlegende Konstellation des Romans. (Vgl. Alexandra Tischel: „Ebba, was soll diese Komödie“. Formen theatraler Inszenierung in Theodor Fontanes Roman Unwiederbringlich . In: Inszenierte Welt: Theatralität als Argument literarischer Texte. Hrsg. von Ethel Matala de Mazza und Clemens Pornschlegel. Freiburg 2003 (= Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae; Band 106), S. 185-208, hier S. 190.) 15 Hugo Aust: Literatur des Realismus, S. 3. 16 Matias Martinez und Michael Sche el: Einführung in die Erzähltheorie. 10. überarbeitete und aktualisierte Au age. München 2016, S. 122. 17 „Das literaturwissenschaftliche Interesse an Details ist erstaunlicherweise jüngeren Datums. [...] Es ist sicher kein Zufall, dass sich bislang niemand bereitgefunden hat, eine solche Aufgabe anzugehen. Anders als es der Gegenstandsbereich vermuten läßt, ist den literarischen Kleinigkeiten in ihrer Bedeutungsvielheit eben doch nur mit großem Aufwand beizukommen.“ (Uwe Neumann: Die göttlichen Einzelheiten. Zu Uwe Johnsons Poetik des Details. In: Johnson-Jahrbuch 25 (2018), S. 107-126, hier S. 108.) 18 „Mit Roland Barthes nennen wir solche funktional überschüssigen Details Realismuse ekt („e et de réel“).“ (Matias Martinez und Michael Sche el: Einführung in die Erzähltheorie, S. 122.) 19 Vgl. Ingo Meyer: Im „Banne der Wirklichkeit“? Studien zum Problem des deutschen Realismus und seinen narrativ-symbolischen Strategien. Würzburg 2009. (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft; Band 690), S. 331-344 sowie Christian Begemann: Die Dinge des Realismus. Dingverfallenheit und Wirklichkeitsblindheit. Gottfried Keller: Die drei gerechten Kammacher (1856). In: Realismus. Das große Lesebuch. Hrsg. von dems. Frankfurt am Main 2011, S. 388-395, hier S. 388. <?page no="16"?> 4 Kapitel 1: Einleitung nicht mehr als semantische Leerstellen mit „narrative[r] Funktionslosigkeit“ 20 begri en, die lediglich einem Selbstzweck oder einer Ausschmückung diene, sondern in ihrer „tektonisch-funktionale[n] und meistens auch zeichenhaftsymbolische[n] Bedeutung“. 21 Dementsprechend lässt sich meine Arbeit von der Annahme leiten, dass Fontanes Detailrealismus eine Doppelstruktur von vordergründiger und hintergründiger Bedeutung zugrunde liegt: Vordergründig suggerieren die Realien Fontanescher Texte eine Authentizität der literarischen Welt, hintergründig gelesen erweisen sie sich oftmals „bei näherer Betrachtung als sprechende Details“. 22 1.2 Fontanes Realitätseffekt oder ‚ars est celare artem‘ Dem Verlauf des allgemeinen Forschungstrends folgend, begreift auch die frühe Fontaneforschung die Detailgestaltung in seinen Berliner Romanen im Sinne eines ‚e et de réel‘ 23 als vermeintlich funktionslos. So sind insbesondere die poetischen Schauplätze in ihrer Funktion als „Requisiten“ 24 gedeutet worden, die im 20 Matias Martinez und Michael Sche el: Einführung in die Erzähltheorie, S. 122. 21 Hugo Aust: Literatur des Realismus, S. 34. Das Detail wird zum integralen „Bestandteil des innerliterarischen Bedeutungsgefüges.“ (Katharina Grätz: Alles kommt auf die Beleuchtung an. Theodor Fontane - Leben und Werk. Stuttgart 2015, S. 64.) 22 Cornelia Ortlieb: Die Apparatur der Realien in Theodor Fontanes Ballade „John Maynard“. In: Realien des Realismus. Wissenschaft - Technik - Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa. Hrsg. von Stephan Braese und Anne-Kathrin Reulecke. Berlin 2010, S. 96- 116, hier S. 97. 23 Details, die innerhalb des narrativen Gefüges keine Funktion haben, üben nach Barthes einen ‚e et de réel‘ aus, indem sie sagen „‚wir sind das Reale‘“. (Hugo Aust: Literatur des Realismus, S. 34.) 24 Richard Brinkmann: Der angehaltene Moment. Requisiten - Genre - Tableau bei Fontane. In: Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift for Charlotte Jolles. In Honour of her 70th Birthday. Edited by Jörg Thunecke in conjunction with Eda Sagarra. Nottingham 1979, S. 360-380, hier S. 362. Ähnlich erkennt Gisela Wilhelm in Fontanes Stadtbeschreibungen einen Genrebildcharakter mit realistischen Erzählelementen. (Vgl. Gisela Wilhelm: Die Dramaturgie des epischen Raumes bei Theodor Fontane. Frankfurt am Main 1981 (= Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft; Band 4), S. 27.) Dabei übersieht Wilhelm jedoch, dass auch Genrebilder im Allgemeinen eine über die abgebildete Alltagsszene hinausgehende tiefere Bedeutung transportieren. (Vgl. hierzu und zur Kritik an einem simpli zierenden Genrebegri Albert Blankert: What is Dutch Seventeenth Century Genre Painting? A De nition and its Limitations. In: Holländische Genremalerei im 17. Jahrhundert. Symposium Berlin 1984. Hrsg. von Henning Bock und Thomas W. Gaehtgens. Berlin <?page no="17"?> 1.2 Fontanes Realitätseffekt oder ‚ars est celare artem‘ 5 Vergleich zum Handlungsgeschehen eine nur untergeordnete Rolle spielen. 25 In einer anderen Lesart werden Fontanes literarische Handlungsschauplätze im Sinne dokumentarischer Ortsbeschreibungen verstanden, die unter dem Eindruck einer Nachahmung der real-empirischen Welt stehen. 26 Dieser Eindruck wird unter anderem dadurch verstärkt, dass Fontane seine literarischen Schauplätze zumeist nach realen Vorbildern zeichnet und sich diese bisweilen „auch außerliterarisch örtlich festmachen“ 27 lassen. So habe, wie noch die jüngere Forschung 1987 (= Symposium der Gemäldegalerie SMPK und des Kunsthistorischen Instituts der Freien Universität Berlin vom 20.-22.06.1984), S. 9-32, insbesondere S. 31.) „Für sich selbst hat der Raum kein Daseinsrecht, sondern besteht nur in Bezug auf den Vorgang und auf die Handlung.“ (Robert Petsch: Raum in der Erzählung. In: Landschaft und Raum in der Erzählkunst (1934). Hrsg. von Alexander Ritter. Darmstadt 1975 (= Wege der Forschung; Band CCCCXVIII), S. 36-44, hier S. 36.) 25 Peter Demetz vertritt die Position, der Autor verschwende gerade nicht seine Energie auf die Schilderung der Schauplätze, denn diese würden nur angedeutet. (Vgl. Peter Demetz: Formen des Realismus: Theodor Fontane. Kritische Untersuchungen. München 1964, S. 117.) Bruno Hillebrand sieht gleichfalls das Räumliche als „bewusst gegenüber der Handlung zurückgestellt.“ (Bruno Hillebrand: Mensch und Raum im Roman. Studien zu Keller, Stifter, Fontane. München 1971, S. 230.) Herman Meyer fragt jedoch bereits 1975: „Ist der Raum in der Dichtung ein wesentlicher Faktor, ist er, über seine bloße Faktizität hinaus, eine Fügekraft im Zusammenspiel der Kräfte, [...] kann eine Analyse der Raumgestaltung etwas Wesentliches zur Erhellung dieser Struktur beitragen? “ (Herman Meyer: Raumgestaltung und Raumsymbolik in der Erzählkunst. In: Landschaft und Raum in der Erzählkunst. Hrsg. von Alexander Ritter. Darmstadt 1975 (= Wege der Forschung; Band CCCCXVIII), S. 208-231, hier S. 213.) Zwar kritisiert Meyer Robert Petschs Annahme, Fontanes „bädekermäßige Genauigkeit“ (Robert Petsch: Raum in der Erzählung, S. 42.) verwechsele „den erfüllten Raum dauernd mit dem real-empirischen“, (Ebd., S. 42.) kommt aber dennoch im Hinblick auf Fontane zu dem Fazit: „Nur selten wird der Raum zu einer das Ganze durchwaltenden Fügekraft und somit zu einem Strukturelement im eigentlichen Wortsinn.“ (Herman Meyer: Raumgestaltung und Raumsymbolik in der Erzählkunst, S. 213.) Sein Fazit ist umso bemerkenswerter, weil Meyer zuvor anhand der Eingangsbeschreibung des Berliner Romans „Die Poggenpuhls“ (1896) die vordergründig realistischen Details der Raumgestaltung als „sichtbare Verkörperung der labilen geistigen Situation der Poggenpuhlschen Familie mit ihrem unausgeglichenen Gegensatz von Ideologie und Wirklichkeit, vom feudalen Sentiment und dürftigen sozialen Umständen“ (Ebd., S. 213.) erkennt. 26 Auf diese Weise argumentiert beispielsweise Claudia Becker, die aufgrund einer scheinbar dokumentarischen Verarbeitung realistische Literatur in ihrer Studie über Interieurdarstellungen generell ausklammert. (Vgl. Claudia Becker: Zimmer-Kopf-Welten. Motivgeschichte des Interieurs im 19. und 20. Jahrhundert. München 1990, S. 166-167.) 27 Nobert Wichard: Berliner Wohnräume - Kulturraum Venedig. Narrative Funktionen in Theodor Fontanes L’Adultera . In: Gelebte Milieus und virtuelle Räume. Der Raum in der Literatur- und Kulturwissenschaft. Hrsg. von Klára Berzeviczy, Zsuzsa Bognár und Péter Lőkös. Berlin 2009 (= Kulturwissenschaften; Band 8), S. 57-68, hier S. 63. <?page no="18"?> 6 Kapitel 1: Einleitung wiederholt herausgestellt hat, Fontane „großen Wert darauf gelegt, historisch und geographisch, wo nicht exakt, so doch wahrscheinlich zu wirken.“ 28 Jene Zuordnung in den Bereich des Realitätse ektes erscheint vordergründig umso berechtigter, weil sich die literarischen Schauplätze zahlreich am historischen Stadtplan nachvollziehen lassen und dadurch authentisch wirken, zumal jene dem heutigen Leser mitunter wie historische Dokumentationen des 19. Jahrhunderts anmuten. 29 Ebenjener Eindruck korrespondiert mit der von Fontane postulierten Aufgabe des zeitgenössischen Romans aus dem Jahr 1886: Aufgabe des modernen Romans scheint mir die zu sein, ein Leben, eine Gesellschaft, einen Kreis von Menschen zu schildern, der ein unverzerrtes Widerspiel des Lebens ist, das wir führen. Das wird der beste Roman sein, dessen Gestalten sich in die Gestalten des wirklichen Lebens einreihen, so daß wir in Erinnerung [...] nicht mehr genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren [...]. Also noch einmal: darauf kommt es an, daß wir in den Stunden, die wir einem Buche widmen, das Gefühl haben, unser wirkliches Leben fortzusetzen, und daß zwischen dem erlebten und erdichteten Leben kein Unterschied ist als der jener Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung und infolge davon jener Gefühlsintensität, die die verklärende Aufgabe der Kunst ist. 30 28 Gotthard Wunberg: Rondell und Poetensteig. Topographie und implizierte Poetik in Fontanes „Stechlin“. In: Jahrhundertwende. Studien zur Literatur der Moderne. Zum 70. Geburtstag des Autors Gotthard Wunberg. Hrsg. von Stephan Dietrich. Tübingen 2001, S. 301-312, hier S. 303. Vgl. hierzu ähnlich Albrecht Kloepfer: Fontanes Berlin. Funktion und Darstellung der Stadt in seinen Zeit-Romanen. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 42 (1992), S. 67-86, hier S. 83 sowie James Bade: Fontane’s Landscapes. Würzburg 2009 (= Fontaneana; Band 7), S. 60. James Bade erkennt gerade in der topographischen Präzision die Anziehungskraft der Fontaneschen Romane. 29 Vgl. Norbert Wichard: Berliner Wohnräume - Kulturraum Venedig, S. 64. 30 Theodor Fontane: Das unverzerrte Widerspiel des Lebens (1886). In: Realismus. Das große Lesebuch. Hrsg. von Christian Begemann, S. 92-93, hier S. 93. Bereits 1875 schreibt Fontane in einer Rezension zu Gustav Freytags (1816-1895) Romanzyklus „Die Ahnen“: „[...] Was soll ein Roman? Er soll uns, unter Vermeidung alles Übertriebenen und Häßlichen eine Geschichte erzählen, an die wir glauben [...] er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen [...] lassen [...].“ (Theodor Fontane: Rezension über Gustav Freytags Roman „Die Ahnen“ (1875). In: Romanpoetik in Deutschland. Von Hegel bis Fontane. Hrsg. von Hartmut Steinecke. Tübingen 1984 (= Deutsche Text-Bibliothek; Band 3), S. 186-188, hier S. 186.) <?page no="19"?> 1.2 Fontanes Realitätseffekt oder ‚ars est celare artem‘ 7 Dass sich jedoch Sinn und Zweck der Detailbeschreibungen nicht im Realitätse ekt erschöpfen, zeichnet sich in Fontanes Bekundungen bezüglich seines Romans „Schach von Wuthenow“ (1882) ab: Mein Metier besteht darin, bis in alle Ewigkeit hinein „märkische Wanderungen“ zu schreiben; alles andre wird nur gnädig mit in den Kauf genommen. Auch bei Schach tritt das wieder hervor, und so lobt man die Kapitel: Sala Tarone, Tempelhof und Wuthenow. In Wahrheit liegt es so: von Sala Tarone habe ich als Tertianer nie mehr als das Schild überm Laden gesehen, in der Tempelhofer Kirche bin ich nie gewesen und Schloß Wuthenow existiert überhaupt nicht, hat überhaupt nie existiert. Das hindert aber die Leute nicht zu versichern, „ich hätte ein besondres Talent für das Gegenständliche“, während doch alles, bis auf den letzten Strohhalm, von mir erfunden ist, nur gerade das nicht, was die Welt als Er ndung nimmt: die Geschichte selbst. 31 Die dabei unterschwellig beklagte Unwilligkeit der Leserschaft, die Semantisierung der Details wahrzunehmen oder überhaupt in Erwägung zu ziehen, erklärt auch Fontanes Unmut über das Urteil einer ‚Schach‘-Leserin, den er gegenüber seiner Gattin Emilie (1824-1902) äußert: Aber das Urtheil: ‚es ist so spannend; man kennt ja fast alle Straßen- Namen‘ hat doch einen furchtbaren Eindruck auf mich gemacht. Nicht als ob ich der Frau zürnte; wie könnt’ ich auch! Im Gegentheil, es ist mir bei aller Schmerzlichkeit in gewissem Sinne angenehm gewesen, mal so naiv sprechen zu hören. Im Irrthum über die Dinge zu bleiben, ist oft gut; aber klar zu sehn, ist oft auch gut. Das ist nun also das gebildete Publikum, für das man schreibt[.] 32 31 Theodor Fontane: Brief an Wilhelm Friedrich vom 19. Januar 1883. In: Ders.: Briefe an seine Freunde. Hrsg. von Otto Pniower und Paul Schlenther. Zweiter Band. Vierte Au age. Berlin 1910 (= Briefe Theodor Fontanes. Zweite Sammlung), S. 83-84, hier S. 84. In einem Brief an seine Frau Emilie berichtet Fontane vom märkischen Geschichtsverein, der eine Exkursion zum Schloß Wuthenow unternommen habe, „ein Schloß das nicht blos nicht existirt, sondern überhaupt nie existirt hat. [...] Einige der Theilnehmer haben aber bis zuletzt nach dem Schloß gesucht „wenigstens die Fundamente würden doch wohl noch zu sehen sein.““ (Theodor Fontane: Brief an Emilie Fontane vom 28. August 1882. In: Ebw3, S. 289-290.) 32 Theodor Fontane: Brief an Emilie Fontane vom 14. August 1883. In: Ebw3, S. 275-277, hier S. 276-277. <?page no="20"?> 8 Kapitel 1: Einleitung Vergleicht man Fontanes Aussage, dass bezüglich „Schach von Wuthenow“ alles erfunden sei, bis auf die Geschichte selbst, mit seinen Forderungen zur Aufgabe des zeitgenössischen Romans, so erscheint es wahrscheinlich, dass die Realien Fontanescher Romane - insbesondere die topographischen - in einer Art und Weise semantisiert sind, die der geforderten „Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung“ 33 Rechnung tragen. 34 Die Detailbeschreibungen sind demnach so aufbereitet, dass sie einerseits realistisch wirken, anderseits jedoch so arrangiert und manipuliert sind, dass sie das Romangeschehen erzählstrategisch unterstützen und ergänzen. Daher liegt der Schluss nahe, dass die immer wieder im Hinblick auf ihre Authentizität thematisierten literarischen Topographien 35 gerade, aufgrund poetologischer Überlegungen Fontanes, gezielte ‚Ungenauigkeiten‘ gegenüber der realen Topographie aufweisen. Beispielsweise bekundet Fontane zur Frage nach der topographischen Exaktheit seines Berliner Romans „Irrungen, Wirrungen“ (1888) in einem Brief, es sei ihm „selber fraglich, ob man von einem Balkon der Landgrafenstraße aus den Wilmersdorfer Kirchturm oder die Charlottenburger Kuppel sehen kann oder nicht.“ 36 Im Rahmen der Fontane oft attestierten „geographische[n], kartographische[n] wie allgemein topographische[n] Akkuratesse“ 37 sowie Detailverliebtheit 38 überrascht seine Bekundung und zwar umso mehr, weil der Autor während der Entstehungszeit des Romans Zugang zu einer Wohnung in ebenje- 33 Theodor Fontane: Das unverzerrte Widerspiel des Lebens (1886), S. 93. 34 Damit spielt Fontane auf einen zentralen Aspekt realistischer Literatur an, der mit dem Begri „‚Verklärung‘“ (Christian Begemann: Einleitung, S. 17.) umschrieben wird. Gemeint ist damit die „poetische Verdichtung, Überhöhung und Steigerung, aber auch Harmonisierung und Glättung von Widersprüchen [...]. Wenn die dargestellte Welt des poetischen Realismus also im Lichte der Verklärung erglänzen soll, dann muss sie schon hochgradig ästhetisch zugerichtet sein.“ (Ebd., S. 17-18.) 35 Vgl. hierzu beispielsweise Joachim Kleine: Wo eigentlich lag das Vorbild für die Dörrsche Gärtnerei? In: Fontane Blätter 94 (2012), S. 103-112, hier S. 106; Bernd W. Seiler: Fontanes Berlin. Die Hauptstadt in seinen Romanen. 2. Au age. Berlin 2011, S. 36 sowie Katharina Grätz: Tigerjagd in Altenbrak. Poetische Topographie in Theodor Fontanes „Cécile“. In: Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Hrsg. von Roland Berbig und Dirk Göttsche. Berlin, Boston 2013 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft; Band 9), S. 193-211, S. 196. 36 Theodor Fontane: Brief an Emil Schi vom 15. Februar 1888. In: Ders.: Briefe an seine Freunde. Hrsg. von Otto Pniower und Paul Schlenther. Zweiter Band. Vierte Au age. Berlin 1910 (= Briefe Theodor Fontanes. Zweite Sammlung), S. 147-148, hier S. 148. 37 Bruno Hillebrand: Mensch und Raum im Roman, S. 232. 38 Vgl. Ingo Meyer: Im „Banne der Wirklichkeit“? , S. 344. <?page no="21"?> 1.2 Fontanes Realitätseffekt oder ‚ars est celare artem‘ 9 ner Landgrafenstraße gehabt hat. 39 Folgt man jedoch mit Blick auf den Balkon in der Landgrafenstraße (Vgl. IW, S. 165.) der These, dass die vordergründig exakt anmutenden literarischen Topographien weitere Semantiken verbergen, so erweisen sich im Roman „Irrungen, Wirrungen“ die verschiedenen Blickpunkte des vor dem Rienäckerschen Balkon ausgebreiteten Stadtpanoramas als sprechende Details: Charlottenburger Schlosskuppel und Wilmersdorfer Kirchturm re ektieren topographisch Botho v. Rienäckers emotionales Schwanken zwischen seiner gegenwärtigen Repräsentationsehe mit Käthe v. Sellenthin und seiner früheren Liebesbeziehung zu Lene Nimptsch. 40 Jene arti zielle Ausgestaltung der literarischen Topographie kann bereits an der Arbeitsweise Fontanes abgelesen werden, die das Konstruierte der räumlichen Gestaltung erkennen lässt, denn noch vor der schriftstellerischen Ausarbeitung fertigt er Skizzen und Zeichnungen der jeweiligen Schauplätze an. 41 Außerdem beginnen Fontanes Romane oft mit einer akribischen Ortsschilderung, 42 die dem Leser bereits wichtige Hinweise auf das folgende Romangeschehen geben: 43 Die 39 Vgl. Otto Drude: Fontane und sein Berlin. Personen, Häuser, Straßen. Frankfurt am Main und Leipzig 1998, S. 257. 40 Vgl. hierzu ausführlicher Maria A. Schellstede: Mehr als ein literarisierter Stadtplan. Zur narrativen Kraft der Topographie in Theodor Fontanes Berliner Roman Irrungen, Wirrungen . In: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik & Literatur 26 (2014), S. 73-84, hier S. 80-81. 41 Vgl. Bruno Hillebrand: Mensch und Raum im Roman, S. 229; Winfried Nerdinger: Die Zeichnung des Dichters. In: Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur. Hrsg. von dems. In Zusammenarbeit mit Hilde Strobl. Mitarbeit Klaus Altenbucher, Irene Meissner, Leonhard Richter, Ulrike Steiner. München 2006, S. 340-409, hier S. 346. Angelika Corbineau-Ho mann sieht den Realismus als diejenige Epoche an, die Topographien hervorbringt, welche sich vom Handlungsort zum Bedeutungsträger emanzipieren. Sie bezieht sich dabei vor allem auf die beiden Schriftsteller Charles Dickens (1812-1870) und Honoré de Balzac (1799-1850) und deren akribisch geplante und inszenierte Schauplätze. (Vgl. Angelika Corbineau-Ho mann: Architekturen der Vorstellung. Ansätze zu einer Geschichte architektonischer Motive in der Literatur. In: Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur. Hrsg. von Winfried Nerdinger. In Zusammenarbeit mit Hilde Strobl. Mitarbeit Klaus Altenbucher, Irene Meissner, Leonhard Richter, Ulrike Steiner. München 2006, S. 27-39, hier S. 37.) 42 Vgl. Jost Schillemeit: Theodor Fontane. Geist und Kunst seines Alterswerkes. Zürich 1961 (= Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte; Heft 19), S. 27. 43 Vgl. beispielsweise Gunter H. Hertling: Theodor Fontanes Irrungen, Wirrungen . Die ‚Erste Seite‘ als Schlüssel zum Werk. New York 1985 (= Germanic Studies in America; No. 54), S. 23-26. <?page no="22"?> 10 Kapitel 1: Einleitung erste Romanseite bezeichnet er als „Keim des Ganzen“ 44 und äußert gegenüber Georg Friedländer in einem Brief vom 08. Juli 1894: „Man kann nicht Fleiß und Kritik genug auf das erste Kapitel verwenden, um der Leser willen, aber vor allem auch um der Sache willen; an den ersten 3 Seiten hängt immer die ganze Geschichte.“ 45 Es erscheint daher naheliegend, dass Fontane seine literarischen Detailbeschreibungen, insbesondere die Schauplätze, bewusst inszeniert hat und sich hierin di erenzierte narrative Strategien entdecken lassen, die das Handlungsgeschehen prä gurieren oder kommentieren und eng mit der Figurenpsyche verwoben sind. Mit Blick auf diese scheinbaren Kleinigkeiten, „die es in sich haben, intertextuell und poetologisch“, 46 sagt Fontane selbst: „Die Kunst ist kein Geschäft en gros, sondern en détail, auf den Einzelreichtum der Töne kommt es an; Klavier, nicht Pauke.“ 47 1.3 Topographien als Kultur(er)zeugnis Seit den 1980er Jahren ist ein gesteigertes Interesse an geographischen und raumtheoretischen Fragestellungen in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung zu verzeichnen, aus dem sich der sogenannte ‚topographical turn‘ 48 44 Theodor Fontane: Brief an Gustav Karpeles vom 18. August 1880. In: Ders.: Briefe an seine Freunde. Hrsg. von Otto Pniower und Paul Schlenther. Zweiter Band. Vierte Au age. Berlin 1910 (= Briefe Theodor Fontanes. Zweite Sammlung), S. 17-18, hier S. 17. 45 Theodor Fontane: Brief an Georg Friedlaender vom 08. Juli 1894. In: Ders.: Briefe an Georg Friedländer. Aufgrund der Edition von Kurt Schreinert und der Handschriften neu hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Walter Hettche. Mit einem Essay von Thomas Mann. Frankfurt am Main, Leipzig 1994, S. 350-353, hier S. 351. 46 Uwe Neumann: Die göttlichen Einzelheiten, S. 109. 47 Theodor Fontane: Friedrich von Schiller. Wallensteins Lager / Die Piccolomini / Wallensteins Tod. In: Ders.: Causerien über Theater. Teil 2. Hrsg. von Edgar Groß. München 1964 (= Sämtliche Werke; Band XXII/ 2. Abteilung 3. Fontane als Autobiograph, Lyriker, Kritiker und Essayist), S. 481-485, hier S. 483. 48 In den Geisteswissenschaften hat maßgeblich Sigrid Weigel diesen Begri geprägt. (Vgl. Sigrid Weigel: Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik 2, 2 (2002), S. 151-165.) Vgl. zum ‚topographical turn‘ und zur Abgrenzung zum ‚spatial turn‘, der eher in der Human- und der Kulturgeographie sowie Geschichtswissenschaft beheimatet <?page no="23"?> 1.3 Topographien als Kultur(er)zeugnis 11 entwickelt hat. 49 Dieser beschäftigt sich mit der kulturhistorischen Bedeutung des Raumes und dem symbolischen Charakter räumlicher Strukturen, beispielsweise als Verhandlungsraum gesellschaftlicher und historischer Prozesse. 50 Dabei manifestiert sich Kultur zuallererst in der Entwicklung von Topographien; 51 denn jene sind Spuren im Raum, die beispielsweise durch Bauten oder allgemeiner durch die Kultivierung eines Landstrichs erzeugt werden. 52 Hierbei nimmt die Architektur „eine besondere Funktion für die Produktion und Reproduktion kultureller Topographien ein“, 53 denn sie zementiert die symbolischen Ordnungen gleichsam dauerhaft. 54 ist, ausführlich Kirsten Wagner: Topographical Turn. In: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Stephan Günzel. Stuttgart 2010, S. 100-109, hier S. 100-101. „Dieser spatial turn ist kein homogenes Programm, vielmehr umfasst er subsumtiv eine Vielzahl von unterschiedlichen Fragestellungen, Methoden - und auch Raumbegriffen.“ (Lukas Waltl: Zur narratologischen Produktivität des Raums. Raumsemantische Untersuchungen an Texten Joseph Roths. In: Räume und Dinge. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Manfred Pfa enthaler, Stefanie Lerch, Katharina Schwabl und Dagmar Probst. Bielefeld 2014, S. 149-168, hier S. 149.) 49 Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 286-287. 50 Vgl. Sigrid Weigel: Zum ‚topographical turn‘ - Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, S. 160. 51 Vgl. Hartmut Böhme: Einleitung: Raum - Bewegung - Topographie. In: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Hrsg. von dems. Stuttgart 2005, S. IX-XXIII, hier S. XVIII. 52 Vgl. Kirsten Wagner: Topographical Turn, S. 107. „Das gilt auch, wenn es noch keine ‚Graphie‘ im Sinne von Schrift gibt. Auch der Pfad, das Haus, die Route [...], der Platz etc. ... all dies sind Graphien des Raumes“. (Hartmut Böhme: Einleitung: Raum - Bewegung - Topographie, S. XVIII.) Zur Topographie gehören neben der Kartographie auch Innenräume, denn das Wohnen kann als „erste Raumnahme“ (Ebd., S. XIII.) des Menschen betrachtet werden. 53 Kirsten Wagner: Topographical Turn, S. 107. 54 Vgl. ebd., S. 107. „Kulturell vorherrschende Normen [...] erfahren im Raum eine konkrete anschauliche Manifestation.“ (Wolfgang Hallet und Birgit Neumann: Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung. In: Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Hrsg. von dens. Bielefeld 2009, S. 11-32, hier S. 11.) „Dazu zählen insbesondere die Diskurse des Urbanen und der Architektur, die beide nicht nur Resultate der Kulturproduktion im Sinne von Notwendigkeit und Repräsentation sind, sondern ganz entscheidend das konstituieren, was wir als Kultur bezeichnen.“ (Michael Müller: Kultur der Stadt. Essays für eine Politik der Architektur. Bielefeld 2012, S. 11.) <?page no="24"?> 12 Kapitel 1: Einleitung Weil an räumlichen Strukturen das abgelesen werden kann, „was von selbst nicht sichtbar ist“, 55 erschöpft sich - so die These - die Funktion der literarischen Topographie nicht darin, die Handlung zu situieren; vielmehr kann sie als ein Schlüssel zur Interpretation dienen: 56 Dementsprechend wird der Raum „als eine Art Text betrachtet, dessen Zeichen oder Spuren [...] zu entzi ern sind“, 57 wobei sich der Begri der Topographie in der vorliegenden Arbeit „im weitesten Sinne auf die Konzeption, Ausgestaltung und Strukturierung der Gesamtheit von Schauplätzen, Landschaften und Umgebungen der ktionalen Welt“ 58 bezieht. 1.4 Fontanes topographischer Blick: „ich bin nämlich Kartenmensch“ Seit jeher gehört der Raum zu den „Grundkategorien des menschlichen Vorstellungsvermögens und Denkens überhaupt.“ 59 Insbesondere seit der Wende 55 Stephan Günzel: Einleitung. In: Raumwissenschaften. Hrsg. von dems. Frankfurt am Main 2009, S. 7-13, hier S. 11. Günzel bezieht sich hier auf Henri Lefebvres Werk „Die Produktion des Raumes“ (1974): „Der Raum ist ein Produkt, und eine Raumwissenschaft ist vor allem darauf verp ichtet, an räumlichen Strukturen das abzulesen, was von selbst nicht sichtbar ist.“ (Ebd., S. 11.) 56 Vgl. hierzu auch Barbara Piatti: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Göttingen 2008, S. 20. „Die Beschreibung von Architektur und die Platzierung der handelnden Personen in Räumen kann als ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis von Dichtung dienen. [...] [S]o können Einsichten in Inhalt und Struktur von Dichtungen daraus ermittelt werden, wo literarische Figuren agieren und welche Handlung mit welchem Ort verknüpft ist.“ (Winfried Nerdinger: Architektur wie sie im Buche steht. In: Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur. Hrsg. von dems. In Zusammenarbeit mit Hilde Strobl. Mitarbeit Klaus Altenbucher, Irene Meissner, Leonhard Richter, Ulrike Steiner. München 2006, S. 9-19, hier S. 11-12.) 57 Sigrid Weigel: Zum ‚topographical turn‘ - Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, S. 160. 58 Ansgar Nünning: Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung: Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven. In: Raum und Bewegung in der Literatur: Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Hrsg. von Wolfgang Hallet und Birgit Neumann. Bielefeld 2009, S. 33-52, hier S. 33. 59 Andreas Hjortmøller und Mattias Pirholt: Einführung. In: „Darum ist die Welt so groß“. Raum, Platz und Geographie im Werk Goethes. Hrsg. von Mattias Pirholt und Andreas Hjortmøller. Heidelberg 2014 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; Band 3), S. 11-18, hier S. 11. <?page no="25"?> 1.4 Fontanes topographischer Blick: „ich bin nämlich Kartenmensch“ 13 vom 18. zum 19. Jahrhundert gibt es ein gesteigertes Interesse für räumliche Fragestellungen, die von einer Etablierung der Geographie als eigenständiger akademischer Disziplin durch Alexander von Humboldt (1769-1859) und Carl Ritter (1779-1859) begleitet wird. 60 Zugleich äußert sich das Interesse für den Raum beispielsweise „in der wachsenden Bedeutung von Landkarten für politische und militärische Zwecke, vor allem aber auch im ö entlichen Interesse an den - zumeist imperialen - Praktiken der Raumerschließung und Raumerfassung.“ 61 Fontanes Lebenszeit (1819-1898) fällt in dasjenige Zeitalter, in dem Preußen vollständig kartographiert wird; ab 1816 entsteht die Preußische Generalstabskarte, die in der Folge Ausgangspunkt für die Karte des Deutschen Reichs im Maßstab 1: 100.000 wird, deren Fertigstellung wiederum im Jahr 1909 erfolgt. 62 „[D]er Begri des Raumes hat immer die Aufmerksamkeit der Philosophen, der Wissenschaftler, der Künstler und der Dichter auf sich gezogen. Man denke nur an derart unterschiedliche Phänomene als die Formulierung des geozentrischen Weltbildes, welches das ptolemäische ablöste, die Er ndung der Zentralperspektive, die Entdeckung der Neuen Welt, um zu erkennen, dass sich philosophische, wissenschaftliche, politische und ökonomische und nicht zuletzt ästhetische Paradigmenwechsel aus veränderten Raumvorstellungen und umgekehrt ablesen lassen. Diese Paradigmenwechsel werden wiederum in der Kunst und Literatur, ja in der gesamten Kultur, dargestellt. Durch ästhetische und anderweitige Darstellung wird der abstrakte Raumbegri konkretisiert und vorstellbar, seine Grenzen untersucht und seine Möglichkeiten transzendiert. Trotz der Unvergänglichkeit dieses Interesses an Räumlichkeit, kann man dennoch von einer „spatial turn“ in den Kultur- und Sozialwissenschaften reden, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts etablierte und um die Jahrhundertwende gewissermaßen zur Modetheorie kulminierte.“ (Ebd., S. 12. Vgl. hierzu auch Birgit Neumann: Raum und Erzählung. In: Handbuch Literatur & Raum. Hrsg. von Jörg Dünne und Andreas Mahler. Berlin, Boston 2015 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie; Band 3), S. 96-104, hier S. 96-97.) 60 Vgl. hierzu beispielsweise Hans-Dietrich Schultz: „Heldengeschichten“ oder: Wer hat die Geographie (neu) begründet, Alexander von Humboldt oder Carl Ritter? In: 1810-2010: 200 Jahre Geographie in Berlin. 2. verbesserte und erweiterte Au age. Hrsg. von Bernhard Nitz, dems. und Marlies Schulz. Berlin 2011 (= Berliner Geographische Arbeiten; Band 115), S. 1-49. 61 Michael C. Frank und Valeska Huber: Raum ktionen. Kartographie und Literatur um 1900. In: Magie der Geschichten: Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Michael Neumann und Kerstin Stüssel. Konstanz 2001, S. 239-263, hier S. 242-243. 62 Wolfgang Torge: Geschichte der Geodäsie in Deutschland. Berlin, Boston 2011, S. 143 und 247. In diesem Zusammenhang sei auch an die Preußische Ursowie Neuaufnahme erinnert, die ebenfalls beide während Fontanes Lebenszeit entstehen und die Grundlage <?page no="26"?> 14 Kapitel 1: Einleitung So ist auch bei ihm ein gesteigertes Interesse für Landkarten zu beobachten, wenn er in einem Brief vom 04. November 1896 an den Londoner Arzt James Morris (1826-1900) 63 bekundet: „ich bin nämlich Karten mensch, was etwas sehr Wichtiges ist, weil das Orientierungsbedürfnis, der Hang nach Klarheit damit zusammenhängt“. 64 Auch folgende berühmte Anekdote bezeugt ebenjene A nität zu Landkarten: Über dem Sofa, auf dem Fontane lag, mit einem langen Rohrstock in der Hand, hing eine große Karte von AFRIKA. Daneben stand Zöllner. Dieser rief kurz einen Ort, etwa: „Togo“, und sofort knallte der Rohrstock gegen die Karte. Nun wurde festgestellt, ob der Stock richtig getro en hatte, dann gings weiter: „Dar-es-Salaam“ - Knall - „Tanganjika“ - Knall, usw. So trieben die beiden alten Herren Erdkunde. 65 Seinen geostrategischen Blick auf Raumstrukturen schärft Fontane nicht zuletzt in seiner Funktion als Kriegsberichterstatter. Zu seinen wichtigsten Arbeitsmethoden gehört stets die Inaugenscheinnahme derjenigen Schauplätze, die er in seinem Werk darzustellen beabsichtigt. So hat Fontane für seine insgesamt drei Kriegsbücher Reisen zu den jeweiligen Kriegsschauplätzen unternommen. Die Reisen zu seinen Werken „Der Schleswig-Holsteinische Krieg“ (1864) und „Der deutsche Krieg“ (1866) haben dabei erst nach der militärischen Handlung stattgefunden: 66 für die Kartierung Preußens und später des Deutschen Reichs im Maßstab 1: 25.000 bilden. (Vgl. dazu Iris Schröder: Das Wissen von der ganzen Welt. Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790-1870. Paderborn 2011, S. 220.) 63 Fontane hat dem Schotten Morris im Jahr 1852 in London Deutschunterricht erteilt, woraus eine Freundschaft entstanden ist. (Vgl. hierzu Theodor Fontane und Martha Fontane: Ein Familienbriefnetz. Hrsg. von Regina Dieterle. Berlin, New York 2002 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft; Band 4), S. 815.) 64 Theodor Fontane: Brief an James Morris vom 04. November 1896. Auszugsweise in: Cc, Anmerkungen, S. 298. Hier sei an Fontanes Forderung erinnert, „daß zwischen dem erlebten und erdichteten Leben kein Unterschied [...] als der jener Intensität, Klarheit [...]“ (Theodor Fontane: Das unverzerrte Widerspiel des Lebens (1886), S. 93.) bestehen soll. 65 Eda Sagarra: Fontane in der globalisierten Welt. In: Realien des Realismus. Wissenschaft - Technik - Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa. Hrsg. von Stephan Braese und Anne-Kathrin Reulecke. Berlin 2010, S. 15-26, hier S. 18. 66 Vgl. Jan Pacholski: Das ganze Schlachtfeld - ein zauberhaftes Schauspiel. Theodor Fontane als Kriegsberichterstatter. Wrocław, Görlitz 2005, S. 27. Eine Ausnahme bildet hier der Krieg gegen Frankreich, bei dem Fontane im Oktober 1870 in Kriegsgefangenschaft gerät. Diese berühmt gewordene Episode hat den Eindruck <?page no="27"?> 1.4 Fontanes topographischer Blick: „ich bin nämlich Kartenmensch“ 15 Charakteristisch scheint hier die geringere Präsenz der Angaben über die eigentliche Militärhandlung zu sein, die Fontane später den verschiedensten Verö entlichungen entnommen hat. Bemerkenswert und sogar erstaunlich ist die große Genauigkeit aller topographischen Skizzen, Pläne und anderen Aufzeichnungen, auch wenn sie bei der ersten Betrachtung eher den Eindruck eines sehr schematischen Gekritzels machen. Mit wenigen stichwortartigen Formulierungen und mit noch weniger einfachen Linien und Punkten tri t Fontane das Wesentliche. 67 In Fontanes Nachlass nden sich unzählige dieser eigenhändig gezeichneten topographischen Skizzen, Pläne und Grundrisse. 68 Im Sommer 1853 besucht er eines vor allem investigativen Journalismus seitens Fontane vermittelt. (Vgl. zu Fontanes Kriegsgefangenschaft Jana Kittelmann: Theodor Fontane Kriegsgefangen. Erlebtes 1870 (1871). In: Übergänge, Brüche, Annäherungen. Beiträge zur Geschichte der Literatur im Saarland, in Lothringen, im Elsass, in Luxemburg und Belgien. Hrsg. von Hermann Gätje und Sikander Singh. Saarbrücken 2015 (= illimité; Band 1), S. 103-116.) 67 Jan Pacholski: Das ganze Schlachtfeld - ein zauberhaftes Schauspiel, S. 51. Dabei ist diese Vorgehensweise symptomatisch für Fontane: Während seiner Ortserkundungen hält er stets die Topographie in Form von üchtigen Bleistiftnotizen, Situationsskizzen und Zeichnungen in einem Notizbuch fest. Beispielsweise nden sich zwei Notizbücher zur Schlacht von Katzbach, das eine aus dem Jahr 1866 für seinen Kriegsbericht, das andere von 1872 für die Wanderungen. Ohne einen entsprechend beschrifteten Aufkleber hätte man das Notizbuch zu den Wanderungen auch für eine Vorarbeit zum Kriegsbuch halten können, „da es eine Fülle von Angaben zur Zusammenstellung der Truppenverbände, von Bemerkungen zur taktischen oder strategischen Bedeutung von Gewässern und Terrainerhebungen wie auch von schematischen Skizzen der Gegend mit der markierten Aufstellung der Streitkräfte enthält.“ (Ebd., S. 51.) Die „Umwandlung einer Karte in ein plastisch beschriebenes Landschaftsbild, in ein militärisches Terrain und in ein Schlachtengeschehen ist in den Kriegsbüchern eine der Grundtechniken seiner visuellen Imagination.“ (Gerhart von Graevenitz: Theodor Fontane: ängstliche Moderne. Über das Imaginäre. Konstanz 2014, S. 345.) Petra McGillen erweitert diesen Befund: „Das Skizzieren wird in den Notizbüchern lesbar als Strategie der Datensicherung, als Teil eines Aneignungsprozesses, aber auch als form ndende, explorative und anregende Praxis des Sehens mit dem Stift.“ (Petra McGillen: Die Karten-Ente oder Vom Sehen mit dem Bleistift. Zur Funktion der Skizzen in Theodor Fontanes Notizbüchern. In: Theodor Fontane. Hrsg. von Peer Trilcke. Dritte Au age. München 2019 (= Text + Kritik; Sonderband), S. 34-44, hier S. 43.) Diese Art des form ndenden Skizzierens wiederum regt Ordnungsprozesse an. (Vgl. ebd., S. 41.) 68 Vgl. Wolfgang E. Rost: Örtlichkeit und Schauplatz in Fontanes Werken. Berlin 1931 (= Germanisch und Deutsch. Studien zur Sprache und Kultur; Heft 6), S. 20-21 und Hans E. Pappenheim: Karten und Vermessungswesen im Scha en Theodor Fontanes. In: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 4 (1953), S. 26-34, hier S. 28. <?page no="28"?> 16 Kapitel 1: Einleitung beispielsweise das Moabiter Zellengefängnis und re ektiert in seinen ‚Wanderungen‘ die topographische Situierung des nach dem pennsylvanischen Modell gebauten Gefängnisses: Unmittelbar zur Rechten Pennsylvaniens erhebt sich der Neubau des Hamburger Bahnhofes. Welch höhnische Nachbarschaft! Allmorgens schrillt die Pfeife der Lokomotive, wie ein Signal der Freiheit, in die Zellen lebenslänglich Verurteilter hinüber und ndet ein still-lautes Echo in ihren Herzen. Ein stilles nur! Denn drohend von der anderen Seite, mit schlanken Türmchen den pennsylvanischen Massenbau fast überragend, erhebt sich eine Kaserne und sieht so siegessiecher auf ihren Nachbar herab wie die gewappnete Kraft auf einen gefesselten Sklaven. (W6, S. 223.) In seinem Bericht wird das Zellengefängnis und seine Umgebung gleichsam zur „sprechenden Topographie“, 69 wenn er aufzeigt, dass Architektur auch als eine Technik der Macht 70 zu verstehen ist. Überdies schult Fontane unter anderem in den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ (1862-1889) seinen geschichtlichen Blick auf Räume 71 und besitzt augenfällig „stark[e] topographisch[e] Interessen und [...] geographisch[e] Kenntnisse“. 72 69 Maria A. Schellstede: Mehr als ein literarisierter Stadtplan, S. 73. 70 Vgl. hierzu im Rekurs auf Michel Foucaults (1926-1984) Studie „Überwachen und Strafen“ (1975) Kirsten Wagner: Topographical Turn, S. 100. 71 „All unser Wissen von Geschichte haftet an Orten. [...] Es gibt keine Geschichte im Nirgendwo. [...] Alle Geschichte hat einen Ort.“ (Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit: Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Dritte Au age. Frankfurt am Main 2009, S. 70.) Fontane äußert zu seinem Verständnis von Geschichte und Ort im Vorwort zur zweiten Au age der ‚Grafschaft Ruppin‘: „Wenn Du reisen willst, mußt du die Geschichte dieses Landes kennen und lieben . Dies ist ganz unerläßlich. [...] Wer, unvertraut mit den Großtaten unserer Geschichte, zwischen Linum und Hakenberg hinfährt, rechts das Luch, links ein paar Sandhügel, der wird sich die Schirmmütze übers Gesicht ziehn und in der Wagenecke zu nicken suchen; wer aber weiß, hier el Froben, hier wurde das Regiment Dalwigk in Stücke gehauen, dies ist das Schlachtfeld von Fehrbellin, der wird sich aufrichten im Wagen und Luch und Heide plötzlich wie in wunderbarer Beleuchtung sehn.“ (W1, S. 5-6. Vgl. hierzu ausführlicher Carmen Aus der Au: Theodor Fontane als Kunstkritiker. Berlin, Boston 2017 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft; Band 11), S. 93-96.) 72 Hans E. Pappenheim: Karten und Vermessungswesen im Scha en Theodor Fontanes, S. 30. <?page no="29"?> 1.4 Fontanes topographischer Blick: „ich bin nämlich Kartenmensch“ 17 Seine langjährige Tätigkeit als Theaterkritiker 73 ergänzt die genannten Punkte durch einen szenographischen Blick auf Raumstrukturen, denn hierdurch wird er mit den Kulissen der Theaterbühne als semantisiertem und feinorchestriertem Raum 74 vertraut, der in seinem Brief an Georg Friedländer gleichsam im Bild des ‚Lebens als Bühne‘ ihren Niederschlag ndet: Ich betrachte das Leben, und ganz besonders das Gesellschaftliche darin, wie ein Theaterstück und folge jeder Scene mit einem künstlerischen Interesse wie von meinem Parquetplatz No. 23 aus. Alles spielt dabei mit, alles hat sein Gewicht und seine Bedeutung, auch das Kleinste, das Aeußerlichste. Von Spott und Ueberhebung ist keine Rede, nur Betrachtung, Prüfung, Abwägung. 75 Die hier anklingende „Übercodierung“, 76 in der „[...] alles sein Gewicht und seine Bedeutung [...]“ 77 hat, verweist erneut auf Fontanes Detailrealismus. Von Relevanz ist der genaue Blick auf das Detail gleichfalls für seine insgesamt vier Kriminalromane, namentlich „Grete Minde“ (1880), „Ellernklipp“ (1881), „Unterm Birnbaum“ (1885) sowie „Quitt“ (1890), wobei die beiden ersteren parallel zu seinem ersten Berliner Roman „L’Adultera“ (1882) entstehen. 78 Beim Verfassen seiner Kriminalromane dürfte sich einerseits Fontanes Blick für Details, aber auch seine Aufmerksamkeit gegenüber dem Schauplatz weiter ausgeprägt haben, 73 Beinahe zwanzig Jahre lang hat Fontane „diesen ‚Brotberuf‘ ausgeübt.“ (Tk4, S. 9.) 74 Vgl. hierzu ausführlicher Sabine Friedrich: Raum und Theatralität. In: Handbuch Literatur & Raum. Hrsg. von Jörg Dünne und Andreas Mahler. Berlin, Boston 2015 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie; Band 3), S. 105-114. 75 Theodor Fontane: Brief an Georg Friedlaender vom 5. Juli 1886. In: Ders.: Briefe an Georg Friedländer. Aufgrund der Edition von Kurt Schreinert und der Handschriften neu hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Walter Hettche. Mit einem Essay von Thomas Mann. Frankfurt am Main, Leipzig 1994, S. 60-61, S. 60. 76 Moritz Baßler: Metaphern des Realismus - realistische Metaphern. Wilhelm Raabes Die Innerste . In: Epoche und Metapher. Systematik und Geschichte kultureller Bildlichkeit. Hrsg. von Benjamin Specht. Berlin 2014 (= Spectrum Literaturwissenschaft; Band 43), S. 219-231, hier S. 230. 77 Theodor Fontane: Brief an Georg Friedlaender vom 5. Juli 1886, S. 60. 78 Die scharfe Trennung zwischen Fontanes frühen Schicksalsnovellen respektive Kriminalgeschichten und den späteren Gesellschaftsromanen, wie sie die Forschung bisweilen zieht, bewertet Wessels als absurd, denn die Entstehung fällt beinahe zusammen. (Vgl. hierzu Peter Wessels: Konvention und Konversation. Zu Fontanes ‚L’Adultera‘. In: Dichter und Leser. Studien zur Literatur. Hrsg. von Ferdinand van Ingen. Groningen 1972 (= Utrecht publications in general and comparative literature; Volume 14), S. 163-176, hier S. 167.) <?page no="30"?> 18 Kapitel 1: Einleitung denn Handlung und Schauplatz, in Form von Verbrechen und Tatort sind auf das Engste verknüpft. 1.5 Forschungsstand Im Fahrwasser einer in der literaturwissenschaftlichen Forschung seit Jahren zu beobachtenden Hinwendung zu räumlichen Themen und Fragestellungen, hat sich auch die Fontane-Forschung ausführlich mit je unterschiedlichen Schwerpunkten dem Thema Räumlichkeit gewidmet. Zu nennen sind hier Interieurbeschreibungen, 79 Großstadtdarstellungen, 80 Landpartien, 81 Grenzräume, 82 Topo- 79 Vgl. Michael Andermatt: Haus und Zimmer im Roman. Die Genese des erzählten Raums bei E. Marlitt, Th. Fontane und F. Kafka. Bern 1987 (= Zürcher germanistische Studien; Band 8), S. 77-168; Evgenij Volkov: Zum Begri des Raumes in Fontanes später Prosa. In: Fontane Blätter 63 (1997), S. 144-151; Uta Schürmann: Tickende Gehäuseuhren, gefährliches Sofa. Interieurbeschreibungen in Fontanes Romanen. In: Fontane Blätter 85 (2008), S. 115-131 sowie Norbert Wichard: Erzähltes Wohnen. Literarische Fortschreibungen eines Diskurskomplexes im bürgerlichen Zeitalter. Bielefeld 2012. 80 Vgl. Rüdiger Steinlein: Die Stadt als geselliger und als ‚karnevalisierter‘ Raum. Theodor Fontanes ‚Berliner Romane‘ in anderer Sicht. In: Das poetische Berlin. Metropolenkultur zwischen Gründerzeit und Nationalsozialismus. Hrsg. von Klaus Siebenhaar. Wiesbaden 1992, S. 41-68; Walter Hettche: Vom Wanderer zum Flaneur. Formen der Großstadt-Darstellung in Fontanes Prosa. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Geschichte, Vergessen, Großstadt, Moderne. Band 3. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger. Würzburg 2000 (= Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.-17. September 1998 in Potsdam), S. 149-160; Helen Chambers: Großstädter in der Provinz: Topographie bei Theodor Fontane und Joseph Roth. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Geschichte, Vergessen, Großstadt, Moderne. Band 3. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger. Würzburg 2000 (= Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.-17. September 1998 in Potsdam), S. 215-225; Hinrich C. Seeba: Berliner Adressen. Soziale Topographie und urbaner Realismus bei Theodor Fontane, Paul Lindau und Georg Hermann. Berlin 2018. 81 Vgl. Milena Bauer: Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes. Ritualisierte Grenzgänge. Berlin, Boston 2018 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft; Band 12) sowie Katharina Grätz: Landpartie und Sommerfrische. Der Aus ugsort in Fontanes literarischer Topographie. In: Magie der Geschichten: Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Michael Neumann und Kerstin Stüssel. Konstanz 2001, S. 77-92. 82 Vgl. Michael White: ‚Hier ist die Grenze [...]. Wollen wir darüber hinaus? ‘ Borders and Ambiguity in Theodor Fontane’s ‚Unwiederbringlich‘. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 129 (2010), S. 109-123. <?page no="31"?> 1.5 Forschungsstand 19 graphien des Fremden, 83 aber auch Reisen, 84 der Rekurs auf raumtheoretische Konzepte, 85 die „‚Ver-Räumlichung‘ historischen Wissens“ 86 und der Versuch einer exakten Verortung der literarischen Topographie. 87 Entsprechend konstatiert Katharina Grätz: 83 Vgl. Fontane und die Fremde, Fontane und Europa. Hrsg. von Konrad Ehlich. Würzburg 2002; Michael Andermatt: „Es rauscht und rauscht immer, aber es ist kein richtiges Leben.“ Zur Topographie des Fremden bei E Briest . In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Geschichte, Vergessen, Großstadt, Moderne. Band 3. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger. Würzburg 2000 (= Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.-17. September 1998 in Potsdam), S. 189-200. 84 Vgl. Christine Hehle: Unterweltsfahrten. Reisen als Erfahrung des Versagens im Erzählwerk Fontanes. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Geschichte, Vergessen, Großstadt, Moderne. Band 3. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger. Würzburg 2000 (= Internationales Symposium des Theodor- Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.-17. September 1998 in Potsdam), S. 65-76 sowie Katharina Grätz: Tigerjagd in Altenbrak, S. 193-211. 85 Vgl. Michael James White: Space in Theodor Fontane’s Works. Theme and Poetic Function. London 2012; Katrin Scheiding: Raumordnungen bei Theodor Fontane. Marburg 2012; Susanne Ledan : Raumpraktiken in den Romanen Theodor Fontanes. Mit besonderem Blick auf Michel de Certeaus Raumtheorie. In: Raumlektüren. Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne. Hrsg. von Tim Mehigan und Alan Corkhill. Bielefeld 2013, S. 147-166 sowie Nina Hirschbrunn: „Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.“ Die Semantik des Raumes bei Theodor Fontane. Heidelberg 2017 (= Dissertation an der dortigen Universität). Online abrufbar unter: http: / / www.ub.uni-heidelberg.de/ a rchiv/ 25332 (letzter Zugri am 20.02.2023). 86 Rolf Parr: Kleine und große Weltentwürfe. Theodor Fontanes mentale Karten. In: Theodor Fontane. Berlin, Brandenburg, Preußen, Deutschland, Europa und die Welt. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen, Richard Faber und Helmut Peitsch. Würzburg 2014 (= Fontaneana; Band 13), S. 17-40, hier S. 26. 87 Vgl. Olaf Briese: Die Verdichtung Berlins. Stadträume in Romanen Max Kretzers. In: Berlins 19. Jahrhundert. Ein Metropolen-Kompendium. Hrsg. von Roland Berbig, Iwan-M. D’Aprile, Helmut Peitsch und Erhard Schütz. Berlin 2011, S. 433-448; Susanne Ledan : Das Bild der Metropole. Berlin und Paris im Gesellschaftsroman Theodor Fontanes und in der Éducation sentimentale Gustave Flauberts. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Geschichte, Vergessen, Großstadt, Moderne. Band 3. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger. Würzburg 2000 (= Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.-17. September 1998 in Potsdam), S. 201-214; Peter Wruck: Fontanes Berlin. Durchlebte, erfahrene und dargestellte Wirklichkeit. In: Literarisches Leben in Berlin 1871-1933. Band 1. Hrsg. von dems. Berlin 1987, S. 22-87; Klaus R. Scherpe: Ort oder Raum? Fontanes literarische Topographie. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Geschichte, Vergessen, Großstadt, Moderne. Band 3. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger. Würzburg 2000 (= Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. <?page no="32"?> 20 Kapitel 1: Einleitung Der Blick auf die Forschung o enbart allerdings nicht allein, dass Raumgestaltung in Fontanes Texten viele Facetten besitzt, sondern auch, dass diese in ihrem Zusammenspiel bislang noch kaum beschrieben wurden. Es mangelt an einer systematischen Untersuchung zu Konstruktion und Bedeutung des Topographischen bei Fontane. 88 Auch wenn Grätz diese Kritik bereits im Jahr 2013 äußert, bleibt eine systematische Untersuchung der Fontaneschen Raumgestaltung bislang weiterhin ein Forschungsdesiderat. Aufgrund der zu erwartenden Ergiebigkeit des Themas beschränkt sich die vorliegende Arbeit auf nur einen Roman und zwar auf Fontanes ersten Berliner Roman „L’Adultera“. 89 Dieser soll allerdings sys- 13.-17. September 1998 in Potsdam), S. 161-169; Albrecht Kloepfer: Fontanes Berlin, S. 67-86 sowie Irmela von der Lühe: Fontanes Berlin. In: Orte der Literatur. Hrsg. von Werner Frick. Göttingen 2002, S. 189-206. Vgl. zum Versuch, die Schauplätze der Berliner Romane Fontanes auf dem Stadtplan zu verorten, Bernd W. Seiler: Fontanes Berlin. Vgl. zum Versuch, mittels Kartierung der Literatur Fiktion und Empirie in Einklang zu bringen, Joachim Kleine: Wo eigentlich lag das Vorbild für die Dörrsche Gärtnerei? , S. 103- 112 und ders.: Hankels Ablage bei Fontane. Wahrnehmung, Wirklichkeit, Verwandlung eines Ortes. In: Fontane Blätter 109 (2020), S. 130-144. 88 Katharina Grätz: Tigerjagd in Altenbrak, S. 196. 89 Fontane selbst spricht bei seinem Werk „L’Adultera“ immer nur von einer Novelle, die ebenjenen Zusatz zudem als Untertitel trägt. (Vgl. exemplarisch hierzu Gertrud Maria Rösch: Clavis Scientiae, S. 171.) Christian Grawe gibt bezüglich der Gattungsbezeichnung zu bedenken, dass diese keine „eindeutigen Schlüsse auf Charakter und Form seiner Werke“ erlauben, weil sie „pragmatisch, marktgerecht und unverbindlich“ (Christian Grawe: Der Fontanesche Roman. In: Fontane-Handbuch. Hrsg. von dems. und Helmuth Nürnberger. Stuttgart 2000, S. 466-488, hier S. 470.) benutzt würden. In der vorliegenden Arbeit ndet durchgehend die Gattungsbezeichnung Roman Verwendung. Dies korrespondiert damit, dass „L’Adultera“ bereits seit seiner Veröffentlichung als ‚Berliner Roman‘ angesehen wird, weil er überwiegend in Berlin spielt und sich damit thematisch in eine Gruppe von Romanen unterschiedlicher Autoren wie beispielsweise Max Kretzer (1854-1941), Paul Lindau (1839-1919) und Fritz Mauthner (1849-1923) einreiht, die thematisch Berlin und seine - seit der Reichsgründung von 1871 - neue Stellung als Reichshauptstadt in den Mittelpunkt rücken. (Vgl. hierzu Karl-Gert Kribben: Großstadt- und Vorstadtschauplätze in Theodor Fontanes Roman ‚Irrungen, Wirrungen‘. In: Studien zur deutschen Literatur. Festschrift für Adolf Beck zum siebzigsten Geburtstag. Hrsg. von Ulrich Fülleborn und Johannes Krogoll. Heidelberg 1979, S. 225-245, hier S. 225-226.) Dabei ist die mitunter vorgenommene Unterscheidung zwischen Ehe- und Gesellschaftsroman fragwürdig, denn der Ehebruch - oder allgemeiner eine ‚illegitime‘ Beziehung - wird als Angri auf die Gesellschaft gewertet, vor dieser ausgetragen und nach ihren Regeln verhandelt. (Vgl. Eva Geulen: Frauen vom Meer. Zum exzentrischen <?page no="33"?> 1.5 Forschungsstand 21 tematisch, also romanchronologisch und dabei jeden Schauplatz in den Blick nehmend mittels textnaher Einzeluntersuchungen auf die Bedeutung der literarisch konstruierten Räume, aber auch im Hinblick auf seinen Detailrealismus und dessen semantische Funktionen hin untersucht werden. Um der angenommenen „poetische[n] Übercodierung“ 90 des Textes auf die Schliche zu kommen und Bedeutungszusammenhänge zu erkennen, erscheint gerade eine fortlaufende Textanalyse unerlässlich. Jedes Erzählelement wird dabei als potentiell semantisch aufgeladen verstanden, denn zu den Besonderheiten realistischer Literatur gehört auch ihre „symbolische Durchdringung“. 91 Somit folgt diese Arbeit Fontanes Credo und Au orderung: „Der Zauber steckt immer im Detail. Also bitte, richten Sie hier auf Ihr Auge.“ 92 Ort von Theodor Fontanes „Unwiederbringlich“. In: Theodor Fontane. Hrsg. von Peer Trilcke. Dritte Au age. München 2019 (= Text + Kritik; Sonderband), S. 101-112, hier S. 111 sowie hierzu ähnlich Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. München 1989, S. 142.) Gleichzeitig inkludiert der Terminus des ‚Berliner Romans‘ auch den des Gesellschaftsromans, steht doch die Stadt Berlin synonym für ihre Gesellschaft und als preußische Hauptstadt auch synonym für die Gesellschaft des Gesamtstaates. Ähnlich konnotiert stellt Helmuth Nürnberger bezüglich Fontanes Aufenthalt in London fest: „Daß er die Hauptstadt als für das Land repräsentativ nimmt, ist für Fontane charakteristisch. Bewußt suchte er - ähnlich wie später in Berlin - die Nähe des „Schwungrades“, das die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Entscheidungen in Gang setzte.“ (Helmuth Nürnberger: Fontane und London. In: Rom - Paris - London: Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Ein Symposium. Hrsg. von Conrad Wiedemann. Stuttgart 1988, S. 648-661, hier S. 648.) Ergänzend hierzu sei Fontanes Brief an Paul Heyse vom 28. Juni 1860 erwähnt, in dem es heißt: „Wie man auch über Berlin spötteln mag, wie gern ich zugebe, daß es diesen Spott gelegentlich verdient, das Faktum ist doch schließlich nicht wegzuleugnen, daß das, was hier geschieht und nicht geschieht, direkt eingreift in die großen Weltbegebenheiten. Es ist mir Bedürfnis geworden, ein solches Schwungrad in nächster Nähe sausen zu hören[.]“ (Theodor Fontane: Brief an Paul Heyse vom 28. Juni 1860. Auszugsweise in: Roland Berbig: Theodor Fontane Chronik. Projektmitarbeit 1999-2004: Jose ne Kitzbichler. Band 2. Berlin, New York 2010, S. 1059.) 90 Moritz Baßler: Metaphern des Realismus - realistische Metaphern, S. 230. 91 Hugo Aust: Literatur des Realismus, S. 3. Ebenso erkennt Bernhard J. Dotzler in der Machart der Fontaneschen Romane eine Liebe zur Nebensächlichkeit, eine ausgeklügelte „Motivstruktur, in der sich das geringste Detail [...] zum Vorschein des erzählerischen Ganzen aufspreizt“. (Bernhard J. Dotzler: Echte Korrespondenzen. Fontanes Welt-Literatur. In: Realien des Realismus. Wissenschaft - Technik - Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa. Hrsg. von Stephan Braese und Anne-Kathrin Reulecke. Berlin 2010, S. 53-78, hier S. 61-62.) 92 Theodor Fontane: Brief an Georg Friedlaender vom 30. Mai 1893. In: Ders.: Briefe an Georg Friedländer. Aufgrund der Edition von Kurt Schreinert und der Handschriften <?page no="34"?> 22 Kapitel 1: Einleitung 1.6 Zur Rezeptionsgeschichte von „L’Adultera“ Im Juni und Juli 1880 erscheint Fontanes „L’Adultera“ als Vorabdruck in der Zeitschrift „Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift“ und wird 1882 als Buch veröffentlicht. 93 Mit der Niederschrift seines ersten Berliner Romans beginnt Fontane im Dezember 1879, 94 der nach „Vor dem Sturm“ (1878), „Grete Minde“ (1880) und „Ellernklipp“ (1881) sein vierter Roman überhaupt ist. 95 Während seine vorherigen Romane in längst vergangenen Epochen spielen, verhandelt „L’Adultera“ einen aktuellen Skandal, der sich in der Berliner Gesellschaft in den Jahren 1874 bis 1876 zugetragen hat: 96 Therese von Kusserow neu hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Walter Hettche. Mit einem Essay von Thomas Mann. Frankfurt am Main, Leipzig 1994, S. 299-301, hier S. 300. 93 Vgl. Sabina Becker: ‚Wiederhergestellte‘ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit. Theodor Fontanes Roman L’Adultera . In: „Weiber weiblich, Männer männlich“? Zum Geschlechterdiskurs in Theodor Fontanes Romanen. Hrsg. von ders. und Sascha Kiefer. Tübingen 2005, S. 127-158, hier S. 153. 94 Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen. Eine textgenetische Studie zu Theodor Fontanes „L’Adultera“. Würzburg 2002 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft; Band 358), S. 35. Zahlreiche Vorstudien zu anderen Projekten, insbesondere der im Jahr 1878 begonnene und Fragment gebliebene Roman „Allerlei Glück“, erleichtern und beschleunigen Fontanes Arbeit an „L’Adultera“. (Vgl. hierzu Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘. Ein Nachwort. In: Theodor Fontane: L’Adultera. Mit einem Nachwort, einer Zeittafel zu Fontane, Anmerkungen und bibliographischen Hinweisen von Dirk Mende. München 1997, S. 162- 260, hier S. 182.) Genanntes Fragment wird später auch deshalb nicht vollendet, weil Fontane nach eigenem Bekunden bereits zu viel Material hieraus in seinen anderen Romanen verarbeitet habe. (Vgl. hierzu Harald Tanzer: Theodor Fontanes Berliner Doppelroman ‚Die Poggenpuhls‘ und ‚Mathilde Möring‘. Ein Erzählkunstwerk zwischen Tradition und Moderne. Paderborn 1997 (= Kasseler Studien zur deutschsprachigen Literaturgeschichte; Band 9), S. 15.) 95 Vgl. Gerhard Neumann: Speisesaal und Gemäldegalerie. Die Geburt des Erzählens aus der bildenden Kunst: Fontanes Roman „L’Adultera“. In: Roman und Ästhetik im 19. Jahrhundert. Festschrift für Christian Grawe zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Tim Mehigan und Gerhard Sauder. St. Ingbert 2001 (= Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft; Band 69), S. 139-170, hier S. 142. 96 Zeitgleich arbeitet Fontane am Roman „Schach von Wuthenow“, der ebenfalls einen realen Vorfall in der Berliner Gesellschaft thematisiert, allerdings wie seine bisherigen Romane in der Vergangenheit spielt. (Vgl. Henry Garland: The Berlin Novels of Theodor Fontane. Oxford 1980, S. 47.) Dabei haben Fontanes Romane oft ein tatsächliches Ereignis als Ausgangspunkt für die Geschichte. (Vgl. Christian Grawe: Cécile: Fürstenmätresse in bürgerlicher Zeit. In: Ders.: „Der Zauber steckt immer im Detail“. Studien zu Theodor Fontane und seinem Werk 1976-2002. Dunedin 2002 (= Otago German Studies; Volume 16), S. 267-283, hier S. 267.) <?page no="35"?> 1.6 Zur Rezeptionsgeschichte von „L’Adultera“ 23 (1845-1912) heiratet 1866 den Kommerzienrat Jacob Frédéric Louis Ravené (1823- 1879), 97 der aus einer traditionsreichen, hugenottischen Unternehmerfamilie stammt. Ravené ist nicht nur Geschäftsmann, sondern auch Kunstsammler und unterhält eine stadtbekannte Gemäldegalerie. 98 Aus der Ehe gehen drei Kinder hervor. 1874 verlässt Therese ihren Gatten und ieht mit ihrem Geliebten, dem Königsberger Kaufmann Gustav Simon zunächst nach Rom. Nach der Scheidung von Ravené heiratet Therese ihren Geliebten. Das Paar lässt sich in der Folge in Königsberg nieder, bekommt insgesamt acht Kinder und wird angesehenes Mitglied der dortigen Gesellschaft. 99 Die Rezeptionsgeschichte von „L’Adultera“ ist von Ablehnung gekennzeichnet. 100 Die Kritik seiner Zeitgenossen etwa veranlasst Fontane noch im Jahr 1894 seinen Roman gegenüber dem Schweizer Journalisten und Autor Joseph Viktor Widmann (1842-1911) zu verteidigen: Meine L’Adultera-Geschichte hat mir damals [...] viel Anerkennung, aber auch viel Ärger und Angri e eingetragen. Seitens der Lobredner hieß es: „Da haben wir wieder einen Berliner Roman“, aber die Philister und Tugendwächter [...] beschuldigten mich, neben andrem, der Indiskretion. Sie gingen davon aus - und dies erklärt manches -, ich sei so was wie ein geweihter Hausfreund in dem hier geschilderten Ravenéschen Hause gewesen. Dies war nun aber ganz falsch. [...] Ich denke, in solchem Falle hat ein Schriftsteller das Recht, ein Lied zu singen, das die Spatzen auf 97 Seit 1895 existiert im Berliner Gesundbrunnen die nach ihm benannte Ravenéstraße. (Vgl. Lexikon der Berliner Straßennamen. Hrsg. von Sylvia Lais und Hans-Jürgen Mende. Berlin 2004, S. 364-365.) 98 Vgl. Karl Baedeker: Mittel- und Norddeutschland. Handbuch für Reisende. Mit 29 Karten, 36 Plänen und mehreren Grundrissen. Siebzehnte Au age. Leipzig 1876, S. 9. 99 Zur Sto geschichte sowie zu Gemeinsamkeiten zwischen der Vorlage und Fontanes Roman sei auf die Arbeit der Enkelin Therese Wagner-Simon verwiesen. (Vgl. Therese Wagner-Simon: Das Urbild von Theodor Fontanes „L’Adultera“. Berlin 1992.) 100 Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Helen Chambers: The Changing Image of Theodor Fontane. Columbia 1997, S. 52-59 sowie Jocelyne Kolb: Historisches Vorbild und künstlerische Alchemie. Heine, Wagner und Antisemitismus in Fontanes L’Adultera . In: Lebendige Sozialgeschichte: Gedenkschrift für Peter Borowsky. Hrsg. von Rainer Hering und Rainer Nicolaysen. Wiesbaden 2003, S. 721-734, hier S. 722-724. Kolb bemerkt: „Der Roman galt in seiner positiven Auslegung als authentisch (die Naturalisten lobten ihn sehr), in seiner negativen als Schlüsselroman (mit Moralentrüstung). Erst in der heutigen Fontane-Forschung geht es umgekehrt zu. Man tadelt Fontane für einen verpfuschten Schluss, für Sentimentalität, für eine unbeholfene Erzählhaltung und für manch schlecht geratene Gestalt, lobt ihn dagegen für seine Behandlung einer Frau, deren Ehebruch zur Selbstständigkeit statt zum Selbstmord führt.“ (Ebd., S. 723.) <?page no="36"?> 24 Kapitel 1: Einleitung dem Dache zwitschern. Verwunderlich war nur, daß auch in Bezug auf die Nebenpersonen alles, in geradezu lächerlicher Weise, genau zutraf. Aber das erklärt sich wohl so, daß vieles in unserem gesellschaftlichen Leben so typisch ist, daß man, bei Kenntniß des Allgemeinzustandes, auch das Einzelne mit Notwendigkeit tre en muß. 101 Trotzdem hat Fontane seinen Verleger Salo Schottländer vor Romanverö entlichung gebeten, den Titel „L’Adultera“ gegen den Titel „Melanie Van der Straaten“ auszutauschen, 102 um nicht „einer trotz all ihrer Fehler sehr liebenswürdigen und ausgezeichneten Dame das grobe Wort ‚L’Adultera‘ ins Gesicht zu werfen.“ 103 Nicht nur die zeitgenössische Rezeption, sondern „auch ein erstaunlich großer Anteil der Sekundärliteratur des 20. Jahrhunderts, verurteilen die Erzählung“. 104 101 Theodor Fontane: Brief an Joseph Viktor Widmann vom 27. April 1894. In: Ders.: Dichter über sein Werk. Band 2. Hrsg. von Richard Brinkmann in Zusammenarbeit mit Waltraud Wiethölter. München 1977, S. 273-274. Einschränkend sei hierzu bemerkt, dass Emilie Fontane mit der Frau des Prokuristen der Firma Ravené befreundet ist, der wiederum den gemeinsamen Sohn von Therese und Jacob Ravené nach dessen Tod zu sich nimmt. (Vgl. hierzu Gertrud Maria Rösch: Clavis Scientiae, S. 172.) 102 Theodor Fontane: Brief an Salo Schottländer vom 11. September 1881. In: Ders.: Briefe an seine Freunde. Hrsg. von Otto Pniower und Paul Schlenther. Zweiter Band. Vierte Au age. Berlin 1910 (= Briefe Theodor Fontanes. Zweite Sammlung), S. 56. 103 Ebd., S. 56. 104 Marion Villmar-Doebeling: Theodor Fontane im Gegenlicht. Ein Beitrag zur Theorie des Essays und des Romans. Würzburg 2000 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft; Band 177), S. 91. Jürgen Kolbe spricht von Mängeln im Kunstcharakter, denn der Ehebruch sei nur schwach motiviert, (Vgl. Jürgen Kolbe: Goethes „Wahlverwandtschaften“ und der Roman des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1968 (= Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur; Band 7), S. 176.) während Peter Wessels das Werk insgesamt für misslungen hält. (Vgl. Peter Wessels: Konvention und Konversation, S. 174.) Walter Müller-Seidel spricht von einem „anspruchslose[n] Roman“ (Walter Müller-Seidel: Theodor Fontane, S. 16.) und kritisiert die scheinbar „mangelnde Originalität“. (Ebd., S. 169.) Peter Demetz nennt das Werk einen „Kitschroman“ (Peter Demetz: Theodor Fontane als Unterhaltungsautor. In: Trivialliteratur. Hrsg. von Annamaria Rucktäschel und Hans Dieter Zimmermann. München 1976, S. 190-204, hier S. 190.) Auch Helen Chambers kritisiert den Roman und bezeichnet Fontanes Techniken der Vorausdeutung als „hammer blows“. (Helen Elizabeth Chambers: Supernatural and Irrationanal Elements in the Works of Theodor Fontane. Stuttgart 1980 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; Band 82), S. 117.) <?page no="37"?> 1.6 Zur Rezeptionsgeschichte von „L’Adultera“ 25 Anlass zur Kritik gegenüber Fontanes „meistumstrittene[n] Roman“ 105 bietet insbesondere der - im Unterschied zu anderen zeitgenössischen Ehebruchsgeschichten - glückliche Romanausgang. 106 Dieser wird, obgleich er dem außerliterarischen Vorbild entspricht, in „der Forschung häu g als konstruiertes und utopisches Ende gelesen“. 107 Jene negative Bewertung hat zur Folge, dass sich - eingedenk der Vielzahl an Sekundärliteratur zu Fontane und insbesondere zu seinen Berliner Romanen - mit „L’Adultera“ vergleichsweise nur wenige Monographien beschäftigt haben. 108 Allerdings jedoch handelt es sich nicht nur um Fontanes ersten Berliner Roman, sondern zusätzlich um den Beginn einer Romanreihe, in der die Protagonisten durch ihre verwickelten Liebesangelegenheiten in ein Spannungsfeld zwischen individuellen und gesellschaftlichen Ansprüchen geraten. 109 Überdies bietet „L’Adultera“ einen innovativen wie in Fontanes Œuvre singulären Lösungsweg an, der die Versöhnung mit der Gesellschaft „unter Beibehaltung des individuellen Rechts“ 110 erlaubt. Vgl. zur negativen Bewertung ausführlicher die Überblicke bei Winfried Jung: Bildergespräche. Zur Funktion von Kunst und Kultur in Theodor Fontanes „L’Adultera“. Berlin 1991, S. 24-31 sowie Johanna Fürstenberg: Die Klatschgespräche in Theodor Fontanes Gesellschaftsromanen. Eine Analyse von „L’Adultera“ und „E Briest“. Hamburg 2011, S. 38-41. 105 Hugo Aust: Theodor Fontane. Ein Studienbuch. Tübingen, Basel 1998, S. 61. 106 „E Briest“ hingegen löst beim zeitgenössischen Publikum beispielsweise keinen Skandal aus. (Vgl. Wolfgang Matz: Die Kunst des Ehebruchs. Emma, Anna, E und ihre Männer. Göttingen 2015, S. 167.) 107 Hiltrud Bontrup: „... auch nur ein Bild“. Krankheit und Tod in ausgewählten Texten Theodor Fontanes. Hamburg, Berlin 2000 (= Argument Sonderband, Neue Folge; Band 276), S. 25. Der zeitgenössischen Praxis folgend, wäre die Ehebrecherin zu bestrafen und der Liebhaber vom Ehemann zum Duell zu fordern. (Vgl. Christian Grawe: L’Adultera. Novelle. In: Fontane-Handbuch. Hrsg. von dems. und Helmuth Nürnberger. Stuttgart 2000, S. 524-532, hier S. 529.) 108 Zu nennen sind hier Agni Da a: Gesellschaftsbild und Gesellschaftskritik in Fontanes Roman „L’Adultera“. Fernwald 1994; Winfried Jung: Bildergespräche; Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘; Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen; Humbert Settler: ‚L’Adultera‘ - Fontanes Ehebruchsgestaltung - auch im europäischen Vergleich. Flensburg 2001 sowie Gottfried Zeitz: Die poetologische Bedeutung des Romans „L’Adultera“ für die Epik Theodor Fontanes. Frankfurt am Main 1977. 109 Vgl. Christian Grawe: Der Fontanesche Roman, S. 475 sowie Wolfgang Matz: Die Kunst des Ehebruchs, S. 173. 110 Hanni Mittelmann: Die Utopie des weiblichen Glücks in den Romanen Theodor Fontanes. Bern, Frankfurt am Main, Las Vegas 1980 (= Germanic Studies in America; No. 36), S. 74. <?page no="38"?> 26 Kapitel 1: Einleitung 1.7 Finden und Erfinden: Fontanes arrangierte ‚Wirklichkeit‘ Aus Fontanes Bekundungen und Ansichten ergibt sich folgende Grundthese: Der Detailrealismus in Fontanes Roman „L’Adultera“ soll auf der einen Seite Authentizität simulieren, auf der anderen Seite wird diese vermeintliche Wirklichkeitsreferenz den erzählerischen Bedürfnissen angepasst: So ist etwa die literarische Figur Van der Straaten wie sein außerliterarisches Vorbild Ravené Gemäldesammler mit einer hauseigenen Gemäldegalerie. Während sich das im Roman erwähnte Gemälde „Die Mohrenwäsche“ (1841) tatsächlich in der Galerie Ravené be ndet und damit die Beziehung zwischen beiden Galerien hergestellt ist, hat sich die titelgebende Kopie von Tintorettos ‚Adultera‘ eben gerade nicht in der Sammlung Ravené befunden: Die Fakten ordnen sich den narrativen Erfordernissen und der Symbolik unter, deren Funktion Fontane gegenüber seinem Verleger als eine „rundere Rundung“ angegeben hatte. Hier wird mit der ktiven Einverleibung des Tintoretto-Gemäldes der exakte Wirklichkeitsbezug bereitwillig aufgegeben, um zu einer symbolisch aussagestarken Struktur zu gelangen. 111 Diese Mischung von Fakten und Fiktion hat Fontane selbst gegenüber seinem Verleger eingeräumt: „Es ist zwar alles verschleiert, aber doch nicht so, daß nicht jeder die Gestalt erraten könnte.“ 112 Daher steht insbesondere für die literarische Topographie zu vermuten, dass scheinbar realistische Details einer narrativen Strategie untergeordnet werden: Demnach suggeriert das literarische Berlin einerseits Deckungsgleichheit mit dem realen Berlin, andererseits jedoch werden die literarischen Topographien als kalkulierte narrative Strategien begri en. 113 111 Gertrud Maria Rösch: Clavis Scientiae, S. 173. 112 Theodor Fontane: Brief an Salo Schottländer vom 11. September 1881, S. 56. 113 Die Berlin-Bezüge wohnen dem Werk von Anfang an inne, werden jedoch in der weiteren Textgenese verdichtet. (Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 37.) Allein das überlieferte „L’Adultera“-Konvolut aus 614 Folioblättern belegt die Fülle an Dispositionen, Entwürfen und überarbeiteten Niederschriften. (Vgl. ebd., S. 287.) Dies deutet „nicht auf ein unbewußtes und verselbständigendes Schreiben hin, sondern vielmehr auf ein bewußtes Planen, ein sorgfältiges Organisieren und ein exaktes Konzipieren, das schließlich den strukturellen und inhaltlichen Rahmen für die ausformulierte Niederschrift bildet.“ (Gabriele Radecke: Fontanes Arbeitsweise. Textgenetische Studien zu „L’Adultera“. In: Theodor Fontane. Neue Wege der Forschung. Hrsg. von Bettina Plett. Darmstadt 2007, S. 212-229, hier S. 214.) Damit kann Radecke gleichfalls belegen, dass Fontanes Arbeitsweise kein ‚intuitives Schöpfertum‘ zugrunde liegt. (Vgl. ebd., S. 213.) <?page no="39"?> 1.7 Finden und Erfinden: Fontanes arrangierte ‚Wirklichkeit‘ 27 Aus diesem Grund beschäftigt sich die vorliegende Arbeit auch mit den Referenzen und Di erenzen der literarischen Schauplätze zur real-empirischen Topographie und ordnet sich in dieser Hinsicht dem Forschungsgebiet der Literaturgeographie zu. Deren Grundidee besteht darin, literarische Handlungsräume in ihrem Verhältnis zur außerliterarischen Wirklichkeit, zu realen Topographien, zu deuten: „Es geht somit um die Beziehung dieser beiden Felder, um die wechselseitige Erhellung von Text und Schauplatz, Literatur und Raum.“ 114 Gegen eine literaturgeographische Vorgehensweise wendet Klaus R. Scherpe ein, „daß es Orte oder Räume in der Literatur nur als Konstruktionen gibt: ihre topographische Verfassung ist sprachlich-symbolisch gefertigt.“ 115 Einerseits ist diese Feststellung trivial, etabliert doch beispielsweise der Roman „L’Adultera“ selbstredend eine ktionale Welt, die nicht mit der realen Welt zwischen den Jahren 1875 und 1877 identisch ist. Andererseits jedoch vergibt man „eine literaturwissenschaftliche Chance, würde man sämtliche Schauplätze und Handlungszonen auf dieselbe, nämlich auf die Stufe der totalen Fiktion stellen.“ 116 Denn insbesondere realistische Literatur bleibt über die „Nabelschnur der Referentialität“ 117 mit der real-empirischen Welt verbunden und hinter diesen Realitätsrefe- Für die Annahme eines scheinbar intuitiven Schöpfertums seien etwa Wolfgang Paulsen (Vgl. Wolfgang Paulsen: Im Banne der Melusine. Theodor Fontane und sein Werk. Bern, Frankfurt am Main, New York 1988, S. 180.) oder Karla Müller (Vgl. Karla Müller: Schloßgeschichten. Eine Studie zum Romanwerk Theodor Fontanes. München 1986, S. 19.) genannt. Letztere meint, Fontane entwerfe „seine Romanwelt nicht aus der Studierstube heraus“. (Ebd., S. 19.) 114 Barbara Piatti: Die Geographie der Literatur, S. 23. „Die Prämisse, der man sich im Gebiet der Literaturgeographie unterstellt, lautet: Es gibt Berührungspunkte zwischen ktionaler und realer Geographie. Literaturgeographie geht davon aus, muss davon ausgehen, dass eine referentielle Beziehung zwischen inner- und außerliterarischer Wirklichkeit besteht - in Abgrenzung zu Ansätzen, die solche wie auch immer geartete Referenzen schlicht in Abrede stellen.“ (Ebd., S. 25.) 115 Klaus R. Scherpe: Ort oder Raum, S. 163. Vgl. hierzu allgemein auch Rudolf Haller: Wirkliche und ktive Gegenstände. In: Ders.: Facta und Ficta. Studien zu ästhetischen Grundlagenfragen. Stuttgart 1986, S. 57-93, hier S. 82 und ähnlich Birgit Neumann: Raum und Erzählung, S. 97. 116 Barbara Piatti: Die Geographie der Literatur, S. 132. Vgl. hierzu auch Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegri in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001, S. 95. Ähnlich konnotiert erscheint Zipfel die postulierte Gleichheit von rein ktiven und realitätsbezogenen literarischen Orten als „zu teuer erkauft“. (Ebd., S. 95.) 117 Martin Swales: Epochenbuch Realismus. Romane und Erzählungen. Berlin 1997 (= Grundlagen der Germanistik; Band 32), S. 22. <?page no="40"?> 28 Kapitel 1: Einleitung renzen und -di erenzen - so die Prämisse der Literaturgeographie - verbergen sich poetologische Gründe. 118 Um die Referenzen und Di erenzen zwischen literarischen und empirischen Topographien und deren Funktionswert innerhalb der Romanlogik aufzudecken, werden historische Stadtpläne befragt: „In der Erwartung bzw. begründeten Ho nung, die Karte könne durch ihre graphische Generalisierung und Abstraktion [...] bestimmte Bedeutungen des Textes freilegen, die einem herkömmlichen close reading entgingen.“ 119 In diesem Sinne soll es nicht bei einem bloßen Benennen von Gemeinsamkeiten und Abweichungen bleiben; vielmehr sollen Zusammenhänge sichtbar gemacht werden, „die vor der kartographischen Visualisierung noch im Dunkeln lagen.“ 120 Mit einer Karte als Instrument der Interpretation muss sich dementsprechend mehr aussagen lassen, als ohne sie. 121 Neben der Frage nach der Referentialität zwischen ktiver und realer Topographie können Stadtpläne nach Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897) als Grundriss der Gesellschaft verstanden werden, 122 denn im „äußeren Erscheinungsbild der Stadt erscheint ihre geschichtlich gewachsene soziale Gliederung“, 123 so dass die Stadt zum „Spiegelbild ihres gesellschaftlichen Gefüges“ 124 wird. Oder um es mit Schickedanz aus dem ‚Stechlin‘ zu sagen: „Hausname, Straßenname, das ist überhaupt das Beste. Straßenname dauert noch länger als Denkmal.“ (DS, S. 140.) Die Schnittstelle, also das Spannungsverhältnis zwischen ktiver und empirischer Topographie, erö net neue Perspektiven: Gerade unter Berücksichtigung 118 Vgl. Barbara Piatti: Die Geographie der Literatur, S. 132. 119 Jörg Döring: Spatial Turn. In: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Stephan Günzel. Stuttgart 2010, S. 90-99, hier S. 93-94. 120 Barbara Piatti: Die Geographie der Literatur, S. 52. Vgl. zum wechselseitigen Verhältnis von Raum, Karte und Literatur ebenso Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur. München 2007, S. 68. 121 Vgl. hierzu Franco Moretti: Atlas des europäischen Romans. Wo die Literatur spielte. Übersetzt von Daniele dell’Agli. Köln 1999, S. 18. „Eine Karte wiegt tausend Worte auf, sagen die Kartographen; wohl wahr, aber doch in dem Sinn, daß sie tausend Worte provoziert: Zweifel aufkommen läßt, Neugier und Ideen weckt. Sie wirft neue Fragen auf und zwingt uns, nach neuen Lösungen zu suchen. Landkarten also als Arbeitswerkzeug.“ (Ebd., S. 13.) 122 Vgl. Wilhelm Heinrich Riehl: Der Stadtplan als Grundriss der Gesellschaft. In: Culturstadien aus drei Jahrhunderten. Hrsg. von dems. Augsburg 1859, S. 270-284 sowie Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 304. 123 Ebd., S. 305. 124 Ebd., S. 305. <?page no="41"?> 1.7 Finden und Erfinden: Fontanes arrangierte ‚Wirklichkeit‘ 29 eines obsessiven Kartographierens seitens Fontanes erscheint es lohnend, Abweichungen von den real-empirischen Topographien näher im Hinblick auf poetologische Überlegungen zu betrachten. Warum wird beispielsweise die Petristraße der empirischen Welt im Roman zur Große[n] Petristraße[? ] (5) 125 Während etwa Bernd W. Seiler hieraus eine kartographische Ungenauigkeit Fontanes herleitet, 126 sehe ich hierin vielmehr eine bewusst vorgenommene Veränderung, die zur Frage einlädt, ob jene Abweichung poetologische Gründe besitzt, die sich innerhalb der Erzähllogik erklären lassen? Warum, um eine weitere Abweichung zwischen ktiver und empirischer Topographie zu nennen, ist die literarische Sommervilla spreeabwärts am Nordwestrande des Thiergartens (8) verortet, während sich aber der real-weltliche Sommersitz der Familie Ravené auf der anderen Spreeseite in Moabit be ndet? 127 Auch die spätere Italienreise der Protagonisten soll auf eine angenommene, ihr zugrunde liegende Semantik hin befragt werden, denn Fontane beschäftigt sich während seiner eigenen Italienreise intensiv mit der Topographie Venedigs 128 und konstatiert über Rom: Was zu leisten war, ist geleistet worden. Ich habe die Lage der Stadt, der Straßen und Plätze, der Paläste und Kirchen, das Genrehafte, das Landschaftliche, wie ich mir einbilde, zur Genüge weg. Damit muß man sich zufrieden geben und wegen unerledigter Details sich nicht zu Tode grämen. 129 Gegenüber Emilie erklärt er sogar bezüglich der Ewigen Stadt: „Das Gefühl, „dies mußt du sehn“ hab’ ich nie, wenn nicht die Dinge entweder billig und bequem zu haben sind, oder meinen ganz speziellen Zwecken dienen.“ 130 125 Vgl. hierzu die Seiten 67 und 329 dieser Arbeit. 126 Vgl. Bernd W. Seiler: Fontanes Berlin, S. 36. Auch Norbert Wichard hält beiläu g fest, dass „es zum Teil Abweichungen in den Ortsnamen gibt.“ (Norbert Wichard: Berliner Wohnräume - Kulturraum Venedig, S. 63.) 127 Vgl. hierzu Seite 201 dieser Arbeit. 128 Sabine Engel: ‚Mit Kunstgeschichte unterhalte ich dich nicht.‘ Theodor Fontane, Venedig und ‚L’Adultera‘. In: Theodor Fontane: Dichter und Romancier. Seine Rezeption im 20. und 21. Jahrhundert. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen und Richard Faber. Würzburg 2015 (= Fontaneana; Band 14), S. 179-200, hier S. 184. 129 Theodor Fontane: Brief an Karl Zöllner vom 31. Oktober und 03. November 1874. In: Ders.: Briefe an seine Freunde. Hrsg. von Otto Pniower und Paul Schlenther. Erster Band. Vierte Au age. Berlin 1910 (= Briefe Theodor Fontanes. Zweite Sammlung), S. 344-346, hier S. 345. 130 Theodor Fontane: Brief an Emilie Fontane vom 28. August 1874. In: Ebw3, S. 22-23, hier S. 22. Vgl. hierzu auch Fußnote 97 auf Seite 265 dieser Arbeit. <?page no="42"?> 30 Kapitel 1: Einleitung Im Sinne von Fontanes Feststellung während seines Aufenthalts im Londoner Glaskristallpalast 131 im Jahr 1852, „Es ist etwas Eigenthümliches um die bloße Macht des Raums! “, 132 geht meine Arbeit der Frage nach, ob und wie Fontane seine Schauplätze und Detailschilderungen im Roman „L’Adultera“ inszeniert und welche di erenzierten erzählerischen Strategien sich insbesondere in seinen literarischen Raumkonstruktionen und -darstellungen entdecken lassen. 131 Der Londoner Kristallpalast wird anlässlich der Weltausstellung von 1851 im Hyde Park erbaut und gilt als zeitgenössischer „Wahrnehmungsschock“. (Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. 6. Au age. Frankfurt am Main 2015, S. 46.) Die Besucher haben es nicht vermocht, die Entfernungen des Gebäudes richtig einzuschätzen, denn die Glas ächen haben dem Auge keinen Halt geboten und gemeinsam mit dem fehlenden Schattenwurf eine „unendliche Perspektive“ (Niels Werber und Esther Ruelfs: Techniken der Zeit- und Raummanipulation. Die Form des Treibhauses im 19. Jahrhundert. In: Romantik und Ästhetizismus. Festschrift für Paul Gerhard Klussmann. Hrsg. von Bettina Gruber und Gerhard Plumpe. Würzburg 1999, S. 255-288, hier S. 264.) erzeugt. 132 Theodor Fontane: Ein Sommer in London. Dessau 1854, S. 7. <?page no="43"?> 2 Szenen einer Ehe 2.1 „Commercienrath Van der Straaten, Große Petristraße 4“ Der Commercienrath Van der Straaten, Große Petristraße 4, war einer der vollgiltigsten Financiers der Hauptstadt, eine Thatsache, die dadurch wenig alterirt wurde, daß er mehr eines geschäftlichen als eines persönlichen Ansehens genoß. An der Börse galt er bedingungslos, in der Gesellschaft nur bedingungsweise. (5) Noch vor weiteren Spezi zierungen durch den Erzähler lässt der erste Satz des Romans die Figur Van der Straaten als eine ihrer Anlage nach spannungsreiche erkennen: So kontrastiert der sprechende Nachname Van der Straaten 1 den Titel Commercienrath[,] (5) der ausschließlich an Großkau eute und Industrielle mit erheblichem Vermögen vergeben worden ist 2 und mit einem großen sozialen Prestige im preußischen respektive Wilhelminischen Staat einhergeht. 3 Dies 1 Das Niederdeutsche ‚van der Straaten‘ entspricht dem Hochdeutschen ‚von der Straße‘. (Vgl. dazu Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 106.) 2 Vgl. Maximilian Bergengruen: Ökonomisches Wagnis / Literarisches Risiko. Zu den Paradoxien des Kapitalerwerbs im Poetischen Realismus. In: Literatur als Wagnis, Literature as a Risk. Hrsg. von Monika Emanz. In Zusammenarbeit mit Georg Braungart, Achim Geisenhanslücke und Christine Lubkoll. Berlin, Boston 2013, S. 208-238, hier S. 211. 3 Vgl. exemplarisch Niels Freytag: Das Wilhelminische Kaiserreich 1890-1914. Paderborn 2018, S. 77-78. Überdies kann dem Tischgespräch des Abschiedsdiners entnommen werden, dass Van der Straaten nicht nur Kommerzienrat, sondern eigentlich Geheimer Kommerzienrat ist. Dies kommt im „[...] allen Geheimräten, wozu, in allem was Carlsbad und Teplitz angeht auch die Commerzienräthe gehören, ihre Brunnen- und Bäderkur zu verderben [...]“ (28) zum Ausdruck und erklärt seine überlegen[e] Vertraulichkeit (28) gegenüber seinem Schwager, dem Major v. Gryczinski, denn während der gewöhnliche ‚Rat‘ - wenn überhaupt ho ähig - dem Major im preußischen Hofreglement eher ebenbürtig ist, spielt der Geheimrat in einer anderen ‚Klasse‘. (Vgl. zum preußischen Hofreglement in seiner vom 07. Mai 1871 bis zum 18. Januar 1878 gültigen Fassung Rudolf von Stillfried-Alcántara: Ceremonial-Buch für den Königlich Preußischen Hof I-XII. Berlin 1877, Abschnitt 10, Beilage G.) Bestätigung erfährt diese These durch eine spätere Anmerkung Duquedes - „Er braucht diesen Schwager [...], es giebt Weniges, was nach oben hin so emp ehlt wie das [...]“ (45) -, denn andernfalls wäre Van der Straaten keine stichhaltige Empfeh- <?page no="44"?> 32 Kapitel 2: Szenen einer Ehe bestätigt sich sofort, denn obwohl jener Titel Zugang zu höheren Kreisen erlaubt, 4 ist Commercienrath Van der Straaten (5) gesellschaftlich nur bedingungsweise (5) akzeptiert: Es hatte dies, wenn man herum horchte, 5 seinen Grund zu sehr wesentlichem Theile darin, daß er zu wenig „draußen“ gewesen war und die Gelegenheit versäumt hatte, sich einen allgemein giltigen Weltschli oder auch nur die seiner Lebensstellung entsprechenden Allüren anzueignen. (5) Der von der Gesellschaft für einen Kommerzienrat geforderte Weltschli (5) 6 steht dabei zusätzlich im Widerspruch zu seinem speci sch localen Stempel wie seine Vorliebe für drastische Sprüchwörter und heimische „ge ügelte Worte“ 7 von der derberen Observanz[.] (5) Die widerspruchsvolle Figurenanlage wird dabei gleichfalls über die Adresse Große Petristraße (5) markiert: Die ktive Erweiterung der im 19. Jahrhundert in lung ‚nach oben‘, denn der Major hat selbst einen im Hofzeremoniell vertretenen Rang inne. Bekräftigt wird dies, wenn sich später Van der Straaten als baldiger „[...] Oberceremonienmeister [...]“ (83) ankündigt, denn ein derartiger Aufstieg wäre andernfalls im Lichte der Hofrangordnung unwahrscheinlich. (Vgl. zur vergleichbaren, jedoch in hiesiger Frage aufgrund ihrer Ausführlichkeit für den heutigen Leser leichter zu konsultierenden königlich sächsischen Hofrangordnung Wolf Graf und Eva Grä n Baudissin: Speemanns goldenes Buch der Sitte. Eine Hauskunde für Jedermann. Berlin, Stuttgart 1901, S. 1128-1134, insbesondere S. 1133-1134.) 4 Vgl. Georg Verweyen: Literarische Blamagen. Darstellung und Funktion eines peinlichen Topos in der deutschsprachigen Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts. Berlin 2009 (= Literatur und Kontext; Band 2), S. 216. 5 Am Beispiel der Eingangsszene von „Cécile“ (1887) analysiert Herman Meyer eine erzählperspektivische Verfahrensweise, die sich ohne Weiteres auch auf „L’Adultera“ übertragen lässt: Der Erzähler gibt den Anschein, sich den Protagonisten „von außen, mit den Augen der Gesellschaft“ (Herman Meyer: Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte. Stuttgart 1963, S. 207.) zu nähern, als stünden ihm lediglich deren „Wahrnehmungs- und Deutungsmuster“ (Ebd., S. 208.) zur Verfügung. Auf diese Weise wird der Leser subtil in einen Prozess des Beobachtens und Spekulierens involviert. (Vgl. ebd., S. 207.) 6 Aufgrund des verkehrsmäßigen Zusammenrückens der Welt gilt der sogenannte Weltschli im 19. Jahrhundert nicht nur als eine gewünschte, sondern geforderte Bildungsmaxime. (Vgl. dazu allgemein Edeltraud Ellinger: Das Bild der bürgerlichen Gesellschaft bei Theodor Fontane. Würzburg 1970, S. 223.) 7 Der Begri des ‚ge ügelten Wortes‘ geht auf Georg Büchmanns gleichnamige Sammlung zurück, die erstmals im Jahr 1864 erscheint. Durch ihren enormen Erfolg liegt diese 1877 bereits in ihrer 10. Au age vor. (Vgl. Georg Büchmann: Ge ügelte Worte. Der Citatenschatz des Deutschen Volks. Zehnte verbesserte und vermehrte Au age. Berlin 1877, S. 1.) <?page no="45"?> 2.1 „Commercienrath Van der Straaten, Große Petristraße 4“ 33 der außerliterarischen Wirklichkeit auf der Insel Cölln existierenden Petristraße 8 um den Zusatz Große (5) unterstreicht durch die implizierte Weitläu gkeit des Wohnortes die immense Finanzkraft 9 des Kommerzienrats. Hiermit weicht der Autor von der außerliterarischen Topographie deutlich ab, denn die auf den Petriplatz - Cöllns Zentrum 10 - mündende Petristraße gehört zu denjenigen gassenartigen Nebenstraßen, 11 die sich ihre „mittelalterliche Enge“ 12 bewahrt haben: „Nirgendwo war im Zentrum die Einwohnerdichte größer als in dem sogenannten Fischerkiez.“ 13 Deshalb entwickelt sich dieser Bereich bereits früh zu einer dicht bebauten „Arme-Leute-Gegend“. 14 Die im 19. Jahrhundert einsetzende Berliner Westwanderung 15 hat ihre Ursache auch darin, dass genanntes Gebiet 8 Die Petristraße existiert heute nicht mehr, weil in den 1960er Jahren das alte Straßennetz durch die Stadtplanung der DDR fast vollständig getilgt worden ist. Am früheren Petriplatz beispielsweise verläuft seitdem mit der neu gescha enen Gertraudenstraße eine sechsspurige Schnellstraße. (Vgl. Hans Stimmann: Schadow wohnte nicht in Ost-Berlin. Auf Spurensuche in der Altstadt. In: Berliner Altstadt. Von der DDR-Staatsmitte zur Stadtmitte. Hrsg. von dems. Berlin 2009, S. 14-37, hier S. 27.) 9 Der Titel Kommerzienrat ersetzt jegliche Prüfung der Kreditwürdigkeit, denn er bildet eine „beglaubigte institutionalisierte Form des materiellen Kapitals“. (Georg Verweyen: Literarische Blamagen, S. 217.) 10 Vgl. Hans Stimmann: Schadow wohnte nicht in Ost-Berlin, S. 27. 11 Vgl. zur Geschichte der Doppelstadt Berlin und Cölln exemplarisch Günter Peters: Kleine Berliner Stadtgeschichte. Von der Stadtgründung bis zur Bundeshauptstadt. Berlin 1995. 12 Ebd., S. 38. 13 Jörn Düwel: Die Sehnsucht nach Weite und Ordnung. Vom Verlust der Altstadt im 20. Jahrhundert. In: Berliner Altstadt. Von der DDR-Staatsmitte zur Stadtmitte. Hrsg. von Hans Stimmann. Berlin 2009, S. 38-72, hier S. 43. Das Gebiet der südlichen Spreeinsel ist zur Wilhelminischen Zeit „wie kein zweites in der Berliner Innenstadt von kleinen Parzellen mit niedriger Bebauung und engen Gassen gezeichnet.“ (Ebd., S. 43.) 14 Hans Stimmann: Schadow wohnte nicht in Ost-Berlin, S. 15. Entsprechend hat die Petristraße ab dem 14. Jahrhundert bis zum Jahr 1816 den Straßennamen Lappstraße getragen, weil sich hier vor allem die als ‚Lapper‘ bezeichneten Flickschuster und Flickschneider niedergelassen haben. (Vgl. Lexikon der Berliner Straßennamen. Hrsg. von Sylvia Lais und Hans-Jürgen Mende, S. 322.) Der Teil zwischen Rittergasse und Friedrichsgracht ist erst im 15. Jahrhundert entstanden und ist daher zunächst Neue Lappstraße genannt worden. (Vgl. ebd., S. 322.) 15 Der sogenannte ‚Zug nach Westen‘ bezeichnet die zur Romanzeit dominante Stadtentwicklung in westliche Richtung. (Vgl. Volker Wagner: Die Dorotheenstadt im 19. Jahrhundert. Vom vorstädtischen Wohnviertel barocker Prägung zu einem Teil der modernen Berliner City. Berlin, New York 1998 (= Verö entlichung der Historischen Kommission zu Berlin; Band 94), S. 577.) Ebenso trägt einer der Berliner Romane von Paul Lindau (1839-1919) den Titel „Der Zug nach dem Westen“ (1886-1888). Paul Lindau ist zudem der Herausgeber der Zeitschrift „Nord und Süd“, in der „L’Adultera“ bereits <?page no="46"?> 34 Kapitel 2: Szenen einer Ehe nie saniert worden ist. 16 Diesem Versäumnis entspricht zugleich die Van der Straatensche Geisteshaltung: Er sähe mithin nicht ein, warum er an sich arbeiten und sich Unbequemlichkeiten machen solle. [...] Er zög’ es deshalb vor, Alles beim Alten zu belassen. (6) Betrachtet man die Petristraße auf einem zeitgenössischen Stadtplan, 17 so fällt auf, dass diese im Unterschied zu den beiden Nachbarstraßen keine Brückenverbindung zu den angrenzenden Stadtteilen hält. Diese topographisch abgeschnittene Lage der Straße, die zwischen der Friedrichsgracht an der Spree und dem Petriplatz gleichsam gefangen ist, sowie die Lage Cöllns als einer vollkommenen Insel 18 korrespondiert mit Van der Straatens nur bedingungsweise[m] (5) persönlichen Ansehe[n] (5) in der Berliner Gesellschaft. Dabei haben in der Cöllner Altstadt im 19. Jahrhundert jedoch nicht nur „Handwerker und arme Leute“ 19 gelebt, sondern auch zugleich die „Elite des bürgerlichen Berlin“. 20 So weist der Baedeker von 1887 dieses Gebiet als vornehme Adresse in Schlossnähe aus. 21 Die ambivalente Topographie Cöllns entspricht dabei au allend dem Charakter und Ansehen des Kommerzienrats, der sich gerne in Gegensätzen bewegt. (Vgl. 16) So gehört er zwar zur monetären Elite Berlins, benimmt sich jedoch des Öfteren so, „[...] als hätt’ er keine Bildung nich un wäre von’n Wedding oder so [...].“ (111) 22 1880 vor dem eigentlichen Buchdruck 1882 erscheint. (Vgl. beispielsweise Otto Drude: Fontane und sein Berlin, S. 218-219.) 16 Vgl. Jörn Düwel: Die Sehnsucht nach Weite und Ordnung, S. 43. Vor allem der sogenannte Fischerkiez, aber auch andere Altstadtquartiere sind daher in den 1930er-Jahren als „Slums“ (Ebd., S. 44.) bezeichnet worden. Letztlich hat auch der katastrophale bauliche Zustand dieses Gebietes zur Tilgung des alten Straßennetzes in den 1960er-Jahren erheblich beigetragen. (Vgl. hierzu ebd., S. 44.) 17 Vgl. hierzu exemplarisch EG1875, Planquadrat D6 und SEB1880 sowie JS1910, Blatt III. A. 18 Vgl. Friedrich Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. von P. M. Mitchell, Hans-Gert Rolo und Erhard Weidl. Band 8. Historische Schriften. Teil 1. Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam. Bearbeitet von Ingeborg Spriewald. Bern, Berlin, Frankfurt am Main 1995 (= Berliner Ausgaben), S. 110. 19 Hans Stimmann: Schadow wohnte nicht in Ost-Berlin, S. 15. 20 Ebd., S. 15. Das Areal trägt seit 1969 den Namen ‚Fischerinsel‘, der die städtischen Altbauten Cöllns „gleichsam zu „Fischerhütten“ abquali ziert.“ (Felix Escher: Die Mitte Berlins. Geschichte einer Doppelstadt. Berlin 2017, S. 146.) 21 Vgl. Karl Baedeker: Berlin und Umgebungen. Handbuch für Reisende. Mit 3 Karten, 5 Plänen und vielen Grundrissen. Fünfte Au age. Leipzig 1887, S. 104. 22 Zu dieser Einschätzung gelangt die Hausangestellte Christel, die seit über zwanzig Jahren im Dienst der Familie Van der Straaten steht. (Vgl. 108) Nebenbei zeigt sich hierin auch, <?page no="47"?> 2.1 „Commercienrath Van der Straaten, Große Petristraße 4“ 35 Van der Straatens sorgloser Umgang mit ‚ge ügelten Worten‘, seine Berolinismen und Cynismen (6) verletzen dabei den gesellschaftlichen Ton, 23 weshalb er wiederholt zum Thema des allgemeinen gesellschaftlichen Klatsches wird. (Vgl. 41, 42) An einer seiner üblichen, scherzhaften Repartis, ein Zug seines Wesens, der sich schon bei Vorstellungen in der Gesellschaft zu zeigen p egte[,] (6) lässt der Erzähler den Leser sogleich teilhaben: Denn die bei diesen und ähnlichen Gelegenheiten nie ausbleibende Frage nach seinen näheren oder ferneren Beziehungen zu dem Gutzkow’schen Vanderstraaten, ward er nicht müde, prompt und beinahe paragraphenweise dahin zu beantworten, daß er jede Verwandtschaft mit dem von der Bühne her so bekannt gewordenen Manasse Vanderstraaten ablehnen müsse, 1. weil er seinen Namen nicht einwortig sondern dreiwortig schreibe, 2. weil er trotz seines Vornamens Ezechiel, nicht blos überhaupt getauft worden sei, sondern auch das nicht jedem Preußen zu Theil werdende Glück gehabt habe, durch einen evangelischen Bischof, und zwar durch den alten Bischof Roß, in die christliche Gemeinschaft aufgenommen zu sein, und 3. und letztens weil er seit längerer Zeit des Vorzugs genieße, die Honneurs seines Hauses nicht durch eine Judith, sondern durch eine Melanie machen lassen zu können, durch eine Melanie, die, zu weiterem Unterschiede, nicht seine Tochter, sondern seine „Gemahlin“ sei. (6-7) 24 In seiner humorigen Erwiderung zu einer möglichen Verwandtschaft mit der Bühnen gur Manasse Vanderstraaten o enbaren sich dem Leser weitere Spannungen innerhalb der Figurenanlage des Kommerzienrats: Erstens verschiebt der dezidierte Hinweis auf die Unterscheidung der einwortigen Schreibweise dass Klatschgespräche in weiten Gesellschaftsteilen zirkulieren. (Vgl. allgemein zum Klatsch in Fontanes Romanen Johanna Fürstenberg: Die Klatschgespräche in Theodor Fontanes Gesellschaftsromanen sowie Monika Wengerzink: Klatsch als Kommunikationsphänomen in Literatur und Presse. Ein Vergleich von Fontanes Gesellschaftsromanen und der deutschen Unterhaltungspresse. Frankfurt am Main, Berlin, Bern 1997.) 23 „Neben der rechten Tonlage, ist es wichtig, dialektfrei zu sprechen - van der Straatens Hang zu Berolinismen wird gleich dreimal ausdrücklich erwähnt.“ (Georg Verweyen: Literarische Blamagen, S. 219. Vgl. hierzu im Roman 6, 22, 36.) 24 Obwohl der Kommerzienrat Gemeinsamkeiten zu Manasse Vanderstraaten dezidiert von sich weist, sind diese dennoch augenfällig, denn beide sind an der Börse tätig, Kunstliebhaber mit Kopien aus Italien und Besitzer eines Landhauses mit Park. (Vgl. dazu ausführlicher Lieselotte Voss: Literarische Prä guration dargestellter Wirklichkeit bei Fontane. Zur Zitatstruktur seines Romanwerkes. München 1985, S. 290.) <?page no="48"?> 36 Kapitel 2: Szenen einer Ehe „Vanderstraaten“ hin zur dreiwortigen Variante „Van der Straaten“ die Betonung von der ersten auf die vorletzte Silbe, wodurch er zum sprechenden Namen gerät. 25 Zweitens verneint der Kommerzienrat jegliche Verwandtschaft zum jüdischen Manasse Vanderstraaten mit der Begründung, er sei - trotz seines Vornamens Ezechiel (6) - getauft. (Vgl. 6) Indem Van der Straaten die näheren oder ferneren Beziehungen (6) zur Bühnen gur einerseits evoziert und andererseits gleichzeitig ablehnt, 26 erscheint der Kommerzienrat als undurchsichtiger Charakter, (Vgl. 19) als etwas suspec[t.] (8) 27 Zugleich lässt der Anschein einer Vater-Tochter-Beziehung 28 zwischen ihm und seiner „Gemahlin“ (7) ein Kon iktpotential erkennen, denn dies Wort sprach er dann mit einer gewissen Feierlichkeit, in der Scherz und Ernst geschickt zusammenklangen. Aber der Ernst überwog, wenigstens in seinem Herzen. Und es konnte nicht anders sein, denn die junge Frau war fast noch mehr sein Stolz als sein Glück. Aelteste Tochter Jean de Caparoux’, eines Adligen aus der französischen Schweiz, der als Generalconsul eine lange Reihe von Jahren in der norddeutschen Hauptstadt gelebt hatte [...]. Ihr Vater starb früh, und statt eines gemuthmaßten großen Vermögens, fanden sich nur Debets über 25 Der Namenswahl liegen wie so oft bei Fontane zahlreiche Überlegungen zugrunde. Zunächst soll Van der Straaten den Namen Schleiden führen. (Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 55.) Während des schriftstellerischen Entstehungsprozesses besucht Fontane am 08. November 1879 die Au ührung von Karl Gutzkows (1811-1878) Drama „Uriel Acosta“ (1846) und schreibt hierzu eine Theaterkritik. (Vgl. Tk3, S. 255-256.) Radecke sieht in der Namensähnlichkeit zum dortigen Protagonisten Vanderstraaten einen Ein uss der außerliterarischen Wirklichkeit auf den Scha ensprozess des Romans. (Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 106.) 26 Van der Straatens ablehnende Haltung gegenüber jeglicher Ähnlichkeit zur Figur Manasse Vanderstraaten prä guriert dabei zugleich das glückliche Ende des Romans. (Vgl. Bettina Plett: L’Adultera „... kunstgemäß (Pardon) ...“ - Typisierung und Individualität. In: Fontanes Novellen und Romane. Hrsg. von Christian Grawe. Stuttgart 1991, S. 65-91, hier S. 73 und Hans Otto Horch: Von Cohn zu Isidor. Jüdische Namen und antijüdische Namenspolemik bei Theodor Fontane. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Der Preuße, die Juden, das Nationale. Band 1. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger. Würzburg 2000 (= Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.-17. September 1998 in Potsdam), S. 169-182, hier S. 175.) 27 Die Formulierung etwas suspec[t] (8) nährt die Frage nach einer jüdischen Herkunft Van der Straatens, wobei der Erzähler den Eindruck erweckt, als könne auch er die Frage nicht beantworten. (Vgl. auch Seite 61 sowie Fußnote 125 auf Seite 62 dieser Arbeit.) 28 Vgl. Henry Garland: The Berlin Novels of Theodor Fontane, S. 52. <?page no="49"?> 2.1 „Commercienrath Van der Straaten, Große Petristraße 4“ 37 Debets. Und um diese Zeit war es denn auch, daß der zweiundvierzigjährige Van der Straaten um die siebzehnjährige Melanie warb und ihre Hand erhielt. (7) Was zunächst di us als eine Mischung aus Scherz und Ernst beschrieben wird, entpuppt sich als „zeittypische Konvenienzehe“. 29 Dabei dient der adeligen Melanie de Caparoux die Heirat zur Konsolidierung ihrer verschuldeten Familie und steht dabei „symptomatisch für die sozialgeschichtliche Kräfteverschiebung zwischen Adel und Bourgeoisie“: 30 Der Adel kapitalisierte sich, und die Bourgeoisie feudalisierte sich. Der Adel, dessen Macht und Ein uß ungebrochen war, brauchte Geld und hatte zu wenig, um der Tradition, seinem Titel und Rang wie dem kostspieligen Kodex der Etikette genügen zu können; die Bourgeoisie, die sich ökonomisch hat durchsetzen können, hatte zwar Geld, aber es fehlte ihr das inbrünstig ersehnte soziale Prestige. 31 Entsprechend gilt dem Kommerzienrat seine adelige Ehefrau als Prestige- und Vorzeigeobjekt, denn sie ist fast noch mehr sein Stolz als sein Glück. (7) Die wesensmäßigen Unterschiede zwischen dem Bourgeois Van der Straaten und seiner adeligen Gattin werden dem Leser rasch vorgeführt, denn sie ist ganz und gar als das verwöhnte Kind eines reichen und vornehmen Hauses großgezogen und in all ihren Anlagen auf ’s Glücklichste herangebildet worden. Ihre heitere Grazie war fast noch größer als ihr Esprit und ihre Liebenswürdigkeit noch größer als Beides. (7) Während Melanie die gesellschaftlich geforderte Etikette beherrscht und Wert auf deren Einhaltung legt, (Vgl. 76-77, 141) entstammt Van der Straaten einem „[...] 29 Katharina Grätz: Alles kommt auf die Beleuchtung an, S. 128. 30 Ebd., S. 128. Über dieses Phänomen berichtet ebenso Fontane in seinen ‚Wanderungen‘: „1. Das Historische. Der Adel war die Gesellschaft, denn auch die höhere Beamtenschaft (Armee und Zivil) war Adel. 2. Nach den Befreiungskriegen bereitete sich ein Umschlag vor, erst langsam, dann rapide, desto rapider, je schneller sich der wirtschaftliche Umschlag vollzog: der Adel wurde arm, der Bürgerstand wurde reich.“ (W7, S. 33.) 31 Dirk Mende: Frauenleben. Bemerkungen zu Fontanes L’Adultera nebst Exkursen zu Cécile und E Briest . In: Fontane aus heutiger Sicht. Analysen und Interpretationen seines Werkes. Zehn Beiträge. Hrsg. von Hugo Aust. München 1980, S. 183-213, hier S. 187. <?page no="50"?> 38 Kapitel 2: Szenen einer Ehe sonderbare[n] Haus [...]“ (42) und ist von Jugend auf daran gewöhnt, Alles zu thun und zu sagen, was zu thun und zu sagen er lustig war. (5) Zugleich wird aufgrund des übergroßen Altersunterschiedes 32 die kommerzienrätliche Ehe innerhalb der Romanrealität gemeinhin als unpassend empfunden: (Vgl. 89, 108) Einige Freunde beider Häuser ermangelten selbstverständlich nicht, allerhand Trübes zu prophezeien. Aber sie schienen im Unrecht bleiben zu sollen. Zehn glückliche Jahre, glücklich für beide Theile, waren seitdem vergangen, Melanie lebte wie die Prinzeß im Märchen, und Van der Straaten seinerseits trug mit freudiger Ergebung seinen Necknamen „Ezel“, in den die junge Frau den langathmigen und etwas suspecten „Ezechiel“ umgewandelt hatte. (7-8) 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße 2.2.1 Auftritt der Kommerzienrätin [I]n ihrer Stadtwohnung [...], die, trotzdem sie altmodisch war, doch an Comfort nichts vermissen ließ[,] (8) p egen die Van der Straatens den Winter zuzubringen, weil diese für das gesellschaftliche Treiben der Saison eine größere Bequemlichkeit, als die spreeabwärts am Nordwestrande des Thiergartens gelegene Villa (8) bietet. Der erste Subscriptionsball war gewesen, vor zwei Tagen, und Van der Straaten und Frau nahmen wie gewöhnlich in dem hochpaneelirten Wohn- und Arbeitszimmer des Ersteren ihr gemeinschaftliches Frühstück ein. Von dem beinah unmittelbar vor ihrem Fenster aufragenden Petri- Kirchthurme 33 herab schlug es eben Neun und die kleine französische 32 Fontane hat den Altersunterschied zur außerliterarischen Vorlage - dem Fall Ravené - noch einmal um drei Jahre vergrößert. (Vgl. LA, Anmerkungen, S. 209.) 33 Die Petrikirche ist neben der Marien- und Nikolaikirche eine der drei Hauptkirchen Berlins. (Vgl. Hans Stimmann: Der Neubau von St. Petri. Fünf Testentwürfe zur ersten Diskussion. In: Berliner Altstadt. Von der DDR-Staatsmitte zur Stadtmitte. Hrsg. von dems. Berlin 2009, S. 129-139, hier S. 129.) Ab dem Jahr 1960 wird die gut erhaltene Petrikirche abgerissen. (Vgl. Hans Stimmann: Renaissance der Berliner Altstadt. Von der DDR-Staatsmitte zur Stadtmitte. In: Berliner Altstadt. Von der DDR-Staatsmitte zur Stadtmitte. Hrsg. von dems. Berlin 2009, S. 6-13, hier S. 11.) <?page no="51"?> 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße 39 Stutzuhr secundierte pünktlich, lief aber in ihrer Hast und Eile den dumpfen und langsamen Schlägen, die von draußen her laut wurden, weit voraus. Alles athmete Behagen, am meisten der Hausherr selbst, der, in einen Schaukelstuhl gelehnt und die Morgenzeitung in der Hand, abwechselnd seinen Ka ee und den Subscriptions-Ball-Bericht einschlürfte. Nur dann und wann ließ er seine Hand mit der Zeitung sinken und lachte. (8) Erst jetzt tritt Melanie Van der Straaten selbst in Erscheinung: „Was lachst Du wieder, Ezel[.]“ (8) Dieser allererste Satz der Protagonistin bezeugt durch seinen vorwurfsvollen Unterton ihre Ablehnung gegenüber Van der Straatens Habitus und bestätigt damit die zuvor dokumentierte heikle Grundkonstellation der kommerzienrätlichen Ehe. Durch die Art, wie sie gleichzeitig ausgerechnet ihre[n] linken 34 Morgenschuh kokettisch hin und her klappte[,] (8) o enbaren sich dem Leser subtil die sexuellen De zite der Ehe. 35 Das Zusammenspiel beider Aspekte sowie der große Altersunterschied können als Hinweis auf eine insgesamt unpassende eheliche Verbindung gedeutet werden. Abermals wiederholt Melanie ihre vorwurfsvolle Frage: „Was lachst Du wieder? Ich wette die Robe, die Du mir heute noch kaufen wirst, gegen Dein häßliches, rothes und mir zum Tort wieder schief umgeknotetes Halstuch, daß Du nichts gefunden hast als ein paar Zweideutigkeiten.“ (8-9) Melanies Wetteinsatz - eine neue Robe, vermutlich für den zweiten Subscriptionsball - unterstreicht sowohl die potente Kaufkraft des Kommerzienrats als auch die Tatsache, dass ökonomische Themen im Vordergrund der Van der Straatenschen Ehe stehen. Die beiden Subscriptionsbälle im königlichen Opernhaus gelten als die Wintervergnügungen an erster Stelle: 36 Finanzkräftige Bür- 34 Für den Roman „Irrungen, Wirrungen“ (1888) hat Xiaoqiao Wu die Analogie zwischen der räumlichen Position „links“ und einer unpassenden zwischenmenschlichen Beziehung beleuchtet. (Vgl. Xiaoqiao Wu: „links muss es ja sein“. Zur Mesalliance in Fontanes Berliner Roman Irrungen, Wirrungen . In: Fontane Blätter 77 (2004), S. 76-95.) Wu wertet die Verbindung zwischen der adeligen Melanie und dem bürgerlichen Van der Straaten ebenfalls als Mesalliance. (Vgl. Xiaoqiao Wu: Mesalliancen bei Theodor Fontane und Arthur Schnitzler. Eine Untersuchung zu Fontanes Irrungen, Wirrungen und Stine sowie Schnitzlers Liebelei und Der Weg ins Freie . Trier 2005 (= Schriftenreihe Literaturwissenschaft; Band 68), S. 192.) 35 Vgl. zum Schuh als Symbol „der Vagina und der sexuellen Attraktion“ (Sylvia Heudecker: Schuh. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 334-335.) 36 Vgl. Karl Baedeker: Berlin und Umgebungen (1887), S. 34. <?page no="52"?> 40 Kapitel 2: Szenen einer Ehe ger können gegen eine hohe Gebühr an den Bällen, die auch von Mitgliedern des Hofes besucht werden, teilnehmen. 37 So zeigt sich im Besuch des Balls die Zugehörigkeit zum Großbürgertum und die angestrebte Nähe zur hö schen Gesellschaft. Melanie vermutet, Van der Straatens Lachen sei dem Au nden von „Zweideutigkeiten“ (9) geschuldet, bei denen es sich in erster Linie um sexuelle Zweideutigkeiten handeln dürfte. (Vgl. 5) Eine Bestätigung hierzu gibt sein „rothes [...] Halstuch[.]“ (9) 38 Weil dieses allerdings von Melanie als hässlich 39 und „[...] schief umgeknote[t] [...]„ (9) beschrieben wird, und damit gleichsam wie stranguliert oder verklemmt erscheint, und ihr darüber hinaus zum Tort (9) gereicht, kann es als weiteres Indiz für sexuelle De zite innerhalb der Van der Straatenschen Ehe gedeutet werden. 40 Trotzdem das Frühstück als gemeinschaftliches (8) bezeichnet wird, steht es ganz im Zeichen des Hausherren, nicht nur, weil es in seinem Wohn- und Ar- 37 Vgl. LA, Anmerkungen, S. 210. 38 Die Farbe Rot steht allgemein für Erotik und erotische Verlockung. (Vgl. Judith Michelmann: Rot. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 304-305.) 39 Van der Straaten wird zu einem späteren Zeitpunkt sagen: „[...] Ich bewege mich nicht in Illusionen, am wenigsten über meinen äußeren Menschen [...].“ (114) 40 In einer anderen Lesart unterstreicht das Halstuch Van der Straatens Persönlichkeitsstruktur: Traditionell ist für jede Halstuchart eine eigene Farbe bestimmt. Da Van der Straaten ausdrücklich ein „rothes und [...] schief umgeknotetes Halstuch [...]“ (9) trägt, handelt es sich vermutlich um ein sogenanntes Gutschmecker-Halstuch: „Ein Tuch [...], in das eine drei bis vier Finger hohe Einlage (Binde) gelegt und das mehr um den Hals gewürgt, als fest angezogen wird“. (Bernh.[ard] Friedr.[ich] Voigt (Verlag): Cravatiana oder neueste Halstuch-Toilette für Herren, welche die modernsten Arten, das Halstuch zu tragen, die Angaben ihrer Formen und Farben, und launige Bemerkungen über ihren Ursprung, ihren politischen, physischen und moralischen Ein uß enthält. Nach dem Französischen. Zweite durchgesehene Au age. Nebst der Abbildung von 14 neuen Halstuchmoden. Ilmenau 1823, S. 71.) Dies korrespondiert nicht nur mit seinem Dasein als Feinschmecker[,] (24) sondern auch mit seinem normverletzendem Verhalten, denn während der Kommerzienrat ebenjenes Halstuch zum Frühstück gegen neun Uhr trägt, legt man es für gewöhnlich nicht vor ein oder zwei Uhr nachmittags, beziehungsweise, wenn es zum Abendschmaus getragen werden soll, sogar nicht vor dem Abend an, denn „früher darin zu erscheinen, würde selbst bisweilen einen Anstoß gegen die Convenienz des höheren Tones geben.“ (Ebd., S. 72.) Darüber hinaus gilt die vom westfälischen Schinken abgeleitete und lange Zeit für das Gutschmecker-Halstuch verbreitete rote Farbe bereits seit Mitte der 1820ger Jahre als anachronistisch, (Vgl. ebd., S. 72.) was wiederum der kommerzienrätlichen Persönlichkeit entspricht, oder um es mit dem Autor der ‚Cravatiana‘ zu formulieren: „Noch ein Mal, das Halstuch ist der Mensch selbst“. (Ebd. S. 7.) <?page no="53"?> 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße 41 beitszimmer (8) eingenommen wird, sondern auch, weil der Erzähler zunächst ausschließlich ihn als Referenzpunkt wählt. 41 Die erzählerische Beobachtung Alles athmete Behagen, am meisten der Haussherr selbst, [...] (8) gibt weitere Aufschlüsse über die Persönlichkeitsstruktur des Kommerzienrats und den Zustand seiner Ehe. Durch den Missklang der beiden Uhren, 42 genauer der französischen Stutzuhr und der Petrikirchturmuhr, wird das Behagen, welches in erster Linie dem Kommerzienrat zugeschrieben wird, infrage gestellt. Dass sich Van der Straaten trotz der beschriebenen Disharmonie sowie der dröhnenden Lautstärke behaglich fühlt, unterstreicht sein wenig einfühlsames und selbstzufriedenes Wesen: Er haßte zweierlei: sich zu geniren und sich zu ändern. [...] Er sähe mithin nicht ein, warum er an sich arbeiten und sich Unbequemlichkeiten machen solle. [...] Er zög’ es deshalb vor, Alles beim Alten zu belassen. Und wenn er so gesprochen, sah er sich selbstzufrieden um und schloß behaglich und gebildet: „O rühret, rühret nicht daran[.]“ (5-6) Die dumpfen und langsamen Schläge der Kirchenglocken versinnbildlichen daher in einer weiteren Lesart seine bequeme Art und seine Unlust sich zu ändern, während die Lautstärke der Glocken mit seinem Habitus korrespondiert, den seine Gattin generell als zu laut emp ndet. (Vgl. 13) Die französische Stutzuhr (8) hingegen verweist auf Melanie, denn obwohl sie nicht aus Frankreich, sondern der französischen Schweiz stammt, wird das Französische in ihrem Wesen hervorgehoben. (Vgl. 7, 34, 47, 102, 104) Die Stutzuhr secundiert pünktlich, gleichsam wie Melanie sich zu zwingen verst[eht.] (46) Vergleichbar mit der Uhr, die in ihrer Hast und Eile [...] weit voraus (8) läuft, kann Melanie kaum den Umzug in die Tiergartenvilla abwarten und [zählt] bereits die Tage[.] (16) Dies antizipiert zudem Melanies spätere Ungeduld, ihre Kinder rasch wiedersehen zu wollen (Vgl. 142) und eine zügige Vergebung der Gesellschaft bezüglich ihres Ehebruchs zu erwarten. Weil sich jedoch diese anfänglich als „[...] unversöhnlich [...]“ (138) zeigen wird, kann der dumpfe und langsame Glockenschlag der neogotischen 41 Melanie ndet im Unterschied zum Kommerzienrat eingangs keine namentliche Erwähnung, sondern erscheint lediglich im Van der Straaten und Frau[.] (8) 42 Korrespondierend mit dem Missklang der beiden Uhren, bewertet Cordula Kahrmann die Interaktion der Eheleute tre end als „chronisches Mißverständnis“. (Cordula Kahrmann: Idyll im Roman: Theodor Fontane. München 1973, S. 104.) <?page no="54"?> 42 Kapitel 2: Szenen einer Ehe Petrikirche 43 in einer weiteren Auslegung als gesellschaftlicher Kommentar gelesen werden, der die zunächst unnachgiebige Härte gegenüber der späteren Ehebrecherin vorwegnimmt. (Vgl. 138) Uta Schürmann will in der französischen Stutzuhr, die zwar pünktlich sekundiert, (Vgl. 8) aber in ihrer Hast und Eile den dumpfen und langsamen Schlägen, die von draußen her laut wurden, weit voraus [eilt,] (8) eine „selbstbestimmte Zeitrechnung“ 44 des Hauses Van der Straaten erkennen und damit eine Interieurbeschreibung, die sich von der Außenwelt verschlösse. Kern dieser Stimmung sei in diesem Zusammenhang das Behagen. 45 Dieses ‚Verschließen vor der Außenwelt‘ ist jedoch in der Frühstücksszene keineswegs zu erkennen, denn der Kommerzienrat praktiziert vielmehr sein Gegenteil, wenn er mit seiner Zeitungslektüre, 46 insbesondere in Form des Subscriptions-Ball-Bericht[s] (8) am gesellschaftlichen 43 Der sogenannte Gotische Stil wird bis ins 19. Jahrhundert hinein als genuin vaterländisch respektive deutsch aufgefasst. Obwohl bereits Mitte des 19. Jahrhunderts der französische Ursprung bewiesen ist, bleibt die Neugotik bis ins 20. Jahrhundert hinein in Deutschland bestimmend. (Vgl. hierzu exemplarisch Karl Friedrich Schinkel. Führer zu seinen Bauten. Band I: Berlin und Potsdam. Hrsg. für das Schinkel-Zentrum der Technischen Universität Berlin von Johannes Cramer, Ulrike Laible und Hans-Dieter Nägelke. München 2006, S. 11.) Johann Heinrich Strack lässt die Petrikirche nach dem Brand von 1809 in den Jahren 1847 bis 1852 im neogotischen Stil erbauen. (Vgl. Hans Stimmann: Der Neubau von St. Petri, S. 129.) 44 Uta Schürmann: Komfortable Wüsten. Das Interieur in der Literatur des europäischen Realismus des 19. Jahrhunderts. Köln, Wien 2015 (= Literatur - Kultur - Geschlecht; Band 65), S. 169. 45 Vgl. ebd., S. 169. 46 Die Zeitung übernimmt in Fontanes Romanen häu g die Rolle des Erzählers, „dessen Aufgabe es ist, auf Geschichten zu hören und sie in der Gesellschaft zirkulieren zu lassen.“ (Hannelore Schla er: Boccaccios Brigata und die Klatschbasen von Kessin. Fontanes Novellensammlung E Briest . In: Boccacio und die Folgen. Fontane, Storm, Keller, Ebner- Eschenbach und die Novellenkunst des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Hugo Aust und Hubertus Fischer. Frühjahrstagung der Theodor Fontane Gesellschaft e. V., Mai 2004 in Neuruppin. Würzburg 2006 (= Fontaneana; Band 4), S. 23-32, hier S. 26.) Exemplarisch sei hier auf dasjenige Gespräch im Roman „Irrungen, Wirrungen“ verwiesen, das sich zwischen dem Ehepaar v. Rienäcker aus der Zeitungsnotiz zur Vermählung von Lene Nimptsch und Gideon Franke entwickelt. (Vgl. IW, S. 199.) Als Autor nimmt Fontane selbst an den gesellschaftlichen ‚Sprachspielen‘ teil und lässt seine Romane aus dem gesellschaftlichen Tratsch hervorgehen. So haben beispielsweise die außerliterarischen Vorbilder für „L’Adultera“ und „E Briest“ (1896) als Skandalgeschichten kursiert. (Vgl. Hannelore Schla er: Boccaccios Brigata und die Klatschbasen von Kessin, S. 27.) <?page no="55"?> 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße 43 Klatsch partizipiert: „Er schreibt zu gut[.]“ (9) 47 Van der Straaten imitiert, angedeutet durch seinen Ka eekonsum in Verbindung mit seiner Zeitungslektüre sowie den zwanglosen Kommentaren über das Gelesene, die typische Atmosphäre eines Ka eehauses. 48 Dort gelten die Sitten als vergleichsweise gelockert, so dass gesellschaftliche Konventionen kurzfristig in den Hintergrund treten. 49 Zu den beliebtesten Ka eehaustätigkeiten zählt neben der Zeitungslektüre 50 der Tratsch, 51 den Melanie jedoch ausdrücklich ablehnt: „Nein, ich mag nicht. Ich liebe nicht diese Berichte mit ausgeschnittenen Kleidern und Anfangsbuchstaben.“ (9) 52 Van der Straaten schlussfolgert, seine Gattin sei in ihrer Eitelkeit gekränkt, weil sie im Zeitungsartikel keinerlei Erwähnung ndet. Als sie jedoch zu verstehen gibt, sie würde sich einen derartigen gesellschaftlichen Kommentar verbitten, brüskiert Van der Straaten sie: „Verbitten! Was heißt verbitten? Ich verstehe Dich nicht. Oder glaubst Du vielleicht, daß gewesene Generalconsulstöchter in vestalisch-priesterlicher Unnahbarkeit durch’s Leben schreiten oder sacrosanct sind wie 47 Es handelt sich hierbei um eine Anspielung auf den Journalisten Ludwig Pietsch, der für seine Schilderungen großer gesellschaftlicher Ereignisse berühmt ist. (Vgl. Gerhard Friedrich: Das Glück der Melanie van der Straaten. Zur Interpretation von Theodor Fontanes „L’Adultera“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 12 (1968), S. 359- 382, hier S. 360.) Fontane ist mit Pietsch, dem Feuilletonisten und Reiseberichterstatter der „Vossischen Zeitung“ zudem kollegial und freundschaftlich verbunden. (Vgl. hierzu Otto Drude: Fontane und sein Berlin, S. 265-258.) 48 Vgl. zum Ka eehaus Christoph Heyl: Privatsphäre, Ö entlichkeit und urbane Modernität. London als historischer Präzedenzfall. In: Stadt. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Harald Mieg und dems. Stuttgart, Weimar 2013, S. 271-282, hier S. 272. Vgl. ausführlicher zur Kulturgeschichte des Ka eehauses Etienne François: Das Ka eehaus. In: Orte des Alltags. Miniaturen aus der europäischen Kulturgeschichte. Hrsg. von Heinz-Gerhard Haupt. München 1994, S. 111-118. 49 Vgl. Peter Albrecht: Ka eetrinken als Symbol sozialen Wandels im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Genuss und Kunst. Ka ee, Tee, Schokolade, Tabak, Cola. Hrsg. von Roman Sandgruber und Harry Kühnel. Innsbruck 1994 (= Ausstellung Schloß Schallaburg 1994), S. 28-39, hier S. 33. 50 Vgl. Etienne François: Das Ka eehaus, S. 114. 51 Vgl. Roman Sandgruber: Einleitung. In: Genuss und Kunst. Ka ee, Tee, Schokolade, Tabak, Cola. Hrsg. von dems. und Harry Kühnel. Innsbruck 1994 (= Ausstellung Schloß Schallaburg 1994), S. 1-9, hier S. 6. 52 Die zeitgenössische journalistische Berichterstattung nennt zur Wahrung der Diskretion keine Namen, sondern lediglich deren Anfangsbuchstaben und erhält gerade dadurch „etwas voyeuristisch Zweideutiges.“ (Gottfried Zeitz: Die poetologische Bedeutung des Romans „L’Adultera“ für die Epik Theodor Fontanes, S. 94.) <?page no="56"?> 44 Kapitel 2: Szenen einer Ehe Botschafter und Ambassaden! Ich will Dir ein Sprüchwort sagen, das Ihr in Genf nicht haben werdet ...“ (9) Hiermit o enbart Van der Straaten nicht nur Melanies genaue Herkunft, sondern betont zudem ihr Dasein als Fremde in Berlin. Der vom Erzähler bereits in Anschlag gebrachte speci sch local[e] Stempel wie seine Vorliebe für drastische Sprüchwörter (5) bestätigen sich, jedoch ist seine Art dabei zusätzlich verletzend: Er verkennt nicht nur den Charakter seiner Ehefrau, 53 was er unbewusst tre end mit seinem „Ich verstehe Dich nicht.“ (9) zum Ausdruck bringt, sondern erinnert Melanie als „ gewesene Generalconsulst[o]chter“ (9) an ihre prekäre Finanzlage vor Abschluss ihrer Versorgungsehe. Abermals kommt der geschäftliche Charakter der Eheverbindung zum Ausdruck, der sich bereits in der Formel fast noch mehr sein Stolz als sein Glück (7) manifestiert. 54 Im Zuge der Übernahme der von ihrem Vater hinterlassenen Schulden, verscha t er ihr ein Leben als „[...] verwöhnte Frau, [...]“ (113) während sie als Kapital ihre Schönheit sowie ihre adelige und vornehme Herkunft in die Ehe einbringt, die daher einem Tauschgeschäft entspricht. 55 53 So wird Melanie später klagen: „[...] Ich bin eine Sehenswürdigkeit geworden. Es war mir immer das Schrecklichste.“ (144-145) 54 Van der Straaten erkennt seine Ehe als kalkulierte Vernunftehe, (Vgl. 113) während Melanie ihre Kindlichkeit bei der Eheschließung wiederholt in Anschlag bringt. (Vgl. 13, 141) Das gleichzeitige Auftreten der vom Vater hinterlassenen Schulden und Van der Straatens Werben lassen die unerwartet eingetretene nanzielle Notlage als Hauptgrund für die Eheschließung vermuten. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil Claudia Liebrand im Hinblick auf „Die Poggenpuhls“ (1886) konstatiert: „Obwohl Manon die hübscheste, sozial erfolgreichste der Poggenpuhlschen Schwestern ist, hat sie als Mädchen ohne Mitgift (fast) keine Chance zu heiraten, mithin in einer Gesellschaft, die als „Karrieremuster“ (adeliger) Frauen nur die Ehe vorsieht.“ (Claudia Liebrand: Das Ich und die andern. Fontanes Figuren und ihre Selbstbilder. Freiburg im Breisgau 1990 (= Rombach Wissenschaft. Reihe Litterae; Band 8), S. 172-173.) Etwas überspitzt fasst Mende die Ehe zusammen: „Melanie aber muß mit ihrem jungen Leib entgelten, was der Vater nicht hatte bezahlen können.“ (Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 190.) 55 Vgl. allgemein zum Thema der Ehe als Tauschgeschäft Mareike Blum: „Das ist eben das, was man sich verheiraten nennt“. Zu zwei Frauenbildern bei Theodor Fontane. In: Kleine Lauben, Arcadien und Schnabelewopski. Festschrift für Klaus Jeziorkowski. Hrsg. von Ingo Wintermeyer. Würzburg 1995, S. 84-110, hier S. 96. Ähnlich sieht Mittelmann die kommerzienrätliche Ehe als „geschäftliche Transaktion“. (Hanni Mittelmann: Die Utopie des weiblichen Glücks in den Romanen Theodor Fontanes, S. 64.) Dies widerspricht Brigitte Hauschild, die in „L’Adultera“ grundsätzlich keine gesellschaftliche Problematik verhandelt sieht. Vielmehr sei die Erzählung „durch die <?page no="57"?> 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße 45 In der Folge lässt der Kommerzienrat Melanie an weiteren „[...] Zweideutigkeite[n]“ (9) teilhaben. 56 Unfähig, den Missklang der Uhren wahrzunehmen, ist er sich demnach seinen Ungenirtheiten (46) und seinem Melanie brüskierenden Gebaren wenig bewusst oder gleichgültig gegenüber diesem. Dabei wird sein stets auf Messers Schneide balancierendes Naturell (Vgl. 5, 6, 33, 36, 65, 70, 71) über seine laissez faire Haltung in einem Schaukelstuhl (8) re ektiert. 57 Darüber hinaus wird seine Eigenart, sich überhaupt in Gegensätzen (16) zu bewegen, sowie sein ungezügeltes, schwer kontrollierbares und leicht aus der Fassung zu bringendes Wesen o enbart, 58 während Melanie in ihrem hochlehnigen Stuhl (10) gleichsam Haltung zu bewahren sucht. 59 Als ob sie sich dem weiteren Gespräch zu ent- Eigenarten und Konstellationen der Individualcharaktere motiviert.“ (Brigitte Hauschild: Geselligkeitsformen und Erzählstruktur. Die Darstellung von Geselligkeit und Naturbegegnung bei Gottfried Keller und Theodor Fontane. Frankfurt am Main 1981, S. 113.) 56 Anstatt sich während seines Auslandsaufenthaltes einen allgemein giltigen Weltschli (5) anzueignen, ergeht sich Van der Straaten lieber in Anzüglichkeiten über seine weiblichen Bekanntschaften. (Vgl. 9) Besonders aufschlussreich ist zudem, dass er einen seiner wenigen Auslandsaufenthalte ausgerechnet in Paris verbringt, denn die Stadt gilt beispielsweise dem russischen Schriftsteller Leo Tolstoi (1828-1910) als Sodom und Gomorrha. (Vgl. Peter Gay: Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter. Aus dem Englischen von Holger Fließbach. München 1987, S. 83. Vgl. zum Topos ‚Paris als Sündenbabel‘ ebenso: Christian Grawe: E Briest: Crampas und sein Lieblingsdichter Heine. In: Ders.: „Der Zauber steckt immer im Detail“. Studien zu Theodor Fontane und seinem Werk 1976-2002. Dunedin 2002 (= Otago German Studies; Volume 16), S. 363-384, hier S. 382-383.) 57 In einer Entwurfsskizze vergleicht Fontane den Schaukelstuhl mit dem Aufenthalt auf hoher See. (Vgl. dazu Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 282.) Dem Aufenthalt auf hoher See wohnt dabei per se eine Gefahr inne. (Vgl. Hans Blumenberg: Schi bruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt am Main 1997 (Erstausgabe von 1979), S. 10-11.) Das Motiv des Schaukelstuhls ndet sich ebenso im Roman „E Briest“: Au allend häu g be ndet sich E in Kessin im Schaukelstuhl, wenn sich ihr der spätere Geliebte Crampas nähert und gerät damit raumsemantisch in eine „prekäre Balance“. (Rüdiger Görner: Und E schaukelt. Die Welt der Dinge bei Theodor Fontane. In: Theodor Fontane. Hrsg. von Peer Trilcke. Dritte Au age. München 2019 (= Text + Kritik; Sonderband), S. 126-139, hier S. 133.) 58 Beim Abschiedsdiner beispielsweise bricht Van der Straaten durch alle bis dahin mühsam eingehaltenen Gehege durch[,] (34) wobei der erzählerische Kommertar, und debutirte ’mal wieder ganz als er selbst[,] (35) die Regelmäßigkeit seines Verhaltens erkennen lässt. Im Klatschgespräch zwischen Rei und Duquede wird dies ebenfalls re ektiert, wenn der Polizeirat den Kommerzienrat als „[...] Durchgänger [...]“ (42) bezeichnet. 59 Dieses Bild wird in „E Briest“ produktiv fortgeführt: „E erhob sich rasch. Aber sie nahm ihren Platz auf dem Sofa nicht wieder ein, sondern schob einen Stuhl mit hoher Lehne heran, augenscheinlich, weil sie nicht Kraft genug fühlte, sich ohne Stütze zu halten.“ (EB, S. 214.) <?page no="58"?> 46 Kapitel 2: Szenen einer Ehe ziehen versucht und danach trachtet, sich von Van der Straaten abzuwenden, 60 verlässt sie ihre Position und tritt an das große Mittelfenster. (10) 2.2.2 Die Marktszene - Melanies melancholischer Blick Unten bewegte sich das bunte Treiben eines Markttages, dem die junge Frau gern zuzusehen p egte. Was sie daran am meisten fesselte, waren die Gegensätze. Dicht an der Kirchenthür, an einem kleinen, niedrigen Tische, saß ein Mütterchen, das ausgelassenen Honig in großen und kleinen Gläsern verkaufte, die mit ausgezacktem Papier und einem rothen Wollfaden zugebunden waren. Ihr zunächst erhob sich eine Wildhändlerbude, deren sechs aufgehängte Hasen mit traurigen Gesichtern zu Melanie hinübersahen, während in Front der Bude (das erfrorene Gesicht in einer Caputze) ein kleines Mädchen auf und ab lief und ihre Schäfchen, wie zur Weihnachtszeit, an die Vorübergehenden feilbot. (10) Gleich einer Bühne liegt das Markttreiben vor Melanies Augen, die dieses vom großen Mittelfenster aus beobachtet. Ihren Blick aus einer erhöhten Position heraus begreift Winfried Jung als ihre generelle Distanz zum Leben, 61 während Renate Böschenstein hierin sogar die „Gleichgültigkeit der verwöhnten jungen Frau gegenüber sozialem Elend“ 62 zu erkennen glaubt. Meiner Meinung nach übersehen jedoch beide Einschätzungen, dass es dieser Höhe bedarf, um gleichsam wie an einem „Aussichtspunkt“ (VS34, S. 366.) auf das „Aktionsfeld“ (VS34, S. 369.) zu verweisen. 63 Dies bestätigt sich, denn Melanies Fensterblick verdeutlicht genau kalkuliert wichtige Aspekte der Van der Straatenschen Ehe: Das kleine Mädchen, welches in Front der Bude (das erfrorene Gesicht in einer Caputze) (10) auf und ab läuft und ihre Schäfchen [...] an die Vorübergehenden feil[bietet] (10) spielt auf Melanies Familiennamen de Caparoux’ (7) an, der im 60 Dies kann ebenso als Vorausdeutung von Melanies späterer Trennung von ihrem Gatten gelesen werden. (Vgl. Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 214.) 61 Vgl. Winfried Jung: Bildergespräche, S. 124. 62 Renate Böschenstein: Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel. Beobachtungen zu Fontanes Namensgebung. In: Verborgene Facetten. Studien zu Fontane. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer. Bearbeitet von Hanna Delf von Wolzogen, Christine Hehle und Ingolf Schwan. Würzburg 2006 (= Fontaneana; Band 3), S. 329-360, hier S. 343. 63 Hier sei Fontanes Vorgehensweise erwähnt, Türme zu besteigen, um die Landschaft vor sich zu haben, „als läge eine Karte [...] ausgebreitet“. (W3, S. 102.) <?page no="59"?> 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße 47 Roman mit „[...] Rothkapp oder Rothkäppchen [...]“ (44) assoziiert wird 64 und nimmt Bezug auf einen in der Vergangenheit liegenden Aspekt der Ehe: Nach dem Tod ihres verschuldeten Vaters heiratet Melanie als halbes Kind (13) den Kommerzienrat und erreicht damit einhergehend die Tilgung der familiären Debets. (7) Diese Form des ‚Feilbietens‘ ndet wiederum seine Entsprechung in ihrem Nachnamen, denn kulturhistorisch betrachtet haben Dirnen gemeinhin rote Mützen getragen. 65 Die Hasen der Wildhändlerbude (10) - eigentlich Symbol der Fruchtbarkeit und Erotik 66 - belegen abermals die gegenwärtig ‚tote‘ Sexualität im Hause Van der Straaten, kann doch der Wildhändler als eine Art fahrender ‚Kleinstkontorist‘ betrachtet werden. Das Mütterchen (10) verweist auf Melanies eheliche Zukunftsperspektiven, denn der zum Verkauf stehende und in Gläsern verpackte Honig - mit einem rothen Wollfaden zugebunden (10) - kann als erotische Lust gelesen werden, 67 die jedoch durch den roten Faden 68 64 „[...] Caparoux. Es klingt nach ’was. Zugestanden. Aber was heißt es denn am Ende? Rothkapp oder Rothkäppchen. [...]“ (44) Tatsächlich lautet der französische Titel des Märchens Rotkäppchen „Le Petit Chaperon Rouge“. Das kleine Mädchen mit dem erfrorene[n] Gesicht in einer Caputze (10) kann in einer anderen Lesart als Hinweis auf das spätere, unterkühlte Verhältnis zwischen Melanie und ihrer Tochter Lydia, (Vgl. 146) die als der Mutter Ebenbild (8) angelegt ist, verstanden werden. Dies korrespondiert mit den Hasen, die mit traurigen Gesichtern zu Melanie hinübers[e]hen, (10) so wie Lydias Augen, ernst und schwermütig [sind], als sähen sie in die Zukunft. (8) Außerdem hat es in der außerliterarischen Realität die angesehene Genfer Familie ‚de Chapeaurouge‘ gegeben, die Fontane sicherlich bekannt gewesen sein dürfte. (Vgl. zur Familie de Chapeaurouge Renate Böschenstein: Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel, S. 342.) 65 Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 143. 66 Vgl. Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst. Stuttgart 2011, S. 148. Darüber hinaus gilt der Hase als Attribut der Venus und als Symbol der sinnlichen Liebe. (Vgl. ebd., S. 180.) 67 Vgl. dazu Günter Butzer und Joachim Jacob: Honig. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von dens. Stuttgart 2008, S. 164-165. 68 Der rote Faden liest sich wie eine der vielen Anspielungen auf Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) Roman „Die Wahlverwandtschaften“ (1809). (Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman. Weimar 1892 (= Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 20. Band), S. 212.) Einen Anklang an die Schicksalsgöttinnen, die das Schicksal der Menschen durch den Lebensfaden bestimmen, ist ebenso denkbar. (Vgl. Erika Greber: Gewebe/ Faden. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 126-129, hier S. 127.) <?page no="60"?> 48 Kapitel 2: Szenen einer Ehe sowie die winterliche Kälte gebunden ist. 69 Dabei symbolisiert die Nähe des Mütterchens zur Petrikirche, [d]icht an der Kirchenthür, (10) die Möglichkeit durch eine Verleugnung der Ehe, sprich einen Ehebruch, diesem Schicksal zu entgehen. 70 Ueber dem Ganzen aber lag ein grauer Himmel, und ein paar Flocken federten und tanzten, und wenn sie nieder elen, wurden sie vom Luftzuge neu gefaßt und wieder in die Höhe gewirbelt. Etwas wie Sehnsucht überkam Melanie beim Anblick dieses Flockentanzes, als müsse es schön sein, so zu steigen und zu fallen und dann wieder zu steigen[.] (10) Die Figurenpsyche wird räumlich gespiegelt, denn Melanie erlebt beim Anblick des Wochenmarktes eine melancholische Sehnsuchtsanwandlung, 71 die eng mit ihrem Seelenleben verknüpft ist: 72 Einerseits wird ihr melancholischer Grundzustand re ektiert, 73 der bereits ihrem Vornamen Melanie 74 eingeschrieben ist. 75 69 So wird später über Melanie gesagt werden: Sie zählte jenen von äußeren Eindrücken, von Luft und Licht abhängigen Naturen zu, die der Frische bedürfen, um selber frisch zu sein. Ueber ein Schneefeld hin, bei rascher Fahrt und scharfem Ost, - da wär’ ihr der heitere Sinn, der tapfere Muth ihrer Seele wiedergekommen, aber diese weiche, schla e Luft machte sie selber weich[.] (94) 70 Vgl. ausführlicher zur Tür als Symbol des Übergangs und auch als Symbol der versteckten Option Ernst Rohmer: Tor/ Tür. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 388-390, hier S. 388-389. 71 Tre enderweise spricht Wegmann von einem „Sehnsuchtsbild“. (Christoph Wegmann: „Landschaftsbilder“, „Fensterbilder“ - Wie Theodor Fontane Wirklichkeit als Bilder erzählt. In: Fontane Blätter 109 (2020), S. 22-52, hier S. 34.) 72 Hier sei an dasjenige „Durcheinander“ (IW, S. 119.) eines Wochenmarktes in „Irrungen, Wirrungen“ erinnert, das Lenes ungeklärte Lebensrespektive Liebesverhältnisse widerspiegelt. 73 Hierfür spricht nicht nur ihre Sehnsucht[,] (10) sondern auch der grau[e] Himmel, (10) denn neben Schwarz gehört Grau zu den Farben der Melancholie. (Vgl. dazu Gerhard Kurz: Grau. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 137-138, hier S. 137.) Passend bewertet Meyer Fensterblicke auf die Stadtlandschaft als einen „Aspekt der melancholischen Erfahrung: als Abbruch aller [...] Kommunikation mit der Außenwelt, als Rückzug auf sich selbst.“ (Herman Meyer: Zarte Empirie, S. 10.) 74 Gerhard Friedrich bemerkt die Namensgleichheit mit Gutzkows Roman „Die Ritter vom Geist“ (1851), in dem die Tochter Melanie „zum Frieden und zur Ruhe“ ndet und „deren Lebenskurve in au älliger Weise derjenigen Melanie van der Straatens gleicht.“ (Gerhard Friedrich: Das Glück der Melanie van der Straaten, S. 364.) 75 Vgl. hierzu auch Rita Unfer Lukoschik: Die Novelle als Erlebnisraum: Boccaccio - Fontane. In: Boccacio und die Folgen. Fontane, Storm, Keller, Ebner-Eschenbach und die <?page no="61"?> 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße 49 Andererseits bildet sich im Steigen und Fallen der tanzenden Schnee ocken ihr weiterer Lebensweg ab. 76 In der Forschung wird betont, dass der Flockentanz Melanies „Freiheitsdrang und Widerstreit mit der Konvention“ 77 Ausdruck verleihe und ihren Wunsch widerspiegele ein ungezwungenes Leben zu führen, „sich treiben zu lassen.“ 78 Vordergründig scheint diese Lesart zunächst naheliegend, denn Melanie sehnt sich nach dem sommerlichen Glück ihrer Freiheit (46) in der Tiergartenvilla. Jedoch korrespondiert dieses Glück gerade nicht mit der Abwesenheit gesellschaftlicher Etikette und Konventionen: Vielmehr wünscht Melanie deren Einhaltung, (Vgl. 76-77) denn sie hat „[...] feine Nerven für das was paßt und nicht paßt.“ (141) Dementsprechend genießt sie an ihrem Sehnsuchtsort - der Tiergartenvilla - insbesondere die Abwesenheit Van der Straatens, denn hier hat sie Ruhe vor [...] seinen Ungenirtheiten[.] (46) Die ‚Zwanglosigkeit‘ der Schnee ocken steht dabei für Melanies Sehnsucht[,] (10) [d]enn sie dominirte nur, weil sie sich zu zwingen verstand; aber dieses Zwanges los und ledig zu sein, blieb doch ihr Wunsch, ihr beständiges, stilles Verlangen. (46) Deshalb wird sie in der Folge Van der Straaten - absolut unerzogen (36) - durch den Weltmann (51) Rubehn ersetzen. Passend zu meiner These werden die Bewegungen der Schnee ocken dezidiert als Tanz beschrieben, der für die Einhaltung einer Choreographie steht, die Konventionen und Regeln folgt, 79 so wie auch Melanie auf die Einhaltung gesellschaftlicher Novellenkunst des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Hugo Aust und Hubertus Fischer. Frühjahrstagung der Theodor Fontane Gesellschaft e. V., Mai 2004 in Neuruppin. Würzburg 2006 (= Fontaneana; Band 4), S. 33-52, hier S. 44. 76 Vgl. zur Korrespondenz zwischen Melanies Lebensweg und der Bewegung der Schneeocken exemplarisch Gottfried Zeitz: Die poetologische Bedeutung des Romans „L’Adultera“ für die Epik Theodor Fontanes, S. 98. Ergänzen möchte ich noch, dass die Flocken zunächst niederfallen, (Vgl. 10) so wie Melanie nach dem Tod ihres Vaters mit Schulden belastet ist. (Vgl. 7) 77 Antje Harnisch: Keller, Raabe, Fontane. Geschlecht, Sexualität und Familie im bürgerlichen Realismus. Frankfurt am Main 1994 (= Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; Band 46), S. 138. 78 Gabriele Altho : Weiblichkeit als Kunst. Die Geschichte eines kulturellen Deutungsmusters. Stuttgart 1991, S. 16. Zudem liest Gottfried Zeitz das Wirbeln der Schnee ocken als „schwerelose und freie Bewegung“. (Gottfried Zeitz: Die poetologische Bedeutung des Romans „L’Adultera“ für die Epik Theodor Fontanes, S. 97.) 79 Vgl. dazu Cora Dietl: Tanz. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 380-382, hier S. 380. Der Tanz gilt zugleich als Symbol der Liebe und Sexualität. (Vgl. ebd., S. 381 sowie Walter Salmen: „An Sylvester war Ressourcenball ...“. Tänze und Bälle bei Theodor Fontane. In: Fontane Blätter 88 (2009), S. 104-126, hier S. 115.) <?page no="62"?> 50 Kapitel 2: Szenen einer Ehe Konventionen besteht. (Vgl. 76-77) Das Bild des Flockentanzes (10) vereint Motive des Elementaren - denen ein subversives Moment eingeschrieben ist 80 - mit dem Bild einer regelhaften Choreographie, so wie Melanie gleichfalls beide Merkmale verkörpert. 2.2.3 Ankunft der ‚Adultera‘-Kopie [...] und eben wollte sie sich vom Fenster her in’s Zimmer zurückwenden, um in leichtem Scherze, ganz wie sie’s liebte, sich und ihre Sehnsuchtsanwandlung zu persi iren, als sie, von der Brüderstraße 81 her [...] (10) kommend, einen Rollwagen (10) erblickt, der von einem kleine[n] Bastard von Spitz und Rattenfänger (11) unter Gebell bewacht wird. Allerdings gibt es kaum noch ein Recht zu diesen Aeußerungen übertriebener Wachsamkeit, (11) denn es be ndet sich auf dem Rollwagen nur noch ein einziges Colli[.] (11) 82 Die durch das Gebell des Hundes - der Figuration Die Verbindung aus dem Tanz der Flocken und dem zum Verkauf stehenden Honig verweist auf eine spätere Hochzeit: Im Roman „Der Stechlin“ (1898) wird der Frühlingsaus ug der Bienen als Hochzeitreise beschrieben, wobei der Partner der Königsbiene als Tänzer imaginiert wird. (Vgl. DS, S. 68.) Die Paarung selbst ndet dabei im Flug, in der Luft statt. (Vgl. hierzu ausführlicher Karl von Frisch: Aus dem Leben der Bienen. Achte, neu bearbeitete und ergänzte Au age. Berlin 1977, S. 136.) Darüber hinaus stellt bereits das biblische Hohelied Salomos einen Zusammenhang zwischen Honig, Liebe und Hochzeit her. (Vgl. LUT, Hld 4,11.) 80 Die federleichten Schnee ocken verbildlichen den Leichtsinn, der Melanie als Schwäche ihres französischen Wesens zugeschrieben wird: Alle Vorzüge französischen Wesens erschienen in ihr vereinigt. Ob auch die Schwächen? (7) Für den Roman „Unwiederbringlich“ (1892) beleuchtet Petra Kuhnau den Zusammenhang zwischen Elementarem und Subversion anhand des Schlittschuhlaufens von Ebba und Holk. (Vgl. Petra Kuhnau: Symbolik der Hysterie. Zur Darstellung nervöser Männer und Frauen bei Fontane. In: „Weiber weiblich, Männer männlich“? Zum Geschlechterdiskurs in Theodor Fontanes Romanen. Hrsg. von Sabina Becker und Sascha Kiefer. Tübingen 2005, S. 17- 61, hier S. 35.) 81 Die Brüderstraße ist nach dem sich im Mittelalter auf dem späteren Schlossplatz be ndlichen Dominikanerkloster benannt, welches dem heiligen Paulus gewidmet gewesen ist. Zunächst heißt lediglich der Teil zwischen Petriplatz und Neumanngasse so, während der übrige Teil erst im 17. Jahrhundert den Namen Brüderstraße erhält, wobei letztere Benennung auf das hier be ndliche Dominikanerkonvent Bezug nimmt. (Vgl. Lexikon der Berliner Straßennamen. Hrsg. von Sylvia Lais und Hans-Jürgen Mende, S. 76.) 82 Durch die Verwendung des italienischen Worts Colli - Plural von Collo - anstelle des deutschen Wortes Frachtstück wird bereits vorab eine Verbindung zu Italien hergestellt. <?page no="63"?> 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße 51 nicht nur der Wachsamkeit, sondern auch der Treue 83 - implizierte Gefahr erweist sich als zunächst unbegründet. Die Kiste, eine, wie sich gleich zeigen wird, Lieferung für Van der Straaten, steht somit anfangs im Zeichen einer übertriebenen Sorge. Weil der zugehörige Kutscher von Melanie jedoch sofort erotisch konnotiert wird, werden in der Marktszene nicht nur die sexuellen De zite in der Ehe mit Van der Straaten verhandelt, sondern auch ihre unterschwelligen erotischen Wünsche eingefangen: 84 „Wie schön diese Leute sind,“ sagte Melanie. „Und so stark. Und dieser wundervolle Bart! [...]“ (11) Zusätzlich wird der Kutscher mit Wieland dem Schmied, (Vgl. 11) einer Figur Richard Wagners (1813-1883), assoziiert, 85 dessen Œuvre zur Romanzeit als erotisch aufgeladen gilt. 86 Die Berechtigung dieses Vergleichs belegt der erwähnte und für Schmiede typische Lederschurz[.] (11) 87 Genannte Punkte vermögen im Rückgri die Wachsamkeit des Hundes zu rechtfertigen und stimmen den Leser auf die gleichsam erotische Komponente der Lieferung ein. Sogleich übergibt einer der jungen Contoristen [...] seinem Chef [...] einen Frachtbrief[,] (11) und im Anschluss bringt ein junge[r] Commis (12) 88 die von ebenjenem Kutscher abgelieferte Kiste in Van der Straatens Zimmer. Der Leser erfährt, dass 83 Vgl. Roland Borgards: Hund. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 165-166, hier S. 165. 84 Vgl. Christian Grawe: Führer durch Fontanes Romane. Ein Lexikon der Personen, Schauplätze und Kunstwerke. Vom Verfasser überarbeitete und ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1996, S. 324. 85 Zur germanischen Heldensage ‚Wieland der Schmied‘ hat Richard Wagner einen gleichnamigen, unvertont gebliebenen Dramenentwurf (1849/ 50) geschrieben: Die mit Wieland verheiratete Schwanhilde sehnt sich „nach der alten Freiheit, nach dem Flug durch die Lüfte zu dem glücklichen Eilande ihrer Heimat“. (Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig 1850, S. 230.) Hierüber wird eine Verbindung zu Melanie hergestellt, die sich nach ihrer Freiheit in der Van der Straatenschen Tiergartenvilla sehnt, welche in ihrer Anlage mit der Pfaueninsel vergleichbar ist, die wiederum in den ‚Wanderungen‘ aufgrund einer Kindheitserinnerung Fontanes als „Eiland“ (W3, S. 189.) imaginiert wird. (Vgl. dazu auch Fußnote 27 auf Seite 121 dieser Arbeit.) 86 Vgl. zu diesem Aspekt in Wagners Werken Peter Gay: Die zarte Leidenschaft, S. 277. 87 Der Lederschurz verweist neben Wieland dem Schmied ebenso auf Vulkan respektive Hephaistos, dem griechisch-römischen Gott des Feuers und der Metallkünste. (Vgl. Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole, S. 259.) 88 Die Art dieser Formulierung suggeriert dem Leser das Vorhandensein einer ganzen Heerschar von Bediensteten und unterstreicht so erneut die enorme Finanzkraft des Hauses. <?page no="64"?> 52 Kapitel 2: Szenen einer Ehe es sich bei der Stadtwohnung um ein Stadthaus handelt, welches im Erdgeschoss ein Kontor beherbergt. Die enge Verzahnung von Privatem und Geschäftlichem im Hause Van der Straaten, die sich ebenso im Verschmelzen von Wohn- und Arbeitszimmer (8) niederschlägt, wird hierdurch erneut raumsemantisch augenfällig. Zugleich widerspricht diese Form der Zimmeraufteilung den üblichen Gep ogenheiten einer Trennung von Repräsentations- und Privaträumen 89 und markiert abermals ein Verhalten jenseits von gesellschaftlicher Konformität. Ebenjene Wohnsituation gehört überdies zu einer altmodischen, denn mit dem Wechsel vom feudalen zum industriellen Berlin beginnen sich Wohn- und Arbeitsbereich voneinander zu trennen. Beides ndet nun in der Regel nicht mehr unter einem Dach statt, wie es noch vor 1800 der Fall gewesen ist. 90 Auf diese Weise wird auch raumsemantisch Van der Straatens Abneigung, sich Unbequemlichkeiten (6) machen zu wollen, re ektiert, weshalb er es vorzöge, Alles beim Alten zu belassen. (6) Beim raschen und fachmännischen Ö nen 91 der Kiste erklärt Van der Straaten: „[...] Etwas Venezianisches, Lanni ... Du warst so gern in Venedig.“ (12) und führt 89 Vgl. dazu Adelheid von Saldern: Im Hause, zu Hause. Wohnen im Spannungsfeld von Gegebenheiten und Aneignungen. In: Geschichte des Wohnens. Band 3: 1800-1880: Das bürgerliche Zeitalter. Hrsg. von Jürgen Reulecke. Stuttgart 1977, S. 145-332, hier S. 175. 90 Vgl. beispielsweise John Burton Lyon: Out of Place: German realism, displacement, and modernity. London, New Delhi, New York 2013, S. 38-39. So werden zunehmend ö entliches und privates Leben als voneinander getrennte Sphären begri en; als Privatperson zieht man sich in seine eigenen Räume zurück. (Vgl. Uta Schürmann: Tickende Gehäuseuhren, gefährliches Sofa, S. 115.) 91 Die Assoziation des Kutschers mit einem Schmied überträgt sich nun gleichsam auf den Kommerzienrat: Denn er hat aus einem Kasten seines Arbeitstisches ein Stemmeisen herausgenommen und hantirte damit, als die Kiste hereingebracht worden war, so vertraut und so geschickt, als ob es ein Korkzieher oder irgend ein anderes Werkzeug alltäglicher Benutzung gewesen wäre. (12) Den versierten Umgang mit dem Stemmeisen lässt Van der Straaten jedoch nicht als Wieland, sondern vielmehr als Vulkan respektive Hephaistos erscheinen, denn im Unterschied zum schönen Kutscher wird Hephaistos in der griechischen Mythologie als hässlicher, schwarzer, hinkender Schmied und Ehemann von Aphrodite bzw. Venus, der Göttin der Liebe und Schönheit, beschrieben. (Vgl. zum antiken Liebespaar Peter von Matt: Liebesverrat, S. 55.) Hierzu passend wird Van der Straaten später die Einsicht äußern: „[...] Ich bewege mich nicht in Illusionen, am wenigsten über meinen äußeren Menschen [...].“ (114) Wenn Van der Straaten als Vulkan imaginiert wird, kann seine Ehefrau Melanie als Venus identi ziert werden, zumal ihr das Attribut der Schönheit mehrfach zugeschrieben wird. (Vgl. 23, 43, 103) Fontane nutzt die Begri e Venus und Aphrodite synonym, was beispielhaft in Van der Straatens späterer Ausführung: „Göttin Aphrodite, die Venus dieser Gegenden, Venus <?page no="65"?> 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße 53 seine Frau 92 - mit dem Hinweis, es handle sich um einen „Tintoretto“ (12) 93 - vor ein Gemälde. Geschickt wird Melanie über ihre A nität zu Venedig mit dem Gemälde von venezianischer Provenienz in Verbindung gebracht. 94 Melanie hatte mittlerweile die Haupt guren des Bildes mit ihrem Lorgnon gemustert und sagte jetzt: „Ah, l’Adultera! ... Jetzt erkenn’ ich’s. Aber daß Du gerade das wählen mußtest! Es ist eigentlich ein gefährliches Bild, fast so gefährlich wie der Spruch ... Wie heißt er doch? “ „Wer unter Euch ohne Sünde ist ...“ „Richtig. Und ich kann mir nicht helfen, es liegt so was Ermuthigendes darin. [...] Geweint hat sie ... Gewiß ... Aber warum? Weil man ihr immer wieder und wieder gesagt hat, wie schlecht sie sei. Und nun glaubt sie’s auch, oder will es wenigstens glauben. Aber ihr Herz wehrt sich dagegen und kann es nicht nden ... Und daß ich Dir’s gestehe, sie wirkt eigentlich rührend auf mich. Es ist so viel Unschuld in ihrer Schuld ... Und alles wie vorherbestimmt.“ (12-13) Spreavensis [...]“ (71) zum Ausdruck kommt und demgemäß von mir nachfolgend ebenso gehandhabt wird. Zu Fontanes Handhabung passt, dass beide lange Zeit für ein und dieselbe Göttin gehalten worden sind. (Vgl. hierzu Homerus: Die Homerischen Hymnen. Übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Konrad Schwenck. Frankfurt am Main 1825, S. 267 sowie Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Hrsg. von W.[ilhelm] H.[einrich] Roscher im Verein mit vielen Fachgelehrten. Sechster Band. U - Z und Nachträge unter Redaktion von K. Ziegler. Leipzig und Berlin 1924-1937, Spalte 183-184.) 92 Der Hinweis auf Venedig unterstreicht die Assoziation der Eheleute mit Vulkan und Venus. 93 In der Beschäftigung mit dem Venezianer Jacopo Robusti, genannt Tintoretto (1518-1594), sieht Arturo Lacrati zwangsläu g eine Auseinandersetzung mit dem Mythos Venedig. (Vgl. Arturo Lacrati: Ekphrasis bei Fontane und Marie Luise Kaschnitz. Zur Tintoretto- Rezeption in der deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Fontane und Italien. Frühjahrstagung der Theodor Fontane Gesellschaft e. V., Mai 2009 in Monópoli (Apulien). Hrsg. von Hubertus Fischer und Domenico Mugnolo. Würzburg 2011, S. 117-140, hier S. 121.) Fontane selbst notiert in seinem „Italientagebuch“, dass in Venedig Tintoretto dominiert. (Vgl. Rt, S. 318.) 94 In einem früheren Textentwurf sollte die Kopie ursprünglich aus Dresden stammen, weshalb Gabriele Altho und Gerhard Neumann meinen, Fontane sei es gleichgültig, welche ‚Adultera‘ gemeint sei - ob die in Dresden oder in Venedig be ndliche. (Vgl. Gabriele Altho : Weiblichkeit als Kunst, S. 53 sowie Gerhard Neumann: Theodor Fontane. Romankunst als Gespräch. Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien 2011 (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae; Band 151), S. 87.) Dieser Einschätzung ist jedoch zu widersprechen, denn es handelt sich ausdrücklich um die vom kommerzienrätlichen Ehepaar in Venedig in Augenschein genommene ‚Adultera‘. (Vgl. 14) <?page no="66"?> 54 Kapitel 2: Szenen einer Ehe Das Gemälde „Cristo e l’adultera“ 95 zeigt die Perikope von der Ehebrecherin mit Jesus aus dem Johannisevangelium, (Vgl. LUT, Joh 8,2-11.) für die Fontane „höchste Wertschätzung“ 96 hat. In der Forschung wird betont, dass diese die Milde, den Akt des Verzeihens in den Mittelpunkt stellt. 97 Damit ist jedoch nur ein Aspekt erfasst, denn Christus - ohne sich selbst zur Schuldfrage zu äußern - fordert die auf eine Verurteilung drängenden Pharisäer auf: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ (LUT, Joh 8,7.) 98 Weil jedoch keiner der Pharisäer selbst ohne Sünde ist, verschwinden diese nach und nach, ohne die Ehebrecherin zu bestrafen. Erst jetzt richtet Jesus das Wort an die Ehebrecherin selbst und erklärt, dass auch er sie nicht verurteilt, sie aber fortan nicht mehr sündigen solle. (Vgl. LUT, Joh 8,11.) Hiermit lässt sich zugleich das positive Romanende vorhersagen, denn Van der Straaten selbst hat sich - ganz im Sinne der Pharisäer - neuerdings (5) mit seiner „[...] Pariser Wirthin [...]“ (9) vergnügt, die er seiner Gattin gegenüber als „[...] beste Reise-Reminiscenz [...]“ (9) beschreibt. Dazu passend, wird der Erzähler später erklären, daß, wer in einem Glashause wohnt, nicht mit Steinen werfen soll. (131) Melanies Auslegung des Gemäldes erscheint dagegen unkonventionell, denn sie erkennt in Christi Worten nicht seine Milde bei gleichzeitiger Forderung 95 Das nicht genau zu datierende Gemälde „Cristo e l’adultera“ - Öl auf Leinwand, 114 cm× 220, 5 cm - be ndet sich zur Romanzeit und bis heute in der ‚Galleria dell’Accademia‘ in Venedig und ist lange Zeit dem venezianischen Maler Tintoretto zugeschrieben worden. Es stammt nach heutigem Kenntnisstand jedoch vom ämischen Maler Hans Rottenhammer (1564-1626), der das Bild im Stile Tintorettos gemalt hat. (Vgl. Bettina Brandl-Risi: BilderSzenen. Tableaux vivants zwischen bildender Kunst, Theater und Literatur im 19. Jahrhundert. Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien 2013 (= Rombach Wissenschaften. Reihe Scenae; Band 15), S. 273.) Fontane hat das Bild im Oktober 1874 in Venedig gesehen und ihm besonders gut gefallen. (Vgl. Rt, S. 318-319.) Daher ist hier Sabine Engel zu widersprechen, die behauptet, Fontane habe das Bild nicht besichtigt. (Vgl. Sabine Engel: ‚Mit Kunstgeschichte unterhalte ich dich nicht.‘, S. 189-190.) 96 Richard Faber: „... der hebe den ersten Stein auf sie.“ Humanität, Politik und Religion bei Theodor Fontane. Würzburg 2012, S. 144. 97 Vgl. ebd., S. 148. So werden Christi Worte zu „Vorboten und Garanten des versöhnlichen Ausgangs.“ (Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 224.) 98 Hier ist Antje Harnisch zu widersprechen, die meint, das Gemälde positioniere die Ehebrecherin nicht als eindeutig Schuldige, sondern unterminiere die Opposition „von schuldig und unschuldig, die von Madonna und Hure“. (Antje Harnisch: Keller, Raabe, Fontane, S. 142.) Vielmehr ist diese Interpretation allein Melanies Haltung zum Gemälde, denn weder dem Bild noch der Perikope ist diese tatsächlich eingeschrieben. (Vgl. hierzu LUT, Joh 8,7-11.) <?page no="67"?> 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße 55 nach Verhaltensänderung, sondern vielmehr „[...] so was Ermuthigendes darin. [...]“ (12) Sofort denkt sie sich in die Ehebrecherin hinein und meint zu erkennen, dass deren Schuldgefühle lediglich fremdbestimmt sind 99 und jene Reue nur empfände, um eine Strafe zu vermeiden. (Vgl. 12) 100 Resümierend kommt sie zu folgendem Urteil: „Es ist so viel Unschuld in ihrer Schuld ... Und Alles wie vorherbestimmt.“ (13) Damit spricht sie zugleich die biblische Ehebrecherin frei, denn der Ehebruch erscheint ihr „[p]rädestinirt! ...“ (15) So signalisiert Melanies Auslegung des Gemäldes ein allgemein problematisches Verhältnis zur romanzeitlichen Gesellschaft und zugleich eine geistige Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Urteilen. (Vgl. 9, 90, 110, 117-118) Während Melanie sich mit dem ‚Adultera‘-Gemälde auseinandersetzt, steht sie weiterhin am Fenster, dem Ort ihrer Sehnsuchtsanwandlung (10) und der darauf folgenden erotischen Konnotation des als Wagner-Figur imaginierten Kutschers, der das Gemälde bringt. Auf diese Weise werden Sehnsucht, Erotik, Gefahr und Untreue mit der Musik Richard Wagners verknüpft, deren sexuelle Komponente im 19. Jahrhundert allgemein bezeugt ist. 101 Melanie, als ob sie sich nunmehr von der Ehebrecherin des Gemäldes zu distanzieren anschickt, tritt vom Bild zurück und erkundigt sich nach dem geplanten Ausstellungsort. (Vgl. 13) Van der Straaten beabsichtigt das Gemälde an eine[r] Wandstelle neben seinem Schreibpult (13) aufhängen zu lassen, was Melanie aufgrund potentieller gesellschaftlicher Kommentare besorgt: „Es wird den Witz herausfordern und die Bosheit, und ich höre schon Rei und Duquede medisieren, vielleicht auf Deine Kosten und gewiß auf meine.“ (13) 102 Das Bild unterstellt etwas noch nicht Eingetretenes und erscheint in Verbindung mit dem zugedachten Ausstellungsort als A ront, den Melanie re ektiert: „Sage, was hast Du gegen mich? Ich weiß recht gut, Du bist nicht so harmlos, wie Du Dich stellst.“ (13) Zusätz- 99 Vgl. hierzu Hanni Mittelmann: Die Utopie des weiblichen Glücks in den Romanen Theodor Fontanes, S. 66 und ähnlich Katharina Grätz: Alles kommt auf die Beleuchtung an, S. 125. Auch „Die Wahlverwandtschaften“ beschreiben „den Kon ikt zwischen subjektiven, aus den Naturanlagen des Menschen resultierenden Wünschen und der gesellschaftlichen Moral“. (GP, Anmerkungen, S. 296.) 100 Melanies Auslegung ist umso bemerkenswerter, da die Beweggründe für den biblischen Ehebruch in der Perikope selbst keine Erwähnung nden. 101 Vgl. Fußnote 86 auf Seite 51 dieser Arbeit. 102 Vgl. ausführlicher zum männlichen Blick auf Frauen im Roman Sabina Becker: ‚Wiederhergestellte‘ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 135. <?page no="68"?> 56 Kapitel 2: Szenen einer Ehe lich macht der Kommerzienrat mit der Kopie seine Ehe „besprechungsfähig“, 103 indem er sie unbewusst „gesellschaftlich zur Diskussion“ 104 stellen möchte. Insbesondere erscheint mir der geplante Standort des Gemäldes von Relevanz, denn es handelt sich dabei um das Arbeits- und Wohnzimmer (8) des Kommerzienrates, also einen halbö entlichen Raum, und zusätzlich um eine Wandstelle neben seinem Schreibpult[,] (13) an dem er zu schreiben p eg[t.] (11) Die Nähe zum Schreibpult unterstreicht dabei eine Ö entlichkeitswirksamkeit, denn an diesem wird der Schriftverkehr und damit die ö entliche Kommunikation des Hauses besorgt. Melanie gibt zu bedenken, dass sich das Bild „[...] an diesem Pfeiler etwas sonderbar ausnehmen [...]“ (13) wird. 105 Dabei ist insbesondere der „[...] Eckpfeiler, [...]“ (15) Teil der Statik eines Hauses. Wenn Van der Straaten ausgerechnet diesen als Standort auswählt, erklärt er damit unterschwellig das ‚Adultera‘-Gemälde zur Grundlage, zum Dreh- und Angelpunkt des gemeinsamen Ehelebens. Melanie unterstellt ihrem Gatten im weiteren Gesprächsverlauf „[...] wunderliche Gemüthlichkeiten [...]“ (13) und glaubt beinahe, er könne jemanden ermorden und anschließend unbekümmert zur Tagesordnung übergehen: „[...] Und alles mit gutem Gewissen und gutem Schlaf.“ (13) Van der Straaten nimmt Melanies wenig schmeichelhafte Erläuterungen gelassen auf und glaubt sich nun seinen Necknamen (7) erklären zu können: „Also darum König Ezel! “, lachte Van der Straaten. „O nein. Nicht darum. Als ich Dich so hieß, war ich noch ein halbes Kind. Und ich kannte Dich damals noch nicht. Jetzt aber kenn’ ich Dich und weiß nur nicht, ob es etwas sehr Gutes oder etwas sehr Schlimmes ist, was in Dir steckt ... [...].“ (13) 103 Gerhard Neumann: Theodor Fontane, S. 82. 104 Ebd., S. 82. 105 Melanies Einschätzung scheint ebenfalls der venezianische Kunsthändler zu teilen, denn Salviati versendet die Kiste mit dem Vermerk: „zu eigenen Händen des Empfängers“. (11) Hierdurch wird beispielsweise eine Inaugenscheinnahme der Kopie durch das Personal im Kontor verhindert. Dies deckt sich mit der Einschätzung des Schweizer Kulturhistorikers Jacob Burckhardt (1818-1897), dessen Schriften Fontane oft konsultiert hat. Burckhardts Meinung nach muss das Sujet „L’Adultera“ für den Hausgebrauch bestimmt und nicht für Kirchen gemalt worden sein. Allerdings gibt er die verheerende Außenwirkung des Sujets in den Räumlichkeiten einer angesehenen Familie zu bedenken. (Vgl. Jacob Burckhardt: Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien. Hrsg. von Heinrich Wöl in. Berlin und Leipzig 1930, S. 399.) <?page no="69"?> 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße 57 Gleich wie der Kommerzienrat seine Gattin verkennt, (Vgl. 9) kann im Gegenzug auch Melanie - trotz gegenteiliger Behauptung - Van der Straaten nicht einschätzen. Erneut wird der übergroße Altersunterschied zwischen den Eheleuten thematisiert. 106 Renate Böschenstein sieht die „Kindsbraut“ 107 Melanie gar der Sexualität des älteren Mannes ausgeliefert, was sich nach ihrer Au assung im Necknamen „Ezel“ (7) widerspiegele, den sie dementsprechend als „Väterchen“ 108 deutet. Scheint sich diese Lesart vordergründig zu bestätigen - auch weil jenseits von Böschensteins Interpretation der Esel in der Symbollehre für Triebhaftigkeit steht 109 - verkennt dies, dass an zentralen Stellen des Romans die mangelnde bis nicht vorhandene Sexualität des Ehepaars verhandelt wird. 110 106 Auch der Kommerzienrat selbst re ektiert den großen Altersunterschied: „[...] Das Beste, was einer jungen Frau wie Dir passiren kann, ist doch immer die Wittwenschaft [...].“ (9) Das jugendliche, genauer minderjährige Alter der literarischen Figur entspricht dabei dem zeitgenössischen Heiratsalter der meisten bürgerlichen Mädchen innerhalb der außerliterarischen Realität. (Vgl. dazu Bettina Pohle: Kunstwerk Frau. Inszenierungen von Weiblichkeit in der Moderne. Frankfurt am Main 1998, S. 110.) Der Topos der Kindsbraut verknüpft sich in den Romanen Fontanes insbesondere mit dem Magdalenen-Thema als „Vorstellung von der schuldig-unschuldigen Sünderin“. (Irmgard Roebling: „E komm“ - Der Weg zu Fontanes berühmtester Kindsbraut. In: Zwischen Mignon und Lulu. Das Phantasma der Kindsbraut in Biedermeier und Realismus. Hrsg. von Malte Stein, Regina Fasold und Heinrich Detering, Berlin 2010 (= Husumer Beiträge zur Storm-Forschung; Band 7), S. 267-313, hier S. 294.) Einschränkend sei bemerkt, dass Melanie zum Zeitpunkt des Ehebruchs bereits zwischen 27 und 28 Jahre alt ist und damit nach Maßstäben des 19. Jahrhunderts in die Kategorie ‚reife‘ Frau einzuordnen ist, wie Roebling dies für die 33-jährige Elisabeth von Ardenne, dem außerliterarischen Vorbild für die Figur der E Briest, erläutert. (Vgl. ebd., S. 270.) 107 Karen Lili von der Hellen-von Harbou: Vater, Mutter, Kind - The Function of the Child in German Literature. Wyoming 2011 (= Masterarbeit an der dortigen Universität). Online abrufbar unter: https: / / search.proquest.com/ docview/ 866095168 (letzter Zugri am 20.02.2023), S. 88. 108 Renate Böschenstein: Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel, S. 346. Böschenstein sieht daher den Hauptgrund der Namenswahl Ezechiel (6) in der Extraktionsmöglichkeit des „Ezel“ (7) begründet. (Vgl. Renate Böschenstein: Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel, S. 346.) 109 Vgl. zur Symbolik des Esels Rolf Haaser: Esel. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 88-89, hier S. 88. 110 Vgl. dazu die Seiten 40, 47, 51 sowie 66 dieser Arbeit. Zudem wird Melanies Stellung später durch den Erzähler als dominirend (46) beschrieben. In diesem Kontext können Van der Straatens penetrante sexuelle Anspielungen in seinen Malereigesprächen (Vgl. beispielsweise 32, 34, 71) als eine Art der Kompensation betrachtet werden. <?page no="70"?> 58 Kapitel 2: Szenen einer Ehe Der Neckname „Ezel“ (7) steht jedoch in seiner Auslegung als Esel 111 nicht nur für Triebhaftigkeit, sondern auch für Trägheit und Dummheit, 112 was sich zum einen in Van der Straatens bequemer Art niederschlägt und zum anderen in seiner späteren Unfähigkeit, das Liebesverhältnis zwischen seiner Ehefrau und dem „[...] neuen Hausgenosse[n]“ (18) zu erkennen. Van der Straatens Interpretation seines Necknamens als „[...] König Eze[l]“ (13) liest sich wie eine Anspielung auf das Nibelungenlied, welches zwar im Unterschied zu „L’Adultera“ tragisch endet, jedoch trotzdem Parallelen aufweist: König Ezel heiratet Krimhild, die, ähnlich wie Melanie, als „[...] die schönste Frau im Land [...]“ (22) gilt. Sowohl im Nibelungenlied als auch im Roman „L’Adultera“ liegt der Eheschließung ein Tauschgeschäft zugrunde und beide Geschichten kreisen um das Thema der Treue. 113 Endlich gibt Van der Straaten den Grund für die Anfertigung seiner ‚Adultera‘- Kopie zu erkennen: „Ich habe Dich nie mit Eifersucht gequält, Lanni.“ „Und ich habe Dir nie Veranlassung dazu gegeben.“ „Nein. Aber heute roth und morgen todt. Das heißt, alles wechselt im Leben. Und sieh, als wir letzten Sommer in Venedig waren, und ich dies Bild sah, da stand es auf einmal Alles deutlich vor mir. Und da war es denn auch, daß ich Salviati bat, mir das Bild copiren zu lassen. Ich will es vor Augen haben, so als Memento mori [...]. Denn sieh, Lanni, auch in ihrer Furcht unterscheiden sich die Menschen. Da sind welche, die halten es mit dem Vogel Strauß und stecken den Kopf in den Sand und wollen nichts wissen. Aber andere haben eine Neigung, ihr Geschick immer vor sich zu sehen und sich mit ihm einzuleben. Sie wissen genau, den und den Tag sterb’ ich, und sie lassen sich einen Sarg machen und betrachten ihn eißig. Und die ständige Vorstellung des Todes nimmt auch dem Tode schließlich seine Schrecken. 114 Und sieh, Lanni, so will ich es auch machen, und das 111 Hier sei an die französische Aussprache des ‚z‘ als ‚s‘ erinnert. 112 Vgl. zur Symbolik des Esels erneut Rolf Haaser: Esel, S. 88. 113 Vgl. zum Nibelungenlied ausführlicher Irmgard Rüsenberg: Liebe und Leid, Kampf und Grimm. Gefühlswelten in der deutschen Literatur. Köln 2016, S. 260. 114 Hier sei auf eine weitere außerliterarische Parallele zur calvinistischen Familie Ravené verwiesen, denn der Vater, Pierre Louis Ravenè, ist gegen Ende seines Lebens Okkultisten erlegen, die prophezeien, er werde das Jahr 1861 nicht überleben, was sich als richtig erweist, denn er stirbt am letzten Tag des Jahres 1861, in der Silvesternacht. (Vgl. hierzu Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 171.) <?page no="71"?> 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße 59 Bild soll mir dazu helfen ... Denn es ist erblich in unserm Haus’ ... und so gewiß dieser Zeiger ...“ (14) Vergleichbar mit dem vordergründig unberechtigten Hundegebell, hat der Kommerzienrat gegenwärtig keinen objektiven Grund an der Treue seiner Ehefrau zu zweifeln und bringt von außen betrachtet erst mit der Anfertigung des Gemäldes seine Ehe in Gefahr, 115 weil er so einen Ehebruch überhaupt erst zu einer Möglichkeit werden lässt. 116 Er verstößt, wie ihn Melanie erinnert, gegen das Gebot, „[...] daß man den Teufel nicht an die Wand malen soll! “ (15) 117 sowie gegen sein eigenes Motto: „[R]ühret nicht daran! “ (6) 118 In der Forschung wird betont, mit der ‚Adultera‘-Kopie werde der Beginn der „Zersetzung seiner [...] Ehe“ 119 115 So kann Melanies Einschätzung, es handle sich um ein gefährliches Bild, (12) auch in dieser Hinsicht verstanden werden. 116 In der Forschung wird zum Teil von einem Kauf des Gemäldes gesprochen. (Vgl. beispielsweise Gabriele Altho : Weiblichkeit als Kunst, S. 14; Arturo Lacrati: Ekphrasis bei Fontane und Marie Luise Kaschnitz, S. 121 sowie Walter Müller-Seidel: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. Stuttgart 1975, S. 167.) Es handelt sich allerdings dezidiert nicht um den Kauf einer bereits vorhandenen Kopie, sondern vielmehr um eine Sonderanfertigung, die Van der Straaten in Venedig persönlich beauftragt. (Vgl. 12, 14) Diese Unterscheidung ist insofern bedeutsam, weil Van der Straaten den Ehebruch zwar für prädestiniert hält, das als Katalysator fungierende Gemälde jedoch nur auf sein persönliches Geheiß hin überhaupt existiert. Im Roman „E Briest“ begünstigt Baron v. Instettens Chinesenspuk - sein „Angstapparat aus Kalkül“ (EB, S. 157.) - ebenfalls, was er verhindern soll: den Ehebruch. 117 In diesem Zusammenhang spricht Herman Meyer tre end vom „Ehebruchsteufel“ (Herman Meyer: Das Zitat in der Erzählkunst. Zur Geschichte und Poetik des Europäischen Romans. Stuttgart 1961, S. 163.), den Van der Straaten buchstäblich an die Wand male. 118 Seine Devise bildet ein Zitat aus einem Gedicht von dem im 19. Jahrhundert beliebten Dichter Emanuel Geibel (1815-1885) und verweist bereits auf eine dritte Person, die sein Liebesglück stört: „Es brach schon manch ein starkes Herz, da man sein Lieben ihm entriß [...].“ (Vgl. hierzu ausführlicher Winfried Jung: Bildergespräche, S. 43-45 und ebenso Georg Büchmann: Ge ügelte Worte, S. 85.) 119 Gabriele Altho : Weiblichkeit als Kunst, S. 14. Hierzu ähnlich vermutet Walter Müller-Seidel in den Eingangskapiteln „eine zwar nicht besonders harmonische, aber im ganzen doch intakte Ehe“. (Walter Müller-Seidel: Theodor Fontane, S. 166-167.) Lieselotte Voss sieht eine Veränderung der Ehe sogar erst durch Rubehns Erscheinen bedingt und hält dies für „unglaubwürdig“. (Lieselotte Voss: Literarische Prä guration dargestellter Wirklichkeit bei Fontane, S. 156.) Diese Lesarten stehen beispielhaft für die allgemein negative Bewertung des Romans, die jedoch meiner Meinung nach in ihrer Begründung ungerechtfertigt ist, denn die ehelichen Kon iktfelder werden o enkundig, noch bevor der neue Hausgast in Erscheinung tritt. So zeigt beispielsweise Peter Wessels, wie sich anhand des Erö nungsgesprächs <?page no="72"?> 60 Kapitel 2: Szenen einer Ehe markiert. Jedoch ist diese bereits zuvor in ihrer problematischen Grundkonstellation gezeichnet worden, denn nicht nur das Ehepaar selbst lässt dies in seiner Interaktion erkennen, sondern auch [e]inige Freunde beider Häuser ermangelten selbstverständlich nicht, allerhand Trübes zu prophezeien. (7) Mit jener Einschätzung erschöpfen sich die Verbindungen zur calvinistischen Prädestinationslehre allerdings nicht, 120 denn Van der Straaten lässt die Kopie anfertigen, weil er beim Anblick des Originals sein eigenes Schicksal erkennt: „[...] als [...] ich dies Bild sah, da stand es auf einmal Alles deutlich vor mir. [...] Ich will es vor Augen haben, so als Memento mori [...].“ (14) Wie recht er mit dieser Einschätzung hat, wird o ensichtlich, denn die gebürtige Genferin 121 Melanie kommt die völlige Entfremdung des Ehepaares ablesen lässt. (Vgl. Peter Wessels: Konvention und Konversation, S. 165.) Hierzu passend sieht Waltraud Zuleger, die Vernunftehe als bereits zu Beginn gestört. (Vgl. Waltraud Zuleger: Die starke Frau. Untersuchungen zu einem Weiblichkeitsbild in der epischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1999 ( = Europäische Hochschulschriften; Band 1719), S. 117 und hierzu ähnlich Katharina Grätz: Alles kommt auf die Beleuchtung an, S. 125; Isabel Nottinger: Fontanes Fin de Siècle. Motive der Dekadenz in L’Adultera , Cécile und Der Stechlin . Würzburg 2003 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft; Band 464), S. 163 sowie Sabina Becker: ‚Wiederhergestellte‘ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 134-135.) Parallelen hat die innerliche Entfremdung der Eheleute vor Einsetzen der „Katastrophenhandlung“ (Werner Kohlschmidt: Fontanes Weihnachtsfeste. Eine Motiv- und Strukturuntersuchung. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 23 (1982), S. 117-142, hier S. 128.) mit derjenigen der Protagonisten im Roman „Unwiederbringlich“. (Vgl. ebd., S. 128.) 120 Mit dem Prädestinationsglauben ist Fontane durch seine hugenottische und damit calvinistische Herkunft vertraut. (Vgl. zum Prädestinationsgedanken bei Fontane exemplarisch Peter Wessels: Konvention und Konversation, S. 166-170.) Dies kommt auch im Roman „Vor dem Sturm“ zum Ausdruck, wenn der Erzähler bezüglich der Vermählung von Levin v. Vitzewitz und Marie Kniehase konstatiert: „Denn es war nur gekommen, was kommen sollte; das Natürliche, das von Uranfang Bestimmte hatte sich vollzogen“. (VS34, S. 459-460.) Überdies laufen ebenso in Fontanes Kriminalgeschichten respektive Schicksalsnovellen „[d]eterminierte Schicksale [ab]“. (Peter Wessels: Konvention und Konversation, S. 167.) Daher steht beispielsweise auf Hildes Grabstein in „Ellernklipp“: „„Ewig und unwandelbar ist das Gesetz! ““ (Ek, S. 134.) 121 Melanie stammt gerade nicht aus Paris, sondern aus Genf, „der ernsten, sittenstrengen calvinistischen Stadt“, (Renate Böschenstein: Rezension zum Fontane-Handbuch. Hrsg. von Christian Grawe und Helmuth Nürnberger. Stuttgart 2000. In: Verborgene Facetten. Studien zu Fontane. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer. Bearbeitet von Hanna Delf von Wolzogen, Christine Hehle und Ingolf Schwan (= Fontaneana; Band 3), S. 436-459, hier S. 450.) weil ihre Herkunft das Problem der Prädestination präsentieren muss. (Vgl. ebd., S. 450 sowie Walter Müller-Seidel: Theodor Fontane, S. 177.) <?page no="73"?> 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße 61 jenem Geständnis mit ihrer eigenen gefahrvollen Interpretation des Tintoretto zuvor: „[...] Und ich kann mir nicht helfen, es liegt so was Ermuthigendes darin. [...] Es ist so viel Unschuld in ihrer Schuld ... Und Alles wie vorherbestimmt.“ (12-13) Somit steht die kommerzienrätliche Ehe gänzlich im Zeichen der Prädestination; dies unterstreichend sind die Augen der gemeinsamen Tochter ernst und schwermüthig, als sähen sie in die Zukunft. (8) Gemeinhin möchte die Forschung im Kommerzienrat im Allgemeinen einen konvertierten Juden erkennen, 122 obwohl jener nicht nur ausdrücklich eine an- Durch ihre Schweizer Herkunft kann Melanie französische Wesenszüge haben, ohne dabei katholisch zu sein. Die französische Schweiz war teils katholisch, teils reformiert. (Vgl. hierzu Peter von Matt: Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz. München 2001, S. 13.) 122 Vgl. hierzu exemplarisch Hans Otto Horch: Von Cohn zu Isidor, S. 174; Hermann Lübbe: Fontane und die Gesellschaft. In: Literatur und Gesellschaft. Vom Neunzehnten ins Zwanzigste Jahrhundert. Festgabe für Benno von Wiese zu seinem 60. Geburtstag am 25. September 1963. Hrsg. von Hans Joachim Schrimpf. Bonn 1963, S. 229-273, hier S. 265; Peter Demetz: Formen des Realismus, S. 154; Susanne Konrad: Die Unerreichbarkeit von Erfüllung in Theodor Fontanes „Irrungen und Wirrungen“ und „L’Adultera“. Strukturwandel in der Darstellung und Deutung intersubjektiver Muster. Frankfurt am Main 1991 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1; Band 1265), S. 21; Henry H. H. Remak: Fontane und der jüdische Kulturein uß in Deutschland: Symbiose und Kontrabiose. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Der Preuße, die Juden, das Nationale. Band 1. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger. Würzburg 2000 (= Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.-17. September 1998 in Potsdam), S. 183-196, hier S. 192; Franziska Schößler: Der jüdische Börsianer und das unmögliche Projekt der Assimilation. Zu Fontanes Roman L’Adultera . In: Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus. Hrsg. von Ulrich Kittstein und Stefani Kugler. Würzburg 2007, S. 93-119, hier S. 98; Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 196-197; Christian Grawe: L’Adultera, S. 532 sowie schließlich Katharina Grätz: Ach Mutter, warum bist du keine geborene Bleichröder . Das Jüdische Diskursphänomen in Theodor Fontanes Romanen L’Adultera und Die Poggenpuhls . In: Philosemitismus: Rhetorik, Poetik, Diskursgeschichte. Hrsg. von Philipp Theisohn und Georg Braungart. München 2017, S. 245-268 hier S. 253. Vgl. zum ambivalenten und widersprüchlichen Thema ‚Fontane und die Juden‘ allgemeiner Wolfgang Paulsen: Theodor Fontane. The Philosemitic Anti-Semite. In: Yearbook of the Leo Baeck Institute 26 (1981), S. 303-322; Michael Fleischer: Fontane und die „Judenfrage“. Berlin 2009; Hans Otto Horch: Theodor Fontane, die Juden und der Antisemitismus. In: Fontane-Handbuch. Hrsg. von Christian Grawe und Helmuth Nürnberger. Stuttgart 2000, S. 281-305 sowie Jens Flemming: „Ich liebe sie, weil sie ritterlich und unglücklich sind“. Theodor Fontane, die Polen und das Polnische. In: Theodor Fontane. Berlin, Brandenburg, Preußen, Deutschland, Europa und die Welt. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen, Richard Faber und Helmut Peitsch. Würzburg 2014 (= Fontaneana; Band 13), S. 207-224, hier S. 211-213. <?page no="74"?> 62 Kapitel 2: Szenen einer Ehe scheinend gelegentlich gemunkelte jüdische Herkunft 123 prompt und beinahe paragraphenweise (6) zurückweist, 124 sondern auch einen genuin calvinistischen Habitus an den Tag legt. 125 An ihm bewährt sich der Prädestinationsglaube, den Fontane bedient sich „bedenkenlos des antisemitischen Codes seiner Zeit“. (Bernd Balzer: „Zugegeben, daß es besser wäre, sie fehlten, oder wären anders, wie sie sind“ - Der selbstverständliche Antisemitismus Fontanes. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Der Preuße, die Juden, das Nationale. Band 1. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger. Würzburg 2000 (= Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.-17. September 1998 in Potsdam), S. 197-210, hier S. 206. Vgl. ferner zu Fontanes mitunter antisemitischen Ressentiments Norbert Mecklenburg: Zwischen Redevielfalt und Ressentiment. Die ‚dritte Konfession‘ in Fontanes Mathilde Möhring . In: Theodor Fontane. Berlin, Brandenburg, Preußen, Deutschland, Europa und die Welt. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen, Richard Faber und Helmut Peitsch. Würzburg 2014 (= Fontaneana; Band 13), S. 245-267, hier S. 245-247.) 123 Das Trauerspiel „Uriel Acosta“ von Karl Gutzkow mit dem kommerzienrätlichen Namensvetter Manasse Vanderstraaten spielt in der jüdischen Gemeinde Amsterdams. (Vgl. hierzu sowie zu Gemeinsamkeiten mit „L’Adultera“ Humbert Settler: ‚L’Adultera‘ - Fontanes Ehebruchsgestaltung - auch im europäischen Vergleich, S. 136-137.) 124 Es sind nur wenige Forschungsmeinungen aus ndig zu machen, die den Kommerzienrat nicht für einen (konvertierten) Juden halten: So erkennt Conrad Wandrey im Kommerzienrat Van der Straaten „Fontanes erste[n] „klassische[n] Berliner““. (Conrad Wandrey: Theodor Fontane. München 1919, S. 177.) Während sowohl Marion Villmar-Doebeling als auch Wilhelm Hü meier sowie Irmela von der Lühe Van der Straaten aus jeweils unterschiedlichen Gründen für einen Calvinisten halten: Villmar-Doebeling, begründet dies unter anderem mit Van der Straatens „[...] holländischer Abstraction [...].“ (113-114. Vgl. ebenso Marion Villmar-Doebeling: Theodor Fontane im Gegenlicht, S. 101-102.) Wilhelm Hü meier hingegen betont, dass Bischof Roß, (7) der Van der Straaten getauft hat, reformiert gewesen ist. (Vgl. Wilhelm Hü meier: „Was ist , ist durch Vorherbestimmen.“ Spuren Calvins bei Theodor Fontane. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 102, 2 (2010), S. 239-260, hier S. 253.) Irmela von der Lühe sieht den Kommerzienrat als tief vom calvinistischen Prädestinationsgedanken durchdrungen. (Vgl. Irmela von der Lühe: „Wer liebt, hat recht“. Fontanes Berliner Gesellschaftsroman „L’Adultera“. In: Fontane Blätter 61 (1996), S. 116-133, hier S. 124.) 125 Bemerkenswert ist jedoch, dass textintern eine direkte Beantwortung der Frage nach einer calvinistischen oder jüdischen Herkunft des Kommerzienrats nicht gelingen und daher - wie oben erläutert - nur indirekt erfolgen kann. Im Zusammenhang mit Fontanes Roman „Mathilde Möhring“ (1906) erläutert Norbert Mecklenburg die sogenannte „‚Judenriecherei‘“. (Norbert Mecklenburg: Zwischen Redevielfalt und Ressentiment, S. 252.) Hierbei handelt es sich um ein beliebtes zeitgenössisches ‚Gesellschaftsspiel‘, genauer um die „‚Enttarnung‘ und Verdächtigung von Assimilierten als ‚verkappte‘ Juden.“ (Nobert Mecklenburg: Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt, Ressentiment. Stuttgart 2018, S. 198.) Auch „L’Adultera“ trägt Züge ebenjenes ‚Gesellschaftsspiels‘, wenn beispielsweise gemutmaßte familiäre Beziehungen zwischen dem Kommerzienrat und seinem jüdischen <?page no="75"?> 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße 63 das Judentum so nicht kennt: 126 Durch seinen eigenen Fatalismus verstellt sich Namensvetter Manasse Vanderstraaten gesellschaftlich thematisiert werden (Vgl. 6-7) und trotzdem stichhaltige Argumente dafür sprechen, dass Van der Straaten aus einer calvinistischen Familie stammt. Als Beispiel für die Blüten, die dieses noch heute treibt, sei Humbert Settler genannt, der absurderweise auch im Major v. Gryczinski, der ursprünglich aus einer katholischen Familie stammt, (Vgl. 135) einen Juden erkennen will und dies unter anderem mit einer scheinbaren gegenseitigen Bevorzugung der Juden untereinander begründet. (Vgl. Humbert Settler: ‚L’Adultera‘ - Fontanes Ehebruchsgestaltung - auch im europäischen Vergleich, S. 25.) Eine Bestätigung erfährt meine These, wenn Walter Hettche jüngst Fontanes Kunst ebenjener Verschleierung in seinen Gedichten „Wurzel’s (Berliner Ehedialoge)“ und „Schatten und Schemen“ o enlegt, die in folgender Notiz Fontanes auf dem Entwurfsblatt zu letzterem Gedicht kulminiert: „Alles mehr im unbestimmten lassen.“ (Vgl. hierzu Walter Hettche: Gelee, Gymnasium, Gesellschaftstrara. Zu Theodor Fontanes Gedicht „Wurzel’s“. In: Theodor Fontane. Hrsg. von Peer Trilcke. Dritte Au age. München 2019 (= Text + Kritik; Sonderband), S. 114-125, hier S. 120.) Generell ist Fontanes verhüllende Darstellungsweise darauf angelegt, dem Leser Rätsel aufzugeben. So bemerkt er selbst gegenüber seinem Verleger Wilhelm Hertz bezüglich seines Romans „Vor dem Sturm“: „Ich kann mir den Erfolg an dieser Stelle [gemeint ist die Leserschaft in der Provinz Posen] nachträglich auch sehr gut erklären. Die Weichsel-, Warthe- und Netze-Gegenden werden nämlich gerade vom Oderbruch aus colonisirt und alle reichen Bauerssöhne aus dem Dreieck Wrietzen-Küstrin-Frankfurt gehen ins Posensche, um dort ‚Rittergutsbesitzer‘ zu werden. Diese lesen natürlich gern von Manschnow und Gorgast und werden sich abquälen herauszukriegen, wer unter Vitzewitz, Pudagla, Drosselstein etc. eigentlich zu verstehen sei. Dies bildet immer das Haupt-Interesse. Räthsel lösen. Alles andere ist Nebensache.“ (Theodor Fontane: Brief an Wilhelm Hertz vom 09. Oktober 1878. In: Ders.: Der Dichter über sein Werk. Band 2. Hrsg. von Richard Brinkmann in Zusammenarbeit mit Waltraud Wiethölter. München 1977, S. 214-215, hier S. 215.) 126 Folgende Literaturstellen belegen dies exemplarisch: „Die Freiheit zur Entscheidung zeichnet den Menschen vor allen anderen Geschöpfen aus.“ (Dieter Vetter: Gott und Mensch in der jüdischen Tradition. In: Judentum verstehen. Die Aktualität jüdischen Denkens von Maimonides bis Hannah Arendt. Hrsg. von Hans Erler und Ernst Ludwig Ehrlich. Frankfurt am Main 2002, S. 17-31, hier S. 28.) „Die Annahme einer göttlichen Vorherbestimmung würde die Eigenverantwortung des Menschen schwächen. Deshalb lehnte sie Maimonides, Mose ben Maimon („RaM- BaM“), der mittelalterliche Rechtsgelehrte, in seinem Kommentar zur Mischna kategorisch ab: „Jeder Mensch ist Herr seines Tuns und Lassens. Wenn er sich auf den guten Weg begeben und ein Gerechter sein will, so steht es ihm frei. Wenn er sich auf den schlechten Weg begeben und ein Frevler sein will, so steht es ihm frei [...]. Laß dir nicht in den Sinn kommen [...], daß Gott über den Menschen vor seiner Geburt verhängt, daß er gerecht oder ungerecht handle [...]. [Der Mensch] betritt aus sich heraus nach seiner Erkenntnis, welchen Weg er will.“ (Ebd., S. 28.) Auch Josef Albo (um 1380 bis um 1444) weist rückblickend auf den „Schauprozess gegen das Judentum beim Religionsgespräch von Tortosa 1413/ 14“ (Ebd., S. 28.) in seinen Grundlehren diejenigen zurück, „die die Willensfreiheit leugnen“. (Ebd., S. 28.) Dazu <?page no="76"?> 64 Kapitel 2: Szenen einer Ehe Ezechiel 127 selbst den Blick auf sein Fehlverhalten, durch das er Melanie in der Folge gänzlich von sich entfremden wird. (Vgl. 77) Anstatt sich und sein Verhat ihn nicht nur „der Standpunkt des Judentums“ (Ebd., S. 29.) veranlasst, sondern auch seine Erkenntnis, dass die Verneinung der freien Wahl die menschliche Verantwortungsfähigkeit verachte und deshalb „an sich falsch und unsittlich“ (Ebd., S. 29.) sein müsse. „Gott hat den Menschen so gescha en, daß sein Wille [...] frei über Gehorsam oder Sünde entscheiden kann.“ (Gerhard Maier: Mensch und freier Wille: Nach den jüdischen Religionsparteien zwischen Ben Sira und Paulus. Tübingen 1971, S. 113.) 127 Ich möchte hier noch eine andere Überlegung anführen, die im Zusammenhang mit dem alttestamentlichen Vornamen Ezechiel steht. In der Forschung wird dies gemeinhin als Beleg einer jüdischen Herkunft gesehen und auch der Erzähler nennt seinen Vornamen etwas suspec[t,] (8) doch gerade der Calvinismus befördert die Vergabe alttestamentlicher Vornamen: „Die Genfer Reformation Calvins schuf ein völlig neues Verhältnis zur Bibel, insbesondere zum Alten Testament. [...] Diese Wiederbelebung des Alten Testaments äusserte sich besonders deutlich in der Namengebung. Waren im Spätmittelalter die alttestamentlichen Namen vor allem typisch für die Juden gewesen, wurden sie nun zu einem der hauptsächlichsten sprachlichen Züge des calvinistischen Protestantismus. Ueberall, wo sich der Calvinismus durchsetzte, nden wir alttestamentliche Namen, bei den französischen Hugenotten, bei den Reformierten der Niederlande und am Niederrhein [...].“ (Willy Richard: Untersuchungen zur Genesis der reformierten Kirchenterminologie der Westschweiz und Frankreichs: mit besonderer Berücksichtigung der Namengebung. Bern 1959 (= Romanica Helvetica; Volume 57), S. 193.) Dabei sind bei den Calvinisten die alttestamentlichen Namen an die Stelle der traditionellen Heiligennamen getreten. (Vgl. ebd., S. 199.) “[D]en alttestamentlichen Namen gegenüber ißt die abendländische Kirche zurückhaltend gewesen - bis der Calvinismus aufkam.“ (Adolf von Harnack: Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten. Band 2. Dritte Au age. Leipzig 1915, S. 415.) Ebenso berichtet Augusti im Jahr 1836, dass Reformierte alttestamentliche Namen verteilen. (Vgl. Johann Christian Wilhelm Augusti: Handbuch der christlichen Archäologie. Ein neugeordneter und vielfach berichtigter Auszug aus den Denkwürdigkeiten aus der christlichen Archäologie. Zweiter Band. Leipzig 1836, S. 478.) Einen Hinweis auf alttestamentliche Vornamen im Zusammenhang mit den französischen Hugenotten gibt zudem der Roman selbst durch die Figur Duquede: Von einer beinah gleichen Empörung war er gegen das zum Französiren geneigte Berlinerthum erfüllt, das ihn, um seines „qu“ willen, als einen Colonie-Franzosen ansah und seinen altmärkischen Adelsnamen nach der Analogie von Admiral Duquesne auszusprechen p egte. (24) Der französische Vizeadmiral und Seeheld Abraham (sic! ) Duquesne (1610-1688) wird als einziger von der allgemeinen Verbannung der calvinistischen Protestanten verschont. (Vgl. zu Duquesne exemplarisch LA, Anmerkungen, S. 220.) Sowohl das außerliterarische Vorbild für den Roman, Familie Ravenè, als auch Fontane selbst stammen von eingewanderten Hugenotten ab. (Vgl. dazu Bernd W. Seiler: Fontanes Berlin, S. 9 und 35.) Seiler glaubt, hierin „eine bemerkenswerte Abweichung der Vorbildgeschichte“ (Ebd., S. 35.) zu erkennen, weil er Van der Straaten gleichfalls für einen Juden hält. <?page no="77"?> 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße 65 halten zu ändern, versucht er, sich mit seinem mutmaßlich vorherbestimmten Schicksal - der Treuelosigkeit seiner Gattin - einzuleben (14) und zieht es deshalb vor, Alles beim Alten zu belassen. (6) Ganz in diesem Sinne nimmt er Melanie nicht als Individuum wahr, 128 sondern weist ihr im unabänderlichen Lauf seines Lebens die Rolle der Ehebrecherin zu. Das Romangeschehen lässt somit eine calvinistische Herkunft nicht nur Melanies, sondern insbesondere auch Van der Straatens als äußerst naheliegend erscheinen. Jenseits der von Van der Straaten in Anschlag gebrachten Funktion des Bildes als Memento mori, (Vgl. 14) kann eine zusätzliche Kontroll- und Erziehungsfunktion 129 vermutet werden. Dies erscheint mir insbesondere bedeutsam, da hierüber erneut eine Verbindung zu Venedig hergestellt werden kann, denn um einen weiblichen Ehebruch im Venedig des 16. Jahrhunderts, also zur Zeit Tintorettos, zu verhindern, haben Gemälde, insbesondere das Sujet der ‚Adultera‘, als Mahnung fungiert. 130 Jene beabsichtigte Kontrollfunktion verfehlt jedoch ihre Wirkung, denn zum einen fühlt Melanie sich durch die ‚Adultera‘ ermutigt und glaubt durch die spezi sche Gestaltung des Sujets durch Tintoretto an eine Vorherbestimmung des biblischen Ehebruchs, (Vgl. 13) zum anderen wird das Gemälde schließlich doch in die Galerie geschickt, so dass es potentiellen Besuchern sowie Melanie im Wesentlichen verborgen bleibt. (Vgl. 15) Weil das Gespräch schnell eine scherzhafte Wendung (15) nimmt, erklärt sich Melanie den Kauf der Kopie mit der Bildersammelleidenschaft ihres Gattens: „Und ich war eigentlich eine Thörin und ein Kindskopf, daß ich alles so bitter ernsthaft genommen und Dir jedes Wort geglaubt habe! Du hast das Bild haben wollen, c’est tout.“ (15) Die Gespräche zwischen den Eheleuten verlaufen dabei 128 Dieser Zug erscheint ebenfalls als calvinistisch. (Vgl. Marion Villmar-Doebeling: Theodor Fontane im Gegenlicht, S. 101-102.) 129 Im ursprünglich geplanten Ausstellungsort sieht John Osborne neben der ständigen Konfrontation Van der Straatens auch eine Einladung an andere Betrachter, die potentiell ehebrüchige Ehefrau zu überwachen. (Vgl. John Osborne: Vision, Supervision, and Resistance. Power Relationships in Theodor Fontane’s L’Adultera . In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 70 (1996), S. 67-79, hier S. 70.) Arturo Lacrati hingegen will den Tintoretto ausschließlich im Sinne einer „präventive[n] Kontrolle“ (Arturo Lacrati: Ekphrasis bei Fontane und Marie Luise Kaschnitz, S. 121.) verstanden wissen. Diesen Aspekt wiederum sieht Marion Villmar-Doebeling ebenfalls als einen calvinistischen Zug. (Vgl. Marion Villmar-Doebeling: Theodor Fontane im Gegenlicht, S. 101-102.) 130 Vgl. hierzu Sabine Engel: Das Lieblingsbild der Venezianer. Christus und die Ehebrecherin in Kirche, Kunst und Staat des 16. Jahrhunderts. Berlin 2012, S. 254. <?page no="78"?> 66 Kapitel 2: Szenen einer Ehe überwiegend unpersönlich: Melanie ist wirklich überrascht gewesen [...], weil alles eine viel persönlichere Richtung nahm als bei früheren Gelegenheiten. Aber nun war es vorüber. Das Bild erhielt seinen Platz in der Galerie, man sah es nicht mehr[.] (16) Einerseits ist durch das Bild ein potentielles Kon iktfeld innerhalb der Ehe angesprochen worden, andererseits wird dieses in der Folge buchstäblich aus dem gemeinsamen Blickfeld und damit dem gemeinsamen Diskurs ausgelagert. Das Kapitel schließt damit, dass Melanie die kleine durchbrochene Treppe hinauf [steigt], die, von Van der Straatens Zimmer aus, in die Schlafzimmer des zweiten Stockes führte. (15) Durch diese Verbindungstreppe wird die sexuelle Kontroll- und Verfügungsgewalt 131 des Kommerzienrats gegenüber seiner Ehefrau über die Architektur des Stadthauses re ektiert. Weil Melanie diese jedoch allein hinaufsteigt, wird zugleich die fehlende Sexualität innerhalb der Ehe raumsemantisch mitgeteilt 132 und in einer anderen Lesart dokumentiert, dass die Verfügungsgewalt des Kommerzienrats im Lichte des Romangeschehens eher theoretischer Natur ist. 2.2.4 Der Ehebruch - topographisch prädestiniert Die französische Stutzuhr, die ich bereits Melanie zugeordnet habe, wird über die Metapher von der Unaufhaltsamkeit der Zeit mit der Unaufhaltsamkeit eines Ehebruchs in Zusammenhang gebracht: „Denn es ist erblich in unserm Haus’ ... und so gewiß dieser Zeiger ...“ (14) Über die Herkunft der Uhr wird gleichzeitig auf 131 Die sexuelle Verfügungsgewalt über die Ehefrau liegt gemäß der Gesetzbücher des Wilhelminischen Kaiserreichs auf Seiten des Ehemannes. (Vgl. hierzu allgemein Sabina Becker: ‚Wiederhergestellte‘ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 134 und 136.) Dazu sei angemerkt, dass in der Bundesrepublik Deutschland das uneingeschränkte sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Ehefrau jedoch auch erst seit Juli 1997 existiert. Zuvor hat es den Straftatbestand der Vergewaltigung sowie der sexuellen Nötigung innerhalb der Ehe nicht gegeben, weil diese als rein außereheliche Straftaten de niert worden sind. (Vgl. dazu Regina-Maria Dackweiler: Staatliche Rechtspolitik als geschlechtspolitische Handlungs- und Diskursarena. Zum Verrechtlichungsprozeß von Vergewaltigung in der Ehe. In: Gewalt-Verhältnisse: feministische Perspektiven auf Geschlecht und Gewalt. Hrsg. von ders. und Reinhild Schäfer. Frankfurt am Main, New York 2002 ( = Politik und Geschlechterverhältnisse; Band 19), S. 107-134, hier S. 107.) 132 Dazu passt Sigmund Freuds allgemeine psychoanalytische Einschätzung, das Absowie Aufsteigen auf der Treppe sei eine „„symbolische Darstellun[g] des Geschlechtsaktes““. (Michael Eggers: Leiter/ Treppe. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 203-204, hier S. 204.) <?page no="79"?> 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße 67 die vermeintlich französische Schwäche der Untreue verwiesen, die der Erzähler bereits zuvor angedeutet hat: Alle Vorzüge französischen Wesens erschienen in ihr vereinigt. Ob auch die Schwächen? Es verlautete nichts darüber. (7) 133 Van der Straaten begründet sein Wissen um einen bevorstehenden Ehebruch mit den Worten „[...] [d]enn es ist erblich in unserm Haus’ [...]“ (14) und wirft damit ein weiteres Schlaglicht auf die Adresse Große Petristraße[.] (5) Diese be ndet sich auf der Spreeinsel Cölln, welche als einstiges wendisches Fischerdorf dem Patronat des Apostels Petrus untersteht. 134 Jener steht traditionell als Figuration der Verleugnung. 135 So kann die ktive Erweiterung des Straßennamens um das Große (5) als Hinweis auf die Schwere der kommenden Verleugnung - hier in Form eines Ehebruchs sowie des Verlassens der Kinder - verstanden werden. 136 133 Treulosigkeit ist im romanzeitlichen Preußen als französischer Wesenszug verstanden worden. (Vgl. hierzu Kathrin Bilgeri: Die Ehebruchromane Theodor Fontanes. Eine gurenpsychologische, sozio-historische und mythenpoetische Analyse und Interpretation. Freiburg 2007 (= Dissertation an der dortigen Universität). Online abrufbar unter: http: / / www.freidok.uni-freiburg.de/ volltexte/ 3879 (letzter Zugri am 20.02.2023), S. 114.) So habe Reichskanzler Otto von Bismarck laut Minister Lucius von Ballhausen bei einer seiner Soireen bezüglich der stadtbekannten Ehebruchsgeschichte der Familie Ravené, die als reales Vorbild für den Roman dient, bemerkt: „Das Ereignis Ravené beraubt für mich Berlin einer Dekoration, solche Dinge kamen früher nur in der französischen Gesellschaft vor.“ (Freiherr Lucius von Ballhausen: Bismarck- Erinnerungen. Stuttgart und Berlin 1921, S. 58-59.) 134 Vgl. dazu L.[udwig] Rellstab: Berlin und seine nächsten Umgebungen in malerischen Originalansichten. Historisch-topographisch beschrieben von dems. Darmstadt 1854, S. 169. 135 Im Unterschied zu Renate Böschenstein die - im Zusammenhang mit der Großen Petristraße sowie der Roman gur Tubal aus dem Roman „Vor dem Sturm“, die zunächst Peter heißen sollte - von der „Figuration des Verrats“ (Renate Böschenstein: Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel, S. 335.) spricht, verwende ich den Begri der Verleugnung, da es einen qualitativen Unterschied zwischen dem Verrat des Judas und der Verleugnung des Petrus gibt. (Vgl. zum Unterschied zwischen Verrat und Verleugnung Arnd Pollmann: Unmoral. Ein philosophisches Handbuch. Von Ausbeutung bis Zwang. München 2010, S. 218-222.) Pollmann unterscheidet insbesondere zwischen dem Verrat des Judas einerseits und Petrus Vergehen andererseits, der zwar leugnet Jesus zu kennen, aber keine vertraulichen Informationen preisgibt, „so dass es terminologisch irreführend wäre, Petrus einen „Verrat“ an Jesus vorzuwerfen.“ (Ebd., S. 222.) 136 An dieser Stelle ist Bernd W. Seiler zu widersprechen, der in der Modi kation der realempirischen Welt keine literarische Strategie zu erkennen vermag, sondern vielmehr aufgrund der realtopographischen Enge der Petristraße schlussfolgert, es könne sich deshalb im Roman nicht um die Petristraße handeln. (Vgl. Bernd W. Seiler: Fontanes Berlin, S. 36.) <?page no="80"?> 68 Kapitel 2: Szenen einer Ehe Mit der topographischen Situierung des Wohnorts wird der Ehebruch einerseits antizipiert, andererseits ndet er darin auch seinen Ursprung, wenn Van der Straaten einen gefürchteten Ehebruch mit dem „Van der Straaten’schen Hausgesetz“ (115) verknüpft: „[...] Denn es ist erblich in unserm Haus’... [...].“ (14) Hierzu passend erscheint die Hausnummer Vier 137 als Hinweis auf seinen Vornamen Ezechiel, denn dem gleichnamigen Propheten ist diese Zahl aufgrund seiner Visionen zugeordnet. 138 Dies korrespondiert einerseits mit Van der Straatens Vision eines prädestinierten Ehebruchs, (Vgl. 14-15) andererseits lässt Fontanes Namenswahl eine Diskrepanz zum Vorbild erkennen, steht doch der Prophet Ezechiel aus dem Alten Testament gerade für die Abscha ung der Sippenhaft und dafür, dass jeder Mensch für sein eigenes Schicksal verantwortlich zeichnet. (Vgl. LUT, Ez 18,1-32.) 139 Der Glockenturm der Petrikirche 140 versinnbildlicht die bevorstehende Verleugnung der Ehe und impliziert gleichzeitig durch sein beinah unmittelbar[es] (8) Emporragen 141 eine fast unmittelbar bevorstehende Gefahr. 142 Weil die Kirche im 19. Jahrhundert eine normsetzende Instanz des individuellen und sozialen 137 Dem im Roman beschriebenen Haus kommt realtopographisch nicht die Hausnummer Vier zu, so dass eine poetologische Relevanz der Vier vermutet werden kann. (Vgl. JS1910, Blatt III. A.) 138 Vgl. hierzu Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S. 460. 139 Im Lichte der Romanhandlung erö net dies die Lesart, dass Van der Straaten, obgleich er sein Schicksal für prädestiniert hält, im Grunde doch selbst dafür verantwortlich zeichnet. 140 Der schlanke Turm des neugotischen Backsteinbaus ist mit seinen 96 Metern der bis dahin höchste Berlins und ein Wahrzeichen der Stadt. (Vgl. Gerhard Boß: Die Sprengung von St. Petri. Ein langer Abschied von 1960 bis 1964. In: Berliner Altstadt. Von der Stadtmitte zur Staatsmitte. Hrsg. von Hans Stimmann. Berlin 2009, S. 123-128, hier S. 123.) 141 Dies entspricht nicht den realen topographischen Gegebenheiten, denn die 1853 von Johann Heinrich Strack gebaute neugotische Petrikirche ist zwar am alten Standort, jedoch nach Südwesten gedreht, errichtet worden. Dies hat zur Folge, dass die Glocken in entgegengesetzter Richtung zur Petristraße gebaut sind. (Vgl. Hans Stimmann: Rund um den Petriplatz. In: Berliner Altstadt. Von der DDR-Staatsmitte zur Stadtmitte. Hrsg. von dems. Berlin 2009, S. 116-121, hier S. 117.) 142 Kirchtürme haben in Fontanes Romanen für Susanne Ledan im Allgemeinen eine warnende Funktion. (Vgl. Susanne Ledan : Das Bild der Metropole, S. 208.) Hierzu passend liest Albrecht Kloepfer den in seiner Bedrohlichkeit aufragenden Kirchturm als ein „unverrückbares Menetekel“, (Albrecht Kloepfer: Fontanes Berlin, S. 70.) dem sich Melanie erst in der spreeabwärts am Nordwestrande des Thiergartens gelegene[n] Villa (8) entziehen kann. Folgerichtig wird sich deshalb auch im Privatpark der Tiergartenvilla der spätere Ehebruch ereignen. <?page no="81"?> 2.2 Am Morgen: Frühstück in der Großen Petristraße 69 Lebens darstellt, 143 kann der Zwang, den Melanie im Stadthaus verspürt (Vgl. 16, 46) ebenso in diesem Kontext gelesen werden. 144 Hierfür zeichnet gleichfalls ein weiteres Detail des kommerzienrätlichen Wohnortes verantwortlich: Im 17. Jahrhundert wird die Doppelstadt Berlin und Cölln mit einem Festungsring umgeben. Ab dem Jahr 1658 beginnen „die Arbeiten an der Ausführung der Forti kation mit ihren 13 regelmäßig verteilten Bollwerken, dem 8 Meter hohen Wall und Wassergraben nach holländischem Vorbild.“ 145 Dies geht mit einer massiven Befestigung der drei 146 im Einzugsgebiet der Stadt be ndlichen Spreearme einher. 147 Hierzu passend können optimierte Wasserstraßen als Metapher für eine Disziplinierung des Raumes gelesen werden, 148 so wie Melanie sich zu zwingen verst[eht]. (46) 149 143 Vgl. exemplarisch Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Erster Band. Arbeitswelt und Bürgergeist. 3. Au age. München 1993, S. 428. 144 Hierzu ähnlich versinnbildlicht im Roman „Irrungen, Wirrungen“ Lene Nimptschs Umzug und ihr neuer Ausblick „statt auf die phantastischen Thürme des Elephantenhauses auf die hübsche Kuppel der Michaeliskirche“ (IW, S. 128.) „ihren Liebesverzicht zugunsten einer Anpassung an die gesellschaftlichen Leitlinen“. (Maria A. Schellstede: Mehr als ein literarisierter Stadtplan, S. 81.) 145 Herbert Nicolaus und Alexander Obeth: Die Stalinallee. Geschichte einer deutschen Straße. Berlin 1997, S. 17. Spuren dieses architektonischen Umbaus nach holländischem Vorbild nden sich beispielsweise im Straßennamen der Friedrichsgracht, die bis heute noch diesen Namen trägt. (Vgl. Felix Escher: Die Mitte Berlins, S. 142.) 146 Der nördlichste Spreearm, der sogenannte Königsgraben, ist im Frühjahr 1879 im Zuge des S-Bahn-Baus zugeschüttet worden. (Vgl. Falko Krause: Die Stadtbahn in Berlin. Planung, Bau, Auswirkungen. Hamburg 2014, S. 72.) 147 Vgl. Stefan Hirtz: Grenzen und Stadttore von Berlin. Positionen der Toranlagen im Stadtgrundriß und ihr Ein uß auf das Stadtbild. Hamburg 2000, S. 6-18 sowie zur historischen Entwicklung des Spreeverlaufs im stadtnahen Gebiet J. M. F. Schmidt: Historischer Atlas von Berlin, in VI Grundrissen nach gleichem Maßstabe; von 1415 bis 1800. Berlin 1835. Online abrufbar unter: https: / / digital.zlb.de/ viewer/ image/ 15453722/ 1/ LOG _0000 (letzter Zugri am 11.01.2023). 148 Vgl. zur Metaphorisierung von Wasserstraßen Stefanie Krebs und Manfred Seifert: Multiple Perspektiven auf Landschaft. Zur Einführung. In: Landschaft quer Denken. Theorien - Bilder - Formationen. Hrsg. von dens. Leipzig 2012 (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde; Band 39), S. 11-16, hier S. 15. 149 In diesem Zusammenhang sei auf Sigrid Weigels Gedanken zur weiblichkeitseinhegenden Metaphorik von Stadtmauern verwiesen: „Für das Weibliche versinnbildlicht die Stadtmauer [...] eine Aufspaltung in die ungebändigte Natur draußen und in die domestizierte, entsexualisierte Frau, ihre erstarrte, versteinerte, in den Mauern der Stadt buchstäblich gefangene Existenzweise: Die Stadtmauern, die sich drinnen in den Häuserwänden vervielfältigen, begrenzen den Ort der Frau im Sozialen als ‚lebendig Begrabene‘.“ (Sigrid Weigel: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Hamburg 1990, S. 159.) <?page no="82"?> 70 Kapitel 2: Szenen einer Ehe Die Insellage Cöllns sowie die isolierte Lage der Petristraße versinnbildlichen darüber hinaus Melanies isolierte Lage innerhalb des Van der Straatenschen Familien- und Freundschaftsgefüges. 150 Einerseits lieb[t] sie die Stadt und Gesellschaft und den Ton der großen Welt, (46) ist jedoch durch den mangelnden Weltschli (5) ihres Mannes in diese nur bedingungsweise (5) eingebunden. Unterstrichen wird diese Isolation durch die topographische Lage des Stadthauses auf der Insel Cölln. 151 Die Tatsache, dass nach dem Subscriptionsball gerade nicht über sie, sondern ihre vermeintliche Rivalin Maywald berichtet wird, (Vgl. 9) zeigt ihr gesellschaftliches Außenvorsein, weil Melanie trotz ihrer vielbewunderten Schönheit (Vgl. 22, 23, 34, 100, 103, 104) und heitere[n] Grazie (7) im Subscriptions- Ball-Bericht (8) eben keine Erwähnung ndet. 152 Bestätigung erfährt diese These zwölf Kapitel später, wenn im Hause der Gryczinskis der Silversterball gegeben wird, (Vgl. 103) obwohl das Haus Van der Straaten sehr viel reicher ist. 2.3 Am Mittag: „Dazwischenkunft eines Dritten“ 2.3.1 Melanies Zimmer Die ersten beiden Kapitel des Romans haben dem Leser die Di erenzen und De zite innerhalb der kommerzienrätlichen Ehe vorgeführt. Die topographische Lage des Stadthauses gibt dabei Auskunft über die ambivalente Persönlichkeitsstruktur des Kommerzienrats sowie seine mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz. Mittels einer venezianischen Kopie des Gemäldes „Cristo e l’Adultera“ wird durch Van der Straaten auf einen potentiellen zukünftigen Ehebruch seitens Melanie angespielt, der ihm gleichsam „[...] wie vorherbestimmt [...]“ (13) erscheint. Untermauert wird dies über die Semantik der Verleugnung, die der Adresse Große Petristraße (5) eingeschrieben ist. Durch die Unterbringung der Kopie in der 150 Dies o enbart sich gleichfalls in der Zusammensetzung des engeren Zirkels beim Abschieds-Diner, welches Henry Garland mehr als Bachelor-, denn als Gesellschaftsabend wertet. (Vgl. Henry Garland: The Berlin Novels of Theodor Fontane, S. 51.) 151 Auch im Roman „Der Stechlin“ lässt sich ein Zusammenhang zwischen topographischer und gesellschaftlicher Isolation der Familie Barby erkennen. Diese leben mehr in einem kleinen Kreis für sich, was sich am Standort ihres Wohnortes ablesen lässt, denn dieser ist von seinen Nachbarhäusern „durch zwei Terrainstreifen getrennt“. (DS, S. 127. Vgl. hierzu ausführlicher Helen Chambers: Großstädter in der Provinz, S. 217.) 152 Vgl. zur soziokulturellen Bedeutung von Bällen in Fontanes Werk allgemein Walter Salmen: „An Sylvester war Ressourcenball ...“, S. 115. <?page no="83"?> 2.3 Am Mittag: „Dazwischenkunft eines Dritten“ 71 Galerie und nicht wie zunächst geplant in Van der Straatens Wohn- und Arbeitszimmer[,] (8) verliert jene jedoch ihre erinnernde sowie mahnende Funktion und wird nur gelegentlich und ausdrücklich zufällig (16) vom Kommerzienrat wahrgenommen, der dann in beinah heiterer Resignation (16) lächelt: Im resignierenden Lächeln erscheint der Ehebruch seiner Frau erneut als Prädestination prä guriert, die sich bereits in einem kommerzienrätlichen Glaubenssatz alludiert hat: „Lache nicht. Es kommt, was kommen soll. [...].“ (15) Dem kommerzienrätlichen Ehepaar begegnet der Leser erneut nach einem Zeitsprung, an einem der letzten Apriltage (16) und erfährt: Es war eine belebte Saison gewesen 153 [...] und die Wochen waren wieder da, wo herkömmlich die Frage verhandelt zu werden p egte: „Wann ziehen wir hinaus? “ „Bald,“ sagte Melanie, die bereits die Tage zählte. (16) Da Melanie den Umzug kaum abwarten kann, wird hiermit die spreeabwärts am Nordwestrande des Thiergartens gelegene Villa (8) als ihr Sehnsuchtsort markiert. Am Mittag desselben Tages informiert Van der Straaten seine Gattin, dass er ihr [...] eine Mittheilung zu machen habe. (16-17) Er betritt bald nach erfolgter Anmeldung [...] in einer gewissen humoristischen Aufgeregtheit (17) ihr Zimmer. Währenddessen spricht Melanie gerade mit ihrem grauen Kakadu, der sein von der Dienerschaft gleichmäßig gehaßtes und beneidetes Dasein führte. (17) Während der Kakadu in der Forschung als exotisches Accessoire „einer eleganten Finde-siècle-Einrichtung“ 154 gesehen wird, unterstreicht seine graue Farbe erneut Melanies melancholischen Grundzustand. 155 Renate Böschenstein bemerkt, dass 153 Die sogenannte Saison liegt im Winterhalbjahr zwischen Oktober und März. In dieser Zeit besucht sich die Gesellschaft gegenseitig in ihren Häusern. (Vgl. hierzu exemplarisch Birgit Wörner: Frankfurter Bankiers, Kau eute und Industrielle. Werte, Lebensstil und Lebenspraxis 1870 bis 1930. Frankfurt am Main 2011 (= „Mäzene, Stifter, Stadtkultur“. Schriften der Frankfurter Bürgerstiftung und der Ernst Max von Grunelius-Stiftung; Band 9), S. 109.) Auch folgende erzählerische Passage im Roman „E Briest“ greift dies auf: „Das gesellschaftliche Leben der großen Stadt war [...] während der ersten Aprilwochen [...] noch nicht vorüber, wohl aber im Erlöschen [...]. In der zweiten Hälfte des Mai starb es dann ganz hin [...].“ (EB, S. 244.) 154 Renate Böschenstein: Storch, Sperling, Kakadu: eine Fingerübung zu Fontanes schwebenden Motiven. In: Verborgene Facetten. Studien zu Fontane. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer. Bearbeitet von Hanna Delf von Wolzogen, Christine Hehle und Ingolf Schwan. Würzburg 2006 (= Fontaneana; Band 3), S. 247-266, hier S. 247. Vgl. ähnlich: Nina Hirschbrunn: „Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.“, S. 73. 155 Grau gilt als Farbe der Melancholie. (Vgl. hierzu Gerhard Kurz: Grau, S. 137.) <?page no="84"?> 72 Kapitel 2: Szenen einer Ehe der Kakadu zwei Rätsel aufgebe: Erstens dränge sich die Frage auf, warum Melanie einen grauen und nicht einen der weitaus beliebteren rosenroten oder weißgelben Kakadus besitzt? Zweitens taucht der Vogel trotz seiner Stellung als der eigentliche Tyrann des Hauses (17) im Roman nicht mehr auf. 156 Hierzu möchte ich folgende Interpretation anbieten: Der Kakadu ist die einzige Papageienart mit einer Federhaube und steht somit nicht nur über seine graue Farbe, sondern auch über seine Haube, die auf Melanies Familiennamen de Caparoux (7) verweist, in enger Verbindung zur Protagonistin. Zugleich ist die einzige fast gänzlich graue Kakaduart der Helmkakadu, der im Französischen Cacatoés à tête rouge heißt. Die Männchen dieser Art haben eine mohnrespektive orangerote Kopfhaube, während diese beim Weibchen dunkelgrau bis schwarz ist. Zusätzlich bekommen ältere Weibchen dieser Kakaduart einzelne mohnblütenfarbene Federn auf dem Kopf, was mit dem Portrait Melanies in ganzer Figur (17) korrespondiert, sie selber eben beschäftigt ein paar Mohnblumen an ihren Hut zu stecken. (17) Somit verweist der Kakadu dreifach auf Melanie de Caparoux mit den schwarzen Haaren. (Vgl. 161) Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Rolle als Tyrann des Hauses (17) eigentlich Melanie zugedacht ist und durch den Kakadu als ihrem Synonym transportiert wird. 157 Des Weiteren wohnen Helmkakadus im Winter in wassernahen Quartieren, mitunter auch in Städten, während sie im Sommer stets ihr angestammtes Quartier in eher bewaldeten Gebieten beziehen, um dort in den Baumkronen zu brüten. Hier ergibt sich ein weiterer Bezugspunkt zu Melanie, die den Winter in Cölln verbringt und es kaum erwarten kann, den Sommersitz im Tiergarten zu beziehen. Der Kakadu impliziert in diesem Kontext eine erneute Schwangerschaft Melanies, die ihren Ausgangspunkt in der Tiergartenresidenz, genauer auf der Galerie des exotischen Palmenhauses, nimmt. (Vgl. 93, 94) Einerseits ist der Kakadu im Allgemeinen ein im 19. Jahrhundert beliebtes Haustier, andererseits lässt sich insbesondere der Helmkakadu in Gefangenschaft kaum schadlos halten, so wie Melanie das Glück ihrer Freiheit (46) während Van der Straatens Abwesenheit genießt. Der Kakadu ist demnach mehr als eine, wie es Renate Böschenstein formuliert, „Fingerübung“ Fontanes, da er das weitere Handlungsgeschehen vielfältig prä guriert. Darüber hinaus verweisen die Hyazinthen-Estraden (17) in 156 Vgl. Renate Böschenstein: Storch, Sperling, Kakadu, S. 247. 157 Vgl. zum Helmkakadu ausführlicher: Joseph M. Forshaw: Australische Papageien. Deutsche Erstausgabe. Band 1. Übersetzt von Rainer Niemann und Dieter Vogels. Bretten 2002, S. 140-149 und Dieter Hoppe: Kakadus. Lebensweise, Haltung und Zucht. Stuttgart 1986, S. 108-112. <?page no="85"?> 2.3 Am Mittag: „Dazwischenkunft eines Dritten“ 73 den Fensternischen sowohl auf eine unbeabsichtigte Verletzung sowie als antike Hochzeitsblume auf eine neue eheliche Verbindung. 158 Melanies Zimmer entsprach in seinen räumlichen Verhältnissen ganz dem ihres Gatten[.] (17) Jene Gleichwertigkeit der Zimmer ist jedoch keineswegs selbstverständlich, denn im 19. Jahrhundert unterliegt im Allgemeinen „die gesamte Wohnungsaufteilung einem hierarchischen Ordnungsdenken über die Wertigkeit der einzelnen Zimmer und ihrer Bewohner.“ 159 Aufgrund der patriarchalischen Familienstruktur ist das Zimmer des Herrn in der Kaiserzeit meist besser platziert und repräsentativer als das der Dame, falls diese überhaupt über ein eigenes Zimmer verfügt. 160 Außerdem ist bemerkenswert, dass zu Melanies Gunsten auf ein frontseitiges Esszimmer verzichtet wird, (Vgl. 26) denn die Repräsentationsräume, wie „Wohn- und Eßzimmer bef[i]nden sich [zu jener Zeit] [...] stets an der Vorderfront des Etagenhauses mit Blick auf die Straße.“ 161 An der Architektur des kommerzienrätlichen Stadthauses lässt sich demnach ablesen, dass die Van der Straatens trotz des übergroßen Altersunterschiedes und der zeitgenössischen Familienstrukturen eine an und für sich doch ebenbürtige Beziehung führen. Diese ist jedoch keineswegs mit einer partnerschaftlichen Beziehung zu verwechseln, denn der Kommerzienrat seinerseits verteilt „Grati kation [...] in väterlicher Herablassung“ 162 (Vgl. 15, 33) und nennt seine Ehefrau wiederholt beim kindlichen Kosenamen „[...] Lanni.“ (14. Vgl. ebenso 9, 12, 18, 20, 21, 112, 114, 115) 163 Melanie ihrerseits versucht erzieherisch auf ihren Gatten einzuwirken, (Vgl. 11, 22, 72) wobei ihr „ein manipulativer und damit ein eigentlich superiorer Gestus“ 164 eigen ist, wenn sie sich eine Blöße gab oder auch klugerweise nur so 158 Der Gott Apoll tötet versehentlich Hyazinth, so wie Melanie Van der Straaten „[...] wehe [...]“ (133) tun wird und er dies vorab mit seinem Tod in Verbindung gebracht hat: „[I]ch sterbe vielleicht drüber hin.“ (15) Zudem ist die Hyazinthe seit der Antike eine Hochzeitsblume. (Vgl. dazu Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S. 199.) 159 Adelheid von Saldern: Im Hause, zu Hause, S. 175. 160 Vgl. hierzu Birgit Wörner: Frankfurter Bankiers, Kau eute und Industrielle, S. 50. 161 Adelheid von Saldern: Im Hause, zu Hause, S. 175. 162 Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 212. 163 Dabei steht die zeitgenössische Infantilisierung des Namens allgemein symptomatisch für den Versuch, die Kindlichkeit der Gattin zu bewahren, um eine vermeintliche Überlegenheit des Mannes durch sein Älter- und entsprechend Erfahrenersein zu sichern. (Vgl. hierzu ausführlich Bettina Pohle: Kunstwerk Frau, S. 111-112.) 164 Milena Bauer: Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes, S. 272. Hierzu passt auch Van der Straatens Lebensanschauung: „[...] Und immer noch besser schwach regieren, als gar nicht.“ (16) <?page no="86"?> 74 Kapitel 2: Szenen einer Ehe that. (22) Später wird der Erzähler erklären, dass Melanie mit dem Manne, dessen Spielzeug sie zu sein schien und zu sein vorgab, durch viele Jahre hin immer nur ihrerseits gespielt hatte[.] (105) Die Ebenbürtigkeit des Ehepaares gleicht vielmehr einer gleichsam kriegerischen Auseinandersetzung, in der beständig beide Theile (7) um die Vorherrschaft ringen und die darin gipfelt, dass das Van der Straaten’sche Haus (55) in zwei Lagern steh[t.] (54-55) 165 Die wesensmäßigen Unterschiede zwischen den Eheleuten werden gleichfalls über das sich deutlich voneinander unterscheidende Interieur re ektiert. Denn ihr Zimmer ist um vieles heller und heiterer, einmal weil die hohe Paneelirung, aber mehr noch weil die vielen nachgedunkelten Bilder fehlten . (17) Während Melanie trotz ihres melancholischen Grundzustands als immer heiter und lachend beschrieben wird, 166 wird dem Kommerzienrat eine dunkl[e] Vergangenheit (18) nachgesagt, was zudem mit seiner Geheimnistuerei korrespondiert. (Vgl. 18 und 95) 167 In Melanies Zimmer gibt es [s]tatt dieser vielen [nachgedunkelten Bilder], [...] nur ein einziges [...]: das Portrait Melanie’s in ganzer Figur, ein wogendes Kornfeld im Hintergrund und sie selber eben beschäftigt ein paar Mohnblumen an ihren Hut zu stecken. 168 (17) Zugleich wird Melanies Handeln zweimal als kokettisch (8) bzw. cokett (69) beschrieben und damit in den Bereich der Schauspielerei eingeordnet. (Vgl. zum Zusammenhang von Schauspielerei und Koketterie Alexandra Tischel: „Ebba, was soll diese Komödie“, S. 193 sowie Claudia Liebrand: Geschlechterkon gurationen in Fontanes „Unwiederbringlich“. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Sprache, Ich, Roman, Frau. Band 2. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger. Würzburg 2000 (= Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.-17. September 1998 in Potsdam), S. 161-172, hier S. 162.) 165 Auch an anderen Stellen des Romans bedient sich der Erzähler einer kriegsrhetorischen Terminologie um die eheliche Interaktion zu schildern, beispielsweise, wenn Melanie [beim Abschiedsdiner] [...] suchte vor Allem von dem heiklen Murillo-Thema loszukommen, was [...] allerdings nur durch eine geschickte Diversion geschehen konnte. (33) Zudem fürchtet Melanie aufgrund des Taubenfütterns in der Tiergartenvilla „[...] einen Krieg mit Van der Straaten [...].“ (48) 166 Aber während die Augen der Mutter immer lachten[.] (8) 167 Der Kommerzienrat ist in seinem Habitus von der Börse durchdrungen, die sich ebenfalls in seiner Geheimnistuerei äußert. (Vgl. Dirk Mende: Frauenleben, S. 191.) So konstatiert Melanie: „[...] Denn Du bist eine versteckte Natur. [...]“ (19) Und später wird der Kommerzienrat dies bestätigen mit den Worten: „[...] Ich verrathe weiter nichts. [...]“ (95) 168 Hier sei an Melanies Kakadu (17) erinnert: Ältere Weibchen dieser Art bekommen einzelne mohnblütenfarbene Federn auf dem Kopf, was mit dem Portrait Melanies korrespondiert. <?page no="87"?> 2.3 Am Mittag: „Dazwischenkunft eines Dritten“ 75 Im Porträt o enbaren sich dem Leser weitere Persönlichkeitsmerkmale der Protagonistin: Zum einen handelt es sich bei der Porträtkunst ihrer Herkunft nach um eine feudale Kunst, 169 wodurch Melanies adelige Herkunft von Van der Straatens bourgeoishafter Sammelleidenschaft von Gemäldekopien abgegrenzt wird. Zugleich ordnet sich Melanie mit ihrem Porträt der „Sphäre der Natur“ 170 zu. Dem zeitgenössischen Verständnis nach gilt die Frau als „Naturwesen“, 171 die jenem Bereich genuin angehört 172 und hieraus folgend „naturgemäß“ 173 anfällig sei, in einen Kon ikt mit der bürgerlichen Moral zu geraten, weil sie als Frau ob ihrer weiblichen Sinnlichkeit nicht anders könne. 174 So verweise ihr Portrait auf eine „freie Natur [...], in einer Welt, in der das Künstliche und Unnatürliche vorherrscht“. 175 Jedoch erscheint mir die von der Forschung postulierte Naturnähe der Protagonistin ambivalent, 176 denn die Porträtkunst ist wie jede Kunst gesellschaftsbezogen, so wie Melanie trotz ihrer Verbindung zum Elementaren (Vgl. 10, 75, 94) an die Gesellschaft gebunden bleibt. (Vgl. 141) Zudem stellt ihr Porträt eine Verbindung zur venezianischen Tintoretto-Kopie her, denn mit der Renaissance beginnt die Porträtkunst, an deren Entwicklung Tintoretto maßgeblich beteiligt ist. 177 Unterstrichen wird dies durch die abgebildeten Mohnblumen[,] (17) die für eine weitere venezianische Ehebrecherin stehen, denn Mohn ist der Göttin Venus geweiht. 178 169 Vgl. Walter Müller-Seidel: Theodor Fontane, S. 171. 170 Winfried Jung: Bildergespräche, S. 153. Vgl. ähnlich hierzu Monika Ritzer: „Je freier der Mensch, desto nötiger der Hokuspokus“. Natur und Norm bei Fontane. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Geschichte, Vergessen, Großstadt, Moderne. Band 3. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger. Würzburg 2000 (= Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.-17. September 1998 in Potsdam), S. 39-56, hier S. 53. 171 Bettina Pohle: Kunstwerk Frau, S. 38. Die „Naturhafte, Unbezähmbare, Wilde“ (Ebd., S. 38.) beschreiben „all jene Insignien von Weiblichkeit, die erst im Erziehungsprozeß von Ehe und Ehemann gesellschaftsfähig gemacht werden.“ (Ebd., S. 38.) 172 Vgl. hierzu Hiltrud Bontrup: „... auch nur ein Bild“, S. 36-37. 173 Bettina Pohle: Kunstwerk Frau, S. 36. 174 Vgl. hierzu ebd., S. 36. 175 Walter Müller-Seidel: Theodor Fontane, S. 170. 176 Hier sei noch einmal an Melanies Kakadu (17) erinnert, der im Spannungsfeld zwischen Haus- und Wildtier lebt und damit gewisse Parallelen zu Melanie aufweist. 177 Vgl. Emil Waldmann: Tintoretto. Berlin 1921, S. 7-8. 178 Vgl. dazu Carl Richter: Ueber die Attribute der Venus. Eine Abhandlung für Künstler und Alterthumskenner. Wien 1783, S. 164. <?page no="88"?> 76 Kapitel 2: Szenen einer Ehe 2.3.2 Ankündigung eines Dauergastes Nachdem der Kommerzienrat Melanies Zimmer betreten hat, um ihr eine Mittheilung zu machen[,] (16-17) führt er sie bis an ihren Sophaplatz[,] (17) schob [...] einen Fauteuil heran und setzte sich neben sie . Die Feierlichkeit, mit der all dies geschah, machte Melanie lachen. (17) Sie bringt Van der Straatens Verhalten scherzhaft mit einer Beichte in Zusammenhang und würde sich zu einem „[...] Generalpardon hinreißen lassen[,] [...]“ (18) wenn es „[...] [e]twas aus [s]einer dunklen Vergangenheit [...]“ (18) wäre. Doch dieser erklärt, es handle sich um „[...] etwas Gegenwärtige[s]“ (18) und versucht zu beschwichtigen, indem er versichert: „Eine Bagatelle.“ (18) Melanie entgegnet scharfsichtig: „Was Deine Verlegenheit bestreitet.“ (18) Der Kommerzienrat, eigentlich schwer in Verlegenheit zu bringen, weil er es ausdrücklich hasst, sich zu geniren[,] (5) wird hier bereits zum zweiten Mal als verlegen (12) beschrieben, wobei seine erste Verlegenheit im Zusammenhang mit der ‚Adultera‘-Kopie steht. Eine weitere Verbindung zwischen der Kopie und der kommerzienrätlichen Mittheilung (16-17) ergibt sich über die beschriebene Feierlichkeit, mit der all dies geschah, (17) denn bereits bezüglich des Tintoretto beschreibt der Erzähler wie der Kommerzienrat Melanie mit einer gewissen Feierlichkeit vor das Bild führte[.] (12) Scheinbar leicht hin, jedoch erzähltechnisch genau kalkuliert, wird der Gast so bereits vor seinem Erscheinen mit dem prophezeiten Ehebruch in Verbindung gebracht. Außerdem verweisen die Feierlichkeit, der Scherz - angezeigt durch Melanies Lachen - und ihr Einwand, es handle sich um „[...] etwas sehr Ernsthaftes[,] [...]“ (18) auf die eingangs getätigten kommerzienrätlichen Ausführungen bezüglich seiner „Gemahlin“[,] (7) in deren Folge die De zite der Ehe verhandelt werden, denn das Wort „Gemahlin“ (7) spricht er ebenfalls [...] mit einer gewissen Feierlichkeit, in der Scherz und Ernst geschickt zusammenklangen. Aber der Ernst überwog, wenigstens in seinem Herzen. (7) Somit wird der neue Dazu passend stellt bereits die erzählerische Eingangscharakterisierung Melanies - [i]hre heitere Grazie war fast noch größer als ihr Esprit und ihre Liebenswürdigkeit noch größer als Beides (7) - eine Verbindung zur Göttin Venus her, der die Attribute Anmut, Heiterkeit, Liebreiz und Schönheit zugeordnet werden. (Vgl. hierzu Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Hrsg. von W. H. Roscher. Sechster Band, Spalte 183 und 184.) Zugleich verweist das Kornfeld auf den Sommer und die Mohnblume als Symbol der Fruchtbarkeit auf Melanies Schwangerschaft zu ebendieser Jahreszeit. (Vgl. dazu Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S. 25 und 283.) <?page no="89"?> 2.3 Am Mittag: „Dazwischenkunft eines Dritten“ 77 Hausgast nicht nur mit dem am Horizont erscheinenden Ehebruch, sondern auch mit den kommerzienrätlichen Eheproblemen verknüpft. Unterdessen hat Melanie ein Chocoladenbiscuit [...] zerkrümelt[.] (18) Weil dem Schokoladengenuss ein erotisches Moment eingeschrieben ist, 179 verweist dies erneut auf eine latent gestörte eheliche Sexualität, hier gleichsam in Form eines staubig-bröseligen Bildes. 180 Den bevorstehenden Besuch im Zusammenhang mit Melanies anfänglicher Skepsis nennt Gerhard Neumann in der Sprache von Goethes „Die Wahlverwandtschaften“ (1809) 181 passend die „Dazwischenkunft eines Dritten“. 182 Während Norbert Wichard in der Ankündigung des Logierbesuches - ausgerechnet in Melanies Zimmer - bereits eine räumliche Grenzüberschreitung erkennen will, die der Gast noch vor seinem Eintre en in Berlin vollziehe, 183 wird die Grenzverletzung tatsächlich jedoch vom Kommerzienrat vollzogen und seinem Gast ohne dessen Zutun gleichsam aufgezwungen. 184 179 Vgl. dazu Rita Gundermann und Bernhard Wul : Der Sarotti-Mohr. Die bewegte Geschichte einer Werbe gur. Berlin 2004, S. 17. 180 Weshalb das zerkrümelte Chocoladenbiscuit (18) von Norbert Wichard als Humor im Hause Van der Straaten begri en wird, ist indes nicht nachzuvollziehen. (Vgl. Nobert Wichard: Berliner Wohnräume - Kulturraum Venedig, S. 65.) 181 Intertextuelle Beziehungen zu Goethes „Die Wahlverwandtschaften“ lassen sich vielfach nden. So heißt es dort beispielsweise: „Sich etwas zu versagen war Eduard nicht gewohnt. Von Jugend auf das einzige, verzogene Kind reicher Eltern [...]“, ( Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften, S. 14.) während Van der Straaten sich als reicher Leute Kind, von Jugend auf daran gewöhnt [hatte], Alles zu thun und zu sagen, was zu thun und zu sagen er lustig war. (5) Darüber hinaus sind beide Bildersammler und Obstzüchter. Beide sind abergläubisch und die Vergegenwärtigung des Fatums führt es herbei, anstatt es zu bannen. (Vgl. zu weiteren Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ und „L’Adultera“ Susanne Konrad: Die Unerreichbarkeit von Erfüllung in Theodor Fontanes „Irrungen und Wirrungen“ und „L’Adultera“, S. 82-83 sowie Herman Meyer: Das Zitat in der Erzählkunst, S. 170.) 182 Gerhard Neumann: Speisesaal und Gemäldegalerie, S. 143. Ebenso stellt Lieselotte Voss mit der Aufnahme des Gastes eine Parallele zu den ‚Wahlverwandtschaften‘ her, denn Eduard versucht die skeptische Charlotte dafür zu gewinnen, den Hauptmann aufzunehmen. (Vgl. Lieselotte Voss: Literarische Prä guration dargestellter Wirklichkeit bei Fontane, S. 159.) 183 Vgl. Nobert Wichard: Berliner Wohnräume - Kulturraum Venedig, S. 65. 184 Einerseits korrespondiert dies mit Van der Straatens Unerzogenheit, auf der anderen Seite steht die Szene beispielhaft für Van der Straatens Mitwirkung am Ehebruch, was im Sinne der schuldigen Pharisäer ein versöhnliches Romanende vorausdeutet, denn „[...] wenn ich Dich je wieder daran erinnere, so sei’s im Geiste des Friedens und zum Zeichen der Versöhnung [...].“ (15) <?page no="90"?> 78 Kapitel 2: Szenen einer Ehe „Ein Volontair, ältester Sohn eines mir befreundeten Frankfurter Hauses. War in Paris und London, selbstverständlich, und kommt nun eben jetzt von New-York, um hier am Ort eine Filiale zu gründen. Vorher aber will er in unserem Hause die Sitte dieses Landes kennen lernen, oder sag’ ich lieber wieder kennen lernen, weil er sie draußen halb vergessen hat. [...]“ (18) Der Kommerzienrat betont: „[...] Es ist ein besonderer Vertrauensact. Ich bin überdies dem Vater verp ichtet und bitte Dich herzlich, mir eine Verlegenheit ersparen zu wollen. [...]“ (18-19) 185 Zum einen wird der große Altersunterschied zwischen Gast und Gastgeber sichtbar, zum anderen zeigt sich, dass Van der Straatens Verhalten auch hier von ökonomischen Beweggründen geleitet wird und er zwischen Geschäftlichem und Freundschaftlichem nicht zu trennen vermag, denn er bezeichnet das Frankfurter Haus ausdrücklich als ein ihm befreundetes, (Vgl. 18) obwohl er den Gast geschäftsmäßig vorstellt 186 und eine Verp ichtung seine Aufnahme bedingt. Die Aufenthalte des Gastes in Paris, London und New York, also den Handels- und Finanzzentren der Welt, lassen erkennen, dass dieser in seinen Lehrjahren internationalen Schli erhalten hat. 187 Hierdurch steht er im deutlichen Kontrast zum Gastgeber, der zu wenig „draußen“ gewesen war (5) und daher persönliches Ansehen einbüßt. (Vgl. 5) Ausgerechnet im Hause des gesellschaftlich nur bedingungsweise (5) akzeptierten Van der Straaten soll der Gast nun „[...] die Sitte dieses Landes kennen lernen, oder [...] wieder kennen lernen, [...]“ (18) um in Berlin eine Filiale der väterlichen Bank zu gründen. 188 Dieses Vorhaben entspricht dabei den historischen Gegebenheiten: Nachdem Frankfurt am Main im Zuge des deutschen 185 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass dem „[...] Vertrauensact [...]“ (18) mit einem späteren Vertrauens- und Hausfriedensbruch (99) begegnet wird. Ähnlich ironisch konnotiert erscheint Van der Straatens Bitte an Melanie, ihn nicht in Verlegenheit bringen zu wollen, denn später wird der Kommerzienrat selbst Melanie in eine gesteigerte Form der Verlegenheit bringen, die ihre Abwendung von ihm bewirken wird. (Vgl. hierzu Seite 163 dieser Arbeit.) 186 So erfährt Melanie den Herkunftsort, die Berufsbezeichnung und beru ichen Stationen des neuen Gastes, jedoch nicht seinen Namen. 187 Vgl. Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 200-201. 188 Eine Filiale wird der Gast später zudem noch in genetischer Hinsicht gründen. Dass Van der Straaten die geplante Filialgründung selbst in Anschlag bringt, (Vgl. 18) scheint daher einer besonderen Boshaftigkeit des Erzählers geschuldet zu sein. <?page no="91"?> 2.3 Am Mittag: „Dazwischenkunft eines Dritten“ 79 Krieges von 1866 seinen Status als Freie Stadt verliert und preußisch wird, 189 gewinnt Berlin für Börsensowie Bankgeschäfte zunehmend an Bedeutung und löst Frankfurt immer mehr ab. 190 Diese historische Entwicklung indiziert bereits, dass die geschäftlichen Ambitionen des Gastes unter einem schlechten Stern stehen. Gemeinsamkeiten zwischen Melanie und dem neuen Hausgenossen sowie Unterschiede zum Kommerzienrat werden schnell o enkundig: Seine Berufsbezeichnung als „[...] Volontair [...]“ (18) lässt auf ein jugendliches Alter schließen, trotzdem er der „[...] ältest[e] Sohn [...]“ (18) des „[...] Frankfurter Hauses [...]“ (18) ist, so wie Melanie als die [a]elteste Tochter Jean de Caparoux’ (7) beschrieben wird. Durch seine Frankfurter Herkunft ist der neue Gast - und damit Melanie gleich - ein Fremder (65) in Berlin. 191 Während jener allerdings aus einer traditionsreichen Patrizierfamilie stammt, (Vgl. 99) genießt der als „[...] Bourgeois [...]“ (112) 192 gezeichnete Van der Straaten mehr eines geschäftlichen als eines persönlichen Ansehens [...]. Es hatte dies [...] seinen Grund zu sehr wesentlichem Theile darin, daß er zu wenig „draußen“ gewesen war und die Gelegenheit versäumt hatte, sich einen allgemein giltigen Weltschli [...] anzueignen. (5) Im Unterschied hierzu wird der neue Gast als Weltmann (51) eingeführt. Dies kann als erster Hinweis darauf gelesen werden, dass der neue Hausgast aufgrund seiner Weitgereistheit nicht vollständig den gängigen gesellschaftlichen Moralvorstellungen unterworfen zu sein vermag. 193 Darauf gibt der Kommerzienrat selbst einen Hinweis, da er betont, der Rückkehrer habe „[...] die Sitte 189 Vgl. Karl Baedeker: Deutschland in einem Bande. Handbuch für Reisende. Mit 19 Karten und 64 Plänen. Leipzig 1906, S. 242. 190 Vgl. hierzu exemplarisch Hanns Weber: Bankplatz Berlin. Wiesbaden 1957, S. 165. 191 Beispielsweise deutet Georg Verweyen Melanies Schweizer Herkunft, als „[e]xotisch genug, um sich abzuheben, und doch vertraut genug, um nicht unangenehm aufzufallen.“ (Georg Verweyen: Literarische Blamagen, S. 220.) 192 Gemeinhin wird der Kommerzienrat fälschlicherweise als Emporkömmling gesehen, der erst kürzlich zu Reichtum gekommen sei. (Vgl. dazu exemplarisch Hans Otto Horch: Von Cohn zu Isidor, S. 174 sowie Isabel Nottinger: Fontanes Fin de Siècle, S. 163.) Der Reichtum des Hauses geht jedoch mindestens auf seinen Vater zurück, denn der Erzähler beschreibt den Kommerzienrat als reicher Leute Kind[.] (5) 193 Im Unterschied beispielsweise zur Figur Robert v. Gordon-Leslie im Roman „Cécile“ (1887), der trotz seiner Weitgereistheit den bürgerlichen Moralvorstellungen verhaftet bleibt. (Vgl. hierzu Katharina Grätz: Alles kommt auf die Beleuchtung an, S. 143.) <?page no="92"?> 80 Kapitel 2: Szenen einer Ehe dieses Landes [...] draußen halb vergessen [...].“ (18) Wenn Melanie den zukünftigen Hausgast aufgrund seiner Aufenthalte in London und New York als „[...] Gentleman [...]“ (20) imaginiert, 194 ergibt sich eine weitere Abgrenzung zum ‚ungehobelten‘ Kommerzienrat, denn der Gentleman gilt als „Grundlage des modernen Lebens“. 195 Ebenso vermag seine Herkunft aus der Stadt der Frankfurter Nationalversammlung - deren Mitglieder der spätere Kaiser Wilhelm I. als „Aposteln der Anarchie“ 196 betitelt - gleichsam synonym für eine progressive Geisteshaltung zu stehen. 197 So versinnbildlicht der Frankfurter Gentleman Vielleicht ist dies mit ein Grund, warum Rubehn trotz seines Vertrauens- und Hausfriedensbruch[s] (99) gegenüber dem Kommerzienrat kein schlechtes Gewissen haben und Melanie bitten wird: „[...] Aber nimm es nicht tragischer als nöthig und grüble nicht zuviel über das alte leidige Thema von Schuld und Sühne.“ (163) 194 Eine ähnliche Verknüpfung stellt Cécile in einem Vorwurf gegenüber Gordon her: „„Ich habe Sie für einen Cavalier gehalten, oder da Sie das Englische so lieben, für einen Gentleman [...].““ (Cc, S. 199-200.) 195 H.[elmut] Kreuzer: Ralph Waldo Emerson und Herman Grimm. Zur Rezeption des Amerikaners in Deutschland und zum Amerikabild in der deutschen Literatur. In: Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift for Charlotte Jolles. In Honour of her 70th Birthday. Edited by Jörg Thunecke in conjunction with Eda Sagarra. Nottingham 1979, S. 448-456, hier S. 452. Diese Vorstellung übernimmt Herman Grimm in seinem Roman „Unüberwindliche Mächte“ (1867) aus Waldo Emersons Essay „Manners“ (1844). (Vgl. ebd., S. 452.) Fontane wiederum hat sich mit Herman Grimms Roman „Unüberwindliche Mächte“ beschäftigt, denn im Mai 1867 wird ihm der dreibändige Roman zur Rezension angeboten. Am 16. Juni 1867 erscheint Fontanes Rezension zu Grimms Roman in der Kreuzzeitung. (Vgl. hierzu Roland Berbig: Theodor Fontane Chronik. Band 2, S. 1447 und S. 1449-1450 sowie Tb2, S. 27.) 196 Abgedruckt unter dem Titel: Die „Bemerkungen zu dem Gesetzentwurfe über die deutsche Wehrverfassung“. 1848. In: Militärische Schriften weiland Kaiser Wilhelms des Großen. Majestät. Auf Befehl seiner Majestät des Kaisers und Königs hrsg. vom Königlich Preußischen Kriegsministerium. Zweiter Band. 1848-1865. Berlin 1897, S. 35. Vgl. hierzu ausführlicher Peter Dieners: Das Duell und die Sonderrolle des Militärs. Zur preußischdeutschen Entwicklung von Militär- und Zivilgewalt im 19. Jahrhundert. Berlin 1992 (= Schriften zur Rechtsgeschichte; Band 52), S. 207. 197 Wirtschaftlich hingegen verkörpert Frankfurt nach dem Deutschen Krieg und der Reichsgründung das ausgediente Alte, während Berlin als preußische und deutsche Hauptstadt das Zentrum moderner Wirtschaftsentfaltung bildet. Folglich nehmen Berlin und Frankfurt auf gesellschaftlicher sowie wirtschaftlicher Ebene jeweils diametrale Positionen ein, die mit den entsprechenden Wesenszügen Van der Straatens und Rubehns korrespondieren: So gilt der Berliner Van der Straaten an der Börse bedingungslos, in der Gesellschaft [jedoch] nur bedingungsweise[,] (5) während später die Finanz-Herrlichkeit (159) des weltmännischen Frankfurters Rubehn zusammenbrechen wird. <?page no="93"?> 2.3 Am Mittag: „Dazwischenkunft eines Dritten“ 81 mit amerikanischen Allüren (Vgl. 75, 131) das gesellschaftlich Neue und die Abscha ung des Alten. 198 Passend hierzu umfasst Melanie als „[...] freie Schweizerin [...]“ (21) der Ruch der „[...] Illoyalität [...].“ (81) 199 Somit ist diesen beiden Roman guren aufgrund ihrer Herkunft bereits raumsemantisch die Möglichkeit eines normabweichenden Verhaltens eingeschrieben. Van der Straaten beabsichtigt dem Logierbesucher „[...] die zwei leer stehenden Zimmer auf dem linken Corrido[r]“ (19) zur Verfügung zu stellen, 200 was Melanie sogleich kritisiert: „Und zwingen ihn also, einen Sommer lang auf die Fliesen unseres Hofes und auf Christels Geraniumtöpfe hinunter zu sehen.“ (19) Die räumliche Beherbergung des Hausgastes lässt vielfältig das weitere Handlungsgeschehen anklingen: Die Einquartierung im Hinterhaus korrespondiert mit der zunächst im Verborgenen bleibenden A äre zwischen Melanie und dem Hausgast. 201 Die Un- 198 Vgl. zum Amerikabild in der deutschen Literatur als Projektion europäischer Vorstellungen, Ho nungen und Ängste auf das ferne Land H.[elmut] Kreuzer: Ralph Waldo Emerson und Herman Grimm, S. 453. Für das Alte steht dabei der Kommerzienrat mit seiner altmodischen Stadtwohnung (Vgl. 8) und seinen persönlichen Kontakten, die überwiegend aus Erbstück[en] (24, 39, 107) bestehen. In Amerika hingegen gibt es keine bindende Vergangenheit. (Vgl. H.[elmut] Kreuzer: Ralph Waldo Emerson und Herman Grimm, S. 452.) 199 Die Eidgenossenschaft gilt lange Zeit als Paradebeispiel einer Söldnerlandschaft. Der Kriegertypus des Söldners wird dabei negativ konnotiert: An die Merkmale von materieller Gewinnsucht und Fremdartigkeit gegenüber der Gesellschaft knüpft sich zudem der Ruch der Unzuverlässigkeit. (Vgl. hierzu ausführlich: Philippe Rogger und Benjamin Hitz: Söldnerlandschaften - räumliche Logiken und Gewaltmärkte in historischvergleichender Perspektive. Eine Einführung. In: Söldnerlandschaften. Frühneuzeitliche Gewaltmärkte im Vergleich. Hrsg. von dens. Berlin 2014 (= Zeitschrift für Historische Forschung. Beihefte; Band 49), S. 9-43 und Christian Windler: „Ohne Geld keine Schweizer“: Pensionen und Söldnerrekrutierung auf den eidgenössischen Patronagemärkten. In: Nähe in der Ferne. Personale Ver echtung in den Außenbeziehungen der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hillard von Thiessen und dems. Berlin 2005 (= Zeitschrift für Historische Forschung. Beihefte; Band 36), S. 105-133, hier S. 132.) 200 An dieser Stelle wird noch einmal der Reichtum des Hauses verdeutlicht, denn ein Fünftel der Berliner Bevölkerung lebt zu jener Zeit in übervollen Einzimmerwohnungen mit einer durchschnittlichen Belegung von sieben bis acht Personen. (Vgl. exemplarisch Ruth Glatzer: Berlin wird Kaiserstadt. Panorama einer Metropole. 1871-1890. Berlin 1993, S. 12.) 201 Vgl. hierzu im Roman „Irrungen, Wirrungen“ Botho v. Rienäckers Sekretär mit dem „hintenzu gelegene[n] Geheimfach“, (IW, S. 166.) in dem die Liebesbriefe von Lene Nimptsch dreifach verborgen sind, denn nicht nur das Geheimfach, sondern auch der Sekretär entspricht seiner Wortherkunft nach dem Verborgenen, der sich wiederum zusätzlich „im nach dem Hofe hinaus gelegene[n] Arbeitszimmer“ (IW, S. 166.) be ndet. <?page no="94"?> 82 Kapitel 2: Szenen einer Ehe terbringung in den beiden Zimmern auf dem linken Corridor (19) in Kombination mit Melanies kokettisch (8) eingesetzten linken Morgenschuh[,] (8) impliziert über die linke Position eine zunächst gesellschaftlich als unpassend verstandene, 202 hier außereheliche Verbindung. Hieran anknüpfend erinnert das italienische Wort Corridor (19) anstelle des deutschen Synonyms Flur an das ebenfalls italienische Wort Colli, (11) in welchem die ‚Adultera‘-Kopie aus Italien geliefert worden ist. 203 Die Geranien der Geraniumtöpfe (19) 204 verweisen über die ihr anhaftende Kranichsowie Storchsymbolik vielfältig auf zentrale Aspekte der weiteren 202 Vgl. hierzu Seite 39 dieser Arbeit. 203 Im Roman nden sowohl das Wort Flur als auch das Wort Korridor Verwendung. (Vgl. zum Synonym von Flur und Korridor Hans Koepf und Günther Binding: Bildwörterbuch der Architektur. 4. überarbeitete Au age. Stuttgart 2005, S. 239.) 204 Der lateinische P anzenname ‚Geranium‘ - und mit diesem zusammen der eingedeutschte Name Geranie - weist eine starke Doppeldeutigkeit auf: Einerseits wird er fälschlicherweise zur Bezeichnung von P anzen der Gattung Pelargonium - auch Pelargonie genannt - genutzt und rmiert hier als de facto Handels- und Trivialname, andererseits bezeichnet er botanisch korrekt die P anzen der Gattung Geranium, wobei beide Gattungen zur Familie der Geraniaceae gehören. Ursächlich für die Doppeldeutigkeit und Verwirrung ist, dass beide Gattungen - u. a. aufgrund der gemeinsamen Form der Früchte, die an einen Kranichrespektive Storchschnabel erinnern - ursprünglich bereits vor 1600 und später auch durch den bekannten schwedischen Botaniker Carl Linnaeus (1707-1778) seit 1753 in einer einzigen Gattung mit der Bezeichnung Geranium zusammengefasst worden sind. Trotz der nachfolgenden botanischen Di erenzierung und Neuklassi zierung u. a. 1820 durch Robert Sweet (1783-1835) hat sich vor allem in der breiten Ö entlichkeit, aber auch unter Gärtnern und anderen professionellen Anwendern die Namensdi erenzierung nicht durchgesetzt, was teilweise sogar zu einer Verwirrung ob der P anzeneigenschaften führt. (Vgl. dazu Maria Lis-Balchin: History of nomenclature, usage and cultivation of Geranium and Pelargonium species. In: Geranium and Pelargonium. The genera Geranium and Pelargonium . Edited by idem. London, New York 2002, S. 5-10.) Die Namen Geranium und Pelargonium leiten sich dabei vom griechischen γέρανος (Kranich) beziehungsweise πελαργός (Storch) ab und spielen auf die Fruchtform an, weshalb auch die P anzenbezeichnungen Kranichrespektive Storchschnabel genutzt werden. Auch diese Nutzung ist uneinheitlich, da der Name Storchenschnabel fälschlicherweise auch für das echte Geranium respektive die ganze Familie der Geraniaceae genutzt wird. (Vgl. dazu ebd., S. 5-10; Diana M. Miller: The taxonomy of Pelargonium species and cultivars, their origins and growth in the wild. In: Geranium and Pelargonium. The genera Geranium and Pelargonium . Edited by Maria Lis-Balchin. London, New York 2002, S. 49-79, hier insbesondere S. 49 sowie sowie Samuel Hahnemann: Apothekerlexikon. Erster Theil, zweite Abtheilung: F-K. Leipzig 1795, S. 495.) Dabei zeigt die Lektüre von Millers Artikel, dass insbesondere Kew eine maßgebliche Bedeutung für die Pelargonienzucht in Europa gehabt hat, (Vgl. Diana M. Miller: The taxonomy of Pelargonium species and cultivars, hier insbesondere S. 50.) was ein besonderes Schlaglicht auf <?page no="95"?> 2.3 Am Mittag: „Dazwischenkunft eines Dritten“ 83 Handlung: Erstens verschränkt sich die Schwangerschafts-, Fruchtbarkeits- und Lebenserneuerungssymbolik des Storchs 205 mit der Erneuerungs- und Liebessymbolik - insbesondere der Gattenliebe - des Kranichs, 206 so dass eine mit dem neuen Hausgast zusammenhängende Schwangerschaft und Eheschließung impliziert wird. Zweitens gilt der Kranich als Symbol der Wachsamkeit, 207 was eine kontextuelle Klammer zur Lieferung der Adultera-Kopie herstellt, die ebenfalls im Zeichen der Wachsamkeit (11) steht. Und drittens indiziert der Kranich in seiner Symbolik der Zwietracht und Undankbarkeit 208 den bevorstehenden Vertrauens- und Hausfriedensbruch (99, vgl. 96-97) des Besuchers. Mithin kann sein baldiger Ausblick in dem Sinne als Pendant zu Melanies Blick auf die Marktszene 209 gedeutet werden, als dass er ebenfalls gleich eines Aussichtspunkts das zukünftige Handlungsgeschehen in den Blick nimmt. 210 Genannte Aspekte werden durch die Sprache der Blumen unterstrichen, in der Geranien einerseits für ein ‚ich erwarte Dich an bekannter Stelle‘ stehen, 211 so die Van der Straatenschen Palmenhäuser zu werfen vermag, die nach dem Vorbilde der berühmten englischen Gärten in Kew (87) gebaut sind. Da die aus der Kap-Region Südafrikas stammende Pelargonie die weitaus beliebtere Topfp anze ist, ist davon auszugehen, dass diese im Roman gemeint sein dürfte. Die der Blume anhaftende Kranich- und Storchsymbolik bleibt von dieser Frage natürlich unberührt, jedoch antizipiert der Ausblick des Hausgasts auf die aus Afrika stammenden Pelargonien die sexuell konnotierten Afrikabezüge, die sich im Verlauf des Romans ergeben werden. (Vgl. dazu die Seiten 88 und 309 sowie Fußnote 188 auf Seite 340 dieser Arbeit.) Für die im Gegensatz zu echten Geranien nicht winterharten Pelargonien spricht überdies, dass Rubehn explizit „[...] einen Sommer lang [...]“ (19) gezwungen wird, auf Christels Blumen zu sehen. 205 Vgl. zur Symbolik des Storchs Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S. 412-413 sowie Anastasia Novikova: Storch. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 372-373. 206 Vgl. zur Symbolik des Kranichs Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S. 230. 207 Vgl. Dietmar Peil: Kranich. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 188-189, hier S. 188. 208 Vgl. ebd., S. 189 sowie Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S. 230. 209 Vgl. hierzu Abschnitt 2.2.2 dieser Arbeit. 210 Erneut sei darauf hingewiesen, dass hiesige Lesart davon unberührt ist, ob Fontane Geranien oder Pelargonien im Sinn gehabt hat. Die Pelargonie nimmt jedoch aufgrund ihrer afrikanischen Herkunft und ihrer Kultivierungstradition in Kew wichtige Motive des Romans vorweg. (Vgl. dazu Fußnote 204 auf Seite 82 dieser Arbeit.) 211 Vgl. dazu exemplarisch Irene Dalichow: Die Blütenapotheke. Über die Heilkraft von Lavendel, Veilchen, Rose und anderen essbaren Blüten. München 2011, S. 44. <?page no="96"?> 84 Kapitel 2: Szenen einer Ehe wie Rubehn später der Erwartete (105) am bekannten Tre punkt in Anastasiens stiller Wohnung sein wird, andererseits aber auch für eine „getäuschte Liebe“, 212 die Van der Straaten - trotzt aller geschäftsmäßig[en] (112) Aspekte seiner Ehe 213 - beim Abschiedsgespräch im „[...] Ich liebe Dich [...]“ (115) erkennen lässt. Damit wird verständlich, warum erzählstrategisch gerade Christel im Besitz der Geraniumtöpfe sein muss, denn sie ist ähnlich zu Rubehn sowohl Van der Straaten als auch Melanie zugeordnet, 214 was die sich anbahnende Dreiecksbeziehung vorausdeutet. Der Kommerzienrat begegnet prompt der Kritik seiner Gattin bezüglich des geplanten Quartiers: 215 „Unser Hof bietet freilich nicht viel; aber was hätt’ er Besseres in der Front? Ein Stück Kirchengitter mit Fliederbusch, und an Markttagen die Hasenbude.“ (19) Die Zimmer des Gastes haben - im Unterschied zu Melanies Zimmer - nicht die Petrikirche mit ihrem hochaufragenden Turm zum Ausblick. 216 Van der Straatens Ablehnung einer Unterbringung des Hausgastes in Front der Großen Petristraße erscheint folgerichtig, denn mit dem Flieder als Symbol des rauschhaft-erotischen Begehrens 217 in Kombination mit der Petrikirche, wird eine Verleugnung in erotischer Hinsicht scheinbar verhindert. Doch gerade hier, „in der Front“ (19) hätte der Logierbesuch - Melanie gleich - die Petrikirche mit ihrem hochaufragenden Turm stets als Mahnmal vor Augen. Scharfsichtig erkennt Melanie: „Ich ho e, daß nichts Schlimmes dahinter lauert, keine Conspirationen, keine Pläne, die Du mir verschweigst. Denn Du bist eine versteckte Natur .“ (19) Hiermit wird ein erneuter Bezug zum Ehebruchsbild hergestellt, denn Melanie ist bezüglich des Gemäldes überzeugt gewesen: „Es steckt etwas dahinter.“ (13) Entsprechend kann sowohl das ‚Adultera‘-Gemälde als auch 212 Vgl. den Stichpunkt Geranium (Storchschnabel). In: Damen Conversations Lexikon. Hrsg. im Verein mit Gelehrten und Schriftstellerinnen von C.[arl] Herloßsohn. Vierter Band. Eskimos bis Grätz. Adorf 1835, S. 396. 213 Vgl. dazu Seite 44 dieser Arbeit. 214 Christel ist seit dreiundzwanzig Jahren Bedienstete im Hause Van der Straaten (Vgl. 108) und steht unter Duquede’s Führung in einer stillen Opposition gegen Melanie[,] (107) ist jedoch gleichzeitig deren persönliche Dienerin. (Vgl. 107) 215 Hieraus ergibt sich eine weitere Verbindung zum ‚Adultera‘-Gemälde, denn auch dessen geplante Unterbringung hat Melanie bereits kritisiert. (Vgl. 13) 216 Die Lage von Melanies Zimmer zur Straßenseite hin, wird im 4. und 21. Kapitel des Romans erkennbar. (Vgl. 26 und 151) 217 Vgl. dazu Volker Mergenthaler: Flieder. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 106-107. Mergenthaler verweist ausdrücklich auf „L’Adultera“. Vgl. ebd., S. 106. <?page no="97"?> 2.3 Am Mittag: „Dazwischenkunft eines Dritten“ 85 die Einquartierung eines Gastes als Treuetest verstanden und damit in einen calvinistischen Kontext eingeordnet werden. 218 Nunmehr bringt die Kommerzienrätin die geplante Einquartierung des Gastes mit einem Spiel in Zusammenhang: „Eh bien, Ezel. Faisons le jeu. [...].“ (19) Zum einen wird die Protagonistin hiermit als Spielernatur gezeichnet, 219 zum anderen ergibt sich aus ihrer Au orderung zum Spiel eine weitere Lesart des Nachnamens Van der Straaten und zwar im Zusammenhang mit der Geschichte des ‚Fliegenden Holländers‘: 220 Der ‚Fliegende Holländer‘ trägt stets einen niederdeutschen Namen, wobei im 19. Jahrhundert der gängigste Name ‚Tyn van Straten‘ 221 ist. Bei Kapitän ‚Tyn van Straten‘ wird seine Ver uchung dadurch ausgelöst, dass er eingangs seine Frau verspielt und im Anschluss von einer rastlosen Suche nach einer neuen, treuen Frau getrieben ist. 222 Gleich dem ‚Fliegenden Holländer‘ treibt den Kommerzienrat das Thema der weiblichen Treue um und wie Kapitän ‚van Straten‘ verspielt er seine Ehe, hier konkret, indem er den Hausgast einlädt. Melanie möchte nun, wenn es Van der Straatens Geheimnisse nicht stört, (19) den Namen des baldigen Dauergastes erfahren und ist zunächst wenig angetan: „Ebenezer Rubehn,“ wiederholte Melanie langsam und jede Silbe betonend. „Ich bekenne Dir o en, daß mir etwas Christlich-Germanisches lieber gewesen wäre. Viel 218 Vgl. hierzu Marion Villmar-Doebeling: Theodor Fontane im Gegenlicht, S. 101-102. 219 Bereits beim Frühstück im Januar verwettet sie ihre Robe. (Vgl. 8) Zum anderen steht die Interaktion zwischen Melanie und dem Hausgast damit von Anfang an im Zeichen des Spiels (Vgl. 19, 62) und prä guriert ihr späteres „[...]‚Ich will spielend entbehren lernen‘[...].“ (156) 220 Fontane hat sich mit dem Sto des ‚Fliegenden Holländers‘ beschäftigt und im Jahr 1841 nach dem 1839 erschienen Roman „The Phanton Ship“ von Frederick Marryats (1792-1848) eine Ballade in drei Teilen mit dem Titel das „Gespensterschi “ verö entlicht. (Vgl. hierzu ausführlicher Hans Otto Horch: Annäherungen an ein Jahrhundertereignis. Theodor Fontanes Verhältnis zu Richard Wagner und zum Wagnerismus: ein Thema mit Variationen nebst Introduktion und Koda. In: Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch. Hrsg. von Robert Leroy und Eckart Pastor. Bern, Berlin, Frankfurt am Main 1991, S. 31-74, hier S. 32.) In Fontanes Ballade heißt der Kapitän gleich wie bei Richard Wagner ‚Vanderdecken‘. (Vgl. Theodor Fontane: Das Gespensterschi . In: G2, S. 36-40, hier S. 36.) 221 Dieser gilt zur Romanzeit sowohl dem Brockhaus als auch Meyers Konversations-Lexikon als der gängigste Name. (Vgl. zum Sto allgemein Helge Gerndt: Fliegender Holländer und Klabautermann. Göttingen 1971 (= Schriften zur Niederdeutschen Volkskunde; Band 4), S. 112.) 222 Vgl. ebd., S. 110. <?page no="98"?> 86 Kapitel 2: Szenen einer Ehe lieber. Als ob wir an Deinem Ezechiel nicht schon gerade genug hätten! [...]“ (19) Der Kommerzienrat weist Melanies Verdacht, Ebenezer Rubehn könnte eine jüdische Herkunft haben, zurück und versichert, jener sei getauft und „nicht blos christlich, er ist auch protestantisch, so gut wie Du und ich. 223 Und wenn Du noch zweifelst, so lasse Dich durch den Augenschein überzeugen.“ (20) Melanie kommentiert Van der Straatens Versuch, ihr eine Visitenkarten-Photographie (20) des neuen Gastes zu zeigen, spitz ndig und humoristisch mit den Worten: „Sagtest Du nicht New-York? Sagtest Du nicht London? Ich war auf einen Gentleman gefaßt, auf einen Mann von Welt, und nun schickt er sein Bildniß, als ob es sich um ein Rendevouz handelte. Krugs Garten, 224 mit einer Verlobung im Hintergrund.“ (20) Sogleich imaginiert sie Rubehn als Brautwerber, doch Van der Straaten beteuert, dass dies in Unkenntnis des Gastes geschieht und dieser an dem Vorhandensein der Photographie gänzlich „[...] unschuldig“ (20) sei. Van der Straaten lässt sich die Photographie bescha en, 225 und zwar ausdrücklich, weil er um Melanies Willen sichergehen will, (Vgl. 20) was erneut das gestörte Verhältnis des Kommerzienrats zu seiner Ehefrau o enlegt. Darüber hinaus verschätzt er sich abermals bezüglich seiner Gattin, obwohl gerade die Vorhersage zukünftiger Entwicklungen seinem Beruf als Börsianer entspricht und er dort bedingungslos (5) gilt, denn so wie Melanie etwas Ermutigendes im ‚Adultera‘-Gemälde erkennt, (Vgl. 12) ist sie vom Bildnis 226 des zukünftigen Gastes angetan: „Ah, der gefällt mir. Er hat etwas Distinguiertes: O zier in Civil oder Gesandtschafts-Attaché! Das lieb’ ich. [...]“ (20) 223 Erneut lässt sich hierin das ‚Gesellschaftsspiel‘ der sogenannten ‚Judenriecherei‘ erkennen. (Vgl. hierzu Fußnote 125 auf Seite 62 dieser Arbeit.) Zudem lässt sich aus Van der Straatens Aussage entnehmen, dass auch Rubehn Calvinist ist. 224 Krugs Garten ist zur Romanzeit ein beliebtes Aus ugslokal am Lützowplatz. (Vgl. LA, Anmerkungen, S. 217.) 225 In der Photographie erkennt Nora Ho mann den Fortgang des Romans prä guriert: So zeigt sich beispielsweise in Melanies Bewertung der Photographie „[...] Das lieb’ ich. [...]“ (20) ihre spätere Zuneigung zu Rubehn. (Vgl. ausführlicher Nora Ho mann: Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung bei Theodor Fontane. Berlin 2011 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft; Band 8), S. 312.) 226 Van der Straaten entnimmt das Bildnis einem gelben Couvert[.] (20) Die Farbe Gelb steht einerseits für erfüllte Liebe, Begierde und Fruchtbarkeit, andererseits jedoch für Leid, Vergänglichkeit und Eifersucht. So unterstreicht die Farbe des Umschlags nicht nur Van der Straatens latente Eifersucht und das baldige Ende seiner Ehe durch den Vertrauens- und Hausfriedensbruch (99) Rubehns, sondern prä guiert auch die sich <?page no="99"?> 2.3 Am Mittag: „Dazwischenkunft eines Dritten“ 87 In Melanies Begeisterung für Rubehns Bildnis lässt sich erneut ein Bezug zu Richard Wagners Musik erkennen: In der Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ verliebt sich die Protagonistin Eva Pogner in das scheinbare Bildnis ihres späteren Geliebten. In dieser Komödie, die wiederum auf das glückliche Ende von „L’Adultera“ verweist, ndet sich das rechte Paar, was zugleich für „den Alternden Entsagung bedeutet“. 227 Wenn Melanie den baldigen Hausgenossen als „[...] Hausfreund [...]“ (21) bezeichnet, prä guriert diese Titulierung die spätere A äre. 228 Van der Straaten erkennt die Zuneigung seiner Ehefrau scharfsinnig und betont deshalb umgehend, dieser sei „verlobt, oder so gut wie verlobt.“ (21) Melanie kommentiert dies mit einem „Schade“ (21) und begründet auf Van der Straatens Nachfrage: „[...] Und will man sich gar in ihn verlieben, so heißt das nicht mehr und nicht weniger, als zwei Lebenskreise stören.“ „Zwei? “ „Ja, Bräutigam und Braut.“ „Ich hätte drei gezählt,“ lachte Van der Straaten. „Aber so seid Ihr. Ich wette, Du hast den Dritten in Gnaden vergessen. Ehemänner zählen überhaupt nicht mit. Und wenn sie sich darüber wundern, so machen sie sich ridicül. Ich werde mich übrigens davor hüten, den Mohren der Weltgeschichte, das seid Ihr, weiß waschen zu wollen. Apropos, kennst Du das Bild die Mohrenwäsche? “ (21) Sowohl der Kommerzienrat als auch die Kommerzienrätin verkalkulieren sich hier, denn vielmehr ergeben sich damit vier Lebenskreise (21): Bräutigam und Braut auf der einen sowie Ehemann und Ehefrau auf der anderen Seite. Damit zitiert Fontane wie bereits in seinem Erstlingsroman „Vor dem Sturm“ (1878) „eine erotische Figuration, die ihrerseits eine unheilvolle literarische Tradition anschließende erfüllte und durch ein Kind gekrönte neue Liebe Melanies zu Rubehn und die dazwischenliegende leidvolle Phase des Übergangs. (Vgl. zur Farbe Gelb Eva Meineke: Gelb. In: Metzlers Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 126.) 227 Hartmut Reinhardt: Zauberblick und Liebesqual. Noch einmal: Schopenhauers Philosophie in Richard Wagners „Tristan und Isolde“. In: Schopenhauer-Jahrbuch 82 (2001), S. 121-142, hier S. 123. 228 Der Hausfreund steht synonym für den Liebhaber der Ehefrau oder einen langjährigen Vertrauten des Hauses. Zweiteres tri t jedoch im konkreten Fall nicht zu. (Vgl. zur Wortbedeutung Duden. Deutsches Universalwörterbuch. 9., vollständig überarbeitete und erweiterte Au age. Hrsg. von der Dudenredaktion. Berlin 2019, S. 820.) <?page no="100"?> 88 Kapitel 2: Szenen einer Ehe hat, das Quartett.“ 229 Gleichzeitig erö net sich hierdurch eine weitere Lesart der kommerzienrätlichen Hausnummer Große Petristraße 4[.] (5) Weil allerdings Rubehns vermeintliche Verlobte im Bereiche der Träume (62) verbleibt, entfällt die tatsächliche Bildung eines Quartetts mit seinen unheilvollen Implikationen. Das vom Kommerzienrat anzitierte Genrebild „Die Mohrenwäsche“ von Carl Joseph Begas (1794-1854) 230 verhandelt die Unabänderlichkeit angeborener Merkmale 231 und nimmt im konkreten Fall - wie zuvor bereits die Tintoretto-Kopie - Bezug auf das Themenfeld der weiblichen Untreue. (Vgl. 21) 232 Meinen die Van der Straatens bereits zuvor im Sujet des Tintorettos die Unumgänglichkeit eines Ehebruchs erkannt zu haben, 233 versinnbildlicht die ‚Mohrenwäsche‘ diese Vorstellung erneut im Sinne einer angeborenen weiblichen Untreue. Zusätzlich wird die ‚dunkele Frau‘ archetypisch als Inkarnation der Leidenschaft und Sünde 229 Gerhard Neumann: ‚Vor dem Sturm‘. Medien und militärisches Wissen in Fontanes erstem Roman. In: Realien des Realismus. Wissenschaft - Technik - Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa. Hrsg. von Stephan Braese und Anne-Kathrin Reulecke. Berlin 2010, S. 201-229, hier S. 202. 230 Im Unterschied zu Tintorettos ‚Ehebrecherin‘ hat sich Begas ‚Mohrenwäsche‘ tatsächlich in der Sammlung Ravené befunden. (Vgl. Karl Baedeker: Berlin und Umgebungen (1887), S. 122.) Über die Aufteilung der Ravenéschen Galerie ist Fontane informiert gewesen. (Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 47.) 231 Dies belegt u. a. folgende Bibelstelle, die auch unter dem Stichwort ‚Mohrenwäsche‘ in Georg Büchmanns ‚Ge ügelte Worte‘ verzeichnet ist: (Vgl. Georg Büchmann: Ge ügelte Worte, S. 242.) „Kann etwa ein Mohr seine Haut wandeln oder ein Panther seine Flecken? So wenig könnt auch ihr Gutes tun, die ihr ans Böse gewöhnt seid.“ (LUT, Jer 13,23.) Vgl. zum Sujet der Mohrenwäsche ebenso Nana Badenberg: Mohrenwäschen, Völkerschauen: Der Konsum des Schwarzen um 1900. In: Colors 1800 / 1900 / 2000: Signs of Ethnic Di erence. Edited by Birgit Tautz. Amsterdam, New York 2004 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik; Band 56), S. 163-184, hier S. 177. 232 Vgl. ausführlicher zum Topos der ‚Mohrenwäsche‘, der sich auf die scheinbar unveränderliche weibliche Natur bezieht Daniela Gretz: „Quer durch Afrika, was soll das heißen? “ Afrika als Wissens-, Imaginations- und Re exionsraum bei Wilhelm Raabe und Theodor Fontane. In: Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Hrsg. von Roland Berbig und Dirk Göttsche. Berlin, Boston 2013 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft; Band 9), S. 165-192, hier S. 186-187. 233 Dies belegt einerseits Van der Straatens Bekenntnis bezüglich der Inaugenscheinnahme des Originals in Venedig: „[...] [D]a stand es auf einmal Alles deutlich vor mir[,] [...]“ (14) sowie andererseits Melanies Einschätzung der Kopie: „[...] Und Alles wie vorherbestimmt.“ (13) Überdies vertritt Van der Straaten bezüglich des von ihm gefürchteten Ehebruchs die Haltung: „Es kommt, was kommen soll.“ (15) <?page no="101"?> 2.4 Am Abend: Abschiedsdiner in der Großen Petristraße 89 gesehen: 234 Melanies dunkles - genauer „[...] ‚[...] schwarze[s] Haar‘ [...]“ (161) - thematisiert der Erzähler gleich zu Beginn, (Vgl. 8) wobei auch ihr Vorname den semantischen Kern ‚melas‘ in sich trägt. 235 Van der Straatens Angst vor der Treulosigkeit seiner Gattin tri t vielfältig gleichsam auf fruchtbaren Boden, denn Melanie hat zudem - wie sich bereits im Fensterbild gezeigt hat - eine Persönlichkeitsstruktur, die an das Elementare gebunden ist. 236 2.4 Am Abend: Abschiedsdiner in der Großen Petristraße 2.4.1 Der engere Zirkel Vor dem Umzug in die Thiergarten-Villa (26) soll im kommerzienrätlichen Stadthaus ein kleines Abschieds-Diner statt nden und zwar unter ausschließlicher Heranziehung des dem Hause zunächst stehenden Kreises. (23) Dieses Diner gibt nicht nur weitere Einblicke in die kommerzienrätliche Ehe, sondern auch über die Zusammensetzung des engere[n] Zirkel[s,] (22) der aus einer „Reihe von glänzend gezeichneten gesellschaftlichen Typen der Zeit“ 237 besteht: Hierzu zählt von mehr verwandtschaftlicher als befreundeter Seite her [...] Major v. Gryczinski [...], der vor 234 Vgl. hierzu Benita von Heynitz: Literarische Kontexte von Kate Chopins The Awakening . Tübingen 1994 (= Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft; Band 25), S. 163. 235 Vgl. Renate Böschenstein: Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel, S. 343. Melanie leitet sich vom griechischen µελαν ΄ ıα her und bedeutet ‚die Schwarze‘. Gerhard Friedrich erkennt in der Namenswahl der Protagonistin bereits eine Anspielung auf das Gemälde „Die Mohrenwäsche“. (Vgl. Gerhard Friedrich: Das Glück der Melanie van der Straaten, S. 382 und hierzu ähnlich Winfried Jung: Bildergespräche, S. 190.) 236 Melanie kann dabei über das Wirbeln der Schnee ocken sowohl dem Element Luft als auch dem Element Wasser zugeordnet werden. Ihre A nität zu Venedig erlaubt eine weitere Zuordnung zum Wasser, während sie zudem über das Rot in ihrem Nachnamen de Caparoux dem Element Feuer zugerechnet werden kann. Das Elementare sowie das Verhältnis von Natur und Kunst sowie von Gesellschaft und Natur faszinieren Fontane zeitlebens. (Vgl. Hans Otto Horch: Annäherungen an ein Jahrhundertereignis, S. 58.) Dies manifestiert sich gleichfalls in Céciles „triebhaftkreatürliche[r] Seite“. (Manfred Durzak: Die ‚Welt ist kein Treibhaus für überzarte Gefühle.‘ Eros und Gewalt in Fontanes ‚Cécile‘ und anderen Texten. In: Fontane Blätter 78 (2004), S. 122-137, hier S. 127.) 237 Jost Schillemeit: Der späte Fontane. In: Jahrhundertwende: Vom Naturalismus zum Expressionismus, 1880-1918. Hrsg. von Frank Trommler. Reinbek bei Hamburg 1982 (= Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte; Band 8), S. 112-123, hier S. 117. <?page no="102"?> 90 Kapitel 2: Szenen einer Ehe etwa drei Jahren die reizende Jacobine de Caparoux heimgeführt hatte, eine jüngere Schwester Melanie’s[.] (23) Von befreundeter Seite her gilt der Baron Duquede, Legationsrath a. D., als der angesehenste (23) des engeren Zirkels. Er empörte sich eigentlich über alles, am meisten über Bismarck[.] (24) Zusätzlich lehnt er das Französische ausdrücklich ab, (Vgl. 24) was eine stille Gegnerschaft (24) zwischen ihm und Melanie zur Folge hat, die sogar so weit geht, dass sich Teile der kommerzienrätlichen Dienerschaft unter seiner Führung in einer stillen Opposition gegen Melanie (107) be nden. 238 Zudem gehören der Polizeirat Rei sowie zwei Maler dem engeren Zirkel des Hauses an. Die beiden Räte Duquede und Rei sowie der Landschaftsmaler Arnold Gabler (Vgl. 24) gelten dabei als Erbstück aus des Vaters Tagen her[.] (24) Hierin zeigt sich erneut, dass Van der Straaten die Traditionen seines Vaters weiterführt und dementsprechend wie selbstverständlich einen weiblichen Ehebruch als unvermeidbare Wiederholung eines erblichen Familien uchs begreift. (Vgl. 14, 115) Neben dem Major v. Gryczinski ist der Porträt- und Genremaler (24) Elimar Schulze dem engeren Zirkel neu hinzugekommen: Seine Zugehörigkeit [...] basirte zumeist auf dem Umstande, daß er nur ein halber Maler, zur andern Hälfte aber Musiker und enthusiastischer Wagnerianer war, auf welchen „Titul“ hin, wie Van der Straaten sich ausdrückte, Melanie seine Aufnahme betrieben und durchgesetzt hatte. (24-25) Insbesondere die drei anwesenden Räte geben Anlass zu der Sorge, dass die Tischgespräche eine gewisse Sprengkraft entwickeln könnten: Indiziert bereits 238 Die Tatsache, dass Van der Straaten Baron Duquede trotz seiner Rolle als Oppositionsführer gegenüber seiner Ehefrau Melanie im engeren Zirkel belässt, bewertet Henry Garland als Zeichen für seine Eigenart. (Vgl. Henry Garland: The Berlin Novels of Theodor Fontane, S. 50.) Garlands These, dass Van der Straatens Kontakt mit Duquede in Zusammenhang mit seinem Karrierestreben stehe, der als „ enfant terrible “ (Ebd., S. 51.) nur schwer Zugang zu aristokratischen Kreisen fände, teile ich allerdings nicht, denn Garland lässt unberücksichtigt, dass Duquedes Zugehörigkeit zum engeren Zirkel vor allem einer Familientradition verp ichtet ist. (Vgl. 23) Auch Van der Straatens Haltung zum adeligen Major v. Gryczinski widerspricht Garlands These: Denn so sehr er an der rothblonden Schwägerin hing [...], so wenig lag ihm an dem Major, dessen superiore Haltung ihn bedrückte. (58) Darüber hinaus werden dezidiert die Vorteile für v. Gryczinski betont: „[...] Er braucht diesen Schwager [...], es giebt Weniges, was nach oben hin so emp ehlt wie das. [...].“ (45) <?page no="103"?> 2.4 Am Abend: Abschiedsdiner in der Großen Petristraße 91 der kommerzienrätliche Nachname Van der Straaten seine Vorliebe für drastische Sprüchwörter [...] der derberen Observanz[,] (5) gibt sich der Legationsrat Duquede seinem hervorstechendsten Charakterzuge, dem des Absprechens, Verkleinerns und Verneinens ungehindert hi[n]. 239 (24) Darüber hinaus weist der Polizeirat Rei verborgene Gemeinsamkeiten zum Gastgeber auf, denn er ist auch Feinschmecker und Geschichtenerzähler, der, so lange die Damen bei Tische waren, kein Wasser trüben zu können schien, im Moment ihres Verschwindens aber in Anekdoten excellirte [...]. Selbst Van der Straaten, dessen Talente doch nach derselben Seite hin lagen, erging sich dann in lautem und mitunter selbst stürmischem Beifall[.] (24) Es wirkt fast wie eine Vorsichtsmaßnahme, wenn Melanie von der üblichen Tischordnung abweicht, um ihren Gatten zwischen sich und ihrer Schwester zu platzieren. (Vgl. 27) Bei Tisch bemerkt Van der Straaten: „Meine Frau hat mich aller Placierungs-Mühen überhoben und Karten gelegt.“ (27) Dieser Hinweis ist bemerkenswert, weil traditionell die Dame des Hauses die Sitzordnung festlegt. 240 Folgende architektonische Besonderheit des Stadthauses vermag jene ungewöhnliche Zuständigkeitsverteilung zu erklären: Das Van der Straaten’sche Stadthaus [...] hatte keinen eigentlichen Speisesaal, und die zwei großen und vier kleinen Diners, die sich über den Winter hin vertheilten, mußten in dem ersten, als Entrée dienenden Zimmer der großen Gemäldegalerie 241 gegeben werden. (26) 242 239 Dieses ungehinderte Hingeben korrespondiert damit, dass Duquede, weil er für gewöhnlich an Melanies Seite zur Tafel schreitet, (Vgl. 26) den Rang eines Ehrengastes inne hat. (Vgl. zu den habituellen Gep ogenheiten des 19. Jahrhunderts exemplarisch Ferdinand Werner: Mannheimer Villen. Architektur und Wohnkultur in den Quadraten und der Oststadt. Worms 2009 (= Beiträge zur Mannheimer Architektur- und Baugeschichte; Band 6), S. 196.) 240 Vgl. ebd., S. 196. 241 Gemälde- und Kunstsammlungen gelten „schon immer als repräsentativer Ausdruck gesellschaftlicher Führungsansprüche und vermittel[n] zugleich einen Begri von Bildung und Kultur“, (Winfried Jung: Bildergespräche, S. 68-69.) der dem Bourgeois eigentlich fehlt. 242 Die Wochen vor Weihnachten beschreibt Georg Brandes als Zeit der Feste. Die „ upper then thousand leben im Wirbel der Geselligkeit.“ (Georg Brandes: Berlin als deutsche Reichshauptstadt. Erinnerungen aus den Jahren 1877-1883. Hrsg. von Erik M. Christensen und Hans-Dietrich Loock. Berlin 1989 (= Wissenschaft und Stadt; Band 12), S. 259.) <?page no="104"?> 92 Kapitel 2: Szenen einer Ehe Weil der Speisesaal Teil der Gemäldegalerie ist, liegt jener raumsemantisch ganz im Herrschaftsbereich des bilderschwärmenden Kommerzienrats. (Vgl. 41, 55) So wundert es nicht, dass es in der Folge zu eine[r] jener Katastrophen [kommt] [...], wie sie bei den commercienräthlichen Diners eben nicht allzu selten waren[.] (33) Thematisch erö net Van der Straaten die Runde mit der Politik des Reichskanzlers Otto von Bismarck. 243 Dies entspricht dabei einem doppelten Fauxpas, denn zum einen polarisiert Bismarck seine Zeitgenossen, 244 während jedoch die Spaltung der Gesellschaft als „höchst peinlich“ 245 gilt. Zum anderen erfordern politische Themen ein „besonders hohes Maß von Takt“: 246 „Oft decken solche Gespräche ganz unvermutet tiefergehende Meinungsverschiedenheiten auf, die im weiteren Verlauf zu leidenschaftlicher Erregung und zu unerwünschten Spannungen führen könnten.“ 247 Im konkreten Fall allerdings ist Duquedes Haltung zum Reichskanzler selbst dem Leser bekannt: Er empörte sich eigentlich über alles, am meisten über Bismarck[.] (24) Konstanze von Franken emp ehlt daher in ihrem zeitgenössischen Benimmratgeber einem Gespräch über Politik zügig eine Wendung zu geben und unau ällig auf ein anderes Thema zu lenken. 248 Jener allgemeingültigen Empfehlung kommt der Kommerzienrat - bei dem sich der Uebermuth der Tafelstimmung bereits zu regen [...] (29) beginnt - 243 Die „Krieg-in-Sicht-Krise“ im April und Mai 1875 fällt in den ersten Zyklus der wirtschaftlichen Depression. In diesem Zusammenhang wird Frankreich unterstellt, einen Revanchekrieg vorzubereiten. (Vgl. Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 163.) Dies ist ein Beispiel dafür, dass Gerüchte den Börsenalltag prägen, „die veri ziert oder falsi ziert sein wollen, häu g gestreut, um Spekulationen zu inszenieren.“ (Ebd., S. 196.) Van der Straatens fester Glaube an einen Krieg korrespondiert mit seiner Gewissheit bezüglich eines Ehebruchs seiner Frau. Dies entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie, denn der Kommerzienrat spekuliert erfolgreich an der Börse, verkalkuliert sich dabei jedoch erheblich in seinem Privatleben. 244 Vgl. dazu Heide Barmeyer: Bismarck zwischen preußischer und nationaldeutscher Politik. In: Bismarck und seine Zeit. Hrsg. von Johannes Kunisch. Berlin 1992 (= Forschung zur brandenburgischen und preußischen Geschichte. Neue Folge. Beiheft; Band 1), S. 37-56, hier S. 37. 245 Georg Verweyen: Literarische Blamagen, S. 219. 246 Konstanze von Franken: Der gute Ton. Ein Brevier für Takt und gutes Benehmen. 82. Au age. Berlin 1957 (= Hesses Handbücher; Band 22), S. 29. Unter dem Pseudonym Constanze bzw. Konstanze von Franken hat die Schriftstellerin Helene Stökl 1890 diesen bis heute bekannten und in unzähligen Au agen erschienenen Benimmratgeber verö entlicht. 247 Ebd., S. 29. 248 Vgl. ebd., S. 29. <?page no="105"?> 2.4 Am Abend: Abschiedsdiner in der Großen Petristraße 93 auf zweifelhafte Weise nach: Hocherfreut über die Größen-Niedermetzelung und Generalnivellirung (32) bezüglich des Reichskanzlers fordert er Duquede auf, sich einen Nachschlag zu nehmen und vergleicht „die Schärfe von spanischen Zwiebeln sowie die berauschende Wirkung von Rheinwein mit Murillos Madonnen, die er als ‚warme Madonnen‘ von den ‚kalten‘ abgrenzt.“ 249 Nur vordergründig spricht Van der Straaten dabei über Malerei, denn vielmehr dient ihm die Kunst als Vehikel, aber auch Tarnung: In seiner Kunstliebe kann der Hausherr unter dem Deckmantel der Expertise „sein Interesse an Pornogra e“ 250 ausleben und so tabuisierte Themen, wie die Motive Frau, weiblicher Körper und Erotik, verpackt in der Diskussion über Malerei ansprechen. 251 Der Speisesaal wird von einer Copie 252 der Veronesischen „Hochzeit zu Cana“ (26) dominiert und somit ein weiteres Bild venezianischer Provenienz erzählerisch eingeführt. 253 Veronese wird bereits im 19. Jahrhundert als einer der Hauptmeis- 249 Sergej Rickenbacher: Zwischen Askese und Exzess. Zu Tisch bei Goethe, Fontane und Huysmans. In: Trajectoires 10 (2016). Online abrufbar unter: http: / / journals.opene dition.org/ trajectoires/ 2085 (letzter Zugri am 20.02.2023), S. 17. 250 Gottfried Zeitz: Die poetologische Bedeutung des Romans „L’Adultera“ für die Epik Theodor Fontanes, S. 122. 251 Vgl. Bettina Pohle: Kunstwerk Frau, S. 35 sowie Sabina Becker. ‚Wiederhergestellte‘ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 156. 252 Dass es sich hier dezidiert um eine Copie (26) handelt, unterstreicht erneut Van der Straatens Existenz als „homme copie“. (Gerhard Neumann: Theodor Fontane, S. 81. Vgl. hierzu ebenso Gabriella Catalano: Fontanes italienischer Kunstatlas. In: Fontane und Italien. Frühjahrstagung der Theodor Fontane Gesellschaft e. V., Mai 2009 in Monópoli (Apulien). Hrsg. von Hubertus Fischer und Domenico Mugnolo. Würzburg 2011, S. 49-60, hier S. 51.) Dies korrespondiert des Weiteren mit seiner Vorliebe für ge ügelte Worte, einer „Redeweise, die ohne Zitate nicht auszukommen vermag.“ (Walter Müller-Seidel: Theodor Fontane, S. 173.) Aufgrund dessen möchte Franziska Schößler in Van der Straaten einen assimilierten Juden erkennen, denn dieser gilt dem zeitgenössischen Verständnis nach als „unecht“. (Franziska Schößler: Der jüdische Börsianer und das unmögliche Projekt der Assimilation, S. 99.) So entlarve sich der jüdische Topos des ‚Unoriginellen‘ nicht nur in seiner Gemäldesammlung, sondern auch in seinem kommunikativen Habitus. (Vgl. ebd., S. 98.) 253 Paolo Caliari (1528-1588), genannt Veronese, hat dieses Motiv zweimal gemalt. Zunächst in den Jahren 1562 bis 1563 für die Stirnwand des Refektoriums des Benediktinerklosters der Insel San Giorgio in Venedig. (Vgl. Christian Lenz: Veroneses Bildarchitektur. Bremen 1969, S. 66.) Diese ‚Hochzeit zu Kana‘ ist ein Riesengemälde im Format 10 Meter (Breite) mal 7 Meter (Höhe). (Vgl. Gerhard Neumann: Theodor Fontane, S. 94.) Im Jahr 1797 wird das Gemälde von den napoleonischen Truppen geraubt und nach Paris gebracht, wo es seitdem im Musée du Louvre ausgestellt ist. Seit 2007 be ndet sich im Refektorium des Klosters San Giorgio Maggiore ein Faksimile. (Vgl. Oskar Bätschmann: Die Kunst <?page no="106"?> 94 Kapitel 2: Szenen einer Ehe ter der venezianischen Malerei verstanden 254 und gilt bis heute als „Venezianer par exellence“, 255 dessen Auftragsarbeiten die Paläste der Stadt schmücken. Die biblische Geschichte setzt Veronese als venezianisches Bankett um. 256 Seine Gastmahle gelten dabei im 19. Jahrhundert als Ausdruck sinnlichen Genusses. 257 Dies setzt auch der Kommerzienrat um, denn seine „Tischreden sind mehrdeutig, und Aspekte von Nahrung, Malerei, Religion und Sexualität überlagern sich. Der der Kopie und ihre Grenzen. In: Neue Zürcher Zeitung vom Sonnabend, den 13.10.2007, S. 72. Eine ausführliche Bildanalyse ndet sich bei Gerhard Neumann: Theodor Fontane, S. 86-97.) Die zweite ‚Hochzeit zu Kana‘ fertigt Veronese 1571 im Auftrag der venezianischen Patrizierfamilie Cuccina zusammen mit drei weiteren Bildern ähnlichen Formats an. Bis 1645 hängen diese Bilder im venezianischen Palast der Familie, gelangen dann jedoch in den Besitz der herzoglichen Galerie in Modena und be nden sich seit 1746 in Dresden. (Vgl. Harald Marx: Ein Rundgang durch die Dresdner Gemäldegalerie. Alte Meister. Hrsg. von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. 2. Au age. Dresden 1982, S. 90.) Diese ‚Hochzeit zu Kana‘ misst 4,57 Meter (Breite) mal 2,07 Meter (Höhe). (Vgl. Christian Lenz: Veroneses Bildarchitektur, S. 99.) Es lässt sich weder aus dem Roman noch aus Fontanes Aufzeichnungen direkt nachvollziehen, welche ‚Hochzeit zu Kana‘ gemeint ist. (Vgl. Gerhard Neumann: Theodor Fontane, S. 87.) Trotzdem erscheint mir nur eine Variante als denkbar: Die ‚Hochzeit zu Kana‘ im Louvre hat Ausmaße von 70 (sic! ) Quadratmetern. Die durchschnittliche Deckenhöhe in einem Berliner Wohnhaus - selbst wie hier in der Beletage - ist deutlich niedriger als die mindestens benötigten sieben Meter Deckenhöhe. So hat beispielsweise das Cöllner Patrizierhaus in der Breiten Straße 11 - genannt Ermeler-Haus - in der Beletage eine Deckenhöhe von 4,25 Metern. (Vgl. hierzu Berlin und seine Bauten. Teil VIII. Bauten für Handel und Gewerbe. Gastgewerbe. Hrsg. vom Architekten- und Ingenieur- Verein zu Berlin. Berlin, Düsseldorf, München 1980, S. 122.) Der Hinweis, es würde ausdrücklich ohne Weiteres für das Original (26-27) gehalten werden können sowie die Tatsache, dass die kommerzienrätliche Kopie zusätlich noch von zwei Stillleben (27) ankiert wird, spricht aufgrund der Größenverhältnisse daher für die vergleichsweise deutlich kleinere ‚Hochzeit zu Kana‘, die sich heute in Dresden be ndet. Gleich welche ‚Hochzeit‘ gemeint ist, relevant erscheint mir insbesondere der Hinweis auf eine von guter italienischer Hand herrührende [...] Copie[,] (26) da so die venezianische Provenienz, die für beide Hochzeiten gleichermaßen gilt, betont wird. 254 Vgl. Victoria Charles: Die Kunst der Renaissance. New York 2012, S. 170. 255 Robert E. Wolf und Ronald Millen: Kunst im Bild. Die Geburt der Neuzeit. München 1987, S. 112. 256 Vgl. Winfried Jung: Bildergespräche, S. 93. 257 Vgl. Erik Forssman: Veronese in Deutschland: Über Grenzen des Kunstverstehens im 19. Jahrhundert. In: Paolo Veronese. Fortuna Critica und künstlerisches Nachleben. Hrsg. von Jürg Meyer zur Capellen und Bernd Roeck. Sigmaringen 1990 (= Studi. Schriftenreihe des Deutschen Studienzentrums in Venedig / Centro Tedesco di Studi Veneziani; Band 8), S. 73-86, hier S. 77. <?page no="107"?> 2.4 Am Abend: Abschiedsdiner in der Großen Petristraße 95 Bildgenuss wird in der Rede zur sexuellen Erregung und zum alkoholischen Rausch.“ 258 Zugleich thematisiert das Sujet die Einhaltung christlicher Ehetugenden 259 und kann deshalb als Gegenbild zu Tintorettos ‚Ehebrecherin‘ gelesen werden. 260 In diesem Sinne stehen beide Gemälde für zwei unterschiedliche Frauenbilder in der preußischen Gesellschaft, 261 wobei beiden die „zugedachte Funktion der ‚heimlichen Predigt‘“ 262 gemeinsam ist. Unterstrichen wird jene Funktion dadurch, dass sich der Veronese direkt hinter Melanies Zimmer be ndet. (Vgl. 26) 263 Die Wahrung christlicher Ehetugenden und damit einhergehend die Warnung vor einem Ehebruch, die dem Sujet eingeschrieben ist, wird jedoch meines Erachtens dreifach konterkariert: Erstens durch seine venezianische Provenienz, denn Venedig gilt „neben Paris als das Sündenbabel schlechthin.“ 264 Zweitens dadurch, dass [e]in reichgegliederter Kronleuchter von französischer Bronce [...] seine Lichter auf [...] [die] Copie [wirft,] (26) denn der Zusammenhang zwischen französischer Herkunft und der Schwäche der Untreue ist im Roman bereits etabliert. (Vgl. 7, 9) Drittens wird die Kopie von zwei Fisch-Stillleben gerahmt. 265 Das Sujet Fischstillleben sowie die Bewunderungsformel (27) des Kommerzienrats, „es werd’ ihm, als ob er taschentuchlos über den Cöllnischen Fischmarkt gehe[,]“ (27) verweisen auf Petrus und seine Verleugnung, denn der Patron Cöllns ist von Beruf Fischer. (Vgl. LUT, Lk 5,1-11.) In diesem Kontext können die toten Fische auch als Verweis darauf gelesen werden, dass sich die Eheleute in Stralau - das als Fischerdorf einen Fisch im Wappen trägt - vollends und irreparabel entfremden werden. (Vgl. 71) Zudem zeigt das Wappen des ausgestorbenen klevischen 266 258 Sergej Rickenbacher: Zwischen Askese und Exzess, S. 17. 259 Vgl. Gerhard Neumann: Theodor Fontane, S. 98. 260 Vgl. Winfried Jung: Bildergespräche, S. 94. 261 Vgl. Gerhard Neumann: Theodor Fontane, S. 94. 262 Winfried Jung: Bildergespräche, S. 94. 263 Vgl. ebd., S. 94. 264 Klaus Bergdolt: Deutsche in Venedig. Von den Kaisern des Mittelalters bis Thomas Mann. Darmstadt 2011, S. 96. 265 Im Nebeneinander der Bilder spiegelt sich für Nora Ho mann lediglich Van der Straatens fehlendes tieferes Kunstverständnis. (Vgl. Nora Ho mann: Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung bei Theodor Fontane, S. 244 und hierzu ähnlich Winfried Jung: Bildergespräche, S. 90.) 266 Kleve ist seit der Reformation ein calvinistisches Gebiet. Um dieses als Teil seiner jülichschen Erbschaft in Besitz zu nehmen, tritt 1613 der Brandenburgische Kurfürst Johann Sigismund zum reformierten Glauben über. (Vgl. dazu Schul-Atlas zur Brandenburgisch- Preußischen Geschichte. Hrsg. von Georg Wendt. Glogau 1890, S. 25-36.) <?page no="108"?> 96 Kapitel 2: Szenen einer Ehe Rittergeschlechts v. d. Stra(e)ten einzig einen Fisch 267 und so verweisen die toten Fische im Stillleben auf den Kommerzienrat, dessen Geschlecht ohne männlichen Nachfolger gleichfalls aussterben wird. Melanie, um von dem heiklen Murillo-Thema loszukommen, (33) bemüht sich die sexuellen Anspielungen ihres Gattens zu entschärfen, 268 indem sie eine vom ihm ignorirte Mittel-Gruppe, nämlich [...] die temperirten (33) in Anschlag bringt und konstatiert: „Die Tizianischen scheinen mir diese wohltuend gemäßigte Temperatur zu haben. Ich lieb’ ihn überhaupt.“ (33) Erneut wird Melanie mit ihrer Begeisterung für Tizian 269 der Stadt Venedig zugeordnet, denn jener gilt bereits zu Fontanes Zeiten als zentrale Figur der venezianischen Renaissancemalerei. 270 Zugleich sind im Roman mit Tizian - wie Fontane in seinem Reisetagebuch notiert - die „bekannten drei Nummern: Tizian, P. Veronese und Tintoretto [...]“ (Rt, S. 318.) der venezianischen Schule eingeführt. Melanies Manöver scheitert doppelt: Auf der einen Seite fordert der Kommerzienrat angeregt durch den Disput mehr Alkohol, zum anderen thematisiert er nun die Venusmalerei: „[...] Uebrigens mit dem Tizian hast Du doch Unrecht. Das heißt halb. Er versteht sich auf alles Mögliche, nur nicht auf Madonnen. Auf Frau Venus versteht er sich. Das ist seine Sache. Fleisch, Fleisch. Und immer lauert irgendwo der kleine liebe Bogenschütze. [...].“ (33-34) Während Van der Straaten mit seinen „warmen“ Murillo-Madonnen 271 ein widersprüchliches Weiblichkeitsideal fokussiert - die Madonnen des spanischen 267 Vgl. zum Geschlecht v. d. Stra(e)ten ausführlicher Ernst von Oidtman und seine genealogisch-heraldische Sammlung in der Universitäts-Bibliothek zu Köln. Aus den handschriftlichen Aufzeichnungen für den Druck bearbeitet, ergänzt und mit Registern versehen von Herbert M. Schleicher. Band 15. Mappe 1151-1236. Speckhewer - Waldbott von Ulmen. Westdeutsche Gesellschaft für Familienkunde e. V., Sitz Köln. Köln 1998, S. 323. 268 „Zur Damenausbildung gehört [im 19. Jahrhundert] die tolerant-ironische Note im Umgang mit dem unvermeidlichen Männerzynismus.“ (Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Zweiter Band. Frankfurt am Main 1983, S. 481.) 269 Eigentlich Tiziano Vecellio (um 1490-1576). 270 Vgl. hierzu Francesca Del Torre Scheuch: Die Venezianische Malerei vom Cinquecento bis zum Settecento. In: Venedig. Seemacht, Kunst und Karneval. Hrsg. von Matthias Pfa enbichler. Schallaburg 2011, S. 163-182, hier 169. 271 „[...] Ich unterscheide nämlich [...] kalte und warme Madonnen. Die kalten sind mir allerdings verhaßt, aber die warmen hab’ ich desto lieber. A la bonne heure, die berauschen mich [...].“ (32) <?page no="109"?> 2.4 Am Abend: Abschiedsdiner in der Großen Petristraße 97 Malers sind „keusch und sinnlich zugleich“ 272 - verweist er mit den Venusdarstellungen von Tizian 273 erneut auf eine berühmte Ehebrecherin. So oszillieren Van der Straatens Frauenbilder zwischen der zur Madonna stilisierten Ehefrau und der Ehebrecherin. 274 In ebenjenen widersprüchlichen Rollenmustern lebt die Kommerzienrätin in ihrer Ehe, 275 was bereits in der Kopie der ‚Adultera‘ sowie der Bildausstattung des Entrees der Gemäldegalerie mit der Kopie der ‚Hochzeit zu Kana‘ zum Ausdruck kommt. Wenn Melanie daneben ihre allgemeine Liebe zu Tizian erklärt, dann ist hierin jedoch bereits eine Symbiose aus Venus und Madonna angelegt, denn Tizian hat beide Frauenbilder gemalt. (Vgl. 33) Melanie lehnt die Einteilung ihres Gatten mit der Begründung ab, Murillo hätte „die Grenze des Bezaubernden überschritten und statt des Bezaubernden [fände sie] Eine ähnliche Vorliebe und Assoziation des Weiblichen mit „„[...] Leben, Wärme, Freude [...]““ (Uwb, S. 247.) emp ndet auch Graf Helmuth Holk in „Unwiederbringlich“, der über seine Ehefrau sinniert: „„Christine hat mich von sich weg erkältet. [...] Eine Frau soll Temperatur haben, ein Temperament und Leben und Sinne. Aber was soll ich mit einem Eisberg? [...]““ (Uwb, S. 247. Vgl. ausführlicher zur Verknüpfung des Geschlechtersystems mit der Opposition von Kälte und Wärme Petra Kuhnau: Symbolik der Hysterie, S. 32-33.) 272 Winfried Jung: Bildergespräche, S. 107. Blasphemisch spielt Van der Straaten damit auch auf den Widerspruch zwischen Mutterschaft und der unbe eckten Empfängnis Mariens an. (Vgl. hierzu ausführlich ebd., S. 106.) 273 Dies entspricht abermals einem Grenzübertritt, denn die nackte Venus gilt als Sujet für das Schlafzimmer. (Vgl. Jacob Burckhardt: Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien, S. 423.) 274 Vgl. Winfried Jung: Bildergespräche, S. 106-109. Hierzu passend konstatieren Hanna Delf von Wolzogen und Christine Hehle, dass Frauen guren in Fontanes Romanen häu g als „Post guration biblischer Gestalten oder Heiliger [gezeichnet sind.]“ (Hanna Delf von Wolzogen und Christine Hehle: Einleitung. In: Religion als Relikt. Christliche Traditionen im Werk Fontanes. Internationales Symposium veranstaltet vom Theodor-Fontane-Archiv und der Theodor Fontane Gesellschaft e. V. zum 70-jährigen Bestehen des Theodor-Fontane-Archivs. Potsdam, 21. bis 25. September 2005. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer. Würzburg 2006 (= Fontaneana; Band 5), S. 7-14, hier S. 10.) Auch für Lilo Weber schwanken die Weiblichkeitsmuster der abendländischen Kultur zwischen keuscher Ehefrau respektive Jungfrau Maria auf der einen Seite und Hure respektive Hetäre auf der anderen. (Vgl. hierzu Lilo Weber: „Fliegen und Zittern“. Hysterie in Texten von Theodor Fontane, Hedwig Dohm, Gabriele Reuter und Minna Kautsky. Bielefeld 1996, S. 142.) 275 Vgl. Winfried Jung: Bildergespräche, S. 109 und allgemeiner ebenso Christian Thomas: Theodor Fontane. Autonomie und Telegraphie in den Gesellschaftsromanen. Berlin 2015, S. 45-46. <?page no="110"?> 98 Kapitel 2: Szenen einer Ehe etwas Behexendes darin.“ (34) Ihre Feststellung erhält allgemeine Zustimmung und unterstreicht Van der Straatens fragwürdigen Kunstgeschmack. Nachdem der Maler Elimar Schulze auf Melanies Wohl anstößt, br[icht] Van der Straaten durch alle bis dahin mühsam eingehaltenen Gehege durch und debutirte ’mal wieder ganz als er selbst. Er sei [...] nicht in der Lage, der für die „Frau Commercienräthin“ gewiß höchst werthvollen Zustimmung seines Freundes Elimar Schulze [...] seinerseits zustimmen zu können. Es gäbe freilich einen Gegensatz von Bezauberung und Behexung, aber manches in der Welt gelte für Behexung was Bezauberung und noch mehr gelte für Bezauberung was Behexung sei. (34-35) Erneut missachtet Van der Straaten den gep egten Ton der feinen Gesellschaft, indem er nicht nur seiner Gattin coram publico widerspricht, sondern damit ebenso der ihr zuvor entgegengebrachten allgemeinen Zustimmung. Dies bedeutet abermals eine doppelte Verletzung der Gesprächskonventionen, denn gegenüber Damen gilt es, besondere Zurückhaltung zu üben, als auch die Spaltung der Gesellschaft zu verhindern. 276 Als der Kommerzienrat innehält und bereit ist, es bei diesen Allgemeinsätzen bewenden zu lassen[,] (35) bittet Melanies Schwester, die sich, nach Art aller Schwägerinnen etwas herausnehmen durfte, (35) ihren Schwager aus seinen Orakelsprüchen heraus und zu bestimmteren Erklärungen übergehn zu wollen. (35) Hierdurch fühlt sich der Gastgeber bestärkt, die Schwärmerei seiner Gattin für die Musik Richard Wagners bloßzustellen. Als Melanie erkennt, worauf Van der Straaten anspielt, beginnt sie ihrerseits alle Ruhe zu verlieren[,] (35) denn auch der Komponist polarisiert nicht nur das kommerzienrätliche Haus, (Vgl. 55) sondern allgemein die Gesellschaft im 19. Jahrhundert. 277 Insbesondere die „pathologische Musikrezeption Wagners“ 278 und dessen „blasphemisch[e] Verehrung“ 279 sowie seine besondere Anziehungskraft 276 Vgl. Georg Verweyen: Literarische Blamagen, S. 219. 277 Vgl. exemplarisch Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 168. Fontane hat sich immer wieder mit dem ‚Phänomen Wagner‘ beschäftigt, insbesondere mit dem gesellschaftlichen Klatsch über die Person Richard Wagner. (Vgl. Hans Otto Horch: Annäherungen an ein Jahrhundertereignis, S. 39.) 278 Hiltrud Bontrup: „... auch nur ein Bild.“, S. 29. Paul Lindau beispielsweise beschreibt den Geniekult um Wagner und „die unbedingte Unterwür gkeit der Gefolgschaft gegenüber dem ‚Meister‘.“ (Hans Otto Horch: Annäherungen an ein Jahrhundertereignis, S. 42.) 279 Peter Gay: Die zarte Leidenschaft, S. 272. <?page no="111"?> 2.4 Am Abend: Abschiedsdiner in der Großen Petristraße 99 auf Frauen 280 werden vom Kommerzienrat betont. (Vgl. 35-36) Van der Straatens abschließend ausgesprochener, gleichsam unaussprechlicher Berolinismus (36) 281 geht im Getöse (36) unter, welches der Major durch einen geschickt combinirten Angri von Gläserklopfen und Stuhlrücken in Scene [setzt]. (36) Zunächst scheint die Gefahr glücklich beseitigt. Aber mit Unrecht. Van der Straaten, absolut unerzogen, konnte, vielleicht weil er dies Manco fühlte, nichts so wenig ertragen, als auf Unerzogenheiten aufmerksam gemacht zu werden: er vergaß sich dann ganz und gar[.] (36-37) 282 Melanies schwieriger Stand innerhalb des Van der Straatenschen Familiengefüges wird an dieser Stelle deutlich, denn die ihretwegen zum engeren Zirkel hinzugekommenen Protagonisten - und nicht etwa, wie zunächst wahrscheinlicher, die beiden Räte - fungieren als Stichwortgeber für die kommerzienrätlichen Unerzogenheiten[.] (36) Dies ist besonders bemerkenswert, weil sich die Blicke von Melanie und ihrer Schwester bereits während des heiklen Murillo-Thema[s] (33) 280 Ebenso besitzt Rubehn eine au ällige Anziehungskraft auf die Frauenwelt: So ist Melanie sofort von seinem Bildnis angetan (Vgl. 20) und durch seinen Besuch in der Tiergartenvilla ungewöhnlich erfreut und angeregt[,] (55) wobei letzteres auch auf Anastasia zutri t. (Vgl. 74) Auch die Stralauer Wirtin versucht mit Rubehn Blickkontakt aufzunehmen, (Vgl. 70) während Jacobine ihre erotische Schwärmerei für Rubehn verrät, wenn sie von ihrer „[...] Neugier [...]“ (137) nach dem „[...] Vergleichenkönnen [...]“ (137) schreibt. Dabei überträgt sich die sexuelle Komponente der Wagnerschen Musik, für die diese im 19. Jahrhundert allgemein bekannt ist, gewissermaßen auf den Wagnerianer Rubehn. (Vgl. zur sexuellen Komponente der Wagnerschen Musik Peter Gay: Die zarte Leidenschaft, S. 277.) 281 Neben dem Fauxpas des Berolinismus liegt noch ein weiteres ‚Vergehen‘ des Kommerzienrates vor, denn das Wort ‚Hose‘ (Vgl. 36) gilt dem zeitgenössischen Verständnis nach in Damengesellschaft als unaussprechlich. Dieses Kleidungsstück ist daher die „Unaussprechliche“ getauft worden. (Vgl. hierzu Christian Grawe: „Die wahre hohe Schule der Zweideutigkeit“. Frivolität in Fontanes Romanen. In: Ders.: „Der Zauber steckt immer im Detail“. Studien zu Theodor Fontane und seinem Werk 1976-2002. Dunedin 2002 (= Otago German Studies; Volume 16), S. 190-213, hier S. 192.) 282 In seiner Rezension über „Assunta Leoni“ (1883) von Adolf Wilbrandt (1837-1911), die in der „Vossischen Zeitung“ vom 23. September 1884 erscheint, kommt Fontane zu der Einschätzung, dass der Berliner (32) „ein Meister im Stimmungswechsel“ (Tk3, S. 164.) sei, was mithin auch auf den Kommerzienrat zutri t. Mit ähnlichem Ergebnis, jedoch anders motiviert, sieht Mende den Habitus des Kommerzienrats als von der Börse durchdrungen, so dass der „blitzschnelle Umschlag seiner Stimmungen [...] dem raschen Wechsel der Kurse in der Gründerzeit [gleicht.]“ (Dirk Mende: Frauenleben, S. 190.) <?page no="112"?> 100 Kapitel 2: Szenen einer Ehe getro en haben, so dass sich beide der gefährlichen Richtung, die das Tischgespräch nimmt, bewusst sind. 283 Sowohl Auftakt und Abschluss der Diners nden in Melanies Zimmer statt und verlaufen daher ohne Zwischenfall (38) und entsprechend konventionsgemäß. Das Speisezimmer jedoch, weil es zugleich das Entree der Gemäldegalerie bildet und damit ganz dem Hausherrn zugeordnet werden kann, entzieht sich gleichsam Melanies Kontrolle. 284 Ihre schwierige familiäre Position wird gleichfalls über die Architektur des Stadthauses re ektiert, denn ihr Zimmer liegt buchstäblich räumlich gefangen zwischen dem Arbeits- und Wohnzimmer (8) ihres Mannes sowie dem Berliner Zimmer, 285 das als Entree der Gemäldegalerie und Speisezimmer fungiert: Es gri dieser Theil der Galerie noch aus dem rechten Seiten ügel in das Vorderhaus über, und lag unmittelbar hinter Melanie’s Zimmer [...]. (26) 286 Das Speisezimmer verfügt zusätzlich über eine hinten liegende Thür, die mit der im Erdgeschoss gelegenen Küche bequeme Verbindung hielt. (27) Hierin kann eine weitere Beschränkung Melanies gesehen werden, denn Teile der Dienerschaft be nden sich in Opposition zu ihr. (Vgl. 107) Eingedenk, dass Melanie als der eigentliche Tyrann des Hauses (17) gilt, kann das räumliche Setting jedoch auch in die Gegenrichtung gelesen werden, denn die zentrale Lage ihres Zimmers gleicht der einer Leitstelle, die es ihr ermöglicht zu domini[ren.] (46) Ihr Wunsch jedoch, dieses Zwanges los und ledig zu sein, (46) markiert ihre familiäre Position als ‚umkämpft‘. So ergeben beide Lesarten zusammengenommen, dass Melanies Zimmer im Zentrum des ehelichen ‚Kampfgeschehens‘ liegt. Zusätzlich verweist die dezidierte Beschreibung der Hintertreppe auf Heimlichkeiten 287 des Van der 283 Während der Landpartie nach Stralau wird Elimar erneut Stichwortgeber für weitere Unerzogenheiten (36) des Kommerzienrats werden. 284 Im Sinne der Lesart, dass Melanie der eigentliche Tyrann des Hauses (17) ist, (Vgl. Seite 72 dieser Arbeit.) kann geschlussfolgert werden, dass der eingehegte Kommerzienrat ausschließlich in seinem Herrschaftsbereich durch alle bis dahin mühsam eingehaltenen Gehege durch[brechen] (34) kann. 285 Vgl. zum Berliner Saal und seiner Nutzung als Esszimmer W7, S. 27-28. 286 Dazu passend liegt Melanies Zimmer in der Front des Hauses. (Vgl. 17, 151) 287 Vgl. Johann Georg Krünitz: Oeconomisch-technologische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirtschaft, und der Kunstgeschichte, in alphabetischer Ordnung. Zuerst fortgesetzt von Friedrich Jakob Floerken, dann von Heinrich Gustav Flörke, und jetzt von Johann Wilhelm David Korth. Hundert und sieben und achtzigster Theil, welcher die Artikel Transport bis Trieb enthält. Nebst zwei Kupfertafeln von dem Portrait des Prinzen Albert, Gemahl der Königin Victoria von England. Berlin 1845. Gesamte Enzyklopädie online abrufbar unter: <?page no="113"?> 2.4 Am Abend: Abschiedsdiner in der Großen Petristraße 101 Straatenschen Hauses, so wie später Melanie auf dem Hintertreppenwege (144) zum Klatschopfer werden wird. 288 2.4.2 Ein Heimweg in der Equipage Nach dem Diner tritt das Ehepaar v. Gryczinski in der wie gewöhnlich an Diner- Tagen (38) und bei dieser Gelegenheit einfür allemal zur Verfügung gestellten commercienräthlichen Equipage (39) den Heimweg an. Dabei hat der Major den beiden Malern noch im letzten Augenblicke die Mitfahrt angeboten. (39) Während Gabler sich nunmehr ohne Weiteres auf den Rücksitz [platziert,] (39) steigt Elimar mit einem kräftigen Turnerschwunge (39) auf den Kutschbock und gibt dem Kutscher Ehm, auch noch ein Erbstück aus des alten Van der Straatens Zeiten her, (39) eine Zigarre. Der Erzähler bezeichnet letzteres als Präliminarien (39) und deutet mit diesem Wort eine Form der Grenzüberschreitung an, 289 die bereits der Figur Elimar eingeschrieben ist, denn er ist sowohl Maler als auch Musiker. Dabei überschneiden sich im Berufskünstlertum gesellschaftlich diskriminierte und akzeptierte Elemente so stark, wie in keinem anderen Bereich der Gesellschaft. 290 http: / / www.kruenitz1.uni-trier.de (letzter Zugri am 20.02.2023), darin den Artikel Treppe, S. 514-540, hier S. 527-528 sowie den Artikel Treppe (geheime), S. 541-542. 288 Über die Bezeichnung beque[m] (27) erscheint die Treppe zugleich Van der Straaten zugeordnet, der später von unbekannter Seite her über Melanies Flucht unterrichtet werden wird. (Vgl. 111) Ebenso erscheint beispielsweise im Roman „E Briest“ das Motiv der Hintertreppe in Verbindung mit dem Klatsch. (Vgl. EB, S. 290.) 289 Das Wort Präliminarien (39) verweist auf eine Schwellensituation, die gleichsam einen Wendepunkt markiert. In diesem Zusammenhang sei auf Michail Bachtins (1895-1975) Bemerkungen zur Schwelle verwiesen: „Allein das Wort „Schwelle“ hat ja schon im Redeleben (neben seiner realen Bedeutung) eine metaphorische Bedeutung erlangt und sich mit dem Moment des Wendepunkts im Leben, der Krise, der das Leben verändernden Entscheidung verknüpft (oder auch mit dem Moment des Zauderns, der Furcht vor dem Überschreiten der Schwelle).“ (Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. von Edward Kowalski und Michael Dewey. Frankfurt am Main 1989, S. 198.) 290 Vgl. hierzu mit Blick auf „E Briest“ Sascha Kiefer: „Die Trippelli, Anfang der Dreißig, stark männlich.“ Fontanes Künstler guren an den Grenzen der Geschlechternorm. In: „Weiber weiblich, Männer männlich“? Zum Geschlechterdiskurs in Theodor Fontanes Romanen. Hrsg. von Sabina Becker und dems. Tübingen 2005, S. 95-125, hier S. 98. Kiefer sieht in der künstlerischen Tätigkeit einerseits einen Zugang zu bestimmten Gesellschaftsschichten, andererseits bleibt der Künstler gerade aus diesem Grund randständig. (Vgl. ebd., S. 98.) Vielleicht bietet der Major mit seiner superiore[n] Haltung (58) auch deshalb den beiden Malern erst im letzten Augenblicke die Mitfahrt (39) an. <?page no="114"?> 102 Kapitel 2: Szenen einer Ehe Zusätzlich verstärkt er seine Grenzposition, wenn er erklärt: „[...] Denn während er jetzt als Maler allgemein für einen Musiker gehalten werde, werd’ er als Musiker sicherlich für einen Maler gehalten [...].“ (25) Des Weiteren ist er auch Turner und Akrobat. (100) Der Akrobat (100) steht traditionell sinnbildlich für eine gelockerte Moral und so erscheint Elimar abermals als eine Figur außerhalb oder am Rande der etablierten Ordnung. 291 Als sie bald darauf bei der Normaluhr auf dem Spittelmarkte vorüber kamen und in eine der schlechtgep asterten Seitenstraßen einbogen, hielt Elimar den ersehnten Zeitpunkt für gekommen und sagte: „Ist denn der neue Herr schon da? “ (39) Weil Elimar der Gesprächsinitiator ist, wird durch seine eigene Grenzposition gleichsam ein Grenzübertritt des baldigen Gastes prä guriert, der zugleich ganz im Zeichen einer Liebesbeziehung steht, denn die von Melanie gelegten Tischkarten beim Abschieds-Diner sind von Elimar mit Amoretten ausgestattet worden, (Vgl. 27) weshalb der Kommerzienrat selbst einen Zusammenhang zwischen Elimar und dem Liebesgott Amor herstellt: „Daß Ihr Maler doch über diesen ewigen Schützen nicht wegkommen könnt.“ (27) Da der amora ne und später als kindlich (63) beschriebene Elimar jedoch gleichzeitig Melanie zugeordnet ist, (Vgl. 25) impliziert dies nicht nur den kommenden Ehebruch mit dem baldigen Hausgast, sondern assoziiert Melanie erneut mit der Göttin Venus, denn dieser ist wiederum Amor zur Seite gestellt. 292 Mit der Bewegung der Kutsche wird überdies das zukünftige Handlungsgeschehen vielfältig vorausgedeutet: Wenn Elimar seine Frage so lange zurückhält, bis die Kutsche in eine der schlechtgep asterten Seitenstraßen (39) abbiegt, um zu ver- 291 Vgl. zum Akrobaten allgemein Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S. 28. In diesem Kontext wird der Turnersprung (Vgl. 67) während der Landpartie in Stralau im Zeichen einer erotischen Gefährdung (Vgl. 67, 98) stehen. 292 Dies wird unterstrichen, indem der Kommerzienrat bezüglich der Tizianischen Venusdarstellungen schwadroniert: „[...] Auf Frau Venus versteht er sich. Das ist seine Sache. Fleisch, Fleisch. Und immer lauert irgendwo der kleine liebe Bogenschütze. Pardon, Elimar, ich bin nicht für Massen-Amors auf Tischkarten, aber für den Einzel-Amor bin ich, und ganz besonders für den Tizianischen rothen Ruhebetts mit zurückgezogener grüner Damastgardine. Ja, meine Herrschaften, da gehört er hin, und immer ist er wieder reizend, ob er ihr zu Häupten oder zu Füßen sitzt, ob er hinter dem Bett oder der Gardine hervorkuckt, ob er seinen Bogen eben gespannt oder eben abgeschossen hat. [...].“ (33-34) <?page no="115"?> 2.4 Am Abend: Abschiedsdiner in der Großen Petristraße 103 hindern, dass das Gespräch von den Insassen des Wagens verstanden würde (40), 293 wird hierdurch die Ausweitung des Ehebruchs zu einer zunächst geheimen Affäre antizipiert. Die Wortwahl „[...] neue[r] Herr [...]“ (39) verweist zudem auf Rubehns spätere Stellung als Melanies neuer Ehemann. Des Weiteren gibt das Überqueren des Spittelmarktes, weil dieser seinen Namen vom Gertraudenhospital 294 hat, einen Hinweis auf eine Krankheitsgeschichte, die darüber hinaus in Verbindung mit einer Reise steht, (Vgl. 106) denn die heilige Gertraude gilt als Schutzpatronin für Reisende. 295 Verstärkt wird diese Assoziation, weil die Normaluhr auf dem Spittelmarkte (39) auf eine spätere Abreise des sich neu formierenden Paares mit der Eisenbahn anspielt. 296 Der Kutscher bewertet den kommerzienrätlichen Aufwand, um die Zimmer für den baldigen Gast herzurichten mit den Worten: „[...] Jott, se duhn ja, wie wenn’t en Prinz wär’ [...].“ (40) 297 Diese Positionierung ist aufschlussreich, denn auch Melanie erscheint im Erzählkommentar wie die Prinzeß im Märchen, (7) so dass hier erneut der Altersunterschied zwischen Melanie und Rubehn auf der einen und dem Kommerzienrat auf der anderen Seite markiert wird, oder um es mit der Roman gur Dubslav von Stechlin zu sagen: „„[...] König oder Kronprinz oder alte Zeit und neue Zeit. [...].““ (DS, S. 436.) Denn „[...] eine neue Aera des Hauses Van der 293 Dies korrespondiert zusätzlich damit, dass Elimar das Gespräch aufgibt, sobald die Kutsche auf den abendlich-stillen Opernplatz (40) einbiegt. 294 Vgl. Friedrich Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente, S. 149. Die Gertrauten- oder Spitalkirche „stößt gerade auf die Leipzigerstraße der Friedrichstadt. Sie ward nebst dem Hospital 1405 zu Ehren des H. Mattäus, des H. Bartolomäus, und der H. Gertraut erbaut.“ (Ebd., S. 149.) 295 Vgl. Thomas Ludewig und Wolfgang Wippermann: Berlin. Geschichte einer deutschen Metropole. München 1986, S. 152. 296 Die Normaluhr am Spittelmarkt ist zur Romanzeit eine von sechs sogenannten Normaluhren in Berlin und wird wegen des Eisenbahnverkehrs und seinen verbindlichen Abfahrtszeiten in den 1870er Jahren aufgestellt. (Vgl. hierzu Alexander Demandt: Über die Deutschen. Eine kleine Kulturgeschichte. Berlin 2007, S. 337 sowie LA, Anmerkungen, S. 229.) 297 Der Kutscher verweist auf eine gemunkelte jüdische Herkunft des neuen Gastes. Hier wird zum einen erneut der Klatsch thematisiert, der o ensichtlich in allen Gesellschaftsschichten gep egt wird, (Vgl. 40) zum anderen wird die bereits von Melanie unterstellte jüdische Herkunft erneut aufgegri en. Jene lässt sich wiederum nicht direkt ausschließen, jedoch kann mit Sicherheit gesagt werden, dass auch Ebenezer Rubehn getauft worden ist und damit dem reformierten Glauben angehört. (Vgl. 20) Auch hier wird das von Norbert Mecklenburg beschriebene ‚Gesellschaftsspiel‘ betrieben. (Vgl. hierzu auch Fußnote 125 auf Seite 62 dieser Arbeit.) <?page no="116"?> 104 Kapitel 2: Szenen einer Ehe Straaten [...]“ (95) wird alsbald beginnen, wenn Prinz (40) Rubehn König Ezel (13) ablöst. In einer weiteren Lesart kann der Hinweis, Melanie lebte wie die Prinzeß im Märchen (7) als Vorausschau auf das Scheitern der kommerzienrätlichen Ehe gelesen werden, denn, um es mit den Worten des Grafen Petöfy aus dem gleichnamigen Roman zu formulieren: „„[...] Aber ein Märchenleben ist kein Leben. [...].““ (GP, S. 129.) Die Kutsche passiert auf ihrem Weg zudem den Hausvogteiplatz, der „nach der dort gelegenen königlichen Hausvogtei“, 298 also einem Ort der Gerichtsbarkeit, 299 benannt ist und raumsemantisch die gesellschaftliche Härte alludiert, die der Ehebrecherin zunächst entgegengebracht und mit einer Verurtheilung [...] zu Gerichte (160) gleichgesetzt werden wird. Im Anschluss durchfährt die Kutsche das Wallstraßen-Portal[,] (40) 300 welches zwischen dem Palais des Kronprinzen durch einen Bogen über der Oberwallstraße mit dem sogenannten Prinzessinnen- Palais Verbindung hält 301 und biegt dann auf den Opernplatz 302 ein. Über diese topographische Beschreibung wird nicht nur die spätere Verbindung zwischen Prinzessin Melanie und Prinz Rubehn antizipiert, sondern gleichzeitig erneut auf die Geheimhaltung der Beziehung verwiesen, denn der Schwibbogen des Wallstraßen-Portal[s] (40) ist ein umbauter Verbindungsgang, um von der Öffentlichkeit unbemerkt zwischen den Häusern wechseln zu können. 303 Neben dieser architektonischen Verbindung zwischen beiden Häusern wird mittels 298 Lexikon der Berliner Straßennamen. Hrsg. von Sylvia Lais und Hans-Jürgen Mende, S. 185. 299 Vgl. Friedrich Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente, S. 159-160. 300 Die Durchquerung zeigt, dass die Kutsche durch die Wallstraße fährt, die sich in Nieder- und Oberwallstraße aufteilt und nach der in den Jahren 1658-1683 angelegten Stadtbefestigung benannt ist. (Vgl. Lexikon der Berliner Straßennamen. Hrsg. von Sylvia Lais und Hans-Jürgen Mende, S. 464.) 301 Vgl. Karl Baedeker: Berlin und Umgebungen (1887), S. 64. 302 Anders als heute heißt der Bereich zwischen dem Denkmal Friedrichs des Großen und der Oberwallstraße damals nicht ‚Unter den Linden‘, sondern ‚Platz am Opernhause‘, während der eigentliche ‚Opernplatz‘ östlich und westlich des Opernhauses liegt. (Vgl. beispielsweise JS1910, hier Blatt III. A und SIN1871, Planquadrat D3.) Der Opernplatz (40) in der erzählerischen Beschreibung ist somit aufgrund der geschilderten Fahrt mit dem realtopographischen ‚Platz am Opernhause‘ zu identi zieren. 303 Der Übergang ist durch König Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) beauftragt worden, der mit seiner Gemahlin Königin Luise (1776-1810) im Kronprinzenpalais residiert. (Vgl. Albert Geyer: Geschichte des Schlosses zu Berlin. Band 2: Vom Königsschloss zum Schloß des Kaisers (1689-1918). Bearbeitet von Sepp-Gustav Gröschel. Aus dem Nachlaß hrsg. von der Stiftung Preußische Seehandlung. Mit einer Einführung von Jürgen Julier. Berlin 1992, S. 101.) <?page no="117"?> 2.4 Am Abend: Abschiedsdiner in der Großen Petristraße 105 der Durchquerung des Opernplatzes wiederum auf die gemeinsame Liebe zur Musik verwiesen, 304 denn der Wagen [biegt] aus dem Wallstraßen-Portal auf den abendlich-stillen Opernplatz [ein]. (40) Der Erzähler verschweigt unterdessen, dass der Wagen, wenn er unter dem Wallstraßen-Portal hindurchfährt, zunächst den ‚Platz am Zeughause‘ 305 passieren muss, und erst dann auf den Opernplatz gelangt, an dem ebenfalls die Neue Wache liegt. Das Berliner Zeughaus ist dabei „nach dem Venetianischen das erste in der Welt“ 306 und so verweist ebenjenes militärische Gebäude auf Melanies Kampf um Leben oder Tod (127) in Venedig. Des Weiteren wird mit der schlecht gep asterten Seitenstraße und entsprechend einem wenig repräsentativen Weg das Zusammenbrechen der Rubehn’schen Finanz-Herrlichkeit (159) sowie ein bevorstehender schwieriger Lebensweg, abseits von dem Geräusch des Lebens (125) vorweggenommen, denn dieser Abschnitt des Kutschweges steht ganz im Zeichen einer Unterhaltung über den bald eintre enden Gast. Dies korrespondiert damit, dass in der Kutsche selbst bis dahin kein Wort gewechselt worden (40) ist. Dabei ist Jacobine herzlich froh über den zur Hälfte frei gebliebenen Rücksitz [...] und [hat] sich bequem [...] zurückgelehnt [...]. Erst als sie zwischen dem Palais und dem Friedrichsmonumente hinfuhren, richtete sie sich wieder auf, weil sie jenen Allerloyalsten zugehörte, die sich schon beglückt fühlen, einen bloßen Schattenriß an dem herabgelassenen Vorhange des Eckfensters gesehen zu haben. 307 Und wirklich sie sah ihn und gab in ihrer reizenden, halb kindlich, halb koketten Weise, der Freude darüber Ausdruck. (40) 304 Diese wird bereits angedeutet, wenn Elimar erklärt: „Und er soll auch singen.“ (40) Der Kutscher, hier ganz Van der Straaten zugehörig, bewertet das Singen als Kunstform eher abschätzig, woran der Musiker Schulze Anstoß nimmt. (Vgl. 40) Beim Kutscher handelt es sich um ein Beispiel dessen, was Helen Chambers für den Roman „Der Stechlin“ als „verzerrte Spiegelbilder“ (Helen Chambers: Großstädter in der Provinz, S. 220.) ihrer Herren bezeichnet. So lässt sich der taktlose Kommentar des Kutschers mit Van der Straatens abschätziger Haltung zur Musik, dem „anspruchsvollen Lärm“ (56) vergleichen. 305 Anders als heute heißt der Bereich zwischen der Oberwallstraße und der Schlossbrücke damals nicht ‚Unter den Linden‘, sondern ‚Platz am Zeughause‘. (Vgl. beispielsweise JS1910, Blatt III. A. und SIN1871, Planquadrat D3.) 306 Geschichtlich-statistisch-topographisches Taschenbuch von Berlin und seinen nächsten Umgebungen. Hrsg. von Ludwig Helling. Berlin 1830, S. 462. 307 Der Kaiser am Eckfenster gilt zu jener Zeit als Sehenswürdigkeit. (Vgl. Otto Drude: Fontane und sein Berlin, S. 347.) <?page no="118"?> 106 Kapitel 2: Szenen einer Ehe Während Melanie als Fremde gezeichnet wird (Vgl. 7, 9, 104) und sich selbst „[...] als frei[e] Schweizerin [...]“ (81) begreift, 308 identi ziert sich ihre Schwester indessen als Allerloyalst[e] (40) vollständig mit dem Kaiserreich. 309 Zugleich o enbart sich, weil sie sich erst wieder in demjenigen Moment aufrichtet und zu plaudern beginnt, als sich die Kutsche in o ziell-repräsentativer Lage be ndet, ihr Standesdünkel: (Vgl. 136) An jener Straße, die am Berliner Stadtschloss beginnt, am Brandenburger Tor endet und heute in ihrer Gänze ‚Unter den Linden‘ heißt, „liegen fast alle Bauten der staatlichen Repräsentation.“ 310 Sie ist „der Schauplatz feierlicher Einzüge des königlichen Hauses und des siegreichen Heeres“ 311 und gilt zu jener Zeit als Brennpunkt des Berliner Lebens 312 und Bühne der aristokratischen Welt. 313 Informell gibt es zu jener Zeit eine Unterteilung jener Straße in die südliche „Palaisseite“ 314 und die Nordseite. Letztere aber „galt als „die falsche Seite“, auf der sich z. B. O ziere selten blicken ließen.“ 315 Entsprechend des Standesbewusstseins und Karrierestrebens der Gryczinskis (Vgl. 23, 44, 136) 308 Dies korrespondiert mit der Imagination Melanies als Venus respektive Aphrodite, denn „auch in homerischer Zeit [ist] das Bewusstsein von der ausländischen Abkunft der Göttin [Aphrodite] noch keineswegs erstorben“ (Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Hrsg. von W.[ilhelm] H.[einrich] Roscher im Verein mit Th. Birt, O. Crusius, W. Deecke u. a. Erster Band. Erste Abteilung. ABA - EVAN. Leipzig 1884-1886, Spalte 395.) und auch „[i]n Rom gehört Venus nicht zum Kreise der alteinheimischen Gottheiten“. (Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Hrsg. von W. H. Roscher. Sechster Band, Spalte 186.) 309 Die Ironie der Namensgebung ist unverkennbar, denn Jacobine hat „als eigene Person durchaus nichts jakobinisches; sie paßt sich nur allzu sehr diesem [Wilhelminischen] Wertsystem an.“ (Renate Böschenstein: Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel, S. 344.) Jacobine übernimmt „naiv identi katorisch seine [ihres Mannes] Loyalität.“ (Gottfried Zeitz: Die poetologische Bedeutung des Romans „L’Adultera“ für die Epik Theodor Fontanes, S. 127.) 310 Wolf Jobst Siedler: Berlin. Unter den Linden/ Kurfürstendamm. Bürgerliche Straßen in unbürgerlicher Welt. In: Boulevards. Die Bühnen der Welt. Mit einer Einleitung von Klaus Hartung. Aus dem Ital. von Karin Krieger übers., aus dem Span. von Heinrich von Berenberg. Berlin 1997, S. 219-248, hier S. 226. Siedler bemerkt in diesem Zusammenhang, dass auch die Opernhäuser eng mit dem Staat verbunden sind. (Vgl. ebd., S. 226.) 311 Karl Baedeker: Berlin und Umgebungen (1887), S. 57. 312 Vgl. ebd., S. 57. 313 Vgl. Wolf Jobst Siedler: Unter den Linden/ Kurfürstendamm, S. 222. 314 Winfried Löschburg: Unter den Linden: Geschichten einer berühmten Straße. Berlin 1991, S. 193. 315 Bernd Jürgen Warneken: Populare Kultur: Gehen - Protestieren - Erzählen - Imaginieren. Köln 2010, S. 101. <?page no="119"?> 2.4 Am Abend: Abschiedsdiner in der Großen Petristraße 107 fährt die Kutsche daher auf der ‚richtigen‘ Südseite. 316 Indes versäumt es der Erzähler nicht, dieses Gebaren ironisch zu färben, denn jener Teil gilt als der „dynastische Teil der ‚Linden‘“, 317 während das Ehepaar jedoch auf Wunsch des Majors kinderlos bleibt. (Vgl. 41, 143, 146) Nachdem die beiden Maler am Brandenburger Thore (41) ausgestiegen sind, fährt die Kutsche durch die breite Schräg-Allee auf das Siegesdenkmal und die dahinter gelegene Alsenstraße [zu.] (41) Diese topographischen Details kommentieren wiederum vielsagend das Handlungsgeschehen: Die schrägliegende Allee unterstreicht die Unaufrichtigkeit des Majors, die bereits durch sein beständiges, jeden Sprecher ermuthigendes Lächeln, das er, alle nutzlose Parteinahme klug vermeidend, über Gerechte und Ungerechte gleichmäßig scheinen (23) lässt, zum Ausdruck kommt. 318 Des Weiteren korrespondiert dies damit, dass er die großzügig zur Verfügung gestellt[e] commerzienrätlich[e] Equipage (39) gerne nutzt, aber zugleich erklärt: „[...] Ich spiele mit ihm. Er ist ein altes Kind.“ (41) Bei jener breite[n] Schräg-Allee (41) handelt es sich um die im Jahr 1871 im Tiergarten angelegte Friedensallee, die eine Sicht- und Fahrverbindung zwischen dem Brandenburger Tor und dem Königsplatz herstellt. 319 Raumsemantisch bezeugt die Friedensallee aufgrund der kriegsfreien Jahre die geringen Aufstiegsmöglichkeiten des Majors, die Jacobine später beklagen wird: „Und wär’ es nicht wegen der vielen Todten und Verwundeten, so wünscht’ ich mir einen neuen Krieg. [...] Und hätten wir den Krieg, so wär[e] [...] Gryczinski [...] Oberstlieutenant.“ (136) Gleichzeitig steht die Kutschfahrt jedoch von Anbeginn im Zeichen der kommenden Verbindung zwischen Melanie und Rubehn, so dass die Fahrt auf der dynastischen und ‚richtigen‘ Seite der ‚Linden‘ auf eine schließlich gelungene Verbindung mit Kind hindeutet. Die Tatsache, dass hier das Gespräch über Rubehn verstummt, deutet voraus, dass auch die Kritik und die Härte der Gesellschaft schlussendlich aufhören und sich diese mit dem neuen Paar arrangieren und versöhnen wird. (Vgl. 159-160) Hierzu bedarf es allerdings eines Verlassens 316 Dies geht aus der erzählerischen Anmerkung als sie zwischen dem Palais und dem Friedrichsmonumente hinfuhren (40) hervor. 317 Wolf Jobst Siedler: Unter den Linden/ Kurfürstendamm, S. 220. 318 Jene Eigenschaft korrespondiert mit seinem Vornamen „[...] Otto[,] [...]“ (41) der als Palindrom vor- und rückwärts gelesen denselben Sinn ergibt. 319 Vgl. Folkwin Wendland: Der Große Tiergaren in Berlin. Seine Geschichte und Entwicklung in fünf Jahrhunderten. Berlin 1993, S. 196 sowie ergänzend EG1875, Planquadrat D4. <?page no="120"?> 108 Kapitel 2: Szenen einer Ehe der Stadt, so wie die Kutsche mit ihrer Fahrt durch den Tiergarten zunächst die Stadt verlässt. Das Abebben der gesellschaftlichen Randstellung Rubehns und Melanies, das mit diesem Verlassen einhergeht, wird unterstrichen, wenn die beiden Künstler, die eine gesellschaftliche Randstellung markieren, 320 gerade am Brandenburger Tor aussteigen - dem markantesten Punkt der historischen Stadtgrenze Berlins. Die nachfolgende Durchfahrt durch die Friedensallee und die anschließende Passage der Siegessäule ergänzt diese Lesart. Interessanterweise verbindet die Friedensallee dabei die ‚Linden‘ als Zentrum des alten preußischen Staates mit dem Alsenviertel, dem Zentrum des neuen Kaiserreichs, 321 was im hiesigen Kontext im Sinne einer gelungenen, buchstäblich friedlichen Ablösung des Alten - hier Van der Straaten - durch das Neue - hier Rubehn - gelesen werden kann. 2.4.3 Heimweg der medisierenden Räte Zeitgleich zur kommerzienrätlichen Equipage fahren Legationsrat Duquede und Polizeirat Rei mit einer Droschke die Leipziger Straße 322 bis zum Potsdamer Platz hinunter und setzen dort ihren Weg zu Fuß fort. Die dem Ehepaar v. Gryczinski bereitgestellte kommerzienrätliche Equipage (Vgl. 38-39) sowie die Tatsache, dass die beiden Räte aus Sparsamkeitsgründen nicht die gesamte Wegstrecke mit der Droschke zurücklegen, sondern den Weg zu Fuß fortsetzen, 323 unterstreicht das Finanzgefälle zwischen dem Hause Van der Straaten und der restlichen Tischgesellschaft. Die Diskrepanz zwischen ökonomischem Ein uss und gesellschaftlicher Anerkennung wird entsprechend thematisiert, wenn der Polizeirat versucht, Duquede aus der Reserve zu locken und ein Klatschgespräch 324 initiiert: 320 Vgl. dazu Fußnote 290 auf Seite 101. 321 Vgl. hierzu Wolfgang Ribbe, Eberhard Bohm und Günter Richter: Geschichte Berlins. Teil 1: Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung. Dritte erweiterte und aktualisierte Au age. München 2002 (= Berlin-Forschungen der Historischen Kommission zu Berlin; Band 2), S. 756. 322 Die Leipziger Straße ist zur Romanzeit eine barocke Wohn- und Geschäftsstraße. (Vgl. Hans Stimmann: Schadow wohnte nicht in Ost-Berlin, S. 15.) 323 Darüber hinaus haben die beiden Räte den Kutscher durch ihre Knauserigkeit verärgert: Beide Räthe hüteten sich deshalb auch, sich nach dem letzteren umzusehen. (42) 324 Vgl. zur Funktion der Klatschgespräche ausführlicher Ernest W. B. Hess-Lüttich: ‚Evil tongues‘: the rhetoric of discreet indiscretion in Fontane’s ‚L’Adultera‘. In: Language and Literature 11, 3 (2002), S. 217-230, hier S. 225. <?page no="121"?> 2.4 Am Abend: Abschiedsdiner in der Großen Petristraße 109 Rei bezeichnet den Abend als „eine recht peinliche Geschichte“ (42) und konstatiert: „Er ist doch nun Fünfzig und drüber und sollte sich die Hörner abgelaufen haben. Aber er ist und bleibt ein Durchgänger.“ (42) Der Legationsrat bestätigt Rei s Einschätzung, zeigt allerdings Verständnis für den Kommerzienrat: „Ja,“ sagte Duquede, [...] „etwas Durchgängerisches hat er. Aber, lieber Freund, warum soll er es nicht haben? Ich taxir’ ihn auf eine Million, seine Bilder ungerechnet, und ich sehe nicht ein, warum einer in seinem eigenen Haus’ und an seinem eigenen Tisch’ nicht sprechen soll, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. [...]“ „Es fehlt ihm aber doch wirklich an Bildung und Erziehung.“ „Ach, ich bitte Sie, Rei , gehen Sie mir mit Bildung und Erziehung. [...] Glauben Sie mir, es wird überschätzt. Und kommt auch nur bei uns vor. Und warum? Weil wir nichts Besseres haben. Wer gar nichts hat, ist gebildet. Wer aber so viel hat, wie Van der Straaten, der braucht all die Dummheiten nicht. Er hat einen guten Verstand und einen guten Witz, und was noch mehr sagen will, einen guten Credit. [...].“ (42-43) Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschiebt sich „[d]er Wechselkurs zwischen Bildung und Besitz [...] kontinuierlich zu Ungunsten des Bildungsbürgertums“. 325 Damit einhergehend nehmen Börse und Bourgeoisie zunehmend eine zentrale Stellung in der Berliner Gesellschaft ein. 326 Baron v. Duquede, der „[...] altmärkisch[e] Edelmann[,] [...]“ (31) dem Traditionellen ganz und gar verhaftet und zugleich Feind aller Auswüchse des modernen Lebens (Vgl. 42) erscheint mir daher mit seinen au allend neumodischen Ansichten zu Bildung und Besitz ironisch gefärbt. Verstärkt wird dies durch seine Herkunft als „[...] Altmärkische[r] von Adel[,]“ (58) denn es ist der Adel, der die hö schen Normen herausgebildet und für ihren Fortbestand gesorgt hat. 327 Nach Rei s gescheitertem Versuch, dem Legationsrat Kritik am Kommerzienrat zu entlocken, lenkt er geschickt das Gespräch auf die Vorzüge der Kom- 325 Georg Verweyen: Literarische Blamagen, S. 212. 326 Vgl. dazu Herbert Roch: Fontane, Berlin und das 19. Jahrhundert. Düsseldorf 1985, S. 257. 327 Vgl. hierzu gleichfalls Roland Girtler: Feine Leute. Aristokraten und Bürger, Geistliche und Gauner, Künstler und Politiker. Berlin, Münster, Wien 2016 (= Reihe Pocket; Band 19), S. 140. „Der Adel ist nicht nur der créateur d’étiquette , sondern [...] auch seine raison d’etre, also der Grund, warum es Etikette gibt[.]“ (Thomas Schäfer-Elmayer: Alles, was Sie über gutes Benehmen wissen müssen. Salzburg 2011, S. XVI.) <?page no="122"?> 110 Kapitel 2: Szenen einer Ehe merzienrätin, um den Melaniegegner Duquede zu provozieren. (Vgl. 43) Der Polizeirat gibt zu bedenken, dass Van der Straaten im Zuge der Eheschließung seine Junggesellen-Allüren hätte aufgeben müssen. Dies nimmt Duquede zum Anlass, Melanies fremde Herkunft, insbesondere ihren „[...] Genfer Chic[,] [...]“ (43) als plagiatorisch 328 und „[...] kolossal überschätz[t]“ (43) zu diskreditieren. 329 Rei s Einwand, Melanie sei „[...] doch schließlich von Famili[e]“ (44) lässt dieser nicht gelten und behauptet: „Nein, Rei , das ist sie nun schließlich nicht. Und ich sag’ Ihnen, da haben wir den Punkt, auf den ich keinen Spaß verstehe. 330 Caparoux. Es klingt nach ’was. Zugestanden. Aber was heißt es am Ende? Rothkapp oder Rotkäppchen. Das ist ein Märchenname, aber kein Adelsname. [...]“ (44) Der Namenswahl de Caparoux (7) liegen zahlreiche Überlegungen zugrunde, die dem Leser weitere Auskünfte über Melanies Persönlichkeit geben: Gabriele Radecke zeigt, dass Fontane bei der Namenswahl die märkische Geschichte ‚Rotmützeken‘, die ihm Justus Rubehn (sic! ) erzählt hat, mitberücksichtigt. 331 Rotmützeken versinnbildlicht die „Verkörperung des Elementaren“ 332 sowie durch das angedeutete Rot im Namen „erotische Leidenschaft.“ 333 Dazu passend erscheint ‚Rotmützeken‘ im Roman „Quitt“ (1890) als ein Kobold, der das Feuer anzieht. 334 Überdies tragen in märkischen Märchen Wassernixen häu g rote Käppchen. 335 Meiner Meinung nach korrespondiert auf diese Weise der Name de Caparoux (7) mit Melanies A nität zum Element Feuer, mit seiner ihm einge- 328 „Alles was die Genfer haben, ist doch blos aus zweiter Hand. [...].“ (43) Hiermit wird erneut auf Frankreich Bezug genommen und indirekt an die Schwäche der Untreue (Vgl. 7) erinnert. 329 So verwendet der konservative Legationsrat dreimal das Wort kolossal, (Vgl. 30, 43, 44) obwohl dieses ironischerweise als Modewort jener Zeit gilt. (Vgl. hierzu Annemarie Lange: Berlin zur Zeit Bebels und Bismarcks. Zwischen Reichsgründung und Jahrhundertwende. Berlin 1984, S. 236.) 330 Diese Szene bezeugt das spannungsgeladene „Verhältnis zwischen alten Eliten, die auf Adel und Bildung beruhten, und der neuen aufstrebenden Elite, die sich durch Besitz quali zierte“. (Georg Verweyen: Literarische Blamagen, S. 212.) 331 Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 143 und ebenso W2, S. 38. Zunächst ist Melanie der Geburtsname Charton zugedacht gewesen. Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 55. 332 Renate Böschenstein: Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel, S. 344. 333 Ebd., S. 342. 334 Vgl. Susanne Konrad: Die Unerreichbarkeit von Erfüllung in Theodor Fontanes „Irrungen und Wirrungen“ und „L’Adultera“, S. 84. 335 Winfried Jung: Bildergespräche, S. 218. <?page no="123"?> 2.4 Am Abend: Abschiedsdiner in der Großen Petristraße 111 schriebenen Erotik, sowie zum Element Wasser, welches ihre Vorliebe für die Wasserstadt Venedig bezeugt. 336 Rei versucht die vorgeworfene Hochstapelei 337 bezüglich des Adelsprädikats mit der Ehe zwischen Jacobine und v. Gryczinski zu widerlegen, der „[...] sich doch schwerlich eine Mesalliance [wird] nachsagen lassen wollen.“ (44) Doch der Legationsrat erläutert, dass der Major „[...] die kleine Rothblondine [...]“ (44) als „[...] Mittel zum Zweck [...]“ (45) geheiratet habe, weil sie die Schwägerin Van der Straatens ist: 338 „Er braucht diesen Schwager [...], es giebt Weniges, was nach oben hin so emp ehlt wie das. 339 Ein Schwager-Commercienrath ist nicht viel weniger werth, als ein Schwiegervater-Commercienrath und rangirt wenigstens gleich dahinter. 340 Unter allen Umständen aber sind Commercienräthe wie consolidirte Fonds, auf die jeden Augenblick gezogen werden kann. Es ist immer Deckung da.“ „Sie wollen also sagen ...“ „Ich will gar nichts sagen, Rei ... Ich meine nur so.“ (45) Einerseits erlauben die re ektierenden Nachgespräche im Rahmen einer vertraulichen Konversation eine gewisse O enheit, 341 andererseits versucht Duquede 336 Venetien wird seit jeher durch seine Nähe zum Wasser bestimmt. (Vgl. dazu exemplarisch Karl Baedeker: Italien. Handbuch für Reisende. Erster Theil: Ober-Italien bis Livorno, Florenz und Ravenna, nebst der Insel Corsica und den Reise-Routen durch Frankreich, die Schweiz und Oesterreich. Mit 8 Karten und 30 Plänen. Achte verbesserte Au age. Leipzig 1877, S. 176.) Man mag hier an einen Ausspruch der Figur Czako aus dem ‚Stechlin‘ denken, der ebenfalls den Zusammenhang von Wasser und Venus unterstreicht: „„Versteht sich, Melusine is mehr. Alles, was aus dem Wasser kommt, ist mehr. Venus kam aus dem Wasser. [...]““ (DS, S. 252.) 337 Bereits Melanies früh verstorbener Vater, Jean de Caparoux (7) erscheint zwielichtig, denn statt eines gemuthmaßten großen Vermögens, fanden sich nur Debets über Debets. (7) 338 Daher bietet sich folgende ergänzende Lesart an: Die Durchfahrt des Ehepaars Gryczinski durch die breite Schräg-Allee (41) kann als Hinweis auf eine Mesalliance gesehen werden, denn die in der Friedensallee zum Ausdruck kommende erfolgreiche Ablösung Van der Straatens durch Rubehn bedeutet für den Major die Entwertung seiner Wertanlage Jacobine. (Vgl. 45 sowie Seite 107 und 313 dieser Arbeit.) 339 Vgl. hierzu auch Fußnote 3 auf Seite 31. 340 Hier wird Van der Straaten erneut als Vater gur assoziiert, wenn ein „[...] Schwager- Commercienrath [...]“ (45) beinahe auf einer Stufe wie ein „[...] Schwiegervater- Commercienrath [...]“ (45) rangiert. 341 Vgl. hierzu Milena Bauer: Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes, S. 37. <?page no="124"?> 112 Kapitel 2: Szenen einer Ehe abschließend alles Gesagte zu relativieren, weil das Medisieren „gegen den gesellschaftlich festgelegten Code“ 342 verstößt. Rückblickend erweist sich Melanies Einschätzung - „[...] und ich höre schon Rei und Duquede medisiren, vielleicht auf Deine Kosten und gewiß auf meine.“ (13) - als gerechtfertigt. Und damit waren sie bis an die Bendlerstraße gekommen, wo beide sich trennten. Rei ging auf die Von der Heydt-Brücke zu, während Duquede seinen Weg in gerader Richtung fortsetzte. Er wohnte dicht an der Hofjäger- Allee, sehr hoch, aber in einem sehr vornehmen Hause. (45) Entsprechend der latent unaufrichtigen Figurenanlage mit seiner „polizeiräthlich unschuldige[n] Miene“ (29) biegt Rei links in die leicht schräg liegende Bendlerstraße ab. 343 Seine genaue Adresse bleibt indes unklar, was ebenfalls mit seiner heimlich[en] und verstohlen[en] (32) Natur korrespondiert. (Vgl. 24, 28, 29, 31, 32) 344 Der Leser erfährt, dass Baron Duquede dicht an der Hofjäger-Allee, sehr hoch, aber in einem sehr vornehmen Hause (45) wohnt. Den scheinbaren Widerspruch „zwischen Etage und sozialer Positionierung“ 345 glaubt Anja Kischel durch den Zusatz in einem sehr vornehmen Haus (45) aufgelöst. Jedoch übersieht dies, dass Duquede, Legationsrath a. D., (23) aus dem Dienst entlassen worden ist. (Vgl. 24) Vielmehr scheint die Höhe der Etage einem nanziellen Grund geschuldet zu sein, der sich bereits in der aus Sparsamkeit zu Fuß zurückgelegten Wegstrecke äußert. (Vgl. 41-42) Gemäß der Fontaneschen Maxime kann daher für Duquede gelten: „[ J]e höhere Treppen man steigt, desto mehr kommt man auf der Rangleiter nach unten [...]“. 346 342 Monika Wengerzink: Klatsch als Kommunikationsphänomen in Literatur und Presse, S. 169. 343 Vgl. EG1875, Planquadrat E3. 344 Hierzu passend erscheinen auch Melanies spätere Schwierigkeiten, die Motive des Polizeirats einzuschätzen, (Vgl. 133-134) wenn er sie in ihrem Incognito besuchen und im Verdacht stehen wird, sie lediglich aushorchen zu wollen, (Vgl. 134) denn man müsse nach Rubehns Einschätzung vor Rei s „[...] Harmlosigkeits-Allüren [...] doppelt auf der Hut sein [...].“ (134) 345 Anja Kischel: Soziale Mobilität in Theodor Fontanes Gesellschaftsromanen. Frankfurt am Main 2009, S. 117. 346 Theodor Fontane: Drei Treppen hoch. In: Ders.: Fragmente. Erzählungen, Impressionen, Essays. Im Auftrag des Theodor-Fontane-Archivs. Hrsg. von Christine Hehle und Hanna Delf von Wolzogen. Band 2: Impressionen und Essays. Berlin, Boston 2016, S. 410. <?page no="125"?> 2.4 Am Abend: Abschiedsdiner in der Großen Petristraße 113 Während in anderen Fontaneschen Romanen die typischen Nachgespräche in der Regel nach der obligatorischen Landpartie statt nden, 347 erfolgen jene bei „L’Adultera“ hingegen nach dem festlichen Diner. Jene Nachgespräche re ektieren im Allgemeinen ein Ereignis aus der Perspektive der beteiligten Figuren: 348 Im konkreten Fall verdeutlichen die Gespräche noch einmal die angespannte kommerzienrätliche Ehe einerseits und belegen andererseits das ambivalente Verhältnis des engere[n] Zirkel[s] (22) zum Hause Van der Straaten: „[...] und es hieß schon damals, vor vierzig Jahren: ‚Es sei doch ein sonderbares Haus und man könne eigentlich nicht hingehen.‘ Aber uneigentlich ging Alles hin. Und so war es, und so ist es geblieben.“ (42-43) 347 Vgl. dazu Peter Demetz: Der Roman der guten Gesellschaft. In: Theodor Fontane. Hrsg. von Wolfgang Preisendanz. Darmstadt 1973, S. 233-264, hier S. 263. 348 Vgl. hierzu beispielsweise Alexandra Tischel: „Ebba, was soll diese Komödie“, S. 197. <?page no="127"?> 3 Außerhalb der Stadt 3.1 Die Tiergartenvilla Wenige Tage nach eine[r] jener Katastrophen [...], wie sie bei den commercienräthlichen Diners eben nicht allzu selten waren, (33) verlässt Melanie das Stadthaus und nimmt Quartier in der Thiergarten-Villa[.] (46) Die Stadtwohnung im Zentrum Berlins und die Sommervilla außerhalb der Stadt spiegeln großbürgerliche Besitzverhältnisse und Lebensgewohnheiten im ausgehenden 19. Jahrhundert wider. 1 Trotzdem gilt das Wohnen im Stadtzentrum zu jener Zeit mehr und mehr als anachronistisch, denn die Bourgeoisie zieht es zunehmend in Villenquartiere. 2 Dabei wird Van der Straatens Privatpark sowie seine Gemäldegalerie weithin als Anpassungsversuch eines gründerzeitlichen Bourgeois an aristokratische Lebensformen gelesen. 3 Dies übersieht jedoch, dass Van der Straaten in weiten Teilen den von seinem Vater ererbten Lebensstil weiterführt (Vgl. 23-24, 39, 42- 43, 87, 115) und gleichsam kopiert, was ihn erneut als Kopist ausweist und eine Interpretation als Emporkömmling ausschließt, 4 denn: „[...] Der Alte war auch so, nur viel schlimmer, und es hieß schon damals vor vierzig Jahren: ‚Es sei doch ein sonderbares Haus und man könne eigentlich nicht hingehen.‘ Aber uneigentlich ging Alles hin. Und so war es, und so ist es geblieben.“ (42-43) 1 Vgl. beispielsweise Annemarie Lange: Berlin zur Zeit Bebels und Bismarcks, S. 80 und Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918, S. 138. Zugleich entspricht dies den Wohnverhältnissen der Familie Ravené. (Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 48-49.) 2 Vgl. Ernst Siebel: Die Mendelssohns in der Jägerstraße - Geschäfte und Geselligkeit im Wandel. In: Von der Jägerstraße zum Gendarmenmarkt. Eine Kulturgeschichte aus der Berliner Friedrichstadt. Hrsg. von Wolfgang Kreher und Ulrike Vedder. Berlin 2007, S. 39-52, hier S. 49. 3 Vgl. Katharina Grätz: Alles kommt auf die Beleuchtung an, S. 125 sowie Dirk Mende: Frauenleben, S. 193. 4 Vgl. dazu auch Fußnote 192 Seite auf 79 dieser Arbeit. <?page no="128"?> 116 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt 3.1.1 Die Villa als ambivalenter Sehnsuchtsort Melanies Das Figurensetting der Sommervilla erlaubt weitere Rückschlüsse auf die kommerzienrätliche Ehe, denn entgegen einer früheren erzählerischen Angabe bezieht Melanie die spreeabwärts am Nordwestrande des Thiergartens gelegene Villa (8) zunächst allein mit den beiden Töchtern. Der Kommerzienrat währenddessen lebt immer erst vom September ab andauernd draußen. Und auch das nur, weil er ein noch leidenschaftlicherer Obstzüchter als Bildersammler war. Bis dahin erschien er nur jeden dritten Tag als Gast und versicherte dabei jedem, der es hören wollte, daß dies die stundenweis ihm nachgezahlten Flitterwochen seiner Ehe seien. (46) Über die Formel der nachgezahlten Flitterwochen (46) verschränken sich erneut die Bereiche Ökonomie und Sexualität. 5 Zudem verbalisiert der Kommerzienrat seine scheinbare 6 sexuelle Verfügungsgewalt über Melanie schamlos und zudem gegenüber jedem, der es hören wollte[.] (46) Dies kann als Kompensationsversuch gesehen werden, 7 denn die fehlende Erotik in der kommerzienrätlichen Ehe ist dem Leser bereits vielfältig vor Augen geführt worden. Dabei unterstreicht die erzählerische Bemerkung [u]nd auch das nur, weil er ein noch leidenschaftlicherer Obstzüchter als Bildersammler war (46) diesen Eindruck, denn augenscheinlich weilt er nicht seiner Gattin wegen ab September in der Villa. Zudem hat es nach der Eheschließung o enbar keine Hochzeitsreise gegeben, obgleich jene bis heute fester Bestandteil der Eheschließung ist, weil sie es der alten Umgebung ermöglicht, sich auf das neue Paar einzustimmen. 8 Die fehlende Hochzeitreise kann somit als weiteres Indiz dafür gelten, dass die kommerzienrätliche Ehe als unpassend erscheint. Melanie hütete sich wohl, zu widersprechen, war vielmehr die Liebenswürdigkeit selbst, und genoß in den zwischenliegenden Tagen das Glück ihrer Freiheit. (46) 5 Vgl. exemplarisch Sabina Becker: ‚Wiederhergestellte‘ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 133. Mende verortet den Hinweis der stundenweis[en] (46) Zahlung gar in den Kontext der „Stundenliebe wie im Rotlicht-Milieu.“ (Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 202.) 6 Vgl. dazu die Seiten 40, 51 und 66 dieser Arbeit. 7 Vgl. hierzu beispielsweise das Sprichwort ‚Viel Lärm um nichts‘. 8 Vgl. zur kulturellen Funktion von Hochzeitsreisen Peter von Matt: Liebesverrat, S. 65. <?page no="129"?> 3.1 Die Tiergartenvilla 117 Dieses Freiheitsgefühl steht im direkten Zusammenhang mit Van der Straatens Abwesenheit. Dabei wird Freiheit (46) nur dort zum Thema, wo sie bedroht, beschnitten oder gefährdet wird: 9 Und dieses Glück war um vieles größer, als man, ihrer Stellung nach, die so dominirend und so frei schien, hätte glauben sollen. Denn sie dominirte nur, weil sie sich zu zwingen verstand; aber dieses Zwanges los und ledig zu sein, blieb doch ihr Wunsch, ihr beständiges, stilles Verlangen. Und das erfüllten ihr die Sommertage. Da hatte sie Ruhe vor seinen Liebesbeweisen und seinen Ungeniertheiten, nicht immer, aber doch meist, und das Bewußtsein davon gab ihr ein unendliches Wohlgefühl. (46) Spätestens hiermit wird deutlich, dass die vom Erzähler beschriebenen [z]ehn glücklichen Jahre (7) im Licht von Melanies Wunsch nach Freiheit sowie ihrer erotisch konnotierten Sehnsucht (10) am Fenster in der Stadtwohnung als unzuverlässige Angabe einzuschätzen sind. 10 Und [Melanies] Wohlgefühl steigerte sich noch in dem entzückenden und beinah ungestörten Stillleben, dessen sie draußen genoß. Wohl liebte sie Stadt und Gesellschaft und den Ton der großen Welt, aber wenn die Schwalben wieder zwitscherten, und der Flieder wieder zu knospen begann, da zog sie’s doch in die Park-Einsamkeit hinaus, die wiederum kaum eine 9 Der Wunsch nach Freiheit setzt Arthur Schopenhauer (1788-1860) folgend die „Erfahrung der Unfreiheit, der Fremdbestimmung, der Freiheitsbeschränkung voraus“. (Alexander Demandt: Die Er ndung der Freiheit. Ein Blick auf Athen und Rom. In: Politisches Denken. Jahrbuch 2014, S. 137-153, hier S. 139.) Gleichfalls ist Melanies Schweizer Herkunft relevant, denn bereits Napoléon Bonaparte (1769-1821) erkennt die Freiheitsliebe und Neutralität der Schweizer und be ehlt: „Keine Ketten für die Kinder Tells.“ (Peter von Matt: Die tintenblauen Eidgenossen, S. 23.) 10 Im Zusammenhang mit einem teilweise unzuverlässigen Erzähler sei auf eine allgemeine Feststellung Renate Böschensteins verwiesen: „Welche Position der implizierte Autor (d.h. die das Ganze des Texts organisierende Instanz) einnimmt, ist umso schwerer auszumachen, als Fontanes Erzähler oft nicht weniger subjektiv urteilen als seine Figuren.“ (Renate Böschenstein: Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel, S. 342.) Dies wiederum korrespondiert mit der Rolle des Erzählers als scheinbar Außenstehendem. (Vgl. dazu Fußnote 5 auf Seite 32 dieser Arbeit.) Weshalb Becker die [z]ehn glückliche[n] Jahre (7) als Urteil der Freunde interpretiert, (Vgl. Sabina Becker: ‚Wiederhergestellte‘ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 134.) erschließt sich indes nicht, denn gerade [e]inige Freunde beider Häuser ermangelten selbstverständlich nicht, allerhand Trübes zu prophezeien. (7) <?page no="130"?> 118 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Einsamkeit war, denn neben der Natur, deren Sprache sie wohl verstand, hatte sie Bücher und Musik, und - die Kinder. (46) Der Erzähler imaginiert zunächst den Aufenthalt im Park der Sommervilla als Stillleben (46) inmitten einer Park-Einsamkeit[,] (46) um dieses Bild sogleich wieder zu unterminieren: So hebt der Zusatz des beinahe ungestörten Stillleben[s] (46) die evozierte Einsamkeit wieder auf. Im Widerspruch zum Sujet des Stilllebens, das sich gerade durch seine Unbelebtheit auszeichnet, 11 versinnbildlichen der knospende Flieder sowie die zwitschernden Schwalben als Frühlingssymbole 12 das Leben. Zusätzlich konterkarieren die Schwalben, weil sie sinnbildlich für Geselligkeit stehen, 13 die proklamierte Park-Einsamkeit[.] (46) Ihre Bestätigung ndet meine These im weiteren Erzählkommentar, denn zur Erheiterung und um das tiefste Bedürfniß der Frauennatur: das Plauderbedürfnis (47) zu befriedigen, waren auch in diesem Jahre, wie herkömmlich, [zwei] Dames d’honneur installiert worden[.] (47) Diese gehören zu den sieben bis acht ganz-alter und halb-alter Damen, (47) die das Haus Van der Straaten zu Weihnachten beschenkt und im Laufe des Jahres zu Ka ees und Landpartien (47) einlädt. Dabei haben eine besonders intime Stellung [...] das kleine verwachsene Fräulein Friederike von Sawatzki und das stattlich hochaufgeschossene Clavier- und Singe-Fräulein: Anastasia Schmidt. (47) Beide werden jedes Jahr durch Van der Straaten in Person (47) eingeladen, um seiner Frau während der Sommermonate draußen in der Villa Gesellschaft zu leisten[.] (47) Als ledige Frauen be nden sich beide Gesellschaftsdamen außerhalb des Bereichs einer ehe- oder väterlichen Bevormundung. 14 Diese Randstellung ist deshalb bedeutsam, weil beide auf unterschiedliche Weise 11 Vgl. hierzu Johannes Jahn: Wörterbuch der Kunst. Begründet von dems. Fortgeführt von Wolfgang Haubenreisser. 12. durchges. und erw. Au age. Stuttgart 1995, S. 814-815. In einer anderen Lesart erkennt Milena Bauer im Genre Stillleben „qua seiner Motivik - künstliches Arrangement und kostbare Fülle bei gleichzeitiger Leblosigkeit und Vergänglichkeit -“ (Milena Bauer: Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes, S. 44.) überzeugende Analogien zur kommerzienrätlichen Eheverbindung. 12 Vgl. hierzu exemplarisch Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S. 137 und 381. 13 Vgl. Evi Zemanek: Schwalbe. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 335-336, hier S. 335. 14 Im 19. Jahrhundert wechseln Frauen durch die Eheschließung „vom Intimbereich des väterlichen Hauses in denjenigen des Gatten“, (Maya Gerig: Jenseits von Tugend und Emp ndsamkeit. Gesellschaftspolitik im Frauenroman um 1800. Köln, Weimar, Wien 2008 (= Literatur - Kultur - Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte. Große Reihe; Band 47), S. 121.) während sich „Ledige, Geschiedene und Witwen in der Regel außerhalb dieser Sphären“ (Ebd., S. 121.) be nden. <?page no="131"?> 3.1 Die Tiergartenvilla 119 dem noch folgenden Ehebruch ihren Weg bereiten und die ihnen zugedachte Funktion der Ehrendame unterminieren. Bei dem Clavier- und Singe-Fräulein (47) kommt gleichsam erschwerend hinzu, dass sie dem Berufskünstlertum angehört, welchem ebenfalls eine gesellschaftliche Randstellung eigen ist. 15 Es mochte schon gegen eins sein und das Frühstück war beendet. Aber der Tisch noch nicht abgedeckt. Ein leiser Luftzug, der ging und sich verstärkte, weil alle Thüren und Fenster o en standen, bewegte das rothgemusterte Tischtuch[.] (48) Die o en stehenden Türen und Fenster können im Sinne einer Durchlässigkeitssymbolik 16 gelesen werden. Der hierdurch verursachte Luftzug (48) stellt eine Verbindung zu dem ebenfalls durch einen Luftzug entstandenen Flockentanz (10) in der winterlichen Stadtwohnung (8) her, der wiederum Melanies sexuelle Wünsche in der Marktszene eingefangen hat. 17 Über das sich im Rhythmus des Luftzuges bewegende rothgemusterte Tischtuch (48) entsteht gleichfalls eine erotische Konnotation. 18 Wenn Melanie dann und wann von ihrer Handarbeit auf[sieht], um das reizende Parkbild unmittelbar um sie her [...] auf sich wirken zu lassen[,] (48) erkennt die Forschung hierin gemeinhin ein Idyll. 19 Doch dieses ist - wie so oft bei Fontane - trügerisch: 20 So wird das vermeintliche Idyll bereits akustisch durch 15 Vgl. hierzu Seite 101 dieser Arbeit. 16 Im Roman „Irrungen, Wirrungen“ erkennt Wichard diese Symbolik in den o en stehenden Fenstern der Schlussszene, in der Lene ihren früheren Geliebten Botho noch einmal indirekt über eine Zeitungsnotiz erreicht. (Vgl. Norbert Wichard: Erzähltes Wohnen, S. 186-187.) 17 Vgl. dazu Seite 51 dieser Arbeit. 18 Im Kontrast dazu steht Van der Straatens „ häßliches, rothes und [...] schief umgeknotetes Halstuch[.] (8-9) Während das atternde Tischtuch sinnbildlich als Hinweis auf eine gleichsam laszive Erotik gelesen werden kann, steht das schief geknotete Halstuch für eine sexuelle Strangulation. (Vgl. hierzu Seite 40 dieser Arbeit.) 19 Im Krumenstreuen (Vgl. 48) und der Handarbeit sieht Cordula Kahrmann Beschäftigungen wie sie häu g im Idyll zu nden sind. (Vgl. Cordula Kahrmann: Idyll im Roman: Theodor Fontane, S. 22 und ähnlich Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 136-137.) Nina Hirschbrunn glaubt in dieser Beschreibung eine „Idylle“ (Nina Hirschbrunn: „Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.“, S. 259.) zu erkennen, die sich durch ihre „Natürlichkeit“ (Ebd., S. 260.) auszeichne. Damit vergleichbar begreift Katrin Scheiding den Park als „Inse[l] des Natürlichen“ (Katrin Scheiding: Raumordnungen bei Theodor Fontane, S. 189.) und „Idyll[e]“. (Ebd., S. 189.) 20 Exemplarisch dafür steht im Roman „Irrungen, Wirrungen“ die Dörrsche Gärtnerei als eine „kleinbürgerliche Scheinidylle“ (Barbara Rams-Schumacher: Vom topographischen Erlebnis zur literarischen Überhöhung: Die Darstellung des Gartenraumes in Fontanes <?page no="132"?> 120 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt den mangelhaften Takt[,] (48) der aus dem Musikzimmer vernommen werden kann, konterkariert. Zudem ist das Park-Bild [...] selbstverständlich die schönste Stelle der ganzen Anlage. Denn von hundert Gästen, die kamen, begnügten sich neunundneunzig damit, den Park von hier aus zu betrachten und zu beurtheilen. (48) So erweist sich der kommerzienrätliche Garten 21 keineswegs als abgeschiedenes Idyll, sondern vielmehr als Raum der Repräsentation, gleichsam als Visitenkarte, die den Wohlstand der Familie zur Schau stellt. 22 Zwar liegt die Tiergartenvilla außerhalb Berlins, doch die zahlreichen Besucher zeigen, dass diese als Sommerresidenz eines Städters dem städtischen Kosmos verhaftet ist. 23 Am Ende des Hauptganges, zwischen den eben ergrünenden Bäumen hin, sah man das Zittern und Flimmern des vorüber ziehenden Stromes, aus der Mitte der überall eingestreuten Rasen ächen aber erhoben sich Aloën und Bosquets und Glaskugeln und Bassins. Eines der kleineren plätscherte, während auf der Einfassung des großen ein Pfauhahn saß und die Mittagssonne mit seinem Ge eder einzusaugen schien. Tauben und Perlhühner waren bis in unmittelbare Nähe der Veranda gekommen, von der aus Riekchen ihnen eben Krumen streute. (48) Die erzählerische Inszenierung des Van der Straatenschen Parks mit seinem malerischen Eindruck wird gemeinhin als Verweis auf Darstellungsvorlieben der Prosawerken. Berlin 1997, S. 201.): Die Merkmale einer Idylle werden parodistisch zitiert, denn die evozierte Idylle erweist sich ebenso wie das „„[...] Schloss [...]““ (IW, S. 9.) - in Wahrheit ein „jämmerlicher Holzkasten“ (IW, S. 9.) - als Fälschung. 21 Die Begri e Park und Garten verwende ich wie im Roman (Vgl. beispielsweise 86, 87) synonym, obwohl dies nicht ganz zulässig erscheint, denn der Park ist der Wortbedeutung nach ein Jagdgarten, der einer ländlichen Villa angegliedert ist und dient im Unterschied zum Garten keiner landwirtschaftlichen Nutzung, sondern vielmehr neben der Jagd dem Aufenthalt im Grünen, der Bewegung und der Freizeitgestaltung. (Vgl. hierzu und zu den Unterschieden zwischen Park und Garten exemplarisch Susanna Brogi: Der Tiergarten in Berlin - ein Ort der Geschichte: Eine kultur- und literaturhistorische Untersuchung. Würzburg 2008 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft; Band 596), S. 26.) 22 Vor diesem Hintergrund kann die Annahme Unfer Lukoschiks, in der Villa würden nicht alle Gäste des Stadthauses geduldet, kaum Bestand haben. (Vgl. Rita Unfer Lukoschik: Die Novelle als Erlebnisraum: Boccaccio - Fontane, S. 45.) Dies wird unterstrichen, wenn Melanie später gegenüber Rubehn bezüglich des engeren Zirkels zu verstehen geben wird: „Alles das sind erst Namen. Eine Woche noch oder zwei und Sie werden unsere kleine Welt kennen gelernt haben.“ (55) 23 Vgl. dazu Hans von Trotha: Gartenkunst. Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Berlin 2012, S. 64 sowie Friederike Hillebrand: Die Venezianische Villa. Bauernhaus und Statussymbol. In: Venedig. Seemacht, Kunst und Karneval. Hrsg. von Matthias Pfa enbichler. Schallaburg 2011, S. 84-89, hier S. 85-87. <?page no="133"?> 3.1 Die Tiergartenvilla 121 Gründerzeit gelesen. 24 Meines Erachtens prä guriert jedoch die Schauplatzbeschreibung darüber hinausgehend vielfältig das Handlungsgeschehen: So verweisen beispielsweise die Aloën (48) auf eine Zeit der Buße und des Leids 25 und zugleich auf eine späte Erfüllung von Ho nungen. 26 Der Pfauhahn indes kann einerseits als Ausdruck gründerzeitlicher Prachtentfaltung und Nachahmung hö scher Lebensweisen 27 gelesen werden, indiziert andererseits aber als Symbol der Wollust und Attribut der Göttin Juno nicht nur Melanies Ehebruch, sondern ebenso ihre spätere Schwangerschaft sowie die erneute Eheschließung. 28 Die Bassins (48) mit ihren Fontänen gehören zum Ausstattungsprogramm französischer Parks, 29 deren Künstlichkeit und starre Regelmäßigkeit sich ganz o en zur Schau stellen. 30 In ihrer Geometrie und Begrenzung versinnbildlichen die Wasserbecken eingedämmtes, gleichsam gebändigtes Wasser. Im Unterschied dazu steht das Zittern und Flimmern des vorüber ziehenden Stromes (48): Hier 24 Vgl. beispielsweise Winfried Jung: Bildergespräche, S. 155 sowie Isabel Nottinger: Fontanes Fin de Siècle, S. 127. 25 Vgl. dazu Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S. 29. 26 Vgl. hierzu Jan Mohr: Aloe. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 12-13, hier S. 12. 27 Die hö sche Beliebtheit von seltenem Ge ügel führt im Jahr 1742 zur Ausgestaltung der Fasanerie im südwestlichen Winkel des Tiergartens. (Vgl. Susanna Brogi: Der Tiergarten in Berlin, S. 111.) Unter König Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) kommt es dann im Jahr 1842 zur Verlegung der Tiere auf die Pfaueninsel. (Vgl. ebd., S. 111.) In diesem Zusammenhang erkennt Gabriele Radecke au allende Analogien zwischen dem kommerzienrätlichen Anwesen und der Pfaueninsel: So sind insbesondere die Nähe zum Wasser, die Entfernung zum Berliner Stadtzentrum sowie die Pfauen und exotischen P anzen beiden Grundstücken gemein. (Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 136-137.) Einen weiteren Beleg sieht Radecke in der Namensähnlichkeit zwischen den Gärtnern Kagelmann im Roman und Fintelmann auf der Pfaueninsel. (Vgl. ebd., S. 141-142.) Verfolgt man Radeckes Thesen zur Pfaueninsel weiter, so verbindet sich diese als - wie Fontane beschreibt - „Zauberinsel“ (W3, S. 202.) mit dem als „[...] Zaubergarten [...]“ (54) imaginierten Van der Straatenschen Anwesen. Ebenso fallen in diesem Kontext die „[...] Milchsatten [...]“ (74) - ein typisches Meiereiaccessoire der Romanzeit - auf, aus denen Melanie und Riekchen auf der Veranda entrahmte Milch genießen, so wie König Friedrich Wilhelm II. (1744-1797) auf der Pfaueninsel eine Meierei bauen lässt, um der Sehnsucht des Adels nach einem ländlichen Leben zu entsprechen. (Vgl. hierzu Helmut Börsch-Supan: Die Pfaueninsel. Hrsg. von der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten. Berlin 1976, S. 5-7.) 28 Vgl. zur Symbolik des Pfaus Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S. 318-319. 29 Vgl. Susanna Brogi: Der Tiergarten in Berlin - ein Ort der Geschichte, S. 110. 30 Vgl. hierzu Hans von Trotha: Gartenkunst, S. 152. <?page no="134"?> 122 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt präsentiert sich das Element Wasser in seiner unruhigen und ungebändigten Form. Dieser Gegensatz wird durch das nachgestellte aber (48) zusätzlich betont und durch die Wortwahl Stro[m] (48) anstelle von Fluss weiter bekräftigt. 31 Über die erotische Konnotation des Wassers wird im Gegensatz zwischen Spree und Bassins zugleich der Gegensatz zwischen eingehegter, gleichsam verklemmter und sich frei entfaltender Erotik verhandelt. Dabei kann Van der Straaten der verklemmten Seite zugeordnet werden, denn einerseits ist er der Besitzer der Bassins, andererseits sind die sexuellen Probleme seiner Ehe bereits hinreichend etabliert und mit dem eingehegten Spreelauf im Gebiet Cöllns verbunden. 32 Der in Kürze in Erscheinung tretende Rubehn hingegen kann als auswärtiger Besucher mit der ungebändigten Spree am Tiergarten verknüpft werden, denn jener ist dem Hause zwar angegliedert jedoch diesem nicht zugehörig, so wie die Spree in topographischer Hinsicht zwar am Villengrundstück verläuft, diesem jedoch nicht angehört. Dies prä guriert Rubehn in einer Funktion als ‚Heiler‘ von Melanies sexueller Unzufriedenheit. Weil der Strom - [a]m Ende des Hauptganges (48) - und das Musikzimmer - am anderen Ende des Corridors (48) - über eine analoge räumliche Anordnung miteinander korrespondieren, wird die erotische Komponente der Spree 33 durch die stimulierende Wirkung der Musik unterstrichen. 34 Nicht nur über die beiden unterschiedlichen Formen des Wassers wird raumsemantisch die Ambiguität des Anwesens re ektiert, sondern bereits durch die Gartenbeschreibung als Stillleben (46) und Parkbild[.] (48) Hierbei wird die dem Garten inhärente Spannung von Natur und Kultur verhandelt, 35 denn er bleibt ein 31 Die Kanalisierung der Unterspree - also des Teils von der Mühlendammbrücke bis zur Haveleinmündung - erfolgt erst ab 1883. (Vgl. Heinz Götze: 398 Kilometer Spree. Von den Quellen in der Oberlausitz bis zur Mündung in Spandau. Berlin 1993, S. 142.) 32 Vgl. Seite 69 dieser Arbeit. 33 Vgl. hierzu allgemein: Daniela Gretz: Wasser. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 414-415, hier S. 415. 34 Au ällig ist dabei, dass die Musikliebhaber im Roman ein Liebesbegehren aufweisen. (Vgl. hierzu Humbert Settler: ‚L’Adultera‘ - Fontanes Ehebruchsgestaltung - auch im europäischen Vergleich, S. 27.) Settler nimmt hierfür Rubehn und Elimar als Beispiel. Dies gilt allerdings gleichfalls für die beiden anderen Wagnerianer Anastasia (Vgl. 74) und Melanie. (Vgl. 11, 51) Hierfür mag als Stimulans auch die allgemein „überhitzte Erotik, die Wagners Werke durchzieht“ (Peter Gay: Die zarte Leidenschaft, S. 273.) mitverantwortlich sein. 35 Vgl. dazu Vera Alexander: Elizabeths „deutsch-englischer“ Garten. Grenzraum und Gesellschaftskritik um 1900. In: Natur und Moderne um 1900. Räume, Repräsentationen, <?page no="135"?> 3.1 Die Tiergartenvilla 123 Grenzraum zwischen diesen beiden Polen. 36 Aufgrund ebenjener Grenzposition - einerseits innerhalb eines Kulturraumes, andererseits doch außerhalb der festgefügten Ordnung 37 - wohnt dem Garten ein subversives Element inne und er ist darüber hinaus seit jeher untrennbar mit der Erotik verknüpft. 38 Im Sinne dieser Lesart können die Schwalben auch als Fruchtbarkeitssymbol gedeutet werden, 39 während der Flieder als Symbol „rauschhaft-erotischen Begehrens“ 40 fungiert. Mit diesem Setting wird der kommerzienrätliche Park bereits vor Erscheinen des in der Kapitelüberschrift angekündigten Besuchs in doppelter Hinsicht als potentieller Ort einer erotischen Grenzüberschreitung gezeichnet. Des Weiteren gilt der Landschaftsgarten seit dem 18. Jahrhundert als „eine „Gemäldegalerie“ unter freiem Himmel“ 41 und so begreift auch beispielsweise der berühmte Garten- und Landschaftsarchitekt Fürst Hermann von Pückler- Medien. Hrsg. von Adam Paulsen und Anna Sandberg. Bielefeld 2013 (= Edition Kulturwissenschaft; Band 23), S. 103-118, hier S. 106. „Dabei erweist sich die Terminologie von Natur als Gegenbegri zu Kunst oder von Menschenhand Gescha enem von Grund auf problematisch. In dem Moment, wo Natur sprachlich beschrieben oder kategorisiert wird, arbeitet man bereits mit etwas, das seine Ursprünglichkeit verloren hat.“ (Ebd., S. 106.) Darüber hinaus gilt Hans von Trothas Maxime: „Der Landschaftsgarten ist Kunst, nicht Natur. Er ist in demselben Maße künstlich wie der Barockpark, nur lenkt, formt und beschneidet er die Natur nach anderen Kriterien. Er ist Kunst im Dienste einer neuen Ideologie des Natürlichen. Er zitiert, er imitiert, er simuliert die Natur oder besser ein bestimmtes Ideal von Natur, das im Prinzip noch unserem heutigen Ideal von schöner Landschaft entspricht. Der Landschaftsgarten scha t Landschaften, indem er täuscht.“ (Hans von Trotha: Gartenkunst, S. 152.) Der Landschaftsgarten folgt wie der Barockpark „starren Regeln, [jedoch] um vorgetäuschte Regellosigkeit zu inszenieren.“ (Ebd., S. 153.) 36 Vgl. allgemein hierzu Vera Alexander: Elizabeths „deutsch-englischer“ Garten, S. 107. 37 Vgl. ebd. 115. 38 Vgl. Susanna Brogi: Der Tiergarten in Berlin, S. 107. „Als ein abgeschlossener Bereich kultivierter Natur, p anzlicher Fruchtbarkeit und ’Samenp ege’, der der sinnlichen Erbauung dient, fungiert der Garten spätestens seit dem Mittelalter emblematisch rekurrent auch als ein Bezeichnungsraum weiblicher Sexualität.“ (Martin Nies: Venedig als Zeichen. Literarische und mediale Bilder der „unwahrscheinlichsten der Städte“ 1787-2013. Marburg 2014 (= Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik; Band 5), S. 201.) 39 Evi Zemanek: Schwalbe, S. 335. 40 Volker Mergenthaler: Flieder, S. 106. Vgl. zum Flieder in der Großen Petristraße Seite 84 dieser Arbeit. 41 Adrian von Butlar: Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik. Köln 1989, S. 14. <?page no="136"?> 124 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Muskau (1785-1871) die Natur als Gemälde und den Park als Bildergalerie. 42 In diesem Sinne verweisen die Begri e Stillleben (46) und Parkbild (48) auf den bilderschwärmende[n] (55) Kommerzienrat mit seiner Gemäldegalerie. Mithin erweist sich die verbreitete Annahme, es herrsche in der Villa - insbesondere durch die überwiegende Abwesenheit des Kommerzienrats - eine „Atmosphäre der Zwanglosigkeit“, 43 in der Melanie „ein Leben frei von gesellschaftlichen Zwängen“ 44 führe, als Trugschluss. Unterstrichen wird meine These durch Melanies Kritik an Riekchens Krumenstreuen, denn sie fürchtet deswegen „[...] einen Krieg [...]“ (48) mit ihrem Gatten. So beein usst der Kommerzienrat selbst bei Abwesenheit das Leben in der Tiergartenvilla, so wie er auch in Person (47) die beiden Ehrendamen einlädt, die seiner Gattin den Sommer zur Seite gestellt werden. Während Anastasia als Clavier- und Singe-Fräulein (47) der Musikschwärmerin Melanie - die bereits die Aufnahme des Wagnerianer[s] (25) Elimar Schulze (24) durchgesetzt hat - zuzuordnen ist, lässt sich Riekchen dem Kommerzienrat zuordnen: (Vgl. 140-141) Insbesondere, weil er sie, wie Melanie konstatiert, „[...] bevorzugt [...]“ (49) und „[...] artiger und rücksichtsvoller behandelt, als jeden andren Menschen.“ (49) Dabei vermutet sie, dass ihm Riekchens „[...] alter Adel imponiert [...]“ (49) 45 und bittet diese sogleich, ihr ihren „[...] vollen Namen und Titel [...]“ (49) zu nennen: „Aloysia Friederike Sawat von Sawatzki, genannt Sattler von der Hölle, Stifts-Anwärterin auf Kloster Himmelpfort in der Uckermark.“ (49) Während Georg Verweyen Melanies Bitte als „Vorliebe für Adelsprädikate“ 46 42 Vgl. hierzu ausführlich mit Blick auf Fontanes ‚Wanderungen‘ Jana Kittelmann: „...die ganze Welt ein Idyll“? Gartenbeschreibungen bei Theodor Fontane und Hermann von Pückler-Muskau. In: Fontane Blätter 85 (2008), S. 132-149, hier S. 135. So fordert der Schweizer Maler Salomon Geßner, der Hermann von Pückler-Muskaus Gartenbeschreibungen nachhaltig beein usst hat, „die Natur wie ein Gemälde, als gerahmtes Bild zu betrachten.“ (Ebd., S. 135.) 43 Heide Eilert: Im Treibhaus. Motive der europäischen Décadence in Theodor Fontanes Roman L’Adultera. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 22 (1978), S. 496-517, hier S. 499. 44 Rita Unfer Lukoschik: Die Novelle als Erlebnisraum: Boccaccio - Fontane, S. 45. Auch Winfried Jung sieht die Tiergartenvilla als Chi re „für den gesellschaftsfernen Ort, der dem Reglement sozialer Zwänge nicht untersteht.“ (Winfried Jung: Bildergespräche, S. 154.) 45 In Melanies Vermutung wird erneut die Spannung zwischen ‚Geldadel‘ und ‚Blutadel‘ re ektiert. (Vgl. hierzu allgemein Edeltraud Ellinger: „Das Bild der bürgerlichen Gesellschaft“ bei Theodor Fontane, S. 218-220.) 46 Georg Verweyen: Literarische Blamagen, S. 214. <?page no="137"?> 3.1 Die Tiergartenvilla 125 wertet, wird jedoch Jacobine ihrer Schwester zu einem späteren Zeitpunkt schreiben: „[...] und bei Deinen Lebensanschauungen [...] kann es Dich nicht unglücklich machen, daß er [Rubehn] unbetitelt ist. [...]“ (136) Melanie selbst wird später glaubhaft versichern, dass ihr „[...] das Glück etwas anderes als ein Titel [...]“ (156) sei. Konträr dazu wünscht sich Melanie zunächst aber: „Wenn ich doch so heißen könnte! [...]“ (49) und bestätigt damit scheinbar Verweyens These, doch bieten sich meines Erachtens folgende Lesarten zur Au ösung dieses vordergründigen Widerspruchs an: Hinter Riekchens Position einer Stifts-Anwärterin verbirgt sich eine zumindest bescheidene nanzielle Unabhängigkeit für eine ledige Frau aus einem verarmten Adelsgeschlecht: Das Kloster Himmelpfort wird - wie Fontane in seinen‚Wanderungen‘ beschreibt - nach der Reformation in ein Stift umgewandelt und berechtigt bestimmte adelige Familien, „ihre Töchter ins Kloster einschreiben zu lassen“. Das geschieht, wenn sie noch Kinder sind. Verheiraten sie sich, so erlischt dies Recht, verheiraten sie sich nicht, so empfangen sie von einem bestimmten Zeitpunkt, wahrscheinlich von der Zeit ihrer Großjährigkeit an, eine Rente, die sie verzehren können, wo sie wollen, bis im Kloster selbst eine „Stelle“ frei wird. (W6, S. 116.) Die Herkunft aus einem alten Adelsgeschlecht und eine damit verbundene Stiftsanwärterschaft hätte die damals unerwartet mittellos gewordene 17-jährige Melanie vor einer mutmaßlich aus nanziellen Gründen erwogenen Heirat mit Van der Straaten bewahren können. (Vgl. 7) Meine zweite Lesart steht gleichfalls im Zusammenhang mit Riekchens Abkunft „[...] vom deutschen Uradel, [...]“ (99), denn Melanie hätte mit einem vornehmeren Adelsnamen als dem halb zweifelhaften de Caparoux (Vgl. 44) in Kombination mit ihrer vielbewunderten Schönheit (Vgl. 23, 34, 100) und ihren auf ’s Glücklichste herangebildet[en] (7) Anlagen sicherlich eine bessere Partie als den derben Van der Straaten machen können. 47 Melanies Namensbewunderung kann Riekchen indes nicht nachvollziehen und ergreift Partei für Van der Straaten: „[...] Und er ist auch gar nicht so rücksichtslos. Er kann nur nicht leiden, daß man ihn stört oder herausfordert, ich meine solche, die’s eigentlich 47 So imaginiert Van der Straaten beispielsweise Rubehns vermeintliche Verlobte als „eine Freiin vom deutschen Uradel, etwa wie Schreck von Schreckenstein oder Sattler von der Hölle.“ (99. Vgl. zu den unterschiedlichen Formen des ‚Kapitals‘ wie Titel, Besitz, Bildung oder Schönheit Georg Verweyen: Literarische Blamagen, S. 210-211.) <?page no="138"?> 126 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt nicht sollten oder dürften. Sieh, Kind, dann beherrscht er sich nicht länger, aber nicht weil er’s nicht könnte, nein, weil er nicht will . Und er braucht es auch nicht zu wollen. Und wenn man gerecht sein will, er kann es auch nicht wollen. Denn er ist reich, und alle reichen Leute lernen die Menschen von ihrer schlechtesten Seite kennen [...].“ (49) Ähnlich wie der nanzschwache Baron Duquede (Vgl. 41-42) relativiert die aus einem verarmten Hochadel stammende Friederike von Sawatzki das unpassende Verhalten Van der Straatens ob seines Reichtums. Und so zeigt sich hier eine weitere Zweiteilung des Hauses Van der Straaten und zwar in diejenigen, die die Ausbrüche des Kommerzienrats verteidigen, (Vgl. 42, 49-50, 111) weil hierfür als Ausgleich die nötige Kapitalkraft nachweisbar ist und in diejenigen, die diese als deplatziert und „[...] peinlic[h] [...]“ (42) emp nden. (Vgl. 41-42, 71) Im Unterschied hierzu wird der neue Hausgast - prima facie - Kapitalkraft und gutes Benehmen miteinander verbinden. (Vgl. 40, 51) Riekchen glaubt, dass Van der Straaten „[...] den Gegensatz zwischen dem Anspruch [ihres] Namens und dem was [sie ist]: arm und alt und einsam [...]“ (50) fühle und ihr gegenüber daher Mitleid empfände, so dass die Zusammengehörigkeit beider Roman guren über den gemeinsamen Gegensatz von Anspruch und Wirklichkeit hergestellt wird: 48 Während Riekchen ihrem hochadeligen Namen nicht gerecht wird, benimmt sich Van der Straaten für seine gehobene gesellschaftliche Position unangemessen. 3.1.2 Auftritt: Ebenezer Rubehn [D]er alte Parkhüter (51) tritt an die Veranda, um Melanie einen Besuch anzukündigen, nachdem er sich vergeblich nach einem von der Hausdienerschaft umgesehen hatte[.] (51) In der Sommervilla begegnen dem Leser mit dem Parkhüter Teichgräber (50) 49 und dem Gärtner Kagelmann (88) lediglich zwei Angestellte. 48 Zudem gehört Riekchen schon sehr lange zum Freundeskreis, denn sie ist bereits bei der kommerzienrätlichen Eheschließung dem Hause zugehörig: „[...] Du kennst mich so gut und so lange schon, und fast war ich selber noch ein Kind, als ich in’s Haus kam. [...]“ (141) Die langjährige Zugehörigkeit zur Familie bezeugt ebenso, dass sie Melanies Schwester Jacobine als Einzige mit dem Kosenamen „[...] Binchen [...]“ anspricht. (Vgl. 145) 49 Der Name darf ebenso als Indiz für den wasserreichen und dadurch erotisch konnotierten Van der Straatenschen Park gelten. Hierzu passt ebenso, dass der Erzähler zuerst die <?page no="139"?> 3.1 Die Tiergartenvilla 127 Beide sind jedoch weniger der Villa, sondern vielmehr dem Park respektive Garten zuzuordnen. Die restlichen Hausangestellten geben sich anscheinend dem Müßiggang hin: Hierfür spricht die vergebliche Suche Teichgräbers sowie der unabgeräumt[e] Frühstückstisc[h.] (52) Hierüber wird die geringe wechselseitige Kontrolle angedeutet, die in der Tiergartenvilla zwischen Melanie und den Van der Straatenschen Hausangestellten herrscht, da letztere hier nicht in Erscheinung treten, während einige im Stadthaus unter Duquede’s Führung in einer stillen Opposition (107) zu ihr stehen. Aus diesen Gründen präsentiert sich die Tiergartenvilla insgesamt als ein ambivalenter Ort zwischen Zwan[g] (46) und Freiheit. (46) Zunächst scheint Melanie wenig begeistert über einen Besuch und erklärt: „[...] Ich bin außer mir. Hätte viel lieber noch mit Dir weiter geplaudert.“ (51) Der Antrittsbesuch des „[...] neuen Hausgenosse[n]“ (18) steht nicht nur durch den Luftzug, der das rotgemusterte Tischtuch bewegt, im Zeichen von leidenschaftlicher Sehnsucht und Erotik, sondern auch über Melanies Bemerkung, denn „[d]as Äußerste liegt der Leidenschaft zu allernächst“. 50 „Ebenezer Rubehn (Firma Jacob Rubehn und Söhne) 51 Lieutenant in der Reserve des 5. Dragoner-Regiments ...“ „Ah, sehr willkommen ... Ich lasse bitten ...“ Und während sich der Alte wieder entfernte, fuhr Melanie gegen das kleine Fräulein in übermüthiger Laune fort: „Auch wieder einer. Und noch dazu aus der Reserve! Mir widerwärtig, dieser ewige Lieutenant. Es giebt gar keine Menschen mehr.“ (51) Wassernähe der Villa beschreibt: die spreeabwärts am Nordwestrande des Thiergartens gelegene Villa. (8) Gleichzeitig wird Rubehn mit der erotischen Wirkung des Wassers in Zusammenhnag gebracht, weil er von Teichgräber angekündigt wird. Dies passt zum alten Testament, in der es über den biblischen Ruben heißt: „Er fuhr leichtfertig dahin wie Wasser.“ (LUT, Gen 49,4.) 50 Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften, S. 167. 51 Gemeinhin wird dieser Passus als Beleg für die Zugehörigkeit Rubehns zum Judentum gelesen. (Vgl. exemplarisch LA, Anmerkungen, S. 233 sowie Gabriele Altho : Weiblichkeit als Kunst, S. 31.) Hierzu sei angemerkt, dass der Firmenname der calvinistischen (sic! ) Familie Ravené nach einem fast identischen Muster gebildet wird: Firma Jacob Ravené Söhne. (Vgl. hierzu Berliner Adreß-Buch für das Jahr 1876. Unter Benutzung amtlicher Quellen redigiert von A. Ludwig. Hrsg. von der Societät der Berliner Bürger-Zeitung. VIII. Jahrgang. Berlin 1876, I. Teil, S. 739.) <?page no="140"?> 128 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Melanies Ausführungen sind aufschlussreich und können als weiterer Beleg dafür gelesen werden, dass sie - zumindest unbewusst - bereits vor dem ersten Tre en in Rubehn verliebt ist. 52 Ihre Skepsis gegenüber einem Angehörigen des Militärs lässt sich dabei dahingehend erklären, dass dieser qua seiner Militärangehörigkeit zur Einhaltung des Ehrenkodexes verp ichtet ist 53 und daher - anders als ein Zivilist - ihre Liebe eigentlich nicht erwidern kann. Und sehr wahrscheinlich, daß sie diese Betrachtungen fortgesetzt hätte, wenn nicht auf dem Kiesweg ein Knirschen hörbar geworden wäre, das über das rasche Näherkommen des Besuchs keinen Zweifel ließ. Und wirklich, im nächsten Augenblicke stand der Angemeldete vor der Veranda und verneigte sich gegen beide Damen. (51) Der Besucher macht sich zunächst durch sein Knirschen (51) auf den Kieselsteinen akustisch bemerkbar, was einer Form der Störung entspricht, so wie Rubehn später einräumen wird: „Ich habe Dein Glück gestört ( wenn es ein Glück war ) [...].“ (106) 54 Die Ankunft des späteren Geliebten „und der damit verbundenen räumlichen Durchbrechung von Raumgrenzen“ 55 sieht Norbert Wichard als eine in Fontanes Œuvre „stets sorgfältig inszenierte Erzählkonstruktion.“ 56 Die Veranda bildet da- 52 Vgl. hierzu Seite 86 dieser Arbeit. Außerdem hat das Regiment der 5. Dragoner die Abzeichenfarbe ponceaurot. (Vgl. hierzu Richard Knötel: Handbuch der Uniformkunde. Leipzig 1896 (= Webers illustrierte Katechismen; Band 155), S. 40.) Über die mohnblumenrespektive orangerote Abzeichenfarbe von Rubehns Regiment entsteht eine Verbindung zu Melanies Portrait, ein wogendes Kornfeld im Hintergrund und sie selber eben beschäftigt ein paar Mohnblumen an ihren Hut zu stecken. (17) Ebenso sei an den Melanie zugeordneten Kakadu (17) erinnert: Die Weibchen des Helmkakadus tragen eine schwarze Federhaube mit vereinzelt auftretender orangeroter Feder, während das Männchen eine gänzlich orangerote Federhaube trägt. (Vgl. dazu Seite 72 dieser Arbeit.) 53 Das Prinzip der militärischen Ehre und militärischer Verhaltensvorstellungen wurde über die Institution des Reserveo ziers, „der Gelenkstelle von bürgerlicher und militärischer Gesellschaft“, (Peter Dieners: Das Duell und die Sonderrolle des Militärs, S. 262.) in die bürgerliche Gesellschaft transportiert. 54 Nicht nachvollziehbar ist indes Nina Hirschbrunns Einschätzung, dass das zunächst akustische Erscheinen Rubehns im Zusammenhang mit seiner Musikliebe stünde. (Vgl. Nina Hirschbrunn: „Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.“, S. 260.) Vielmehr wird mit dem Wort knirschen gemeinhin eine Verstimmung assoziiert, was sich in den Floskeln ‚zerknirscht sein‘ und ‚es knirscht im Gebälk‘ manifestiert. 55 Norbert Wichard: Erzähltes Wohnen, S. 182. 56 Ebd., S. 182. <?page no="141"?> 3.1 Die Tiergartenvilla 129 bei einen „gesellschaftlich weniger stark konventionalisierten Wohn-Außenraum und daher durchlässigeren Bereich.“ 57 In einer weiteren Auslegung kann die Veranda als eine Art Zwischenraum 58 verstanden werden, der die später folgende ungeklärte Situation des sich neu ergebenden Paares (Vgl. 103) raumsemantisch vorwegnimmt. Wenn Melanie sich erhebt, um dem Gast einen Schritt entgegen (51) zu gehen, dann steht jene Interaktion von Anbeginn im Zeichen einer geglückten Kontaktaufnahme und einer o ensichtlichen gemeinsamen Basis. 59 Zudem ist der erste Wortwechsel zwischen ihr und dem neuen Hausgast von Hö ichkeit geprägt, denn er bittet seinerseits, den späten Antrittsbesuch in der Tiergartenvilla zu entschuldigen, während jene ihrerseits bittet, die Gemüthlichkeit dieses ländlichen Empfanges und vor allem eines unabgeräumten Frühstückstisches entschuldigen zu wollen. (52) So steht die erste Begegnung zwischen Rubehn und der Kommerzienrätin einerseits im Zeichen der konventionellen Verp ichtung, andererseits lassen die beiderseitigen Entschuldigungen eine Verletzung der Konventionen erkennen. Hierzu gehört gleichfalls, dass Van der Straaten als Gastgeber in der P icht wäre, seiner Gattin den neuen Gast vorzustellen. Der wiederholte Hinweis (Vgl. 48, 52) auf den unabgeräumten Frühstückstisc[h] (52) betont noch einmal, in Verbindung mit dem atternden rothgemusterte[n] Tischtuch[,] (48) die zwanglose, o ene und überdies erotisch konnotierte Atmosphäre, die der neue Hausgast vor ndet. 57 Norbert Wichard: Berliner Wohnräume - Kulturraum Venedig, S. 66. An dieser Stelle ist Peter Demetz zu widersprechen, der Veranden als „geschlossene, nicht o ene Räume“ (Peter Demetz: Formen des Realismus, S. 100.) begreift. 58 Diese Funktion wird anhand eines Beispiels aus dem Roman „The Awakening“ durch Benita von Heynitz belegt. (Vgl. Benita von Heynitz: Literarische Kontexte von Kate Chopins The Awakening , S. 165.) Die Veranda ist qua ihrer De nition ein „gedeckter, manchmal auch verglaster, erdgeschossiger Anbau eines Wohnhauses.“ (Hans Koepf und Günter Binding: Bildwörterbuch der Architektur, S. 494.) Damit kommt der Veranda als einem dem Haus vorgelagerten halbo enen Außenraum eine Transitfunktion zu, die zwischen Haus und Garten vermittelt. 59 Auch in der weiteren Romanhandlung geht Melanie Rubehn wie gewöhnlich einen Schritt entgegen[,] (78) während sie dem Kommerzienrat für gewöhnlich keinen Schritt entgegengeht. (Vgl. 17, 82, 112) Nur zweimal wird sie aufspringen und zwar während der Landpartie, als sie Rubehn statt ihres Gatten den Ball zuwirft, (Vgl. 62) und bei der Planung derselben. (Vgl. 57) Letzteres deutet jedoch nur scheinbar ein harmonisches Zusammenspiel an, denn in der Folge wird es ironischerweise aufgrund der nicht gelingenden Kommunikation zur endgültigen Entfremdung der Eheleute kommen. <?page no="142"?> 130 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Als Rubehn dem kleinen verwachsenen Fräulein (51) mit dem adeligen Namen vorgestellt wird, ist dieser sichtlich erstaunt und zwar mutmaßlich - und dadurch Van der Straaten scheinbar nicht unähnlich - über den „[...] Gegensatz zwischen dem Anspruch [...]“ (50) des Namens und der Erscheinung der Namensträgerin. [I]ndessen [ist er] Weltmann genug, um seines Erstaunens rasch wieder Herr zu werden[.] (51) Bereits hiermit wird der Unterschied im gesellschaftlichen Umgang zwischen Rubehn auf der einen und Van der Straaten auf der anderen Seite, der stets lacht, wenn er den Namen Riekchens hört, (Vgl. 50) überdeutlich pro liert. Durch Anastasias Klavierspiel ist Rubehn beim Zuhören so hingerissen, daß es ihm Anstrengung kostete, sich loszumachen[.] (53) Anastasia o enbart durch ihr virtuoses und in jeder feinsten Nüancirung erkennbares Spiel (53) die gemeinsame Zuneigung zur Musik Richard Wagners. 60 Während die Van der Straatensche Ehe durch die „konträre Stellung zu Wagner belastet“ 61 ist, (Vgl. 11, 35-36, 56) vergisst der Gast aufgrund seiner Vorliebe für Wagners Musik „fast seine konventionellen P ichten“. 62 Hierdurch wird nicht nur die musikalisch[e] Glaubenseinigkeit (97) zwischen Rubehn und Melanie o enkundig, sondern auch das sich ankündigende Dreiecksverhältnis prä guriert, 63 denn Anastasia spielt „Wotans Abschied“ (53) aus der Oper „Die Walküre“ (1870): 64 Darin muss Göttervater Wotan erkennen, dass er seine Lieblingstochter Brünnhilde an einen jugendlichen Liebhaber verlieren wird. 65 Darüber hinaus fällt die Komposition der Oper in eine Zeit, in der Wagner in Zürich als „[...] Dauer-Gast [...]“ (18) im Gartenhaus des vermögenden Kaufmanns Otto Wesendonck wohnt und währenddessen ein Verhältnis mit dessen Ehefrau Mathilde unterhält. 66 Mithin dient Rubehns Musikbegeisterung 60 Hier ist Norbert Wichard zu widersprechen, der glaubt, Lydia werde durch ihr Musizieren in die Wagner-Motivik des Romans eingebunden. (Vgl. Norbert Wichard: Berliner Wohnräume - Kulturraum Venedig, S. 66.) Vielmehr zeichnet sich jedoch gerade Lydia durch einen mangelhaften Takt (48) aus, der eine Opposition zu ihrer Mutter nahelegt, deren glänzendes musikalisches, auch nach der technischen Seite hin vollkommen ausgebildetes Talent (157-158) betont wird. 61 Hans Otto Horch: Annäherungen an ein Jahrhundertereignis, S. 55. 62 Heide Eilert: Im Treibhaus, S. 499. 63 Vgl. hierzu beispielsweise Hiltrud Bontrup: „... auch nur ein Bild.“, S. 30. 64 Vgl. Winfried Jung: Bildergespräche, S. 127-129. 65 Vgl. Hans Otto Horch: Annäherungen an ein Jahrhundertereignis, S. 56. Wagners Brünnhilde hat mehrere Schwestern, so wie Jacobine eine jüngere Schwester Melanie’s (23) ist. 66 Vgl. hierzu Sabine Meine: Wagner in Venedig. Projektionen und Realitäten. In: MusikTheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft 28, 2 (2013), S. 138-153, hier S. 138. <?page no="143"?> 3.1 Die Tiergartenvilla 131 als „Vehikel der Annäherung“, 67 so dass „[d]ie Liebe zwischen Melanie und Rubehn [...] von Anfang an unter die erotisierende Musik Richard Wagners gestellt [wird].“ 68 3.1.3 Die Tiergartenvilla als venezianische Villa Als das wundervoll[e] Spie[l] (54) abbricht, fährt Rubehn in einer ihm sonst fremden, aber in diesem Augenblicke völlig aufrichtigen Emphase fort: „O, meine gnädigste Frau, welch ein Zaubergarten, in dem Sie leben. Ein Pfau, der sich sonnt, und Tauben, so zahm und so zahllos, als wäre diese Veranda der Marcusplatz oder die Insel Cypern in Person! “ (54) Verstärkt wird die dieser Szene innewohnende Erotik durch Rubehns Vergleich der Veranda mit Zypern, denn die Insel gilt als antikes Zentrum und Residenz von Aphrodite respektive Venus, der Göttin der Schönheit und Liebe, 69 die nach Hesiod aus dem Schaum des Meeres geboren und an der Küste Zyperns an Land gestiegen ist. 70 Melanie wird so erneut als Venus imaginiert und zugleich der Ehebruch vorweggenommen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die wiederholte Erwähnung der Tauben, die als Liebessymbol 71 und Vögel der Liebesgöttin auf den Handlungsort einer Liebesgeschichte verweisen. 72 67 Hiltrud Bontrup: „... auch nur ein Bild.“, S. 30. 68 Isabel Nottinger: Fontanes Fin de Siècle, S. 178. Zudem erinnert die Begri ichkeit „[...] Zaubergarten [...]“ (54) an Van der Straatens Ablehnung gegenüber Wagner, die im Vorwurf gipfelt: „[...] [D]ie Wagner-Hexerei möchtet Ihr in Zauber verwandeln. [...]“ (36) 69 Vgl. beispielsweise Volker Klotz: Venus Maria. Au ebende Frauenstatuen in der Novellistik. Ovid - Eichendor - Mérimée - Gaudy - Bécquer - Keller - Eça de Queiróz - Fuentes. Bielefeld 2000, S. 22-23. 70 Vgl. Hesiod: Theogonie. Werke und Tage. Griechisch-Deutsch. Hrsg. und übersetzt von Albert von Schirnding. Mit einer Einführung und einem Register von Ernst Günther Schmidt. 5. überarbeitete Au age. Berlin 2012 (= Reihe Tusculum), S. 21. Daher hat Venus den Beinamen „Anadyomene“, die aus dem Meer Auftauchende. (Vgl. DS, Anmerkungen, S. 636.) 71 Vgl. Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S. 180. 72 Vgl. hierzu Adam Lengiewicz: Taube. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 382-383, hier S. 382. Gleichfalls prä guriert die „Taubenschaar“ (IW, S. 5.) im Roman „Irrungen, Wirrungen“ den Dörrschen Garten als Handlungsort einer Liebesgeschichte. <?page no="144"?> 132 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Der Tauben wegen verknüpft Rubehn die Veranda mit dem „[...] Marcusplatz[.] [...]“ (54) Ebenjene Assoziation ist bereits über das Füttern der Tauben durch Riekchen (Vgl. 48) evoziert worden, denn in Venedig gelten die Vögel als heilig und werden täglich auf Staatskosten mittags um zwei Uhr gefüttert. 73 Eine weitere Gemeinsamkeit zum Markusplatz ergibt sich durch die Musik in der Tiergartenvilla, denn auch Fontane berichtet - wie viele Reisende vor und nach ihm 74 - von Musik aller Art auf dem Markusplatz während seines Aufenthalts in Venedig am 06. Oktober 1874. (Vgl. Rt, S. 309.) Überdies gehen die mehrmonatigen ländlichen Sommerfrischen ursprünglich auf den venezianischen und toskanischen Adel zurück, 75 wodurch bereits Melanies Aufenthalt in der Tiergartenvilla einem venezianischen Habitus zugeordnet werden kann. Dieser Eindruck verstärkt sich, weil sie erst um zwölf (47) frühstückt und es damit - einem Venezianer gleich 76 - liebt, lange zu schlafen. (Vgl. 47, 111) Weil die Veranda durch Rubehn mit dem Makusplatz, dem zentralen Platz Venedigs, assoziiert wird, erscheint Melanie wiederum - in diesem „[...] Zaubergarten [...]“ (54) wohnend 77 - als Göttin Venus, 78 denn die Lagunenstadt ist, genau wie die Liebesgöttin, aus dem Meer geboren und die eine trägt den Namen der an- 73 Dieser Umstand ndet auch in Emilie Fontanes Reiseschilderung zum Markusplatz Erwähnung. (Vgl. Rt, S. 339.) „Die Sage berichtet, dass zu Anfang des 13. Jahrhunderts Admiral Dandolo bei der Belagerung von Candia wichtige Nachrichten von der Insel durch Brieftauben erhalten habe, die wesentlich zur Eroberung beitrugen. Zugleich mit der Nachricht der Einnahme sandte er die Tauben nach Venedig, deren Nachkommen seitdem gep egt und vom Volk für heilig gehalten werden.“ (Karl Baedeker: Ober-Italien bis Bologna, Genua, Nizza nebst den Eisenbahn- und Haupt-Post-Strassen aus Deutschland nach Italien. Handbuch für Reisende. Coblenz 1861, S. 135.) Die Tauben pro lieren einen weiteren Unterschied zwischen Rubehn und Van der Straaten, denn während sich ersterer an den zahlreichen und zahmen Tauben erfreut, wird letzterer als deren Gegner beschrieben. (Vgl. 48) 74 Vgl. hierzu exemplarisch Karl Friedrich Rudolf: Venedig und Spanien im 17. und 18. Jahrhundert. In: Venedig. Seemacht, Kunst und Karneval. Hrsg. von Matthias Pfa enbichler. Schallaburg 2011, S. 68-78, hier S. 78. 75 Vgl. Rüdiger Hachtmann: Tourismus-Geschichte. Göttingen 2007, S. 94. 76 Vgl. Karl Baedeker: Italien. Erster Theil: Ober-Italien (1877), S. 209. 77 Rubehn weist ausdrücklich Melanie diesen Ort zu: „O, meine gnädigste Frau, welch ein Zaubergarten, im dem Sie leben. [...]“ (54) 78 Von der Venuswelt geht dabei stets die erotische Faszinationskraft der Frau aus. (Vgl. hierzu allgemein Hiltrud Gnüg: Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur. Stuttgart 1988, S. 109.) <?page no="145"?> 3.1 Die Tiergartenvilla 133 deren. 79 Diese Verknüpfung re ektiert Fontane bereits zwanzig Jahre vor seinem ersten Venedigbesuch in seinem Reisebericht „Ein Sommer in London“ (1854), wenn er über die Serenissima konstatiert: „Venedig [wirkt] durch den Zauber seiner meerentstiegenen Schönheit“. 80 Außerdem gilt der Markusplatz nicht nur als Mittelpunkt der Stadt, sondern sein Zentrum zudem „als zwangloseste und dunkelste Zone, um sich zu verabreden [...].“ 81 So deutet sich in Rubehns Vergleich einerseits ein lockerer Umgang mit Konventionen an, 82 andererseits wird hierüber eine Ö entlichkeit hergestellt, die die Veranda erneut als gesellschaftlichen Mittelpunkt, (Vgl. 48) als Bühne imaginiert. Diese Assoziation wird bereits dadurch vorweggenommen, dass beide Gesellschaftsdamen jeden Morgen auf der Veranda erscheinen. (Vgl. 47) 83 Hierdurch entsteht eine weitere Verbindung zu Venedig, denn Richard Wagner beispielsweise bezeichnet die Stadt als Bühne. 84 Darüber hinaus konstituiert sich eine weitere Verbindung zwischen der von Anastasia gespielten Musik und Rubehns Vergleich der Veranda mit dem Markusplatz, denn Venedig gilt im 19. Jahrhundert als sogenannte Wagner-Stadt. 85 Durch seine aufrichtige Emphase bezüglich des Klavierspiels verrät Rubehn seine Liebe zur Musik Wagners, weshalb Melanie, der kein Wort entgangen war, auf ’s lebhafteste fortfuhr: „Ei, da dürfen wir Sie, wenn ich recht verstanden habe, wohl gar zu den Unseren zählen? Anastasia, das träfe sich gut! Sie müssen nämlich wissen, Herr 79 In einem anonymen Epigramm des 16. Jahrhunderts wird gefragt, wer von wem den Namen abgeleitet habe: „Aut Venus a Venetis sibi fecit amabile nomen, aut Veneti Veneris nomen et omen habent.“ (Sabine Engel: Das Lieblingsbild der Venezianer, S. 234.) Beide werden in der Städtepanegyrik als Schwestern dargestellt und die Geburtsstunde der Serenissima soll sich außerdem unter dem astrologischen Aszendenten der Venus vollzogen haben. (Vgl. hierzu ausführlich ebd., S. 234.) 80 Theodor Fontane: Ein Sommer in London, S. 2. 81 Karl Friedrich Rudolf: Venedig und Spanien im 17. und 18. Jahrhundert, S. 78. 82 Vgl. ebd., S. 78. 83 Im Roman „E Briest“ wird Fontane das Motiv der Veranda produktiv fortschreiben, denn auch hier gleicht diese durch ihre Leinwandvorhänge einer Bühne. (Vgl. EB, Anhang, S. 368.) 84 Vgl. Sabine Meine: Wagner in Venedig, S. 139 sowie Matthias Schmidt: Inszeniertes Hören. Anmerkungen zu einem venezianischen „Nachttraum“ Richard Wagners. In: MusikTheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft 28, 2 (2013), S. 154-167, hier S. 163. 85 Vgl. hierzu ausführlich Bernard Dieterle: Die versunkene Stadt. Sechs Kapitel zum literarischen Venedig-Mythos. Frankfurt am Main 1995 (= Artefakt. Schriften zur Soziosemiotik und Komparatistik; Band 5), Kapitel V. <?page no="146"?> 134 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Rubehn, daß wir hier in zwei Lagern stehen und daß sich das Van der Straaten’sche Haus, das nun auch das Ihrige sein wird, in bilderschwärmende Montecchi und musikschwärmende Capuletti theilt. Ich tout à fait Capulet und Julia. Doch mit untragischem Ausgang. [...]“ (54-55) Die Di erenzen zwischen dem kommerzienrätlichen Paar gehen so weit, dass sie zu einer familiären Spaltung führen: Die Bilderschwärmer können dem Stadthaus mit seiner Gemäldegalerie, die Musikschwärmer der Tiergartenvilla mit ihrem Musikzimmer (48) zugeordnet werden. Die zwei Lage[r] (54-55) verlaufen dabei zwischen Melanie, Anastasia, Elimar und nun auch Rubehn auf der einen und dem Kommerzienrat, Duquede und Gabler auf der anderen Seite. (Vgl. 55) 86 Zudem gehören die verfeindeten Familien „[...] Montecchi und [...] Capuletti [...]“ (55) zur Liebesgeschichte „Romeo und Julia“ (1597) von William Shakespeare (1564-1616), 87 wobei Melanies dezidierter Hinweis auf einen „[...] untragische[n] Ausgang [...]“ (55) die ungewöhnlich positive Kon iktlösung des Romans indiziert. 88 Diesen Eindruck sehe ich dadurch verstärkt, dass bei Shakespeare die verfeindeten Väter Ausgangspunkt der kommenden Tragödie sind, während es sich hier ausdrücklich um ein „[...] befreundete[s] Frankfurter Hau[s] [...]“ (18) handelt. 89 Neben Shakespeares Drama möchte ich noch eine weitere Lesart ins Spiels bringen, die erneut auf Venedig verweist: Die Oper „I Capuleti e i Montecchi“ von Vincenzo Bellini (1801-1835) ist 1830 in Venedig im ‚Gran Teatro La Fenice di Venezia‘ uraufgeführt worden. 90 Dabei spielt der Name des größten venezia- 86 Vgl. hierzu auch Fußnote 34 auf Seite 122 dieser Arbeit. 87 Daher erkennt Renate Böschenstein zusätzlich einen Zusammenhang zwischen Melanies Mädchennamen de Caparoux (7) und Julia Capulet. (Vgl. Renate Böschenstein: Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel, S. 345.) Vgl. zu Fontanes Verhältnis bezüglich Shakespeare allgemein ebd., S. 345. 88 Vgl. Bettina Plett: L’Adultera , S. 74. Und so wird sich diese Prophezeiung Melanies ebenso erfüllen, wie der vom Kommerzienrat erwartete Ehebruch. (Vgl. 14) 89 Auch hier wird Van der Straaten als Vater gur imaginiert, weil er sich ausdrücklich Rubehns Vater gegenüber verp ichtet fühlt. (Vgl. 18-19) 90 Shakespeares Stück ist im 19. Jahrhundert in Italien fast gänzlich unbekannt gewesen. Beide Stücke gehen auf eine frühere Quelle von Matteo Bandello zurück. (Vgl. dazu Rudolf Hopfner und Thomas Trabitsch: Musik und Oper. In: Venedig. Seemacht, Kunst und Karneval. Hrsg. von Matthias Pfa enbichler. Schallaburg 2011, S. 149-161, hier S. 160.) <?page no="147"?> 3.1 Die Tiergartenvilla 135 nischen Opernhauses - ‚La Fenice‘ 91 - auf das zerstörerische Feuer von 1774 und das Überleben des Hauses trotz widrigster Umstände an. Jenes Symbol der Auferstehung 92 prä guriert das Schicksal der Protagonistin, die gleichsam eine Wiedergeburt in Venedig erleben wird. (Vgl. 127) Melanie möchte „[...] auf der Stelle wissen[,] [...]“ (55) welchem Wagnerwerk Rubehn den höchsten Preis zuerkennt. Seine Festlegung auf „Die Meistersinger von Nürnberg“ (1868) „weist auf die Möglichkeit der „Versöhnung“ hin, die im Roman so häu g beschworen wird und mit der das Schlußkapitel überschrieben ist: Die Kon ikte um Sachs, Eva und Stolzing werden untragisch aufgelöst.“ 93 Darüber hinaus erzählen die ‚Meistersinger‘ die Geschichte vom bürgerlichen Glück, welches später das neue Liebespaar erfahren wird. 94 Die Entstehungsgeschichte der ‚Meistersinger‘ führt erneut nach Venedig, denn beim Anblick von Tizians „Assunta“ - der Himmelfahrt Mariens (1516-1518) - in der ‚Galleria dell’Accademia‘ 95 soll Wagner ebenjene Eingebung gehabt haben, 96 die ihn zum Werk inspiriert haben soll. 97 Über die „Assunta“ wird erneut die pas- 91 La Fenice heißt übersetzt der Phoenix. 92 Vgl. hierzu allgemein Udo Roth: Phoenix. In: Metzlers Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 278. 93 Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 248-249. Vgl. hierzu ebenso Hans Otto Horch: Annäherungen an ein Jahrhundertereignis, S. 56. 94 Vgl. Winfried Jung: Bildergespräche, S. 146. Horch belegt, dass Van der Straatens antiwagnerische Positionen eben nicht - wie beispielsweise Eilert annimmt (Vgl. Heide Eilert: Im Treibhaus, S. 499.) - der Au assung Fontanes entspricht, denn dieser hat die ‚Meistersinger‘ „selbst am uneingeschränktesten anerkannt [...], weil hier die doppelte Aufgabe als gelöst erscheint: nämlich die Liebes- und Kunstproblematik in ihrer Verschränkung zu behandeln. In den Meistersingern , so läßt sich sagen, wird nicht nur ein Ausgleich von alter und neuer Kunst durch Hans Sachs hergestellt, sondern auch zwischen erstarrter und lebendiger Bürgerlichkeit.“ (Hans Otto Horch: Annäherungen an ein Jahrhundertereignis, S. 56.) 95 Heute hängt Tizians „Assunta“ wieder an seinem ürsprünglichen Platz über dem Altar der venezianischen Santa Maria Gloriosa dei Frari. (Vgl. exemplarisch Hilke Maunder: Baedeker Smart. Venedig. 4. Au age, völlig überarbeitet und neu gestaltet. Ost ldern 2019, S. 120.) 96 Dies lässt starke Parallelen zu Van der Straatens Eingebung vom Ehebruch seiner Gattin vor der ‚Adultera‘ erkennen: „Und sieh, als wir letzten Sommer in Venedig waren, und ich dies Bild sah, da stand es auf einmal Alles deutlich vor mir.“ (14) Gleichzeitig wird über Tizians „Assunta“ auf Tintorettos ‚Ehebrecherin‘ angespielt, denn beide hängen zur Romanzeit in der ‚Galleria dell’Accademia‘ in Venedig. (Vgl. Rt, S. 318-319.) 97 Vgl. hierzu beispielsweise Hans-Joachim Bauer: Richard Wagner. Sein Leben und Wirken oder die Gefühlwerdung der Vernunft. Berlin 1995, S. 288. <?page no="148"?> 136 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt sende Verbindung zwischen Melanie und Rubehn re ektiert, denn gerade für Tizians Madonnen sowie für Tizian insgesamt schwärmt Melanie: „Die Tizianischen scheinen mir diese wohlthuend gemäßigte Temperatur zu haben. Ich lieb’ ihn überhaupt.“ (33) Während Van der Straatens Frauenbilder mit seiner Vorliebe für die warmen Murillo-Madonnen (Vgl. 32) zwischen der „zur Madonna stilisierten Ehefrau“ 98 einerseits und der biblischen ‚Ehebrecherin‘ Tintorettos andererseits schwanken, 99 assoziiert der neue Hausgast Melanie gleichfalls mit einer Ehebrecherin, hier mit der antiken Venus. Die Gemeinsamkeiten zwischen Tintorettos ‚Ehebrecherin‘ und Venus sind - neben ihrer Verbindung zu Venedig - ihre Schönheit sowie ihre spätere Reintegration in die jeweilige Gesellschaft: Während Jesus der Ehebrecherin verzeiht, (Vgl. LUT, Joh 8,7.) erhält auch Venus nach einer Zeit der Häme ihre „göttliche Makellosigkeit“ 100 zurück. Winfried Jung glaubt zu erkennen, dass Melanie durch die ihr von Van der Straaten und Rubehn zugewiesenen unterschiedlichen männlichen Rollenvorstellungen in Spannungen und Widersprüche geführt wird. 101 Dem ist insofern zu widersprechen, als dass sich Melanie mit der Rolle der Venus durchaus identi zieren kann: Bereits durch ihr Portrait mit Mohnblumen, ebenjener der Göttin zugeordneten Blume, 102 ist ihre A nität zu Venus zum Ausdruck gekommen. Zusätzlich betont Melanie: „Ich tout à fait Capulet und Julia. [...]“ (55) Passenderweise stammt der Vorname Julia dem Mythos nach vom römischen Geschlecht der Iulia ab, die ihren Namen von Iulius, dem Enkel der Göttin Venus, ableiten. 103 Ebenso können die Schwalben, an denen sich Melanie im Park erfreut, als Hinweis auf ihre Nähe zur Liebesgöttin Die Frage nach dem Inspirationswert der „Assunta“ auf Wagner wird in der Forschung kontrovers diskutiert und bisweilen sogar gänzlich verneint. (Vgl. hierzu beispielsweise Ernst Osterkamp: Wagner und die italienische Malerei. In: Wagnerspectrum 6, 1 (2010), S. 171-194, hier S. 189.) Unzweifelhaft bleibt, dass Wagner ganz allgemein seine biographischen Erlebnisse regelmäßig neu ordnete, um seinen Scha ensprozess strategisch in Szene zu setzen. (Vgl. dazu Matthias Schmidt: Inszeniertes Hören, S. 160-161.) 98 Winfried Jung: Bildergespräche, S. 109. 99 Vgl. ebd., S. 106-109. 100 Peter von Matt: Liebesverrat, S. 57. 101 Vgl. Winfried Jung: Bildergespräche, S. 113-114. 102 Vgl. hierzu Seite 75 dieser Arbeit. 103 Vgl. hierzu beispielsweise Frank Kolb: Rom. Die Geschichte der Stadt in der Antike. 2. überarbeitete Au age. München 2002, S. 267 sowie Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Hrsg. von W. H. Roscher. Sechster Band, Spalte 199-200. <?page no="149"?> 3.1 Die Tiergartenvilla 137 gelesen werden, denn diese sind jener zugeordnet. 104 Melanies Liebe zu Tizian steht überdies für einen Ausgleich zwischen den widersprüchlichen Frauenrollen, denn der Venezianer hat sowohl die Madonna 105 als auch die Göttin Venus gemalt. (Vgl. 33-34) Während Rubehns Besuch bleibt Lydia, Melanies älteste Tochter, nicht nur auf der Thürschwelle (54) stehen, sondern mustert den Fremden ernst und beinahe feindselig[.] (54) Während Melanies Zuneigung gegenüber Rubehn durch den Zusatz „[...] unse[r] liebe[r] Gas[t] [...]“ (54) o enkundig wird, verstärkt die Erzählinstanz mit der Bezeichnung der Fremd[e] (54) die ablehnende Haltung der Tochter, die raumsemantisch mit dem Nichtübertreten der Türschwelle korreliert. 106 Susanne Konrad liest Lydias Ablehnung als ihr unbewusstes Wissen um die A nität ihrer Mutter zu Rubehn und damit einhergehend die Bedrohung ihres Elternhauses. 107 Entsprechend steht Lydia nach Rubehns Verabschiedung eine Thräne (56) in den Augen: [W]ährend die Augen der Mutter immer lachten, waren die der Tochter ernst und schwermüthig, als sähen sie in die Zukunft. (8) Lydia erscheint hierdurch vom Erzähler als „personi zierte Prädestination“ 108 gezeichnet, denn ihr weinendes Auge wird zum Auspizium für ein kommendes Schicksal, welches die anderen Roman guren noch nicht wahrnehmen. 109 Zugleich bleibt 104 Vgl. dazu Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S. 381. Darüber hinaus gilt die Schwalbe als „Weltenbummlerin“ und „Vorbild für Heimattreue“. (Evi Zemanek: Schwalbe, S. 335.) Hiermit wird sowohl Melanies Flucht in den Süden als auch ihre Wiederkehr in die Heimat antizipiert. 105 Fontane schildert seine Bewunderung gegenüber Tizians „Assunta“ mit den Worten: „[...] aber was unser Herz am tiefsten bewegt, muß immer wieder ein Menschliches sein und das haben wir in dieser Tizianischen Maria. Bei allem Seligsein im Schauen Gottes, verbleibt der Gestalt doch etwas Schön-Menschliches. Es ist immer noch ein Weib, keine Himmelskönigin. Darin steckt der Reiz.“ (Rt, S. 310.) 106 Vgl. Norbert Wichard: Berliner Wohnräume - Kulturraum Venedig, S. 66. 107 Vgl. Susanne Konrad: Die Unerreichbarkeit von Erfüllung in Theodor Fontanes „Irrungen, Wirrungen“ und „L’Adultera“, S. 85. Ironischerweise ist es Lydia, die mit ihrer Ablehnung an der Teilnahme zur Landpartie den Ehebruch ihrer Mutter begünstigt. Ähnlich wie Van der Straaten erkennt sie das Fatum, leistet ihm jedoch durch ihr eigenes Verhalten Vorschub, statt es zu bannen. 108 Susanne Konrad: Die Unerreichbarkeit von Erfüllung in Theodor Fontanes „Irrungen, Wirrungen“ und „L’Adultera“, S. 84. Hierfür spricht ebenso, dass Lydia mehrfach ein Genferischer Habitus zugeschrieben wird. (Vgl. 8, 83, 149) 109 Vgl. Susanne Konrad: Die Unerreichbarkeit von Erfüllung in Theodor Fontanes „Irrungen, Wirrungen“ und „L’Adultera“, S. 85. <?page no="150"?> 138 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Lydia auf der Schwelle zwischen Haus und Veranda stehen, (Vgl. 54) um dann, ohne die Veranda betreten zu haben, ins Haus zurückzukehren. (Vgl. 56) Da die Veranda zuvor als Markusplatz inszeniert worden ist, erscheint mir hierdurch Melanies spätere Flucht [...] nach Süden (106) und schließlich nach Venedig ohne ihre beiden Töchter vorweggenommen, während Lydia mit dem Nicht-Übertreten der Türschwelle gleichsam einen Wendepunkt im Leben zu verhindern trachtet. 110 Rubehns Anwesenheit wird von den Damen positiv aufgenommen und so erscheint er in Begleitung des Kommerzienrats [j]eden zweiten, dritten Tag (56) in der Tiergartenvilla, drin es mehr Lachen und Plaudern, mehr Medisiren und Musiciren gab, als seit lange. (56) Der Erzähler lässt wissen, dass sich Van der Straaten auch jetzt nicht mit dem Musizieren auszusöhnen vermochte, aber im Grunde genommen [...] mit dem „anspruchsvollen Lärm“ um vieles zufriedener [war] als er einräumen wollte, weil der von nun an in eine neue, gesteigerte Phase tretende Wagner-Cultus ihm einen unerschöp ichen Sto für seine Lieblingsformen der Unterhaltung bot. Siegfried und Brunhilde, Tristan und Isolde, welche dankbaren Tummelfelder! Und es konnte, wenn er in Veranlassung dieser Themata seinem Renner die Zügel schießen ließ, mitunter zweifelhaft erscheinen, ob die Musicirenden am Flügel oder er und sein Uebermuth die Glücklicheren waren. (56) Der erzählerische Hinweis auf den in eine neue, gesteigerte Phase tretende[n] Wagner-Cultus (56) belegt die „wachsende Vertrautheit“ 111 zwischen Melanie und Rubehn sowie „die Intensivierung ihres Verhältnisses“. 112 Darüber hinaus grundieren die beiden genannten Wagneropern mit ihren Protagonisten als „archetypisch[e] Paare des Ehebruchs“ 113 den weiteren Handlungsverlauf und 110 Hierzu sei an Michail Bachtins Ausführungen zur Schwelle erinnert: „Allein das Wort „Schwelle“ hat ja schon im Redeleben (neben seiner realen Bedeutung) eine metaphorische Bedeutung erlangt und sich mit dem Moment des Wendepunkts im Leben, der Krise, der das Leben verändernden Entscheidung verknüpft (oder auch mit dem Moment des Zauderns, der Furcht vor dem Überschreiten der Schwelle).“ (Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman, S. 198.) 111 Benita von Heynitz: Literarische Kontexte von Kate Chopins The Awakening , S. 175. 112 Heide Eilert: Im Treibhaus, S. 501. 113 Benita von Heynitz: Literarische Kontexte von Kate Chopins The Awakening , S. 175. Wie Isolde wird sich Melanie für den jüngeren Mann entscheiden. (Vgl. ebenso Lieselotte Voss: Literarische Prä guration dargestellter Wirklichkeit bei Fontane, S. 163.) <?page no="151"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 139 antizipieren ironisch in Form von Van der Straatens Uebermuth (56) seine zukünftige „Hahnreischaft“, 114 denn die Entstehungsgeschichte der Oper „Tristan und Isolde“ (1865) steht im engen Zusammenhang mit Wagners A äre zur Kaufmannsgattin Mathilde Wesendonck. 115 Die Zweiteilung des Hauses in die Bilderschwärmer der Stadtwohnung und die Musikschwärmer der Tiergartenvilla spielt überdies der Erzählung in die Hände, weil so die häu gen Besuche Rubehns in der Villa plausibel erscheinen: 116 Denn Melanie wünscht sich im Rahmen der ersten Begegnung, er solle den Flügel „[...] bald und oft [...]“ (55) versuchen, wobei die „Gleichheit der Interessen [...] zu einer Voraussetzung ihrer wachsenden Liebe“ 117 wird. 3.2 Landpartie nach Stralau An einem wundervollen August-Nachmittage (56) schlägt Van der Straaten eine Land- und Wasser-Partie (57) vor. Zur Begründung führt er an, dass Rubehn, obwohl er bereits seit rund drei Monaten in Berlin verweile, „[...] nichts gesehen [habe], als was zwischen unserem Comtoir und dieser unserer Villa liegt. [...]“ (57) Einerseits bezeugt der Kommerzienrat hiermit Rubehns häu ge Besuche in der Villa, andererseits zeigt sich abermals die enge Verzahnung der Lebens- und Arbeitswelt des Kommerzienrats, wenn er das Kontor im Erdgeschoss des Stadthauses und nicht die Wohnung im ersten und zweiten Stock als Referenzpunkt wählt. Van der Straaten avisiert eine Fahrt nach „[...] Treptow und Stralow, [...]“ (57) „und zwar rasch, denn in acht Tagen haben wir den Stralauer Fischzug, der an und für sich zwar ein liebliches Fest der Maien, im Uebrigen aber etwas derb und nicht allzu günstig für Wiesewachs und frischen Rasen ist. Und so proponir’ ich denn eine Fahrt auf morgen Nachmittag. Angenommen? “ (57) 114 Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 212. 115 Vgl. hierzu Seite 130 dieser Arbeit. 116 Die Zweiteilung des Hauses Van der Straaten entspricht dabei beispielsweise nicht dem außerliterarischen Vorbild, denn in der Sommervilla der Familie Ravené hat, wie Fontane berichtet, Wilhelm Gentz (1822-1890) ein Gemälde an die Wand gemalt. (Vgl. W1, S. 163.) Dies widerlegt zugleich die Behauptung Bernd W. Seilers, Fontane habe die Sommervilla der Familie Ravené nicht gekannt. (Vgl. Bernd W. Seiler: Fontanes Berlin, S. 44.) 117 Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 247. <?page no="152"?> 140 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Die Idee zu einer Landpartie gleich am nächsten Tag wird von einem wahre[n] Jubel (57) begleitet: Alles regelte sich rasch und nur die Frage, wer noch aufzufordern sei, schien auf kleine Schwierigkeiten stoßen zu sollen. (57) Zwar stellt Van der Straaten die Einladung des Ehepaares Gryczinski zur Debatte, ist jedoch zufrieden, als die Runde schweigt. (Vgl. 57-58) Seinen Vorschlag Duquede einzuladen, lehnt Melanie o en ab: „[...] Er würde von Stralow aus beweisen, daß Treptow, und von Treptow aus beweisen, daß Stralow überschätzt werde, und zu Feststellung dieses Satzes brauchen wir weder einen Legationsrath a. D., noch einen Altmärkischen von Adel.“ (58) Eine Teilnahme des Polizeirats indes wird von den Damen begeistert aufgenommen, während die Einladung der beiden Künstler Elimar und Gabler über jeden Zweifel erhaben erscheint, zumal Van der Straaten selbstkritisch einräumt: „[...] Eine Wasserfahrt ohne Gesang ist ein Unding. Dies wird selbst von mir zugestanden. [...]“ (58-59) Am nächsten Tag wird in der Stadtwohnung, wie verabredet, ein Gabelfrühstück genommen und zwar in Van der Straatens Zimmer. Er wollt’ es so jagd- und reisemäßig wie möglich haben und war in bester Laune. Diese wurd’ auch nicht gestört, als in demselben Augenblicke, wo man sich gesetzt hatte, ein Absagebrief Rei s eintraf. (59) Dadurch, dass sowohl Legationsrat Duquede 118 als auch Major v. Gryczinski nicht zur Teilnahme an der Land- und Wasser-Partie (57) eingeladen werden und Polizeirat Rei kurzfristig absagt, entfällt das Moment der gesellschaftlichen Kontrolle durch Vertreter aus Beamtentum und Militär, wobei insbesondere der Polizeirat im Roman mit gesellschaftlicher Kontrolle in Verbindung gebracht wird. (Vgl. 31, 134) Aus dem engere[n] Zirkel (22) nehmen nunmehr an der Landpartie lediglich die beiden Künstler Elimar Schulze und Arnold Gabler teil sowie daneben die beiden Dames d’honneur (47) - Fräulein Friederike von Sawatzki[,] (47) genannt Riekchen, und das Clavier- und Singefräulein: Anastasia Schmidt (47) - die Melanie den Sommer über in der Tiergartenvilla Gesellschaft leisten. Diesen vier Roman guren ist das Moment der gesellschaftlichen Randstellung eingeschrieben, 119 so dass hiermit bereits eine Normverletzung während der Landpartie 118 Da dieser von Melanie mit dem sprichwörtlichen „[...] ‚Mehlthau‘ [...]“ (58) verglichen wird, deutet sein Fehlen bei der Landpartie auf die Möglichkeit einer sich dort anbahnenden Erneuerung hin. 119 Vgl. hierzu die Seiten 101 und 118 dieser Arbeit. <?page no="153"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 141 begünstigt erscheint. 120 Da das Frühstück nicht im Speisesaal mit seiner Copie der Veronesischen „Hochzeit zu Cana“, (26) sondern im Wohn- und Arbeitszimmer (8) des Kommerzienrats genommen wird, entfällt nicht nur die gleichsam bildliche Mahnung zur Einhaltung der Ehetugenden, sondern zugleich die erinnernde und warnende Funktion der ‚Adultera‘-Kopie, die nicht wie geplant hier hängt, sondern in die Galerie geschickt worden ist. (Vgl. 16) Nur knapp umreißt der Erzähler die Fahrt von der kommerzienrätlichen Stadtwohnung nach Stralau: Der Wagen wartete schon und die Damen stiegen ein und nahmen ihre Plätze: Fräulein Riekchen neben Melanie, Anastasia auf dem Rücksitz. Und mit ihren Fächern und Sonnenschirmen grüßend, ging es über Platz und Straßen fort, erst auf die Frankfurter Linden und zuletzt auf das Stralauer Thor zu. (60) Die Frankfurter Linden (60) werden im Jahr 1708 als vierreihige Lindenallee vom damaligen Frankfurter Tor bis zum Schloss Friedrichsfelde angelegt. 121 Die planlose und zufällige Bebauung der Stralauer Vorstadt im 19. Jahrhundert lässt in der Folge die Gegend um die Frankfurter Allee durch die Industrialisierung zu einer Mietskasernenstadt mit je drei oder vier Hinterhöfen werden. 122 Die Lebensverhältnisse in dieser Gegend sind „unerträglich“, 123 denn üblicherweise besteht eine Wohnung „aus einer Stube mit Küche im Hinter- oder Seitenhaus einer engen, überbelegten Mietskaserne ohne genügend Licht und Luft.“ 124 Darüber hinaus muss die Kutsche auf dem Weg nach Stralau das Frankfurter Tor passieren, welches in seiner Geschichte im Zuge der Stadterweiterungen mehrfach verlegt worden ist. 125 Auf Höhe des mittelalterlichen Frankfurter Tores, dem heutigen Straußberger Platz, sind vormals „schärfere Verurteilte“ 126 hingerichtet 120 Erschwerend kommt hinzu, dass genannte Roman guren aufgrund der Absage Rei s in der Überzahl sind. 121 Vgl. Lexikon der Berliner Straßennamen. Hrsg. von Sylvia Lais und Hans-Jürgen Mende, S. 134. 122 Vgl. Herbert Nicolaus und Alexander Obeth: Die Stalinallee, S. 23. 123 Ebd., S. 24. 124 Ebd., S. 25. 125 Zur Romanzeit be ndet sich das Frankfurter Tor auf Höhe der heutigen U-Bahnstation Weberwiese. (Vgl. ebd., S. 22.) 126 Ebd., S. 18. ‚Gewöhnliche Hinrichtungen‘ nden indes an der Gerichtslaube statt. (Vgl. ebd.) <?page no="154"?> 142 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt worden. 127 Die unbekümmerte Fahrt auf dem topographisch schicksalhaften Gebiet spiegelt so pränarrativ die spätere Situation der Protagonistin in Berlin wider, denn Melanie gewärtigte keines Rigorismus. (131) Doch die Verurtheilung (160) der Gesellschaft, die „[...] zu Gerichte sitz[t,] [...]“ (138) wird ‚schärfer‘ als erwartet ausfallen: Sie war todt für die Gesellschaft. (138) Topographisch wird dies auch dadurch markiert, dass die Fahrt zuletzt auf das Stralauer Thor zu[geht,] (60) denn hier sind bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein Kindsmörderinnen und Ehebrecherinnen hingerichtet, genauer ertränkt worden. 128 Die Verwendung von Fächern (60) ist überdies symbolträchtig, kann doch der Fächer neben seiner Funktion als modisches Accessoire und Luxusgegenstand zugleich in seiner verhüllenden wie entblößenden Erotik verstanden werden. 129 So kann seine Nutzung als ein weiteres Zeichen für ein sich ankündigendes erotisches Abenteuer verstanden werden, 130 zumal der Fächer durch seine Eigenschaft, einen Luftstrom zu erzeugen, der Sanguinikerin Melanie (Vgl. 131) zugeordnet und so „als Mittel zur ‚Kühlung‘ erotischer Begierde“ 131 gelesen werden kann. Währenddessen nehmen Van der Straaten und Rubehn eine Droschke zweiter Klasse (60) und zwar ausdrücklich „Aechtheits“ halber[.] (60) Diese Wahl kann Van der Straaten als Urheber der Partie (67) zugeordnet werden, der dadurch den Habitus eines gewöhnlichen Stralauer Besuchers zu imitieren trachtet und so 127 Beispielsweise wird im Jahr 1540 Hans Kohlhase aus der Fischerstraße in Cölln hingerichtet, dessen Schicksal Heinrich von Kleist (1777-1811) in seinem „Michael Kohlhaas“ (1810) ein literarisches Denkmal setzt. (Vgl. zum historischen Hans Kohlhase exemplarisch Horst Sendler: Über Michael Kohlhaas - damals und heute. Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 24. Oktober 1984. Berlin 1985 (= Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin; Band 92), S. 9-14.) 128 Vgl. Omnibus. Belletristische Beilage der Neuigkeiten. Erster Jahrgang. Nr. 27. Brünn 1856, S. 213. Vgl. zu dieser Bestrafungsmethode ebenso Regine Zinke: Steglitz bei Berlin. Dor eben im Spiegel des Kirchenbuches 1605-1810. Berlin 1996, S. 96. So erweist sich in „E Briest“ die Überzeugung E s als trügerisch, dass es grausame Bestrafungen von Ehebrecherinnen zwar in Konstantinopel, nicht aber in ihrer Heimat geben würde: „„[...] so vom Boot aus sollen früher auch arme unglückliche Frauen versenkt worden sein, natürlich wegen Untreue.“ „Aber doch nicht hier.“ „Nein, nicht hier,“ lachte E , „hier kommt so was nicht vor. Aber in Konstantinopel [...].““ (EB, S. 14.) 129 Vgl. hierzu allgemein Andreas Dittrich: Fächer. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 93-95, hier S. 93-94. 130 Dies belegt auch die Vernezobresche Ehebruchsgeschichte, die Christel Melanie später erzählen wird: „[...] Un der war ja nu da un wie’n Wiesel, un immer mit in’s Concert un nach Saatwinkel oder Pichelsberg, un immer’s Jaquet über’n Arm, un Fächer un Sonnenschirm, un immer Erdbeeren gesucht [...].“ (109) 131 Andreas Dittrich: Fächer, S. 94. <?page no="155"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 143 erneut seine Eigenart als Imitator und Kopist o enbart. Darüber hinaus verweist dies allgemein auf das Konzept der Landpartien, 132 bei denen es sich nicht um eine authentische Praxis, sondern um Inszenierungen handelt. Beide steigen unmittelbar vor der Stadt aus, um nunmehr an den Flußwiesen hin den Rest des Weges zu Fuß zu machen. (60) Dabei stehen die Flußwiesen (60) für ein gefährliches Terrain, sind jene doch eine Zwitterform aus Land und Wasser und stets von Überschwemmungen bedroht. 133 Dies prä guriert gleichsam den ‚unsicheren Boden‘, den die Fußgänger (60) alsbald betreten, denn während Van der Straaten zunächst die Kontrolle über den weiteren Ablauf der Landpartie und in der Folge über seine Eheverbindung verliert, wird Rubehn durch seine baldige Annäherung an Melanie gleichfalls ein gefährliches Terrain betreten. 134 Der erzählerische Hinweis, dass Van der Straaten und Rubehn vor der Stadt (60) und nicht etwa - in der Logik der Zielrichtung - vor dem Dorf Stralau aussteigen, markiert gleichzeitig den städtischen Bezug der Landpartie, die keineswegs in einen unberührten Naturraum führt. Einerseits wird der ländliche Raum im 19. Jahrhundert aufgeladen mit der „Sehnsucht nach dem verlorenen Einfachen, Natürlichen und Ursprünglichen.“ 135 Andererseits wird den Bedürfnissen der Städter Rechnung getragen, denn die Aus ugsorte sind keine Orte ursprünglicher Natur, sondern Erholungs- und Unterhaltungsstätten der Städter, was zur „Paradoxie der Landpartie“ 136 führt, denn das Naturerleben wird „durch zivilisatorische, kulturelle und soziale Paradigmen bestimmt.“ 137 Entsprechend frequentieren 132 Vgl. hierzu Katharina Grätz: Landpartie und Sommerfrische, S. 83 sowie ausführlicher Milena Bauer: Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes, S. 1-13. 133 Zur Erzählzeit des Romans ist die Spree noch nicht begradigt. Die Begradigung erfolgt frühestens ab dem Jahr 1878. (Vgl. Lehrbuch für die Elbeschi erfachschulen. Zum Schulunterricht und für den Gebrauch der die Elbe und die mit dieser zusammenhängenden Wasserstraßen befahrenden Schi er. Im Auftrage der Elbstrombauverwaltung. Bearbeitet von Düsing, königl. Baurat. Dritte Au age. Bearbeitet in der Elbstrombauverwaltung. Magdeburg 1926, S. 483.) 134 Ebenjene Gefährlichkeit wird später auch Heinrich Zille (1858-1929) bezeugen, wenn in der ‚Näbelkrähe‘ Julius Tübbeckes (1824-1911) Freund und Stammgast Rabe nach einem Wirtschaftsbesuch in den Sumpfwiesen Stralaus ertrinkt. (Vgl. Reinhard Link: Die Künstlerfamilie Tübbecke in Stralau. Teil 1. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins. Hrsg. von dems. 100. Jahrgang, Heft 1. Berlin 2004, S. 4-12.) 135 Katharina Grätz: Landpartie und Sommerfrische, S. 82. 136 Ebd., S. 82. 137 Kathrin Maurer: Mit Herrn Baedeker ins Grüne. Die Popularisierung der Natur in Baedekers Reisehandbüchern des 19. Jahrhunderts. In: Natur und Moderne um 1900. Räume. Repräsentationen. Medien. Hrsg. von Adam Paulsen und Anna Sandberg. Bielefeld 2013, S. 89-101, hier S. 92. <?page no="156"?> 144 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Landpartien gemeinhin „Aus ugsziele im Berliner Umland, die infrastrukturell und touristisch vollständig erschlossen sind“. 138 In diesem Sinn beantwortet Fontane die o enbar Ende der 1850er Jahre in der Gesellschaft zirkulierende Frage, ob eine Villenkolonie am Wannsee 139 „nicht die Schönheit, die Frische dieser Waldgegend gefährden“ (W1, S. 257.) könne, nach bester Überzeugung dahin, daß solche Besorgnisse einfach deshalb ungerechtfertigt sind, weil man einer Natur das nicht mehr nehmen kann, was sie längst nicht mehr besitzt. Es ist still und lauschig an diesen Havelseen; aber es ist töricht, eine Miene anzunehmen, als würde hier durch Eisenbahn und Sommerwohnung ein heiliger Frieden, ein unentweihter Tempel der Natur zerstört werden. Der Grunewald liegt als wohlgep egter Jagdgrund zwischen den beiden Residenzen des Landes - das sagt alles. Überall, auf Schritt und Tritt, begegnet man hier Zeichen der Kultur, den Schöpfungen der Menschenhand [...] unsere Landschaft hat längst aufgehört, ein bloßes Naturprodukt zu sein. Man denke an die Spree zwischen Treptow und Stralow[.] (W1, S. 256-257.) 3.2.1 Ankunft und Spiele auf dem Wiesenplan Es schlug fünf, als unsre Fußgänger das Dorf erreichten[.] (60) Hier be ndet sich „Löbbeke’s Ka eehaus“[,] (61) 140 welches Van der Straaten Rubehn sogleich vor- In den Settings Fontanescher Landpartien erkennt Milena Bauer plausibel „hybrid[e] Grenzräume“, (Milena Bauer: Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes, S. 9.) die ein „hybrides Korrelat der üblicherweise als Oppositionen verstandenen Räume ‚Natur und Kultur‘ oder ‘Stadt und Land‘ darstellt.“ (Ebd., S. 8.) 138 Milena Bauer: Bewegte Nähe. Der Topos der Landpartie bei Theodor Fontane. In: Theodor Fontane. Berlin, Brandenburg, Preußen, Deutschland, Europa und die Welt. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen, Richard Faber und Helmut Peitsch. Würzburg 2014 (= Fontaneana; Band 13), S. 81-96, hier S. 92. 139 Im Sommer 1863 gründet der Bankier Wilhelm Conrad die Sommervillenkolonie am westlichen Ufer des Kleinen und nördlichen Ufer des Großen Wannsees, die sogenannte ‚Colonie Alsen‘. (Vgl. hierzu ausführlich Norbert Kampe: Die Villenkolonien in Berlin- Wannsee. 1870-1945. In: Villenkolonien in Wannsee. 1870-1945. Großbürgerliche Lebenswelt und Ort der Wannsee-Konferenz. Hrsg. von dems. Berlin 2000 (= Begleitbuch zur Ausstellung „Villenkolonien in Wannsee. 1870-1945. Großbürgerliche Lebenswelt und Ort der Wannsee-Konferenz“ im Garten der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz ab 18. Juni 2000), S. 14-69, hier S. 17-18.) 140 Dieses erinnert in seiner Art und Ausstattung - beispielsweise mit Glasbalkon, Anlegestelle und unter Straßenniveau liegendem Eingang - an das zur Romanzeit reale <?page no="157"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 145 stellt: „Dies ist das Ship-Hôtel von Stralow,“ sagte Van der Straaten im Cicerone-Ton und war eben Willens in das Ka eehaus einzutreten[.] (61) Dieser ironische Kommentar fällt jedoch auf ihn selbst zurück, möchte der ‚Cicerone‘ doch gerade kein Reiseführer sein, der eine schnelle topographische Orientierung ermöglicht, sondern ein Reisegesellschafter, der in der Schule des vergleichenden Sehens einen neuen Blickwinkel für die italienische Formenwelt zu geben vermag. 141 Der Hinweis auf den ‚Cicerone‘ als „kunsthistorische[s] Handbuch im lesbaren Stil und ei[n] Erinnerungsbuch für Italienliebhaber“ 142 verweist dabei erneut auf die italienische Kunst, die in Verbindung mit den ehelichen Kon iktfeldern steht, (Vgl. 12-15, 33) so dass jene zum Ka eehaus in Beziehung gesetzt werden. Weil der Kommerzienrat stets dem kulinarischen Genuss verp ichtet ist, (Vgl. 24) gedenkt er zuallererst ins Ka eehaus einzutreten, doch Kutscher Ehm vermeldet, „daß die Damens schon vorauf seien, nach der Wiese hin. Und die Herren Malers auch. [...]“ (61) Letztere hätten zuvor bereits „[...] an der Würfelbude Strippenballons und Gummibälle gekauft. [...]“ (61) 143 Der Aufenthalt auf dem Wiesenplan (61) gehört demnach nicht zu einem von Van der Straaten geplanten Programmpunkt der Landpartie, sondern wird vielmehr durch die beiden randständigen Künstler initiiert, was den beginnenden Kontrollverlust des Kommerzienrats markiert. Am Ausgange des Dorfes lag ein prächtiger Wiesenplan und dehnte sich bis an die Kirchhofsmauer hin. In der Nähe dieser hatten sich die drei Damen gelagert und plauderten mit Gabler, während Elimar einen seiner großen Gummibälle monsieurherkulesartig über Arm und Schulter laufen ließ. (61) Die topographische Lage des Wiesenplans ist bemerkenswert, denn entgegen der erzählerischen Beschreibung liegt dieser nicht [a]m Ausgange des Dorfes[,] (61) sondern grenzt südöstlich an den Kirchhof der ca. 400 m vom Dorf entfernten Dorfkirche und ist zusätzlich von Wasser umgeben - genauer der Rummelsburger Aus ugslokal ‚Tübbeckes‘, gelegen in Stralau 9, dem späteren Alt-Stralau 23. (Vgl. Reinhard Link: Die Künstlerfamilie Tübbecke in Stralau, S. 4-12 und zur Situierung in Stralau SIN1882.) 141 Vgl. zu Jacob Burckhardts ‚Cicerone‘ (1855) exemplarisch Christine Tauber: Jacob Burckhardts ‚Cicerone‘. Eine Aufgabe zum Genießen. Tübingen 2000 (= Reihe der Villa Vigoni; Band 13), S. 9 und 11. 142 Ebd., S. 11. 143 Die touristische Erschließung Stralaus wird hier bestätigt, denn die Aus ügler erwartet eine Art Jahrmarkt. (Vgl. hierzu Katharina Grätz: Landpartie und Sommerfrische, S. 82.) <?page no="158"?> 146 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Bucht und der Spree. 144 Ursprünglich hat sich das Dorf an der südöstlichen Spitze gegenüber der Kirche befunden. 145 Diese Situierung wird jedoch bereits Ende des 13. Jahrhunderts aufgrund der häu gen Überschwemmungen nach Nordwesten verlegt. 146 So nden die Spiele raumsemantisch auf einem augenfällig gefährlichen Terrain statt, denn das Element Wasser erscheint bei Fontane oft in seiner subversiven Form. 147 Zudem erinnert die Nähe zur Dorfkirche, 148 deren Kirchturm - so glaubt zumindest Fontane irrigerweise - von Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) neu gestaltet worden ist, 149 an die Durchquerung des ebenfalls Schin- 144 Vgl. zur Situierung beispielsweise KPL1888, Planquadrat L6 oder SIN1882. 145 Vgl. hierzu Stefan Merz und Marian Volmer: Der Umgang mit persistenten Elementen am Beispiel der Stralauer Halbinsel. In: Geographische Exkursionen in Berlin. Teil 2. Hrsg. von Marlies Schulz. Berlin 2004 (= Arbeitsberichte. Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin; Heft 97), S. 47-62, hier S. 47-48. 146 Vgl. hierzu ebd., S. 48. Auf der Halbinsel Stralau sind zunächst elf Gehöfte entstanden, deren Einwohner vom Fischfang gelebt haben. Bis ins 19. Jahrhundert hinein sind auf Stralau nie mehr als 76 Einwohner ansässig, erst 1840 verdoppelt sich die Einwohnerzahl auf 150, nachdem Stralau zu einem beliebten Aus ugsziel geworden ist. (Vgl. ebd., S. 48.) 147 Vgl. dazu Katharina Grätz: Landpartie und Sommerfrische, S. 90. Grätz belegt diese Funktion des Wassers am Beispiel der berühmten weihnachtlichen Schlittenfahrt E s: „Hier zeigen sich plötzlich Lücken und Untiefen in der bürgerlichen Erfahrungswelt. Sie machen den Ehebruch, den Bruch mit den bürgerlichen Konventionen, sichtbar als Verlust von räumlicher Geschlossenheit, Verlässlichkeit und Kontinuität.“ (Ebd., S. 90.) Auch das Kennenlernen von Lene Nimptsch und Botho v. Rienäcker im Roman „Irrungen, Wirrungen“ ndet auf dem Wasser zwischen Stralau und Treptow während einer Bootsfahrt statt. Diese vermag einerseits gesellschaftliche Schranken aufzuheben, andererseits verbinden sich Leidenschaft und drohender Untergang geschickt miteinander. (Vgl. IW, S. 14.) 148 Die mittelalterliche Dorfkirche Stralaus wird 1464 als Feldsteinkirche erbaut. Beim alljährlichen Hochwasser ist die Kirche stets durch ein Rinnsal vom Dorf getrennt, weshalb der Dorfpfarrer jedes Jahr von seiner Gemeinde einen einzelnen Stiefel zum Überqueren ebenjenes Rinnsales geschenkt bekommt. Im Jahr 1823 wird die Sanierung des Kirchturms durch ein zufällig aufgefundenes Sparbuch nanziert, weil Zins und Zinseszins so hoch sind, dass sie die gesamten Kosten abdecken. (Vgl. Stefan Merz und Marian Volmer: Der Umgang mit persistenten Elementen am Beispiel der Stralauer Halbinsel, S. 50.) 149 Fontane glaubt dies, wie man einer Notiz in den ‚Wanderungen‘ entnehmen kann. (Vgl. W1, S. 114.) Er unterstreicht, „daß die herrlichen Gegenden des Südens [...] [Schinkel] nicht unempfänglich für die Reize seiner märkischen Heimat gemacht hatten. Er verachtete unsere Landschaft keineswegs, wie so viele tun, die sich dadurch das Ansehen feineren Kunstverständnisses zu geben vermeinen. Neben Palermo und Taormina malte er „die Oderufer bei Stettin“ und selbst „Stralau und die Spree“ erschienen seinem Künstlerauge nicht zu gering.“ (W1, S. 111.) <?page no="159"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 147 kelschen Schwibbogens 150 zwischen Kronprinzen- und Kronprinzessinnenpalais. Damit wird nicht nur erneut die zukünftige Verbindung zwischen Prinzessin Melanie (Vgl. 7) und Prinz Rubehn (Vgl. 40) alludiert, sondern auch über die Stralauer Dorfkirche mit der Verleugnungssemantik des Petrus verknüpft. 151 Van der Straaten und Rubehn hörten schon von Ferne her das Bravoklatschen und klatschten lebhaft mit. Und nun erst wurde man ihrer ansichtig, und Melanie sprang auf und warf ihrem Gatten, wie zur Begrüßung, einen der großen Bälle zu. Aber sie hatte nicht richtig gezielt, der Ball ging seitwärts und Rubehn ng ihn auf. Im nächsten Augenblicke begrüßte man sich und die junge Frau sagte: „Sie sind geschickt. Sie wissen den Ball im Fluge zu fassen.“ „Ich wollt’, es wäre das Glück.“ „Vielleicht ist es das Glück.“ (62) Der Kommerzienrat erkennt hierin sogleich eine erotische Anspielung 152 und droht damit, der mutmaßlichen Verlobten Rubehns Meldung zu machen. Hiermit konstituiert sich erneut ein Quartett mit seinen erotischen Implikationen. 153 Augenscheinlich sieht Van der Straaten weniger seine Ehe, als vielmehr Rubehns Verlobung gefährdet und verkennt damit die Zuneigung zwischen seiner Ehefrau 150 Unterstützt wird diese Lesart durch das Fontane wohlbekannte Schinkelsche Gemälde „Spreeufer bei Stralau“ (1817). (Vgl. W1, S. 111. Das Gemälde ist online einsehbar unter http: / / www.karlfriedrichschinkel.de/ malerei/ spreeufer.html (letzter Zugri : 20.02.2023).) Es zeigt aus einem Schwibbogen (sic! ) heraus das Ablegen einer Jolle mit drei Insassen und gibt dabei den Blick auf die Stadt frei [...], die ußabwärts, im roth- und golddurchglühten Dunst eines heißen Sommertages dal[iegt]. (64-65) 151 „Der im Jahre 1240 zuerst urkundlich genannte Ort Stralow ist - wenigstens dem Berliner - von dem noch bis vor wenige Jahre jedesmal am 24. August statt ndenden großen Volksfeste, dem großen Stralauer Fischzuge, her bekannt. Dieser ist aber ohne Zweifel ein stark profanirtes Ueberbleibsel des Kirchweihfestes. Da nun der 24. August dem hl. Bartholomäus geweiht ist, so können wir mit einiger Sicherheit darauf schließen, dass dieser, neben dem hl. Petrus, der Patron der Fischer, auch derjenige der Kirche gewesen ist.“ (Archiv für Kirchliche Baukunst und Kirchenschmuck. Organ für die Gesammtinteressen der Kirchl. Kunst. Hrsg. von Theodor Prüfer. Berlin 1877, S. 59. Vgl. zur hier anklingenden Bartholomäusmotivik auch den nachfolgenden Abschnitt 3.3.1, insbesondere Seite 178 dieser Arbeit.) 152 Das erotische Moment kommt auch in der Ankunftszeit - [e]s schlug fünf, als unsre Fußgänger das Dorf erreichten[.] (60) - zum Ausdruck, denn die Zahl Fünf steht in der Symbollehre für eine erotische Annäherung. (Vgl. hierzu Jan Mohr: Fünf / Fünfzig. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 118-119, hier S. 119.) 153 Vgl. hierzu Seite 87 dieser Arbeit. <?page no="160"?> 148 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt und dem Hausgast. Wenn er droht, ausgerechnet den Polizeirat Rei in con dentieller Mission abschicken (62) zu wollen, obwohl er diesen kurz zuvor als gänzlich inkompetent bloßgestellt hat, 154 deutet dies seine eigene Unfähigkeit voraus, die spätere A äre zwischen seiner Ehefrau und dem Hausgast zu erkennen. Die Ballwurf-Szene wird in der Forschung kontrovers diskutiert und häu g negativ bewertet: Zeitz zufolge „verrät [diese] den Debütanten Fontane, der allzu viel prätentiösen Tiefsinn in einen banalen Ballwurf hineingeheimnisst und ihn verhältnismäßig überfrachtet.“ 155 Auch Brinkmann meint in ihm ein „Hereinspuken des Schicksals“ 156 zu erkennen, während Mittenzwei die „penetrante Deutlichkeit“ 157 des Ballwurfs durch Van der Straatens „ironisch-wohlwollende Reaktion“ 158 retuschiert sieht. Mir erscheint die Szene hingegen geschickt komponiert, weil jener Wurf gleich mehrere Bedeutungshorizonte erö net: In seiner „Psychopathologie des Alltagslebens“ (1904) greift Sigmund Freud auf ebenjene Ballszene zurück, in der Melanie den Ball vermeintlich versehentlich ihrem späteren Liebhaber und nicht ihrem Ehemann zuwirft. 159 Freud erkennt hierin eine „keimende Neigung“, 160 154 Nichtsdestoweniger sprach er unter Husten und Lachen weiter und erging sich in Vorstellungen Rei ’scher Großthaten. „In politischer Mission. Wundervoll. O lieb Vaterland, kannst ruhig sein. Aber einen kenn’ ich, der noch ruhiger sein darf: er, der Unglückliche, den er sucht. Oder sag’ ich gleich rundweg: der Attentäter, dem er sich an die Fersen heftet.“ (59-60) 155 Gottfried Zeitz: Die poetologische Bedeutung des Romans „L’Adultera“ für die Epik Theodor Fontanes, S. 140. 156 Richard Brinkmann: Theodor Fontane. Über die Verbindlichkeit des Unverbindlichen. Tübingen 1977 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; Band 19), S. 137. 157 Ingrid Mittenzwei: Die Sprache als Thema. Untersuchungen zu Fontanes Gesellschaftsromanen. Bad Homburg 1970 (= Frankfurter Beiträge zur Germanistik; Band 12), S. 40. 158 Ebd., S. 40. 159 Vgl. Sigm.[und] Freud: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Vierter Band. Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte Prinzessin Georg von Griechenland hrsg. von Anna Freud, E.[dward] Bibring, W.[illi] Ho er und E.[rnst] Kris. London 1941, S. 196. 160 Ebd., S. 196. Garland spricht daher auch von einem „physical Freudian slip“. (Henry Garland: The Berlin Novels of Theodor Fontane, S. 55. Vgl. hierzu ähnlich Dagmar Schmauks: Zeichen, die lügen - Zeichen, die ausplaudern. Linguistische und semiotische Einsichten im Romanwerk Theodor Fontanes. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Sprache, Ich, Roman, Frau. Band 2. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger. Würzburg 2000 (= Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.-17. September 1998 in Potsdam), S. 41-54, hier S. 50; Antje Harnisch: Keller, Raabe, Fontane, S. 139 sowie Norbert Mecklenburg: Theodor Fontane, S. 17.) <?page no="161"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 149 die zur Leidenschaft wächst. Im Roman „Der Stechlin“ wird Fontane das Motiv fortschreiben, denn hier wird das Spiel mit dem „Ballbecher“, (DS, S. 129.) genauer das Ballfangen, zum synonym für das Verliebtsein: „„[...] Und ich habe auch schon zwölfmal gefangen.“ „Wen? “ „Nun natürlich den Ball.“ „Ich glaube, du ngst lieber wen anders. [...] Du bist verliebt.““ (DS, S. 129.) Anders konnotiert liest Benita von Heynitz den Ballwurf im Sinne der Kreissymbolik als „Aufhebung der Dualität“, 161 hier entsprechend des kommerzienrätlichen Ehepaares. Diese These lässt sich textanalytisch dahingehend untermauern, dass der Kommerzienrat sein Außenvorsein bereits selbst eingeräumt hat, als Melanie „[...] zwei Lebenskreise [...]“ (21) zählt: „[...] Ehemänner zählen überhaupt nicht mit. Und wenn sie sich darüber wundern, so machen sie sich ridicül. [...]“ (21) Außerdem gilt der Ball als Symbol des Schicksals und der ‚Ball des Glücks‘ symbolisiert die „Wechselhaftigkeit des Lebens“. 162 Auch hierauf hat Van der Straaten bereits hingewiesen, als er beim winterlichen Frühstück den Ehebruch prophezeit: „[...] Aber heute roth und morgen todt. Das heißt, Alles wechselt im Leben. [...]“ (14) In diesem Zusammenhang können die Strippenballons (Vgl. 61) als gleichsam eingehegte Form des Balls gelesen werden - so wie sich Melanie in ihrer Ehe zu zwingen versteht (Vgl. 46) -, während die Gummibälle (61) in ihrer Flexibilität unkontrollierbar erscheinen. Dass nach dem Ballkauf, gerade an der Würfelbude, (Vgl. 61) jedoch nur noch der Einsatz der Gummibälle erzählerisch besprochen wird, während der weitere Verbleib der Strippenballons eine Leerstelle bildet, bezeugt erneut den Kontrollverlust des Kommerzienrats zugunsten ebenjener Wechselhaftigkeit, wobei in dieser Lesart die Ballwurfszene selbst lediglich die Richtung markiert, in die sich der Wechsel entwickeln wird, nämlich als Austausch Van der Straatens durch Rubehn. Der Eindruck eines Für Mecklenburg liegt zusätzlich „die Assoziation zu [einem] ‚Seitensprung‘“ (Ebd., S. 17.) nahe, weil der Ball seitwärts (62) geht. Die Frage jedoch, ob eine dahingehende Terminologie zur Romanzeit bereits etabliert ist, lässt er o en. In zeitgenössischen Ausgaben - bis 1920 - von Georg Büchmanns ‚Ge ügelten Worten‘ lassen sich beispielsweise keine dahingehenden Anhaltspunkte nden. 161 Benita von Heynitz: Literarische Kontexte von Kate Chopins The Awakening , S. 165. Von Heynitz belegt dies ausführlich am Beispiel einer Ringrückgabe in Kate Chopins Roman „The Awakening“. Hieraus ergibt sich eine weitere Parallele zu Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“, in dem die Kreissymbolik ebenfalls von Bedeutung ist. (Vgl. zu Goethes Kreissymbolik ausführlich Peter von Matt: Das Wilde und die Ordnung. Zur deutschen Literatur. München 2007, S. 37.) 162 Jürgen Link: Kugel / Ball. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 196-197, hier S. 196. <?page no="162"?> 150 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt potentiellen Partnerwechsels wird zusätzlich verstärkt, wenn sich in der Folge die Lagerstelle [...] in einen Spielplatz verwandelte. (62) Die Reifen, die Bälle ogen, und da die Damen ein rasches Wechseln im Spiele liebten, so ging man, innerhalb anderthalb Stunden, auch noch durch Blindekuh und Gänsedieb und „Bäumchen, Bäumchen, verwechselt euch.“ Das Letztere fand am meisten Gnade, besonders bei Van der Straaten. (62) Allgemein gehört das Spiel in die Sphäre des Freiraums für „unkonventionelle, unsinnige, unvernünftige oder moderat-unmoralische Verhaltensweisen“. 163 Dies wird manifest, wenn die Spiele ganz im Zeichen der randständigen Künstler stehen und Elimar überdies noch Akrobat (100) ist, womit er einer weiteren Personengruppe angehört, die traditionell außerhalb gesellschaftlicher Normen und der etablierten Ordnung steht. 164 Vielsagend ndet gerade dasjenige Spiel, bei dem es sich im übertragenen Sinne um einen Partnertausch dreht, 165 allgemein und insbesondere beim Kommerzienrat am meisten Gnade[.] (62) 166 So verkörpert er während der Spiele auf der Stralauer Wiese den Ehetölpel, der gleichsam als ‚Gänsedieb‘ beim Paarspiel übrig bleibt und wie die ‚Blindekuh‘ nichts sieht, 167 so dass sich hier sein späteres Schicksal abbildet. 163 Dorothea Kühme: Bürger und Spiel. Gesellschaftsspiele im deutschen Bürgertum zwischen 1750 und 1850. Frankfurt am Main, New York 1997 (= Historische Studien; Band 18), S. 16. Unterstrichen wird dieser Eindruck, weil die Landpartie im Allgemeinen Gelegenheit gibt, sich „den Konventionen der Gesellschaft eine Zeitlang [zu] entziehen.“ (Rolf- Peter Janz: Literarische Landschaftsbilder bei Fontane. In: Fontane, Kleist und Hölderlin. Literarisch-historische Begegnungen zwischen Hessen-Homburg und Preußen- Brandenburg. Hrsg. von Hugo Aust, Barbara Dölemeyer und Hubertus Fischer. Würzburg 2005 (= Fontaneana; Band 2), S. 95-105, S. 95.) 164 Vgl. Seite 101 dieser Arbeit. 165 Bei diesem Spiel müssen sich die Teilnehmer zunächst einen Baum aussuchen und diesen dann auf Kommando verlassen, um sich einen neuen Baum zu suchen. Die Wendung „Bäumchen, Bäumchen, verwechselt euch“ hat sich daher als Terminus eingebürgert, um ein unstetes Liebesleben mit häu gem Partnerwechsel zu bezeichnen. (Vgl. dazu exemplarisch Moritz Schnizlein: Patchworkfamilien in der Spätantike. Göttingen 2012 (= Hypomnemata; Band 191), S. 20.) 166 Die Nutzung der Begri ichkeit Gnade (62) kann im Sinne einer Vorausdeutung des positiven Romanausgangs interpretiert werden, der auf Van der Straatens Nachsicht und Milde (161) zurückzuführen ist. 167 Vgl. Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 212 und 222. <?page no="163"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 151 Die erotische Gefährdung des Blindekuhspiels ist allgemein bezeugt, 168 weshalb ebenjenes kulturhistorisch „zum Symbol der Untreue, der Verantwortungs- und Sittenlosigkeit“ 169 sowie zum Sinnbild fürs „Betrügen und Betrogenwerden“ 170 geworden ist. Das erotische Moment des Spiels ergibt sich aus seiner Ambivalenz zwischen Sehen, Nicht-Sehen und der gespannten Erwartung einer möglichen körperlichen Interaktion: 171 Der Sehende setzt sich der Gefahr aus, vom ‚Jäger‘ erhascht zu werden, sucht das ‚Erhascht werden‘ jedoch gleichzeitig zu vermeiden. 172 Kommt es jedoch dazu, wird das erotische Potential des Spiels voll entfaltet. Dies weiß auch der Erzähler zu berichten, denn auf dem Weg zum Ka eehaus hängt Anastasia süßen Fragen und Vorstellungen nach, denn Elimar hatte beim Blindekuh, als er sie haschte, Worte fallen lassen, die nicht mißdeutet werden konnten. [...] Und sie bückte sich wieder, um (zum wie vielten Male! ) an einer Wiesenranunkel die Blätter und die Chancen ihres Glücks zu zählen. (63) Erneut werden so romanintern Liebe und Glück gleichgesetzt und mit dem Spiel in Verbindung gebracht. 3.2.2 Löbbeke’s Kaffeehaus Nach den Spielen auf dem Wiesenplan kehrt die Landpartie-Gesellschaft nun, wie vom Kommerzienrat ursprünglich geplant, in Löbbeke’s Ka eehaus (63) ein. Jene Bezeichnung erscheint für Stralau untypisch und deshalb bemerkenswert, da Stralau seinerzeit mehr für seine Wirts-, denn Ka eehäuser bekannt ist. 173 Gerade 168 Vgl. Dorothea Kühme: Bürger und Spiel, S. 184. 169 Ebd., S. 184. Um der allgemeinen Sittenlosigkeit entgegenzuwirken, werden in den Jahren zwischen 1750 und 1850 Varianten des Blindekuhspiels erfunden, um dieses in „sittsamere“ (Ebd., S. 184.) Bahnen zu lenken. Im Roman „L’Adultera“ hingegen wird das Erhaschen zum intimen Moment. (Vgl. 63) 170 Dorothea Kühme: Bürger und Spiel, S. 172. 171 Vgl. ebd., S. 176. 172 Vgl. ebd., S. 173. 173 Im Schnitt gibt es seinerzeit in jedem zweiten Stralauer Gebäude ein Wirtshaus. (Vgl. hierzu Stefan Merz und Marian Volmer: Der Umgang mit persistenten Elementen am Beispiel der Stralauer Halbinsel, S. 48.) Zumal das Inventar des Ka eehauses mit seiner biersäuerlichen (63) Luft und den Likör aschen (64) vielmehr dem eines Wirtshauses entspricht. <?page no="164"?> 152 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt das Ka eehaus vermag es jedoch geschickt einen Verweis auf das bisherige mit einem Ausblick auf das zukünftige Handlungsgeschehen zu verknüpfen: Erstens gelten in ihm nicht nur die Sitten als vergleichsweise gelockert, so dass Van der Straatens zwangloser Ton antizipiert wird, 174 den er alsbald zum Verdruss seiner Ehefrau anschlagen wird, (Vgl. 71-72) sondern es verweist gleichzeitig auf die Ka eehausatmosphäre des winterlichen Frühstücks in der Großen Petristraße mit ihren Zweideutigkeiten und Frivolitäten seitens des Kommerzienrats. Zweitens klingt durch den arabischen Ursprung des Genussmittels Ka ee und die Tatsache, dass die ersten Ka eehäuser im Osmanischen Reich entstanden sind, 175 die sich in Kürze etablierende Orientsymbolik an. Drittens ist das erste Ka eehaus des Okzidents ein venezianisches, 176 wodurch erneut die etablierten Venedigbezüge der Handlung aufgegri en werden. Während zuvor Elimar an der Tête (63) geht, setzt sich nunmehr Van der Straaten beim Betreten des Ka eehauses selbst an die Spitze des Zuges (63): „Attention! “ rief er und bückte sich, um sich ohne Fährlichkeit durch das niedrige Thürjoch hindurch zu zwängen. Und Alles folgte seinem Rath und Beispiel. (63) Dies kündigt bereits eine mit dem Kommerzienrat in Zusammenhang stehende Gefahr an, denn der Besuch ist ein von ihm vorgesehener Programmpunkt und steht außerdem unter seiner Führung. Wird das Ka eehaus zunächst vom Erzähler mit dem Pfe erkuchenhaus im Märchen (60) verglichen, 177 ergibt das Innere ein anderes Bild: 174 Vgl. hierzu ebenso Seite 43 dieser Arbeit. 175 Vgl. dazu beispielsweise Gerhart Söhn: Kleine Ka ee-Kunde. 3. erweiterte und verbesserte Au age. Hamburg 1957, S. 13-15. 176 Vgl. ebd., S. 15. 177 Den Vergleich mit dem Pfe erkuchenhaus erkennt Nina Hirschbrunn zutre end als eine Analogie zum Märchen „Hänsel und Gretel“. (Nina Hirschbrunn: „Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.“, S. 243.) Warum sie dessen Funktion als einer „todbringende[n] Falle“ indes auf Melanie überträgt, die „keine Möglichkeit zur Flucht“ (Ebd., S. 243.) habe, erschließt sich nicht, da im Märchen einzig die Hexe Schaden davonträgt, so wie im Ka eehaus einzig Van der Straatens Ehe Schaden nehmen wird. Überdies besteht im Märchen gerade eine akute Lebensgefahr für Hänsel, die in Zusammenarbeit mit Gretel auf Kosten der Hexe gemeistert werden kann, so wie sich Rubehn im Roman durch seine Annäherung an Melanie und dem daraus folgenden Ehebruch der Möglichkeit eines Duells aussetzt, schlussendlich aber mit Melanie auf Kosten Van der Straatens davonzieht. Hirschbrunn liest den Märchenvergleich außerdem als ein kindliches Setting für die Spiele, (Vgl. ebd., S. 243.) übersieht dabei jedoch, dass diese aus heutiger Sicht nur für Kinder geeigneten Spiele im 19. Jahrhundert vornehmlich von Erwachsenen gespielt werden. (Vgl. hierzu Dorothea Kühme: Bürger und Spiel, S. 310.) <?page no="165"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 153 Drinnen waren ein paar absteigende Stufen, weil der Flur um ein Erhebliches niedriger lag, als die Straße draußen, weshalb denn auch den Eintretenden eine dumpfe Kellerluft entgegenkam [...]. In der Mitte des Flurs sah man nach rechts hin eine Nische mit Herd und Rauchfang, einer kleinen Schi sküche nicht unähnlich[.] (63-64) Bereits das dezidiert wasserblau[e] Schilde (61) auf dem „Löbbeke’s Ka eehaus“ zu lesen war[,] (61) gibt einen Hinweis auf die Nähe zum Element Wasser. 178 Die zur Ka eehaus-Atmosphäre hinzutretende Schi sartigkeit ist dem Leser ebenfalls bereits beim winterlichen Frühstück in der Stadtwohnung begegnet, als der Kommerzienrat in seinem Schaukelstuhl (8) sitzend - selbigen bringt Fontane mit dem Aufenthalt auf hoher See in Zusammenhang 179 - lockere Umgangsformen p egt. Die Schi sartigkeit des Ka eehauses erinnert daneben an den durch Van der Straaten im Rahmen des gesteigerten Wagner-Cultus (56) geäußerten Wunsch „mit von der Schi smannschaft des iegenden Holländers zu sein“[.] (56) Wie bereits geschildert, 180 wird Kapitän van Stratens Ver uchung dadurch ausgelöst, dass er eingangs seine Frau verspielt. Gleich dem ‚Fliegenden Holländer‘ setzt auch Van der Straaten seine Ehe aufs Spiel, indem er den Hausgast einlädt. 181 Zu meiner These passt Gerhard Friedrichs Erkenntnis, dass die Annäherung zwischen Rubehn und Melanie von Anfang an im Zeichen der Glücksspielmotivik steht, (Vgl. 19) 182 welches auf der Stralauer Wiese kulminiert, wo der Ball scheinbar versehentlich Rubehn statt Van der Straaten zugeworfen wird. Des Weiteren ist der Landpartie im Allgemeinen nicht nur der Doppelsinn von „eine 178 Es sei angemerkt, dass ‚Beke‘ im Niederdeutschen Bach bedeutet. (Vgl. Hermann Böning: Plattdeutsches Wörterbuch für das Oldenburger Land. 3. Au age. Dinklage 1984, S. 8.) 179 Vgl. hierzu Fußnote 57 auf Seite 45 dieser Arbeit. 180 Vgl. Seite 85 dieser Arbeit. Während der ‚Fliegende Holländer‘ bei Richard Wagner den Namen ‚Vanderdecken‘ trägt, ist im 19. Jahrhundert der gängigste Name ‚Tyn van Straten‘. 181 Hierbei sei an zwei Bemerkungen Melanies aus dem Dunstkreis des Spielermilieus erinnert: „[...] Ich wette die Robe, die du mir heute noch kaufen wirst [...]“ (8) sowie ihr Fazit bezüglich der geplanten Einquartierung Rubehns: „Eh bien, Ezel. Faisons le jeu. [...]“ (19. Vgl. dazu auch Seite 85 dieser Arbeit.) 182 Vgl. Gerhard Friedrich: Das Glück der Melanie van der Straaten, S. 374-377. Die Nähe von Spielsemantik und Glückssemantik wird Fontane beispielsweise im Roman „Irrungen, Wirrungen“ fortschreiben. (Vgl. hierzu ausführlicher Stefan Willer: Gesellschaftsspiele. Fontanes Irrungen, Wirrungen . In: Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane. Hrsg. von Peter Uwe Hohendahl und Ulrike Vedder. Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien 2018 (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae; Band 229), S. 123-141, hier S. 130-132.) <?page no="166"?> 154 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Partie machen“ 183 eingeschrieben, sondern gleichfalls eine Spielsemantik im Sinne von „eine Partie spielen“. 184 Dieser Zusammenhang zwischen Spiel und Partie lässt sich auch im Roman „L’Adultera“ erkennen, denn die vertiefte Zuneigung zwischen Melanie und Rubehn ndet in Stralau im Rahmen eines Ballspiels und den sich anschließenden intrikaten Wortspielereien (62) ihren Ausdruck. Am Ausgange des Flurs zeigte sich eine noch niedrigere Hofthür und dahinter kam ein Garten, drin, um kümmerliche Bäume herum, ein Dutzend grüngestrichene Tische mit schrägangelehnten Stühlen von derselben Farbe standen. Rechts lief eine Kegelbahn, deren vorderstes unsichtbares Stück sehr wahrscheinlich bis an die Straße reichte. (64) Van der Straaten weist ironisch auf die kümmerlichen Dinge des Ka eehauses hin und thematisiert damit gleichsam unterschwellig die De zite seiner Ehe, denn die Verknüpfung zwischen Ka eehaus und kommerzienrätlicher Ehe ist bereits etabliert. 185 Er steigt eine kleine Schrägung nieder, die, von dem Sommergarten aus, auf einen großen, am Spree-Ufer sich hinziehenden und nach Art eines Treibhauses angelegten Glas-Balcon führte. An einer der o enen Stellen desselben rückte die Gesellschaft zwei, drei Tische zusammen und hatte nun einen schmalen, zerbrechlichen Wassersteg und links davon ein festgeankertes, aber schon dem Nachbarhause zugehöriges Floß vor sich, an das die kleinen Spreedampfer anzulegen p egten. Rubehn erhielt ohne Weiteres den besten Platz angewiesen, um als Fremder den Blick auf die Stadt frei zu haben, die ußabwärts, im roth- und golddurchglühten Dunst eines heißen Sommertages dalag. (64-65) Hiermit wird nicht nur das typische Inventar eines Vergnügungslokals beschrieben, 186 sondern zum anderen umfänglich auf das künftige Handlungsgeschehen verwiesen: Die erwähnte Kegelbahn kann gleichsam als „Schicksalslinie“ (DS, 183 Milena Bauer: Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes, S. 230. 184 Vgl. zur ‚Partie‘ als Begri mit Spielsemantik Stefan Willer: Gesellschaftsspiele, S. 126. Im Roman „Irrungen, Wirrungen“ macht Botho während der Landpartie „gute Miene zum bösen Spiel“ (IW, S. 90.) und verspielt damit seine Liebe zu Lene. (Vgl. ausführlicher Sylain Guarda: Fontanes travestierte ‚Pucelle‘: ‚Irrungen, Wirrungen? ‘ In: German Studies Review 30 (2007), S. 503-515, hier S. 508.) 185 In diesem Kontext können auch die dumpfe Kellerluft (63) sowie die kümmerliche[n] Bäume (74) verstanden werden. 186 Vgl. Ruth Westermann: Gastlichkeit und Gaststätten bei Fontane. In: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 20 (1969), S. 49-57, hier S. 53. <?page no="167"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 155 S. 99.) gelesen werden und deutet voraus, dass sich im Ka eehaus das Schicksal der Eheleute entscheiden wird, 187 wobei die Fragilität der kommerzienrätlichen Ehe über den zerbrechlichen Wassersteg (65) nochmals versinnbildlicht wird. 188 Unterstützt wird diese Lesart, wenn der Kommerzienrat eine kleine Schrägung (64) niedersteigt und hiermit „sein Verlassen des gesellschaftlich angemessenen Verhaltens“ 189 vorwegnimmt, während der treibhausartige Glasbalkon den späteren Ehebruch im Palmenhaus antizipiert. 190 Hierin erschöpfen sich jedoch nicht die Parallelen zum späteren Ehebruch im Treibhaus, denn diese werden durch den Blick auf die Stadt [...] im roth- und golddurchglühten Dunst eines heißen Sommertages (65) ergänzt. So kommt im Ausblick der Landpartie-Gesellschaft nicht nur erneut die Fixierung auf die Stadt zum Ausdruck, sondern jener prä guriert zugleich die Hitze im Treibhaus während des Ehebruchs. Dabei verbindet die Kombination aus rot[h] und gold[...] (65) Erotik mit der Sakralität der Liebe 191 und nimmt so das kirchliche Setting des Treibhauses (Vgl. 93) vorweg, zumal Rubehn den besten Platz angewiesen (65) bekommt, um den Blick frei zu haben[: ] (65) Alles freute sich des Bildes, und Van der Straaten sagte: „Sieh, Melanie. Die Schloßkuppel. Sieht sie nicht aus wie Santa Maria Saluta? “ 192 187 Der unsichtbare Teil der Kegelbahn kann dementsprechend als Persi age auf den vom Kommerzienrat für prädestiniert erachteten Ehebruch gelesen werden, denn er selbst führt durch seine nachfolgenden Frivolitäten (Vgl. 70-72) die völlige Zersetzung seiner Ehe aktiv herbei, so dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt des Romangeschehens der weitere Eheverlauf als noch nicht nal xiert erscheint. 188 Man vergleiche im Unterschied hierzu die „„[...] Landungsbrücke bei Tübbecke’s [...]““ (IW, S. 19.) in „„[...] Stralau [...]““ (IW, S. 19.) im Roman „Irrungen, Wirrungen“. Hierin zeigt sich, wie Fontane seine Schauplätze erzählstrategisch variiert, um sie den jeweiligen narrativen Erfordernissen anzupassen. 189 Nina Hirschbrunn: „Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.“, S. 243. In Analogie hierzu können gleichfalls die schrägangelehnten Stühl[e] (64) gelesen werden. 190 Vgl. Christian Grawe: Führer durch Fontanes Romane, S. 301. 191 Vgl. allgemein zur Verknüpfung von Gold mit der Sakralität der Liebe Peter von Matt: Liebesverrat, S. 19. Hier sei auch auf die ‚Wahlverwandtschaften‘ und Ottilies Erscheinungsbild unmittelbar vor ihrem Zusammentre en mit Eduard am See verwiesen: „Und eben el ein röthliches Strei icht der sinkenden Sonne hinter ihr her und vergoldete Wange und Schulter.“ ( Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften, S. 356.) 192 Zunächst vergleicht Fontane im Entwurf zum 9. Kapitel die Kuppel der Santa Maria della Salute mit der Schlosskuppel und den Kuppeln der „Gensdarmenthürme“. (Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 221.) In der endgültigen Fassung wird die Sicht auf die nach römischem Vorbild gebauten Gendarmentürme getilgt, was in der Romanlogik als folgerichtig erscheint, denn den Schauplätzen Venedig und Rom sind - wie sich später zeigen wird - divergierende Semantisierungen eingeschrieben. <?page no="168"?> 156 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt „Salutè“, verbesserte Melanie, mit Accentuirung der letzten Silbe. (65) Van der Straaten beherrscht zwar - dem Ciceronischen Ideal entsprechend 193 - das vergleichende Sehen, o enbart jedoch eine sprachliche Bildungslücke, auf die er zunächst betont gleichgültig reagiert und vielmehr seinen Fehler mit der scheinbar allgemeinen Unzuverlässigkeit der Italiener relativiert. 194 Zugleich richtet der Kommerzienrat seinen Vergleich dezidiert an seine Gattin und erinnert sie hierdurch an ebenjenen gemeinsamen Besuch in Venedig im Sommer des vergangenen Jahres, der sowohl Van der Straatens Eingebung bezüglich eines Ehebruchs seiner Frau sowie den Auftrag der ‚Adultera‘-Kopie zur Folge hat. So kann sein Vergleich mit der venezianischen Kirche Santa Maria della Salute 195 nach den intrikaten Wortspielereien (62) auf der Stralauer Wiese als Warnung gegenüber Melanie verstanden werden, insbesondere weil die Kuppel des Berliner Stadtschlosses 196 den Ausgangspunkt seines Vergleichs darstellt: Das Stadtschloss repräsentiert als Sitz des preußischen Königs, der seit der Reichsgründung im Jahr 1871 auch deutscher Kaiser ist, den Thron. Unter der Kuppel jedoch be ndet sich eine Kirche, 197 so dass sich in der Schloßkuppel (65) die Formel von „Thron und Altar, d[er] preußische[n] Einheit von Königtum und rigorosem Protestantismus“, 198 architektonisch manifestiert, die die Einhaltung der Ehetugenden sowohl gesellschaftlich als auch moralisch fordert. 193 Vgl. hierzu Christine Tauber: Jacob Burckhardts ‚Cicerone‘, S. 9 und 11. 194 „[...] Freilich muß ich sagen, so wenig zuverlässig die lieben Italiener in allem sind, so wenig sind sie’s auch in ihren Endsilben. [...]“ (65) Jene Behauptung ist vor dem Hintergrund der zuverlässigen Lieferung der ‚Adultera‘-Kopie durch den Venezianer Salviati (Vgl. 11) besonders fragwürdig und o enbart abermals Van der Straatens Denken in Kategorien und Klischees. 195 Die Kuppelkirche Santa Maria della Salute wird 1631-1687 erbaut und be ndet sich neben der Dogana di Mare am Ostende des Canal Grande. (Vgl. Karl Baedeker: Ober-Italien (1861), S. 149.) 196 Mit Van der Straatens Hinweis ist selbstverständlich das Berliner Stadtschloss gemeint. Jung sieht fälschlicherweise die Schlosskuppel als diejenige des Charlottenburger Schlosses. (Vgl. Winfried Jung: Bildergespräche, S. 138.) Dieses kann jedoch unmöglich von Stralau aus gesehen werden, wie Jung korrekt feststellt. Die Berliner Schlosskuppel mit ihrer Höhe von 70,6 Metern (Vgl. Karl Baedeker: Berlin und Umgebungen (1887), S. 67.) ist jedoch realtopographisch zur Romanzeit und nach ihrer historischen Rekonstruktion auch im Jahr 2016 von Stralau aus sichtbar. 197 Vgl. hierzu beispielsweise Friedrich Morin: Berlin und Potsdam im Jahre 1860. Neuester Führer durch Berlin, Potsdam und Umgebungen. Ein Taschenbuch für Fremde und Einheimische. Mit zwei Plänen. Berlin 1860, S. 164. 198 Christian Grawe: E Briest: Crampas und sein Lieblingsdichter, S. 370. <?page no="169"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 157 Weil in Stralau aufgrund seiner Wassernähe jener Elementarbereich seine normverletzenden Kräfte entfalten kann, 199 ist Van der Straatens Hinweis auf die Schlosskuppel durchaus berechtigt, zumal in Stralau die warnende Funktion der Cöllnischen Petrikirche entfällt, 200 während die parallele Petrussymbolik der Stralauer Dorfkirche aufgrund ihrer Sumpf-, Fischzug- und Bartholomäusbezüge vielfach unterminiert erscheint. 201 Unterstichen wird letzteres dadurch, dass die Dorfkirche in der Folge eine erzählerische Leerstelle bildet. Der Kommerzienrat ernennt nunmehr den Maler Arnold Gabler in seiner „[...] Eigenschaft als Gabler, zum Erbküchenmeister [...].“ (66) Indem sich Van der Straaten auf Gablers sprechenden Namen beruft, betont er gleichzeitig seinen eigenen und die damit einhergehenden Unerzogenheiten[.] (36) Bezüglich der Frage nach dem zu bestellenden Getränk erläutert der Kommerzienrat, dass er auf einen „[...] mitgeschleppte[n] Weinkeller [...]“ (66) verzichtet habe, weil man ansonsten „[...] in dem Kreise des Althergebrachten [bliebe], aus dem man ja gerade heraus will. Wozu macht man Partien? Wozu? frag’ ich. Nicht um es besser zu haben, sondern um es anders zu haben [...].“ (66) Damit legt der Erzähler in boshafter Weise ausgerechnet Van der Straaten die Beweggründe in den Mund, aus denen So konstatiert Grawe: „Thron und Altar, die preußische Einheit von Königtum und rigorosem Protestantismus, stellt für E die tödliche gesellschaftlich-moralische Instanz dar, vor deren Richterstuhl sie versagt und in deren Atmosphäre sie zu leben unerträglich ndet.“ (Ebd., S. 370.) 199 Allgemein löst sich auf dem Wasser „die Leidenschaft aus den Fesseln der sittlichen Begrenzung“. (Horst S. und Ingrid Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. 2. überarbeitete und erweiterte Au age. Tübingen 1995, S. 108.) 200 „Der Petri-Kirchturm [...], obwohl jetzo der höchste Berlins, verkleinert sich allmählich, da wir ihn immer weiter hinter uns lassen, indem wir die Stralauer-Straße abwärts gehen.“ (Original-Ansichten von Deutschland nach der Natur aufgenommen von Ludwig Rohbock, Carl Würbs u. a. In Stahl gestochen von Deutschen Künstlern. Mit einem historisch topographischen Text. 11. Band. Darmstadt 1853, hier Kapitel 7: Berlin (Die Michaeliskirche), S. 1.) 201 Vgl. hierzu die Fußnoten 134 und 151 auf den Seiten 143 und 147 dieser Arbeit sowie im Vorgri auf die sich noch entfaltende Bartholomäusmotivik Abschnitt 3.3.1, insbesondere Seite 178 und die dortige Fußnote 282. Vgl. daneben zur geologischen Situierung Stralaus die Geologische Karte von Preußen und benachbarten Bundesstaaten. Hrsg. von der königlich preußischen geologischen Landesanstalt. Berlin ab 1853 (= Geologische Spezialkarte von Preußen und den Thüringischen Staaten. Hrsg. vom königlich preußischen Ministerium für Handel, Gewerbe und ö entliche Arbeiten), Blatt Tempelhof (Nr. 1908, Neue Nr. 3546, erschienen 1878). Blatt Tempelhof ist online abrufbar unter: https: / / digital.ub.uni-potsdam.de/ co ntent/ titleinfo/ 78375 (letzter Zugri am 11.01.2023). <?page no="170"?> 158 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Melanie ihn für Rubehn verlassen wird: Sie möchte es nicht besser, sondern anders haben, (Vgl. 155, 157) denn sie hat „[...] feine Nerven für das was paßt und nicht paßt [,]“ (141) während der Ton Van der Straatens, absolut unerzogen, (36) „[...] immer unpassend [...]“ (76) ist und sie brüskiert. Elimar hatte mittlerweile dem Schauspiele der untergehenden Sonne zugesehn und auf dem gebrechlichen Wasserstege, nach Art eines Turners, 202 der zum Hocksprung ansetzt, seine Knie gebogen und wieder angestra t. Alles mechanisch und gedankenlos. Plötzlich aber, während er noch so hin und her wippte, knackte das Brett und brach, und nur der Geistesgegenwart, mit der er nach einem der Pfähle gri , mocht’ er es zuschreiben, daß er nicht in das gerad’ an dieser Dampfschi -Anlegestelle sehr tiefe Wasser niederstürzte. (67) Elimars Beinahesturz 203 illustriert im Zusammenhang mit der in Stralau unbegradigten Spree 204 die unkontrollierbare und subversive Form des ungebändigten Wassers als Elementargewalt. 205 Dabei steht seine rettende Geistesgegenwart (67) auch im Zusammenhang mit der Bewahrung vor einer Liebesbeziehung zu Anastasia, denn Elimar hat sich, wie der Erzähler berichten wird, auf der Stralauer Partie, weit über Wunsch und Willen hinaus engagirt[.] (98) Dieser Zwischenfall (67) wird selbstverständlich von einer Fülle von Commentaren und Hypothesen begleitet (67) und so hätte beispielsweise Melanie bei einem tatsächlichen Sturz den Kommerzienrat als Urheber der Partie (67) in der P icht gesehen nachzuspringen. Dieser verwahr[t] sich aber, unter Dank für das ihm zugetraute Heldenthum, gegen alle daraus zu ziehenden Consequenzen. Er [...] bekenne sich vielmehr, in allem was Heroismus angehe, ganz zu der Schule seines Freundes 202 Hierüber wird an die Kutschfahrt nach dem Abschiedsdiner erinnert, bei der Elimar mit einem Turnersprung auf den Kutschbock springt und die topographisch ganz im Zeichen einer sich anbahnenden Liebesbeziehung zwischen Rubehn und Melanie steht. 203 Hierin sieht Karen Bauer Melanies späteres Fallen vorausgedeutet. (Vgl. Karen Bauer: Fontanes Frauen guren. Zur literarischen Gestaltung weiblicher Charaktere im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main, Berlin, Bern 2002 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe I. Deutsche Sprache und Literatur; Band 1817), S. 102.) Diese These ist umso schlüssiger, da Elimar Melanie zugeordnet ist. (Vgl. 25) 204 Vgl. dazu auch Fußnote 133 auf Seite 143 dieser Arbeit. 205 Vgl. hierzu Fußnote 147 auf Seite 146 dieser Arbeit. <?page no="171"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 159 Heine, 206 der, bei jeder Gelegenheit, seiner äußersten Abneigung gegen tragische Manieren einen ehrlichen und unumwundenen Ausdruck gegeben habe. (68) Van der Straatens Bekenntnisse über tragische Manieren, die er ausdrücklich ablehnt, verweisen erneut auf den positiven Ausgang des Romans. 207 Melanie entgegnet ihrem Gatten: „Aber [...] tragische Manieren sind doch nun ’mal gerade das , was wir Frauen von Euch verlangen.“ „Ah, bah! Tragische Manieren! “ sagte Van der Straaten. „Lustige Manieren verlangt Ihr und einen jungen Fant, der Euch beim Zwirnwickeln die Docke hält und auf ein Fußkissen niederkniet, darauf sonderbarerweise jedesmal ein kleines Hündchen gestickt ist. Mutmaßlich als Symbol der Treue. Und dann seufzt er, der Adorante, der betende Knabe, und macht Augen und versichert Euch seiner innigsten Theilnahme. Denn ihr müßtet unglücklich sein. Und nun wieder Seufzen und Pause. Freilich, freilich, Ihr hättet einen guten Mann, (alle Männer seien gut) aber en n, ein Mann müsse nicht blos gut sein, ein Mann müsse sein Frau verstehen . Darauf komm’ es an, sonst sei die Ehe niedrig, so niedrig, mehr als niedrig. Und dann seufzt er zum dritten Mal. Und wenn der Zwirn endlich abgewickelt ist, was natürlich so lange wie möglich dauert, so glaubt Ihr es auch. Denn jede von Euch ist wenigstens für einen indischen Prinzen oder einen Schah von Persien geboren. Allein schon wegen der Teppiche.“ (68) Van der Straatens Ausführungen verhandeln seine Angst, die viel jüngere Frau an einen anderen, hier konkret jüngeren Mann, zu verlieren. Zudem sind seine 206 Horch sieht Van der Straatens „Heine-Verehrung“ (Hans Otto Horch: Von Cohn zu Isidor, S. 174.) dem Wagner-Enthusiasmus der Musikschwärmer entgegengesetzt. (Vgl. ebd., S. 174.) Dem kann hinzugefügt werden, dass Rubehn als Wagnerianer und Kriegsteilnehmer (Vgl. 52-53) Melanies Forderungen nach Heldenmut mehr entspricht als der dies ablehnende Kommerzienrat. Heide Eilert macht hingegen auf Gemeinsamkeiten zwischen dem Kommerzienrat und Fontane selbst aufmerksam, wie beispielsweise deren gemeinsame Vorliebe für Heinrich Heine (1797-1856). (Vgl. Heide Eilert: Im Treibhaus, S. 499.) 207 Van der Straaten ist als Zivilist nicht dem militärischen Ehrenkodex unterworfen, wodurch er sich beispielsweise von Baron v. Instetten unterscheidet. <?page no="172"?> 160 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Bemerkungen zum Orient 208 aufschlussreich, denn dieser gilt als Topos der Erotik und Metapher sexueller Freizügigkeit einerseits und anderseits als Topos der Gefahr. 209 Diese Ambivalenz erscheint ebenso im „[...] Hündchen[,] [...]“ (68) das nicht nur wie der Kommerzienrat betont, ein „[...] Symbol der Treue [...]“ (68) ist, sondern gleichzeitig auch ein Triebwesen verkörpert. 210 Melanie kommentiert ihres Gatten Ausführungen schnippisch (68) mit den Worten: „Ich weiß nicht, Ezel, warum Du beständig von Zwirn sprichst. Ich wickle Seide.“ (68) Hiermit ergibt sich ein weiterer Bezug zu Venedig, denn hier hat es Seide von nie wieder erreichter Feinheit gegeben, 211 so dass die Lagunenstadt abermals mit einem Ehebruch in Verbindung gebracht wird. Nach dem Essen wird es dämmerig (69) und mit der Dämmerung kam die Kühle. Gabler und Elimar erhoben sich, um aus dem Wagen eine Welt von Decken und Tüchern heran zu schleppen, und Melanie, nachdem sie den schwarz und weiß gestreiften Burnus umgenommen [...] hatte, sah reizender aus, als zuvor. Eine der Seidenpuscheln hing ihr in die Stirn und bewegte sich hin und her, wenn sie sprach, oder dem Gespräch der Andern lebhaft folgte. (69) Van der Straatens Verknüpfung von ehelicher Untreue mit dem Orient (Vgl. 68) wird erneut aufgegri en, wenn Melanie in der Folge einen Burnus trägt und 208 Vgl. zur grundsätzlichen Problematik der Begri e ‚Orient‘ oder ‚orientalisch‘, die eher europäische Vorstellungen im 19. Jahrhundert vom sogenannten Orient widerspiegeln Ludwig Ammann: Östliche Spiegel: Ansichten von Orient im Zeitalter seiner Entdeckung durch den deutschen Leser. 1800-1850. Hildesheim, Zürich, New York 1989, S. 29. 209 Vgl. Debra N. Prager: “Alles so orientalisch“: The Elaboration of Desire in Theodor Fontane’s E Briest (1896). In: Women in German Yearbook. Volume 29 (2013), S. 118- 141, hier S. 121. 210 Vgl. zur Symbolik des Hundes beispielsweise Peter von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur. München 1997, S. 200. Darüber hinaus erinnert die erneute Erwähnung an die übertrieben[e] Wachsamkeit (11) des Hundes während der Lieferung der venezianischen ‚Adultera‘-Kopie und verknüpft damit beide Szenen. 211 Vgl. hierzu Wolfgang Braunfels: Kleine italienische Kunstgeschichte. 80 Kapitel. Köln 1984, S. 357. Der wirtschaftliche Niedergang Venedigs im 17. Jahrhundert ist vor allem kostspieligen Kriegen sowie seiner Luxusindustrie, insbesondere der Seidenproduktion, geschuldet. (Vgl. hierzu ausführlicher Matthias Pfa enbichler: Venedig im 17. und 18 Jahrhundert. Das Ende der Republik. In: Venedig. Seemacht, Kunst und Karneval. Hrsg. von dems. Schallaburg 2011 , S. 79-83, S. 81.) <?page no="173"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 161 reizender (69) als zuvor aussieht. 212 Aufgrund der Polarzustände (70) 213 wird eine Glühweinbowle bestellt und von der Wirtin gebracht. Jene regt Elimar zu Vergleichen an: „Gott sei Dank, nun hab’ ich’s. Ich wußte doch, ich hatte sie schon gesehen. Irgendwo. Triumphzug des Germanicus; Thusnelda wie sie leibt und lebt.“ (70) Den Maler zu korrigieren fühlt sich der Kommerzienrat berufen und lässt dabei Skandalöses verlauten: „Ich kann es nicht nden,“ erwiderte Van der Straaten, der ein Piloty- Schwärmer war. „Und es stimmt auch nicht in Verhältnissen und Leibes- Umfängen, immer vorausgesetzt, daß man von solchen Dingen in Gegenwart unserer Damen sprechen darf. Aber Anastasia wird es verzeihen, und um den Hauptunterschied noch einmal zu betonen, bei Piloty giebt sich Thumelicus noch als ein Werdender, während wir ihn hier bereits an der Schürze seiner Mutter hatten. An der weißesten Schürze, die mir je vorgekommen ist. Aber sei weiß wie Schnee und weißer noch. Ach, die Verleumdung tri t Dich doch.“ (71) Karl von Piloty (1826-1886) hat im Jahr 1874 das Bild „Thusnelda im Triumphzug des Germanicus“ gemalt. Der Kommerzienrat geht fälschlicherweise davon aus, der Maler habe jene als Schwangere gezeichnet. 214 Seine Reimzeilen (71) sind dabei in einer absichtlich spöttischen Singsangmanier von ihm gesprochen worden, und Rubehn, dem es miß el, wandte sich ab und blickte nach links 212 Der Burnus ist ein Kapuzenumhang nach arabischer Art: (Vgl. GP, Anmerkungen, S. 309.) Die Verknüpfung zwischen Orient und Sexualität wird überdeutlich, wenn Melanie die Kapuze cokett in die Höhe (69) schlägt. Zugleich verweist die Präzisierung in die Höhe (69) auf den späteren Ort des Ehebruchs oben (93) in der Kuppel des Palmenhauses, gleichsam einer Art ‚künstlichem Orient‘. Die Seidenpuscheln (69) indes können als weitere Venediganspielung gelesen werden. Im Roman „Graf Petöfy“ wird Fontane das Motiv weiter fortschreiben: Franziska wird, gekleidet im „schwarz und weiß gestreiften Burnus“, (GP, S. 166.) ihren späteren Geliebten „Egon, i[m] Jagdrock [...]“ (GP, S. 167.) vom „Dampfer“ (GP, S. 167.) abholen. Hier verbinden sich die Motive Orient, Wasser und Jagd, wobei letzteres in „L’Adultera“ ebenfalls noch hinzutreten wird. 213 Vgl. zu den Polarzuständen als ironischen Verweis auf ein städtisches „Expeditionsgebaren“ Milena Bauer: Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes, S. 231. 214 Vgl. Christian Grawe: „Die wahre hohe Schule der Zweideutigkeit“, S. 206. Seine Schwärmerei für Piloty sieht Herman Meyer als Indiz für Van der Straatens fragwürdigen Kunstgeschmack. (Vgl. Herman Meyer: Das Zitat in der Erzählkunst, S. 173.) <?page no="174"?> 162 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt hin auf den von Lichtern überblitzten Strom. Melanie sah es und das Blut schoß ihr zu Kopf, wie nie zuvor. Ihres Gatten Art und Redeweise hatte sie, durch all die Jahre hin, viele hunderte von Malen in Verlegenheit gebracht, auch wohl in bittere Verlegenheiten, aber dabei war es geblieben. Heute zum ersten Male schämte sie sich seiner. (71) Lieselotte Voss geht von einer glücklichen Beziehung des Ehepaares aus und liest in den ersten Kapiteln „einen vergnüglichen und neckenden Ton“, 215 den die beiden miteinander gefunden hätten und schlussfolgert deshalb: „Melanie nimmt o enbar keinen Anstoß an van der Straatens Vorliebe für Frivolitäten.“ 216 Diese Einschätzung hat allerdings im Hinblick auf Melanies zahlreiche bittere Verlegenheiten (71) keinerlei Bestand, denn Van der Straatens Äußerungen fokussieren „beharrlich und auf peinliche Weise auf den weiblichen Körper und die weibliche Untreue [...], was im Beisein von Damen unerträglich war.“ 217 Zu seiner Verteidigung sei eingeräumt, dass Melanie im Burnus durch den Erzähler reizender, als zuvor (69) gezeichnet wird. Da unmittelbar zuvor die blonde Wirthin [...] mit Rubehn über den Tisch hin ein paar Blicke zu wechseln (70) sucht, mag der Kommerzienrat hierbei die erotische Anziehungskraft Rubehns auf die Frauenwelt (Vgl. 70, 74) erkannt haben und möglicherweise deshalb jener - gleichsam in Stellvertreterposition für Melanie - ein durch Ehebruch gezeugtes Kind andichten: Denn das ‚ge ügelte Wort‘ aus dem Kinderlied ‚Lämmchen weiß wie Schnee‘ unterstellt ein uneheliches Kind, 218 wobei jene zwei Reimzeilen (71) bei Rubehn Missfallen auslösen. Während Dirk Mende dieses als ein „sich ertappt fühlen“ 219 wertet, möchte ich dem eine andere Lesart entgegensetzen: Durch seine Herkunft als Frankfurter Patrizierkind (99) sowie Weltmann (51) kann Rubehn des „Berliner Tons“ (W7, S. 26.) wegen nur entsetzt sein. Denn Berlin, so schreibt Fontane in seinen ‚Wanderungen‘, sei weder eine Bürgernoch eine Patrizierstadt, (Vgl. W7, S. 24.) weshalb hier weder die „Politesse“ (W7, S. 25.) noch die Diskretion existiere. (Vgl. W7, S. 30.) Darüber hinaus ist Rubehn „[...] 215 Lieselotte Voss: Literarische Prä guration dargestellter Wirklichkeit bei Fontane, S. 155. 216 Ebd., S. 155. 217 Christian Grawe: „Die wahre hohe Schule der Zweideutigkeit“, S. 206. 218 Vgl. Herman Meyer: Das Zitat in der Erzählkunst, S. 164 sowie Gabriele Altho : Weiblichkeit als Kunst, S. 25. Dirk Mende bemerkt, dass hiermit das Schneebild aus der Großen Petristraße variiert wird. (Vgl. Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 216.) 219 Ebd., S. 245. <?page no="175"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 163 O zier [...]“ (40) und der O ziersstand gilt gemäß Fontane gleichsam als Schule für „aristokratisches Fühlen“. (W7, S. 19.) So kann sich Rubehn im Hinblick auf die hochnotpeinlichen Unterstellungen seines Berliner (32) Gastgebers nur genieren, 220 denn der Berliner Ton „ist der unfeinste Ton, den die Welt kennt“. (W7, S. 31.) Melanies Scham in Stralau, die ausdrücklich erst entsteht, als sie Rubehns Missfallen bemerkt, belegt, dass sie anfängt, „ihre Umwelt durch die Augen Rubehns wahrzunehmen, was typisch ist für den Sonderhorizont intimer Kommunikation.“ 221 Zugleich strahlt Van der Straatens Fehlverhalten auf seine Frau ab: ihr ist es peinlich, sie schäm[t] (71) sich seiner. 222 Doch der Kommerzienrat bemerk[t] nichts von dieser Verstimmung (71) und steigert Melanies Scham und Entrüstung erheblich durch weitere Vergleiche bezüglich der Stralauer Wirtin: 223 „[...] Wir haben hier [...] eine Vermählung von Modernem und Antikem: Venus Spreavensis und Venus Kallipygos. Ein gewagtes Wort, ich räum’ es ein. Aber in Griechisch und Musik darf man alles sagen. [...]“ (71-72) Obwohl Van der Straaten selbst die Gewagtheit seines Vergleiches einräumt, entsinnt er sich nun, zu seiner Rechtfertigung „[...] eines Distichons ... bah, da hab’ ich es vergessen ... Melanie, wie war es doch? Du sagtest es damals so gut und lachtest so herzlich. Und nun hast Du’s auch vergessen. Oder willst Du’s blos vergessen haben? ... Ich bitte Dich ... Ich hasse das ... Besinne Dich. Es war etwas von P rsichp aum und ich sagte noch ‚man fühl’ ihn ordentlich.‘ Und Du fand’st es auch und stimmtest mit ein ... [...]“ (72) 220 So konstatiert Fontane: „Immer wieder fühlt man sich durch seine Landsleute geniert, nicht weil man ein scharfes Auge für ihre Fehler hat, sondern weil sie in der großen Mehrheit wirklich genable sind.“ (W7, S. 18.) 221 Niels Werber und Esther Ruelfs: Techniken der Zeit- und Raummanipulation, S. 275. Vgl. hierzu ähnlich Gabriele Altho : Weiblichkeit als Kunst, S. 24. Als Beleg kann Melanies Farbwechsel von rot (Vgl. 71) nach weiß (Vgl. 72) in seiner Bedeutung als „Topos der Liebessymptomatik“ (Hans Jürgen Scheuer: Farben. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 95-98, hier S. 97.) angesehen werden. 222 Vgl. Georg Verweyen: Literarische Blamagen, S. 221. In einer weiteren Lesart ließe sich so Melanies Nachname erklären, dem die Schamesröte eingeschrieben ist. (Vgl. exemplarisch zur Farbe Rot und ihrer Semantik der Schamesröte Hans Jürgen Scheuer: Farben, S. 96.) 223 Vgl. Herman Meyer: Das Zitat in der Erzählkunst, S. 164. <?page no="176"?> 164 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Der Leser emp ndet hier Melanies Scham und Betro enheit, die mit einem Mann verheiratet ist, der „seine Frau subtil vor Dritten mit privaten Schlüpfrigkeiten demütigt.“ 224 So entblößt der Kommerzienrat nicht nur ein intimes Gespräch, sondern versucht auch seine Gattin in sein schlechtes Benehmen zu involvieren. 225 Dabei verhandelt das genannte Distichon Paul Heyses (1830-1914) die bezüglich einer neapolitanischen Statue im 19. Jahrhundert ungeklärte Frage, ob es sich hierbei um die Göttin Venus, oder aber vielmehr um eine Hetäre handele. 226 So wird Melanie durch den kommerzienrätlichen Rekurs nicht nur bildlich entkleidet, sondern auch mit einer Hetäre sowie mit der Ehebrecherin Venus assoziiert. Darüber hinaus o enbaren sich in dieser Szene nicht nur die Entfremdung der Eheleute, sondern zudem Van der Straatens Verlustängste durch die Anwesenheit Rubehns, indem er seine sexuelle Verfügungsgewalt über 224 Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 204-205. Vgl. dazu auch Christian Grawe: „Die wahre hohe Schule der Zweideutigkeit“: Frivolität in Fontanes Romanen, S. 206. Hier sei einschränkend bemerkt, dass die Landpartie-Gesellschaft zumindest unter sich ist, wofür die vorgefundenen schrägangelehnten Stühl[e] (64) sinnbildlich stehen. (Vgl. zu diesem Motiv, das in Fontanes Romanen „metonymisch für die Verlassenheit [eines Wirtshauses steht]“ Milena Bauer: Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes, S. 173.) 225 Vgl. hierzu Herman Meyer: Das Zitat in der Erzählkunst, S. 166 sowie Dirk Mende: Frauenleben, S. 192. 226 „Göttliches Weib! / ‚O pfui, die Hetäre! ‘ / Warum so entrüstet? / Hast du doch selbst wohl schon ‚göttlicher P rsich‘! gesagt“. (Paul Heyse: Verse aus Italien. Skizzen, Briefe und Tagebuchblätter. Berlin 1880 (= Gedichtreihe: Kunst und Künstler), S. 53.) Hierin versteckt sich ein Anachronismus, der jedoch nicht weiter ins Gewicht fällt: Das Distichon ist aus dem Jahr 1880, während die Landpartie im Spätsommer des Jahres 1875 statt ndet. Kallipygos ist eine Epiklesis der Aphrodite respektive Venus. (Vgl. hierzu Ada Adler: Kallipygos. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung begonnen von Georg Wissowa. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen hrsg. von Wilhelm Kroll. Zehnter Band, zwanzigster Halbband. Stuttgart 1919, Spalte 1668.) Ob die Kallipygos genannte Statue in Neapel als Aphrodite oder als Hetäre anzusehen ist, bleibt bis heute umstritten. (Vgl. in Gegenüberstellung ebd. sowie Anne Ley: Aphrodite (Teil I: Ikonographie). In: Der neue Pauly (Onlineausgabe). Hrsg. von Hubert Cancik, Helmuth Schneider und Manfred Landfester. Artikel online abrufbar unter: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 1574-9347_dnp_e127370 (letzter Zugri : 20.02.2023).) Zudem lässt der Kommerzienrat an seinen sexuellen Vorlieben jenseits der „„Standard- Erotik““ teilhaben, denn die Kallipygos „wurd[e] gern für entsprechende fetischistische Einstellungen beansprucht“ (Berthold Hinz: Erotica. In: Der neue Pauly (Onlineausgabe). Hrsg. von Hubert Cancik, Helmuth Schneider und Manfred Landfester. Artikel online abrufbar unter: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 1574-9347_dnp_e1311270 (letzter Zugri : 20.02.2023).) <?page no="177"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 165 Melanie demonstriert. 227 Im Unterschied zum Abschiedsdiner im engeren Zirkel unternimmt diese jedoch den o enen Versuch den sprachlichen Schlüpfrigkeiten ihres Gatten Einhalt zu gebieten. Jener bemerkt wohl ihre Verstimmung, nimmt darauf allerdings keine Rücksicht, sondern stellt nunmehr ihre scheinbare Emp ndlichkeit bloß. (Vgl. 72-73) 228 3.2.3 Überfahrt nach Treptow oder das rechte Paar findet sich Nachdem alle noch nöthigen Verabredungen zur Ueberfahrt nach Treptow in zwei kleinen Booten getro en (73) sind, erklärt Riekchen verlegen[,] (73) „daß Bootschaukeln, von klein auf, ihr Tod gewesen sei.“ Worauf sich Van der Straaten in einem Anfalle von Ritterlichkeit erbot, mit ihr in der Glaslaube zurückbleiben und das Anlegen des nächsten, vom „Eierhäuschen“ her erwarteten Dampfschi es abpassen zu wollen. (73) Van der Straatens ganz und gar unberlinischer 229 Anfalle von Ritterlichkeit (73) führt dem Leser abermals seine Art vor Augen, sich in Gegensätzen (16) zu bewegen. Durch Riekchens Angst vor dem Bootschaukeln wird die Überfahrt sogleich mit einer potentiellen Gefahr assoziiert, die der Landpartie insgesamt innewohnt, denn bereits beim kommerzienrätlichen Vorschlag zu ebenjener Landpartie hat Riekchen diese mit einer Gefahr verknüpft. 230 Vergleichbar mit der Anfertigung der Kopie besteht allerdings auch hier zunächst keine direkte Gefahr, denn Melanies und Rubehns Boot schaukelte leis[.] (77) Wie häu g im Romanwerk Fontanes 227 Vgl. Sabina Becker: ‚Wiederhergestellte‘ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 135- 136 und hierzu ähnlich Katharina Grätz: Alles kommt auf die Beleuchtung an, S. 127; Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 208-209 und ders.: Frauenleben, S. 192. Hierzu passt ebenfalls Van der Straatens spätere Anekdote zum Hecht, den er aus Eifersucht schlachten lässt. (Vgl. 85) 228 Vgl. hierzu ausführlicher Georg Verweyen: Literarische Blamagen, S. 218. 229 So konstatiert Fontane über den Berliner allgemein: „Von Ritterlichkeit keine Spur“. (W7, S. 29.) 230 Fräulein Riekchen erzählte, daß es nun gerade dreiundreißig Jahre sei, seit sie zum letzten Mal in Treptow gewesen, an einem großen Dobremontschen Feuerwerkstage, - derselbe Dobremont, der nachher mit seinem ganzen Laboratorium in die Luft ge ogen. „ Und in die Luft ge ogen warum? Weil die Leute, die mit dem Feuer spielen, immer zu sicher sind und immer die Gefahr vergessen. Ja, Melanie, Du lachst. Aber, es ist so, immer die Gefahr vergessen. [...]“ (57) <?page no="178"?> 166 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt spielt auch hier der scheinbare Zufall der Erzählhandlung in die Hände. 231 Diesem liegt dabei stets eine ausgeklügelte Choreographie zugrunde 232 und ermöglicht eine Konstellation, die ansonsten erzähltechnisch wenig glaubhaft erscheinen würde: 233 Rubehn und Melanie in das kleinere, die beiden Maler und Anastasia in das größere Boot, eine Vertheilung, die sich wie von selber machte, weil Elimar und Gabler gute Kahnfahrer waren und jeder anderweitigen Führung entbehren konnten. Sie nahmen denn auch die Tête und der Junge mit der kleineren Jolle folgte. (73-74) Weil der Kommerzienrat gemeinsam mit Riekchen am Ufer zurückbleibt und Elimar und Gabler [...] jeder anderweitigen Führung entbehren [können,] (74) nehmen Rubehn und Melanie allein ein Boot. So erscheint die Bootsfahrt als Fortsetzung der ausgelassenen und erotisch konnotierten Spiele auf der Stralauer Wiese, denn auch jetzt übernehmen zum einen die Künstler die Führung und zum anderen wird das kleinere Boot gesteuert von de[m]selbe[n] Junge[n], der schon am Nachmittage die Reifen auf die Kirchhofs-Wiese hinaus getragen hatte[.] (73) Jener Roman gur ist nicht nur über die Zugehörigkeit zu den Spielen ein normabweichendes Potential eingeschrieben, sondern zusätzlich steht er als Bootsjunge (77) im Zusammenhang mit dem subversiven Element Wasser 234 und kann darüber hinaus ob seiner Kindlichkeit als Symbol eines naturhaften Elementarzustandes begri en werden. 235 Der Kommerzienrat nutzt nun die Gelegenheit, um Riekchens Haltung zu Rubehn in Erfahrung zu bringen. Ihre Einschätzung - „[...] Er hat etwas amerikanisch 231 In Fontanes Romanen erkennt Denise Roth allgemein den „Zufall als inner ktionale Begründung“. (Denise Roth: Das literarische Werk erklärt sich selbst: Theodor Fontanes „E Briest“ und Gabriele Reuters „Aus guter Familie“ poetologisch entschlüsselt. Berlin 2012, S. 119.) So ist es im Roman „E Briest“ der Zufall als Unfall mit dem Schlitten. (Vgl. ebd., S. 119.) Ebenso ist die spätere Entdeckung der Liebesbriefe einem Zufall, genauer wiederum einem Unfall - nämlich Annies Treppensturz - geschuldet. (Vgl. ebd., S. 430.) 232 Vgl. hierzu allgemein Uta Schürmann: „Dingwelten“, S. 185 sowie mit Blick auf „E Briest“ Uta Schürmann: Die Konstruktion des Zufalls. In: KulturPoetik 11, 1 (2011), S. 47-60, hier S. 55-57. 233 Hierzu zählt zugleich die Weigerung der Kinder an der Landpartie teilzunehmen sowie die Absage des Polizeirats Rei . (Vgl. 59) 234 Vgl. dazu Fußnote 199 auf Seite 157 dieser Arbeit. 235 Vgl. hierzu allgemein Eva Erdmann: Kind. In: Metzlers Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 180-181, hier S. 180. <?page no="179"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 167 Sicheres. Und so sicher er ist, so kalt ist er auch.“ (75) - spiegelt die zeitgenössischen Vorstellungen der Gegensätze zwischen Deutschland und Amerika, also Alter und Neuer Welt, wider, 236 womit zugleich die Gegensätze zwischen Adel und Bürgertum aufs Engste verknüpft sind, denn es ist die Idee des „[...] Gentleman[,] [...]“ (20) die Institution des Adels über üssig zu machen. 237 Während die Figurenanlage Riekchens eine Adelskultur persi iert, die sich in einer beginnenden Selbstau ösung be ndet, (Vgl. 47, 49, 50, 62) erscheint der „[...] Gentleman [...]“ (20) Rubehn - „[...] eben jetzt von New-York [...]“ (18) zurückgekehrt - als modern. 238 Hierin zeichnet sich erneut ein Gegensatz zwischen Van der Straatens Lebenswelt und derjenigen Rubehns ab, denn in Amerika „gibt es keine bindende Vergangenheit“, 239 wodurch sich die Figur Rubehn ausgesprochen gut als Partner für „[e]in neues Leben [...]“ (157) eignet. (Vgl. 106, 138) Während dieses Gespräch in dem Glasbalcon geführt wurde, steuerten die beiden Boote der Mitte des Stromes zu. Auf dem größeren war Scherz und Lachen, aber auf dem kleineren, das folgte, schwieg alles und Melanie beugte sich über den Rand und ließ das Wasser durch ihre Finger plätschern. „Ist es immer nur das Wasser, dem Sie die Hand reichen, Freundin? “ „Es kühlt. Und ich hab’ es so heiß.“ (75) In Verbindung mit dem parallel geführten Gespräch zwischen Riekchen und Van der Straaten über Rubehns zu kaltes Temperament, wird erneut die glückliche Verbindung zwischen Rubehn und Melanie vorweggenommen, denn über ihren Geburtsnamen wird sie mit Wärme assoziiert und bekräftigt dies weiter mit ihrer Bemerkung über die kühlende Wirkung des Wassers. Zugleich kann hieraus 236 Das Amerikabild in der deutschen Literatur ist dabei zugleich Projektion europäischer Vorstellungen, Ho nungen und Ängste auf das ferne Land. (Vgl. hierzu ausführlicher H.[elmut] Kreuzer: Ralph Waldo Emerson und Herman Grimm, S. 453.) 237 Vgl. ebd., S. 452. Diese Vorstellung übernimmt Herman Grimm in seinem Roman „Unüberwindliche Mächte“ (1867) aus Waldo Emersons Essay „Manners“ (1844). Fontane wiederum hat Grimms Roman rezensiert. (Vgl. hierzu Fußnote 195 auf Seite 80 dieser Arbeit.) 238 Vgl. hierzu auch Seite 80 dieser Arbeit. 239 Herman Grimm: Unüberwindliche Mächte. Theil 2. Berlin 1867, S. 273. In Amerika „gibt es keine bindende Vergangenheit. [...] Keiner fragt: woher? Jeder nur: wohin? Und was bist du heute? [...] Alle Tage wird Amerika neu geboren [...].“ (Ebd., S. 273.) Im Gegensatz hierzu lebt Van der Straaten zwischen Erbstücken und übernimmt seine Gep ogenheiten vom Vater. (Vgl. 24, 28, 39, 42-43, 107) <?page no="180"?> 168 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt erneut die unpassende Verbindung zwischen Melanie und Van der Straaten abgelesen werden, da auch er dem Element Feuer zugeordnet werden kann. 240 So erscheint Rubehn als das für Melanie wahlverwandte Element, denn seine Kälte temperiert ihre Hitze. Folglich kann der Erzählkommentar, eine Vertheilung, die sich wie von selber machte, (74) als Verweis auf die ihrer Natur nach passende Verbindung zwischen Melanie und Rubehn verstanden werden. Zugleich lässt sich aus der von Riekchen etablierten Zusammengehörigkeit von Kälte und Selbstsicherheit schließen, dass die sich als heiß bezeichnende Melanie Unsicherheit emp ndet, die sie mithilfe des kalten Wassers auszugleichen bemüht ist. 241 Rubehn schlägt vor: „So legen sie doch den Burnus ab“...Und er erhob sich um ihr behil ich zu sein. „Nein,“ sagte sie heftig und abwehrend. „Mich friert.“ Und er sah nun, daß sie wirklich fröstelnd zusammenzuckte. (76) Uta Schürmann liest Melanies Frösteln als Abwehrhaltung, wobei der ihr nicht gelingende Ausgleich zwischen warm und kalt - Rubehn sieht, dass sie fröstelt und fühl[t], daß sie eber[t] (77) - zeigt, dass sie ihren A ekten hil os ausgesetzt ist. 242 Später wird der Erzähler diese These bestätigen, wenn es heißt: Aber der eberhaften Erregung jener Stunde hatte sie sich entschlagen, und in den Tagen, die folgten, war ihr die Herrschaft über sich selbst zurückgekehrt. (78) Weil Melanie versucht, die Wärme, die nicht nur für Unsicherheit, sondern auch für sexuelle Berauschung steht, 243 mithilfe des Wassers zu kühlen, muss sie 240 Vgl. hierzu beispielsweise seine Vorliebe für die warmen Madonnen: „[...] Die kalten sind mir allerdings verhaßt, aber die warmen hab’ ich desto lieber. A la bonne heure, die berauschen mich [...].“ (32) Vgl. hierzu ebenfalls Van der Straatens Beschreibung als Feuerwerker (98) mit seiner von Sprühfunken (97) gekennzeichneten Redeweise. 241 Vgl. Uta Schürmann: Der ‚Fontanesche Treibhause ekt‘. Temperaturen, Emotionstheorie und Wirkungen in L’Adultera. In: Fontane Blätter 83 (2007), S. 53-66, hier S. 54. Vgl. zur Verknüpfung von Temperatur und Gefühlswelt ebenso Nina Hirschbrunn: „Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.“, S. 198. Hirschbrunn sieht Melanies Unsicherheit durch ihre Scham ausgelöst. (Vgl. ebd.) 242 Vgl. Uta Schürmann: Der ‚Fontanesche Treibhause ekt‘, S. 55. 243 Hier sei noch einmal an Van der Straatens De nition von warmen Madonnen erinnert, die ihn berauschen. (Vgl. 32) Zum Zusammenhang zwischen Leidenschaft und Temperatur sei zudem erneut auf Holks Einschätzung im Roman „Unwiederbringlich“ verwiesen, Christine habe sich von ihm wegerkältet (Vgl. Uwb, S. 247.) sowie auf Marcell Wedderkopps Einschätzung aus dem Roman „Frau Jenny Treibel“ (1892/ 93): „„Eine lichterlohe Leidenschaft kann ich in ihr nicht entzünden. Vielleicht ist sie solcher Leidenschaft nicht einmal fähig; aber wenn auch, wie soll ein Vetter seine Cousine zur Leidenschaft anstacheln? Das kommt <?page no="181"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 169 scheitern, denn das Wasser gilt gemeinhin als erotisch aufgeladen. 244 Darüber hinaus verbleibt sie im Burnus, wodurch weiterhin der erotische Code in Form von Orient und Untreue gegenwärtig bleibt und den Ehebruch im künstlichen Orient, dem Treibhaus, gleichsam prä guriert. Durch ihre A nität zum Wasser erscheint Melanie überdies abermals als Venus, die der Kommerzienrat zuvor mit dem Bild einer Hetäre verknüpft hat. (Vgl. 71-72) Und nun waren sie mitten auf dem Strom, außer Hörweite von den Vorau ahrenden, und der Junge, der sie beide fuhr, zog mit einem Ruck die Ruder ein und legte sich bequem in’s Boot nieder und ließ es treiben. „Er sieht auch zu den Sternen auf,“ sagte Rubehn. „Und zählt, wie viele fallen,“ lachte Melanie bitter. „Aber Sie dürfen mich nicht so verwundert ansehen, lieber Freund, als ob ich etwas Besonderes gesagt hätte. Das ist ja, wie Sie wissen, oder wenigstens seit heute wissen müssen, der Ton unsres Hauses. Ein bischen spitz, ein bischen zweideutig und immer unpassend. Ich be eißige mich der Ausdrucksweise meines Mannes. Aber freilich ich bleibe hinter ihm zurück. Er ist eben unerreichbar und weiß so wundervoll alles zu tre en, was kränkt und bloßstellt und beschämt.“ [...] „Vielleicht ... Oder sagen wir lieber gewiß. Denn es war zu viel, dieser ewige Hinweis auf Dinge, die nur unter vier Augen gehören, und das kaum. Aber er kennt kein Geheimniß, weil ihm nichts des Geheimnisses werth dünkt. Weil ihm nichts heilig ist. Und wer anders denkt, ist scheinheilig oder lächerlich. Und das vor Ihnen ...“ (76-77) Hat Melanie im Stralauer Ka eehaus noch versucht, Van der Straatens Entgleisungen Einhalt zu gebieten, übertritt sie nunmehr ebenfalls die gängige „Konversationspraxis“, 245 indem sie sich vor einem Fremden über ihren Gatten beschwert. 246 Hierfür zeichnen die räumlichen Verhältnisse verantwortlich, denn gar nicht vor.““ (FJT, S. 87.) Ähnlich wird im Roman „Graf Petöfy“ das Bild der „„[...] Siedegrade der Leidenschaft [...].““ (GP, S. 92.) etabliert. 244 Vgl. dazu Daniela Gretz: Wasser, S. 415 sowie Sibylle Selbmann: Mythos Wasser. Symbolik und Kulturgeschichte. Karlsruhe 1995, S. 117-130. 245 Milena Bauer: Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes, S. 281. 246 Da Melanie die Eskapden Van der Straatens als „[...] ewige[n] Hinweis [...]“ (77) klassi ziert, wird hierüber die Regelmäßigkeit seines indiskreten Verhaltens angedeutet. <?page no="182"?> 170 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt wie Simon Bunke für Gedichte Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778) und Goethes nachgewiesen hat, grenzt sich im Kahn „das Subjekt von allen sozialen Bindungen ab, es wird auf sich selbst zurückgeworfen und kann so sich selbst transparent werden.“ 247 Dieser These folgend kann es gerade deshalb auf dem Boot zur Annäherung zwischen Melanie und Rubehn kommen: Während sie mit ihrer Anklage „[...] Und das vor Ihnen ...“ (77) ihre Liebe signalisiert, antwortet er mit einer Liebesgeste: Er nahm ihre Hand[.] (77) Hierzu gibt der Aus ugsort Stralau bzw. Stralow, wie er amtlich bis ins späte 19. Jahrhundert heißt, 248 gleichfalls nähere Auskunft: Stralau erstreckt sich als 247 Simon Bunke: Kahnfahrten als Heterotopien der Wahrhaftigkeit. Überlegungen zu Rousseau und Goethe. In: Rousseaus Welten. Hrsg. von dems., Katerina Mihaylova und Antonio Roselli. Würzburg 2004, S. 45-58, hier S. 51. Simon Bunke weist die besondere Raumsemantik der Kahnfahrt als einen Raum der Aufrichtigkeit anhand von Rousseaus „Rêveries“ und Goethes Gedicht „Auf dem See“ nach. „Eine solche Vorstellung, dass das Subjekt nur fern von der Gesellschaft (und damit letztlich in Einsamkeit) wirklich zu sich selbst nden kann, entspricht dabei natürlich Rousseaus kulturkritischen Überlegungen zum Verhältnis von Subjekt und verderbter Gesellschaft.“ (Ebd., S. 51.) Rita Unfer Lukoschik sieht die Bootsfahrt im Kontext des im 18. Jahrhundert typischen Motivs der „Kahnfahrt einer Freundesgruppe“, die hier nunmehr die Flucht aus dem Alltag versinnbildlicht und eine unbekannte Zukunft besingt. (Vgl. Rita Unfer Lukoschik: Die Novelle als Erlebnisraum: Boccaccio - Fontane, S. 47. Vgl. zu diesem Motiv ausführlich Bernhard Blume: Die Kahnfahrt. Ein Beitrag zur Motivgeschichte des 18. Jahrhunderts. In: Euphorion 51 (1957), S. 355-384.) Dieser Einschätzung ist insofern zuzustimmen, als dass auf dem Kahn der Künstler Scherz und Lachen (75) herrscht so wie auch später die glücklichen Tre en nur in Anwesenheit der Künstler und unter Abwesenheit der anderen Mitglieder des engeren Zirkels statt nden. (Vgl. 97) 248 „Im Jahre 1874 wurden Stralow, Boxhagen und Rummelsburg zu einem Amtsbezirk vereinigt, der Sitz des Amtsvorstehers war Stralow. Von jenem Jahre datiert auch die Umänderung des Namens Stralow in Stralau. Der Amstbezirk führte den Namen Stralau, während die Gemeinde noch bis 1891 auch amtlich die Bezeichnung Stralow beibehielt.“ (Otto Hellmann: Stralau und seine Geschichte. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins. Hrsg. von dems. 46. Jahrgang, Heft 3. Berlin 1929, S. 73-101, hier S. 82.) Vgl. dazu auch: Karte des Deutschen Reiches 1: 100000 bearbeitet von der Kgl. Preußischen Landesaufnahme, dem topographischen Bureau des Kgl. Bayerischen Generalstabes, der Abteilung für Landesaufnahme des Kgl. Sächsischen Generalstabes und dem Topographischen Bureau des Kgl. Württembergischen Kriegsministeriums. Berlin u. a. ab 1878 (= Karte des Deutschen Reiches im Maßstabe 1: 100000. Hrsg. vom Reichsamt für Landesaufnahme), Blatt 294 Schöneberg mit Stand 1893 sowie 1907. Gesamte Karte online abrufbar unter: https: / / www.landkartenarchiv.de/ deutschland_kartede sdeutschenreiches.php (letzter Zugri am 11.01.2023). Während 1893 noch der Name Stralow verzeichnet ist, ndet sich 1907 der Name Stralau. <?page no="183"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 171 Landzunge entlang der Rummelsburger Bucht weit in die Spree hinein und hat mutmaßlich aufgrund seiner geologischen Formation ebendiesen Namen erhalten: 249 Stralow leitet sich vom wendischen Wort „strala“ bzw. „strela“ ab und bedeutet Pfeil. 250 So wird Melanie auf der Landpartie in Stralau im doppelten Sinne vom Pfeil getro en: zum einen vom Liebespfeil 251 und zum anderen von Van der Straatens verletzendem Pfeil, denn der Kommerzienrat „[...] weiß so wundervoll alles zu tre en, was kränkt und bloßstellt und beschämt.“ (76) Die Sterne aber funkelten und spiegelten sich und tanzten um sie her, und das Boot schaukelte leis und trieb im Strom und in Melanie’s Herzen erklang es immer lauter: wohin treiben wir? (77) Der Tanz der Sterne sowie ihr Dasein „[...] eigentlich nur des Fallens wegen[,] [...]“ (70) welches anhand der Sternschnuppen-Nächte (69) etabliert ist, stellen eine Verbindung zu Melanies Sehnsuchtsanwandlung beim Anblick des Flockentanzes (10) her. Ganz allgemein kann der Sternenhimmel als Sinnbild für die Begrenztheit menschlicher Vorstellungskraft und Erkenntnis und damit auch für die Ungewissheit gesehen werden, denn beim Blick an das Firmament wird „unsere Einbildung [...] viel eher müde, als die Natur im Darbieten. Diese ganze sichtbare Welt ist nur ein Punkt im weiten Bereich der Natur. Keine Vorstellung nähert sich dem.“ 252 So re ektiert Melanie - angeregt durch den Blick an den Nachthimmel - ihre Ungewissheit ob der eigenen Zukunft: wohin treiben wir? (77) Dies antizipiert gleichzeitig die „[...] Wirrniß[,] [...]“ (144) in die sie später geraten wird, weil sie „die Straße des Hergebrachten“ (144) - also den ihr bekannten Kosmos - verlässt. Andererseits sind die Vorgänge am Firmament jedoch den Gesetzen der Natur unterworfen und dadurch - wenn auch für den Menschen schwer fassbar - wohlgeordnet, was im konkreten Fall durch das Tanzen der Sterne (Vgl. 77) unterstrichen wird. 253 So deutet Melanies Ausblick 249 Vgl. Oswald Jannermann: Slawische Orts- und Gewässernamen in Deutschland: Von Belgrad in Pommern bis Zicker auf Rügen. Norderstedt 2009, S. 122-123. 250 Vgl. Franz Hermes: Etymologisch-topographische Beschreibung der Mark Brandenburg. Görlitz 1828, S. 65. Hiervon leitet sich auch das deutsche Wort „Strahl“ ab. (Vgl. ebd., S. 65.) 251 Bereits beim Abschiedsdiner ist Amor mit seinen Liebespfeilen thematisiert worden. (Vgl. 27) 252 Blaise Pascal: Gedanken (Penesées). Hrsg. von Hans Giesecke. Berlin 1964, S. 161-162. 253 Passend dazu stehen Sterne in Fontanes Romanen allgemein für eine ho nungsvolle Zukunft. (Vgl. hierzu Helen Chambers: Mond und Sterne in Fontanes Werken. [übersetzt von Ulrike Horstmann-Guthrie]. In: Helen Chambers: Fontane-Studien. Gesammelte Aufsätze zu Romanen, Gedichten und Reportagen. Deutsche Übersetzung von Christine Henschel. Würzburg 2014 (= Fontaneana; Band 11), S. 187-206, S. 188.) <?page no="184"?> 172 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt in den Nachthimmel auch auf das Ende des Romans hin, an dem Melanie wieder in ein geordnetes Leben nden wird. Da sie zudem die nächtliche Bootsfahrt - abgesehen vom Bootsjungen - mit Rubehn allein unternimmt, ist bereits hier deutlich erkennbar, dass er der Fixpunkt ihres zukünftigen Lebens sein wird. Das Treiben auf dem Wasser geht in Texten Fontanes im Allgemeinen mit einer Bewusstseinstrübung einher und zeigt an, dass die rationale Beherrschtheit zugunsten unbewusster Wünsche aufgegeben wird. 254 Zusätzlich steht das Schaukeln des Bootes für Melanies Schwanken zwischen beiden Männern, das sich in ihrer dahingehend zu lesenden Frage äußert: wohin treiben wir? Und sieh, es war, als ob der Bootsjunge von derselben Frage beunruhigt worden wäre, denn er sprang plötzlich auf und sah sich um, und wahrnehmend, daß sie weit über die rechte Stelle hinaus waren, gri er jetzt mit beiden Rudern ein und warf die Jolle nach links herum, um so schnell wie möglich aus der Strömung heraus und dem andern Ufer wieder näher zu kommen. (77) Das Verlassen der vorgesehenen Route deutet den späteren Ehebruch voraus, 255 wobei dieser Eindruck dadurch verstärkt wird, dass dem Bootfahren per se eine Grenzverletzung innewohnt, 256 die bei Fontane vor allem als Grenzverletzung gegen die gesellschaftliche Ordnung verstanden werden kann, denn es lässt Konventionen schwinden. 257 Der spätere Grenzübertritt 258 wird bereits dadurch angedeutet, dass sich Melanie zum einen über ihren Gatten beschwert (Vgl. 76) und Rubehn zum anderen als Reaktion darauf ihre Hand nimmt. (Vgl. 77) Überdies markiert insbesondere die Textstelle weit über die rechte [also richtige] Stelle hinaus (77) das gesellschaftlich zweifelhafte Anbändeln zwischen den Bootsinsassen, während jedoch das Einlenken nach links (77), also buchstäblich in 254 Vgl. Karla Müller: Schloßgeschichten, S. 70. 255 Vgl. Milena Bauer: Bewegte Nähe, S. 93-94. 256 Vgl. Hans Blumenberg: Schi bruch mit Zuschauer, S. 10-11. 257 So deutet im Roman „Graf Petöfy“ ebenfalls eine Bootszene den Ehebruch voraus. (Vgl. GP, S. 187-191.) 258 Am drohenden Schi bruch im Roman „Graf Petöfy“ erläutert Monika Ritzer, wie Fontane Fehltritte in „symbolischen Naturbildern“ (Monika Ritzer: „Je freier der Mensch, desto nötiger der Hokuspokus“, S. 44.) darstellt. Auch Katharina Grätz erkennt für den Roman „E Briest“: „Die Raumsemantik dient der Inszenierung psychischer Vorgänge.“ (Katharina Grätz: Landpartie und Sommerfrische, S. 91.) <?page no="185"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 173 Richtung Van der Straatens, ebenfalls als unpassend erscheint, wird doch die linke Seite kulturhistorisch, 259 aber auch romanintern 260 mit der falschen Seite assoziiert. Die Szene fängt dementsprechend über die rechts-links Symbolik Melanies schwierige Lage ein, in der sie entweder auf Kosten der Gesellschaftskonventionen privates Glück erfahren oder auf Kosten des privaten Glücks den Gesellschaftskonventionen genügen kann. Zunächst wird die Grenzüberschreitung der Jolle vom Bootsjungen korrigiert und ehe fünf Minuten um waren, erkannte man die von zahllosen Lichtern 261 erhellten Baumgruppen des Treptower Parks, und Rubehn und Melanie hörten Anastasia’s Lachen auf dem vorau ahrenden Boot. (77) Doch diese räumliche Korrektur entfaltet nur kurzfristig ihre Wirkung bezüglich einer Korrektur des normverletzenden Verhaltens, denn Rubehn - vielleicht angeregt durch Van der Straatens Maxime „[...] [a]ber in Griechisch und Musik darf man alles sagen. [...]“ (72) - zitiert den Refrain des Liedes „Rohtraut, Schön-Rohtraut“, welches von den Künstlern des ersten Bootes gesungen wird: „Schweig stille, mein Herze,“ wiederholte Rubehn und sagte leise: „soll es? “ Melanie antwortete nicht. (78) 3.2.4 Die Bootsfahrt als Imagination Venedigs In der Überfahrt von Rubehn und der sich wie Isolde gedemütigt fühlenden Melanie erkennt Lieselotte Voss anhand der vergleichbaren Figurenkonstellation eine Parallele zum ersten Akt der Wagneroper „Tristan und Isolde“: So wie der betrogene König Marke verzeiht auch Van Straaten und so wie Isolde entscheidet sich Melanie für den jüngeren Mann. Zudem fungiert Anastasia, ähnlich wie Brangräne, als Begleiterin und Warnerin. 262 Diesen Befund möchte ich weiter verfolgen und mit der Entstehungsgeschichte ebenjener Oper verknüpfen: 259 Darauf verweisen unter anderem Begri ichkeiten wie linkisch, linkes Ding u. ä., so wie auf der anderen Seite Christus zur rechten Gottes sitzt und die rechte Hand unter anderem mit der ‚schönen Hand‘ assoziiert wird. (Vgl. zur rechts-links Thematik auch Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S. 339-340.) 260 Vgl. dazu Seite 39 dieser Arbeit. 261 Die Lichtquellen in Treptow liest Milena Bauer schlüssig als Sinnbild für die zivilisatorische Erschließung des Raumes. (Vgl. Milena Bauer: Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes, S. 177.) 262 Vgl. Lieselotte Voss: Literarische Prä guration dargestellter Wirklichkeit bei Fontane, S. 163. <?page no="186"?> 174 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Richard Wagner vollendet 1858 den zweiten Akt der Oper „Tristan und Isolde“ in Venedig, während der Flucht vor seiner in Zürich entfachten Liebe zu Mathilde Wesendonck. 263 Deshalb ist die Oper in ihrer Rezeption mit Venedig verknüpft worden. 264 Zusätzlich gilt Vendig im 19. Jahrhundert nicht nur als Wagner-Stadt, 265 sondern auch als musikalischste Stadt Italiens, insbesondere weil die Venezianer, wie aus vielen Schilderungen hervorgeht, stets singen. 266 Eine besondere Bedeutung hat dabei der nächtliche Wechselgesang der Gondolieri, der allgemein bekannt und vielfach beschrieben worden ist. 267 Auch Wagner bemerkt den akustischen Zauber des nächtlichen Venedig: 268 Er beschreibt, wie Bereits während des Abschiedsdiners vergleicht Van der Straaten Melanie mit Vilma von Voggenhuber, die für Ihre Darbietung der Isolde den Titel einer königlichen Kammersängerin verliehen bekommen hat. (Vgl. LA, Anmerkungen, S. 227.) 263 Vgl. zu den Parallelen zwischen „L’Adultera“ und der Wesendonck-Wagnerschen A äre Seite 130 dieser Arbeit. 264 Vgl. beispielsweise Karl Solibakke: Geformte Zeit. Musik als Diskurs und Struktur bei Bachmann und Bernhard. Würzburg 2005, S. 132. 265 Vgl. hierzu Thorsten Valk: Literarische Musikästhetik. Eine Diskursgeschichte von 1800- 1950. Frankfurt am Main 2008 (= Abendland. Forschungen zur Geschichte europäischen Geisteslebens; Band 34), S. 240. 266 Vgl. hierzu Robert E. Wolf und Ronald Millen: Kunst im Bild, S. 112. Venedig wird historisch zudem als „genuin musikalisch beschrieben“. (Bernard Dieterle: Die versunkene Stadt, S. 24.) Nach dem Verlust seiner Bedeutung als politisches und industrielles Zentrum, wird Venedig zum Zentrum von Musik, Oper, Theater sowie der schönen Künste. (Vgl. Matthias Pfa enbichler: Venedig im 17. und 18. Jahrhundert, S. 82.) Hieraus ergibt sich einerseits eine Verbindung zu Rubehns Vorliebe für den Gesang: „Und er soll auch singen.“ (40) Andererseits wird auch vor dem Ehebruch gesungen werden (Vgl. 84) und gerade das Rezitieren der auf der Bootsfahrt von Stralau nach Treptow gesungenen Lieder verhilft der Liebe im Palmhaus zum Durchbruch. (Vgl. 94) 267 Vgl. Matthias Schmidt: Inszeniertes Hören, S. 155. Fontane selbst berichtet bei seinem einzigen Venedigbesuch von „Musik aller Art“ (Rt, S. 309.) auf dem Markusplatz nach Sonnenuntergang sowie dem „wundervolle[n], gut geschulte[n] Gesang von zehn, zwölf Schi ern“. (Rt, S. 309.) Auch Richard „Wagner [nimmt] (wie viele Autoren vor ihm) eine intime Verwandtschaft zwischen dem Gesang und der Stadt Venedig a[n]“, (Bernard Dieterle: Die versunkene Stadt, S. 222.) was er insbesondere am nächtlichen Gesang festmacht. (Vgl. ebd., S. 224.) Bereits Jean-Jacques Rousseau hat in seiner Zeit als Sekretär des französischen Botschafters in Venedig in den Jahren 1743 bis 1744 die Melodien und Lieder der Gondolieri aufgeschrieben, wie Goethe in seinem Vogelgesang berichtet. (Vgl. Sabine Meine: Wagner in Venedig, S. 140.) 268 Vgl. ebd., S. 139. <?page no="187"?> 3.2 Landpartie nach Stralau 175 seine nächtlichen Eindrücke zur Komposition des ‚Tristan‘ beitragen, 269 indem er gleichsam mit der Oper den venezianischen Gondelgesang fortschreibt. 270 Ebenso stellt Van der Straaten in Stralau zweifach eine Verbindung zu Venedig her, wenn er einerseits die Stralauer Wirtin als „[...] Göttin Aphrodite, die Venus dieser Gegenden, Venus Spreavensis, frisch aus demselben Wasser gestiegen [...].“ (71) imaginiert und ihn andererseits die Schloßkuppel an die Kuppel der Santa Maria della Salute erinnert. (Vgl. 65) Diese Verbindung wird mit der Überfahrt von Stralau nach Treptow fortgeführt, die ihrerseits au ällige Gemeinsamkeiten zum nächtlichen Venedig aufweist, denn auf dem ersten Boot, auf welchem sich die drei Künstler be nden, wird die ganze Zeit gesungen. (Vgl. 76-77) Weil Melanie den Refrain des Liedes „Long, long ago“ mitsummt (Vgl. 76) und so gewissermaßen auf den Gesang des vorausfahrenden Bootes antwortet, entsteht der Eindruck eines Wechselgesanges, wie ihn die Gondolieri in Venedig p egen: In der Ferne vernimmt es ein anderer, der die Melodie kennt, die Worte versteht und mit dem folgenden Verse antwortet, hierauf erwidert der erste, und so ist einer immer das Echo des anderen. Der Gesang währt Nächte durch, unterhält sie, ohne zu ermüden. Je ferner sie also voneinander sind, desto reizender kann das Lied werden[.] 271 Die eigentümliche Art des Gesangs der Gondolieri, in Verbindung mit dem stillen Gleiten 272 ihrer schwarzen 273 Boote, ist mit der Konnotation von Melancholie belegt. 274 Jene melancholische Stimmung wird gleichfalls während der Bootsfahrt über die Spree evoziert, wenn das Lied „Rohtraut, Schön-Rohtaut“ [...] schwermütig 269 Vgl. Matthias Schmidt: Inszeniertes Hören, S. 158. 270 Vgl. Sabine Meine: Wagner in Venedig, S. 138. 271 Johann Wolfgang von Goethe: Italiänische Reise, I. Weimar 1903 (= Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 30. Band), S. 130. 272 Zweimal wird die Stille auf Melanies und Rubehns Boot explizit erwähnt. (Vgl. 75, 76) 273 Seit einem Gesetzeserlass von 1562, der im Rahmen der sogenannten Luxusgesetze unnötige Ausgaben des Adels einschränken soll, dürfen die venezianischen Gondeln nur noch die Farbe schwarz tragen. (Vgl. Matthias Pfa enbichler: Venezianische Schi e. In: Venedig. Seemacht, Kunst und Karneval. Hrsg. von dems. Schallaburg 2011, S. 90-99, hier S. 90.) Auch Jacob Burckhardt erkennt eine Verbindung zwischen der Farbe schwarz und den Frauen der Stadt, denn er nennt ein Kapitel „Venetianerinnen. - Nuancen in Schwarz.“ ( Jacob Burckhardt: Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien, S. 503.) 274 Vgl. Sabine Meine: Wagner in Venedig, S. 142. Auch hierdurch wird Melanies A nität zu Venedig erneut evident, die sich im semantischen Kern ihres Namens widerspiegelt. <?page no="188"?> 176 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt verkl[ingt.] (78) Eine weitere Parallele zum venezianischen Gesang ergibt sich aus der Liedform selbst, denn Rousseau ordnet jenen Gondelgesang dem Volksgesang zu, 275 gleich wie die von den Künstlern auf der Spree intonierten Lieder zur Gruppe der Volkslieder gehören. Da Venedig bereits über die Gemäldekopie mit einem Ehebruch verknüpft worden ist, verweisen die venezianischen Anklänge der Bootsfahrt auf den nur wenig später folgenden Ehebruch. 276 Zugleich entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn sich Van der Straaten die Gefährdung seiner Ehe beim Anblick des venezianischen ‚Adultera‘-Gemäldes o enbart, also in Form der bildenden Kunst, während die Annäherung zwischen seiner Gattin und dem Gast jedoch gänzlich im Zeichen der Musik steht. (Vgl. 53-55) 3.3 Im Palmenhaus der Tiergartenvilla 3.3.1 Taufe und Imagination Rubehns als Bartholomäus Nach der ersten Annäherung zwischen Melanie und Rubehn während der abendlichen Überfahrt von Stralau nach Treptow vergeht fast eine Woche, bevor Rubehn In Treptow sind die sogenannten Treptower Gondeln gefahren. (Vgl. hierzu Ludwig Lö er: Berlin und die Berliner. In Wort und Bild von dems. Mit 60 in den Text gedruckten Abbildungen. Leipzig 1856 (= Weber’s Illustrierte Reisebibliothek), S. 109.) Vielleicht hat Fontane auf die Verwendung dieses spezi schen Bootstyps zugunsten einer Jolle verzichtet, weil Gondeln kulturhistorisch, insbesondere seit Goethe, oftmals die Assoziation von Särgen hervorrufen. (Vgl. hierzu ausführlicher Martin Nies: Venedig als Zeichen, S. 344.) Auch für Richard Wagner ist die Gondel seit seinem ersten Venedigaufenthalt mit dem Bild des Todes besetzt. (Vgl. hierzu Sabine Meine: Wagner in Venedig, S. 144.) Diese Assoziation würde jedoch dem positiven Romanende zuwiderlaufen. 275 Vgl. Sabine Meine: Wagner in Venedig, S. 141. Auch Wagner beschreibt den Gesang der Gondolieri als melancholischen Dialog, anschwellenden Klagelaut und als Volkslied. (Vgl. Matthias Schmidt: Inszeniertes Hören, S. 158.) Eine weitere Verbindung zwischen der Genferin Melanie und Venedig kann man in Rousseaus „Dictionnaire de Musique“ (1768) nden, denn dort beschreibt der Genfer (sic! ) als erster überhaupt die Besonderheiten der venezianischen Musik. (Vgl. Bernard Dieterle: Die versunkene Stadt, S. 24.) 276 Ebenso wird die Fluchtreise nach Venedig antizipiert, denn die Bootsfahrer entfernen sich von dem als Ehebruchsort imaginierten Glasbalkon und damit gleichzeitig vom dort sitzenden, gehörnten Ehemann. Dass dieser jedoch in Treptow die Bootsfahrer wiederum in Empfang nimmt, passt zum versöhnlichen Romanausgang. <?page no="189"?> 3.3 Im Palmenhaus der Tiergartenvilla 177 die Tiergartenvilla aufsucht, obwohl er dort zuvor [j]eden zweiten, dritten Tag (56) erscheint. Dirk Mende wertet Rubehns Fortbleiben nach der Landpartie als Kalkül, um Melanies Verlangen zu erhöhen. 277 Diese Einschätzung erweist sich jedoch als nicht haltbar, denn zum einen ist Rubehns Besuch einer Bitte Van der Straatens geschuldet: „[...] Aber ich vergesse, mich meines Auftrags zu entledigen. Van der Straaten ... Ihr Herr Gemahl ... [...].“ (79) Zum anderen bemüht er sich, die auf der Landpartie abhandengekommene Distanz wiederherzustellen, wenn er nicht nur die Position des Kommerzienrats als Melanies „[...] Gemahl [...]“ (79) hervorhebt, sondern jene zusätzlich als „[...] gnädigste Frau [...]“ (79) anspricht. Vielmehr ist es Melanie, die Rubehns Bemühungen zurückweist und ihr freundschaftliches Verhältnis betont: „[...] Und ich will nicht,“ fuhr sie fort, „daß wir diese sechs Tage nur gelebt haben, um unsre Freundschaft um eben so viele Wochen zurück zu datiren. Also nichts mehr von einer ‚gnädigsten Frau‘. [...]“ (79) Sie bezeichnet diese Au orderung als „ich mußte das zwischen uns klar machen“ (79) und nutzt nunmehr die Gelegenheit, dem Gast endlich einen Namen (79) zu geben, „[...] der für’s Haus, für’s Geplauder, für die Causerie [...]“ (80) passend erscheint. Melanie betont, sie habe sich aus Ezechiel „[...] einen Ezel glücklich condensirt. [...]“ (80) Damit verweist sie nicht nur erneut auf den vielsagenden Necknamen ihres Ehemannes, sondern gibt Rubehn hierdurch zudem eine besonders intime Stellung, die in dieser Hinsicht nur mit Ersterem vergleichbar ist. Daher verwundert es nicht, dass Melanie die von Anastasia bei der Namens ndung angebotene Mithilfe ablehnt: „O, die weiß ich auch. Und ich könnte sogar alles in einen allgemeinen und fast nach Grammatik klingenden Satz bringen. Und dieser Satz würde sein: Um- und Rückformung des abstrusen Familiennamens Rubehn in den alten, mir immer lieb gewesenen Vornamen Ruben.“ (80) Zusätzlich soll die Namensgebung durch einen Tauf- und Krönungszweig (82) besiegelt werden. Dabei bekennt Melanie, dass ihr „[...] Ruben [...] von jeher der Sympathischste von den Zwölfen [ist]. [...]“ (80) 278 Sie begründet ihre Namens- 277 Vgl. Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 245. 278 Auch hier wird über die Farbsymbolik erneut die glückliche Verbindung zwischen Rubehn und Melanie angezeigt, denn während Melanie de Caparoux die Farbe Rot in ihrem Nachnamen trägt, ist die Fahnenfarbe des Stammes Ruben ebenfalls rot. (Vgl. Johann Christian von Mannlich: Versuch über Gebräuche, Kleidung und Wa en der ältesten Völker bis auf Constantin den Großen, nebst einigen Anmerkungen über die Schaubühne. München 1821, S. 35.) <?page no="190"?> 178 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt wahl zusätzlich damit, dass der Ruben des Alten Testaments „[...] gefühlvoll und mitleidig und hochherzig [gewesen ist]. Und was Schwäche war, darüber sag’ ich nichts. [...]“ (81) Wie schon beim Bericht des Erzählers steht der Begri der Schwäch[e] (7) synonym für Untreue bzw. im konkreten Fall für einen Ehebruch. (Vgl. LUT, Gen 35,22.) Ist Melanie durch Van der Straaten mit einer biblischen Ehebrecherin gleichgesetzt worden, erklärt sie nunmehr den Hausgast durch ihre Namensgebung gleichfalls zu einem Ehebrecher aus der Bibel und beantwortet so Rubehns bislang unbeantwortete Frage während der Bootsfahrt (Vgl. 78) auf recht eindeutige Weise. Diese „nachgetragene Semantisierung“ 279 ist besonders hintergründig, denn der alttestamentliche Ruben begeht einen Ehebruch mit der Nebenfrau seines Vaters. Dabei korrespondiert die Figurenanlage des alttestamentlichen Vaters mit der Van der Straatens, denn letzterer tritt nicht nur als Vater gur für Melanie auf, (Vgl. 7) sondern übernimmt stellvertretend ebenjene Rolle auch für Rubehn, mit dessen Vater er befreundet ist. (Vgl. 19) Dabei gleicht Melanies Namens ndung für Rubehn in au älliger Weise der Namenskonstruktion des Apostels Bartholomäus, 280 denn dessen Name ergibt sich aus dem väterlichen Namen Bar-Tolmai gleichfalls durch „[...] Um- und Rückformung [...]“ (80). 281 Unterstrichen wird meine These, denn erstens empfängt Rubehn seinen neuen Namen am Bartholomäustag 282 und zweitens stammt der 279 Justus Fetscher: „Anmischungen, Modelle, Mesalliancen und Rezepturen in Fontanes Fragmenten“. Abendvortrag am 13. Oktober 2016 im Rahmen der Tagung „Formen ins O ene. Zur Produktivität des Unvollendeten.“ im Theodor-Fontane-Archiv vom 13. bis 15. Oktober 2016. 280 Die Bartholomäusmotivik klingt bereits im Rahmen der Stralauer Landpartie an. (Vgl. hierzu Fußnote 151 auf Seite 147 dieser Arbeit.) 281 Vgl. Franz Xaver Himmelstein: Das wahre Leben Jesu. Nach den Berichten und mit den eigenen Worten der vier heiligen Evangelisten. Würzburg 1866, S. 30. 282 Dies lässt sich aus den zeitlichen Angaben ermitteln: Van der Straaten bemerkt während er den Vorschlag zur Land- und Wasser-Partie (57) unterbreitet: „Also Treptow und Stralow, und zwar rasch, denn in acht Tagen haben wir den Stralauer Fischzug [...]. Und so proponir’ ich denn eine Fahrt auf morgen Nachmittag.“ (57) Die Landpartie ndet demnach sieben Tage vor dem Stralauer Fischzug statt, der wiederum am Bartholomäustag, dem 28. August, gefeiert wird. Eine Woche nach der Landpartie erscheint Rubehn wieder in der Tiergartenvilla. (Vgl. 78) Sein Erscheinen und damit seine ‚Taufe‘ und ‚Krönung‘ sind folglich dem Bartholomäustag zuzuordnen. Der Stralauer Fischzug wird 1873 vom zuständigen Amtsvorsteher unter anderem wegen immer wieder auftretender Sittenverstöße verboten. Daher kann dessen Nennung als Anachronismus verstanden werden, dem erzählstrategisch zwei Funktionen zukommen: Erstens datiert er eindeutig Rubehns ‚Taufe‘ und ‚Krönung‘ und antizipiert zweitens <?page no="191"?> 3.3 Im Palmenhaus der Tiergartenvilla 179 zu krönende (Vgl. 82) Rubehn aus Frankfurt am Main, dessen Krönungs- und Kaiserdom St. Bartholomäus weithin bekannt ist. 283 Mit dieser Erkenntnis lässt sich die Copie der Veronesischen „Hochzeit zu Cana“, (26) die sich im kommerzienrätlichen Stadthaus be ndet, neu interpretieren, denn der Legende nach soll Bartholomäus der Bräutigam ebenjener Hochzeit gewesen sein. 284 Wenn Rubehn durch seine Namensgebung sowie sein Tauf- und Krönungsdatum mit Bartholomäus assoziiert werden kann, ergibt sich hieraus folgende Lesart: Die Mahnung zur Einhaltung christlicher Ehetugenden, die der „Hochzeit zu Cana“ (26) eingeschrieben ist, wird vollständig konterkariert, denn Ruben erscheint nach seiner ‚Taufe‘ vielmehr als der legitime Bräutigam. 285 Als Anastasia versichert, sie hätte in diesem Prioritäts-Streite (80) die gleiche Namenswahl getro en, beharrt Melanie darauf: „Aber ich hab’ es gesagt.“ (80) In Verbindung mit dem Tauf- und Krönungszweig[,] (82) der die Namensgebung besiegeln soll, erinnert dies an folgende Bibelstelle: „Ich habe Dich beim Namen genannt. Du bist mein“ (LUT, Jes 43,1.) und korrespondiert darüber hinaus mit Melanies vielsagender Betonung „[...] mein Ruben, [...]“ (81) die ihre Liebe bezeugt. 286 den ausufernden Sittenverstoß im Palmenhaus, da der Tag im Zeichen des Fischzugs steht. Dabei ist interessant, dass gerade Van der Straaten den Anachronismus anbringt, so wie er selbst kurz darauf bezüglich seiner Ehe zu einem solchen werden wird. (Vgl. zu den genauen Daten Hanno Hochmut: Kiezgeschichte. Friedrichshain und Kreuzberg im geteilten Berlin. Göttingen 2017, S. 293 sowie Kurt Laser: Die Halbinsel Stralau. Vom Fischerdorf zum Industriestandort. In: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2006. Hrsg. von dems. Berlin 2006, S. 7-54, hier S. 16.) Aus diesen Quellen ergibt sich, dass die in den Anmerkungen der Brandenburger Ausgabe genannte Zahl 1892 (Vgl. LA, Anmerkungen, S. 235.) ein erneutes Verbot des Fischzugs markiert, da das erste von 1873 angefochten und zeitweise übergangen worden ist. 283 Überdies ist Bartholomäus Schutzpatron der Stadt. (Vgl. Joachim Schäfer: Bartholomäus. In: Ders.: Ökumenisches Heiligenlexikon (DVD-Version): Leben und Wirken von mehr als 3000 Personen der Kirchengeschichte: der katholischen Kirche, der orthodoxen Kirchen, aus den protestantischen und anglikanischen Kirchen. Stuttgart 2018.) 284 Vgl. Gottlieb Brückner: Biblische Studien. IV. Die Hochzeit zu Kana. Berlin 1867, S. 4 sowie Franz Xaver Himmelstein: Das wahre Leben Jesu, S. 30. 285 In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass der Ehebruch im Roman kurz nach der Namensgebung vollzogen wird. 286 Vgl. zur Auslegung des Bibelverses allgemein Reinhard Kösters: „Ich rufe dich bei deinem Namen“ ( Jes 43,1). In: Geist und Leben 51, 5 (1978), S. 321-326. Kösters betont: „Die Liebe ruft beim Namen“ (Ebd., S. 323.) und konstatiert weiter, einen Namen tragen bedeutet „unauswechselbar, unvertauschbar sein“. (Ebd., S. 321.) <?page no="192"?> 180 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt 3.3.2 Der Tiergarten als Jagdgebiet Nach Rubehns ‚Taufe‘ erscheint der Kommerzienrat in der Villa mit seinem wohlbekannte[n], zweirädrige[n] Gig[,] (82) der als einspännige Kutsche zum Selbstfahren 287 sein baldiges Schicksal als verlassener Ehemann prä guriert. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass er zuvor durch Rubehn seine Unabkömmlichkeit ausrichten lässt. Van der Straaten begründet sein Erscheinen damit, daß er sich’s nicht habe versagen wollen, die freie halbe Stunde bis zum ministeriellen Diner au sein de sa famille zu verbringen. (82) Ob sich hinter seinem Besuch ein Kontrollversuch verbirgt, lässt sich nur mutmaßen. Dennoch steht seine kurze Stippvisite in einem signi kanten Missverhältnis zur vergleichsweise großen Distanz zwischen Cöllnischem Stadthaus und Tiergartenvilla, 288 zumal sein tatsächlicher Aufenthalt die Dauer von circa fünfzehn Minuten kaum 287 Vgl. Bibliographisches Institut (Verlag): Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Au age. Mit mehr als 16.800 Abbildungen im Text und auf über 1500 Bildtafeln, Karten und Plänen sowie 160 Textbeilagen. Siebenter Band: Franzensbad bis Glashaus. Neuer Abdruck. Leipzig, Wien 1907. Online abrufbar unter: http: / / www.zeno.org/ Meyers-1905 (letzter Zugri am 20.02.2023), darin den Artikel Gig, S. 842. 288 Ein Diner (82) beim Finanzminister (86) kann zur Romanzeit entweder in der Behrenstraße 72, dem Sitz des Preußischen Staatsministeriums, oder am Festungsgraben 1. I., dem privaten Wohnsitz des damaligen Finanzministers und Vize-Präsidenten des Staatsministeriums Otto von Camphausen, statt nden. (Vgl. das Berliner Adreß-Buch für das Jahr 1875. Redigiert von A. Ludwig. Hrsg. von der Societät der Berliner Bürger-Zeitung. VII. Jahrgang. Berlin 1875, I. Teil, S. 120 sowie IV. Teil, S. 24.) Somit liegen beide Adressen in der Nähe des Van der Straatenschen Kontors, weshalb sein Besuch in der Tiergartenvilla in keiner Weise auf seinem Weg zum ministeriellen Diner liegen kann. Der Weg zwischen dem Stadthaus und der Tiergartenvilla beträgt Straubes Übersichtsplan von Berlin zufolge gute fünf Kilometer. (Vgl. JS1910, Blatt III. A.-C. sowie, IV. A.-C.) Dass Van der Straaten aus der Stadt kommt, lässt sich aus seinem Mitbringsel für die Töchter, „[...] Pralinés [...] von Sarotti.“ (82) ermitteln, denn das 1852 gegründete Geschäft „Felix & Sarotti“ be ndet sich ab dem Jahr 1874 in der Dorotheenstraße 60. (Vgl. hierzu Rita Gundermann und Bernhard Wul : Der Sarotti-Mohr, S. 26.) Dazu passend wird im Roman „Irrungen, Wirrungen“ eine Wegstrecke von cira sechs Kilometern als „endlos weite[r] Weg“ (IW, S. 128.) bezeichnet. Die „[...] Pralinés [...] von Sarotti.“ (82) können zudem als mahnende Replik auf die „[...] Mohrenwäsche [...]“ (21) verstanden werden, denn Sarotti residierte zunächst an der Mohrenstraße, was mutmaßlich auch zum späteren Markenzeichen, dem „Sarotti-Mohr“, geführt hat. (Vgl. hierzu Rita Gundermann und Bernhard Wul : Der Sarotti-Mohr, S. 27.) Unterstrichen wird dies durch Lydias ablehnende Haltung zum Geschenk, die darüber hinaus mit Rubehn assoziiert wird. (Vgl. 82) <?page no="193"?> 3.3 Im Palmenhaus der Tiergartenvilla 181 übersteigen kann. 289 So erscheint sein Besuch einerseits als Kontrollversuch, anderseits informiert er über seinen bevorstehenden Aufstieg, 290 denn er habe „die Verp ichtung höherer gesellschaftlicher Formen übernommen [...].“ (83) 291 Van der Straaten möchte noch vor seiner Verabschiedung wissen: „Und nun sage mir, [...] wie Du diesen Nachmittag zu verbringen und unsern Freund Rubehn zu divertiren gedenkst.“ (83) Nachdem er die Fähigkeiten seiner Gattin als Gastgeberin anzweifelt, kommentiert Melanie seine Sorge ironisch mit den Worten: „Aengstige Dich nicht,“ entgegnete Melanie. „Es ist keine Frage, daß wir Dich schmerzlich entbehren werden. Du wirst uns fehlen, Du mußt uns fehlen. Denn wer könnt’ uns, um nur Eines zu nennen, den Hoch ug Deiner bilderreichen Einbildungskraft ersetzen. Kaum, daß wir ihr zu folgen verstehn. Und doch verbürg’ ich mich für Unterbringung dieser armen, verlorenen Stunden, die Dir so viel Sorge machen. Und Du sollst sogar das Programm wissen.“ (84) Melanies Ausführungen bezeugen erneut das distanzierte, inzwischen fast feindselige Verhältnis zu ihrem Ehemann und unterstreichen noch einmal die Zweiteilung des Hauses in Bilder- und Musikschwärmer, was Melanie durch die Anspielung auf Van der Straatens „[...] Hoch ug [s]einer bilderreichen Einbildungskraft [...]“ (84) 292 sowie den ersten geplanten Programmpunkt verdeutlicht: „Erst singen wir.“ (84) Van der Straaten fragt: „Tristan? “ (84) Worauf Melanie antwortet: „Nein. Und Anastasia begleitet. [...]“ (84) Besonders hintergründig erscheint dieser Dialog, weil mit der Anspielung auf „Tristan und Isolde“ erneut das sich anbahnende Dreiecksverhältnis im Hause Van der Straaten verhandelt 293 289 Dies ergibt sich aus den zeitlichen Angaben, denn Van der Straaten erscheint, setzt sich kurz hin und sagt dann, er müsse in zehn Minuten wieder gehen. (Vgl. 82-83) 290 Auch hierin könnte sich eine vorbewusste Angst gegenüber Rubehn verbergen, der Van der Straaten gleichsam durch die Betonung seines bevorstehenden gesellschaftlichen Aufstiegs zu begegnen versucht. 291 Mitglied einer Enqueten-Commission zu sein, bedeutet höchste politische Ehren. (Vgl. Maximilian Bergengruen: Ökonomisches Wagnis / Literarisches Risiko, S. 211.) Vgl. zum Oberzeremonienmeister und dessen Position in der Hofrangordnung Fußnote 3 auf Seite 31 dieser Arbeit und die dort genannten Quellen. 292 Hiermit wird nicht nur an jene Katastroph[e] (33) im Zusammenhang mit den Madonnen Murillos während des Abschieds-Diners in der Stadtwohnung sowie Melanies Scham wegen seiner Äußerungen bezüglich der Stralauer Wirtin erinnert, (Vgl. 71) sondern auch seine Eingebung beim Anblick der ‚Adultera‘ in Venedig rekapituliert. (Vgl. 14) 293 Vgl. hierzu Seite 130 dieser Arbeit. <?page no="194"?> 182 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt und zugleich auf die Bootsfahrt während der Landpartie Bezug genommen wird. Die Frage ausgerechnet nach dieser Oper kann als Indiz dafür gelten, dass der Kommerzienrat unterschwellig einen Ehebruch seiner Gemahlin mit Rubehn fürchtet. 294 Ihre Verneinung steht für eine erneute Absage an einen tragischen Romanausgang einerseits, andererseits evoziert sie dennoch Gemeinsamkeiten zur Wagneroper, wenn Anastasia beide gleichsam in der Rolle der Brangräne begleiten soll. 295 Nach gemeinsamem Musizieren und dem Diner soll Rubehn „[...] mit den Schätzen und Schönheiten [der Van der Straatenschen] Villa bekannt [...]“ (84) gemacht werden. Denn jener „[...] kennt trotzalledem nichts von dieser ganzen Herrlichkeit, als unser Eß- und Musikzimmer und hier draußen die Veranda mit dem kreischenden Pfau [...].“ (84) 296 Zunächst möchte Melanie Rubehn den Van der Straatenschen Obstgarten zeigen, denn der Kommerzienrat ist noch leidenschaftlicherer Obstzüchter als Bildersammler[.] (46) Im Anschluss soll das Palmenhaus (84) - ein zeittypisches Repräsentationsobjekt 297 - sowie abschließend das 294 In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Peter von Matt allgemein nachweist, dass der ‚Tristan‘-Mythos „via die Literatur die Moral des Abendlandes prägt, so nämlich, daß die Ehe als die falsche Form von Liebe, als die institutionalisierte Liebesleere geradezu begri en werde und daß alles unbedingte Glück nur außerhalb der Ehe, gegen die Ehe, im Bruch der Ehe auf Leben und Tod gesehen werden könne.“ (Peter von Matt: Liebesverrat, S. 71. Vgl. ausführlicher zum sozialwie kulturgeschichtlich zentralen Phänomen der gegenseitigen Ausgrenzung von Liebe und Ehe ebd., S. 70.) Dieses einschränkend sei jedoch Horchs Standpunkt berücksichtigt, der ‚Tristan‘ nicht als die Folie für das Dreiecksverhältnis im Roman sieht, weil die „apriorischmetaphysisch verankerte Gleichsetzung von Liebe und Tod nicht zu der letztlich bürgerlich-humanen Lösung des Kon ikts paßt.“ (Hans Otto Horch: Annäherungen an ein Jahrhundertereignis, S. 57.) 295 Vgl. dazu auch Seite 173 dieser Arbeit. 296 Zum dritten Mal wird hier der Pfauhahn erwähnt (Vgl. 48 und 54) und stellt somit eine Analogie zum biblischen Hahn her, der dreimal kräht, bevor Petrus Jesu verleugnet. (Vgl. LUT, Lk 22,31-34 sowie Joh 13,36-38.) Demnach ist der Hahn dem Volksglauben nach ein Orakeltier, dessen Krähen Dinge ankündigt und er gilt „als Warner vor teu ischem Tun.“ (Hedwig von Beit: Symbolik des Märchens. Versuch einer Deutung. Band 1. Zweite, verbesserte Au age. Berlin 1960, S. 222.) So verbindet der Pfauhahn die Verleugnungssymbolik des Hahns - hier in Form eines Ehebruchs - mit der Sexualitätssymbolik des Pfaus, der demgemäß auch als Attribut von Juno - der Göttin von Schwangerschaft und Ehe - in Erscheinung tritt. (Vgl. zum Pfau als Attribut der Juno Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S. 318.) 297 Roland Rainer: Gärten: Lebensräume, Sinnbilder, Kunstwerke. Graz 1982, S. 100. Vgl. hierzu ähnlich Georg Kohlmaier und Barna von Sartory: Das Glashaus: ein Bautypus des <?page no="195"?> 3.3 Im Palmenhaus der Tiergartenvilla 183 Aquarium (84) besichtigt werden. Van der Straaten lobt das Programm, dass ihn jedoch „[...] hinsichtlich seiner letzten Nummer etwas erschreckt oder wenigstens zur Vorsicht mahnen läßt. [...]“ (84-85) Der Kommerzienrat berichtet nunmehr: „[...] Sie müssen nämlich wissen, Rubehn, was wir letzten Sommer [...] schaudernd selbst erlebt haben. Nicht mehr und nicht weniger als einen Ausbruch, Eruption [...]. Denken Sie sich, eine der großen Glasscheiben platzt, [...] und siehe da, ehe wir drei zählen können, steht unser ganzer Aquarium ur nicht nur handhoch unter Wasser, sondern auch alle Schrecken der Tiefe zappeln um uns her, und ein großer Hecht umschnopert Melanie’s Fußtaille mit allersichtlichster Vernachlässigung Tante Riekchens. O enbar also ein Kenner. Und in einem Anfalle wahnsinniger Eifersucht hab’ ich ihn schlachten lassen und seine Leber höchsteigenhändig verzehrt.“ (85) Erneut zeigt sich der Zusammenhang zwischen Wasser und Erotik, 298 während der Zeitpunkt „[...] letzten Sommer [...]“ (85) auf ebenjene venezianische Eingebung Van der Straatens verweist, die einen Ehebruch prophezeit. (Vgl. 14) Wenn er „[...] in einem Anfalle wahnsinniger Eifersucht [...]“ (85) den Raub sch, der sich seiner Frau genähert hat, schlachten lässt, darf sich Rubehn hiermit angesprochen und gewarnt fühlen, nicht zum Jäger der Kommerzienrätin zu werden. Van der Straaten kann jedoch nicht wissen, dass Rubehn diese Position bereits eingenommen hat, indem er während der Bootsfahrt von Stralau nach Treptow - letzteres ursprünglich hervorgegangen aus einem Jägerhaus 299 - in der Rolle des Jäger-Ichs aus dem Lied „Rohtraut, Schön-Rohtraut“ (78) rezitiert, um der Kommerzienrätin so versteckt seine Liebe zu o enbaren. Diese Konstellation ndet im Standort der Villa am Nordwestrande des Thiergartens (8) - ursprünglich einem Jagdgebiet 300 - ihre Ergänzung, so dass Van der Straaten in der Folge seine Gattin alleine mit dem ‚Jäger‘ Rubehn im ‚Jagdrevier‘ zurücklassen wird. 19. Jahrhunderts. München 1981 (= Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts; Band 43), S. 360. 298 Ein ähnlicher Zusammenhang zwischen weiblicher Untreue und dem Element Wasser lässt sich im Roman „Graf Petöfy“ ablesen: „„[...] Aber die langen Regentage sind schuld, da ng es an. [...]““ (GP, S. 195.) Zudem erscheint Melanie durch die Überschwemmung des Aquariums, die dabei auch synonym für einen weiblichem Ehebruch steht, erneut als Wasserfrau. (Vgl. Christian Grawe: L’Adultera, S. 526.) 299 Vgl. hierzu Friedrich Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente, S. 612. 300 Vgl. allgemein zur Geschichte des Tiergartens als kurfürstliches Jagdgebiet Susanna Brogi: Der Tiergarten in Berlin - ein Ort der Geschichte, S. 18. <?page no="196"?> 184 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt 3.3.3 Vorspiel: „Unsere Scham ist unsere Schuld“ Dem anderthalbstündigen Musiciren folgte das kleine Diner, opulenter als gedacht, und die Sonne stand eben noch über den Bosquets, als man sich erhob, um draußen im „Orchard“ ein zweites Dessert von den Bäumen zu p ücken. Dieser für allerhand Obst-Culturen bestimmte Theil des Parkes, lief, an sonnigster Stelle, neben dem Fluß entlang und bestand aus einem anscheinend endlosen Kieswege, der nach der Spree hin o en, nach der Parkseite hin aber von Spalierwänden eingefaßt war. An diesen Spalieren, in kunstvoller Weise behandelt und jeder einzelne Zweig gehegt und gep egt, reiften die feinsten Obstarten, während kaum minder feine Sorten an nebenher laufenden niederen Brettergestellen, etwa nach Art großer Ananas-Erdbeeren, gezogen wurden. (86) Seit jeher gelten Gärten als Inszenierung der Erfüllung einer großen Sehnsucht nach dem Paradies, weshalb sie gemeinhin als „ein Echo auf das Paradies“ 301 verstanden werden können. 302 Überdeutlich wird ebendiese Vorstellung zitiert, wenn Melanie und Rubehn in Analogie zu Adam und Eva ein zweites Dessert von den Bäumen p ücken. Während Anastasia langsam und in wachsenden Abständen (86) folgt, begleitet Heth auf ihrem Velocipède [...] die Mama [...], ohne die geringste Ahnung davon, daß ihre rückseitige Drapirung in ein immer komischeres und ungenirteres Fliegen und Flattern kam. Melanie, wenn Heth die Wendung machte, suchte jedesmal durch ein lebhafteres Sprechen über die kleine Verlegenheit hinweg zu kommen, bis Rubehn endlich ihre Hand nahm und sagte: „Lassen wir doch das Kind. Es ist ja glücklich, beneidenswerth glücklich. Und Sie sehen, Freundin, ich lache nicht einmal.“ „Sie haben Recht,“ entgegnete Melanie. „Thorheit und nichts weiter. Unsere Scham ist unsere Schuld. [...].“ (86-87) Durch das ungenirter[e] Fliegen und Flattern (87) ihrer Kleidung bringt Heth ihre Mutter in Verlegenheit - hierdurch nebenbei bemerkt ganz des Vaters [...] 301 Hans von Trotha: Gartenkunst, S. 9. 302 Vgl. ebd., S. 8-9. Durch die Vertreibung aus dem Paradies ist der Garten „zum zentralen Fluchtpunkt geworden“. (Ebd., S. 23.) <?page no="197"?> 3.3 Im Palmenhaus der Tiergartenvilla 185 Ebenbild[.] (8) 303 Als Rubehn das unschickliche Verhalten mit dem Glückszustand des Kindes 304 relativiert, bestätigt Melanie dies mit den Worten: „[...] Thorheit und nichts weiter. Unsere Scham ist unsere Schuld. Und eigentlich ist es rührend und entzückend zugleich.“ (87) Hierdurch o enbart sich erneut Melanies problematisches Verhältnis zur Gesellschaftsmoral, denn bereits die ‚Ehebrecherin‘ Tintorettos „[...] wirkt eigentlich rührend [...]“ (12-13) auf sie. Diese Passage liest sich wie eine Gesellschaftskritik im Sinne des Genfer Philosophen Rousseau, denn dieser lehnt nicht nur die „Erbsünde“ 305 ab, 306 sondern auch das Kupieren von P anzen, (Vgl. 86) das ihm als ein Bändigen und Beherrschen der Natur, gleichsam als ihre „Verstümmelun[g]“ 307 gilt. So kontrastiert Heths ungezwungenes Gebaren nicht nur die Van der Straatensche Einhegung der Natur, sondern gibt gleichzeitig Rubehn eine Bühne seine Kritik an ebenjener Einhegung zu bekunden, in die Melanie sogleich einstimmt. Ihre diesbezügliche Feststellung lässt einerseits den biblischen Sündenfall anklingen, andererseits legitimieren beide in ihrer Übereinkunft bezüglich der Zweifelhaftigkeit gesellschaftlicher Schamvorstellungen vorab den Ehebruch. Hierfür zeichnet gleichfalls erneut der Garten mitverantwortlich, denn ein Ort, der dem Paradies so nahe kommt, ist naturgemäß der ideale Ort für Liebe und Erotik. 308 Das Potential von Gärten als „erotische Stimulanz“ 309 wird nicht nur während Rubehns Antrittsbesuch in der Tiergartenvilla etabliert, (Vgl. 54) sondern ist bereits zuvor von Melanie indiziert worden, wenn sie das Aus ugslokal „Krugs Garten, mit einer Verlobung im Hintergrund“ (20) verbindet. Zugleich stellt jene Übereinkunft zwischen Melanie und Rubehn eine Grenzüberschreitung dar, die durch Heths 303 Vergleichbar mit Van der Straaten, der in Stralau nichts von dieser Verstimmung (71) bemerkt, hat auch Heth nicht die geringste Ahnung (87) von der Wirkung ihres Tuns. 304 Hier sei noch einmal daran erinnert, dass dem zeitgenössischen Verständnis nach Kindlichkeit als Symbol eines naturhaften Elementarzustandes begri en wird. (Vgl. hierzu Seite 166 dieser Arbeit.) 305 Tim Zumhof: Teil II. Der pädagogische Rousseau. In: Rousseau zur Einführung. Hrsg. von Ursula Reitemeyer und dems. Berlin 2014, S. 23-60, hier S. 27. Dennoch begreift Rousseau in seinem Bildungsroman „Émile“ (1759-1761) die Scham als weibliche Tugend, weil das Schamgefühl die Begierden der Frau begrenze. (Vgl. hierzu ausführlich Magdalena Scherl: Ersehnte Einheit, unheilbare Spaltung. Geschlechterordnung und Republik bei Rousseau. Bielefeld 2016, S. 130-133.) 306 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Erbsünde, Paradies und Schamgefühl exemplarisch Hans von Trotha: Gartenkunst, S. 13. 307 Tim Zumhof: Teil II. Der pädagogische Rousseau, S. 28. 308 Vgl. hierzu allgemein Hans von Trotha: Gartenkunst, S. 12. 309 Ebd., S. 12. <?page no="198"?> 186 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Begleitung auf ihrem Velocipède (86) re ektiert wird, denn das Fahrradfahren gilt noch im Jahr 1896, also zwanzig Jahre nach der Romanzeit und obwohl es sich bereits größter Beliebtheit erfreut, als ein „Massenwahnsinn ohnegleichen“. 310 Auf der einen Seite wird die Künstlichkeit des Parks betont, der sich nicht in einem Naturzustand, sondern in einem Kulturzustand be ndet, 311 denn die Obst-Culturen (86) werden in kunstvoller Weise behandelt[.] (86) Auf der anderen Seite wird der kommerzienrätliche „Orchard“ (86) durch die Aufhebung des Schamgefühls als Paradies imaginiert. 312 So erweist sich der Garten erneut als ein Grenzraum, dem eine Spannung von Natur und Kultur inhärent ist. 313 Dies wird zugleich über den langen und schmalen Spaliergang (87) deutlich, den Melanie und Rubehn nehmen, denn dieser ist nach der Spree hin o en, nach der Parkseite hin aber von Spalierwänden eingefaßt[.] (86) So be nden sich beide auf einem Terrain, welches sinnbildich zwischen der durch Spalierwände reglementierten Natur und der zum Wasser hin geö neten, ungebändigten Natur changiert. 314 Dabei wird jene ungebändigte Form des Wassers zugleich als Ort der Gefahr markiert, 315 wenn Melanie Heth anweist: „[...] Und nicht zu nah an die Spree! [...]“ (87) Der Spalierweg mündet in einen breiten avenueartigen Weg: Hier, im Centrum der ganzen Anlage, erhoben sich denn auch, nach dem Vorbilde der berühmten englischen Gärten in Kew, 316 ein paar hohe, glasgekuppelte Palmenhäuser, an deren eines sich ein altmodisches Treibhaus anlehnte[.] (87) Letzteres ist inzwischen in die Hände des alten Gärtners [Kagelmann] übergegangen (87) und lässt den wachsenden Reichtum des Hauses Van der Straaten 310 Ruth Glatzer: Berlin wird Kaiserstadt, S. 222. 311 Vgl. Hiltrud Bontrup: „... auch nur ein Bild.“, S. 31 und 35. 312 Vgl. zum Zusammenhang zwischen dem Paradies und der Aufhebung des Schamgefühls exemplarisch Hans von Trotha: Gartenkunst, S. 13. 313 Vgl. hierzu Vera Alexander: Elizabeths „deutsch-englischer“ Garten, S. 106-107. 314 Vgl. zu diesem Gegensatz, der entsprechende Gegensätzlichkeiten zwischen Rubehn und Van der Straaten einfängt, auch Seite 122 dieser Arbeit. 315 Überdies wird an den Moment der Grenzüberschreitung während der Wasserfahrt (Vgl. 77) erinnert, der den Ehebruch bereits vorausgedeutet hat. 316 Die Royal Botanic Gardens in Kew werden zwischen 1844 und 1848 außerhalb des Londoner Stadtgebiets erbaut und gelten als „one of the very nest plant-houses in the world.“ (Georg Kohlmaier und Barna von Sartory: Das Glashaus, S. 402.) Heide Eilert erkennt hier einen Grund für die Namenswahl Van der Straaten, denn der belgische Architekt van der Straaten hat Palmenhäuser nach dem Vorbilde Kews in Kontinentaleuropa erbaut. (Vgl. Heide Eilert: Im Treibhaus, S. 503.) <?page no="199"?> 3.3 Im Palmenhaus der Tiergartenvilla 187 erkennen. Nach einer Galanterie seitens des Gärtners fordert Melanie, jener müsse sich verheiraten: „[...] Ein Mann wie Sie, so frisch und so gesund, und so ein gutes Geschäft. Und reich dazu. [...]“ (88) 317 Kagelmann betont die Wichtigkeit des einander entsprechenden Alters: „Dreißig is jut, un dreißig zu dreißig, das stimmt ooch. Aber sechszig in dreißig jeht nich. Und da sagt denn die Frau: borg ich mir einen.“ (89) Als Beleg hierfür berichtet er von einem anderen Gärtner, der von seiner deutlich jüngeren Ehefrau für einen jungen Mann verlassen worden sei. 318 Hiermit erschöpfen sich jedoch keineswegs die Gemeinsamkeiten zwischen Kagelmanns Beispiel und dem kommerzienrätlichen Ehepaar, denn der Gärtner verbindet zusätzlich eheliche Untreue mit der Vorliebe für Musik, wenn er über die ehebrecherische Gärtnersfrau feststellt: „[...] un saß immer ins mittelste Zelt, Nummer 4, wo Kaiser Wilhelm steht, un wo immer die Musik is mit Clavier un Flöte.“ (89) Ferner erläutert der Gärtner die Verführungskraft des Fremden: 319 „Aber ein xer, kleiner Kerl war es, so was Italien’sches [...].“ (90) 320 Romanintern ist dem ‚Fremden‘ bereits eine erotische Anziehungskraft zugeschrieben worden, denn „[...] an allem Fremden verkucken sich die Berliner. [...]“ (43) 321 Dabei ergibt sich über die jeweilige Betonung ihrer Fremdheit sowohl bei Melanie als auch bei Rubehn (Vgl. 21, 43, 55, 92) ein weiterer Beleg für die passende Verbindung jenseits des entsprechenden Alters und gleichen Kunstgeschmacks. Zudem betont Kagelmann die Augen des „[...] Gelbschnabel[s] [...]“ (89): „[...] Aber ein paar Oogen! Ich sag Ihnen, Frau Commerzienräthin, wie’n Feuerwerk, un es war orntlich, als ob’s man so prasselte.“ (90) Auch gegenüber dieser Ehebrecherin fällt Melanie - wie schon bei Tintorettos ‚Adultera‘ - ein Urteil, welches von den üblichen Moralvorstellungen abweicht, denn sie rechtfertigt das Tun der Ehebrecherin 317 In Melanies Au orderung darf sich Rubehn mit angesprochen fühlen, denn dieser wird ebenso als reich (40) beschrieben. 318 Weitere Gemeinsamkeiten zwischen der von Kagelmann beschriebenen Gärtnersfrau und Melanie ergeben sich über den Hinweis „[...] un immer janz schwarz, un ne hübsche Person [...].“ (89) 319 Dass das Fremde im konkreten Fall nicht eingelöst wird, kommt im „[...] un war doch blos aus Rathnow [...]“ (90) zum Ausdruck und belegt, dass der Eindruck der Fremde und nicht ihr tatsächliches Vorhandensein relevant für ihre Wirkung ist. 320 Vgl. zur klischeehaften Verbindung zwischen Italienern und lasziver Erotik den sprichwörtlich gewordenen venezianischen Schriftsteller Giacomo Girolamo Casanova (1725- 1798). 321 So wird Rubehn vom weiblichen Romanpersonal (Vgl. 70, 74-75, 136-137) und Melanie vom männlichen als anziehend empfunden. (Vgl. 43, 88, 104) <?page no="200"?> 188 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt mit den Worten: „[...] Denn wenn einer solche Augen hat ...“ (90) Hierdurch konstituiert sich eine erneute Parallele zur Wagneroper „Tristan und Isolde“, denn auch hier wird der Blick in die Augen zum Moment der auslösenden Liebe. 322 In der Folge versucht Melanie weiter den Gärtner vom Heiraten zu überzeugen 323 und verspricht ihm eine Hochzeit mit „[...] Gesang und Palme [...]“ (92) ausrichten zu wollen, [d]enn ohne Palmen und Gesang ist es nicht feierlich genug. Und aufs Feierliche kommt es an. Und dann gehen wir in das große Treibhaus, bis dicht an die Kuppel, und machen einen wundervollen Altar unter der allerschönsten Palme. Und da sollen Sie getraut werden. Und oben in der Kuppel wollen wir stehn und ein schönes Lied singen, einen Choral, ich und Fräulein Anastasia, und Herr Rubehn hier und Herr Elimar Schulze [...].“ (92) Das Gespräch über die imaginierte Hochzeit Kagelmanns lässt nicht nur den nachfolgenden Ehebruch im Palmenhaus anklingen, sondern konstituiert mit dem vorgeschlagenen musikalischen Quartett erneut die dem Quartett eingeschriebene erotische Figuration. 324 Darüber hinaus erscheint in Melanies Beschreibung das Palmenhaus als Kirche, denn sie will einen „[...] Altar unter der allerschönsten Palme [...]“ (92) errichten und wählt zusätzlich als Gesangsform den religiösen „[...] Choral [...].“ (92) Dies wird erzählerisch untermauert, weil das große Palmenhaus (93) mit Begri ichkeiten der Sakralarchitektur, wie beispielsweise seinen hohen Emporen des Langschi es[,] (93) beschrieben wird. Jenes religiöse Setting wird durch die Palme, die nicht nur integraler Bestandteil einer exotischen P anzensammlung, sondern zudem „als Kennzeichen der Nähe Gottes“ 325 zu verstehen 322 Vgl. Hartmut Reinhardt: Zauberblick und Liebesqual, S. 132. Hier sei zudem an die Stralauer Wirtin erinnert, die versucht mit Rubehn Blickkontakt aufzunehmen. (Vgl. 70) 323 Dass sie damit keinen Erfolg haben wird, belegt der Akazienbaum vor dem Gärtnerhaus, der als Symbol der Unveränderlichkeit gilt. (Vgl. zur Symbolik der Akazie allgemein Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S. 27.) 324 Vgl. hierzu Seite 87 und 147 dieser Arbeit. Auch hier kommt die unheilvolle Tradition, die dem Quartett in der Literatur innewohnt, nicht zum Tragen, denn auch hier bildet sich letztlich kein Quartett, weil Kagelmann unverheiratet bleibt und sich überdies die in Stralau anbahnende Liebesbeziehung zwischen Anastasia und Elimar nicht erfüllen wird. (Vgl. 98) 325 Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 146. <?page no="201"?> 3.3 Im Palmenhaus der Tiergartenvilla 189 ist, unterstrichen. Daher kann die Zeugung des Kindes 326 in der kirchlichen Atmosphäre des Palmenhauses als göttliche Segnung des neuen Paares begri en werden, die abermals das versöhnliche Ende vorausdeutet. 327 Eingedenk der kirchlichen Assoziationen des Palmenhauses in Kombination mit Rubehns Taufe ausgerechnet am Bartholomäustag und seiner damit einhergehenden Rolle als der ‚richtige‘ Bräutigam der „Hochzeit zu Cana“ (26), 328 kann das kleine Diner, opulenter als gedacht (86) 329 auch als Hochzeitsmahl gedeutet werden, wodurch abermals die Verbindung des neuen Liebespaares legitimiert wird. Eine Bestätigung dieser Lektüre erfolgt fünf Kapitel später, denn so wie Van Der Straaten im Vorfeld des Diners englischen „[...] Stilton-Käse [...]“ (83) zu dessen Abrundung ins Spiel bringt und die kommerzienrätlichen Palmenhäuser nach dem Vorbilde der berühmten englischen Gärten in Kew (87) gebaut sind, werden Melanie und Rubehn dann in einer kleinen englischen Kapelle (121) heiraten. Eine weitere Legitimation des Ehebruchs alludiert die von Epheu (87) überwachsene Bank, auf der Melanie und Rubehn zuvor Platz genommen haben, denn im antiken Griechenland erhalten Brautpaare Efeu als Symbol ewiger Treue. 330 In einer weiteren, dies ergänzenden Lesart verschränken sich im jahreszeitlich abwegigen „[...] Stilton-Käse [...]“ (83) weitere Bedeutungsebenen: Erstens schlägt dessen Nennung durch Van der Straaten selbst den Bogen zu seiner eigenen, den Ehebruch nachträglich legitimierenden Versöhnungsgeste am Heiligen Abend, (Vgl. 163) 331 denn „[t]here is no denying that Stilton is synonymous with Christmas.“ 332 326 Die Palme ist ein „uraltes Fruchtbarkeitssymbol“. (Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 229.) 327 Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 148-149. Die religiöse Atmosphäre im Palmenhaus wird zusätzlich unterstrichen durch die Nennung religiöser Handlungen und Ämter (Vgl. 91) im Gespräch mit Gärtner Kagelmann. Dabei hat Fontane beispielsweise das Wort Etage eines früheren Entwurfs durch den Begri Emporen (93) ersetzt. (Vgl. hierzu Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 146-148.) 328 Vgl. hierzu Seite 179 dieser Arbeit. 329 An dieser Stelle sei auch Sergej Rickenbacher erwähnt, der bereits das kleine Diner, opulenter als gedacht (86) als Exzess wertet, der gleichsam dem Exzess im Palmenhaus vorausgeht. (Vgl. Sergej Rickenbacher: Zwischen Askese und Exzess, S. 18.) 330 Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S. 92. 331 Vgl. dazu ebenso Abschnitt 6.4.2 dieser Arbeit. 332 Paxton & Whit eld (Webseite): Maturing Stilton - The Journey to Christmas. Online abrufbar unter https: / / www.paxtonandwhitfield.co.uk/ blog/ maturing-stilton -the-journey-to-christmas (letzter Zugri am 20.02.2023). <?page no="202"?> 190 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Zweitens verweist die unpassende Idee eines sommerlichen Stiltongenusses auf das „[...] immer unpassend[e] [...]“ (76) Verhalten ihres Urhebers, weshalb Van der Straaten in der Gesellschaft [auch] nur bedingungsweise (5) gilt. 333 So re ektiert der Stilton nicht nur die tiefere Ursache des folgenden Ehebruchs, 334 sondern prä guriert auch in dieser Hinsicht die spätere, gesellschaftlich nonkonforme Versöhnungsgeste, 335 womit im Stilton die gemeinsame Wurzel von Ehebruch und späterer Vergebung konnotiert erscheint. Drittens kann die kommerzienrätliche Andeutung um ein unpassendes Dessert erneut mit der englischen Herkunft des Stilton in Verbindung gebracht werden und wirft damit ein Schlaglicht auf den englisch konnotierten Rubehn (Vgl. 18, 20, 129, 138) und sein ebenfalls unpassendes Verhalten im Nachgang des Diners. Denn wie Van der Straaten richtig vermutet (Vgl. 83) reicht das kleine Diner, opulenter als gedacht (86) nicht als Zeitvertreib bis zu seiner Wiederkehr aus, weshalb Rubehn in der Folge den genuin Van der Straatenschen Vorschlag eines ‚unpassenden Zeitvertreibs‘ in erweiterter Form aufgreifen und die kommerzienrätliche Ehe brechen wird. Die englische Konnotation des Ehebruchs 336 impliziert dabei die spätere Hochzeit der Ehebrecher, entstammt doch die Gründung der anglikanischen Kirche selbst dem Wunsch ihres Stifters, des englischen Königs Heinrich VIII., seinen eigenen Ehebruch nebst Scheidung und Neuverheiratung kirchlich zu legitimieren. In diesem Kontext kann ebenfalls der Passus der nach dem Vorbilde der berühmten englischen Gärten in Kew (87) gebauten Palmhäuser, in denen der Ehebruch vollzogen wird, als Hinweis darauf gelesen werden, dass der Ehebruch nach ‚englischem Vorbild‘ vollzogen wird, also mit der Scheidung der gebrochenen Ehe und der Hochzeit der Ausgestoßenen (Vgl. 138, 144-145) unter dem Schutze der anglikanischen Kirche. 337 Dabei ist auch der Umstand Die Herstellung des Stilton beginnt Anfang Oktober. Nach fünfwöchiger Reifung wird dann im November ein Anstich vorgenommen, um das Wachstum des für den Stilton charakteristischen Blauschimmels zu beleben. Zu Weihnachten weist der Käse schließlich eine optimale Reife auf. (Vgl. ebd.) Paxton & Whit eld ist eine 1797 in London gegründete Käsehandlung und seit 1850 immer wieder Lieferant des englischen Hofs, zuletzt von Königin Elisabeth II. sowie dem Prinzen von Wales, Charles. Auf zitierter Webseite werden regelmäßig kurze Essays über unterschiedliche Käsesorten verö entlicht. 333 Vgl. dazu die Abschnitte 2.1 und 3.2.2 dieser Arbeit, zweiteres insbesondere ab Seite 163. 334 Vgl. dazu auch Abschnitt 2.2.4 dieser Arbeit. 335 Vgl. zur Nonkonformität Fußnote 107 auf Seite 25, Fußnote 93 auf Seite 229 sowie Abschnitt 6.4.2 dieser Arbeit. 336 Vgl. dazu auch den nächsten Abschnitt, 3.3.4, dieser Arbeit. 337 Vgl. dazu auch Seite 278 dieser Arbeit. <?page no="203"?> 3.3 Im Palmenhaus der Tiergartenvilla 191 des Ausgestoßenseins an sich, mit dem die Ehebrecher in der Folge konfrontiert werden, den englischen Bezügen des Ehebruchs eingeschrieben, denn bekanntermaßen wird Heinrich VIII. aufgrund seiner Verfehlungen von Papst Paul III. exkommuniziert und so im Sinne Roms zum Ausgestoßenen. 338 Mithin kondensiert das von Van der Straaten aufgebrachte sommerliche Stiltondessert Ursache, Verlauf und Ende des Ehebruchs in ra nierter Weise. 3.3.4 Höhepunkt: Im ‚Hot-House‘ „Und zu vorläu gem Dank für all die kommenden Herrlichkeiten [...]“ (92) soll der Gärtner die beiden „[...] in das Palmenhaus führen. [...]“ (92) Und nun gingen sie zwischen langen und niedrigen Backsteinöfen hin, den blos mannsbreiten Mittelgang hinauf, bis an die Stelle, wo dieser Mittelgang in das große Palmenhaus einmündete. Wenige Schritte noch und sie befanden sich wie am Eingang eines Tropenwaldes und der mächtige Glasbau wölbte sich über ihnen. Hier standen die Prachtexemplare der Van der Straaten’schen Sammlung: Palmen, Dracäen, Riesenfarren, und eine Wendeltreppe schlängelte sich hinauf, erst bis in die Kuppel und dann um diese selbst herum und in einer der hohen Emporen des Langschi es weiter. (92-93) Das Treibhaus wird seit den 1880er Jahren aufgrund seiner im Glashaus zum Ausdruck kommenden Distanz zur Außenwelt zum Motiv der Literatur des Fin de Siècle 339 und bildet einen „festen, häu g sexuell konnotierten Topos in der europäischen Literatur der Décadence.“ 340 Dabei gehört „L’Adultera“ zu einem 338 Vgl. zur englischen Konnotation des Ausgestoßenseins auch die Fußnoten 163 und 164 auf den Seiten 278 und 279 dieser Arbeit. 339 Vgl. Winfried Jung: Bildergespräche, S. 172 sowie Heide Eilert: Im Treibhaus, S. 507. 340 Katharina Grätz: Alles kommt auf die Beleuchtung an, S. 128. Während in der Forschung die au älligen Ähnlichkeiten zwischen „L’Adultera“ und Émile Zolas 1872 erschienenen Roman „La Curée“ (Die Beute) betont werden, (Vgl. dazu Hiltrud Bontrup: „... auch nur ein Bild.“, S. 35-36; Heide Eilert: Im Treibhaus, S. 505; Isabel Nottinger: Fontanes Fin de Siècle, S. 162 und schließlich Niels Werber und Esther Ruelfs: Techniken der Zeit- und Raummanipulation, S. 278-282.) belegt Gabriele Radecke, dass sich Fontane mit Zolas Roman erst nach dem Zeitschriftenerscheinen von „L’Adultera“ beschäftigt hat. (Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 114.) Unabhängig davon haben beide Romane das Treibhaus mit einer sexuellen Bedeutung konnotiert und eine Skandalrezeption verursacht, (Vgl. hierzu exemplarisch Niels Werber und Esther <?page no="204"?> 192 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt der ersten deutschsprachigen Texte, in dem das Palmenhaus nicht nur eine großbürgerliche Existenz zur Schau stellt, sondern dem aufgrund seiner „exotischerotischen Wirkung als Ort des Ehebruchs [...] eine zentrale Rolle zukommt.“ 341 Im Allgemeinen wird das Treibhaus als Symbol für Exklusivität, Lebensferne und Künstlichkeit begri en. 342 Dabei wird letztere im kommerzienrätlichen Palmenhaus o en zur Schau gestellt, da die Roman guren zwischen langen und niedrigen Backsteinöfen hin (92-93) gehen. 343 Die einseitige Fokussierung der Forschung auf den Aspekt der Künstlichkeit lässt allerdings unberücksichtigt, dass im Treibhaus keinesfalls der Ablauf eigentlich unnatürlicher Prozesse ermöglicht wird. So arbeiten Palmenhäuser zwar mit hocharti ziellen technischen Methoden, 344 scha en damit jedoch in ihrem Inneren gerade eine passende Umgebung, „in denen die Gewächse [fremder klimatischer Zonen] unter ihren natürlichen Existenzbedingungen kultiviert Ruelfs: Techniken der Zeit- und Raummanipulation, S. 284.) obwohl der Treibhaus-Topos und seine Erotik zumindest im Frankreich jener Zeit längst etabliert ist. (Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 113.) 341 Ebd., S. 113. 342 Vgl. beispielsweise Isabel Nottinger: Fontanes Fin de Siècle, S. 165. Gottfried Zeitz sieht im Treibhaus ein „Symbol für eine Sinnlichkeit, die von dem Zwang der gesellschaftlichen Normen entbunden ist.“ (Gottfried Zeitz: Die poetologische Bedeutung des Romans „L’Adultera“ für die Epik Theodor Fontanes, S. 187.) Hierzu ähnlich konstatiert Arturo Lacrati im Treibhaus die Aufhebung der bürgerlichen Gesetze von P icht und Anstand. (Vgl. Arturo Lacrati: Ekphrasis bei Fontane und Marie Luise Kaschnitz, S. 123.) 343 Hieraus ergibt sich eine weitere Parallele zur Pfaueninsel, denn die beschriebenen Heizungsschächte erinnern an Carl Blechens (1798-1840) Gemäldereihe „Das innere des Tropenhauses“ (1832-1834), die das Treibhaus der Pfaueninsel zeigt: „Die theatralische Inszenierung einer exotischen Welt, die einen Blick in eine fremde Welt freigibt, bricht sich an einer arti ziellen, technischen Realität - etwa in Form der überdeutlich gezeigten Heizungsschächte. Die Künstlichkeit dieser imaginierten Welt wird also mitausgestellt.“ (Niels Werber und Esther Ruelfs: Techniken der Zeit- und Raummanipulation, S. 269.) Fontane hat sich während der Fertigstellung der Buchausgabe des Romans intensiv mit dem Werk des Theatermalers Carl Blechen auseinandergesetzt. (Vgl. Tb2, S. 144-148.) Gabriele Radecke kann jedoch plausibel zeigen, dass Fontane die Bilder Blechens erst nach Erscheinen des Zeitschriftenabdrucks von „L’Adultera“ gesehen hat. (Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 115 und 139.) Trotzdem ist ihm die Pfaueninsel seit seiner Jugend bekannt, so dass er auch ohne die Blechen-Bilder gesehen zu haben, das dortige Palmenhaus im Sinn gehabt haben könnte. (Vgl. dazu W3, S. 189.) 344 Die technischen Voraussetzungen hierfür liegen erst seit Anfang des 19. Jahrhunderts vor. (Vgl. exemplarisch den Stichpunkt Gewächshäuser. In: Damen Conversations Lexikon. Hrsg. im Verein mit Gelehrten und Schriftstellerinnen von C.[arl] Herloßsohn. Vierter Band. Eskimos bis Grätz. Adorf 1835, S. 420-423, hier S. 422-423.) <?page no="205"?> 3.3 Im Palmenhaus der Tiergartenvilla 193 werden.“ 345 Somit stellt sich das Treibhaus als eine Art Schnittstelle zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit dar, 346 die als Katalysator Bedingungen zum Ablauf eines natürlichen Prozesses bereitstellt, der durch die spezi schen lokalen Gegebenheiten ansonsten verhindert würde. In diesem Sinne ist die Verbindung zwischen Melanie und Rubehn zwar die ‚Natürliche‘, jedoch wird diese von der als gleichsam ‚unnatürlich‘ gezeichneten Van der Straatenschen Ehe und damit einhergehend den gesellschaftlichen Normen verhindert - gleich dem Samen einer exotischen P anze der im rauen Klima des Nordens nicht zu wachsen vermag. So ermöglicht die katalytische Wirkung des Treibhauses - in Kombination mit seiner Distanz zur Außenwelt - den Ehebruch, der „[...] seine natürliche Consequenz [...]“ (116) zur Folge haben wird. Und als sie nun allein waren, nahm Rubehn den Vortritt und stieg hinauf und eilte sich, als er oben war, der noch auf der Wendeltreppe stehenden Melanie die Hand zu reichen. Und nun gingen sie weiter über die kleinen, klirrenden Eisenbrettchen hin, die hier als Dielen lagen, bis sie zu der von Kagelmann beschriebenen Stelle kamen, besser beschrieben, als er selber wissen mochte. Wirklich, es war eine phantastisch aus Blattkronen gebildete Laube, fest geschlossen, und überall an den Gurten und Ribben der Wölbung hin rankten sich Orchideen, die die ganze Kuppel mit ihrem Duft erfüllten. Es athmete sich wonnig aber schwer in dieser dichten Laube; dabei war es, als ob hundert Geheimnisse sprächen, und Melanie fühlte, wie dieser berauschende Duft ihre Nerven hinschwinden machte. Sie zählte jenen von äußeren Eindrücken, von Luft und Licht abhängigen Naturen zu, die der Frische bedürfen, um selber frisch zu sein. Ueber ein Schneefeld hin, bei rascher Fahrt und scharfem Ost, - da wär’ ihr der heitere Sinn, der tapfere Muth ihrer Seele wiedergekommen, aber diese weiche, schla e Luft machte sie selber weich und schla , und die Rüstung ihres Geistes lockerte sich und löste sich und el. „Anastasia wird uns nicht nden.“ „Ich vermisse sie nicht.“ „Und doch will ich nach ihr rufen.“ 345 Gewächshäuser. In: Brockhaus, F. A. (Verlag): Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon. Fünfte, vollständig neu bearbeitete Au age. In zwei Bänden. Erster Band. A-K. Leipzig 1911, S. 677. 346 Diese Eigenschaft teilt sich das Treibhaus mit dem Landschaftsgarten, jedoch versucht letzterer seinen künstlichen Aspekt zu verbergen, während das Treibhaus diesen eher betont. <?page no="206"?> 194 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt „Ich vermisse sie nicht,“ wiederholte Rubehn und seine Stimme zitterte. „Ich vermisse nur das Lied, das sie damals sang, als wir im Boot über den Strom fuhren. Und nun rathe.“ „Long, long ago ...“ Er schüttelte den Kopf. „O säh ich auf der Haide dort ...“ „Auch das nicht, Melanie.“ „Rohtraut“, sagte sie leis’. Und nun wollte sie sich erheben. Aber er litt es nicht und kniete nieder und hielt sie fest, und sie üsterten Worte, so heiß und so süß, wie die Luft, die sie athmeten. (93-94) Nach Peter Demetz sinke ebenjene Textstelle, in der Rubehn vor Melanie niederkniet „unausweichlich in die Niederungen des Kitsches“. 347 Dabei verkennt er jedoch, dass der Text in seiner Motiv- und Verweisstruktur geschickt komponiert ist: So erfüllt sich zunächst vielfältig derjenige Teil der echt Van der Straaten’schen Expectoration (68) während der Landpartie bezüglich eines weiblichen Ehebruchs, bei der ein „[...] junge[r] Fant [...] auf ein[em] Fußkissen niederkniet [...]. Und dann seufzt er zum dritten Mal. [...]“ (68) So wie sich Rubehn niederkniet und zwar nicht zum dritten Mal seufzt, jedoch dasjenige Lied der Bootsfahrt vermisst, welches Melanie dann endlich an dritter Stelle erraten wird. 348 Hierdurch lässt Rubehn sein verhülltes Liebesgeständnis während der Bootsfahrt 349 von Melanie zitieren. Die beiden letzten Strophen des zugehörigen Liedtextes werden vom 347 Peter Demetz: Formen des Realismus, S. 154. Ähnlich bewertet Gottfried Zeitz die Szene als „Versatzstücke des Kitsches“ (Gottfried Zeitz: Die poetologische Bedeutung des Romans „L’Adultera“ für die Epik Theodor Fontanes, S. 150.) 348 Hiermit ist auch ein Bezug zu Van der Straatens Hechtgeschichte gespannt, bei der die Scheibe des Aquariums platzt, „[...] ehe wir drei zählen können [...].“ (85. Vgl. ebenso Seite 183 dieser Arbeit.) Zudem erinnert Rubehns Au orderung „[...] Und nun rathe.“ (94) an Melanies Behauptung „[...] Wir errathen Alles ...“ (52) während seines Antrittsbesuches. 349 Zugleich wird damit an Start und Ziel der Bootsfahrt erinnert: Stralau verweist als Fischerdorf auf Petrus und damit die Semantik der Verleugnung, während Treptow, hervorgegangen aus einem Jägerhaus, auf Rubehns ‚Jagd‘ verweist. (Vgl. zu Stralau sowie Treptow Friedrich Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente, S. 612.) Dies wird ebenso durch die Formulierung des Erzählers bezüglich Van der Straatens Vorstellungen zur Landpartie unterstrichen: Er wollt’ es so jagd- und reisemäßig wie möglich haben[.] (59) <?page no="207"?> 3.3 Im Palmenhaus der Tiergartenvilla 195 Jäger gesungen: „Ihr tausend Blätter im Walde wißt, ich hab Schön Rohtrauts Mund geküßt. Schweig stille, mein Herz, schweig still! “ 350 Hiermit wird auf den übergeordneten Ort des Ehebruchs verwiesen, denn der Tiergarten ist nicht nur aus einem hö schen Jagdrevier hervorgegangen, 351 sondern hat im 19. Jahrhundert immer noch den Charakter eines Waldes, 352 was die an Rubehn gerichtete kommerzienrätliche Warnung (Vgl. 85) vollends konterkariert, denn Melanies Rüstung (94) fällt, während Rubehn sie gleichsam als Jäger festhält. (Vgl. 94) In der Forschung wird betont, das Treibhaus diene aufgrund seines Klimas als „Katalysator erotischer A ären“, 353 weil hier in der „schwülen, sexuell aufgeladenen Atmosphäre die Mechanismen der Selbstkontrolle“ 354 versagen. Daher sei Melanie, so argumentiert beispielsweise Gottfried Zeitz, überwältigt von dem „berauschenden Ambiente“ 355 und werde fast willenlos getrieben. Entsprechend könne die Wahl des Palmenhauses als Ort des Ehebruchs im Sinne einer Abschwächung von Melanies Verantwortlichkeit für ihr Handeln verstanden werden. 356 Diese Argumentation erscheint vordergründig umso schlüssiger, nicht nur weil die Verbindung der Protagonistin zum Elementaren hinreichend etabliert worden ist, (Vgl. 8, 10, 75, 94) sondern auch weil dem zeitgenössischen Verständnis nach 350 Volksliederbuch für gemischten Chor. Partitur. Zweiter Band. Hrsg. auf Veranlassung seiner Majestät des Deutschen Kaisers Wilhelm II. Leipzig 1915, S. 529. 351 Vgl. zur Geschichte des Tiergartens Susanna Brogi: Der Tiergarten in Berlin - ein Ort der Geschichte, S. 18. 352 Vgl. Karl Baedeker: Berlin und Umgebungen. Handbuch für Reisende. Mit 4 Karten, 5 Plänen und vielen Grundrissen. Siebente Au age. Leipzig 1891, S. 158. Hierzu passt der erzählerische Hinweis auf die Bosquets[.] (48, 86) 353 Niels Werber und Esther Ruelfs: Techniken der Zeit- und Raummanipulation, S. 288. Vgl. zur Wirkung der Treibhausatmosphäre auch ebd., S. 276; Antje Harnisch: Keller, Raabe, Fontane, S. 140 sowie Hiltrud Bontrup: „... auch nur ein Bild.“, S. 36. 354 Katharina Grätz: Alles kommt auf die Beleuchtung an, S. 128. Vgl. ähnlich Milena Bauer: Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes, S. 278 sowie Niels Werber und Esther Ruelfs: Techniken der Zeit- und Raummanipulation, S. 288. Die Beschreibung Rüstung ihres Geistes (94) liest Bontrup dabei als anerzogene Triebkontrolle. (Vgl. Hiltrud Bontrup: „... auch nur ein Bild.“, S. 36.) Oft sind Fontanes Protagonisten von äußeren Ein üssen abhängig und werden durch diese provoziert oder in Versuchung geführt. Dies belegt Monika Ritzer am Beispiel der Protagonistin Franziska im Roman „Graf Petöfy“. (Vgl. Monika Ritzer: „Je freier der Mensch, desto nötiger der Hokuspokus“, S. 44.) 355 Gottfried Zeitz: Die poetologische Bedeutung des Romans „L’Adultera“ für die Epik Theodor Fontanes, S. 150. 356 Vgl. ebd., S. 150. <?page no="208"?> 196 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt die Frau dem Bereich der Natur angehört 357 und ein Mangel an Selbstkontrolle als weibliches Merkmal gilt. 358 Dabei lässt die Forschung jedoch Johann Gottfried Herders (1744-1803) Gedanken zum Klima unberücksichtigt, die er in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784-1791) formuliert: „[D]as Klima zwinget nicht, sondern es neiget“. 359 Dies unterstreichend ndet Melanie in Rubehn das stärker[e] und deshalb berechtigter[e] Elemen[t,] (160) so dass das Naturgesetzliche (160) siegt, was wiederum mit der biologischen Funktionsweise eines Treibhauses korrespondiert, das ausschließlich natürliche Prozesse katalysiert. Darüber hinaus ist Melanie nicht so passiv wie die Forschung glauben machen möchte: Sie trägt selbst aktiv zu ihrer Situation bei, denn [s]ie hatte sich schon vorher in dem mit Rubehn geführten Gespräche derartig heraufgeschraubt, daß sie wie geistig trunken und beinahe gleichgiltig gegen Erwägungen und Rücksichten war, die sie noch ganz vor Kurzem gequält hatten. Sie sah wieder alles von der lachenden Seite, selbst das Gewagteste, und faßte, ohne sich Rechenschaft davon zu geben, den Entschluß, mit der ganzen nervösen Feinfühligkeit dieser letzten Wochen einfür allemal brechen und wieder keck und unbefangen in die Welt hinein leben zu wollen. (85) Vermochten die Polarzustände (70) in Stralau noch jene eberhaft[e] Erregung (78) gleichsam zu temperieren und die folgende raum-zeitliche Distanz zu Rubehn 357 Vgl. Hiltrud Bontrup: „... auch nur ein Bild.“, S. 36-37. So wird Melanies „Körperlichkeit als P anze präsentiert“, (Ebd., S. 36.) denn sie gehört zu den von Luft und Licht abhängigen Naturen. (94) Bontrup sieht hierin auch eine Pathologisierung der weiblichen Sexualität, wenn „der Grad ihrer Verführbarkeit als abhängig von körperlicher Schwäche („weich und schla “) gesetzt wird [...].“ (Hiltrud Bontrup: „... auch nur ein Bild.“, S. 38.) Hierbei sei einschränkend an Melanies Wunsch so zu steigen und zu fallen (10) beim winterlichen Anblick des Schnee ockentanzes erinnert. 358 Vgl. hierzu allgemein Bettina Pohle: Kunstwerk Frau, S. 28. Werber und Ruelfs betonen gleichfalls Melanies „adaptiven Charakter“, (Niels Werber und Esther Ruelfs: Techniken der Zeit- und Raummanipulation, S. 276.) der unter dem Duft der exotischen P anzen schwach wird. (Vgl. ebd., S. 276.) 359 Joh.[ann] Gottfr.[ied] Herder: Ausgewählte Werke. Hrsg. von Heinrich Kurz. Kritisch durchgesehene Ausgabe mit Angabe der Lesarten. Dritter Band. Hildburghausen 1871, S. 211. Fontane selbst hat ab Dezember 1857 angefangen ebenjenes Werk Herders zu lesen. (Vgl. dazu Roland Berbig: Theodor Fontane Chronik. Projektmitarbeit 1999-2004: Jose ne Kitzbichler. Band 1. Berlin, New York 2010, S. 811.) <?page no="209"?> 3.3 Im Palmenhaus der Tiergartenvilla 197 ihr die Herrschaft über sich selbst (78) zurückzugeben, siegt in der Hitze des Treibhauses das Naturgesetzliche (160): Die katalytische Wirkung der - wie Fontane in einer Randnotiz präzisiert - „weichen hot-house-Atmosphäre“ 360 ermöglicht, daß einfach seitens des stärkeren und deshalb berechtigteren Elements das schwächere verdrängt (160) wird. Daher wird Melanie später ihre im Palmenhaus eintretende Schwangerschaft als eine „[...] natürliche Consequenz [...]“ (116) bezeichnen, 361 die ihre Ehe mit Van der Straaten nicht nur „[...] scheidet[,] [...]“ (116) sondern zugleich mit ihrem „[...] eigne[m] selbstische[n] Verlangen zusammenf[ällt].“ (118) Bereits in Fontanes Erstlingsroman „Vor dem Sturm“ verbindet sich in der Vermählung zwischen Levin und Marie der Prädestinationsgedanke mit der Natur des Menschen: „Denn es war nur gekommen, was kommen sollte; das Natürliche, das von Uranfang Bestimmte hatte sich vollzogen“. (VS34, S. 460.) Auch in „L’Adultera“ erscheint die Verbindung zwischen Melanie und Rubehn bereits vor dem Ehebruch vierfach legitimiert: erstens durch Melanies Ablehnung der Schuld der biblischen ‚Ehebrecherin‘ Tintorettos, (Vgl. 12-13) zweitens durch die Assoziation Rubehns als Bartholomäus und damit richtigen Bräutigam, (Vgl. 26, 80) drittens durch die gemeinschaftliche Ablehnung gesellschaftlicher Schamvorstellungen (Vgl. 87) und viertens durch das kirchliche Setting des Palmenhauses. (Vgl. 92, 93) Die Beschreibung des Palmenhauses als wie am Eingang eines Tropenwaldes (93) alludiert gleichsam die tropische Vegetation Tahitis mit seinem ganzjährig warmen und feuchten Klima. Die Südseeinsel gilt dabei kulturgeschichtlich als „Liebesparadies“ 362 und Garten Eden, 363 auf der sich Rousseaus Thesen vom Naturzustand des Menschen zu erfüllen scheinen, weil hier ein vorzivilisato- 360 Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 232. 361 Ob das Palmenhaus der Zeugungsort des Kindes ist, ist in der Forschung nicht unumstritten: Gabriele Radecke beispielsweise erkennt plausibel das Palmenhaus als Zeugungsort des Kindes. (Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 149.) Hingegen nimmt Dirk Mende an, Melanie wisse in der Folge nicht, ob Rubehn oder Van der Straaten der Vater des Kindes sei. (Vgl. Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 231.) 362 Anja Hall: Paradies auf Erden? Mythenbildung als Form von Fremdwahrnehmung - Der Südsee-Mythos in Schlüsselphasen der deutschen Literatur. Würzburg 2008, S. 123. 363 Beide Assoziationen, die wiederum europäische Sehnsüchte und Vorstellungen re ektieren, entstehen im 18. Jahrhundert insbesondere durch die Entdeckungsreisen von Louis Antoine de Bougainville (1729 -1811) und Georg Forster (1754-1794). (Vgl. hierzu Christoph Otterbeck: Europa verlassen. Künstlerreisen am Beginn des 20. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 207.) <?page no="210"?> 198 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt rischer Urzustand herrsche. 364 In diesem Sinne erscheint das Palmenhaus als sinnliches und zwangloses Paradies, in dem die gesellschaftlichen Reglements außer Kraft gesetzt sind. Die Vorstellung sexueller Freizügigkeit ist nicht nur der Südseeinsel Tahiti, sondern gleichfalls dem Orient eingeschrieben. 365 Dabei simulieren Palmenhäuser eine Reise in den Orient, 366 womit erneut die Van der Straaten’sch[e] Expectoration (68) anzitiert wird, die - unmittelbar bevor Melanie einen orientalischen Kapuzenumhang, den Burnus[,] (69) trägt - einen weiblichen Ehebruch mit dem Orient verknüpft. (Vgl. 68) So erinnern die klirrenden Eisenbrettchen [...], die hier als Dielen (93) ausgelegt sind, an Miniatur-Eisenbahnschienen und bringen Melanie und Rubehn gewissermaßen in den Orient, der sowohl als Topos der 364 Vgl. zum Topos der Südsee ausführlicher Anja Hall: Paradies auf Erden? , S. 50-52 und 89-90. Hiermit erö net sich eine weitere Parallele zur Pfaueninsel, denn dort imitiert beispielsweise das Otaheitische Kabinett die Südseelandschaft Tahitis. (Vgl. Helmut Börsch- Supan: Die Pfaueninsel, S. 5.) Dass sich Fontane mit Rousseau beschäftigt hat, geht aus einem Brief an seine Ehefrau vom 03. Juni 1878 hervor, in welchem er der Kritik des Philosophen - geäußert im Rahmen von dessen „Abhandlung über die Künste und die Wissenschaften“ (1750) - am Fortschritt der Künste und Wissenschaften beip ichtet. (Vgl. Theodor Fontane: Brief an Emilie Fontane vom 03. Juni 1878. In: Ebw3, S. 100 sowie Ebw3, Anmerkungen, S. 592.) 365 Vgl. hierzu Seite 159 dieser Arbeit. 366 Vgl. hierzu Karlheinz Stierle: Imaginäre Räume. Eisenarchitektur in der Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Art social und art industriel. Funktionen der Kunst im Zeitalter des Industrialismus. Hrsg. von Helmut Pfei er, Hans Robert Jauß und Françoise Gaillard. München 1987 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. Texte und Abhandlungen; Band 77. Neue Folge, Reihe C: Ästhetik, Kunst und Literatur in der Geschichte der Neuzeit; Band 3), S. 281-308, hier S. 287. Treibhäuser und Eisenbahnverbindungen, die beide dem technischen Fortschritt des 19. Jahrhunderts entspringen, überlagern sich dabei in ihrer Funktion weit Entferntes, gleichsam Exotisches für den heimischen Beobachter in ‚greifbare Nähe‘ zu rücken. So kann der Begeisterung für Exotisches durch die Reise mit dem Orient-Express, oder aber mit dem Betreten eines feuchtwarmen Palmenhauses Ausdruck verliehen werden. (Vgl. hierzu allgemein Niels Werber und Esther Ruelfs: Techniken der Zeit- und Raummanipulation, S. 261.) Hierzu sei angemerkt, dass der Orient-Express erst ab 1883 verkehrt. Er vereinfacht die Orient-Reise mit der Eisenbahn dahingehend, dass er durch sein neuartiges Schlaf- und Speisewagenkonzept Beherbergungen entlang der Strecke über üssig macht, indem er so zu einer „Art Hotel auf Rädern [wird.]“ (Axel Schulz: Grundlagen Verkehr im Tourismus. Fluggesellschaften, Kreuzfahrten, Bahnen, Busse und Mietwagen. 2. überarbeitete Au age. München 2014, S. 100.) <?page no="211"?> 3.3 Im Palmenhaus der Tiergartenvilla 199 Gefahr 367 als auch als Topos der heimlichen Liebe gilt. 368 Beide Topoi werden raumsemantisch über die Wendeltreppe (93) re ektiert, denn diese gilt einerseits als gefährliche Treppe und ist andererseits baugeschichtlich oft als Geheimtreppe installiert worden. 369 Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass die Wendeltreppe beide zu derjenigen Laube (93) führt, die wiederum einem Versteck gleicht: Wirklich, es war eine phantastisch aus Blattkronen gebildete Laube[.] (93) Die in diesen Worten zum Ausdruck kommende Spannung aus Wirklichkeit und Phantasie verweist gleichfalls auf den märchenhaften Orient 370 sowie die Verortung jener Liebe außerhalb der gesellschaftlichen Norm. 367 Vgl. hierzu Seite 159 dieser Arbeit. 368 Vgl. hierzu Cornelia Ortlieb: Buchstabendinge. Zur Materialität des Schreibens in der Moderne. Vorlesung an der Freien Universität Berlin am 02. Februar 2016 (= Schreiben als Ereignis. Künste und Kulturen der Schrift. Ö entliche Vortragsreihe und Kunstinstallation an der Freien Universität Berlin vom 20. Oktober 2015 bis zum 09. Februar 2016). Auch im Roman „Schach von Wuthenow“ prä gurieren, bezeugen und kommentieren Realien des Orients den zunächst geheimen Liebesakt zwischen Victoire von Carayon und Schach von Wuthenow, denn dieser ndet im Eckzimmer mit dem „türkische[n] Teppich“ (SW, S. 28.) statt, während Victoire einen „türkischen Shawl“ (SW, S. 73.) trägt. Später werden Schachs Kammeraden ihn zweimal (Vgl. SW, S. 103 und 106.) als „persische[n] Schach“ (SW, S. 103.) karikieren, um sein Verhältnis zu den beiden Damen von Carayon bloßzustellen. 369 Vgl. Johann Georg Krünitz: Oeconomisch-technologische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirtschaft, und der Kunstgeschichte, in alphabetischer Ordnung, darin den Artikel Treppe, S. 514-540, hier S. 527-528 sowie den Artikel Treppe (geheime), S. 541-542. Zugleich handelt es sich hierbei um ein Realitätssignal, denn die Palmenhausarchitektur von Kew bedient sich ebenfalls der Wendeltreppe. (Vgl. Hans-Peter Ecker: Von der Orangerie aufs Treibhaus gekommen. Literarische Re exe der Entwicklungsgeschichte der Gewächshäuser bei Eduard Mörike und Theodor Fontane. In: Natur hinter Glas. Zur Kulturgeschichte von Orangerien und Gewächshäusern. Beiträge zur Jahrestagung des Gamburger Forums für Kulturforschung im Kloster Bronnbach September 2002. Hrsg. von Jürgen Landwehr. St. Ingbert 2003, S. 203-219, hier S. 137 (Farbtafel XI).) 370 Dieses Motiv wird Fontane später erneut im Roman „Irrungen, Wirrungen“ in Form der „phantastischen Thürme des Elephantenhauses“ (IW, S. 128.) im Zoologischen Garten aufgreifen. Die Fassaden der exotischen Bauten sind dabei auf die Herkunft der jeweiligen Tiere abgestimmt. So soll die Phantasie der Besucher durch die fremdländische Architektur der Tierhäuser angeregt werden und glauben machen, das Tier auf seinem heimatlichen Boden zu betrachten. (Vgl. hierzu Annelore Rieke-Müller: Die Schaustellung exotischer Wildtiere im 18. und 19. Jahrhundert. Erinnerungsbilder zwischen Natur und Kunst. In: Der andere Garten. Erinnern und Er nden in Gärten von Institutionen. Hrsg. von Natascha N. Hoefer und Anna Ananieva. Göttingen 2005 (= Formen der <?page no="212"?> 200 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Des Weiteren ist auch diejenige psychoanalytische Einschätzung Sigmund Freuds zu berücksichtigen, die die Treppe respektive ihre Nutzung als „symbolische Darstellung des Geschlechtsaktes“ 371 begreift: Und als sie nun allein waren, nahm Rubehn den Vortritt und stieg hinauf und eilte sich, als er oben war, der noch auf der Wendeltreppe stehenden Melanie die Hand zu reichen. (93) Da Melanie und Rubehn gemeinsam die Treppe nehmen und er ihr darüber hinaus die Hand reicht, kann dies als Zeichen für eine glückliche Partnerschaft gelesen werden. 372 Gleichfalls zeichnet sich in der dichten Laube[,] (93) die so war, als ob hundert Geheimnisse sprächen, (93-94) ein konträres Beziehungsmodell ab, denn die Geheimnisse (94) zwischen Rubehn und Melanie stehen im Gegensatz zu den kommerzienrätlichen Indiskretionen, die Melanie während der Bootsfahrt beklagt hat: „[...] Aber er kennt kein Geheimniß, weil ihm nichts des Geheimnisses werth dünkt. Weil ihm nichts heilig ist. [...]“ (77) Ironischerweise ndet der Ehebruch dann in der von Van der Straaten präferierten aus Blattkronen gebildete[n] Laube, fest geschlossen (93) und dazu hoch oben (93) 373 in der Glaskuppel statt, die ihm ermöglicht, was er seiner Gattin - beispielsweise durch ihre bildliche Entkleidung (Vgl. 72) - verweigert: „[...] Un keiner sieht ihn. Un das hat er am Erinnerung; Band 32), S. 251-270, hier S. 269. Vgl. zur Imaginationskraft des Orients und seiner Symbolik des Märchenhaften Franz Fromholzer: Orient. In: Metzlers Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 260-263, hier S. 261.) Auch E Briest zeigt eine Neigung zum Exotischen, was ihre Mutter zu folgender Warnung motiviert: „„Du bist eine phantastische kleine Person [...]. Die Wirklichkeit ist anders [...].““ (EB, S. 32-33. Vgl. hierzu ausführlicher Christian Begemann: „Ein Spukhaus ist nie was Gewöhnliches . . . “ Das Gespenst und das soziale Imaginäre in Fontanes „E Briest“. In: Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane. Hrsg. von Peter Uwe Hohendahl und Ulrike Vedder. Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien 2018 (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae; Band 229), S. 203-242, hier S. 204.) 371 Michael Eggers: Leiter/ Treppe, S. 204. 372 Im Unterschied hierzu nimmt Melanie die Verbindungstreppe in der Stadtwohnung alleine. (Vgl. 15) In einer später getilgten Entwurfsskizze unterstreicht Fontane das Handreichen in seiner „gewissen symbolischen Bedeutung. Es sprach sich ein Wunsch des Dienen- und Helfen-wollens darin aus und sie sagte sich, daß Van der Straaten diese Form der Artigkeit nie für sie gehabt habe.“ (Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 124.) 373 Fontanes Liebesszenen sind vielfach in höher gelegenen Räumlichkeiten situiert: Im Roman „Unwiederbringlich“ ndet der Ehebruch (Vgl. Uwb, S. 230.) im „Ebba-Thurm“ (Uwb, S. 221.) statt, während in „Cécile“ Robert v. Gordon-Leslie die Loge des Theaters als „Liebesnest“ (Cc, S. 100.) emp ndet. In „Irrungen, Wirrungen“ schließlich übernimmt diese Funktion die „Giebelstube“ (IW, S. 77.) in Hankels Ablage. <?page no="213"?> 3.3 Im Palmenhaus der Tiergartenvilla 201 liebsten.“ (93) 374 Dies bestätigt abermals seine Vorliebe, sich in Gegensätzen (16) zu bewegen, denn sein Rückzugsort, das Palmenhaus, steht zugleich für Van der Straatens Geltungs- und Repräsentationssucht. 375 In diesem Sinne repräsentiert das Palmenhaus einerseits die gesellschaftliche Ordnung, unterwandert sie andererseits jedoch als Anbahnungsraum für den Ehebruch. Ironischerweise vollzieht sich dieser dann auch in einem neu gebauten und nicht einem vererbten Teil der Anlage, 376 obgleich der Kommerzienrat einen Ehebruch als ein prädestiniertes Familienerbe (Vgl. 14, 115) begreift. Obwohl eine P anzenauktion in den Treibhäusern der Familie Ravené „am Beginn des Textualisierungsprozesses ein konstitutives Element des poetischen Werkes bildet“, 377 lassen sich im Roman keine Verbindungen zwischen dem historischen und poetischen Schauplatz ausmachen. 378 Hierfür bietet sich folgende Interpretation an: Die Sommerresidenz mit Palmenhaus der Familie Ravené be- ndet sich in Moabit. (Vgl. W1, S. 163.) Dieses Gebiet ist im 18. Jahrhundert von hugenottischen Einwanderern „seines wüsten, unfruchtbaren Bodens wegen: la terre moab - terre maudite“ 379 genannt worden. Weil sich der Ehebruch im Palmenhaus allerdings als überaus fruchtbar erweisen wird, erscheint die literarische Verlegung des Ehebruchsortes in den Tiergarten folgerichtig, denn nicht nur 374 Hierdurch wird raumsemantisch die widersprüchliche Anlage des Kommerzienrats abermals aufgegri en, denn er wird einerseits als eine „[...] versteckte Natur [...]“ (19) beschrieben und kennt andererseits keine Geheimnisse, um „aus seinem Herzen keine Mördergrube zu machen[.]“ (5) 375 So äußert er beim Abschiedsdiner: „[...] Und noch dazu in diesen vermaledeiten Spitzgläsern, mit denen ich nächstens kurzen Prozeß machen werde. Das sind Rechnungsrathsaber nicht Commercienraths-Gläser. [...]“ (33) 376 Dies lässt sich aus folgender Angabe ermitteln: Hier, im Centrum der ganzen Anlage, erhoben sich denn auch [...] ein paar hohe, glasgekuppelte Palmenhäuser, an deren eines sich ein altmodisches Treibhaus anlehnte[.] (87) In einem Textentwurf beschreibt Fontane die Palmenhäuser als Ausdruck des wachsenden Reichtums des Hauses. (Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 258.) 377 Ebd., S. 131. Vgl. außerdem Herman Meyer: Das Zitat in der Erzählkunst, S. 168. 378 Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 127-131. 379 Ludwig Lö er: Berlin und die Berliner, S. 35. Im Gegensatz zu romanzeitlichen Versuchen, sehen aktuelle Erklärungen im Namen Moabit eher eine Anspielung auf das Vertreibungsschicksal des biblischen Volks der Moabiter im Alten Testament, (Vgl. dazu Olaf Schnur: Lokales Sozialkapital für die ‚soziale Stadt‘. Politische Geographien sozialer Quartiersentwicklung am Beispiel Berlin- Moabit. Wiesbaden 2003, S. 134.) jedoch „symbolisiert die biblische Wortbedeutung auch ein unfruchtbares, wüstes bzw. verwüstetes Land“, (Ebd., S. 134.) was mit der tatsächlichen Unfruchtbarkeit der Moabiter Böden korrespondiert. (Vgl. ebd., S. 134.) <?page no="214"?> 202 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt der Garten allgemein, 380 sondern im Speziellen auch der Tiergarten gilt historisch als „Ort der Lust und tabuisierten sexuellen Begierden“. 381 Überdies wird Moabit 1861 zu Berlin eingemeindet, während der Große Tiergarten weiterhin nicht zur Stadt gehört. 382 wodurch die Ausgrenzung des Ehebruchs aus der bürgerlichen Lebenswelt vielfältig unterstrichen wird. Erneut wird auch auf Wagners Oper „Tristan und Isolde“ Bezug genommen: 383 Zum einen, weil Rubehn - und damit Tristan gleich - vor Melanie niederkniet, zum anderen, weil sich die „weich[e] hot-house-Atmosphäre“ 384 des Palmenhauses erneut mit ebenjener Oper verbindet, denn zu Mathilde Wesendoncks Gedicht „Im Treibhaus. In the Hothouse“ aus dem Jahr 1854 komponiert Wagner den berühmten Sehnsuchtsakkord der Oper, weshalb das Gedicht nunmehr allgemein „Im Treibhaus. (Studie zu Tristan und Isolde)“ genannt wird. Daher steht der Ehebruch ganz im Zeichen der Wagnerischen ‚Tristan‘-Musik: 385 So korrespondiert die Atmosphäre des Treibhauses mit der bezaubernden, berauschenden Musik Wagners, die beide im Zeichen der Décadence stehen. 386 Gleichwie Wagners Musik Gemeinsamkeiten zwischen Melanie und Rubehn o enbart und eine Allianz stiftet, (Vgl. 54, 55, 56) verhilft die Treibhausatmosphä- 380 „In der Malerei, in der Literatur und nicht zuletzt in der Wirklichkeit sind die Gärten daher immer auch Projektions äche erotischer Fantasien und Schauplatz erotischer Erfüllung.“ (Hans von Trotha: Gartenkunst, S. 13.) 381 Susanna Brogi: Der Tiergarten in Berlin - ein Ort der Geschichte, S. 107. 382 Der Park Tiergarten wird erst 1881 zu Berlin eingemeindet, (Vgl. hierzu ebd., S. 66.) 383 Dieser Bezug verweist indirekt erneut auf Venedig und damit Venus, denn die Verbindung zwischen ‚Tristan‘ und der Serenissima ist bereits hinlänglich etabliert. (Vgl. dazu Seite 174 dieser Arbeit.) 384 Vgl. hierzu Seite 196 dieser Arbeit. 385 Vgl. hierzu Gerhard Neumann: Theodor Fontane, S. 84; Isabel Nottinger: Fontanes Fin de Siècle, S. 163 und 180-181; Irmela von der Lühe: „Wer liebt, hat recht“, S. 122 sowie Winfried Jung: Bildergespräche, S. 135. 386 Vgl. zur Musik Wagners mit Blick auf die Décadence Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle. Berlin, New York 1973, S. 217. Vgl. zu Wagners Musik, die die Sinne aufpeitscht und schwächt Heide Eilert: Im Treibhaus, S. 511. Ebenso sei an Rubehns Emphase (54) während seines Antrittsbesuches erinnert, als er beim Hören von Wagners Musik fast seine gesellschaftlichen Verp ichtungen vergisst. (Vgl. 53-54) Auch Rousseau meint, die Musik wirke unmittelbar auf die Seele. (Vgl. Jean Starobinnski: Die Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900. Überarbeitete Übersetzung von Cornelia Wild. Hrsg. von ders. Berlin 2011, S. 166.) <?page no="215"?> 3.3 Im Palmenhaus der Tiergartenvilla 203 re der Liebe zum Durchbruch. In diesem Sinne können die sakralen Bezüge des Palmenhauses im Zusammenhang mit dem religiös konnotierten Komponisten gelesen werden. So bezeichnet der Kommerzienrat den „[...] ‚Meister‘ [...]“ (11) als ebenjenen „[...] Abgott[,] [...]“ (35) an den Melanie ihre „[...] Seelen Seligkeit [...]“ (36) setze und dessen Musik sie außerdem „[...] als himmlischen Zauber credenzen [...]“ (36) wolle. Dabei gehören Melanie und Rubehn zu „[...] jener kleinen Gemeinde[,] [...]“ (55) deren Mittelpunkt der Komponist bildet. 387 Van der Straaten wird unmittelbar nach dem Ehebruch die Wagner-Schwärmer als „[...] Gemeinde der Heiligen! [...]“ (95) verspotten und später, unwissend um seine Position als gehörnter Ehemann, jedoch gleichzeitig das versöhnliche Ende abermals vorwegnehmend, konstatieren: Er sähe nicht ein, wenigstens für seine Person nicht, warum er sich eines reinen und auf musikalischer Glaubenseinigkeit aufgebauten Verhältnisses nicht aufrichtig freuen solle[.] (97) Nach dem Ehebruch tappten sich (94) Melanie und Rubehn durch ein Gewirr 388 von Palmen, (94) um wieder ins Freie zu gelangen. Das Tappen versinnbildlicht die ungewisse Zukunft, die sich gleichsam in Melanies Frage: Wohin treiben wir? ! (95) widerspiegelt, die sie - erneut eine integrative Klammer bildend - dreimal wiederholt. 389 (Vgl. 77, 78, 95) 387 Dies wird durch Melanies Versprechen untermauert, dass die Wagnerschwärmer Anastasia, Elimar, Rubehn und sie am „[...] Altar [...]“ (92) unter der Kuppel bei der von ihr avisierten Hochzeit Kagelmanns „[...] einen Choral [...]“ (92) singen würden. In einem Brief an Karl Zöllner (1834-1882) vom 13. Juli 1881 schreibt Fontane, dass die „Wagner-Apostel nicht müde werden, von ‚neuem Evangelium‘, ‚neuer Weltanschauung‘, ‚neuem Lebensinhalt‘ etc. zu faseln.“ (Theodor Fontane: Brief an Karl Zöllner vom 13. Juli 1881: In: Theodor Fontane: Ein Leben in Briefen. Mit zahlreichen Bildnissen und Faksimiles. Ausgewählt und hrsg. von Otto Drude. Frankfurt am Main 1981, S. 253-257, hier S. 256.) Fontanes Skepsis richtet sich jedoch in erster Linie gegen den ‚Betrieb‘ der Wagner-Verehrung. (Vgl. hierzu ausführlicher Hans Otto Horch: Annäherungen an ein Jahrhundertereignis, S. 44.) 388 Diese Labyrinthartigkeit verweist zusammen mit der Wendeltreppe (93) erneut auf Venedig, denn seit der berühmten Passage zum Venezianer Giovanni Battista Piranesi (1720-1778) in Thomas de Quinceys (1785-1859) „Confessions of the English Opium- Eater“ (1821) gibt es die Verschmelzung ebenjener Motive. (Vgl. ausführlicher Wolfgang Friedrichs: Rituale des Übergangs. Das Thema der Initiation in den phantastischen Romanen und Erzählungen Marcel Brions. Frankfurt am Main, Bern, New York 1986 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe XIII. Französische Sprache und Literatur; Band 107), S. 108-109.) 389 Hier sei an die dreimalige Verleugnung Petri sowie den Pfauhahn erinnert. (Vgl. dazu auch Fußnote 296 auf Seite 182 dieser Arbeit.) <?page no="216"?> 204 Kapitel 3: Außerhalb der Stadt Draußen fanden sie Anastasia. „Wo Du nur bliebst! “ fragte Melanie befangen. [...] Und nun hab ich Kopfweh.“ Anastasia nahm unter Lachen den Arm der Freundin und sagte nur: „Und Du wunderst Dich über Kopfweh! Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.“ (94-95) Während Hiltrud Bontrup Melanies Kopfweh „als Indiz sozialer Isolierung“ 390 liest, erscheint mir eine Auslegung des Goetheschen Passus weiterführender: „„[...] Aber auch er wird ein anderer Mensch. Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiß in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind.““ 391 Ottilie beschreibt hier, wie Erlebtes den Menschen so verändert, dass er danach unumkehrbar ein anderer ist, so wie Melanie nach dem Ehebruch eine andere ist: „[...] Und keiner kann vergessen. Erinnerungen aber sind mächtig [...].“ (117) Passend hierzu wird Van der Straaten bei seiner Rückkehr und in Unkenntnis über den Zustand seiner Ehe erklären: „[...] von diesem Tag an datirt sich eine neue Aera des Hauses Van der Straaten.“ (95) Die nächsten Tage, die viel Besuch brachten, stellten den unbefangenen Ton früherer Wochen anscheinend wieder her, und was von Befangenheit blieb, wurde, die Freundin abgerechnet, von Niemandem bemerkt, am wenigsten von Van der Straaten, der mehr denn je seinen kleinen und großen Eitelkeiten nachhing. Und so näherte sich der Herbst und der Park wurde schöner, je mehr sich seine Blätter färbten, bis gegen Ende September der Zeitpunkt wieder da war, der, nach altem Herkommen, dem Aufenthalt in der Villa draußen ein Ende machte. (95-96) 390 Hiltrud Bontrup: „... auch nur ein Bild.“, S. 27. 391 Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften, S. 292. <?page no="217"?> 4 Zwischen Ehebruch und Flucht 4.1 Heiligabend in der Gemäldegalerie In den Oktobertagen gelingt es Rubehn mithilfe eines jüngeren Bruders und eines alten Prokuristen eine Filiale des großen Frankfurter Bankhauses in’s Leben zu rufen . (96) 1 Dies hat zur Folge, dass seine Besuche im Hause Van der Straaten seltener wurden und in den Novemberwochen beinahe ganz aufhörten. In der That erschien unser neuer „Filial-Chef “, wie der Commercienrath ihn zu nennen beliebte, nur noch an den kleinen und kleinsten Gesellschaftstagen, und hätte wohl auch an diesen am liebsten gefehlt. Denn es konnt’ ihm nicht entgehen, und entging ihm auch wirklich nicht, daß ihm von Rei und Duquede, ganz besonders aber von Gryczinski, mit einer vornehm ablehnenden Kühle begegnet wurde. (96) Die ablehnend[e] Kühle (96) mit der Rubehn bedacht wird, kann als Zeichen dafür gelesen werden, dass ihnen die A äre mit Melanie bekannt ist. 2 In diesem Kontext ist die Bezeichnung [d]er engere Zirkel (22) auch als moralische Enge zu verstehen und kontrastiert damit die Freiheit Amerikas und der Schweiz, 3 aber auch die historische Freiheit Frankfurts. Deshalb gestalteten sich die kleinen Reunions, wenn die Gryczinski’s fehlten und statt ihrer blos die beiden Maler und Fräulein Anastasia zugegen waren (97) um vieles heiterer. Die Künstler ermöglichen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Randstellung ein ungezwungenes Zusammenkommen: Dann wurde wieder gescherzt und gelacht, wie damals in dem Stralauer Ka eehaus [.] (97) Unterdessen sind dem Kommerzienrat die häu gen Besuch[e] (97) Rubehns in 1 Dies spiegelt die historischen Verhältnisse wider, denn bis in die 1870er Jahre gründen zahlreiche Privatbankiers ihre Geschäfte in Berlin. (Vgl. hierzu Gerhild Komander: Das Berliner Bankenviertel. In: Von der Jägerstraße zum Gendarmenmarkt. Eine Kulturgeschichte aus der Berliner Friedrichstadt. Hrsg. von Wolfgang Kreher und Ulrike Vedder. Berlin 2007, S. 53-60, hier S. 57.) 2 Vgl. Gottfried Zeitz: Die poetologische Bedeutung des Romans „L’Adultera“ für die Epik Theodor Fontanes, S. 152 sowie Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 227. 3 Vgl. Hugo Caviola: Zur Ästhetik des Glücks: Theodor Fontanes Roman L’Adultera . In: Seminar 26 (1990), S. 309-326, hier S. 314. <?page no="218"?> 206 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht Anastasias Wohnung hinterbracht worden, die demnach als Klatschthema in der Gesellschaft zirkulieren. Dabei hängt Van der Straaten seiner alten Neigung nach, alle dabei Betheiligten in’s Komische zu ziehen und zum Gegenstande seiner Schraubereien zu machen. Er sähe nicht ein, wenigstens für seine Person nicht, warum er sich eines reinen und auf musikalischer Glaubenseinigkeit aufgebauten Verhältnisses nicht aufrichtig freuen solle, ja die Freude darüber würd’ ihm einfach als P icht erscheinen, wenn er nicht andererseits den alten Satz wieder bewahrheitet fände, daß jedes neue Recht immer nur unter Kränkung alter Rechte geboren werden könne. Das neue Recht (wie der Fall hier läge) sei durch seinen Freund Rubehn, das alte Recht durch seinen Freund Elimar vertreten, und wenn er diesem letzteren auch gerne zugestehe, daß er in vielen Stücken er selbst geblieben, ja bei Tische sogar als eine Potenzirung seiner selbst zu erachten sei, so läge doch gerade hierin die nicht wegzuleugnende Gefahr. Denn er wisse wohl, daß dieses Plus an Verzehrung einen furchtbaren Gleichschritt mit Elimars innerem verzehrenden Feuer halte. (97) Durch das Wissen des Lesers um die Beziehung zwischen Rubehn und Melanie sowie Van der Straatens „frappierende Blindheit“ 4 entsteht eine gewisse Komik, die gerade dadurch verstärkt wird, dass er in seinem Metier, der Börse, die ihren Wert aus der Spekulation über zukünftige Ereignisse erzielt, 5 überaus erfolgreich ist. (Vgl. 5) Der ahnungslose Kommerzienrat thematisiert unbewusst tre end diejenige musikalisch[e] Glaubenseinigkeit (97) seiner Gattin mit dem Hausgast, die dem Liebesverhältnis Vorschub leistet. Darüber hinaus ereignen sich die reichlich umhergeworfenen Van der Straaten’schen Schwärmer (97) in der Stadtwohnung, ausgerechnet an demjenigen Ort also, an dem sich sein „[...] Memento mori [...]“ (14) in Form der ‚Adultera‘-Kopie be ndet. Seine projektierte „[...] beständige Vorstellung [...]“ (14) seines Schicksals erscheint dabei im ironischen Kontrast zu seiner Gutgläubigkeit. Diese wiederum steht in enger Korrelation zu seiner vorgefaßten Meinung und zwar eines künstlich construirten Rubehn, der mit dem wirklichen eine ganz ober ächliche Verwandtschaft, aber in der That auch nur diese hatte. Was sah er in ihm? Nichts als ein Frankfurter 4 Susanne Konrad: Die Unerreichbarkeit von Erfüllung in Theodor Fontanes „Irrungen und Wirrungen“ und „L’Adultera“, S. 81. 5 Vgl. hierzu exemplarisch Franziska Schößler: Börsen eber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola. Bielefeld 2009 (= Figurationen des Anderen; Band 1), S. 14-15. <?page no="219"?> 4.1 Heiligabend in der Gemäldegalerie 207 Patrizierkind, eine ganz und gar auf Anstand und Hausehre gestellte Natur, die zwar in jugendliche Thorheiten verfallen, aber einen Vertrauens- und Hausfriedensbruch nie und nimmer begehen könne. (99) Erneut erkennt der Kommerzienrat nicht das Individuelle eines Mitmenschen, sondern nur das vermeintlich Typische: So kategorisiert er Melanie als Ehebrecherin, (Vgl. 14) möchte jedoch im Gegensatz dazu in Rubehn eine ganz und gar auf Anstand und Hausehre gestellte Natur (99) erkennen. Und so kam Heiligabend und im ersten Saale der Bildergalerie waren all’ unsere Freunde, mit Ausnahme Rubehns, um den brennenden Baum her versammelt. [...] Und selbst Melanie lachte mit und schien sich des Glücks der Andern zu freuen oder es gar zu theilen. Wer aber schärfer zugesehen hätte, der hätte wohl wahrgenommen, daß sie sich bezwang, und mitunter war es, als habe sie geweint. Etwas unendlich Weiches und Wehmüthiges lag in dem Ausdruck ihrer Augen, und der Polizeirath sagte zu Duquede: „Sehen Sie, Freund, ist sie nicht schöner denn je? “ „Blaß und angegri en,“ sagte dieser. „Es giebt Leute, die blaß und angegri en immer schön nden.“ (99-100) An Heiligabend wird Melanies Schönheit thematisiert und mit ihrer angegri enen Gesundheit verknüpft. 6 Da bei Fontane im Allgemeinen „Raumkontexte [...] bei längerem Aufenthalt einen starken psychologischen Niederschlag“ 7 haben, zeichnet Melanies Aufenthalt in der Großen Petristraße seit Ende September (96) hierfür verantwortlich, insbesondere, weil der Heiligabend im ersten Saale der Bildergalerie (99) statt ndet, in dem die Kopie der ‚Hochzeit zu Kana‘ hängt: Hierdurch wird Melanies Kon ikt raumsemantisch re ektiert, die zwar immer noch gleichsam mit dem ‚falschen Bräutigam‘ verheiratet, doch vom ‚richtigen Bräutigam‘ 8 schwanger ist. Über den Erzählhinweis mitunter war es, als habe sie 6 Im Roman „E Briest“ wird dieses Motiv von Fontane produktiv fortgeschrieben, denn nach dem Ehebruch sagt Instetten auf die Blässe seiner Gattin bezugnehmend: „„[...] mit einemmal siehst Du aus wie eine Frau.““ (EB, S. 211. Vgl. hierzu ausführlicher Bettina Pohle: Kunstwerk Frau, S. 65.) 7 Christian Thomas: Theodor Fontane, S. 180. Thomas verdeutlicht dies am Beispiel von E Briest und den Orten Kessin, Berlin und Hohen-Cremmen. Auch die Nervenkrankheit der Protagonistin im Roman Cécile wird mit der Erinnerung an traumatische Erlebnisse in Zusammenhang gebracht und plötzlich durch die Wahrnehmung von Bildern, Monumenten oder Räumen hervorgerufen. (Vgl. hierzu ausführlicher Herman Meyer: Zarte Empirie, S. 220.) 8 Vgl. Seite 179 dieser Arbeit. <?page no="220"?> 208 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht geweint (100) wird zugleich eine Verbindung zur Ehebrecherin der Tintoretto- Kopie hergestellt, die nunmehr Melanies eigenen Kon ikt umschreibt. (Vgl. 12) [A]ls sie Riekchen und Anastasia, die bis zuletzt geblieben waren, bis an die Treppe geleitete, rief sie dem kleinen Fräulein [...] nach: „Und sieh Dich vor, Riekchen. Christel sagt mir eben, es glatteist.“ Und dabei bückte sie sich über das Geländer und grüßte mit der Hand. „O, ich falle nicht“, rief die Kleine zurück. „Kleine Leute fallen überhaupt nicht.“ [...] Aber Melanie hörte nichts mehr von dem, was Riekchen sagte. Der Blick über das Geländer hatte sie schwindlig gemacht, und sie wäre gefallen, wenn sie nicht Van der Straaten aufgefangen und in ihr Zimmer zurückgetragen hätte. (100-101) Ihr Blick über das Treppengeländer verweist auf die Wendeltreppe (93) des Palmenhauses, in dem hoch oben in der Laube der Ehebruch stattgefunden hat, denn die Treppe gilt - wie bereits erwähnt - als „symbolische Darstellung des Geschlechtsaktes“. 9 Dabei korrespondiert ihr jetziges in Ohnmacht fallen mit ihrem ‚Fallen‘ beim Ehebruch. (Vgl. 94) Dies impliziert gleichsam ihr Dasein als moralisch Gefallene, was sich im Bilde des winterlichen Glatteises manifestiert, auf dem sich Melanie als heimliche Ehebrecherin nun quasi bewegt. 10 Dem Leser wird in dreifacher Hinsicht verdeutlicht, dass Melanies Schwangerschaft auf den Ehebruch zurückzuführen ist: Erstens berichtet Melanie dem Kommerzienrat von ihrer Schwangerschaft (Vgl. 101) 11 im Rahmen einer ‚Treppenszene‘, die auf die ‚ehebrecherische Treppenszene‘ im Palmenhaus verweist. Zweitens wohnt dem Wort schwindlig (100) nicht nur die Bedeutung eines Benommenheitszustands inne, sondern auch die einer Täuschung, 12 was die Schwan- 9 Michael Eggers: Leiter/ Treppe, S. 204. 10 Vgl. Norbert Mecklenburg: Theodor Fontane, S. 18. Hier sei auch an E Briest erinnert, die durch Annies Treppensturz und den dadurch aufgedeckten Ehebruch aus ihrer „„[...] Sphäre [wird] herabsteigen müssen [...].““ (EB, S. 301. Vgl. hierzu ausführlicher Bettina Pohle: Kunstwerk Frau, S. 38-39 sowie Jhy-Wey Shieh: Liebe, Ehe, Hausstand. Die sprachliche und bildliche Darstellung des ‚Frauenzimmers im Herrenhaus‘ in Fontanes Gesellschaftsroman „E Briest“. Frankfurt am Main, Bern, New York 1987 (= Bochumer Schriften zur deutschen Literatur; Band 3), S. 220.) 11 Vgl. zur Frage, ob sich Van der Straaten zunächst selbst für den Vater des Kindes hält, Seite 226 dieser Arbeit. 12 Vgl. hierzu allgemein Rolf-Peter Janz, Fabian Stoermer und Andreas Hiepko: Einleitung: Schwindel zwischen Taumel und Täuschung. In: Schwindelerfahrungen. Zur kultur- <?page no="221"?> 4.1 Heiligabend in der Gemäldegalerie 209 gerschaft als Betrug an Van der Straaten ausweist. 13 Und drittens wird dies gleichfalls über die erneute Verwendung der Zahl drei bestätigt, denn so wie sich der Ehebruch nach dem dritten Lied erfüllt (Vgl. 94) und es dreimal in Melanies Herzen fragt, (Vgl. 77, 78, 95) benötigt sie drei Tage, um sich von der Ohnmacht zu erholen. (Vgl. 101) Die au ällige Nutzung der Zahl Drei im Hinblick auf das Ehebruchsgeschehen konstituiert dabei eine Verbindung zur Verleugnungssemantik, die der Cöllner Adresse eingeschrieben ist, denn Petrus verleugnet Jesus dreimal, so wie auch Melanie schlussendlich dreimal verleugnen wird. 14 Weil ein erneuter und diesmal buchstäblicher Fall Melanies durch Van der Straaten verhindert wird, antizipiert dies seinen späteren Vorschlag, den Ehebruch und die Abstammung seiner „[...] natürliche[n] Consequenz [...]“ (116) verheimlichen zu wollen (Vgl. 115) sowie seine spätere Vergebung. (Vgl. 163) Weil der Kommerzienrat seine Gattin explizit in ihr Zimmer (101) zurückträgt, wird hier zuvor wie üblich der Ka ee eingenommen worden sein. (Vgl. 38) In ihrem Zimmer allerdings hat Melanie die Petrikirche und ihren hoch aufragenden Turm akustisch sowie optisch vor sich, (Vgl. 8, 17) so dass ihre angegri ene Gesundheit 15 auch mit der räumlichen Nähe zur Kirche mit ihrer Petrussymbolik korreliert. 16 historischen Diagnose eines vieldeutigen Symptoms. Hrsg. von dens. Amsterdam und New York 2003 (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft; Band 70), S. 7-46, hier S. 10. 13 Hier sei an die Geranien erinnert, die in der Sprache der Blumen eine getäuschte Liebe indizieren. (Vgl. dazu Seite 83 dieser Arbeit.) 14 Mit dem späteren Verlassen Van der Straatens wird sie ebenfalls ihre beiden Kinder zurücklassen, was Rieckchen später tre end kommentiert: „[...] Hast Dein eigen Fleich und Blut verleugnet. [...]“ (140-141) Auch in der Tiergartenvilla wird die Zahl Drei aufgegri en, denn der Ehebruch vollzieht sich, nachdem der Pfauhahn - damit den biblischen Hahn zitierend - zum dritten mal in Erscheinung tritt. (Vgl. Fußnote 296 auf Seite 182 dieser Arbeit.) Eine weitere Parallele zur biblischen Geschichte ergibt sich, weil Jesus ähnlich zu Van der Straaten die Verleugnung bei gleichzeitiger Zusicherung von Milde vorhersagt, so wie beide ‚Beschuldigten‘ zunächst sicher sind, zu Unrecht in der Kritik zu stehen. (Vgl. LUT, Lk 22,31-34 sowie Joh 13,36-38.) 15 Melanies Nervenleiden kann nicht allein mit Van der Straatens Anwesenheit erklärt werden, denn dieser ist bereits ab September dauernd draußen in der Tiergartenvilla, (Vgl. 46) also ab einer Zeit unmittelbar nach dem Ehebruch. (Vgl. 95-96) Das Kranksein (Vgl. 101, 105) der Protagonistin kann daher nicht, wie Hiltrud Bontrup meint, als zeitnahe Folge des Ehebruchs begri en werden, denn es liegen fast vier Monate dazwischen. (Vgl. dazu Hiltrud Bontrup: „... auch nur ein Bild.“, S. 26 und 38.) 16 Vgl. hierzu Seite 67 und 84 dieser Arbeit. <?page no="222"?> 210 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht 4.2 Gang zur Jägerstraße Erst den dritten Tag danach hatte sich Melanie hinreichend erholt, um in der Alsenstraße, wo sie seit Wochen nicht gewesen war, einen Besuch machen zu können. Vorher aber wollte sie bei der Madame Guichard, einer vor Kurzem erst etablirten Französin, vorsprechen, deren Confections und künstliche Blumen ihr durch Anastasia gerühmt worden waren. Van der Straaten rieth ihr, weil sie noch angegri en sei, lieber den Wagen zu nehmen, aber Melanie bestand darauf, alles zu Fuß abmachen zu wollen. (101) Der Kommerzienrat zeigt sich bemüht, seine kränkliche Frau durch Schonung unter häuslicher Kontrolle zu halten. 17 Dieser Versuch wird nicht nur durch Melanies Wunsch nach „Luft und Bewegung“ (101) und damit Aktivität, 18 sondern auch durch ihr diesjähriges Weihnachtsgeschenk, einen Nerz-Pelz und ein Castorhütchen mit Straußenfeder (101) untergraben, denn die Frau im Pelz oder mit Tierfedern geschmückt, versinnbildlicht die als animalisch verstandene Weiblichkeit, die sich der patriarchalischen Kontrolle entzieht. 19 Als Melanie das Stadthaus 17 In den Wochen nach Weihnachten wird Melanie als „ femme fragile “ (Niels Werber und Esther Ruelfs: Techniken der Zeit- und Raummanipulation, S. 276.) gezeichnet. Die kranke Frau ist dabei eine zeitgenössische Modeerscheinung, wobei die Krankheit, die Schonung innerhalb des häuslichen Gefüges verlangt, als Vehikel dient, die Frau unter Kontrolle zu bringen. (Vgl. hierzu allgemein Bettina Pohle: Kunstwerk Frau, S. 59-60 sowie Walter Müller-Seidel: Theodor Fontane, S. 187.) 18 Als Kontrastfolie hierzu kann E Briests Reaktion auf die Entdeckung des Ehebruchs gesehen werden, die sich zunächst ebenfalls körperlich äußert: „tappend und suchend“ (EB, S. 300.) geht sie ins Zimmer und bricht dort ohnmächtig zusammen. Doch anders als Melanie bleibt E auch in der Folge passiv: „Ihre Reaktion kann keine aktive, kämpferische sein, sie muß im Bild körperlicher Anfälligkeit bleiben, um als Frauen gur im Roman „glaubhaft“ zu bleiben.“ (Bettina Pohle: Kunstwerk Frau, S. 66.) So beschreibt E s Tod die „Darstellung der Frau als Opfer einer übertriebenen und ungerechten gesellschaftlichen Moral“ (Ebd., S. 66.) einerseits, anderseits steht er für „eine De nition von Weiblichkeit, in der moralische und körperliche Schwäche austauschbare, ja sich gegenseitig bedingende Charaktermale des Geschlechts Frau sind.“ (Ebd., S. 66.) Claudia Liebrand liest E s Abschiedsbrief an Crampas überzeugend als ihre Verstrickung in Schuld. (Vgl. Claudia Liebrand: Das Ich und die andern, S. 169-171. Vgl. zu den Unterschieden der Figuren Melanie und E weiterführend beispielsweise Hanni Mittelmann: Die Utopie des weiblichen Glücks in den Romanen Theodor Fontanes, S. 66.) Im Unterschied zu E Briest erscheint die Corinna Schmidt aus dem Roman „Frau Jenny Treibel“ als selbstbewusst, denn sie nimmt nicht nur „mutterwindallein“ (FJT, S. 130.) an der Landpartie teil, sondern fährt skandalöserweise auch allein mit der Stadtbahn. (Vgl. hierzu Milena Bauer: Die Landpartie in Romanen Theodor Fontanes, S. 127.) 19 Vgl. zur Symbolik von Tierfedern beispielsweise Bettina Pohle: Kunstwerk Frau, S. 48-50. <?page no="223"?> 4.2 Gang zur Jägerstraße 211 verlassen will und eben auf dem letzten Treppenabsatz (101) steht, begegnet ihr Rubehn, der inzwischen von ihrem Unwohlsein gehört hatte und nun kam, um nach ihrem Be nden zu fragen. (101) Melanie fordert ihn auf, sie auf ihrem Gang zu begleiten und entzieht sich entsprechend nicht nur der kommerzienrätlichen Kontrolle, sondern lässt sich zusätzlich vom Liebhaber begleiten, dem sie die Entlassung aus dem gemeinsamen Verhältnis anbietet: „Geben Sie mir ihren Arm. Ich will zu meiner Schwester. Aber vorher will ich Ballblumen kaufen und dahin sollen Sie mich begleiten. Ein halbe Stunde nur. Und dann geb’ ich Sie frei, ganz frei.“ (101) Doch Rubehn lehnt dieses Angebot entschieden ab: „Ich will aber nicht freigegeben sein.“ (102) Unterstrichen wird seine Äußerung raumsemantisch durch ihre Begegnung eben auf dem letzten Treppenabsatz, (101) wodurch Melanie metaphorisch aus dem kommerzienrätlichen Bereich in den Rubehns wechselt, was gleichsam erneut die Jagdsymbolik des Tiergartens 20 aufgreift, denn Rubehn ‚erbeutet‘ Melanie auf Van der Straatens eigenem Terrain. 21 Und so gingen sie die große Petristraße hinunter und vom Platz aus durch ein Gewirr kleiner Gassen, bis sie, hart an der Jägerstraße, das Geschäft der Madame Guichard entdeckten, einen kleinen Laden, in dessen Schaufenster ein Theil ihrer französischen Blumen ausgebreitet lag. (102) Die Erzählpassage so gingen sie die große Petristraße hinunter (102) korrespondiert weder mit den realen noch den romanintern etablierten topographischen Verhältnissen und ist deshalb bemerkenswert: Das Van der Straatensche Stadthaus liegt aufgrund der beschriebenen Nähe zur Petrikirche mit dem sie umgebenden Marktplatz unmittelbar an der Ecke zum Petriplatz, (Vgl. 8, 10, 17) so dass die Roman guren kaum die Petristraße hinunter gehen können. 22 Meines Erachtens 20 Vgl. dazu Seite 183 dieser Arbeit. 21 Hier sei noch einmal an das Treppensteigen in seiner „symbolische[n] Darstellung des Geschlechtsaktes“ (Michael Eggers: Leiter/ Treppe, S. 204) erinnert. Mit ihrer Au orderung „Geben Sie mir Ihren Arm. [...]“ (101) evoziert Melanie die Assoziation einer sogenannten Manus-Ehe. Diese wird gleichsam erneut geweckt, wenn Rubehn ihr später bei der Ankunft am Bahnhof die Hand (121) anbieten wird. (Vgl. zu dieser im alten Rom üblichen Eheschließung, bei der die Frau von der Hand des Vaters in die des Gatten wechselt Werner Dahlheim: Die Antike. Griechenland und Rom von den Anfängen bis zur Expansion des Islam. 4. erweiterte und überarbeitete Au age. Paderborn, München, Wien, Zürich 1995, S. 356-357.) 22 Da zudem die Petristraße nur zwischen ebendiesem Platz und der Friedrichsgracht verläuft und von dort über keine Brückenverbindung verfügt, kann hiermit nicht gemeint sein, dass die beiden die Petristraße bis zur Friedrichsgracht hinunterlaufen, zumal dies einen erheblichen Umweg bedeuten würde, wenn die Roman guren Cölln in südlicher <?page no="224"?> 212 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht wird mit den topographischen Modi kationen noch einmal Rekurs auf das Handlungsgeschehen genommen, denn die über das hinunter (102) implizierte Dauer des Passierens ebenjener Straße, 23 deren Semantik im Zusammenhang mit dem Ehebruch bereits hinreichend etabliert ist, steht sinnbildlich für das bereits seit vier Monaten anhaltende außereheliche Verhältnis. Eine Bestätigung erfährt jene Lesart durch das anschließende Gewirr kleiner Gassen, (102) welches sich mit dem Gewirr von Palmen (94) unmittelbar nach dem erfolgten Ehebruch deckt. Das Geschäft der Madame Guichard (102) be ndet sich an der Jägerstraße[.] (102) Zum einen entspricht dies den historischen Gegebenheiten, denn die Jägerstraße hat sich im 19. Jahrhundert zu einer veritablen Geschäftsstraße für das groß- und bildungsbürgerliche Publikum entwickelt, 24 zum andern erscheint die topographische Angabe abermals eng auf das Handlungsgeschehen bezogen: Die Jägerstraße ist nach dem im Jahr 1690 gebauten neuen kurfürstlichen Jägerhaus, der Wohnung des Oberjägermeisters von Hertefeld, benannt worden, 25 denn bis hierhin hat sich ursprünglich der Tiergarten erstreckt. 26 Hierdurch wird erneut auf den Ehebruch im Tiergarten, dem kurfürstlichen Jagdgebiet, Bezug genommen. Rubehn sucht Melanies Ballblumen aus und entscheidet sich, wie zuvor ihrerseits vorgeschlagen, für eine Granatblüthen-Garnitur[.] (102) 27 Als Melanie der Französin Madame Guichard 28 ihre Visitenkarte reicht, versucht jene Richtung verließen, um zum nördlich gelegenen Gendarmenmarkt zu gelangen. (Vgl. 103 und ergänzend JS1910, Blatt III. A.) 23 Zugleich verbindet sich das hinunter (102) mit der Semantik des Fallens. 24 Vgl. Ernst Siebel: Die Mendelssohns in der Jägerstrasse - Geschäfte und Geselligkeit im Wandel, S. 40-41. Diese Entwicklung verdankt die Jägerstraße in erster Linie der Tatsache, dass sie als Keimzelle des Berliner Bankenviertels gilt und so weitere Wirtschaftszweige angezogen hat. (Vgl. ebd., S. 39.) 25 Vgl. Lexikon der Berliner Straßennamen. Hrsg. von Sylvia Lais und Hans-Jürgen Mende, S. 218. Das Jägerhaus wird 1860 für den Neubau der Preußischen Bank - der späteren Reichsbank - abgerissen. (Vgl. Gerhild Komander: Das Berliner Bankenviertel, S. 54.) 26 Vgl. exemplarisch Günter Peters: Kleine Berliner Stadtgeschichte, S. 51. 27 Vgl. zum damit assoziierten orangeroten Farbton Fußnote 52 auf Seite 128 dieser Arbeit. 28 Der Wortstamm ‚Gui‘ heißt übersetzt Mistel und verweist vielfältig auf das glückliche Romanende, denn diese ist Symbol des Glücks und des Friedens, insbesondere im Zusammenhang mit Weihnachten. (Vgl. hierzu Pascal Nicklas: Mistel. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 229-230, hier S. 229-230.) <?page no="225"?> 4.2 Gang zur Jägerstraße 213 den langen Titel und Namen zu bewältigen, und ein Lächeln og erst über ihr Gesicht, als sie das „née de Caparoux“ las. Ihre nicht hübschen Züge verklärten sich plötzlich, und es war mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Glück und Wehmuth, daß sie sagte: „Madame est Française! 29 ... Ah, notre belle France.“(102) Nachdem die beiden das Geschäft verlassen haben, nimmt Melanie erneut Rubehns Arm 30 und sagt: „Hörten Sie’s wohl? Ah, notre belle France! Wie das so sehnsüchtig klang. Ja, sie hat ein Heimweh! Und alle haben wir’s. Aber wohin? Wonach? ... Nach unsrem Glück ... Nach unsrem Glück! ... Das Niemand kennt und Niemand sieht. Wie heißt es doch in dem Schubert’schen Liede? 31 „Da, wo Du nicht bist, ist das Glück.“ „Da, wo Du nicht bist,“ wiederholte Melanie. (102-103) Das Glück respektive seine Suche danach steht im Roman synonym für die Erfüllung der Liebe. (Vgl. 62, 63, 133) Hat Rubehn auf der Stralauer Wiese im Zusammenhang mit Melanies Ballwurf seine Suche nach dem Liebesglück zu erkennen gegeben, erklärt nunmehr Melanie ihrerseits - mittels eines Volksliedes und damit auf die Landpartie verweisend - ihre eigene Sehnsucht nach dem Liebesglück sowie ihren melancholischen Zustand, denn ihr scheint das Glück unerreichbar. 32 Beide trennen sich an der Kreuzung Jägerstraße Ecke Gen- 29 Bezeichnenderweise widerspricht die Schweizerin Melanie dem nicht und beantwortet damit implizit eine eingangs gestellte Erzählerfrage: Alle Vorzüge französischen Wesens erschienen in ihr vereinigt. Ob auch die Schwächen? Es verlautete nichts darüber. (7, vgl. auch Fußnote 133 auf Seite 67 dieser Arbeit.) 30 Hier sei an die Manusehe erinnert. (Vgl. dazu Fußnote 21 auf Seite 211 dieser Arbeit.) 31 Bei diesem Lied handelt es sich um Franz Schuberts (1797-1828) Vertonung des Gedichts „Der Unglückliche“ (1815) von Georg Philipp Schmidt von Lübeck (1766-1849), bei dem es sich seinerseits um eine Variation der ersten fünfstrophigen Fassung (1808) des Gedichts „Des Fremdlings Abendlied“ gleichen Autors handelt, das 1813 auch in einer erweiterten achtstrophigen Version erschienen ist. Die Vertonung trägt den Titel „Der Wanderer“ (1816/ 1821). (Vgl. hierzu Peter Schöne: Der Wanderer - Dritte Fassung D 489 - Opus 4/ 1. Online abrufbar unter: https: / / www.schubertlied.de/ index.php/ de/ die-lie der/ der-wanderer-d489 (letzter Zugri am 20.02.2023) sowie Otto E. Deutsch: Franz Schubert. Thematisches Verzeichnis seiner Werke in chronologischer Folge. Kassel 1978, Werknummern D-489 und D-493.) 32 Dem Melancholiker ist die Dualität von Handlungshemmung und Handlungsüberschwung eigen. Für Melanie wird dieser Kontrast deutlich, wenn den resignierenden <?page no="226"?> 214 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht darmenmarkt. (Vgl. 103) An ebenjener Kreuzung be ndet sich die Königliche General-Lotterie-Direktion. 33 Erneut kommentiert die Topographie das Handlungsgeschehen, denn bei der Lotterie handelt es sich um ein Glücksspiel, 34 so wie die Begegnung zwischen Melanie und Rubehn wiederholt im Zeichen der Glücks- und Spielmotivik steht. (Vgl. 19, 62, 133) Während das Gewirr von Palmen (94) im Rahmen eines privaten Treibhauses durchschritten worden ist, wird nunmehr die ungeklärte Situation in den ö entlichen Raum getragen, weshalb Melanie eine weitere Begleitung Rubehns ablehnt und auf die Einhaltung gesellschaftlicher Normen dringt: „Nein Ruben, es war der Begleitung schon zuviel. Wir wollen die bösen Zungen nicht vor der Zeit herausfordern.“ 35 [...] Er sah ihr nach und ein Gefühl von Schreck und ungeheurer Verantwortlichkeit über ein durch ihn gestörtes Glück überkam ihn und erfüllte plötzlich sein ganzes Herz. Was soll werden? fragte er sich. Aber dann wurde der Ausdruck seiner Züge wieder milder und heiterer, und er sagte vor sich hin: „Ich bin nicht der Narr, der von Engeln spricht. Sie war keiner und ist keiner. Gewiß nicht. Aber ein freundlich Menschenbild ist sie, so freundlich, wie nur je eines über diese arme Erde gegangen ist ... Und ich liebe sie [...] Muth, Melanie, nur Muth. Es werden schwere Tage kommen, und ich sehe sie schon zu Deinen 36 Häupten stehen. Aber mir ist auch, als klär’ es sich dahinter. O, nur Muth, Muth! “ (103) Zeilen des ‚Wanderers‘ die Luftschlösser (106) gegenübergestellt werden, die beide später unter glücklichen Thränen (106) bauen werden. (Vgl. dazu auch Seite 219 dieser Arbeit.) 33 Vgl. Ernst Siebel: Die Mendelssohns in der Jägerstrasse - Geschäfte und Geselligkeit im Wandel, S. 40. 34 Darüber hinaus ist die Lotterie ein Glücksspiel, für das man bezahlen muss, so wie Melanie später erklären wird: „Ich habe nun mein Glück, ein wirkliches Glück; mais il faut payer pour tout et deux fois pour notre bonheur.“ (133) Der Zusammenhang zwischen Lotterie und Glück ndet sich gleichfalls in anderen Romanen Fontanes im Kompositum ‚Lotterieglück‘. Beispielsweise räsoniert der Erzähler in „Irrungen, Wirrungen“ über Botho v. Rienäcker: „Er scherzte gern darüber und p egte zu versichern, „daß ihm sein Lotterieglück, weil es ihn zu beständig neuen Ankäufen verführt habe, theuer zu stehn gekommen sei,“ hinzusetzend, „daß es vielleicht mit jedem Glücke dasselbe sei.““ (IW, S. 38.) Ebenso wird auch im Roman „Unterm Birnbaum“ (1885) Abel Hradschecks „Lottoglück“ (UB, S. 11.) ausbleiben. 35 Hiermit gibt Melanie Rubehn zu verstehen, dass sie von ihm schwanger ist. 36 Der Wechsel von der Sie-Form zur Du-Form entspricht dem Wechsel der Anrede im Palmenhaus (Vgl. 94) und belegt implizit, dass Rubehn ebenfalls davon ausgeht, der Vater des Kindes zu sein. <?page no="227"?> 4.3 Silvesterball im Hause Gryczinski 215 Erneut wird Rubehn als Kontrast gur zu Van der Straaten gezeichnet, denn während der Kommerzienrat seiner Gattin stets Rollen zuweist, (Vgl. 14, 35) lehnt Rubehn dies explizit ab. Für Gottfried Zeitz gehört Rubehn in den Kontext der Farblosigkeit der Edlen Helden der einschlägigen Trivial- und Schauerliteratur. Ganz Charakter und Würde, ohne Fehl und Tadel, ist er bis zur Unglaubwürdigkeit „positiv“. Seine vorgebliche menschliche Stärke macht seine poetische Schwäche aus. 37 Aus diesem Grund erscheint Zeitz die Figur unglaubwürdig. 38 Dieser Einschätzung möchte ich entgegenhalten, dass Rubehn in seiner Anlage keineswegs fehl- und tadellos ist, sondern vielmehr im Gegenteil einen Vertrauens- und Hausfriedensbruch (99) begeht, den er sich selbst und Melanie gegenüber re ektiert. (Vgl. 103, 106) Seine - wie Zeitz formuliert - „menschliche Stärke“ 39 erscheint erzählerisch notwendig, weil er sich deutlich von Van der Straatens ungeschli ener Art abheben muss, 40 um Melanies Trennung von ihrem Gatten und insbesondere von ihren Kindern sowie die spätere glückliche Ehe plausibel erscheinen zu lassen. 4.3 Silvesterball im Hause Gryczinski Eine halbe Woche danach war Sylvester und auf dem kleinen Balle, den Gryczinski’s gaben, war Melanie die Schönste. (103) Wird Melanie durch ihren Gatten wiederholt in bittere Verlegenheiten (71) gebracht, erhöht Rubehn durch seine Wahl des Blumenschmucks ihr Ansehen und lässt sie zur schönsten Dame des Abends avancieren: 41 37 Gottfried Zeitz: Die poetologische Bedeutung des Romans „L’Adultera“ für die Epik Theodor Fontanes, S. 155. Hierzu ähnlich emp ndet Irmela von der Lühe die Figur Rubehn als blass. (Vgl. Irmela von der Lühe: „Wer liebt, hat recht“, S. 125.) 38 Vgl. Gottfried Zeitz: Die poetologische Bedeutung des Romans „L’Adultera“ für die Epik Theodor Fontanes, S. 155. 39 Ebd., S. 155. 40 Die Einschätzung Eva Geulens, bei Rubehn handele es sich lediglich um eine jüngere Kopie Van der Straatens ist daher kaum nachvollziehbar. (Vgl. hierzu Eva Geulen: Realismus ohne Entsagung. Fontanes L’Adultera . In: Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane. Hrsg. von Peter Uwe Hohendahl und Ulrike Vedder. Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien 2018 (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae; Band 229), S. 45-57, hier S. 48.) 41 Entspricht die Granatblüthen-Garnitur (102) Melanies Wunsch, (Vgl. 102) kritisiert sie Van der Straatens Bilderwahl: „[...] Aber daß Du gerade das wählen mußtest! [...].“ (12) <?page no="228"?> 216 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht „[...] Wer ist denn dieser Prachtkopf mit den Granatblüthen? [...] Halb die Herzogin von Mouchy und halb die Beau remont. Un teint de lys et de rose, et tout à fait distinguée.“ „Sie tre en es gut genug, mon cher Tigris,“ lachte Wensky „’s ist die Schwester unsrer Gryczinska, eine geborene de Caparoux.“ (104) Während des Balls wird Melanie nicht mit ihrem Gatten in Verbindung gebracht, 42 sondern explizit als „eine geborene de Caparoux“ (104) bezeichnet. Hierdurch wird bereits die baldige Trennung der Eheleute vorweggenommen und die Wesensunterschiede beider abermals über die Bewunderungsformel „[...] Un teint de lys et de rose, et tout à fait distinguée.“ (104) pro liert, denn während sie als ‚vollendet vornehm‘ beschrieben wird, gilt er gesellschaftlich aufgrund seines mangelnden Weltschli s nur bedingungsweise. (5) Dabei rekurriert die Formel von ‚Lilien und Rosen‘ auf Melanies Einschätzung - „Es ist so viel Unschuld in ihrer Schuld ... [...]“ (13) - bezüglich der ‚Ehebrecherin‘ Tintorettos, denn die Unschuldssymbolik der Lilie verknüpft sich mit der erotischen Konnotation der Rose. 43 Zudem bildet die Kombination beider Blumen in der christlichen Ikonographie „die traditionelle Symbolik für die Jungfräulichkeit Marias.“ 44 Da der Leser weiß, dass Melanie nicht nur mit ihrem dritten, sondern auch mit einem aus einem Ehebruch gezeugten Kind schwanger ist, wirkt Leutnant Tigris Einschätzung ironisch gefärbt. Dies karikiert er selbst, wenn er fälschlicherweise feststellt: „Drum, drum auch. Jeder Zoll eine Französin. Ich konnte mich nicht irren. [...].“ (104) Da Melanie erneut als Französin verstanden wird, kommt der bereits hinlänglich etablierte Zusammenhang zwischen französischer Herkunft und dem Makel der Untreue abermals zur Geltung. Dies verstärkend, imaginiert Rittmeister von Schnabel (104) Melanie als „[a]egyptische Königstochter“ (103-104) und ordnet sie 42 Der Umstand, dass Van der Straaten unerwähnt bleibt, kann als Beleg dafür genommen werden, dass seine Ausfälligkeiten auf seinen Herrschaftsbereich beschränkt bleiben. Dies betri t vor allem den Speisesaal, in dem es mitunter zu jenen Katastrophen (33) kommt, wie sie bei den commercienräthlichen Diners eben nicht allzu selten waren[.] (33) 43 Gleichzeitig wird Melanie hierdurch abermals als Venus gezeichnet, denn „[e]s scheint, da man die Rosen mit den Lilien hat vereinbaren wollen, daß man sie vermuthlich darum auch der Göttin der Schönheit geheiligt hat.“ (Carl Richter: Ueber die Attribute der Venus, S. 163.) Vgl. allgemein zur Symbolik von Lilien und Rosen Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, S. 236 und 347. 44 FE, Anmerkungen, S. 165. <?page no="229"?> 4.3 Silvesterball im Hause Gryczinski 217 hiermit dem Orient zu, 45 welcher durch die echt Van der Straaten’sch[e] Expectoration (68) in Stralau mit einem weiblichen Ehebruch verknüpft ist. Außerdem stellt Melanie ihre Existenz als Ehebrecherin durch ihren Haarschmuck gleichsam aus, denn die Granatblüten gelten als altes Attribut der Aphrodite. 46 Auf diese Weise werden die Mechanismen der gesellschaftlichen Meinungsbildung ironisch re ektiert, denn Melanie wird auf dem Ball mit dem Makel der Untreue in Verbindung gebracht und dafür zugleich als Schönste gefeiert. Erfüllt sich jedoch die imaginierte Untreue in der literarischen Wirklichkeit, wird die Ehebrecherin hierfür gesellschaftlich abgestraft. (Vgl. 138) Mit dem Silvesterball erscheint das Haus der Gryczinskis als Brennpunkt des gesellschaftlichen Lebens. 47 Zugleich gilt die Teilnahme an Tanzbällen als Indikator für die soziale Einordnung und die Tatsache, dass Melanie in der Folge keinen Ball mehr besuchen wird, unterstreicht ihre spätere soziale Deklassierung. 48 Der Hausball, wie er bei den Gryczinskis zu Silvester gegeben wird, hat seinen Ursprung im Italien des 16. Jahrhunderts, wo die privaten Tanzveranstaltungen zumeist im Winter in den Villen der Oberschicht statt nden. 49 Über die italienische Herkunft des Hausballs, für die insbesondere Venedig eine Rolle spielt, 50 wird nicht nur erneut Melanies diesbezügliche A nität verhandelt, sondern zugleich auf die positive Wendung in Venedig angespielt, denn auf dem Ball erscheint sie glücklich. 51 Hierfür kann auch das Wort Ball etymologisch 45 Rittmeister von Schnabel spielt mit seinem Vergleich auf den damals beliebten, dreibändigen Roman „Eine ägyptische Königstochter“ (1864) von Georg Ebers (1837-1898) an, „der als Ausdruck der zeitgenössischen Orientmode galt“. (Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 35.) Weil Melanie dabei die Rolle der Königstochter zugeschrieben wird, wird hierdurch erneut auf das Dreiecksverhältnis aus König Ezel (13) sowie der Prinzessin Melanie (Vgl. 7) und dem Prinz (Vgl. 40) Rubehn angespielt. 46 Vgl. hierzu Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Hrsg. von W. H. Roscher. Erster Band. Erste Abteilung, Spalte 411. 47 Dies passt zur gehobenen Lage des Gryczinskischen Domizils in der Alsenstraße, (Vgl. 23) deren unmittelbare Umgebung als Zentrum des Wilhelminischen Kaiserreichs gilt. (Vgl. hierzu Wolfgang Ribbe, Eberhard Bohm und Günter Richter: Geschichte Berlins, S. 756 sowie SIN1882 und KPL1888, Planquadrat E3.) 48 Vgl. Walter Salmen: „An Sylvester war Ressourcenball ...“, S. 115. 49 Vgl. Monika Fink: Der Ball. Eine Kulturgeschichte des Gesellschaftstanzes im 18. und 19. Jahrhundert. Innsbruck 1996 (= Bibliotheca Musicologica; Band 1), S. 165. 50 Vgl. Medau (Verlag): Leitmeritzer Wochenblatt zu allem Wissenswerthen für Stadt und Land. Zehnter Jahrgang. Leitmeritz 1865, S. 60. 51 Ihr Lachen kann als Beleg gelten. (Vgl. 104) <?page no="230"?> 218 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht als Erklärung dienen, denn ihm ist eine Verbindung von Tanz und Ballspiel eingeschrieben 52 und erinnert an Melanies Ballwurf in Stralau, der in Zusammenhang mit dem „[...] Glück“ (62, 102) steht. 53 Auch eine spätere Versöhnung mit der Gesellschaft wird antizipiert, wenn sie ausdrücklich zur schönsten Dame des Abends, zum „[...] Prachtkopf mit den Granatblüthen[,] [...]“ (104) avanciert, denn diese Bezeichnung erscheint im Lichte der bereits zuvor ausgegebenen Kagelmannschen Devise: 54 „Jott, Frau Räthin, ob Sie dürfen! Solche Frau! Solche Frau wie Sie, darf allens. Un warum? Weil Ihnen allens kleid’t. Un wen alles kleidt, der darf ooch alles. Uf ’s kleiden kommt’s an. ’s giebt welche, die sagen, die Blumen machen dumm und simplig. Aber daß es u s’ Kleiden ankommt, so viel lernt man bei de Blumens.“ (88) Während Melanie beim Ball über ihr Lachen als glücklich beschrieben wird, lässt der Erzähler wissen, dass in den folgenden Tagen die Beauté jenes Ballabends (104) nicht wieder erkannt werden konnte: Sie lag leidend und abgehärmt, uneins mit sich und der Welt, auf dem Sopha [...]. So vergingen ein paar Wochen, und als sie wieder aufstand und sprach, und wieder nach den Kindern und dem Haushalte sah, schärfer und eindringlicher als sonst, war ihr der energische Muth ihrer früheren Tage zurückgekehrt, aber nicht die Stimmung. Sie war reizbar, heftig, bitter. Und was schlimmer, auch capriciös. Van der Straaten unternahm einen Feldzug gegen diesen vielköp gen Feind und im Einzelnen nicht ohne Glück, aber in der Hauptsache gri er fehl, und während er ihrer Reizbarkeit klugerweise mit Nachgiebigkeit begegnete, war er, ihrer Caprice gegenüber, unklugerweise darauf aus, sie durch Zärtlichkeit besiegen zu 52 Vgl. Monika Fink: Der Ball, S. 19. 53 Und nun erst wurde man ihrer ansichtig, und Melanie sprang auf und warf ihrem Gatten, wie zur Begrüßung, einen der großen Bälle zu. Aber sie hatte nicht richtig gezielt, der Ball ging seitwärts und Rubehn ng ihn auf. Im nächsten Augenblicke begrüßte man sich und die junge Frau sagte: „Sie sind geschickt. Sie wissen den Ball im Fluge zu fassen.“ „Ich wollt’, es wäre das Glück.“ „Vielleicht ist es das Glück.“ (62) 54 Außerdem kann Kagelmanns Haltung - im Rekurs auf die Erkenntnis, dass Diener im Allgemeinen als verzerrte Spiegelbilder ihrer Herren gezeichnet werden (Vgl. Fußnote 304 auf Seite 105 dieser Arbeit.) - als erneuter Hinweis auf die spätere Versöhnung mit Van der Straaten gelesen werden. <?page no="231"?> 4.3 Silvesterball im Hause Gryczinski 219 wollen. Und das entschied über ihn und sie. Jeder Tag wurd’ ihr qualvoller, und die sonst so stolze und siegessichere Frau, die mit dem Manne, dessen Spielzeug sie zu sein schien und zu sein vorgab, durch viele Jahre hin immer nur ihrerseits gespielt hatte, 55 sie schrak zusammen und gerieht in ein nervöses Zittern, wenn sie von fern her seinen Schritt auf dem Corridore hörte. Was wollte er? Um was kam er? Und dann war es ihr, als müsse sie iehen und aus dem Fenster springen. (105) Der Erzähler entfaltet ein umfangreiches Krankheitsbild seiner Protagonistin. Denn Melanie verfällt nach Silvester in Melancholie (126), 56 die zunächst von einer Passivität gekennzeichnet ist, die dann wiederum in Aktivität umschlägt, wenn sie nach Wochen auf dem Sopha (105) wieder schärfer (105) nach dem Haushalt schaut als gewöhnlich. 57 Der Wechsel aus Aktivität und Passivität 55 Hiermit wird meine These, Melanie sei gleich dem Kakadu der eigentliche Haustyrann, bestätigt. (Vgl. Seite 72 dieser Arbeit.) 56 Obwohl der Erzähler später Melanies jetzigen Gesundheitszustand als Melancholie (126) klassi zieren wird, sieht die Forschung hierin Zeichen der Hysterie, (Vgl. hierzu Humbert Settler: ‚L’Adultera‘ - Fontanes Ehebruchsgestaltung - auch im europäischen Vergleich, S. 14; Katharina Grätz: Alles kommt auf die Beleuchtung an, S. 144 sowie Dirk Mende: Frauenleben, S. 199.) zu der Bettina Pohle ganz allgemein konstatiert: „Der „erotische Wahn“ oder die „grande hystérie“ ist zum Ende des 19. Jahrhunderts überall in Europa ein Symptom der Zeit und das etablierte Krankheitsbild des weiblichen Geschlechts. Jede Frau ist eine potentiell hysterische. Als solcher werden ihr noch mehr körperliche und geistige Schwächen und noch weniger Rechte zugesprochen.“ (Bettina Pohle: Kunstwerk Frau, S. 26.) Jedoch belegt von Stein anhand von Charles Baudelaires (1821-1867) „Les Fleurs du Mal“ (1857) und Flauberts (1821-1880) „Madame Bovary“ (1856), dass die Hysterie als E ekt der Melancholie und nicht als eigenständiges Krankheitsbild zu verstehen ist: „Das hysterische Handeln bildet den wahrnehmbaren Höhepunkt einer für sich genommenen ebenso schwer sichtbaren wie unerträglich gewordenen melancholischen Anspannung, deren Ursprung in einem Ungenügen an der Welt liegt.“ ( Juana Christina von Stein: Melancholie als poetologische Allegorie. Zu Baudelaire und Flaubert. Berlin 2018, S. 18.) Dies lässt sich, wie in der Folge ersichtlich werden wird, auch für Melanie feststellen. 57 Die strengere Wahrnehmung ihrer P ichten als Hausfrau und Mutter liest Lilo Weber als Versuch, ihre von der Gesellschaft geforderte Rolle besser wahrzunehmen. (Vgl. Lilo Weber: „Fliegen und Zittern“, S. 129.) Die begüterten Frauen leben im 19. Jahrhundert ein zurückgezogenes Leben und verbringen ihre Zeit innerhalb des Hauses mit Nähen, Zeichnen, Lesen, Menüs planen sowie dem Bewachen der Kinder und Dienerschaft. Durch die daraus häu g entstehende Langeweile und Abgeschlossenheit wird ein regelrechter „Kult des Krankheitswahnes“ (Dirk Mende: Frauenleben, S. 198.) hervorgebracht, der sich beispielsweise durch Aufenthalte in Badekurorten äußert und die Langeweile unterbricht. <?page no="232"?> 220 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht ist dabei ein häu ges Phänomen des Krankheitsbildes Melancholie. 58 So ieht Melanie einerseits in die Krankheit, 59 andererseits, wenn sie dann allein war, so stürzte sie fort, oft ohne Ziel, öfter noch in Anastasiens stille, zurückgelegene Wohnung, und wenn dann der Erwartete kam, dann brach alle Noth ihres Herzens in bittre Thränen aus und sie schluchzte und jammerte, daß sie dieses Lügenspiel nicht mehr ertragen könne. „Steh mir bei, hilf mir, Rubehn, oder Du siehst mich nicht lange mehr. Ich muß fort, fort, wenn ich nicht sterben soll vor Scham und Gram.“ Und er war mit erschüttert und sagte: „Sprich nicht so, Melanie. Sprich nicht, als ob ich nicht alles wollte, was Du willst. Ich habe Dein Glück gestört ( wenn es ein Glück war) und ich will es wieder aufbauen. Ueberall in der Welt, wie Du willst und wo Du willst. Jede Stunde, jeden Tag.“ Und dann bauten sie Luftschlösser und träumten und hatten eine lachende Zukunft um sich her. “ (105-106) Wenn Melanie der Petristraße ent ieht und hinausstürzt ohne Ziel, oder in Anastasias Wohnung mit Rubehn Zukunftspläne schmiedet, entspricht dies erneut dem Verhalten eines Melancholikers, denn der Melancholie ist sowohl eine Handlungshemmung als auch paradoxerweise daraus folgend eine Produktivität, in Form eines Handlungsüberschwangs, eigen. 60 Und so planen die Liebenden Ein Beispiel hierfür bietet der Roman „Irrungen, Wirrungen“: „[...] Mutter und Schwiegermutter, die sich mit jedem Tage mehr einredeten, ihre Käthe blasser, blutloser und matter als sonst vorgefunden zu haben, hatten wie sich denken läßt, nicht aufgehört, auf einen Spezialarzt zu dringen, mit dessen Hilfe [...] eine vierwöchige Schlangenbader Kur als vorläu g unerläßlich festgesetzt worden war.“ (IW, S. 132-133.) 58 Vgl. hierzu Wolf Lepenies: „Melancholie ist ein aktuelles gesellschaftliches Problem“. Kulturinterview vom 16. Februar 2006 im Deutschlandfunk Kultur. Moderation André Hatting. Mitschrift online abrufbar unter: https: / / www.deutschlandfunkkultur. de/ melancholie-ist-ein-aktuelles-gesellschaftliches-problem.945.de .html? dram: article_id=132209 (letzter Zugri am 20.02.2023) und weiterführend Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Mit einer neuen Einleitung: Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie. Frankfurt am Main 1998. 59 Hierin kann auch eine Flucht vor dem gesellschaftlichen und familiären Leben gesehen werden. (Vgl. hierzu allgemein Bettina Pohle: Kunstwerk Frau, S. 59.) In diesem Sinne liest Nina Hirschbrunn Melanies Aufenthalt auf dem Sofa überzeugend als ein Verhalten, bei dem „sie sich in sich selbst zurückzieht und sich gleichzeitig ihrem Ehemann entzieht.“ (Nina Hirschbrunn: „Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.“, S. 172.) 60 Vgl. dazu Wolf Lepenies: „Melancholie ist ein aktuelles gesellschaftliches Problem“. Kulturinterview vom 16. Februar 2006 im Deutschlandfunk Kultur sowie Seite 343 dieser Arbeit. <?page no="233"?> 4.4 Abschiedsgespräch mit Van der Straaten 221 ganz konkret die Flucht [...] weit, weit in die Welt hinein, nach Süden zu, über die Alpen. (106) Die vom Erzähler als Kontrapunkt zur Melancholie anzitierte lachende Zukunft (106) erweist sich als realistisches Zukunftsbild, denn der kurerfahrene Rubehn (Vgl. 53) ist durch seine Taufe mit Bartholomäus assoziiert, der wiederum als Heiler von Nervenkrankheiten gilt. 61 4.4 Abschiedsgespräch mit Van der Straaten Am 31. Januar des Jahres 1876 wollen sich Melanie und Rubehn in früher Morgenstunde (106) an einem der Bahnhöfe tre en[.] (106) Melanie hatte sich zu früher Stunde niedergelegt und ihrer alten Dienerin befohlen, sie Punkt drei zu wecken. (107) Als Christel erkennt, dass sich Melanie zur Flucht anschickt, versucht sie ihre Herrin zum Bleiben zu bewegen, indem sie von der Ehe ihrer früheren Herrschaft, der Familie Vernezobre, berichtet: „[...] Un war auch Commercienrath un alles ebenso. Das heißt beinah. [...]“ (108) Während in Gärtner Kagelmanns Ehebruchsgeschichte der Ehemann mit den Kindern verlassen wird, verbleibt in Christels Geschichte die Ehebrecherin in ihrer Ehe. Zwar gibt es Parallelen zwischen den Familien Van der Straaten und Vernezobre, 62 allerdings werden die Unterschiede über das beinah (108) betont, denn während beispielsweise im Fall Vernezobre die Liaison mithilfe von Wasser, in Form einer Bäderkur, Ende August aufhört, beginnt zu ebenjener Zeit die A äre zwischen Melanie und Rubehn ebenfalls mithilfe von Wasser, genauer einer „[...] Wasserfahrt [...].“ (58) Christel schlägt vor, Melanie solle sich wieder schlafen legen und erst mittags wecken lassen: „[...] Un Klocker zwölfe bring ich Ihnen Ihren Ka ee un Ihre Chokolade, alles gleich auf ein Brett, un wenn ich Ihnen dann erzähle, daß wir hier gesessen und was wir alles gesprochen haben, dann is es Ihnen wie’n Traum. [...]“ (111) Nimmt das kommerzienrätliche Ehepaar im Winter gewöhnlich sein Frühstück gemeinschaftlich gegen neun Uhr im Wohn- und Arbeitszimmer Van 61 Vgl. dazu Joachim Schäfer: Bartholomäus. Dem zeitgenössischen Verständnis nach gilt die Melancholie als Nervenkrankheit. (Vgl. Karl Sundelin: Handbuch der Nervenkrankheiten. Erster Band. Erste Abtheilung. Wien 1830, S. 147.) 62 Beispielsweise wird die Vernezobresche Ehebrecherin über ihre Herkunft aus einer „[...] Färberei, türkischroth [...]“ (110) wie Melanie de Caparoux mit der Farbe Rot und dem Orient (Vgl. 68, 69) in Verbindung gebracht. <?page no="234"?> 222 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht der Straatens ein, (Vgl. 8) versucht Christel nunmehr mit dem Vorschlag, ihrer Herrin das Frühstück um zwölf Uhr ans Bett zu bringen, das ländliche Otium der Tiergartenvilla (Vgl. 47) - Melanies Sehnsuchtsort (Vgl. 16) - zu imitieren. Zudem will Christel ihrer Herrin den Ka ee und die Schokolade ausdrücklich zusammen auf einem einzigen Brett servieren, so dass es zu einer Verschränkung der symbolischen Bedeutungsebenen beider Genussmittel kommt. Dies erscheint bedeutsam, denn der Ka ee verweist auf gesellschaftlichen Klatsch, (Vgl. 8, 9) so dass hier eine Warnung gegenüber Melanie ob ihres Vorhabens erscheint, wobei diese Form der gesellschaftlichen Reaktion bereits durch die beiden kursierenden Ehebruchsgeschichten etabliert ist. 63 Die Schokolade hingegen gilt als erotisches Getränk 64 und kann in zwei Konnotationen gelesen werden: Erstens wird durch die Bedeutungsverschränkung mit dem Ka ee der Tratsch eindeutig erotisch konnotiert und mithin als Ehebruchstratsch klassi ziert. Zweitens kann die Schokolade als Versuch gesehen werden, 65 die fehlende Leidenschaft innerhalb der kommerzienrätlichen Ehe gleichsam zu kompensieren. 66 Dabei gehört der Schokoladengenuss zum Habitus einer privilegierten Oberschicht, 67 so dass Melanie Christels Vorschlag nur ablehnen kann, denn sie hat bereits für sich erkannt: „[...] Aber Verwöhnung ist kein Glück. [...]“ (107) Während der Unterredung zwischen Melanie und Christel tritt Van der Straaten in Erscheinung: 68 Es kam nicht der empörte Mann, sondern der liebende. Er 63 Christel ist diejenige, die Tratschgeschichten zirkulieren lässt. (Vgl. 40) Zudem bricht sie, weil sie über ihren früheren Arbeitgeber tratscht, ein ungeschriebenes Gesetz. (Vgl. hierzu Monika Wengerzink: Klatsch als Kommunikationsphänomen in Literatur und Presse, S. 184-185.) 64 Vgl. hierzu Rita Gundermann und Bernhard Wul : Der Sarotti-Mohr, S. 16. 65 Schokolade gilt im 17. und 18. Jahrhundert als Aphrodisiakum. (Vgl. ebd., S. 16.) 66 Als Beispiel sei hier an das zerkrümelte Chocoladenbiscuit (18) erinnert, welches die sexuell gestörte Verbindung der Eheleute Van der Straaten versinnbildlicht (Vgl. Seite 77 dieser Arbeit.) und zugleich im Kontrast zur „weichen hot-house-Atmosphäre“ (Vgl. Seite 196 dieser Arbeit.) steht. 67 Schokolade in üssiger Form wird zunächst am französischen Hof und nachfolgend in ganz Europa als notwendiger Bestandteil des Frühstücks der adeligen Dame im privaten Gemach eingenommen. (Vgl. hierzu ausführlicher Rita Gundermann und Bernhard Wul : Der Sarotti-Mohr, S. 17.) 68 An dieser Stelle ist Waltraud Zuleger zu widersprechen, die irrigerweise glaubt, Melanie versuche in ihre Ehe zurückzukehren. (Vgl. Waltraud Zuleger: Die starke Frau, S. 125.) Jedoch wird das Gespräch nicht durch Melanie initiiert, sondern gerade durch den Kommerzienrat, der überraschend ihr Zimmer betritt und händeringend versucht, sie zum Bleiben zu bewegen. (Vgl. 111-115) <?page no="235"?> 4.4 Abschiedsgespräch mit Van der Straaten 223 schob einen Fauteuil an das Fenster, ließ sich nieder, so daß er jetzt Melanie gegenüber saß, und sagte leicht und geschäfsmäßig: „Du willst fort, Melanie? “ (112) Für Norbert Wichard spiegelt sich Van der Straatens Rolle als liebender Ehemann in der Raumkommunikation, wenn er sich auf ein Fauteuil gegenüber von Melanie setzt. 69 Jedoch wird diese Einschätzung durch das [G]egenüber (112) konterkariert, das mehr einem Kampf in „[...] zwei Lagern [...]“ (54-55) denn einem partnerschaftlichen ‚Seite an Seite‘ gleicht. Unterstützt wird diese Lesart durch seinen geschäftsmäßige[n] (112) Habitus, der einerseits im Widerspruch zum liebenden Ehemann steht und anderseits erneut den ehelichen Grundkon ikt o enlegt, der das Scheitern der Ehe bewirkt: Es war eben immer dasselbe Lied. Alles, was er sagte, kam aus einem Herzen voll Gütigkeit und Nachsicht, aber die Form, in die sich diese Nachsicht kleidete, verletzte wieder. (116) Ihre geplante Abreise begründet Melanie mit ihrer Liebe zu einem anderen Mann. Diesen Grund akzeptiert der Kommerzienrat allerdings nicht 70 und behauptet: „Und ich sage Dir, es geht vorüber, Lanni. Glaube mir, ich kenne die Frauen. Ihr könnt das Einerlei nicht ertragen, auch nicht das Einerlei des Glücks.“ (112) Bereits Van der Straatens Gemäldegalerie, die beim Leser den Eindruck erweckt, umfänglich aus Reproduktionen zu bestehen, (Vgl. 12, 26) veranschaulicht seine Unfähigkeit, zwischen dem Typischen und dem Individuellen zu unterscheiden, so wie die Kopie niemals die Einzigartigkeit des Originals erreicht. 71 Entspre- 69 Vgl. Norbert Wichard: Erzähltes Wohnen, S. 201 und hierzu ähnlich Nina Hirschbrunn: „Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.“, S. 286. 70 Während sich die Liebesehe im 19. Jahrhundert theoretisch weitgehend durchgesetzt hat, weicht die Praxis nicht selten hiervon ab, was im Roman „E Briest“ eindrücklich gezeigt wird. (Vgl. hierzu exemplarisch Helmut Schmiedt: Liebe, Ehe, Ehebruch. Ein Spannungsfeld in deutscher Prosa von Christian Fürchtegott Gellert bis Elfriede Jelinek. Opladen 1993, S. 103.) 71 Walter Benjamin (1892-1940) beispielsweise sieht Kunstwerke schon immer ihrer Reproduzierbarkeit ausgesetzt. Allerdings erreichen die Kopien nie das einmalige Dasein des Originals. (Vgl. hierzu Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Dritte, autorisierte letzte Fassung, 1939. Göttingen 2019, S. 6-7.) Ähnlich konstatiert Walter Müller-Seidel: „Jedes Einzelschicksal vergleicht er bezeichnenderweise mit einer Kopie. Das Individuelle eines Porträts entschwindet seinem Blick. Er nimmt vornehmlich das Typische wahr - die Kopie, die man in zahllosen Exemplaren besitzen kann. Das Individuelle seiner Frau erschöpft sich für ihn in dem, was Frauen allgemein sind.“ (Walter Müller-Seidel: Theodor Fontane, S. 174.) Im Unterschied zu Van der Straaten betrachtet Rubehn Melanie di erenziert: „Ich bin nicht der Narr, der von Engeln spricht. Sie war keiner und ist keiner. Gewiß nicht. Aber ein freundlich Menschenbild ist sie [...].“ (103) <?page no="236"?> 224 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht chend vermag er auch jetzt nicht die Individualität seiner Frau wahrzunehmen, sondern lediglich das vermeintlich typisch Weibliche und unterliegt dabei zusätzlich der Illusion, er kenne Melanie, weil er die Frauen allgemein kenne, 72 wodurch ihm der Zugang zum gemeinsamen Kon ikt verstellt wird, 73 denn Melanie beansprucht: „[...] Ich bin doch anders. [...].“ (110) Vielmehr bestärkt seine Argumentation ihr Vorhaben: „[...] Ist es wirklich, wie Du sagst, so wären wir geborene Hazardeurs, und Va banque spielen so recht eigentlich unsere Natur. Und natürlich auch die meinige.“ (112) Damit antizipiert Melanie ihr späteres Schicksal, denn das Spielen gilt im 19. Jahrhundert nicht nur als nutzlose Beschäftigung, sondern birgt zudem ernsthafte Gefahren: Insbesondere das Hazardspiel gehört zu den gefährlichen Spielen, denn durch einen potentiellen nanziellen Ruin gefährdet der Spieler seine gesicherte Existenz, 74 so wie Melanie ihr Leben als „[...] bequem gebettete [...] und [...] verwöhnte Frau [...]“ (113) gegen ein späteres Zusammenbrechen der Rubehn’schen Finanz-Herrlichkeit (159) tauschen wird. Er hörte sie gern in dieser Weise sprechen, es klang ihm wie aus guter, alter Zeit her, und er sagte, während er den Fauteuil vertraulich näher rückte: „Laß uns nicht spießbürgerlich sein, Lanni. [...] Meine Course stehen jetzt niedrig, aber sie werden wieder steigen.“ (112-113) Van der Straaten betont sein Wissen darum, dass Melanie ihn nicht „[...] aus purer Neigung oder gar aus Liebesschwärmerei genommen [...]“ (113) hätte, sie jedoch gleichzeitig „[...] an die zehn Jahr in der Vorstellung und Erfahrung gelebt [habe], daß es nicht zu den schlimmsten Dingen zählt, eine junge, bequem gebettete Frau 72 Auch Van der Straatens Annahme, er kenne die Frauen, erscheint zweifelhaft. So hat beispielsweise die Stralauer Wirtin für Van der Straaten nur Mitleid und Achselzucken (64) übrig. Außerdem entspricht die Geisteshaltung, seine Gattin nicht als eigenständiges Individuum zu begreifen, erneut einem calvinistischen Habitus. (Vgl. hierzu Marion Villmar- Doebeling: Theodor Fontane im Gegenlicht, S. 101-102.) 73 Vgl. hierzu Gottfried Zeitz: Die poetologische Bedeutung des Romans „L’Adultera“ für die Epik Theodor Fontanes, S. 162-163; Mareike Blum: „Das ist eben das, was man sich verheiraten nennt“, S. 98; Gerhard Friedrich: Das Glück der Melanie van der Straaten, S. 367 und Nora Ho mann: Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung bei Theodor Fontane, S. 242-250. 74 Vgl. Dorothea Kühme: Bürger und Spiel, S. 56-57. <?page no="237"?> 4.4 Abschiedsgespräch mit Van der Straaten 225 zu sein und der Augapfel ihres Mannes, eine junge, verwöhnte Frau, die thun und lassen kann, was sie will, und als Gegenleistung nichts anderes einzusetzen braucht, als ein freundliches Gesicht, wenn es ihr grade paßt. Und sieh, Melanie, weiter will ich auch jetzt nichts, oder sag ich lieber, will ich auch in Zukunft nicht. Denn in diesem Augenblick erscheint Dir auch das Wenige, was ich fordere, noch als zu viel. Aber es wird wieder anders, muß wieder anders werden. Und ich wiederhole Dir, ein Minimun ist mir genug. Ich will keine Leidenschaft. [...]“ (113) Der Kommerzienrat verkennt seine Gattin nicht nur bezüglich ihres Anspruchs auf Einzigartigkeit, sondern missversteht zweitens gleichfalls ihre Haltung zur Liebe, denn sie bekennt bereits in der Tiergartenvilla: „[...] Denn ohne Lieb’ und ohne Lust ist nichts in der Welt. [...]“ (50) Entsprechend emp ndet sie Liebe als Grundvoraussetzung für das Glück und postuliert, ihr späteres Schicksal vorwegnehmend: „[...] ‚wenig mit Liebe‘ [...].“ (107) Dies korreliert wiederum mit ihrer Genfer Herkunft, denn Jean-Jacques Rousseaus im Jahr 1761 erschienener Briefroman „Julie, ou la Nouvelle Héloïse“ gilt als eines der „bedeutendsten Gründungsdokumente der aufrichtigen Liebe“. 75 Entsprechend kann der Kommerzienrat Melanie nicht für sich gewinnen, wenn er anbietet: „[...] Also nichts von Liebe. [...]“ (113) Drittens begreift er sie lediglich als eine verwöhnte Frau (Vgl. 113) und verkennt sie so abermals, denn Melanie hat gerade gegenüber Christel erklärt: „[...] Aber Verwöhnung ist kein Glück. [...]“ (107) Während der Leser um die Unvereinbarkeit der ehelichen Positionen weiß, glaubt Van der Straaten: „[...] Es wird sich alles wieder zurechtrücken.“ (114) Melanies Schwangerschaft sieht er dabei zudem als hinreichenden Grund für einen Verbleib in der Ehe: „Aber dennoch sag’ ich Dir, nimm Rücksicht auf Dich selbst . Es ist nicht gut, immer nur an das zu denken, was die Leute sagen, aber es ist noch weniger gut, garnicht daran zu denken. Ich hab es an mir selbst erfahren. Und nun überlege. Wenn Du jetzt gehst ... Du weißt, was ich meine. Du kannst jetzt nicht gehen; nicht jetzt .“ „Eben deshalb geh ich, Ezel,“ antwortete sie leise. „Es soll klar zwischen uns werden. Ich habe diese schnöde Lüge satt.“ (114) 75 Claude Haas: Die Zeit der Aufrichtigkeit. Rousseaus „La Nouvelle Héloïse“ und Goethes „Die pilgernde Törin.“ In: Zeitschrift für deutsche Philologie 128, 4 (2009), S. 481-494, hier S. 482. <?page no="238"?> 226 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht Hiermit gibt Melanie zu erkennen, dass der Kommerzienrat nicht der Vater ihres ungeborenen Kindes ist, was bei ihm einen kurzen Moment der Besinnungslosigkeit auslöst. (Vgl. 114) In der Forschung gibt es keine Einigkeit darüber, ob Van der Straaten an Heiligabend, als er von der Schwangerschaft erfährt, bereits vom Ehebruch weiß, 76 oder erst im Abschiedsgespräch davon erfährt. 77 Vorstellbar ist meiner Meinung nach eine Mischung aus beiden Varianten: Van der Straaten ist bereits Heiligabend klar, dass er nicht der Vater sein kann, 78 weil innerhalb der Ehe keine Sexualität mehr vollzogen wird. 79 Demnach wird sein Schwindelgefühl dadurch ausgelöst, dass Melanie es wagt, den Schwindel o en zu benennen und auf der Wahrheit zu bestehen. Wenn der Kommerzienrat im Abschiedsgespräch erneut auf das „[...] Hausgesetz [...]“ (115) anspielt, wird der Bezug zwischen seiner Adresse - dem Stadthaus in der Großen Petristraße mit der ihr eingeschriebenen Verleugnungssemantik - und dem Ehebruchsgeschehen abermals hergestellt. (Vgl. 14) Zugleich ordnet er Melanies Ehebruch als etwas ganz Alltägliches (116) bagatellmäßig (116) dem allgemeinen „[...] Lauf der Welt [...]“ (114) unter, wodurch er erneut Melanies An- 76 Vgl. zu dieser Meinung beispielsweise Werner Kohlschmidt: Fontanes Weihnachtsfeste, S. 117-142, hier S. 127. 77 Vgl. hierzu beispielsweise Gabriele Altho : Weiblichkeit als Kunst, S. 21 und 29; Humbert Settler: ‚L’Adultera‘ - Fontanes Ehebruchsgestaltung - auch im europäischen Vergleich, S. 108; Kurt Wölfel: „Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch“. Zum Figurenentwurf in Fontanes Gesellschaftsromanen (1963). In: Theodor Fontane. Hrsg. von Wolfgang Preisendanz. Darmstadt 1973 (= Wege der Forschung; Band 381), S. 329-353, hier S. 349- 350 und schließlich Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 228. 78 Hierfür spricht auch eine passende erzählerische Leerstelle, denn es wird gerade nicht davon berichtet, dass Van der Straaten seine baldige Vaterschaft ö entlichkeitswirksam in Szene setzt. 79 An dieser Stelle widerspricht sich Dirk Mende selbst: Einerseits leitet er her, dass in der kommerzienrätlichen Ehe keine Sexualität mehr vollzogen wird und Van der Straatens Frivolitäten als Kompensationsversuch der de zitären Erotik zu begreifen sind. Dies verbindet sich des Weiteren mit der als Kind und Erziehungsobjekt des Kommerzienrats gezeichneten Melanie, die hierdurch entsexualisiert wird. (Vgl. Dirk Mende: Frauenleben, S. 193-194.) Andererseits erklärt Mende: „Gewißheit läßt sich in der Vaterschaftsfrage keine erlangen.“ (Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 231.) Auch Mendes Argumentation, Melanie wisse bis zur Fluchtplanung (Vgl. 106) nicht, welchem Mann sich das Kind „unterschieben läßt“, (Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 230.) ist nicht haltbar, denn Melanie signalisiert Rubehn bereits beim Gang zur Jägerstraße nach Silvester, (Vgl. 103) dass er der Vater des Kindes ist: „Nein Ruben, es war der Begleitung schon zuviel. Wir wollen die bösen Zungen nicht vor der Zeit herausfordern. [...].“ (103) <?page no="239"?> 4.4 Abschiedsgespräch mit Van der Straaten 227 spruch auf Individualität untergräbt, den sie zuvor gegenüber Christel bekundet hat: „[...] Ich bin doch anders. [...].“ (110) „Und so höre mich denn. Es soll Niemand davon wissen, und ich will es halten, als ob es mein eigen wäre. Deine ist es ja, und das ist die Hauptsache. Denn so Du’s nicht übel nimmst, ich liebe Dich und will Dich behalten. Bleib. Es soll nichts sein. Soll nicht. Aber bleibe.“ (115) Auch hier spricht der Kommerzienrat ganz im Jargon eines Börsianers, 80 dessen [...] Course [...] jetzt niedrig [stehen] [...],“ (113) der aber gleichsam seine Wertanlage „[...] behalten [will]. [...]“ (115) Mit seinem Verständnis und seiner Absicht zu verzeihen und zu vergessen, „entschärft er das Ereignis, das Melanie als ‚Einsetzen ihrer Existenz‘ umschreibt. So liegt im Versöhnungsversuch auch etwas Verletzendes.“ 81 Dabei erhebt sie ihr Gefühl zur Instanz der Veränderung: 82 „[...] Aber einem Jeden ist das Gesetz in’s Herz geschrieben, und danach fühl’ ich, ich muß fort. [...]“ (116) Zugleich glaubt sie nicht an die Dauerhaftigkeit seines Verzeihens: „Du liebst mich, und deshalb willst Du darüber hinsehen. Aber Du darfst es nicht und Du kannst es auch nicht. Denn Du bist nicht jede Stunde 80 Vgl. Sabina Becker: ‚Wiederhergestellte‘ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 150 und ergänzend Humbert Settler: „L’Adultera“ - Fontanes Ehebruchsroman, auch im europäischen Vergleich. In: Ders.: Fontanes Hintergründigkeiten. Aufsätze und Vorträge. Glücksburg 2006, S. 110-131, hier S. 120. Dem ähnelnd konstatiert Dirk Mende: „Das Scheitern der Ehe ist die notwendige Konsequenz der versachlichten Beziehungen, unter denen sie geschlossen (und betrieben) wurde.“ (Dirk Mende: Frauenleben, S. 187.) 81 Gabriele Altho : Weiblichkeit als Kunst, S. 20-21. 82 Vgl. ebd., S. 18. Altho betont, dass Melanie dadurch im Einklang mit der „bürgerlichen Geschlechtscharakterideologie“ (Ebd., S. 18.) steht. Überdies steht Melanies Erkenntnis, dass die Wahrheit jedem Menschen ins Herz geschrieben ist (Vgl. 116) und damit als Natur des Menschen gesehen werden kann, ganz im Zeichen des Genfer Philosophen: „Es gehört, aus rousseauistischer Tradition, zu den Grunderfahrungen des 19. Jahrhunderts, daß die gesellschaftliche und die humane Existenz des Menschen nicht kongruent oder harmonisch miteinander verbindbar sind.“ (Hermann Lübbe: Fontane und die Gesellschaft, S. 232.) Für Fontane ist der Zustand ideal, in dem „Natur und Kunst, natürliche und bürgerliche Existenz, Herz und Gesellschaft zur Deckung kommen.“ (Rolf Zuberbühler: „Ja, Luise, die Kreatur“. Zur Bedeutung der Neufundländer in Fontanes Romanen. Tübingen 1991, S. 11-12.) <?page no="240"?> 228 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht derselbe, keiner von uns. Und keiner kann vergessen. Erinnerungen aber sind mächtig, und Fleck ist Fleck, und Schuld ist Schuld.“ Sie schwieg einen Augenblick und bog sich rechts nach dem Kamin hin, um ein paar Kohlenstückchen in die jetzt hellbrennende Flamme zu werfen. Aber plötzlich, als ob ihr ein ganz neuer Gedanke gekommen, sagte sie mit der ganzen Lebhaftigkeit ihres früheren Wesens: „Ach, Ezel, ich spreche von Schuld und wieder Schuld, und es muss beinah klingen, als sehnt’ ich mich danach, eine büßende Magdalena zu sein. Ich schäme mich ordentlich der großen Worte. Aber freilich, es giebt keine Lebenslagen, in denen man aus der Selbsttäuschung und dem Komödienspiele herauskäme. Wie steht es denn eigentlich? Ich will fort, nicht aus Schuld, sondern aus Stolz, und ich will fort, um mich vor mir selber wieder herzustellen. Ich kann das kleine Gefühl nicht länger ertragen, das an aller Lüge haftet; ich will wieder klare Verhältnisse sehen und will wieder die Augen aufschlagen können. Und das kann ich nur, wenn ich gehe, wenn ich mich von Dir trenne und mich o en und vor aller Welt zu meinem Thun bekenne.[...]“ (116-117) Sabina Becker liest Melanies „Entschluss, ihre Ehe aufzulösen“ 83 sowie ihre Begründung, sie gehe nicht aus Schuld, 84 sondern aus Stolz, als spektakulär. 85 Nina Hirschbrunn begreift Van der Straatens Sitzposition als unbewusste Annäherung an seine Ehefrau. 86 Norbert Wichard betont, dass das Abschiedsgespräch in ein „feines Sitz-Arrangement“ 87 einbettet ist und die Tatsache, dass dieses in Melanies Zimmer statt ndet, ihre Eigenständigkeit re ektiert, 88 die zugleich mit „ihrer weiteren Lebensplanung als aktive Frau“ 89 korrespondiert und wertet darüber hinaus Melanies Nachlegen der Kohlen als „deutliche Abgrenzung dem Gesprächspartner gegenüber“ 90 und „damit Festigung einer eigenen, selbstbestimmten Identität.“ 91 83 Sabina Becker: ‚Wiederhergestellte‘ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 132. 84 Schuld gilt dabei als Kriterium eines zeitgenössischen Urteils, das „sexuelle Handlungen als Fehlverhalten im religiösen, juristischen und sozialen Sinn“ (Hiltrud Bontrup: „... auch nur ein Bild.“, S. 43.) wertet. 85 Vgl. Sabina Becker: ‚Wiederhergestellte‘ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 132. Mareike Blum sieht Melanies Lebensweg „als Weg zur Selbstbestimmung“. (Mareike Blum: „Das ist eben das, was man sich verheiraten nennt“, S. 102.) 86 Vgl. Nina Hirschbrunn: „Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.“, S. 286. 87 Norbert Wichard: Erzähltes Wohnen, S. 200. 88 Wichard sieht den Kommerzienrat in Melanies Schlafzimmer gleichsam als Gast in Erscheinung treten. (Vgl. ebd., S. 200.) 89 Ebd., S. 200. 90 Ebd., S. 202. 91 Ebd., S. 202. <?page no="241"?> 4.4 Abschiedsgespräch mit Van der Straaten 229 Folgende Lesart scheint mir naheliegend: Melanie schaut in die jetzt hellbrennende Flamme[,] (117) des von ihr angefachten Feuers, als sie plötzlich, als ob ihr ein ganz neuer Gedanke gekommen [...] mit der ganzen Lebhaftigkeit ihres früheren Wesens (117) zu ihrer lebensverändernden Entscheidung gelangt. Da Melanie eine A nität zum Element Feuer hat, 92 leitet sie ebenjene Entscheidung im Einklang mit ihrer Natur und in Abgrenzung zum gesellschaftlich geforderten „[...] Schuldbewußtsein [...]“ (118) her. Des Weiteren ist innerhalb des Romangefüges das Element Feuer bereits mit Gefahr assoziiert worden, (Vgl. 57, 90, 97, 98) so wie Melanie mit ihrem Fluchtplan sprichwörtlich mit dem Feuer spielt, denn die Rechtslage in der sie sich als Ehebrecherin be ndet, ist für sie buchstäblich brenzlig: Der Kommerzienrat hätte die Scheidung verweigern, Melanies Rückkehr verlangen und ihr das noch ungeborene Kind als dessen gesetzlicher Vater entziehen können. 93 Zudem verknüpft sich die dem Feuer eingeschriebene Liebessemantik farblich mit Melanies Beziehung zu Rubehn, die im Zeichen der feuerassoziierten Farben Mohn-, Granat- und Orangerot steht. 94 Mithin kann ihr erneutes Anfachen des Feuers im Beisein Van der Straatens als Anfachen ihrer Liebe zu Rubehn und damit Selbstversicherung gelesen werden, wodurch ihre Entscheidung zu gehen vorweggenommen wird. Dabei wird durch die Positionierung des Kamins rechts (117) von Melanie die Richtigkeit ihrer Erkenntnis und Liebe zu Rubehn bestätigt. Settler liest die Wortwahl „[...] Selbsttäuschung [...]“ (117) und „[...] Komödienspiele [...]“ (117) als Beschreibung ihrer bisherigen Ehe mit Van der Straaten, 95 92 Vgl. dazu Seite 110 dieser Arbeit. 93 Vgl. zur Rechtslage im Kaiserreich ausführlich Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 231-235. Juristisch bleibt Van der Straaten der Vater des Kindes. (Vgl. ebd., S. 231.) „Die Tat einer Ehebrecherin wurde verstanden als Verstoß gegen Wertnormen, als Rechtsverstoß und nicht zuletzt als Verstoß gegen das christliche Gebot; der Ehebruch des Mannes hingegen galt weitläu g als Kavaliersdelikt.“ (Karen Bauer: Fontanes Frauen guren, S. 95.) Van der Straatens Verzicht auf die Forderung Rubehns zum Duell weicht überdies von der gängigen gesellschaftlichen Praxis ab. (Vgl. Sabina Becker: ‚Wiederhergestellte‘ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 152.) Die Ehre ist neben der Machtstellung besonders emp ndlich in Fragen des Besitzes im Zeitalter des Besitzbürgertums. (Vgl. hierzu Irmgard Roebling: „E komm“ - Der Weg zu Fontanes berühmtester Kindsbraut, S. 295.) So duelliert sich beispielsweise Céciles Gatte, Oberst v. St. Arnaud, ihretwegen zweimal. (Vgl. Cc S. 171 und 212.) Dabei besteht nur ein scheinbarer „Widerspruch zwischen der ehrengerichtlichen Forderung zur Austragung von Duellen und ihrem strafrechtlichen Verbot“. (Peter Dieners: Das Duell und die Sonderrolle des Militärs, S. 262. Vgl. hierzu ebenso EB, Anmerkungen, S. 501.) 94 Vgl. dazu Seite 212 sowie Fußnote 52 auf Seite 128 dieser Arbeit. 95 Vgl. Humbert Settler: „L’Adultera“ - Fontanes Ehebruchsroman, auch im europäischen Vergleich, S. 124. <?page no="242"?> 230 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht während Garland dies auf ihre Schuldgefühle bezieht, die „purely formell“ 96 seien, wie Melanie sogleich bestätigt, wenn sie davon spricht, dass sie „[...] nur ein ganz äußerliches Schuldbewußtsein [...]“ (118) habe, weil die Gesellschaft dies fordert und sich deshalb „[...] Kopf [...]“ (118) und „[...] Herz [...]“ (118) im Widerstreit be nden. 97 Melanie will keine der vom Kommerzienrat respektive der Gesellschaft geforderten Handlungsoptionen - entsagen beziehungsweise untreu in ihrer Ehe weiterleben, oder die büßende Magdalena spielen - für sich in Anspruch nehmen. 98 Sie besteht auf der „Singularität und Originalität ihres Tuns“ 99 und wehrt sich gegen alle Vorbilder. 100 Während beispielsweise Cécile nicht in der Lage ist, die „erlittenen gesellschaftlichen Widersprüche für sich lösen zu können“ 101 , imaginiert Melanie bereits eine Versöhnung mit der Gesellschaft: „[...] Das wird ein groß Gerede geben, und die Tugendhaften und Selbstgerechten werden es mir nicht verzeihn. Aber die Welt besteht nicht aus lauter Tugendhaften und Selbstgerechten, sie besteht auch aus Menschen, die Menschliches menschlich ansehen. Und auf die ho ’ ich, die brauch ich. [...]“ (117) Ähnlich gibt Mareike Blum zu Bedenken, dass Melanies Aussage von „[...] aller Lüge[,] [...]“ (117) sich möglicherweise nicht auf das Liebesverhältnis mit Rubehn, sondern vielmehr auf die Konventionsehe mit Van der Straaten beziehen könnte. (Vgl. Mareike Blum: „Das ist eben das, was man sich verheiraten nennt“, S. 100.) Im Roman „E Briest“ kann das „Komödienspiel“ (EB, S. 199.) als Leitmotiv gelten: „Komödie dient hier als kritischer Begri , der die mangelnde Übereinstimmung von innerem Be nden und normgerechtem sozialem Verhalten diagnostiziert und als Täuschung beurteilt und so mit der klassischen Dichotomie von innerem/ eigentlichem Sein und äußerem/ täuschenden Schein operiert.“ (Alexandra Tischel: „Ebba, was soll diese Komödie“, S. 186.) 96 Henry Garland: The Berlin Novels of Theodor Fontane, S. 60. Ähnlich argumentiert bereits Kurt Wölfel: „Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch“, S. 352. 97 „Für Melanie fällt die Schuld mit dem „Einsetzen ihrer Existenz“ [LA, S. 116.] zusammen. Ihren Ehebruch begründet sie mit Liebe.“ (Gabriele Altho : Weiblichkeit als Kunst, S. 20. Zur philosophischen Frage, wie ein aus Liebe entstandener Ehebruch zu beurteilen sei. Vgl. ebd., S. 20 und S. 61-94.) 98 Anders als E Briest gelingt Melanie eine „Neukodierung ihrer Identität“, (Claudia Liebrand: Das Ich und die andern, S. 170.) weil sie sich zu ihrem Ehebruch, bekennt. 99 Irmela von der Lühe: „Wer liebt, hat recht“, S. 125. 100 Vgl. ebd., S. 125 und hiermit vergleichbar Kurt Wölfel: „Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch“, S. 352. 101 Dirk Mende: Frauenleben, S. 200. <?page no="243"?> 4.4 Abschiedsgespräch mit Van der Straaten 231 Außerdem wertet sie das gesellschaftliche Urteil nicht als Maß aller Dinge, 102 denn sie betont: „[...] Und vor allem brauch ich mich selbst. Ich will wieder in Frieden mit mir selber leben und wenn nicht in Frieden, so doch wenigstens ohne Zwiespalt und zweierlei Gesicht.“ (117) Melanies Wortwahl gibt einen Hinweis darauf, warum sie ausgerechnet in den Januarwochen in eine tiefgreifende Krise gerät, denn dieser Monat ist nach dem römischen Gott Janus benannt, der mit seinem Doppelkopf, als Gott des Zwiespalts und der Schwelle gilt, 103 so wie Melanie an ihrer ungeklärten Situation leidet. Darüber hinaus ist Janus Gott des Anfangs und des Endes 104 und versinnbildlicht, dass Melanie ihr altes Leben hinter sich lässt und ein neues an Rubehns Seite beginnen wird. Zugleich gilt Janus als Symbol der Ambivalenz, 105 so wie Melanie einerseits von „[...] Schuld [...]“ (117) spricht und andererseits erklärt, sie habe „[...] nur ein ganz äußerliches Schuldbewußtsein [...].“ (118) Ambivalent erscheint zudem, dass sie sich selbst als Maß aller Dinge begreift und trotzdem auf diejenigen in der Gesellschaft ho t, „[...] die Menschliches menschlich ansehen. [...].“ (117) 106 Die Zwiespältigkeit ihrer Erkenntnisse und Ho nungen deutet so die sich anbahnenden Kon iktherde voraus. 102 Im Kontrast dazu steht Josephine v. Carayon aus dem Roman „Schach von Wuthenow“, die erklärt: „„[...] Ich gehöre der Gesellschaft an, deren Bedingnungen ich erfülle, deren Gesetzen ich mich unterwerfe [...].““ (SW, S. 97.) Im Roman „E Briest“ betonen die Eltern Briest gegenüber E zwar ihre Gesellschaftsunabhängigkeit, handeln jedoch diametral: „„[...] weil wir Farbe bekennen, und vor aller Welt [...] unsere Verurtheilung Deines Thuns [...] aussprechen wollen ...““ (EB, S. 301-302.) 103 Vgl. hierzu Berenike Schröder: Kopf. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. 2., erweiterte Au age. Stuttgart 2012, S. 222-223, hier S. 223. Abermals sei an Michail Bachtins Ausführungen zur Schwelle erinnert: „Allein das Wort „Schwelle“ hat ja schon im Redeleben (neben seiner realen Bedeutung) eine metaphorische Bedeutung erlangt und sich mit dem Moment des Wendepunkts im Leben, der Krise, der das Leben verändernden Entscheidung verknüpft [...].“ (Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman, S. 198.) 104 Vgl. Klaus Schmeh: Das trojanische Pferd. Klassische Mythen erklärt. Planegg 2007, S. 144. 105 Vgl. Berenike Schröder: Kopf, S. 223. 106 Hier schließt sich der Kreis zur Verleugnungssymbolik des Petrus, denn wie Hiltrud Gnüg im Rekurs auf Baudelaires Gedicht „Le Reniement de saint Pierre“ (1857) zeigt, ist „[d]er Sinn, den das Evangelium der dreimaligen Leugnung St. Peters gibt, [die] ‚menschliche Schwäche‘ [aufzuzeigen].“ (Hiltrud Gnüg: Kult der Kälte, S. 70.) <?page no="244"?> 232 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht 4.5 Melanie verlässt die Große Petristraße Van der Straaten appelliert zuletzt an Melanies Muttergefühle, wenn er spekuliert, dass sie die Kinder zum Abschied sehen möchte und dann nicht gehen können wird. 107 Doch Melanie bezwingt sich und geht auf Thür und Flur zu . (119) Im Treppenhaus steht Christel, ein Licht in der Hand, um ihrer Herrin das Täschchen abzunehmen und sie die beiden Treppen hinabzubegleiten. Aber Melanie wies es zurück und sagte: „laß Christel, ich muß nun meinen Weg allein nden.“ (119) Der Flur und das Treppenhaus bilden eine „Pu erzone“. 108 Dabei hat das Treppenhaus eine ambivalente Funktion: Es ist nicht in der Wohnung, aber auch nicht draußen; nicht richtig im, aber auch nicht richtig außer Haus. 109 Diese Form des Transitraums wird auch erzähltechnisch über das in Fontanes Romanen beliebte Motiv des ‚Tappens‘ vermittelt, welches, im Augenblick der höchsten Verwirrung und Unsicherheit, den Übertritt in eine neue Zukunft anzeigt: 110 Und auf der 107 In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass Henrik Ibsens (1828-1906) Theaterstück „Nora oder ein Puppenheim“ für die deutsche Erstau ührung 1880 in Hamburg eigens mit einem neuen Schluss versehen worden ist, um den zeitgenössischen Vorstellungen gerecht zu werden. Im Unterschied zur ursprünglichen Variante verlässt die Protagonistin ihre Familie nicht, sondern bleibt der Kinder wegen. (Vgl. hierzu exemplarisch Stefanie von Schnurbein: Makronen und Fleischbrühe: Ökonomien des Hungers bei Henrik Ibsen und August Strindberg. In: Das große nordische Orakel. Henrik Ibsen als Leitbild der Moderne. Hrsg. von Heinrich von Anz. Berlin 2009 (= Skandinavistik. Sprache - Literatur - Kultur; Band 4), S. 181-201, hier S. 181.) Im Roman bleibt Melanie, neben dem Mütterchen (10) des Marktes, die einzige Mutter. Auch ihre eigene Mutter bleibt im Unterschied zum Vater unerwähnt. (Vgl. zur häu gen Mutterlosigkeit der Protagonistinnen in Fontanes Romanen weiterführend Antje Janssen- Zimmermann: Das De zit als Chance? Fontanes ‚fehlende‘ Mütter. In: ‚Weiber weiblich, Männer männlich‘? Zum Geschlechterdiskurs in Theodor Fontanes Romanen. Hrsg. von Sabina Becker und Sascha Kiefer. Tübingen 2005, S. 79-94.) 108 Christoph Heyl: Privatsphäre, Ö entlichkeit und urbane Modernität, S. 275. 109 Vgl. Peter von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter, S. 297. 110 Dieses Motiv ndet sich auch in den Romanen „Irrungen, Wirrungen“ und „E Briest“: In „Irrungen, Wirrungen“ sucht Lene ‚tappend‘ ihren neuen Lebensweg, was in einer Ohnmacht gipfelt und in der Forschung teils als „Heilschlaf “ (Christian Grawe: Führer durch Fontanes Romane, S. 225.) interpretiert wird. Erst durch diesen kann Lene in eine neue veränderte Zukunft blicken, die sich wiederum in einem Ortswechsel manifestiert. (Vgl. IW, S. 128.) In „E Briest“ gibt es ebenso einen tappenden Übergang, als E von der Entdeckung ihres Ehebruchs erfährt. Nach ihrer sich anschließenden Ohnmacht hat sich ihre Zukunft schlagartig verändert. (Vgl. EB, S. 300.) <?page no="245"?> 4.5 Melanie verlässt die Große Petristraße 233 zweiten Treppe, die dunkel war, begann sie wirklich zu suchen und zu tappen. „Es beginnt früh,“ sagte sie. (119) Die erste Treppe führt Melanie vom Schlafzimmer des zweiten Stockes (15) in den ersten, in dem sich das Wohn- und Arbeitszimmer (8) Van der Straatens sowie Melanies Zimmer und der als Entree der Gemäldegalerie dienende Speisesaal be nden. Das Treppengeländer des ersten Stocks ist erzählerisch mit Melanies Ehebruch verknüpft, denn hier fällt sie in Ohnmacht, ehe sie Van der Straaten von ihrer Schwangerschaft unterrichtet. Überdies hängt im ersten Stock in der Galerie die Tintoretto-Kopie der ‚Adultera‘ und andererseits im Speisesaal die Copie der Veronesischen „Hochzeit zu Cana“[.] (26) Während Melanie nunmehr der ‚Adultera‘ gleich eine Ehebrecherin verkörpert und Rubehn gleichsam als der richtige Bräutigam gezeichnet wird, muss Melanie in der Folge den Weg von der Ehebrecherin zur Vermählung und ihrem Glück mit Rubehn nden. Die Ungewissheit und Gefahr, die diesem Weg inhärent ist, wird durch die zweit[e] Treppe (119) symbolisiert, denn diese ist dunkel (119) und führt aus dem kommerzienrätlichen Haus heraus auf das Trottoir. Mit ihrem Verlassen des Hauses setzt sich Melanie gleichzeitig der Sanktion der Gesellschaft aus und steigt zudem in der Folge gesellschaftlich ab, was sich im Herabsteigen der Treppe widerspiegelt. 111 Zugleich erinnert das [S]uchen und [T]appen (119) an den gemeinsamen Abstieg im Palmenhaus mit Rubehn, der bereits das Ringen um einen neuen Lebensweg - oder wie Van der Straaten es formuliert, eine neue Aera (95) - vorweggenommen hat. Das Haus war schon auf, und draußen blies ein kalter Wind von der Brüderstraße her, über den Platz weg, und der Schnee federte leicht in der Luft. Sie mußte dabei des Tages denken, nun beinah jährig, wo der Rollwagen vor ihrem Hause hielt, und wo die Flocken auch wirbelten wie heut, und die kindische Sehnsucht über sie kam, zu steigen und zu fallen wie sie. (119) Als Melanie das Haus verlässt, erinnert sie sich an ihre Sehnsuchtsanwandlung[,] (10) die sich inzwischen zur Sehnsucht nach einem Liebesglück mit Rubehn gewandelt hat. (Vgl. 102) Zudem hat sich ihre Sehnsucht nach dem Wechsel von Steigen und Fallen (Vgl. 10) teilweise erfüllt, denn sie ist mit Rubehn in die Kuppel des Palmenhauses hinaufgestiegen, (Vgl. 93) dort entsprechend der gesellschaftlichen Normenvorstellungen in Sünde gefallen und die Treppe wieder 111 Vgl. hierzu auch Jhy-Wey Shieh: Liebe, Ehe, Hausstand, S. 221. <?page no="246"?> 234 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht hinabgestiegen. (Vgl. 94) An Heiligabend fällt sie in Ohnmacht (Vgl. 100-101) und steigt an Sylvester (103) zur Schönste[n] (103) auf, während sie nun erneut die Treppen des Stadthauses hinabgestiegen ist. Der Schnee, der bereits am Heiligabend Glatteis verursacht hat, lässt das [D]raußen (119) als einen gefährlichen und bedrohlichen Ort erscheinen. 112 Bestätigt wird diese Lesart durch einen kalte[n] Wind von der Brüderstraße her, (119) denn bei der Brüderstraße handelt es sich um eine vornehme Straße Cöllns, 113 so dass hiermit die Melanie bald von der Gesellschaft entgegenschlagenden „[...] kältere[n] Luftströme [...]“ (130) antizipiert werden. (Vgl. 138) Und nun hielt sie sich auf die Brücke zu, die nach dem Spittelmarkte führt, und sah nichts als den Laternenanstecker ihres Reviers, der mit seiner langen schmalen Leiter immer vor ihr her lief und wenn er oben stand, halb neugierig und halb p g auf sie niedersah und nicht recht wußte, was er aus ihr machen sollte. (119) Melanie geht über die Gertraudenbrücke auf den Spittelmarkt zu, der seinen Namen vom Gertraudenhospital und der dazugehörigen Gertraudenkirche erhalten hat. 114 Weil es sich bei der Kirche um eine Filiale der Petrigemeinde handelt, 115 werden Melanies Krankheit und ihr Ehebruch, der über die Verleugnungssemantik der Petrikirche eingeschrieben ist, miteinander in Verbindung gebracht. Des Weiteren sind nach der heiliggesprochenen Gertraud nicht nur Spitäler benannt, sondern Gertraud ist zugleich Schutzheilige der Reisenden und Pilger, 116 wodurch 112 Vgl. Simon Bunke: Figuren des Diskurses. Studien zum diskursiven Ort des unteren Figurenpersonals bei Fontane und Flaubert. Frankfurt am Main 2005 (= Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland; Band 37), S. 96. 113 Vgl. Hans Stimmann: Schadow wohnte nicht in Ost-Berlin, S. 23. 114 Vgl. Lexikon der Berliner Straßennamen. Hrsg. von Sylvia Lais und Hans-Jürgen Mende, S. 421. Die Gertraudenkirche soll 1405 zeitgleich mit dem Spital, daher auch im Volksmund Spittelkirche, ausgeführt worden sein. Sie ist den Heiligen Bartholomäus, Gertraud und Matthäus geweiht. (Vgl. Geschichtlich-statistisch-topographisches Taschenbuch von Berlin und seinen nächsten Umgebungen. Hrsg. von Ludwig Helling, S. 134.) Im Jahr 1881 musste die Kirche der Straßenerweiterung weichen. (Vgl. Stephanie Marzahn und Joachim Marzahn: Der Stralauer Fischzug. Sagen, Geschichten und Bräuche aus dem alten Berlin. Berlin 1987, S. 118.) 115 Vgl. Geschichtlich-statistisch-topographisches Taschenbuch von Berlin und seinen nächsten Umgebungen. Hrsg. von Ludwig Helling, S. 134. 116 Die heiliggesprochene Gertraud - eigentlich Gertrud von Nivelles, auch Gertrud von Karlburg genannt - führt trotz ihrer vornehmen Herkunft ein Leben in Armut und <?page no="247"?> 4.6 Droschkenfahrt zum Anhalter Bahnhof 235 Melanies Reise im Zeichen einer Krankheit steht. Da allerdings der Spittelmarkt nicht das Ende ihres Weges markiert, sondern vielmehr den Ausgangspunkt der weiteren Reise bildet, wird zugleich ein ‚Hinter sich lassen‘ der Krankheit angedeutet. Dies wird unterstrichen, denn nicht nur die Gertraudenkirche ist mit Bartholomäus - einem Heiler von Nervenkrankheiten - assoziiert, sondern auch Melanies Reisebegleitung, der kurerfahrene Rubehn. (Vgl. 53) Christiane Hehle erkennt im Laternenanstecker (119) eine Projektions äche für Melanies Verunsicherung angesichts der für sie aufgrund ihrer Biographie ungewohnten Situation, sich nachts allein eine Droschke suchen zu müssen. 117 Zwar stimme ich Hehle in der Sache zu, 118 sehe jedoch im Laternenanstecker vielmehr einen ersten gesellschaftlichen Kommentar: Melanie steht unter Beobachtung, wenn der Laternenanstecker halb neugierig, halb p g auf sie niedersah und nicht wußte, was er aus ihr machen sollte. (119) Zusätzlich wird über die Wortwahl oben (119) sowie das Niedersehen die gefühlte moralische Überlegenheit der Gesellschaft gegenüber der in Sünde gefallenen Melanie räumlich impliziert. 4.6 Droschkenfahrt zum Anhalter Bahnhof Jenseits der Brücke kam eine Droschke langsam auf sie zu. Der Kutscher schlief, und das Pferd eigentlich auch, und da nichts besseres in Sicht war, so zupfte sie den immer noch Verschlafenen an seinem Mantel und stieg endlich ein und nannt’ ihm den Bahnhof. [...] Und nun schlug er auf das arme Thier los und holprig ging es die lange Straße hinunter. (119) hilft Pilgern sowie Kranken, weshalb sie als Schutzherrin für Reisende verehrt und Spitäler nach ihr benannt sind. (Vgl. Joachim Schäfer: Gertrud von Nivelles. In: Ders.: Ökumenisches Heiligenlexikon (DVD-Version): Leben und Wirken von mehr als 3000 Personen der Kirchengeschichte: der katholischen Kirche, der orthodoxen Kirchen, aus den protestantischen und anglikanischen Kirchen. Stuttgart 2018.) 117 Vgl. Christine Hehle: Unterweltsfahrten, S. 66. 118 Die unbegleitete Fahrt einer bürgerlichen Frau durch das nächtliche Berlin ist zur Romanzeit höchst ungewöhnlich. (Vgl. dazu exemplarisch Joseph Ben Prestel: Gefühle in der Friedrichstraße: Eine emotionshistorische Perspektive auf die Produktion eines Stadtraums (ca. 1870-1910). In: sub\urban. Zeitschrift für kritische Stadtforschung 3, 2 (2015), S. 23-42, hier S. 29.) Es sei jedoch an die konträr dazu stehende Selbstständigkeit Melanies erinnert, die jene wiederholt auszeichnet: Beispielsweise unternimmt sie einsame Spaziergänge und plant ursprünglich ihren Ballblumenkauf zwischen den Jahren ganz ohne Begleitung. (Vgl. 101, 105) <?page no="248"?> 236 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht Diese Szene steht dabei beispielhaft für Fontanes Vorgehen, einschneidende Veränderungen im Leben seiner Protagonisten mit einem sich ‚in Bewegung setzen‘ zu verknüpfen. 119 Den Weg Melanies, die lange Straße hinunter[,] (119) versteht Mende bildlich als einen „lange[n] Weg in eine schwierige Zukunft, als ein „es geht abwärts“.“ 120 Diese Einschätzung korrespondiert mit der holprig[en] (119) Strecke sowie der Nachtdroschke, die in ihrer elenden Armeleute-Luft (120) einen Kontrapunkt zu Van der Straatens eleganten Privatkutschen (Vgl. 39, 60) mit den wohlgep egten Trakehnern (60) setzt. Während Melanie und Rubehn noch kurz vor Silvester vom Spittelmarkt aus durch ein Gewirr kleiner Gassen (102) gehen, wodurch raumsemantisch die geheime A äre und die zu diesem Zeitpunkt noch ungeklärte Zukunft des Paares re ektiert wird, nimmt Melanie nun von demselben Platz ausgehend den Weg auf der geraden Leipziger Straße hin, die im geradlinigsten und regelmäßigsten Stadtteil Berlins, der Friedrichstadt, liegt. 121 Die städtische Topographie spiegelt mithin Melanies Streben nach klaren Verhältnissen wider: „[...] Es soll Ordnung in mein Leben kommen, Ordnung und Einheit. [...]“ (118) Sie warf sich zurück und stemmte die Füße gegen den Rücksitz, aber die Kissen waren feucht und kalt, und das eben erlöschende Lämpchen füllte die Droschke mit einem trüben Qualm. Ihre Schläfe fühlten mehr und mehr einen Druck und ihr wurde weh und widrig in der elenden Armeleute-Luft. Endlich ließ sie die Fenster nieder und freute sich des frischen Windes, der durchzog. Und freute sich auch des erwachenden Lebens in der Stadt, und jeden Bäckerjungen, der trällernd und pfeifend seinen Korb mit Backwaaren hoch auf dem Kopf an ihr vorüberzog, hätte sie grüßen mögen. Es war doch ein heiterer Ton, an dem sich ihre Niedergedrücktheit aufrichten konnte. (120) Noch einmal wird der Unterschied zur kommerzienrätlichen Prachtkutsche pro liert, denn nach dem Abschieds-Diner (23) hat auch Jacobine ihre kleinen 119 Im Roman „Schach von Wuthenow“ ieht der Protagonist vor seiner ihm ausweglos erscheinenden Situation, (SW, S. 106-120.) während im Roman „Stine“ (1890) Waldemars Spaziergang den Entschluss zum Selbstmord auslöst. (St, S. 97-103.) Fontanes Protagonisten geraten dabei jeweils in Räume, „die ihnen nicht mehr beherrschbar erscheinen, in denen ihre Zeitwahrnehmung versagt und die äußere Bewegung ebenso wie die Vorgänge in ihrem Inneren nicht mehr gänzlich der Kontrolle durch ihr Bewußtsein unterliegen.“ (Christine Hehle: Unterweltsfahrten, S. 67.) 120 Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 165. 121 Vgl. Karl Baedeker: Berlin und Umgebungen (1887), S. 104. <?page no="249"?> 4.6 Droschkenfahrt zum Anhalter Bahnhof 237 Füße gegen das Polsterkissen gestemmt und sich bequem in den Fond des Wagens zurückgelehnt[,] (40) wobei in Melanies „[...] Nachtdroschke [...]“ (119) von Bequemlichkeit jede Spur fehlt, denn die Kissen der Droschke sind feucht und kalt[.] (120) Zusätzlich verursacht der trüb[e] Qualm (120) bei Melanie Kopfschmerzen, während in der commercienräthlichen Equipage (39) Champagner und Kopfweh (40) miteinander korrelieren. Ein weiterer Unterschied zwischen Melanie und ihrer Schwester Jacobine wird dadurch evident, dass sich Jacobine aufrichtet, um ihre Loyalität gegenüber der preußischen Krone zum Ausdruck zu bringen, (Vgl. 40) während sich Melanie hingegen am erwachenden Lebe[n] (120) der arbeitenden Bevölkerung erfreut. Dies verscha t ihr einen heitere[n] Ton, an dem sich ihre Niedergedrücktheit aufrichten konnte . (120) Hiermit wird Melanies spätere eigene Berufstätigkeit vorweggenommen, denn jeden neuen Morgen (158) wird sie dann zur Arbeit aufbrechen und so ihre Melancholie überwinden. Sie waren jetzt bis an die letzte Querstraße gekommen[.] (120) Während in der Forschung keine Einigkeit darüber herrscht, von welchem Bahnhof aus - ob vom Potsdamer oder Anhalter 122 - die Flucht des Liebespaares ihren Anfang nimmt, lässt sich jene Frage anhand zeitgenössischer Kursbücher eindeutig klären: Im Jahr 1876 ist man von Berlin aus mit der Berlin-Anhaltischen Eisenbahn in Richtung Süden gefahren: Genauer, über Leipzig und München nach Innsbruck und weiter nach Verona. 123 Dies korrespondiert gleichfalls mit der erzählerischen 122 Beispielsweise geht Dirk Mende davon aus, dass der verabredete Bahnhof der Potsdamer Bahnhof sei. (Vgl. Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 165) In den Anmerkungen zur Großen Brandenburger Ausgabe heißt es, ob Anhalter oder Potsdamer Bahnhof, ließe sich nicht eindeutig bestimmen. (Vgl. LA, Anmerkungen, S. 251.) 123 Da Melanie und Rubehn am schäumenden Inn (123) entlangfahren, sind sie auf die Strecke über München - Rosenheim - Kufstein - Innsbruck - Verona festgelegt. (Vgl. das Kursbuch der Deutschen Reichs-Postverwaltung. Bearbeitet im Kursbureau des kaiserlichen General-Postamts. Vier Theile. II. Theil (Südosten) enthaltend die Eisenbahn-, Post- und Dampfschi s-Verbindungen im südöstlichen Deutschland, in Oesterreich-Ungarn, Rumänien, der Türkei, Aegypten und Kleinasien. Berlin 1875 (Ausgegeben Mitte Mai 1875), hier Fahrplan 85: (München) Rosenheim - Verona. Vgl. ebenso Kursbuch der Deutschen Reichs-Postverwaltung. Bearbeitet im Kursbureau des kaiserlichen General- Postamts. Enthaltend: die Eisenbahn-, Post- und Dampfschi -Verbindungen in Deutschland und Oesterreich-Ungarn, sowie die bedeutenderen Eisenbahn- und Dampfschi - Verbindungen der übrigen Theile Europa’s. Mit 1 Eisenbahn-Uebersichtskarte von Deutschland und den angrenzenden Ländern, sowie 19 in den Text eingedruckten Kartenskizzen fremder Länder u.s.w. Berlin 1877 (Ausgegeben Mitte Mai 1877 sowie Ausgegeben Mitte October 1877), Fahrplan 258: Rosenheim - Kufstein - Verona. Vgl. dazu ergänzend W. Nietmann: Atlas der Eisenbahnen des Deutschen Reiches, Oesterreich- Ungarns, Belgiens, der Niederlande, Italiens und der Schweiz. Ein Nachschlagebuch für <?page no="250"?> 238 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht Passage, die beschreibt, dass sie jetzt bis an die letzte Querstraße gekommen (120) sind und sich im Anschluss die Droschkenfahrt noch weiter fortsetzt, also entsprechend die Droschke von der Leipziger Straße in die Wilhelmstraße abbiegt. den Eisenbahnbeamten, Geschäftsmann und Reisenden. Dargestellt in 46 mehrfarbigen, nach politischen Gebieten und Provinzen getrennten Spezialkarten, nebst einem vollständigen, alphabetischen Stations-Verzeichnis. Leipzig 1886, Karte 17 und 25 sowie Thomas Cook & Son (Publisher): Cook’s Continental Time Tables and Tourist Hand Book. Special Reference to Cook’s Direct & Circular Tickets and with Sectional Maps. London 1873 (Nachdruck von 2013), S. 19 (München - Innsbruck - Verona).) Dies legt die Reisenden auf eine Reiseroute via der Anhaltischen Eisenbahn mit dem Zuglauf Berlin (Anhalter Bahnhof) - Leipzig - Hof/ Eger - München fest, die zur Romanzeit stets vom Anhalter Bahnhof startet. (Vgl. das Kursbuch der Deutschen Reichs-Postverwaltung (1875). II. Theil (Südosten), Fahrplan 85: (München) Rosenheim - Verona inklusive des darin als Zubringer ausgewiesenen Fahrplans 415: Berlin - Halle, Leipzig. Vgl. ebenso die in letzterem ausgewiesenen Anschlüsse nach München im Kursbuch der Deutschen Reichs-Postverwaltung. Bearbeitet im Kursbureau des kaiserlichen General-Postamts. Vier Theile. IV. Theil (Südwesten) enthaltend die Eisenbahn-, Post- und Dampfschi s-Verbindungen im südwestlichen Deutschland, Tirol, der Schweiz, Italien, Frankreich, Spanien und Portugal. Berlin 1875 (Ausgegeben Mitte Mai 1875), hier die Fahrpläne 18: Leipzig (Zeitz, Gera) - Hof (München) und 19: (Leipzig) Reichenbach - Eger (München). Vgl. ebenso das Kursbuch der Deutschen Reichs-Postverwaltung (1877), Fahrplan 258: Rosenheim - Kufstein - Verona inklusive der darin als Zubringer ausgewiesenen Fahrpläne 88: Berlin - Halle, Leipzig, 92: Leipzig - Reichenbach - Eger (München) sowie 255a: Rosenheim - Kufstein. Vgl. zudem ebd. Fahrplan 630: Berlin - München, ebenfalls mit Verweis auf den Fahrplan 88. Vgl. zuletzt ebd. Fahrplan 429: Reisewege nach Italien mit den Relationen Berlin - Neapel und Berlin - Mailand, beide via München und Verona und mit Verweis auf die Zubringer mit den Fahrplänen 258 und 630.) Die Sichtung vorgenannter Quellen erweist, dass man zur Romanzeit - und bekanntermaßen darüber hinaus ununterbrochen bis 1945 - vom Anhalter Bahnhof zu Zielen in südlicher Richtung wie beispielsweise Leipzig, Hof, Nürnberg, München, Augsburg, Lindau, Reichenbach, Eger, Karlsbad, Wien, Florenz, Rom etc. aufgebrochen ist. Im Gegensatz dazu ist der Potsdamer Bahnhof Ausgangspunkt für Reisen zu westlich gelegenen Zielen mit Routen über die Potsdam-Magdeburger Bahn, wie beispielsweise nach Rheine, Minden, Düsseldorf, Köln, Bremen, Amsterdam, Brüssel, London. (Vgl. ergänzend zu obigen Quellen das Kursbuch der Deutschen Reichs-Postverwaltung (1875). II. Theil (Südosten), Fahrplan 417: Berlin - Magdeburg - Braunschweig - Hannover sowie das Kursbuch der Deutschen Reichs-Postverwaltung (1877), Fahrplan 127: Berlin - Magdeburg - Braunschweig - Hannover und 145: Berlin - Kreisenen - Aachen - Verviers und ebenso die darin genannten Fahrpläne für Zubringer und Anschlüsse.) Ebenfalls sei zur Frage des Abfahrtsortes die Reiseroute von Emilie und Theodor Fontane verglichen, die mit der Abreise vom „Anhaltiner-Bahnhof “ (Rt, S. 299.) beginnt und über Leipzig nach München und von dort über Innsbruck nach Verona führt. (Vgl. Rt, S. 299.) Ähnlich beginnt die Hochzeitsreise von Woldemar und Armgard im Roman <?page no="251"?> 4.6 Droschkenfahrt zum Anhalter Bahnhof 239 Christine Hehle erkennt in der Droschkenfahrt eine Spiegelung der Zukunft Melanies, „[...] ihr Leben [...] mit der Depression, die das Fortschreiten der Schwangerschaft begleitet und mit der sie auf die Erfahrung der gesellschaftlichen Ächtung in Berlin reagiert und das aktive Herbeiführen einer positiven Wendung, als sie auf dem Tiefpunkt angelangt ist [...].“ 124 Einerseits stimme ich Hehles Erkenntnis bezüglich der späteren positiven Wendung zu, die in der Kutschfahrt prä guriert wird, andererseits ereilt Melanie die Depression respektive Melancholie (126) noch vor ihrer Trennung von Van der Straaten (Vgl. 118) und entsprechend vor jeglicher gesellschaftlicher Ächtung. (Vgl. 104-105) Ferner ist Hehles Einschätzung zu widersprechen, es handle sich bei der letzten Wegstrecke der Droschke um ein „Niemandsland zwischen den beiden Teilen ihres Lebens“. 125 Vielmehr re ektiert ebenjene Straße, in die die Droschke von der Leipziger Straße einbiegt, sowohl Melanies Vergangenheit als auch ihre Zukunft: Die Wilhelmstraße ist eine soziologisch geteilte Straße, denn in ihrer „Der Stechlin“: Die Protagonisten fahren vom „Anhalter Bahnhof “ (DS, S. 350.) nach Dresden, „dieser herkömmlich ersten Etappe für jede Hochzeitsreise nach dem Süden.“ (DS, S. 349.) Dass in der gegenwärtigen Forschung Unklarheiten über den Abfahrtsbahnhof bestehen, mag folgenden zwei Umständen geschuldet sein: Erstens erfolgt zur Zeit der Deutschen Teilung der Transitverkehr aus West-Berlin nach Westen - Transitstrecke via Helmstedt/ Marienborn - und Süden - Transitstrecken über Ludwigsstadt/ Probstzella und Hof/ Gutenfürst - über den selben Grenzübergang Berlin-Wannsee/ Griebnitzsee, so dass damit sämtliche Züge, die vor dem zweiten Weltkrieg die Stadt getrennt über die Potsdam-Magdeburger Bahn nach Westen oder die Anhaltische Bahn nach Süden verlassen haben, die Stadt nunmehr auf dem selben Weg und zwar Richtung Potsdam verlassen. (Vgl. dazu Karte der Übergänge an der innerdeutschen Grenze mit Transitstrecken durch die DDR und nach und von Berlin (West). In: Reisen in die DDR. Mit Tagesaufenthalten im grenznahen Bereich und Reisen durch die DDR in andere Länder. Merkblatt. 14. Au age. Hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Ohne Verlagsort 1982. Karte online abrufbar unter: https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: DDR_Transit041.jpg (letzter Zugri am 11.01.2023).) Zweitens hat man aufgrund eines beachtlichen Zeitvorteils seit Einführung des ICE-Angebots der Deutschen Bahn Anfang der 1990er Jahre zumeist auch München über Hannover, also über die Potsdam- Magdeburger Bahn erreicht. Vgl. abschließend zur Frage nach den Eisenbahnstrecken, die in Preußen zur Romanzeit bereits in Betrieb stehen: Eisenbahnen in Preußen 1838-1920. Bearbeitet von Gerhard Stahr unter Mitarbeit von Margit Jacobeit. Hrsg. von der Historischen Kommission zu Berlin. Nebst einen Beiband mit Register. Berlin 1995 (= Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin. Kartenwerk zur Preußischen Geschichte; Lieferung 4). 124 Christine Hehle: Unterweltsfahrten, S. 74. 125 Ebd., S. 67. <?page no="252"?> 240 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht nördlichen Hälfte jenseits des Wilhelmplatzes bildet sie aufgrund der Vielzahl prächtiger Paläste Berlins vornehmste Gegend, 126 während vom Hallischen Tor bis zur Kochstraße die Häuser überwiegend von „Zeugmachern und anderen Manufakturisten“ 127 bewohnt sind. So hat Melanie auf dem Weg zum Bahnhof jenen besonders reichen und wohlhabenden Teil der Wilhelmstraße im Norden zwischen der Straße ‚Unter den Linden‘ und der Leipziger Straße, 128 bereits topographisch hinter sich gelassen, genau wie ihr Dasein als bequem gebettete (113) Ehefrau des „auf eine Million“ (42) taxierten Kommerzienrats. Sie begibt sich buchstäblich in ihren Lebensverhältnissen in eine entgegengesetzte Richtung, in ein Gebiet der Werktätigkeit. (Vgl. 158) [U]nd in fortgesetztem und immer nervöser werdendem Hinaussehen erschien es ihr, als ob alle Fuhrwerke, die denselben Weg hatten, ihr eignes elendes Gefährt in wachsender Eil’ überholten. Erst einige, dann viele. Sie klopfte, rief. Aber alles umsonst. Und zuletzt war es ihr, als läg’ es an ihr, und als versagten ihr die Kräfte, und als sollte sie die letzte sein und käme nicht mehr mit, heute nicht und morgen nicht, und nie mehr. Und ein Gefühl unendlichen Elends überkam sie. (120) Der letzte Abschnitt der Droschkenfahrt löst bei Melanie das Gefühl der Isolation und des Versagens aus. Dabei ist die Topographie abermals eng auf das Handlungsgeschehen bezogen, denn Melanie muss auf dem Weg zum Anhalter Bahnhof das in der Wilhelmstraße Nummer 103 gelegene Prinz-Albrecht-Palais passieren. 129 Ursprünglich vom hugenottischen Einwanderer Baron de Vernezobre (1690- 1748) ab dem Jahr 1735 als ‚Palais Vernezobre‘ erbaut, 130 steht das Palais baugeschichtlich im Zusammenhang mit einer verweigerten Hochzeit, denn Vernezobre baut ebenjenes Palais gleichsam als Reparation dafür, dass eine seiner Töchter sich weigert, die vom Soldatenkönig, König Friedrich Wilhelm I. (1688- 1740), verlangte Hochzeit mit einem seiner Soldaten einzugehen. 131 Dies steht 126 Vgl. Karl Baedeker: Berlin und Umgebungen (1887), S. 107. 127 Friedrich Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente, S. 179. 128 Vgl. Karl Baedeker: Berlin und Umgebungen (1887), S. 107. 129 Vgl. dazu EG1875, Planquadrat E5 sowie JS1910, Blätter III. F. und G. 130 Vgl. Friedrich Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente, S. 180. 131 Jene baugeschichtlichen Umstände sind im 19. Jahrhundert bekannt, denn sie haben Charlotte Birch-Pfei er (1800-1868) zum Lustspiel „Wie man Häuser baut“ inspiriert, das 1851 im Königlichen Schauspielhaus uraufgeführt worden ist. (Vgl. hierzu Armin Triebel: Das Palais des Prinzen Albrecht. Wilhelmstraße 103. In: Geschichtslandschaft <?page no="253"?> 4.6 Droschkenfahrt zum Anhalter Bahnhof 241 im au älligen Kontrast zu Melanies Vita, denn statt eines gemuthmaßten großen Vermögens, (7) hinterlässt der Vater nur Debets über Debets. Um diese Zeit war es denn auch, daß der zweiundvierzigjährige Van der Straaten um die siebzehnjährige Melanie warb und ihre Hand erhielt. (7) Während Baron de Vernezobre durch sein Vermögen die Verheiratung seiner Tochter wunschgemäß verhindert, sieht sich Melanie mit den väterlichen Schulden konfrontiert, die erst durch die Eheschließung mit dem nanzkräftigen Van der Straaten getilgt werden. Nach einer wechselvollen Geschichte 132 des Palais kauft Prinz Albrecht (1809- 1872), jüngster Sohn von König Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) und Königin Luise (1776-1810), das Anwesen im Zuge seiner Vermählung mit Marianne von Oranien-Nassau, Prinzessin der Niederlande (1810-1883) als Wohnsitz. 133 Prinz Albrecht lässt das Palais von Karl Friedrich Schinkel umgestalten, während Peter Joseph Lenné (1789-1866) den Barockpark unter Zukauf weiterer Grundstücke in einen Landschaftspark verwandelt. 134 Seitdem trägt das Haus den Namen Prinz-Albrecht-Palais. Die im Jahr 1830 geschlossene Ehe zwischen Albrecht und Marianne wird in der Folge „der größte Eheskandal der Hohenzollern im 19. Jahrhundert“. 135 Die Ehe, begleitet von beiderseitigen außerehelichen A ären, 136 ist dann 1849 durch das Berliner Kammergericht geschieden worden. Zu diesem Zeitpunkt ist Marianne bereits von ihrem Liebhaber schwanger mit dem sie nach Italien ieht, um dort ihr Kind zur Welt zu bringen. Durch die Scheidung verliert Marianne das Aufenthaltsrecht in Preußen und die Vormundschaft für ihre Kinder aus der Ehe mit Albrecht. 137 Berlin: Orte und Ereignisse. Hrsg. von Helmut Engel, Ste Jersch-Wenzel und Wilhelm Treue. Band 5. Kreuzberg. Berlin 1994 (= Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin), S. 3-19, hier S. 6.) 132 Nach dem Tod von Baron de Vernezobre bewohnt unter anderem Prinzessin Anna Amalia (1723-1787) das Palais als Sommerresidenz, bevor es im Zuge der Napoleonischen Kriege von Französischen Truppen verwüstet wird. Im Nachgang dazu nutzt es die Luisenstiftung als Ausbildungsstätte für junge Frauen und Mädchen zu Erzieherinnen und Lehrerinnen, bevor schließlich Prinz Albrecht Hausherr wird. (Vgl. ausführlicher Armin Triebel: Das Palais des Prinzen Albrecht, S. 10.) 133 Vgl. ebd., S. 10. 134 Vgl. ebd., S. 12. 135 Daniel Schönp ug: Die Heiraten der Hohenzollern. Verwandtschaft, Politik, Ritual in Europa 1640-1918. Göttingen 2013 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Band 207), S. 103. 136 Ebd., S. 103. 137 Auch Albrecht muss Preußen längere Zeit verlassen, zunächst, weil er vor Wut einen Soldaten ersticht, der eine Entdeckung Mariannes in agranti mit ihrem Liebhaber vereitelt. (Vgl. hierzu ausführlich Margret Dorothea Minkeks: Königin Elisabeth von <?page no="254"?> 242 Kapitel 4: Zwischen Ehebruch und Flucht Eingedenk dieser hö schen Skandalgeschichte, die augenfällige Ähnlichkeiten zu Melanies Fall hat, können ihre Versagensängste und ihre Isolation während der Droschkenfahrt im Kontext der sie umgebenden Topographie gelesen werden, denn um zum Anhalter Bahnhof zu gelangen, muss die Droschke von der Wilhelmstraße in die Anhalter Straße einbiegen und entsprechend nicht nur zuvor das Palais selbst passieren, sondern zusätzlich entlang des dazugehörigen weitläu gen Parks fahren. 138 Des Weiteren erinnert der ursprüngliche Name des Palais an die Ehebruchsgeschichte von der kommerzienrätlichen Familie Vernezobre, von der Christel Melanie unmittelbar zuvor erzählt hat und die den von Van der Straaten präferierten Lauf nimmt. So werden Melanie raumsemantisch die Handlungsoptionen vor Augen geführt, die sie noch kurz vor ihrer Flucht gehabt hat. Andererseits erscheint ihr Gefühl unendlichen Elends (120) plausibel, weil mit ihrer Fahrt zum Bahnhof die durch ihre Flucht ausgelösten gesellschaftlichen Reaktionen vorweggenommen werden, die der Kommerzienrat kurz zuvor argumentativ in die Waagschale geworfen hat. (Vgl. 114) „Muth, Muth,“ rief sie sich zu und ra te sich zusammen und zog ihre Füße vom Rücksitzkissen und richtete sich auf. Und sieh, ihr wurde besser. Mit ihrer äußeren Haltung kam ihr auch die innere zurück. (120) In ihrem Elend zitiert sie unbewusst Rubehns Maxime an: „[...] Muth, Melanie, nur Muth. Es werden schwere Tage kommen, und ich sehe sie schon zu Deinen Häupten stehen. Aber mir ist auch, als klär’ es sich dahinter. O, nur Muth, Muth! “ (103) Durch ihre veränderte äußere Haltung kann Melanie ihren Tiefpunkt überwinden, was ihr später gleichfalls gelingen und „[e]in neues Leben“ (157) ermöglichen wird. Und nun endlich hielt die Droschke [...]. Im nächsten Augenblicke schon trat von einem der Au ahrtspfeiler her Rubehn an sie heran und bot ihr die Hand, um ihr beim Aussteigen behil ich zu sein. [...] Preußen und das Haus Sachsen-Meiningen. In: Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen (1826-1914). Kultur als Behauptungsstrategie? Hrsg. von Maren Goltz, Werner Greiling und Johannes Mötsch. Köln, Weimar, Wien 2015 (= Verö entlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe; Band 46), S. 47-64, hier S. 51-53.) Nach seiner Scheidung verlässt Albrecht Preußen, um eine morganatische Ehe mit Rosalie von Rauch (1820-1879), der späteren Grä n von Hohenau, einzugehen, denn die Braut, das war die Heiratsbedingung, hat Preußen nicht mehr betreten dürfen. (Vgl. Daniel Schönp ug: Die Heiraten der Hohenzollern, S. 104.) 138 Vgl. dazu EG1875, Planquadrat E5 sowie JS1910, Blätter III. F. und G. <?page no="255"?> 4.6 Droschkenfahrt zum Anhalter Bahnhof 243 Und er hob die geliebte Last und setzte sie nieder, und nahm ihren Arm und das Täschchen, und so schritten sie die Treppe hinauf, die zu dem Perron und dem schon haltenden Zuge führte. (120-121) Melanies Ankunft am Bahnhof lässt erneut die glückliche Verbindung zwischen dem neuen Paar erkennen, denn Rubehn bietet ihr nicht nur zunächst die Hand und dann den Arm, sondern beide nehmen gemeinschaftlich die Treppe, die hinau ührt. Dabei kann die Formulierung geliebte Last (121) als Anhaltspunkt für eine schwere, gemeinsam zu überstehende Zeit gedeutet werden, während das Heben und anschließende Niedersetzen indiziert, dass Melanie zunächst ihr verwöhntes Leben fortsetzen, in der Folge jedoch gleichberechtigt zur Erwirtschaftung des Familienunterhalts beitragen und buchstäblich auf eigenen Beinen stehen wird. In einer weiteren Lesart wird hierüber ebenfalls an das Steigen und Fallen der Schnee ocken erinnert. (Vgl. 10) In der außerliterarischen Realität wird 1872 der alte Anhalter Bahnhof aus dem Jahr 1841 niedergelegt und bis 1874 ein provisorischer Ersatzbau errichtet, um den Verkehrsbetrieb aufrechtzuerhalten. Am 15. Juni 1880 ndet dann die Verkehrsübergabe des neuen Anhalter Bahnhofs statt. 139 Demgemäß ist davon auszugehen, dass auch im Roman die Fahrt von Rubehn und Melanie am provisorischen Anhalter Bahnhof ihren Anfang nimmt, so dass die Droschkenfahrt Melanies vom Askanischen Platz aus - an dem sich der neue Bahnhof gerade im Bau be ndet - noch ein Stück weit die Möckernstraße hinunterführt, da das Provisorium südlich des Landwehrkanals an ebenjener Straße zwischen Teltower Straße und Wartenburg Platz gelegen ist. 140 Dies ist insofern von Interesse, weil der provisorische Abfahrtsort als Indiz dafür gelten kann, dass die Flucht aus Berlin ebenfalls als provisorisch anzusehen ist und das neue Leben eines umfänglichen Neuaufbaus bedarf. So parallelisiert sich die Geschichte des Bahnhofs mit der Melanies bezüglich der Tatsache, dass das Alte weicht, um nach einer provisorischen Übergangszeit dem Neuen Platz zu machen. 139 Vgl. Peer Zietz: Franz Heinrich Schwechten. Ein Architekt zwischen Historismus und Moderne. Mit Photographien von Uwe H. Rüdenburg. Stuttgart 1999, S. 46. 140 Vgl. Plan von Berlin in 1: 20.000. Mehrfarbige Lithographie. 38 × 31 cm gefaltet. Mit Registern. Hrsg. vom Bibliographischen Institut Leipzig. Leipzig um 1872. Online abrufbar unter: http: / / www.deutschefotothek.de/ documents/ obj/ 90009264 (letzter Zugri am 11.01.2023), Planquadrate C7 und D7. <?page no="257"?> 5 Flucht „Nach Süden“ Die Flucht respektive Reise nach Süden (Vgl. 121) erfolgt in kurzen, oft mehrtägig unterbrochenen Fahrten, wie sie Melanie’s erschütterte Gesundheit unerläßlich machte[.] (121) Durch die starke Ra ung der Erzählung erfährt der Leser zunächst lediglich, dass Melanie und Rubehn gegen Ende Februar in Rom eintrafen, um daselbst das Osterfest abzuwarten und „Nachrichten aus der Heimath“. Es war ein absichtlich indi erentes Wort, das sie wählten, während es sich doch in Wahrheit um Mittheilungen handelte, die für ihr Leben entscheidend waren, und die länger ausblieben als erwünscht. Aber endlich waren sie da [...] und der nächste Morgen bereits sah Beide vor dem Eingang einer kleinen englischen Kapelle[.] (121) Am Hochzeitsabend noch beschließt Melanie ihrer Schwester Jacobine zu schreiben, allerlei Fragen zu thun und nebenher von ihrem Glück und ihrer Reise zu plaudern. (122) Nun erst werden dem Leser Details der bisherigen Reise bekannt gegeben. Simon Bunke sieht in den topographischen Beschreibungen der Fluchtreise, die aus sehr unspezi schen Angaben bestünden, kaum einen eigenen Wert. 1 Dem ist zu widersprechen, denn die Analyse der beschriebenen Raumstrukturen und Detailschilderungen wird in der Folge deren poetologische Relevanz aufzeigen. Auch Bunkes Au assung, Melanies Brief diene lediglich der Causerie 2 greift zu kurz, denn der Verzicht auf die vermittelnde Instanz einer Erzähl gur gewährt dem Leser vielmehr „tiefe Einblicke in die psychische Be ndlichkeit“ 3 der Protagonistin. 5.1 Innsbruck In ihrem Brief schildert Melanie, dass sie anfänglich abgespannt und freudlos (123) gewesen sei, was der Erzähler bereits in den Kontext einer erschütterte[n] Gesund- 1 Vgl. Simon Bunke: Figuren des Diskurses, S. 57. 2 Vgl. ebd., S. 57. 3 Irene Rupp: Der Brief im deutschen Drama des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2016 (= Historisch-kritische Arbeiten zur deutschen Literatur; Band 56), S. 34. Rupp zeigt dies anhand von Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ (1774). <?page no="258"?> 246 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ heit (121) eingeordnet hat. Eine Besserung stellt sich erst ein, als sie in die Berge kamen. Da wurd’ es besser, und als wir neben dem schäumenden Inn hinfuhren und an demselben Nachmittage noch in Innsbruck ein wundervolles Quartier fanden, da el es von mir ab und ich konnte wieder aufathmen. (123) Bereits vor ihrer Flucht verbindet Melanie die Alpen mit Erleichterung, Neuanfang und Schutz: „Ja, über die Alpen,“ hatte Melanie gesagt und aufgeathmet, und es war ihr dabei gewesen, als wär’ erst ein neues Leben für sie gewonnen, wenn der große Wall der Berge trennend und schützend hinter ihr läge. (106) Der Konjunktiv indiziert die Fragilität und das Trügerische ihrer Annahme, was ebenso über die Ambivalenz der Innsbrucker Topographie - dem ersten Reiseziel - re ektiert wird, denn die Stadt liegt einerseits geschützt inmitten einer rings von Bergen umgebenen Talebene an beiden Ufern des Inn, 4 verbleibt andererseits aber aufgrund seiner geographischen Lage in einer Verbindungsrolle zwischen Nord und Süd. 5 Der dezidierte Hinweis auf den schäumenden Inn (123) erinnert an die schaumgeborene Göttin Venus, 6 mit der Melanie im Roman mehrfach assoziiert wird. 7 Ihr Bekenntnis, da el es von mir ab und ich konnte wieder aufathmen[,] (123) verweist auf eine innere Befreiung. Melanies Aufatmen und Erquickung stehen ganz im Zeichen des Wassers und bedeuten eine Neubelebung, 8 die gleichsam auf ihre spätere ‚Wiedergeburt‘ in Venedig, ebenjener Stadt, die aufs Engste mit dem Wasser verbunden ist, verweist. Der gemeinsame Aufenthalt in Innsbruck wird verlängert, als Rubehn sah, daß mir Alles so wohlthat und mich erquickte (123) und führt zum Besuch der 4 Vgl. Karl Baedeker: Italien. Erster Theil: Ober-Italien (1877), S. 34. 5 Vgl. Christoph Haidacher und Dorothea Diemer: Maximilian I. Der Kenotaph in der Hofkirche zu Innsbruck. Hrsg. von Kuratorium des Hofkirche-Erhaltungsfonds. Innsbruck, Wien 2004, S. 18. 6 Der Wortstamm αφρός in Aphrodite bedeutet Schaum. (Vgl. dazu Homerus: Die Homerischen Hymnen, S. 267.) Vgl. zur synonymen Verwendung der Namen Aphrodite und Venus den dritten Absatz von Fußnote 91 auf Seite 52 dieser Arbeit. 7 Vgl. hierzu die Seiten 75, 97, 131, 136, 164, 217 und 261 dieser Arbeit sowie die Fußnoten 91 auf S. 52 und 178 auf S. 75. 8 Das Wort erquicken leitet sich vom althochdeutschen Wort ‚quicchan‘ ab und bedeutet ursprünglich „lebendig machen.“ (Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. 5., neu bearbeitete Au age. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim 2014 (= Duden; Band 7), S. 257.) <?page no="259"?> 5.1 Innsbruck 247 Kirche, wo Kaiser Max begraben liegt (123): Der Baedeker weist das Grabmal Kaiser Maximilians I. (1459-1519) in der Hofkirche als die Hauptsehenswürdigkeit Innsbrucks aus. 9 Diese scheinbar touristische Erschließung der Stadt antizipiert dabei hintergründig das Handlungsgeschehen: Das Grabmal ist ursprünglich als gigantisches Bauprojekt angelegt worden, musste allerdings in der Folge aufgrund nanzieller Engpässe weniger pompös als geplant gestaltet werden. 10 Diese bauhistorischen Umstände können als Verweis auf die sich später einstellenden nanziellen Schwierigkeiten des Paares gelesen werden, die gleichfalls ihre modern und elegant eingerichtete Wohnung gegen eine schlichtere vertausch[en] (157) werden müssen. Melanie spezi ziert über Kaiser Maximilian I.: Es ist derselbe von der Martinswand her, und derselbe auch, der zu Luthers Zeiten lebte. (123) Zum einen zeigt sich hierin, dass Melanies Fixpunkt der Protestantismus und damit der Norden ist, 11 wodurch eine Rückkehr nach Berlin bereits hier indiziert wird. Zum anderen spielt der Hinweis auf die Martinswand auf diejenige berühmte Legende an, nach der sich der spätere Kaiser Maximilian am Ostermontag 1490 an ebenjener Gebirgswand bei Innsbruck während der Gemsenjagd versteigt. In seiner aussichtslosen Lage, bei der er weder vor noch zurück kommt, soll er gebetet haben, woraufhin sein Gebet erhört und er gerettet wird. 12 Mit Erwähnung dieser Geschichte wird Melanies eigene schwierige Lage und der spätere glückliche Ausgang alludiert, der gleichfalls mit einem Gebet (152) und einer demütigen 9 Vgl. Karl Baedeker: Italien. Erster Theil: Ober-Italien (1877), S. 34. Vgl. auch Karl Baedeker: Österreich-Ungarn nebst Cetinje, Belgrad, Bukarest. Handbuch für Reisende. Mit 75 Karten, 76 Plänen, 7 Grundrisse und 2 Panoramen. Neunundzwanzigste Au age. Leipzig 1913, S. 186-187. 10 Vgl. Christoph Haidacher und Dorothea Diemer: Maximilian I, S. 7. 11 Vgl. zur Opposition von protestantischem Norden und katholischem Süden mit Rom als Papstsitz und damit Zentrum der katholischen Welt bei Fontane allgemein Roland Berbig: Die Mission des Nordlandmenschen. Theodor Fontane in der „Nord-Süd“-Konstellation Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Der Preuße, die Juden, das Nationale. Band 1. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger. Würzburg 2000 (= Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs zum 100. Todestag Theodor Fontanes. 13.-17. September 1998 in Potsdam), S. 97-112, hier S. 98-99. 12 Vgl. Karl Klüpfel: Kaiser Maximilian I. Berlin 1864, S. 73-75. Melanie wird später zu Rubehn sagen: „[...] In unserer Angst und Sorge beten wir, auch wir, die wir’s in unseren guten Tagen an uns kommen lassen. Und das versöhnt die Götter. Denn sie wollen, daß wir uns in unserer Kleinheit und Hilfsbedürftigkeit fühlen lernen. [...]“ (130) <?page no="260"?> 248 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ Haltung korrespondiert und ebenso an einem Ostermontag (Vgl. 150-154) seinen Anfang nimmt. Bedeutsam erscheint zudem ein weiteres Detail der Reisebeschreibung, denn Melanie irrt in der Annahme, Kaiser Maximilian sei in der Hofkirche begraben. 13 Es handelt sich bei dem Grabmal vielmehr um einen Kenotaph. 14 Somit steht Innsbruck im Zeichen einer paradoxen Verschränkung von Leben und Tod, denn das leere Grab impliziert bereits Melanies ausbleibenden Tod. Eine vergleichbare Assoziation wird über eine weitere - im Roman unerwähnte - Sehenswürdigkeit Innsbrucks vermittelt: Der Besucher betritt und verlässt die Stadt vom Bahnhof aus kommend „durch eine Triumphpforte, die zur Feier der Vermählung des Kaisers Leopold II. (1747-1792) mit der Infantin Maria Ludovica (1745-1792)“ 15 erbaut worden ist. Die Motivik der Südseite verweist dabei auf die glückliche Verbindung und Hochzeit im Süden zwischen Melanie und Rubehn, während sich auf der Nordseite der Triumphpforte Motive des Todes be nden, 16 die zum einen Melanies späteren gesellschaftlichen Tod im Norden (128) vorwegnehmen, zum anderen aber andeuten, dass sich ihr baldiges Ringen um Leben oder Tod (127) im Süden zugunsten des Lebens entscheiden wird. 5.2 Verona Von Innsbruck geht es mit der Österreichischen Südbahn 17 über den Brenner (121) nach Verona. 18 Während der zeitgenössische Baedeker den Streckenverlauf zwi- 13 Dies korrespondiert damit, dass sie zunächst selbst glauben wird, sterben zu müssen. (Vgl. 126) 14 Kaiser Maximilian I. ist in der St.-Georgs-Kathedrale der Wiener Neustadt beigesetzt. Vgl. Christoph Haidacher und Dorothea Diemer: Maximilian I., S. 41. 15 Karl Baedeker: Ober-Italien (1861), S. 77. 16 Vgl. Astrid von Schlachta: Nur ein Blick „durch das fenster“? Repräsentation und Wandel am Innsbrucker Hof (1648-1800). In: Der Innsbrucker Hof: Residenz und hö sche Gesellschaft in Tirol vom 15. bis 19. Jahrhundert. Ergebnis eines Kolloquiums des Arbeitskreises „Höfe des Hauses Österreich“ am 6. und 7. Juni 2002 in Innsbruck. Hrsg. von Heinz No atscher und Jan Paul Niederhorn. Wien 2005 (= Archiv für österreichische Geschichte; Band 138), S. 53-88, hier S. 53. 17 Vgl. W. Nietmann: Atlas der Eisenbahnen des Deutschen Reiches, Oesterreich-Ungarns, Belgiens, der Niederlande, Italiens und der Schweiz, Karte 25. 18 Im Oktober 1874 reist Fontane erstmals nach Italien. (Vgl. Sabine Engel: ‚Mit Kunstgeschichte unterhalte ich dich nicht.‘, S. 179.) <?page no="261"?> 5.2 Verona 249 schen Innsbruck und Verona als teilweise eng und wild beschreibt, 19 bewertet Melanie die Zugfahrt über den Alpenpass positiv: „Und dann gingen wir über den Brenner, der ganz in Schnee lag, und es sah wundervoll aus, wie wir an derselben Bergwand, an der unser Zug emporkletterte, zwei, drei andre Züge tief unter uns sahen, so winzig und unscheinbar wie die Futterkästchen an einem Zeisigbauer.“ (124) Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickeln sich die Alpen allmählich zu einem beliebten Ziel des Massentourismus. 20 Zuvor gelten jene stets als „ebenso scheußlich wie gefährlich.“ 21 Weil sie jedoch den Weg nach Italien, dem bevorzugten Reiseziel, versperren, bleibt die Alpenpassage unvermeidbar. So entspricht Melanies Beschreibung einerseits einer modernen Wahrnehmung vom Zugfahren, bei der die Eisenbahn die Landschaft in eine „ästhetisch ansprechende Perspektive“ 22 bringt. Andererseits sei erneut an Melanies Einschätzung in Berlin vor der Flucht erinnert: „Ja, über die Alpen“, hatte Melanie gesagt und aufgeathmet, und es war ihr dabei gewesen, als wär’ erst ein neues Leben für sie gewonnen, wenn der große Wall der Berge trennend und schützend hinter ihr läge. (106) Dadurch, dass Melanie weitere Züge aus ihrem Abteil heraus sehen kann, wird hiermit einerseits der rasante Ausbau des Eisenbahnnetzes re ektiert, 23 der das Reisen be ügelt. 24 Andererseits ergibt sich aus ihrer Beobachtung ein Bild der Verbindung mit der Welt durch das allumspannende Netz der Eisenbahn. 25 Dabei steht die Brennerstrecke selbst 19 Vgl. Karl Baedeker: Italien. Erster Theil: Ober-Italien (1877), S. 40. 20 Kathrin Maurer: Mit Herrn Baedeker ins Grüne, S. 91. Bevorzugtes Reiseziel des Bürgertums im 19. Jahrhundert sind, neben Küsten und Stränden, die Alpen, die durch touristische Infrastrukturen wie die Eisenbahn erschlossen und nachhaltig verändert werden. Dieser ‚natürliche‘ Gegenraum wird so gleichsam von der Zivilisation eingeholt. (Vgl. zu diesem Paradox Michael Ott: Im „Allerheiligsten der Natur“. Zur Veränderung von Alpenbildern in der Kultur um 1900. In: Natur und Moderne um 1900. Räume, Repräsentationen, Medien. Hrsg. von Adam Paulsen und Anna Sandberg. Bielefeld 2013 (= Edition Kulturwissenschaft; Band 23), S. 31-50, hier S. 32.) Es sei betont, dass Vorstellungen von einer ‚ursprünglichen Natürlichkeit‘ bereits „immer schon kulturelle Konstruktionen“ (Ebd., S. 33.) sind. 21 Hans von Trotha: Im Garten der Romantik. Berlin 2016, S. 31. 22 Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 58. 23 Die Brennerbahn zwischen Verona und Bozen wird 1867 erö net. (Vgl. Günter Denoth: 150 Jahre Eisenbahn in Tirol. Erfurt 2008 (= Die Reihe. Auf Schienen unterwegs), S. 8.) 24 Vgl. Kathrin Maurer: Mit Herrn Baedeker ins Grüne, S. 91. 25 Dieses Bild ndet bereits in Fontanes früher Erzählung „Zwei Post-Stationen“ (um 1845) Eingang: „Bald wird ein Eisenbahn-Netz den gebildeten Theil Europa’s umschlingen, <?page no="262"?> 250 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ gleichfalls für eine Domestizierung der Natur; so wird beispielsweise das Gleisbett streckenweise in einem eigens hierfür trockengelegten Flussbett verlegt. 26 Hierin zeigt sich, dass ihr Glaube an eine trennende und schützende Raumstruktur trügerisch ist, so wie dies bereits durch die erzählerische Formulierung im Konjunktiv (Vgl. 106) erkennbar geworden ist. 27 Melanies Vergleich der tief unter ihr fahrenden Züge mit Futterkästchen an einem Zeisigbauer (124) erinnert an das zwiespältige Leben eines Singvogels in Gefangenschaft, welches zwischen materieller Unbekümmertheit und dem Los der Unfreiheit changiert, so wie es das bekannte Lied „Der gefangene Zeisig“ (1844) von August Heinrich Ho mann von Fallersleben (1798-1874) re ektiert: 28 Hier möchte ein Zeisig aus seiner Gefangenschaft ausbrechen, die sein Besitzer jedoch nicht als solche erkennt. 29 Diese Konstellation ist mit Melanies ehemaliger Stellung im Hause Van der Straaten vergleichbar, denn sie kann nur während der Abwesenheit des Kommerzienrats tageweise das Glück ihrer Freiheit (46) genießen: Und dieses Glück war um vieles größer, als man, ihrer Stellung nach, die so dominirend und so frei schien, hätte glauben sollen. (46) 30 schon in diesem Augenblicke sind der Segnungen unzählige, welche die Menschheit der großartigsten Er ndung unsrer Tage verdankt [...].“ (Theodor Fontane: Zwei Post- Stationen. In: FE, S. 41-59, hier S. 41.) Ebenso konstatiert Botho v. Rienäcker in einem Selbstgespräch: „„Dahinter liegt Spandau,“ sprach er vor sich hin. „Und hinter Spandau zieht sich ein Bahndamm und ein Schienengleise, das bis an den Rhein läuft. Und auf dem Geleise seh’ ich einen Zug, viele Wagen und in einem der Wagen sitzt Käthe. [...].““ (IW, S. 165.) 26 Mithilfe eines Wassertunnels ist in der Nähe von Gossenass ein Bach umgeleitet und dadurch sein Flussbett trockengelegt worden, um darin dann das Gleisbett zu verlegen. (Vgl. Günter Denoth: 150 Jahre Eisenbahn in Tirol, S. 19 sowie S. 24.) 27 Oft sind Naturerlebnisse bei Fontane trügerisch. So deutet im Roman „Cécile“, inmitten der scheinbaren Altenbraker Idylle, ein in der Ferne vorbeifahrender Zug nach Berlin das Misslingen der Flucht vor der Gesellschaft an. (Vgl. hierzu Rolf-Peter Janz: Literarische Landschaftsbilder bei Fontane, S. 101.) 28 August Heinrich Ho mann von Fallersleben: Maitrank. Neue Lieder. Nr. 13. Paris 1844, S. 22. 29 „[...] Zeisig, mein Zeisig, was fällt dir denn ein? „Wär’ ich doch wieder frei, Fort aus der Sklaverei! “ Sklaverei? Naretheit! Bist Du nicht frei? [...] Zeisig, mein Zeisig, ei, bist du nicht frei? „Frei in der Kerkerhaft, Frei in Gefangenschaft? “ Ho ho ho! Anderswo geht’s dir nicht so! “ (Ebd., S. 22.) 30 In diesem Kontext sei noch einmal an den Helmkakadu erinnert, den ich Melanie zuordne und der - wie sie selbst - das Schicksal des Zeisigs im Lied teilt. Die Folgenschwere der Gefangenschaft führt dabei insbesondere der Helmkakadu vor Augen, denn dieser lässt sich in Gefangenschaft kaum schadlos halten. (Vgl. hierzu Seite 72 dieser Arbeit.) <?page no="263"?> 5.2 Verona 251 Während Melanie bei einem früheren Italienbesuch Verona nur passiert hat, (Vgl. 124) bleibt sie nun für einen ganzen Tag dort, weil Rubehn ihr das altrömische Theater zeigen (124) will: „Es war ein kalter Tag und mich fror im eisigen Winde, der ging, aber ich freue mich doch, es gesehen zu haben. Wie beschreib ich es Dir nur? Du mußt Dir das Opernhaus denken, aber nicht an einem gewöhnlichen Tage, sondern an einem Subscriptionsball-Abend, und an der Stelle, wo die Musik ist, rundet es sich auch noch. Es ist nämlich ganz eiförmig und amphitheatralisch, und der Himmel als Dach darüber, und ich würd’ es Alles sehr viel mehr noch genossen haben, wenn ich mich nicht hätte verleiten lassen, in einem benachbarten Restaurant ein Salami-Frühstück zu nehmen, das mir um ein Erhebliches zu national war.“ (124) Das altrömische Theater, die Arena di Verona, ist auf dem Weg nach Italien das erste antike Bauwerk „auf der kanonisch festgezurrten Reiseroute.“ 31 Melanie vergleicht die Arena mit dem Berliner Opernhaus, 32 was im Abgleich mit den Reisebeschreibungen berühmter Besucher zunächst wenig nachvollziehbar erscheint, denen beim Aufenthalt im besterhaltenen Amphitheater aus römischer Zeit 33 in erster Linie Assoziationen zur Antike kommen. 34 Zumal das Berliner Opernhaus in seiner äußeren Erscheinung einem griechischem Tempel, nicht aber einer römischen Arena nachempfunden ist. 35 Im Hinblick auf die Gestal- 31 Constanze Baum: Landschaft lesen. Italienische Erinnerungslandschaften als Palimpseste der Reiseliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Literarische Räume. Architekturen - Ordnungen - Medien. Hrsg. von Martin Huber, Christine Lubkoll, Ste en Martus, Yvonne Wübben. Berlin 2012, S. 143-156, hier S. 146. 32 Bereits im 19. Jahrhundert wird die Arena di Verona als Oper mit Nachmittagsau ührungen genutzt. Am 10. August 1913 wird anlässlich des hundertsten Geburtstages von Guiseppe Verdi (1813-1901) die Oper „Aida“ (1871) gespielt. Seitdem gilt die Arena di Verona mit ihren 22.000 Plätzen als größtes Opernhaus der Welt. (Vgl. Patrizia Fabbri und Andreas Hein: Das goldene Buch: Verona - Kunst und Geschichte: Die Stadt von Romeo und Julia - Geschichte einer Liebe. Florenz 2010, S. 18.) 33 Vgl. ebd., S. 16-17. 34 Vgl. Constanze Baum: Landschaft lesen, S. 146. Baum vergleicht die Reiseerinnerungen an die Arena von Johann Wolfgang von Goethe, Karl Philipp Moritz (1756-1793), Heinrich Heine und Karl Gutzkow. Auch Fontane hat bei seinem Aufenthalt in Verona als erstes das römische Amphitheater besucht. (Vgl. Rt, S. 302.) 35 Vgl. L.[udwig] Rellstab: Berlin und seine nächsten Umgebungen in malerischen Originalansichten, S. 116. <?page no="264"?> 252 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ tung des Innenraums des Berliner Opernhauses erweist sich jener Vergleich jedoch wiederum als zutre end, denn nach dem verheerenden Brand im Sommer 1843 ist die Königliche Oper am 07. Dezember 1844 wiedererö net worden. Während das Äußere der Oper im Stil eines griechischen Tempels beim Wiederaufbau beibehalten wird, hat sich das Innere der Oper jedoch grundlegend und den Bedürfnissen der Zeit entsprechend verändert. Das Besondere und Innovative der Königlichen Oper ist dabei sein ovaler, amphitheatralischer Zuschauerraum. 36 Insgesamt bezeugt Melanies Vergleich ihre Gebundenheit an die Berliner Gesellschaft und insbesondere an ihr früheres Leben mit dem Kommerzienrat, in dem die beiden Subscriptionsbälle (Vgl. 8) im Opernhaus (124) die Höhepunkte der Saison-Vergnügungen gebildet haben. (Vgl. 8) Ebenso wird hiermit an den Subscriptions-Ball-Bericht (8) erinnert, der den gesellschaftlichen Klatsch anklingen lässt, dem Melanie nach ihrer Rückkehr ausgesetzt sein wird. (Vgl. 138, 144-145) Die Kälte dieses Tages sowie Melanies Frieren im eisigen Wind rekapitulieren sowohl ebenjene Stunde im Januar 1876, in der Melanie die Große Petristraße verlässt, (Vgl. 119) als auch denjenigen winterlichen Morgen im Januar 1875, an dem die Kopie von Tintorettos ‚Ehebrecherin‘ eintri t. (Vgl. 10-12) Dies bestätigt einerseits, dass die Schutzfunktion der Alpen eine trügerische ist, und indiziert andererseits erneut die kommende gesellschaftliche Kälte, die Melanie nach ihrer Rückkehr in Berlin entgegengebracht werden wird. 37 Überdies ist die Arena historisch ein Ort von grausamen Kämpfen und Hinrichtungen, die dort als gesellschaftliches Großereignis inszeniert worden sind, 38 so wie Melanie zur „[...] Sehenswürdigkeit“ [...] (144-145) gerät und Rubehn später vom „[...] große[n] Hinrichtungsschwert [...]“ (138) der Gesellschaft spricht, während der Erzähler konstatieren wird: Sie war todt für die Gesellschaft. (138) Der dezidierte Hinweis auf das nicht besonders gut vertragene, ihr um ein Erhebliches zu national[e] (124) italienische Frühstück 39 - obwohl dieses beim Verfassen des Briefes bereits etliche Wochen zurückliegt - lässt erkennen, dass ein 36 Vgl. ebd., S. 116-118. 37 Rubehn wird später konstatieren: „[...] Und wir werden uns auf kältere Luftströme gefaßt machen müssen.“ (130) 38 Vgl. Walter Pippke und Ida Leinberger: Gardasee, Verona, Trentino, Mantua. Kunst und Geschichte im Zentrum des Alpenbogens. 5. aktualisierte Au age. Ost ldern 2011 (= DuMont Kunst Reiseführer), S. 199. 39 Fontane berichtet, dass er in Verona an der Piazza Brà, ebenjenem Platz an dem sich die Arena be ndet, erbärmlich gegessen habe. (Vgl. Rt, S. 304.) <?page no="265"?> 5.2 Verona 253 dauerhafter Aufenthalt in Italien unwahrscheinlich ist. 40 Für eine spätere Rückkehr nach Berlin spricht darüber hinaus ihr Bekunden, sie fühle sich überhaupt eingepreußter als [sie] dachte[.] (123) 41 Während Melanie und Rubehn die Arena als eine der Hauptattraktionen Veronas besuchen, wird ein weiterer touristischer Anziehungspunkt 42 augenscheinlich nicht besichtigt: das Grab der Julia Capulet. 43 Diese Leerstelle 44 ist deshalb bemerkenswert, weil sie erneut das glückliche Romanende erahnen lässt, welches bereits Melanie für sich in Anspruch genommen hat, wenn sie auf die berühmte Liebesgeschichte einerseits verweist und andererseits deren Ende ablehnt: „Ich, tout à fait Capulet und Julia. Doch mit untragischem Ausgang. [...]“ (55) Jene Leerstelle wird noch bedeutsamer, wenn sie mit anderen Romanen aus dem Œuvre Fontanes verglichen wird: Im Roman „Frau Jenny Treibel“ ist für Willibald Schmidt Verona - als Etappe der Hochzeitsreise seiner Tochter Corinna - mit dem Schauplatz der Tragödie und dem Grab der Julia verknüpft: „„... Und die arme Corinna! Jetzt ist sie bei Trebbin, erste Etappe zu Julia’s Grab ... Julia Capulet, wie das klingt. Es soll übrigens eine ägyptische Sargkiste sein [...].““ (FJT, S. 222.) Die Verbindung aus Ehe und Sarg verweist dabei einerseits auf die Romanhandlung des Shakespeare Stücks, steht jedoch andererseits im Widerspruch zur leidenschaftlichen Liebe zwischen Romeo und Julia, deren Fehlen im Roman „Frau Jenny Treibel“ bereits der Bräutigam in spe im Hinblick auf seine Braut erkannt hat: „„Eine lichterlohe Leidenschaft kann ich 40 Hierfür sprechen auch ihre Fragen (125) und ihr Wunsch, sich beweisen zu dürfen. 41 Fontane selbst besitzt - entgegen der allgemeinen Italomanie - ein kritisches Italienbild, welches beispielsweise in einem seiner Briefe aus Rom während seiner ersten Italienreise o enkundig wird: „Grenzenlose Konfusion. Ein völliges Bummelvolk. Ich komme preussischer zurück denn je.“ (Theodor Fontane: Brief an Karl Zöllner vom 27. Oktober 1874. Auszugsweise in: Roland Berbig: Theodor Fontane Chronik. Projektmitarbeit 1999-2004: Jose ne Kitzbichler. Band 3. Berlin, New York 2010, S. 1935. Vgl. zu Fontanes Verhältnis zu Italien allgemein Domenico Mugnolo: Fontanes italienische Reise in der Wandlung des deutschen Italienbildes. In: Fontane und Italien. Frühjahrstagung der Theodor Fontane Gesellschaft e. V., Mai 2009 in Monópoli (Apulien). Hrsg. von Hubertus Fischer und dems. Würzburg 2011, S. 141-163, hier S. 144.) 42 Vgl. exemplarisch FJT, Anmerkungen, S. 358. 43 Fontane hat das Grab der Julia während seines Aufenthalts in Verona besucht. (Vgl. Rt, S. 304.) Dieses be ndet sich im ehemaligen Franziskanerkloster in der Vicolo Franceschine, einer Seitengasse der Via Cappucini, und zwar in einem verschlossenen Garten. (Vgl. Karl Baedeker: Italien. Erster Theil: Ober-Italien (1877), S. 183.) 44 Ohne diesen Aspekt weiter auszuführen, nennt Renate Böschenstein dies allgemein als ein typisches „Beispiel für die Funktion der Leerstellen in Fontanes Textstruktur.“ (Renate Böschenstein: Caecilia Hexel und Adam Krippenstapel, S. 345.) <?page no="266"?> 254 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ in ihr nicht entzünden. Vielleicht ist sie solcher Leidenschaft nicht einmal fähig; aber wenn auch, wie soll ein Vetter seine Cousine zur Leidenschaft anstacheln? Das kommt gar nicht vor.““ (FJT, S. 87.) Verbindet sich hier der Besuch des Grabes mit einer gleichsam gefühlstoten Ehe, kann ein ebensolcher Besuch während der Hochzeitsreise sowohl in „E Briest“ als auch im Roman „Graf Petöfy“ als vorausschauendes Moment und Ankündigung des tragischen Romanausgangs begri en werden. 45 5.3 Florenz Die Woche darauf kamen wir nach Florenz, und wenn ich Duquede wäre, so würd’ ich sagen: es wird überschätzt. Es ist voller Engländer und Bilder, und mit den Bildern wird man nicht fertig. (124) Bemerkenswert ist zum einen, dass Melanie und Rubehn zunächst von der kanonischen Italienroute abweichen 46 und Melanie zum anderen für ihre Reisebeschreibungen ihren früheren Gegenspieler, Legationsrat Duquede, als Referenzpunkt wählt. So wird Florenz nicht nur über die explizite Nennung Duquedes, der als der angesehenste (23) Freund des Hauses (23) Van der Straaten gilt, 47 sondern auch über den Hinweis auf die Fülle von Bildern dem gemäldesammelnden Kommerzienrat zugeordnet. 48 45 Nachdem E vor dem Einschlafen ihre Hochzeitsreise rekapituliert, hat sie ausgerechnet bei der Etappe Verona, die wiederum mit dem Grab der Julia verknüpft ist, einen Alptraum. (Vgl. EB, S. 86.) Im Roman „Graf Petöfy“ stimmt die Protagonistin Franziska einem Besuch Veronas nur „unter dem Zugeständniß [zu], daß ihr das Haus und Grab der Julia Capulet gezeigt werde, „weil Liebesgeschichten mit tragischem Ausgange nun ’mal ihre Passion seien“.“ (GP, S. 99.) 46 Üblicherweise folgt der Italienreisende der Route Verona - Venedig - Florenz - Rom, die nicht zuletzt durch Goethe allgemeine Bekanntheit erlangt. (Vgl. dazu Martina Hofmann: Der Blick vom Gipfel auf die Welt. Ausgewählte Beispiele zur Etablierung eines literarischen Motivs. Gießen 2015 (= Sprache, Literatur, Kommunikation - Geschichte und Gegenwart; Band 5), S. 299.) Auch Fontane selbst nimmt bei seiner Italienreise im Oktober 1874 ebenjene Route. (Vgl. Rt, S. 302 und 320.) Melanies und Rubehns Abweichung von der üblichen Reiseroute ist deshalb von Interesse, weil der Leser gleich zu Beginn über Melanies Vorliebe für Venedig informiert wird. (Vgl. 12) Diese Abweichung muss jedoch erfolgen, weil entgegen aller Tradition nicht Rom, sondern Venedig das Ziel dieser Reise sein wird. (Vgl. 127) 47 Dies seiner Gegnerschaft ihr gegenüber zum Trotz, die so weit reicht, dass er Bedienstete des Hauses Van der Straaten in einer stillen Opposition gegen Melanie (107) anführt. 48 Es sei an das Urteil Jacobines erinnert, die erklärt, Melanie mache sich nichts aus der kommerzienrätlichen Gemäldegalerie (Vgl. 41) sowie an die von Melanie selbst erklärte <?page no="267"?> 5.3 Florenz 255 Wenn sich Melanie vorstellt, welche Meinung Duquede zu Florenz haben könnte, erinnert dies an ihre sorgenvolle Imagination bezüglich der vor der ‚Adultera‘-Kopie medisierenden Räte Rei und Duquede. (Vgl. 13) In ihrem Brief wird überdeutlich, wie sehr Melanie gedanklich ihrer früheren Berliner Lebenswelt verhaftet bleibt. Dies zeigt sich gleichfalls über den Vergleich des orentinischen Stadtparks 49 mit dem Tiergarten: 50 Und dann haben sie die „Cascinen“, etwas wie unsre [(sic! )] Thiergarten- oder Hofjäger-Allee[.] (124) Außerdem vergleicht sie die Budenbrücke Ponte Vecchio, mit dem Rialto, wodurch erneut ihre A nität zu Venedig unterstrichen wird. Ebenjener Vergleich erscheint besonders bemerkenswert, denn Melanies letzter Aufenthalt in Venedig liegt mehr als anderthalb Jahre zurück, 51 so dass sie nicht über frische Eindrücke von dort verfügen kann. 52 Dies wiederum ist dem Abweichen des Paares von der kanonischen Reiseroute geschuldet, denn Melanie und Rubehn steuern nach ihrem Veronabesuch direkt Florenz und nicht wie üblich zunächst Venedig an. 53 Melanies Klage, ob der Vielzahl der zu besichtigenden Bilder, verweist auf die beiden großen orentinischen Bildersammlungen: Zum einen auf die ‚Galleria Zweiteilung des Hauses Van der Straaten in Musik- und in Bilderschwärmer. (Vgl. 54-55) Auch ihre Bekundung: „Ach, Ezel, Du weißt ja, ich kenne keine Bilder.“ (21) bezeugt dies. 49 Der Parkname ‚Le Cascine‘ heißt übersetzt ‚Die Meiereien‘. Hierüber wird ebenso eine Verbindung zur Tiergartenvilla, dem Ort des Ehebruchs, hergestellt, denn Melanie und Riekchen trinken unmittelbar vor Rubehns Antrittsbesuch aus „[...] Milchsatten [...].“ (74), einem typischen Meiereiaccessoire der Romanzeit. Vgl. mit Blick auf die Pfaueninsel und die dortige Meierei Fußnote 27 auf Seite 121 dieser Arbeit. 50 Fontane selbst bedient sich ebenfalls des vergleichenden Sehens, wenn er bei seinem Spaziergang durch die „Le Cascine“ diese mit der Rotten-Row im Londoner Hyde-Park und mit der heimatlichen Hofjägerallee in Beziehung setzt. (Vgl. Rt, S. 318-329.) Auch in Fontanes Reisebeschreibung „Jenseit des Tweed“ wird die Fremde mit Elementen der Nähe und Verwandtschaft verglichen. (Vgl. hierzu ausführlicher Michael Maurer: Lieux des mémoire: Fontanes Schottland-Reise ( Jenseit des Tweed). In: Theodor Fontane. Berlin, Brandenburg, Preußen, Deutschland, Europa und die Welt. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen, Richard Faber und Helmut Peitsch. Würzburg 2014 (= Fontaneana; Band 13), S. 59-78, hier S. 72.) 51 Dies folgt aus der Romanchronologie: Van der Straaten erklärt Melanie im Januar 1875, dass er letzten Sommer beim gemeinsamen Besuch in Venedig die ‚Adultera‘-Kopie in Auftrag gegeben habe, (Vgl. 14) also entsprechend im Sommer 1874. Im Januar 1876 iehen Melanie und Rubehn nach Italien und erreichen Ende Februar Rom. (Vgl. 121) 52 Interessanterweise vergleicht Emilie Fontane ebenfalls den Ponte Vecchio mit der Rialtobrücke. Dies ist jedoch weit weniger bemerkenswert, weil die Fontanes zunächst nach Venedig und direkt im Anschluss nach Florenz reisen. (Vgl. Rt, S. 343.) 53 Vgl. Fußnote 46 auf Seite 254 dieser Arbeit. <?page no="268"?> 256 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ degli U zi‘, welche als Höhepunkt der Sammlungen der Welt gilt 54 und zum anderen auf die Sammlung im ‚Palazzo Pitti‘. Beide Museen verweisen auf den Bildersammler Van der Straaten: Vor der Unterbringung von Gemälden ist die ‚Galleria degli U zi‘ ursprünglich als Bürokomplex konzipiert worden 55 und erinnert somit an das kommerzienrätliche Wohn- und Arbeitszimmer (8) mit den vielen nachgedunkelten Bilder[n.] (17) Des Weiteren korrespondiert die Zweckentfremdung der U zien mit der außergewöhnlichen Nutzung des Entrées der Van der Straatenschen Gemäldegalerie als Speisesaal. (Vgl. 26) Der „Palazzo Pitti“ beherbergt - genau wie das Van der Straatensche Stadthaus (Vgl. 26) - im Obergeschoss des Seiten ügels eine Gemäldegalerie. 56 Dort be ndet sich unter anderem 57 das Renaissancegemälde „Vision des Ezechiel“ (ca. 1518) von Ra ael, 58 so wie Ezechiel Van der Straaten in seiner Galerie (16) seine eigene Vision in Form der Tintoretto-Kopie beherbergt. (Vgl. 14) Die Musikschwärmerin Melanie kann sich in der Bilderstadt Florenz kaum wohlfühlen, 59 ist sie doch hier über die Vielzahl der Bilder erneut mit der Bilderschwärmerei des Kommerzienrats und damit einhergehend den unterschiedlichen und sich widersprechenden Rollenvorstellungen konfrontiert, die dieser ihr zugewiesen hat. 60 54 Vgl. Karl Baedeker: Italien. Erster Theil: Ober-Italien (1877), S. 328. 55 Das italienische Wort ‚u cio‘ bedeutet übersetzt Büro. Im Obergeschoss, italienisch galleria, der U zien hat Francesco I. de’ Medici die Kunstsammlung der Familie untergebracht. Hier taucht das erste Mal überhaupt das Wort Galerie für eine Kunstsammlung auf, das seither auf die Kunstsammlungen der Welt übertragen wird. Die ständige Erweiterung der Sammlung in den U zien führt dazu, dass das Gebäude seit Anfang des 18. Jahrhunderts ausschließlich als Museum genutzt wird. (Vgl. Luisa Becherucci: Schätze der U zien-Galerie. Florenz 1998, S. 8 sowie Gloria Fossi: Galerie der U zien. O zieller Führer. Alle Werke. 6. Au age. Florenz 2005, S. 8.) 56 Vgl. Karl Baedeker: Italien. Erster Theil: Ober-Italien (1877), S. 367. 57 Hier gibt es außerdem den Saal der Venus. Darin be nden sich neben Gemälden von Tizian auch Tintorettos „Vulkan mit Venus und Amor“. (Vgl. ebd., S. 368.) 58 Vgl. ebd., S. 368. Fontane selbst hat die dortigen Werke Ra aels - eigentlich Ra aello Sanzio da Urbino (1483-1520) - besichtigt. (Vgl. Rt, S. 343.) 59 Dies ndet seine Korrespondenz in der Tatsache, dass Tizian, für den Melanie schwärmt, (Vgl. 33) von den orentinischen Medici nie akzeptiert worden ist. (Vgl. Wolfgang Braunfels: Kleine italienische Kunstgeschichte, S. 353.) Außerdem lässt Melanie die Madonnen von Murillo nicht gelten, (Vgl. 34) während sich jedoch eine dieser im Palazzo Pitti be ndet. Diese wiederum zählt Fontane zu den fünf ihn bislang am meisten beeindruckenden Bildern seiner Reise. (Vgl. Rt, 328.) 60 Zum einen sieht Van der Straaten Melanie als potentielle Ehebrecherin, zum anderen bezeichnet er sie als „[...] süße[n] Engel[.] [...]“ (35) Hier sei noch einmal an den Unter- <?page no="269"?> 5.3 Florenz 257 Noch eine weitere Lesart erö net sich durch Melanies Hinweis auf Duquede sowie die vielen Engländer, die Florenz bevölkern: 61 Die englische Grand Tour des 18. Jahrhunderts soll dem Reisenden helfen, sich von der Melancholie zu heilen. 62 Auch Duquede ist von einer Form der Melancholie betro en, denn er wird als milzsüchti[g] (24) beschrieben, was wiederum der sogenannten ‚englischen Krankheit‘ - dem Spleen, der sich in der Nörgelsucht manifestiert - entspricht. 63 Auf diese Weise wird über den spleenigen „Herr[n] Negationsrath“ (24) Duquede und die vielen Engländer in Florenz Melanies bald wieder eintretende Melancholie (126) in Rom vorweggenommen, wo es zu jener Zeit gleichfalls eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an Engländern gibt. 64 Damit korrespondierend ähnelt Florenz auch topographisch der Stadt Rom, denn Florenz, welches Dante als schönste und berühmteste Tochter Roms bezeichnet, soll nach dem schied zwischen dem Kommerzienrat und Rubehn erinnert, der ihr einen gemischten Charakter attestiert: „Ich bin nicht der Narr, der von Engeln spricht. Sie war keiner und ist keiner. Gewiß nicht. Aber ein freundlich Menschenbild ist sie[.] [...]“ (103) 61 Engländer haben im 19. Jahrhundert mehr als jede andere auswärtige Nation Florenz geprägt. (Vgl. Bernd Roeck: Florenz 1900. Die Suche nach Arkadien. 2. Au age. München 2002, S. 181.) Deshalb gibt es in Florenz beispielsweise einen englischen Friedhof und auch die berühmte Liebesgeschichte zwischen dem englischen Schriftstellerpaar Elizabeth Barret und Robert Browning spielt sich hier ab: Beide iehen nach Italien und lassen sich anschließend in Florenz nieder. (Vgl. hierzu Elsemarie Maletzke: Eine Liebe in Florenz. Elizabeth Barret und Robert Browning. Berlin 2011.) 62 Vgl. Jean Starobinnski: Die Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 151. Dabei erweist sich jedoch der Museumsbesuch als Therapie gegen die Melancholie als Trugschluss. (Vgl. ebd., S. 153.) So hat auch Melanie das Gefühl der Überforderung: „[...] mit den Bildern wird man nicht fertig.“ (124) 63 Vgl. hierzu Alfred Bellebaum: Langeweile. Überdruss und Lebenssinn. Eine geistesgeschichtliche und kultursoziologische Untersuchung. Opladen 1990, S. 55. 64 Nach Abschluss ihrer Schulausbildung reisen die begabtesten jungen Männer der englischen Aristokratie im Rahmen der Grand Tour nach Italien. Diese dauert etwa zehn Monate, in der Regel von September bis Juli. Den Winter verbringt man in Rom. (Vgl. Jan Pieper: Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne - Zur Einführung. In: Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne. Hrsg. von Joseph Imorde und dems. Tübingen 2008 (= Reihe der Villa Vigoni; Band 20), S. 3-9, hier S. 4.) So konstatiert Aleida Assmann: „Für die Engländer ist Italien über fünf Jahrhunderte normative Orientierung, Sehnsuchtsort und kulturelles Alter ego gewesen.“ (Aleida Assmann: Römische Reisen in der englischen Romantik. In: Rom - Europa. Tre punkt der Kulturen: 1780-1820. Hrsg. von Paolo Chiarini und Walter Hinderer. Würzburg 2006 (= Stiftung für Romantikforschung; Band 36), S. 257-272, hier S. 257.) <?page no="270"?> 258 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ Vorbild der Ewigen Stadt erbaut worden sein. 65 Melanies implizite Kritik an der hohen Anzahl der Engländer 66 entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie, weil die Existenz ebenjener Gemeinde dem Liebespaar die Neuverheiratung in Rom unter dem Schutz der anglikanischen Kirche ermöglicht. 67 Melanies Beschreibung des Herzogspalast[es] (124) - also des Palazzo Vecchio 68 - als Hauptsehenswürdigkeit der Stadt[,] (124) bildet eine weitere interessante Analogie zum heimatlichen Tiergarten: Und am schönsten nden sie den kleinen Thurm, der aus der Mitte des Palastes aufwächst, nicht viel anders als ein Schornstein mit einem Kranz und einer Galerie darum. (124-125) Obwohl der 65 Vgl. Wolfgang Braunfels: Mittelalterliche Stadtbaukunst in der Toskana. 7. Au age. Berlin 2012, S. 131. Dieser nicht zwangsläu g o ensichtliche Eindruck basiert auf den gleichen Reliquien, Prozessionswegen und Kirchennamen mit ähnlichen topographischen Anordnungen, beispielsweise diesseits und jenseits des Flusses oder innerhalb respektive außerhalb der Stadtmauern. (Vgl. ebd., S. 134.) 66 Vgl. zur allgemein kritischen Wahrnehmung englischer Touristen in Italien durch Deutsche im 19. Jahrhundert Sandra Abderhalden: Esskultur und kulturelle Identität. Engländer in Italien im frühen neunzehnten Jahrhundert. In: Schöne Kunst und reiche Tafel: über die Bilder der Speisen in Literatur und Kunst. Belle arti e buona tavola: sul signi cato delle pietanze nell’ arte e nella letteratura. Beiträge der Tagungen Gießen (11./ 12. Oktober 2014) und Urbino (14./ 15. Oktober 2014). Atti dei convegni di Gießen (11/ 12 ottobre 2014) e Urbino (14/ 15 ottobre 2014). Hrsg. von / a cura di Sandra Abderhalden, Michael Dallapiazza, Lorenzo Macharis und Anette Simonis. Bern, Berlin, Brüssel 2015 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Kongressberichte; Band 123), S. 341-352, hier S. 344-350. Beispielhaft dafür steht etwa folgende Zeitungsnotiz: „Ein garstig störendes Element [...] ißt seit sechzig Jahren zum römischen Carneval hinzugekommen: die Engländer. Ihre Zahl wächst von Jahr zu Jahr wie die der Flöhe in den römischen Betten.“ (Beilage zur Allgemeinen Zeitung. Nr. 65. Sonnabend, den 6. März 1847. Verlegt von der Cotta’schen Buchhandlung Stuttgart. Augsburg 1847, S. 513, Spalte 2.) 67 Die problemlose Wiederverheiratung garantiert auch beim außerliterarischen Vorbild die anglikanische Kirche: Gustav Simon und Therese Ravené heiraten „in Helgoland oder gar in England“. (Therese Wagner-Simon: Das Urbild von Theodor Fontanes „L’Adultera“, S. 24.) „Die Scheidung selbst wird erst durch die „Einführung der obligatorischen Zivilehe [...] in den 70er Jahren [des 19. Jahrhunderts] möglich.“ (Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 109.) 68 Fontane hat während seines Aufenthalts in Florenz den Palazzo Vecchio besichtigt und das Bauwerk bewundert. (Vgl. Rt, S. 320.) Die Annahme von Dirk Mende oder auch Gabriele Radecke, es handle sich bei dem Herzogspalast um den Palazzo Pitti, ist nicht zutre end. (Vgl. Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 324 sowie LA, Anmerkungen, S. 256.) <?page no="271"?> 5.3 Florenz 259 Palazzo Vecchio keinerlei architektonische Gemeinsamkeiten zum Kuppelbau des Van der Straatenschen Palmenhauses aufweist, nehmen die beiden Begri e Schornstein (125) und Galerie (125) Bezug auf den ehebrecherischen Aufenthalt von Melanie und Rubehn: Und nun gingen sie zwischen langen und niedrigen Backsteinöfen hin[.] (92-93) Der Ehebruch selbst ndet dann in der Laube (93) der Galerie (93) statt. 69 Melanies Vergleich ist auch deshalb bemerkenswert, weil der Palazzo Vecchio gemeinhin als „kleines Florenz“ 70 gesehen wird, wobei sein Kranzgesims die orentinische Stadtmauer mit ihren Torbögen und Zinnen abbildet. Aus diesem Kranzgesims ragt der hohe Turm 71 gleichsam wie eine kleine Festung empor, der im Volksmund daher „una rocca“ 72 getauft worden ist, so wie auch beim Ehebruch im Palmenhaus das Bild einer Festung evoziert wird, wenn der Erzähler beschreibt: [U]nd die Rüstung ihres Geistes lockerte sich und löste sich und el. (94) Die so hergestellte Korrespondenz ebenjener Hauptsehenswürdigkeit der Stadt (124) mit dem Ort des Ehebruchs prä guriert den späteren Handlungsverlauf insofern, als dass Melanie durch ihren Ehebruch selbst zur „[...] Sehenswürdigkeit“ [...] (144-145) avancieren wird. Und in der Nähe be ndet sich eine lange schmale Gasse, die neben der Hauptstraße herläuft und in der beständig Wachteln am Spieß gebraten werden. Und Alles riecht nach Fett, und dazwischen Lärm und Blumen und aufgethürmter Käse, so daß man nicht weiß, wo man bleiben und ob man sich mehr entsetzen oder freuen soll. (125) Ebenjene lange schmale Gasse (125) erinnert an den langen und schmalen Spaliergang (87) im Van der Straatenschen Park, den Melanie und Rubehn entlang spazieren und hierbei in Analogie zu Adam und Eva über Scham und Schuld sprechen. Und auch damals schwankt Melanie in Anbetracht der rückseitige[n] 69 Möglicherweise versteckt sich hinter dem Umstand, dass Florenz voller Engländer (124) sei, ebenso ein Hinweis auf das Palmenhaus des Kommerzienrats, gebaut nach dem Vorbilde der berühmten englischen Gärten in Kew[.] (87) 70 Wolfgang Braunfels: Mittelalterliche Stadtbaukunst in der Toskana, S. 201. 71 Zugleich handelt es sich bei dem Turm um einen sogenannten Geschlechterturm, so wie Rubehn im Palmenhaus sein eigenes Geschlecht vermehrt. (Vgl. zur Geschichte der Geschlechtertürme in der Toskana Klaus Zimmermann: Toscana. Hügelland und die historischen Stadtzentren. Ost ldern 2008 (= DuMont Kunst Reiseführer), S. 35-36.) 72 Wolfgang Braunfels: Mittelalterliche Stadtbaukunst in der Toskana, S. 201. <?page no="272"?> 260 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ Drapirung (87) Heths zwischen Entsetzen und Freude. (Vgl. 125) Zugleich erinnert Melanies Beschreibung von der Fülle an Speisen - insbesondere von Käse - in der orentinischen Gasse an das kleine Diner, opulenter als gedacht, (86) - es sei auch an den „[...] Stilton-Käse [...]“ (83) gedacht - welches dem Ehebruch unmittelbar vorausgeht und von mir als Hochzeitsmahl interpretiert wird. 73 Eine Bestätigung dieser Lesart ndet sich gerade in der Erwähnung ebenjenes aufgethürmte[n] Käse[s,] (125) denn die orentinischen Käsehändler stehen unter dem Patronat des Bartholomäus. 74 Somit evoziert der Käse eine Verbindung zwischen Bartholomäus und dem so gedeuteten Hochzeitsmahl im Tiergarten am Bartholomäustag, bei dem der gerade getaufte Rubehn 75 als Bräutigam erscheint, so wie Bartholomäus selbst als Bräutigam der „Hochzeit zu Cana“ (26) in Erscheinung tritt, 76 was Rubehn gleichsam erneut als den richtigen Bräutigam imaginiert. So wird Melanie über die orentinische Topographie einerseits mit ihrem Ehebruch sowie ihrer daraus resultierenden „[...] Schuld [...]“ (117) konfrontiert, andererseits wird über den Hinweis auf die vielen Engländer sowie die Nennung Duquedes ihr bald wieder einsetzender melancholischer Gemütszustand antizipiert. 5.4 Rom - Verhinderte Buße, Hochzeit und Depression 5.4.1 Hochzeit und Landpartie nach Tivoli Melanie und Rubehn tre en Ende Februar in Rom (121) ein. Zunächst ist der Aufenthalt von einer Zeit des Wartens und des monatelange[n] Eingeschlossensein[s] (121) gekennzeichnet. Nach Ostern ndet dann ihre Hochzeit statt, der sich eine Landpartie nach Tivoli in den Garten der Villa d’Este anschließt: Auch ein paar Freunde waren zugegen und unmittelbar nach der kirchlichen Handlung brach man auf, um, nach monatelangem Eingeschlossensein in der Stadt, einmal außerhalb ihrer Mauern aufathmen und sich der Crocus- und Veilchenpracht in Villa d’Este freuen zu können. Und Alles freute sich wirklich, am meisten aber Melanie. Sie war glücklich, 73 Vgl. dazu Seite 189 dieser Arbeit. 74 Vgl. Joachim Schäfer: Bartholomäus. 75 Vgl. hierzu Seite 178 dieser Arbeit. 76 Vgl. hierzu Seite 179 dieser Arbeit. <?page no="273"?> 5.4 Rom - Verhinderte Buße, Hochzeit und Depression 261 unendlich glücklich. Alles was ihr das Herz bedrückt hatte, war wie mit einem Schlage von ihr genommen und sie lachte wieder, wie sie seit lange nicht mehr gelacht hatte, kindlich und harmlos. Ach, wem dies Lachen wurde, dem bleibt es, und wenn es schwand, so kehrt es wieder. Und es überdauert alle Schuld und baut uns die Brücken vorwärts und rückwärts in eine bessere Zeit. (121-122) Die Villa d’Este be ndet sich circa 27 Kilometer östlich von Rom und liegt am Aniene, einem Neben uss des Tiber. 77 Der berühmte Park der Villa d’Este gilt als Höhepunkt „ausschweifender Prachtentfaltung“ 78 der Renaissance und als einer der bedeutendsten italienischen Parks der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 79 Bis heute steht jener Park für die Umsetzung einer einzigartigen Wasserbaukunst, 80 weil er wie kein anderer für die künstlerische Einbettung des Wassers in die Landschaft steht. 81 So erscheint das dort von Melanie empfundene Glück im Zusammenhang mit dem Element Wasser folgerichtig, ist doch ihre Venushaftigkeit nicht zuletzt durch Rubehns Anspielungen in der Tiergartenvilla hinlänglich etabliert, 82 was unter anderem seine Fortsetzung ndet, wenn er sie während der 77 Vgl. Karl Baedeker: Italien. Handbuch für Reisende. Zweiter Theil: Mittel-Italien und Rom. Mit 1 Panorama, 7 Karten und 27 Plänen. Sechste verbesserte Au age. Leipzig 1880, S. 364. 78 Hans von Trotha: Gartenkunst, S. 86. 79 Die Villa d’Este ist zu dieser Zeit die Wohnstätte von Kardinal Ippolito II. d’Este (1509- 1572). Weil ihm das im Jahr 1550 als Statthalter zugewiesene Benediktinerkloster zu anspruchslos ist, lässt er es im großen Stil umbauen. (Vgl. Sergio Cartocci: Tivoli und seine Kunstschätze. Rom 1970, S. 15.) 80 Der Garten mit einer Gesamt äche von 35.000 Quadratmetern beherbergt 250 Springbrunnen, 50 Brunnenanlagen, 255 Kaskaden und 100 Becken. Um die Wasseranlage zu unterhalten werden dem Aniene 1200 Liter Wasser pro Sekunde entnommen. (Vgl. ebd., S. 25.) Dies wird bemerkenswerterweise ohne „auch nur die geringste Verwendung von motorischer Triebkraft“ (Ebd., S. 20.) erreicht. Um dieses gigantische Garten- und Wasserbauprojekt zu realisieren, verschwindet hierfür Valle Gaudente, ein ganzes Stadtviertel von Tivoli. (Vgl. ebd., S. 21.) Franz Wallner (1810-1876) beschreibt eindringlich die Schönheit der Villa d’Este: „Im Garten dieser Villa, von dessen Terrasse die ganze Gebirgskette, die Campagna von Rom, bis zur Kuppel der Peterskirche sich in wundervoller Klarheit abzeichnet - sind eine solche Anzahl von Fontainen, Brunnen, Bassins und Wasserkünste angebracht, daß sich ihre Anzahl auch nicht einmal annähernd angeben läßt.“ (Franz Wallner: Wenn Jemand eine Reise thut. Flüchtige Reiseskizzen von der Spree bis zur Tiber, von der Tiber bis zum Vesuv. Berlin 1867, S. 90.) 81 Vgl. Sergio Cartocci: Tivoli und seine Kunstschätze, S. 20. 82 Vgl. hierzu Seite 96 und 131 dieser Arbeit. Man beachte hier auch ihre eigene A nität zu Venedig und dem Venusmaler Tizian. <?page no="274"?> 262 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ Bootsfahrt von Stralau nach Treptow gleichsam als Melusine imaginiert: „Ist es immer nur das Wasser, dem Sie die Hand reichen, Freundin? “ (75) 83 Ebenjenes Bild wird erneut evoziert, wenn Melanie erst mit dem Aufenthalt am schäumenden Inn [...] wieder aufathmen (123) kann. Abermals zeigt sich dies in Tivoli, denn auch im Park der Villa d’Este kann Melanie aufathmen . (121) Ähnlich wie im Park der Tiergartenvilla ist sie hier glücklich, unendlich glücklich[,] (121) was auch mit der Entfernung zur Stadt, genauer zu den beiden Petrusstädten Cölln respektive Rom, einhergeht. 84 So erlebt Melanie in Tivoli einen „Moment schrankenlosen Glücks“, 85 was Hugo Caviola in der topographischen Lage Italiens begründet sieht: „Jenseits der Alpen, jenseits des Realitätsgefüges der Berliner Gesellschaft, sind die Abtrünnigen auf einmal befreit von sozialen De nitionen.“ 86 Caviolas Einschätzung ist jedoch bei genauerer Betrachtung kaum haltbar, wenn man bedenkt, dass das Leben der Liebenden zunächst einhergeht mit einem monatelange[n] Eingeschlossensein in der Stadt, (121) die neue Welt der Liebenden somit zum Gefängnis wird 87 83 Erneut sei an Czakos Maxime im ‚Stechlin‘ erinnert: „„Versteht sich, Melusine is mehr. Alles, was aus dem Wasser kommt, ist mehr. Venus kam aus dem Wasser. [...]““ (DS, S. 252.) Fontanes Frauen guren sind „zumeist verborgene Melusinengestalten, ihre Natur aus dem Wasser oder nahe am Wasser [...].“ (Hans-Georg Pott: Eigensinn des Alters. Literarische Erkundungen. München 2008, S. 139. Vgl. zum Melusinenmotiv bei Fontane auch Irmgard Roebling: „E komm“ - Der Weg zu Fontanes berühmtester Kindsbraut, S. 294 sowie ausführlicher Wolfgang Paulsen: Im Banne der Melusine.) 84 Vgl. hierzu Melanies Glück ihrer Freiheit (46) in der Tiergartenvilla in den Sommermonaten, das eine Verbindung mit dem Garten der Villa d’Este herstellt: Wohl, es war ihr so frei geworden an diesem Tag[.] (122) 85 Hugo Caviola: Zur Ästhetik des Glücks, S. 315. Ein weiterer Grund für Melanies Glück explizit hier mag darin gründen, dass die Gärten der Villa d’Este als die „neuen Hesperidengärten“ (Anna Schreurs: Herkules verachtet die einstigen Gärten der Hesperiden. In: Architektur und Erinnerung. Hrsg. von Wolfram Martini. Göttingen 2000 (= Formen der Erinnerung; Band 1), S. 105-127, hier S. 125.) inszeniert worden sind und ein enger Zusammenhang zwischen letzteren und Venus besteht. „[Für diesen Zusammenhang] stellt Giovanni Pontanos (1426-1503) Lehrgedicht De hortis hesperidum sive de cultu citriorum (1504) ein Beispiel dar. In dieser Interpretation der Sage von Venus und Adonis wird der sterbende Adonis in einen Orangenbaum ( citrus ) verwandelt, den Venus im Garten der Hesperiden wachsen lässt[.]“ (Antonella Ippolito: La stella Assenzio von Livia de Stefani. Ökokritik als Endzeitmythos. Berlin 2015, S. 167.) Allerdings lässt diese Lesart, die in Verbindung mit dem Tod des Adonis steht, auch die Fragilität von Melanies Glück erkennen. 86 Hugo Caviola: Zur Ästhetik des Glücks, S. 315. 87 Als antikes Vorbild für das Eingesperrtsein gelten Venus und Mars, aber auch bei „Tristan und Isolde“ wird die Minnegrotte zum Gefängnis. (Vgl. zu diesen beiden Paaren Peter von Matt: Liebesverrat, S. 58 und 61.) <?page no="275"?> 5.4 Rom - Verhinderte Buße, Hochzeit und Depression 263 und erst der Aufenthalt außerhalb ihrer Mauern (121) eine glückliche Stunde ermöglicht und zwar ausdrücklich nach der Hochzeit und damit Legitimation ihres Liebesverhältnisses. 88 Zugleich o enbart sich Melanies Glück im Park der Villa d’Este - vergleichbar mit ihrem Glück in der Tiergartenvilla - als ambivalent, 89 denn sie erfreut sich an der Crocus- und Veilchenpracht[.] (121) Einerseits stehen die beiden Frühlingsblumen für Neubeginn und Auferstehung, 90 was Melanies Wunsch nach einem neue[n] Leben (106) re ektiert und sich durch die Heirat in Rom zu erfüllen beginnt: So wird in Tivoli abermals der glückliche Ausgang des Romans angedeutet und im erzählerischen Verweis untermauert, denn Melanies Lachen dort baut Brücken vorwärts und rückwärts in eine bessere Zeit[,] (122) so wie Van der Straaten bereits mit seinem Verlangen nach Ausgleich um jeden Preis, (116) versucht hat, ihr goldne Brücken zu bauen . (116) Überdies kann ihr Lachen im Zusammenhang mit der Veilchenpracht (121) gesehen werden, denn ebenjene P anze gilt seit der Antike als Heilmittel gegen Melancholie. 91 Anderseits jedoch deutet die Veilchenpracht (121) mit ihrer Passionsfarbe Violett eine Leidensgeschichte voraus. 92 Die damit zum Ausdruck kommende Fragilität des von Melanie empfundenen Glücks spiegelt sich ebenso topographisch wider: „Der Demonstration fürstlicher Macht diente [im Garten der Villa d’Este] die Unterwerfung der Wasserläufe in ein geometrisches Gefüge, ähnlich den Beschneidungen der Bäume und der Ordnung der Beete für Blumen, Kräuter, Obst und Grünp anzen.“ 93 Gleichzeitig Im Stechlin stellt die Wasserfrau Melusine fest: „„Sich abschließen heißt sich einmauern, und sich einmauern ist der Tod.““ (DS, S. 251.) Hierzu passend bemerkt Sigrid Weigel: „Für das Weibliche versinnbildlicht die Stadtmauer [...] eine Aufspaltung in die ungebändigte Natur draußen und in die domestizierte, entsexualisierte Frau, ihre erstarrte, versteinerte, in den Mauern der Stadt buchstäblich gefangene Existenzweise: Die Stadtmauern, die sich drinnen in den Häuserwänden vervielfältigen, begrenzen den Ort der Frau im Sozialen als ‚lebendig Begrabene‘.“ (Sigrid Weigel: Topographien der Geschlechter, S. 159.) 88 Dies entspricht der Angabe des Erzählers: Alles was ihr das Herz bedrückt hatte, war wie mit einem Schlage von ihr genommen[.] (121-122) 89 Vgl. zur Ambivalenz der Tiergartenvilla Abschnitt 3.1.1 dieser Arbeit. 90 Vgl. Hans von Trotha: Gartenkunst, S. 43. 91 Vgl. Sonja Steiner-Welz: Das Große Buch der Heilp anzen und Öle. Mannheim 2004, S. 162. 92 Vgl. zur P anzensymbolik exemplarisch Hans von Trotha: Gartenkunst, S. 43. 93 Brigitte Borchhardt-Birbaumer: Wasser und Wein - Element und Elixier. Ein kunsthistorischer Traumpfad durch Villa und Garten in Renaissance und Barock. In: Wasser & <?page no="276"?> 264 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ ist die den Garten umgebende Stadt Tivoli jedoch durch den Aniene geprägt, dessen Überschwemmungen vor dem Bau der Villa Gregoriana und der damit verbundenen Sicherungsmaßnahmen eine stetige Bedrohung dargestellt haben. 94 So zeigt sich die Kraft des Flusses zur Romanzeit und noch heute durch in den Fels gespülte Grotten und einen imposanten Wasserfall im Garten der Villa Gregoriana, 95 die wiederum mit dem Kanalsystem der Villa d’Este verbunden ist. Erneut wird damit die Tiergartenvilla parallelisiert, denn ebenjene steht ebenso im Spannungsfeld zwischen gebändigtem und ungebändigtem Wasser. 96 Diese Analogie setzt sich auch dahingehend fort, dass Tivoli mit Rom durch den Aniene verbunden ist, der zur Romanzeit nördlich von Rom in den Tiber und mit diesem durch Rom hindurch ießt, genau wie die Tiergartenvilla über die Spree Verbindung zu Cölln hält. 5.4.2 Die Villa Farnesina als Ort der Erinnerung an den Ehebruch Am Hochzeitsabend schreibt Melanie den bereits erwähnten Brief an ihre Schwester Jacobine: Dort berichtet sie, dass sie ihre Zeilen in der Via Catena, einer kleinen Wein. Zwei Dinge des Lebens. Aus der Sicht der Kunst von der Antike bis heute. Hrsg. von Werner Hofmann. Wien 1995, S. 149-170, hier S. 153. 94 „Tivoli liegt auf einem hohen Berge, der von unterirdischen Gewässern so sehr durchwühlt ist, daß nicht weniger als 13 Wasserfälle daraus hervorstürzen, von denen einige zu den bedeutendsten Europa’s zählen. Schon längst wäre das ganze Städtchen von diesen brausenden Gewalten unterhöhlt worden und eingestürzt, wenn nicht Papst Gregor XVI. (1765-1846) die sämtlichen Gewässer in zwei von ihm erbaute Riesen-Tunnels hätte zusammenleiten lassen, von wo aus nun das Wasser in zwei geregelten Gefällen herabstürzt.“ (Franz Wallner: Wenn Jemand eine Reise thut, S. 87-88.) 95 „Der große Wasserfall folgt uns immerfort, die Heftigkeit des Sturzes umgiebt ihn mit einer Wolke, die wie Pulverdampf aussieht, darüber wölbt sich ein Regenbogen von unbeschreiblich intensiven Farben. - Hunderte von Grotten ndet man dort, welche alle mit einer überaus zarten Hänge-P anze - das Venushaar (sic! ) genannt - bewachsen sind.“ (Ebd., S. 89.) 96 Wird beispielsweise mit der Forti kation in Cölln oder am Ufer der römischen Via Fontanone die Bändigung des Wassers o en zur Schau gestellt, verschleiern die Wasserspiele im Garten der Villa d’Este und der Tiergartenvilla als Mittel zur Pläsier ihren das Element Wasser unterwerfenden Charakter. Andererseits scha t nicht nur die Tiergartenvilla, (Vgl. 54) sondern auch die Flora Tivolis eine Verbindung zur venusgleichen Melanie. (Vgl. die vorangehende Fußnote.) Der sich daraus ergebende Gegensatz zwischen Wasserbändigung und Venusbezügen re ektiert die Ambivalenz von Melanies Glück im Tiergarten und in Tivoli. <?page no="277"?> 5.4 Rom - Verhinderte Buße, Hochzeit und Depression 265 Querstraße, die nach dem Tiber hin führt (122) verfasst und dass ihr, wenn sie die Straße hinuntersieht, vom andern Ufer her, ein paar Lichter entgegen [blinken]. Und diese Lichter kommen von der Farnesina, der berühmten Villa, drin Amor und Psyche so zu sagen aus allen Fensterkappen sehen. (122) Die Villa Farnesina 97 wird in den Jahren 1508 bis 1511 für Agostino Chigi (1465-1520), einen der reichsten Männer der Renaissancezeit, gebaut. 98 Dabei wird der Kunstsammler Chigi als Kaufmann durch Bankgeschäfte vermögend. 99 Nicht nur zwischen Chigi und dem Kommerzienrat bestehen augenfällige Gemeinsamkeiten bezüglich ihrer beru ichen Laufbahn, ihres Reichtums 100 und ihrer Kunstsammelleidenschaft, sondern auch zwischen der Villa Farnesina und der Tiergartenvilla: Beide sind angelegt als Sommersitz außerhalb der Stadt 101 97 Die Villa be ndet sich seit 1580 im Besitz der Familie Farnese und hat daher ihren Namen. (Vgl. Karl Baedeker: Italien. Handbuch für Reisende. Zweiter Theil: Mittel-Italien und Rom. Mit 1 Panorama, 7 Karten und 12 Plänen. Vierte neubearbeitete Au age. Coblenz 1874, S. 323.) Am 01. November 1874 besucht Fontane die Villa Farnesina. Diese kann im Jahr 1874 nur am 01. und 15. eines jeden Monats besucht werden und ist vom 16. Juni bis zum 31. Oktober in der Regel geschlossen. (Vgl. ebd., S. 89.) Theodor und Emilie Fontane kommen am 15. Oktober 1874 von Florenz aus nach Rom und reisen am 01. November wieder ab. Entsprechend haben beide am einzig möglichen Tag ihres römischen Aufenthalts die Villa Farnesina besucht. (Vgl. Rt, S. 345, 371 und 372.) Emilie vermerkt in ihren Aufzeichnungen: „Um 1 Uhr in die Villa Farnes[ina]. Bis 3 Uhr die berühmten Raphaelischen Deckengemälde, das Märchen von Amor u. Psyche darstellend, durchstudirt.“ (Rt, S. 361.) Fontane hat sich dabei detaillierte Notizen zur Geschichte von Amor und Psyche gemacht. (Vgl. Rt, Anhang, S. 733.) Hier sei an Fontanes Bemerkung zur römischen Topographie erinnert: „Das Gefühl, „dies mußt du sehn“ hab’ ich nie, wenn nicht die Dinge entweder billig und bequem zu haben sind, oder meinen ganz speziellen Zwecken dienen.“ (Theodor Fontane: Brief an Emilie Fontane vom 28. August 1874, S. 22.) 98 Vgl. detailliert zur Baugeschichte Christoph Luitpold Frommel: Die Farnesina und Peruzzis architektonisches Frühwerk. Berlin 1961, S. 23-33. 99 Alfred von Reumont: Geschichte der Stadt Rom. Dritter Band. Erste Abtheilung. Berlin 1868, S. 399-400. 100 Während Van der Straaten [a]n der Börse [...] bedingungslos (5) gilt, streckt Chigi aufgrund seines Reichtums der Republik Venedig ein Darlehen von 100.000 Goldgulden ohne Zins vor. (Vgl. Alfred von Reumont: Geschichte der Stadt Rom. Dritter Band, S. 399.) 101 Die Villa Farnesina liegt in Trastevere, an der jenseitigen Tiberseite. Damals allerdings lässt sich Chigi seine Villa außerhalb Roms als Gartenhaus bauen, denn Trastevere wird erst später zum Stadtgebiet eingemeindet. (Vgl. ebd., S. 400.) Analoges lässt sich für den Tiergarten mit der Van der Straatenschen Sommervilla feststellen, der sich bis 1881 außerhalb des Berliner Stadtgebiets be ndet, während der <?page no="278"?> 266 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ mit jeweils einem Lustsowie Obstgarten (84), 102 die sich zum Tiber respektive der Spree hin erstrecken und am jeweiligen Fluss entlanglaufen. (Vgl. 86) 103 Der Garten der Villa Farnesina beherbergt kunstvolle Blumen- und P anzenarrangements und verfügt über ebenso kunstvoll veredelte Obstsorten von denen „ein Birnbaum, der Äpfel und ein Apfelbaum, der Birnen trägt, besonderes Erstaunen [erregen]. Ähnlich sind milde mit herben, weiche mit harten, große mit kleinen Sorten vermischt.“ 104 Auch im Anwesen des Kommerzienrats, ein noch leidenschaftlicherer Obstzüchter als Bildersammler (46) be nden sich in seinem „Orchard“ [...] allerhand Obst-Culturen [...] [die] neben dem Fluß entlang [...] (86) kultiviert werden und in kunstvoller Weise behandel[t sind]. (86) 105 Das von Melanie erwähnte Deckenfresko, aus dem Amor und Psyche so zu sagen aus allen Fensterkappen sehen[,] (122) ist von Ra ael und seinen Schülern anläßlich von Chigis Hochzeit mit der wesentlich jüngeren Venezianerin Francesca Ordeaschi gemalt worden und zeigt die Liebesgeschichte von Amor und Psyche nach Apuleius von Madaura (ca. 123-170). 106 Es be ndet sich in der Eingangsloggia, die als ursprünglich o enes Vestibül unter dem Namen ‚Loggia di Amor e Psiche‘ berühmt geworden ist. 107 Über jene o ene Loggia betritt der Besucher vom Garten aus die Villa, die in ihrer durchlässigen Konzeption eine Verbindung zwischen Villa und Garten herstellt. 108 Damit ähnelt das architek- Bezirk Tiergarten am Rande desselbigen bereits 1861 eingemeindet worden ist. (Vgl. Susanna Brogi: Der Tiergarten in Berlin - ein Ort der Geschichte, S. 66.) 102 Vgl. Christoph Luitpold Frommel: Die Farnesina und Peruzzis architektonisches Frühwerk, S. 51. 103 In den Jahren 1880 bis 1886 fällt etwa die Hälfte des einst berühmten Gartens der Farnesina den Tiberregulierungen zum Opfer. Eine breite und heutzutage stark befahrene Straße trennt seitdem die Villa vom Tiber. (Vgl. ebd., S. 22 sowie Karl Baedeker: Italien. Zweiter Theil: Mittel-Italien und Rom (1880), S. 323.) 104 Christoph Luitpold Frommel: Die Farnesina und Peruzzis architektonisches Frühwerk, S. 40. 105 [U]nd jeder einzelne Zweig gehegt und gep egt, reiften die feinsten Obstarten, während kaum minder feine Sorten an nebenher laufenden niederen Brettergestellen, etwa nach Art großer Ananas-Erdbeeren, gezogen wurden. (86) 106 Vgl. Hubertus Günther: Amor und Psyche. Ra aels Freskenzyklus in der Gartenloggia der Villa des Agostino Chigi und die Fabel von Amor und Psyche in der Malerei der italienischen Renaissance. In: Artibus et historiae. Band 44 (2001), S. 149-166, hier S. 150- 151 und S. 163. 107 Christoph Luitpold Frommel: Die Farnesina und Peruzzis architektonisches Frühwerk, S. 36. 108 Vgl. Alexis Ruth Culotta: „Finding Rome in Rome“: Reexamining Raphael’s Transformation Through His Roles at the Villa Farnesina. Washington 2014 (= Dissertation an der <?page no="279"?> 5.4 Rom - Verhinderte Buße, Hochzeit und Depression 267 tonische Setting der Villa Farnesina erneut demjenigen der Tiergartenvilla, die der Besucher gleichfalls vom Garten aus und über die Veranda betritt. 109 Darüber hinaus ist die farnesinische Vestibüllogia als Bühne konzipiert und genutzt worden, 110 so wie die Veranda der Tiergartenvilla den Anschein einer Bühne erweckt, auf der die beiden Dames d’honneur (47) jeden Morgen erscheinen. 111 Die Gartenloggia Chigis besitzt zudem „einen besonders o ziellen Charakter“, 112 erneut vergleichbar mit der kommerzienrätlichen Veranda: Denn von hundert Gästen, die kamen, begnügten sich neunundneunzig damit, den Park von hier aus zu betrachten und zu beurtheilen. (48) Überdies verfügen beide Villen über ein Speise- und Musikzimmer. (Vgl. 84) 113 Einer Erzählung aus dem Jahr 1512 zufolge verlässt die Göttin Venus mit einem großen Gefolge ihren Göttersitz und bereist den gesamten Kosmos. Zum Höhepunkt ihrer Fahrt wird Rom, wo sie zu verweilen beschließt. 114 Auf der Suche nach einer Unterkunft erblickt sie die Villa Farnesina - seinerzeit aufgrund ihrer Flussnähe Tiberpalast genannt 115 - und ist von diesem Anwesen derart angetan, dass sie sich ausschließlich hier niederlassen möchte. 116 Für die Liebesgöttin dortigen Universität). Online abrufbar unter: https: / / digital.lib.washington.edu / researchworks/ handle/ 1773/ 27473 (letzter Zugri am 20.02.2023), S. 148. Bereits 1880 beschreibt der Baedeker, dass die ursprünglich o ene Halle inzwischen zur Schonung der Fresken mithilfe von Glasscheiben geschlossen ist. Der Besucher betritt die Villa trotzdem weiterhin über die Loggia. (Vgl. Karl Baedeker: Italien. Zweiter Theil: Mittel-Italien und Rom (1880), S. 323.) Heute hingegen be ndet sich der Haupteingang der Villa auf der Südseite. 109 Sowohl die Loggia der Farnesina als auch die Veranda der Tiergartenvilla sind dabei nach Norden ausgerichtet. (Vgl. zur Farnesina La Villa Farnesina/ The Villa Farnesina in Rome. A cura di/ edited by Gianfranco Malafarina. Modena 2003, S. 25.) Die Ausrichtung der Tiergartenvilla wird über die Erwähnung der Spree deutlich, die Melanie von der Veranda aus sehen kann und die demnach Richtung Norden zeigt. (Vgl. 48) 110 Christoph Luitpold Frommel: Die Farnesina und Peruzzis architektonisches Frühwerk, S. 36-37. 111 Vgl. Seite 133 dieser Arbeit. 112 Hubertus Günther: Amor und Psyche, S. 151. 113 Vgl. zur Villa Farnesina Christoph Luitpold Frommel: Die Farnesina und Peruzzis architektonisches Frühwerk, S. 47. 114 Damit vergleichbar beschließen auch die venushafte Melanie und Rubehn in Rom zu verweilen. (Vgl. 121) 115 Vgl. Christoph Luitpold Frommel: Die Farnesina und Peruzzis architektonisches Frühwerk, S. 9. 116 Vgl. ebd., S. 5. Jacob Burckhardt bezeichnet die Villa Farnesina als „das schönste Sommerhaus der Erde“ ( Jacob Burckhardt: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke <?page no="280"?> 268 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ Venus ist die Villa Farnesina demzufolge ein ähnlicher Sehnsuchtsort wie die Tiergartenvilla (Vgl. 16, 46) für die venusgleiche Melanie. Nicht nur über die Liebesgöttin Venus wird die Farnesina erotisch konnotiert, sondern gleichfalls durch die Loggia di Amor e Psiche, genauer durch die Art wie Girlanden aus P anzen, Blumen und Früchten die Freskenausstattung rahmen. 117 Außerdem erscheint die Loggia wie eine Laube 118 und zitiert in Kombination mit den Blumen- und P anzengirlanden den Ort des Ehebruchs im kommerzienrätlichen Palmenhaus: [E]s war eine phantastisch aus Blattkronen gebildete Laube, fest geschlossen, und überall an den Gurten und Ribben der Wölbung hin rankten sich Orchideen[.] (93) So verbindet auch Melanie die Themen Erotik und Normeinhaltung mit dem Deckenfresko, wenn sie im Brief an ihre Schwester einräumt: Und diese Lichter kommen von der Farnesina, der berühmten Villa, drin Amor und Psyche so zu sagen aus allen Fensterkappen sehen. Aber ich sollte nicht so scherzhaft über derlei Dinge sprechen, und ich könnt’ es auch nicht, wenn wir heute nicht in der Capelle gewesen wären. Endlich, endlich! [...] und das Bild, Du weißt schon, über das ich damals so viel gespottet und gescherzt habe, es will mir nicht aus dem Sinn. Immer dasselbe ‚Steinige, steinige‘. Und die Stimme schweigt, die vor den Pharisäern das himmlische Wort sprach. (122-123) Sowohl bei der Bootsfahrt von Stralau nach Treptow, als auch nach dem Ehebruch im Van der Straatenschen Palmenhaus deuten Lichter (95, 122, vgl. 77) nach erfolgtem Grenzübertritt eine Rückkehr in die Gesellschaft an. (Vgl. 95) 119 Italiens. Zweite Au age. Bearbeitet von A. von Zahn. Band I. Architektur. Leipzig 1869, S. 311.) und konstatiert: „Es ist unmöglich, eine gegebene Zahl von Sälen, Hallen und Gemächern anmutiger in zwei Stockwerken zu disponiren als hier geschehen ist.“ (Ebd., S. 311.) „Die Farnesina wird zur Residenz der Venus. Diese Eloge könnte sich auf die ungewöhnlich häu ge Präsenz der Venus in Ra aels Fresken beziehen.“ (Hubertus Günther: Amor und Psyche, S. 162.) 117 Dies ist sowohl durch Giorgio Vasari (1511-1574) als auch Paolo Giovi (1483-1552) bezeugt: „Vasari behauptet sogar, in den Fruchtgirlanden, die die Bildfelder rahmen, werde absichtlich ein Phallus evoziert.“ (Ebd., S. 162.) 118 Vgl. La Villa Farnesina/ The Villa Farnesina in Rome. A cura di/ edited by Gianfranco Malafarina, S. 11. 119 Und sieh, es war, als ob der Bootsjunge von derselben Frage beunruhigt worden wäre, denn er sprang plötzlich auf und sah sich um, und wahrnehmend, daß sie weit über die rechte Stelle hinaus waren, gri er jetzt mit beiden Rudern ein und warf die Jolle nach links herum, um so schnell wie möglich aus der Strömung heraus und dem andern Ufer wieder näher zu <?page no="281"?> 5.4 Rom - Verhinderte Buße, Hochzeit und Depression 269 Die Liebesgeschichte von Amor und Psyche, auf die Melanie anspielt, besteht gleichfalls aus einem Grenzübertritt - in Form der unerlaubten Liebe zwischen dem göttlichen Amor und der sterblichen Psyche - sowie der späteren Rückkehr respektive Eingliederung in die olympische Gesellschaft. Melanie jedoch hat keinen Blick für den positiven Ausgang der Sage, denn sie verknüpft diese mit der Van der Straatenschen ‚Adultera‘-Kopie sowie ihrem eigenen Grenzübertritt, dem Ehebruch. Hierbei hält sie eine Rückkehr in die Gesellschaft momentan für verschlossen, denn sie schreibt: Und die Stimme schweigt, die vor den Pharisäern das himmlische Wort sprach. (123) 120 In ihrer ikonographischen Ausstattung antizipieren die Fresken der Farnesina einerseits eine Zeit der schweren Prüfungen, denn so wie Psyche nach ihrem Vergehen etliche Prüfungen bewerkstelligen und sich bewähren muss, 121 wird sich auch Melanie „[...] bewähren [...]“ (155) und beweisen (125) müssen. Andererseits wird über die Fresken im Gewölbe der Loggia eine spätere gesellschaftliche Vergebung antizipiert, denn Höhepunkt der Sage ist die Hochzeit von Amor und Psyche im Olymp sowie Psyches Vergöttlichung und gesellschaftliche Aufnahme, 122 so wie Melanie und Rubehn später gesellschaftlich wieder au eben (159) werden. Zugleich beschreibt die Geschichte die „unwiderstehliche Macht der Liebe“, 123 die auch Melanie gegenüber ihrer Schwester betont: Denn sieh, ich konnte nicht anders. (125) kommen. [...] [U]nd ehe fünf Minuten um waren, erkannte man die von zahllosen Lichtern erhellten Baumgruppen des Treptower Parks, und Rubehn und Melanie hörten Anastasia’s Lachen auf dem vorau ahrenden Boot. (77) Melanie wurde roth bis an die Schläfe. Aber die Dunkelheit half es ihr verbergen. Und so schritten sie der Villa zu, darin schon die Lichter brannten. (95) 120 Hierin zeigt sich die bisweilen latente Unzuverlässigkeit des Erzählers, der glauben machen möchte, Melanie hätte das Bild vergessen: Aber nun war es vorüber. Das Bild erhielt seinen Platz in der Galerie, man sah es nicht mehr[.] (16) Melanies Aussage wird von Martin Nies schlüssig als Hinweis dafür gewertet, wie sehr sich die Themen Treue und Ehebruch über das Gemälde in ihrem Bewusstsein etabliert haben. (Vgl. Martin Nies: Venedig als Zeichen, S. 200.) 121 Vgl. hierzu Elisabeth Frenzel: Sto e der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 7. Au age. Stuttgart 1988, S. 41. 122 Hubertus Günther: Amor und Psyche, S. 151 sowie Christoph Luitpold Frommel: Die Farnesina und Peruzzis architektonisches Frühwerk, S. 7. 123 Leopold Fürstedler: Die Götterwelt der Alten, oder vollständige Darstellung der Mythologie der alten Griechen, Römer, nebst einem Anhange enthaltend eine kurze Schilderung der Sitten und Gebräuche dieser Völker und die Mythologie der alten Deutschen. Pest[h] 1846, S. 79. <?page no="282"?> 270 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ Die Villa Farnesina weist, wie beschrieben, bemerkenswerte Ähnlichkeiten zur Tiergartenvilla auf und kann daher als Stellvertreterort des Ehebruchs gelesen werden. Unterstrichen wird diese Lesart durch Melanies eigene Verknüpfung der Lichter und der Freskomalerei mit ihrem Ehebruch. (Vgl. 122) Durch die topographische Lage ihrer römischen Unterkunft mit Blick auf die Villa Farnesina wird Melanie beständig mit ihrem Ehebruch und ihren daraus resultierenden Schuldgefühlen konfrontiert: „[...] Und keiner kann vergessen. Erinnerungen aber sind mächtig, und Fleck ist Fleck, und Schuld ist Schuld.“ (117) Im Obergeschoß der Villa Farnesina be ndet sich im Schlafzimmer ein Bildnis, bei dem Hymenaios, der griechische Gott der Hochzeiten, eine Hochzeitsfackel entzündet. 124 Weil bei der Rückkehr des frischvermählten Paares aus Tivoli an ihrem Hochzeitstag die tre iche römische Wirthin außer dem hohen Kaminfeuer auch schon die dreidochtige Lampe angezündet hatte, (122) wird ebenjenes Bild vom Gott Hymenaios, „eine[r] zarte[n], fast weibliche[n] Schönheit“ evoziert. 125 Da die Villa Farnesina als Stellvertreterort für den Ehebruch gelesen werden kann, versinnbildlicht das Entzünden der Hochzeitsfackel - in Analogie zum kirchlichen Setting des Palmenhauses 126 - gleichsam erneut die Legitimität ihres Liebesverhältnisses. Des Weiteren erinnert das hoh[e] Kaminfeuer (122) an das Abschiedsgespräch zwischen Van der Straaten und Melanie, insbesondere an das dortige Kaminfeuer (Vgl. 112) mit der ihm eingeschriebenen spezi schen Liebessemantik. 127 Da sich bereits gezeigt hat, dass Lichter für die Rückkehr aus einem Grenzübertritt in die Gesellschaft stehen, kann dies ebenso für das entzündete Licht am Hochzeitsabend gelten, denn durch die Hochzeit legitimiert das Liebespaar nachträglich seinen Grenzübertritt. 124 Vgl. German Hafner: Geschichte der griechischen Kunst. Zürich 1961, S. 340. Im Roman „Unwiederbringlich“ gibt es eine Szene, in der Holk an seinem ersten Abend in Kopenhagen von seiner Wirtin Brigitte Hansen mit einer Lampe in der Hand empfangen wird. Dieses antike Bild kann als Szene aus „Amor und Psyche“ oder als Verweis auf „Hero und Leander“ verstanden werden. Beide antiken Bilder gurieren eine Liebende, die auf ihren Geliebten wartet. (Vgl. Claudia Liebrand: Geschlechterkon- gurationen in Fontanes „Unwiederbringlich“, S. 163.) 125 Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Hrsg. von W.[ilhelm] H.[einrich] Roscher im Verein mit Th. Birt, O. Crusius, W. Deecke u. a. Erster Band, Zweite Abteilung. Euxistratos - Hysiris. Vorläu ge Nachträge zu Band I. Leipzig 1886- 1890, Spalte 2803, Zeile 26-27. 126 Vgl. Seite 188 dieser Arbeit. 127 Vgl. Seite 229 dieser Arbeit. <?page no="283"?> 5.4 Rom - Verhinderte Buße, Hochzeit und Depression 271 Dieser Aspekt korrespondiert einerseits mit dem Hauptmotiv des Freskenzyklus in der Gartenloggia der Farnesina, der Hochzeit zwischen Amor und Psyche im Olymp. 128 Andererseits bildet das Motiv einen Kontrapunkt zur Hochzeit von Melanie und Rubehn, bei der zwar [a]uch ein paar Freunde [...] zugegen [waren,] (121) sich allerdings die Protagonistin ungeachtet dessen nach eigener Zuschreibung in der Acht (122) be ndet: Während die bewiesene Liebe bei Amor und Psyche unabdingbare Voraussetzung für die gesellschaftliche Reintegration ist, die wiederum in der nalen Hochzeit beider gipfelt, bildet die Hochzeit zwischen Melanie und Rubehn nur den Startpunkt einer Reintegration, 129 denn die Gesellschaft wird die Liebe zwischen beiden erst akzeptieren, nachdem diese sich in ‚stürmischen Zeiten‘ bewiesen hat. Dies wird auf zwei Arten prä guriert: Zum einen ist dem Leser aufgrund der Analogien zu Amor und Psyche klar, dass der neuen Liebe noch schwere Prüfungen bevorstehen, zum anderen sprechen die bei der Hochzeit anwesenden Freunde (121) für eine später erfolgende gesellschaftliche Wiederaufnahme, zumal der erwähnte Hauptmann von Brausewetter (122) eine Figur aus der Berliner Heimat ist. Sein onomatopoetischer Name jedoch verweist auf ebenjene ‚stürmischen Zeiten‘ nach der Rückkehr, in denen sich die Liebenden nach dem Vorbild von Amor und Psyche beweisen werden müssen. Diesen Umstand wird Rubehn später selbst erkennen, wenn er sagt: „Und wir werden uns auf kältere Luftströme gefaßt machen müssen.“ (130) 5.4.3 Die Via Catena als zweite Große Petristraße Neben der beständigen Vergegenwärtigung des Ehebruchs durch die räumliche Nähe zur Villa Farnesina mit ihren Parallelen zur Tiergartenvilla, ist gleichfalls Melanies römische Adresse erzählerisch geschickt komponiert: Die Konsultation eines von Heinrich Kiepert (1818-1899) für den Baedeker gezeichneten römischen Stadtplans belegt, dass die im Roman genannte Straße tatsächlich in der außer- 128 Wie bereits erwähnt, ist der Anlass zur Anfertigung der Fresken in der bis dahin unbemalten Loggia durch Chigis bevorstehende Hochzeit gegeben, denn in der Renaissance entwickelt sich hierfür die Fabel von Amor und Psyche zu einem beliebten Sujet. (Vgl. Hubertus Günther: Amor und Psyche, S. 149 und 163.) 129 Vgl. ausführlich zur Hochzeit als Initiationsritus Arnold van Gennep: Übergangsriten. (Les rites de passage). Aus dem Französischen von Klaus Schomburg und Sylvia M. Schomburg-Scher . Mit einem Nachwort von ders. 3., erweiterte Au age. Frankfurt am Main, New York 2005, S. 11. <?page no="284"?> 272 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ literarischen Wirklichkeit existiert hat. 130 Die Via della Catena ist eine kleine, schmale Gasse, etwa auf gleicher Höhe wie die Villa Farnesina, jedoch auf der anderen Tiberseite. Die Via della Catena erstreckt sich dabei lediglich über einen Block zwischen der Piazza Capo di Ferro und der Via di Fontanone. 131 Letztere lässt Papst Julius II. (1443-1513) im Jahr 1508 als breite und schnurgerade am Ufer des Tibers entlang laufende Straße anlegen, 132 die bis heute als Befestigung des Tibers dient, dessen Überschwemmungen die Stadt stets bedrohen. 133 Damit ähnelt das topographische Setting der Via della Catena au allend dem der Großen Petristraße in Cölln, denn auch die Petristraße erstreckt sich lediglich über einen Block und mündet auf der einen Seite in einen Platz, den Petriplatz, während sie auf der anderen Seite von der Friedrichsgracht begrenzt wird, die wiederum das Areal vor Überschwemmungen schützt. Auch die Befestigung des Tibers an dieser Stelle, lässt sich mit dem Wall, der Cölln seit dem 17. Jahrhundert umgibt, vergleichen. Diese Analogie ist umso bemerkenswerter, weil Fontane in Berlin und Rom gerade diejenigen Abschnitte der jeweiligen Flussläufe zum zentralen Schauplatz der Romanhandlung macht, die zu jener Zeit bereits reguliert sind, 134 während eine allgemeine und umfassende Regulierung beider Flüsse erst nach 130 Vgl. Karl Baedeker: Italien. Zweiter Theil: Mittel-Italien und Rom (1874), S. 347. Eine ‚Via della Catena‘ ist im Straßenverzeichnis gelistet und passt topographisch zu Melanies Beschreibung. Jene Straße trägt heute den Namen Vicolo di Polverone, also Staubgässchen. An dieser Stelle ist Gabriele Radecke zu widersprechen, die behauptet, die genannte Straße „existierte nicht“. (LA, Anmerkungen, S. 255.) 131 Im Italienischen dient die Endung „-one“ als Augmentativsu x: Ob Fontane sich hiermit indirekt selbst ein Denkmal setzt, muss o en bleiben. 132 Vgl. Hubertus Günther: S. Giovanni dei Fiorentini. Der Wettbewerb von 1518 für die Florentiner Nationalkirche in Rom. In: Schweizer Ingenieur und Architekt 117, 21 (1999), S. 442-449, hier S. 442. Die Straße heißt, wie noch heute, Via Giulia, jedoch trägt seinerzeit der kurze Teilabschnitt zwischen der Ponte Sisto und der Via della Catena den Namen Via di Fontanone. (Vgl. Karl Baedeker: Italien. Zweiter Theil: Mittel-Italien und Rom (1874), S. 167 sowie Libreria Spithöver (Verlag): Pianta della Città di Roma. Rom 1881, Planquadrat B III. Online abrufbar unter: https: / / gallica.bnf.fr/ ark: / 12148/ btv1b53020851c (letzter Zugri am 11.01.2023).) 133 Vgl. Hubertus Günther: Das Trivium von Ponte S. Angelo. Ein Beitrag zur Urbanistik der Renaissance in Rom. In: Römisches Jahrbuch für Kulturgeschichte 21 (1984), S. 165-251, hier S. 173. 134 Dies bezeugt ein sehr bewusstes Aussuchen der Schauplätze, da die Umgebung der Via Catena zur Romanzeit die einzige Möglichkeit darstellt, den Zwang, den Melanie im Cöllner Stadthaus emp ndet, auch an ihrer römischen Unterkunft zu implementieren, korrespondiert doch ebenjener Zwang in Cölln gerade mit der massiven Wassereinhegung durch die dortigen Forti kationsanlagen. (Vgl. 46) <?page no="285"?> 5.4 Rom - Verhinderte Buße, Hochzeit und Depression 273 der Romanzeit statt ndet: So beginnen die umfassenden Begradigungen am Tiber in Rom ab 1880 135 und an der Spree in Berlin frühestens ab 1878. 136 Des Weiteren be ndet sich in der Via della Catena der Palazzo Spada alla Regola, der Parallelen zum Van der Straatenschen Stadthaus aufweist. Im Jahr 1540 ist der Palazzo Spada in Nachahmung eines von Ra ael für sich selbst errichteten Hauses auf der Piazza di Capo Ferro gebaut worden und erstreckt sich zusammen mit einem großzügigem Garten nahezu über die gesamte Länge der Via della Catena. 137 Die Schauseite des Palazzo Spada be ndet sich an der Piazza di Capo Ferro, genau wie die Schauseite des Van der Straatenschen Stadthauses gleichfalls an einem Platz, dem Petriplatz, liegt. (Vgl. 10) Im Palazzo Spada be ndet sich im ersten Stock - wiederum genau wie im Van der Straaten’sche[n] Stadthaus (26) - eine umfangreiche Gemäldegalerie. 138 Ähnlich wie die Galerie der Familie Ravené, 139 dem außerliterarischen Vorbild der Romangeschichte, kann die Galerie des Palazzo Spada im 19. Jahrhundert besucht werden. 140 Darüber hinaus be ndet sich im Innenhof des Palazzo Spada eine verblü ende architektonische Augentäuschung, die Francesco Borromini (1599-1667) unter Verwendung der Zentralperspektive in Form eines Doppelkolonnadenganges angefertigt hat. 141 Dabei erscheint der Gang wesentlich länger als er in Wahrheit ist. 142 Auch Melanie unterliegt gleichsam einem Trompe-l’Œil, wenn sie ihrer 135 Vgl. Karl Baedeker: Italien. Zweiter Theil: Mittel-Italien und Rom (1880), S. 323. 136 Vgl. Lehrbuch für die Elbeschi erfachschulen. Bearbeitet von Düsing, S. 483. 137 Vgl. hierzu Karl Baedeker: Italien. Handbuch für Reisende. Zweiter Theil: Mittel-Italien und Rom. Mit 1 Panorama, 7 Karten und 12 Plänen. Fünfte neubearbeitete Au age. Leipzig 1877, S. 195. 138 Vgl. Karl Baedeker: Italien. Zweiter Theil: Mittel-Italien und Rom (1874), S. 166-167. 139 Vgl. Karl Baedeker: Mittel- und Norddeutschland, S. 9. Die Galerie im Stadthaus der Ravenés be ndet sich zur Romanzeit in der Wallstraße. (Vgl. Wolfgang E. Rost: Örtlichkeit und Schauplatz in Fontanes Werken, S. 123.) 140 Vgl. Karl Baedeker: Italien. Zweiter Theil: Mittel-Italien und Rom (1880), S. 200. 141 Eine exakte Datierung ist nicht möglich, jedoch ist die Kolonnade gesichert in der Zeit nach 1632 angefertigt worden. (Vgl. hierzu detailliert: Materialien zur Baugeschichte 3. Die Architektur der Neuzeit. Hrsg. von Martin Grassnick. Unter Mitarbeit von Hartmut Hofrichter. Wiesbaden 1982, S. 51.) 142 Die Scheinperspektive täuscht einen über 50 Meter langen Korridor vor, während er realiter lediglich neun Meter mißt. (Vgl. Margit Brinke und Peter Kränzle: Rom mit Latium. Vierte komplett überarbeitete und gestaltete Au age. Dormagen 2008, S. 175.) Dieser Eindruck entsteht dadurch, dass die Kolonnaden mit zunehmender Tiefe kleiner und die Interkolumnien schmaler werden. (Vgl. Susanne Lücke-David: Die Baustile. Baukunst Europas von der Antike bis zur Gegenwart. Wiesbaden 2013, S. 160.) <?page no="286"?> 274 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ Schwester bezüglich Roms schreibt: Es ist ein seliges Wandeln an diesem Ort, ein Sehen und Hören als wie im Traum. (126) Aufgrund der geographischen Entfernung zu Berlin wird ein Abstand vorgetäuscht, den es für Melanie subjektiv gesehen aufgrund der sie umgegeben Architektur nicht gibt. Vielmehr ist sie gleichsam topographisch zwischen den beiden Gebäuden - der Villa Farnesina und dem Palazzo Spada - gefangen, die ihr früheres Leben mit dem Kommerzienrat vergegenwärtigen. Zusätzlich lässt sich der Name ebenjener Straße, in der Melanie wohnt, mit Kettenstraße übersetzen, was ihre Gebundenheit an ihre Vergangenheit re ektiert, die sich brie ich in ihren vergleichenden Beschreibungen mit Berlin als Referenzpunkt manifestiert. In unmittelbarer Nähe zur Via della Catena be ndet sich die Piazza Campo dei Fiori - der römische Gemüsemarkt. 143 Dieser Platz hat eine überaus grausame Geschichte, sind hier doch in früheren Zeiten Verbrecher und Ketzer auf dem Scheiterhaufen hingerichtet worden. Prominentestes Beispiel ist wohl der Philosoph und Dominikanermönch Giordano Bruno (1548-1600), der am 17. Februar 1600 auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden ist. 144 Die mit dem Campo dei Fiori anklingende Ketzerverbrennung, 145 die im Zeichen der Einhaltung der reinen katholischen Lehre steht, erklärt, warum Melanie in Rom, gleichsam dem Zentrum der katholischen Welt, keine Genesung nden können wird, versündigt sie sich doch nach katholischer Lesart gegen das Sakrament der Ehe. Über den Dominikanermönch Bruno kann ein Zusammenhang mit der Cöllner Brüderstraße hergestellt werden, deren Name gerade auf die Dominikanerbrüder Eine literarische Verarbeitung erfahren die Kolonnaden in Michael Endes (1929-1995) Erzählung „Der Korridor des Borromeo Colmi“. Ende beschreibt, wie sich die Größenverhältnisse für den Besucher während seines Aufenthaltes im Korridor verändern, so dass dieser als unendlich lang erscheint. (Vgl. Michael Ende: Der Korridor des Borromeo Colmi. (Hommage à Jorge Luis Borges). In: Ders: Das Gefängnis der Freiheit: Geschichten von Wundern und Zeichen, von Geheimnissen und Rätseln. Stuttgart 1992, S. 5-93.) 143 Vgl. Karl Baedeker: Italien. Zweiter Theil: Mittel-Italien und Rom (1874), S. 160 sowie J. Koenig: Neuester Plan der Stadt Rom. Aus Woerl’s Rom, II. Au age (1886). Würzburg, Wien 1886, Planquadrat E5. Online abrufbar unter: https: / / gallica.bnf.fr/ ark: / 12148/ btv1b8439450z (letzter Zugri am 11.01.2023). 144 Vgl. Volker Reinhardt: Rom. Ein illustrierter Führer durch die Geschichte. München 1999, S. 266. 145 Vgl. Herbert Rosendorfer: Rom. Via Veneto/ Via del Corso. Zentrum ohne Zentrum. In: Boulevards. Die Bühnen der Welt. Mit einer Einleitung von Klaus Hartung. Aus dem Ital. von Karin Krieger übers., aus dem Span. von Heinrich von Berenberg. Berlin 1997, S. 295-314, hier S. 304-305. <?page no="287"?> 5.4 Rom - Verhinderte Buße, Hochzeit und Depression 275 des hier ansässigen Schwarzen Klosters zurückgeht 146 und die raumsemantisch für den Zusammenhang von Ehebruch (Vgl. 10) und gesellschaftlicher Kälte (Vgl. 119) steht, 147 die Rubehn nach der Rückkehr antizipieren wird. (Vgl. 130) Hierzu passend wird auch die spätere Verurteilung Melanies durch Lydia von Rubehn mit der Ketzerverbrennung auf einem Scheiterhaufen verknüpft. (Vgl. 149) Außerdem untersteht Rom, wie die Insel Cölln, dem Patronat des Petrus, der als Figuration der Verleugnung 148 an Melanies „Schuld“ (117, 139) erinnert. Weitere Gemeinsamkeiten ergeben sich in der vergleichbaren topographischen Einbettung beider Stadthäuser: Sowohl das Van der Straaten’sche Stadthaus (26) als auch der Palazzo Spada liegen in verwinkelten und dicht bevölkerten Stadtteilen mit engen Gassen und Gässchen, denen ein mittelalterlicher Charakter eigen ist. 149 Die römische Adresse versinnbildlicht auch eine Abkehr vom gesellschaftlichen Leben, denn dieses ndet vornehmlich im Fremdenviertel rund um die Via del Corso, der von Nord nach Süd verlaufenden Hauptstraße Roms, statt. 150 Zugleich repräsentieren die kleinen, winkeligen und unübersichtlichen Gassen des Stadtteils die weiterhin unklare Zukunft der beiden Liebenden und erinnern damit an den gemeinsamen Weg von der Großen Petristraße zum Gendarmenmarkt durch ein Gewirr kleiner Gassen (102) mit analoger symbolischer Bedeutung. Wenn Melanie ihrer Schwester schreibt, dass Rubehn aus seiner dunklen Ecke Confetti nach (125) ihr werfe, obwohl der Carneval längst (125) vorüber ist, werden mit diesem Bild mehrere Assoziationen bedient: Zum einen erinnert der in der dunklen Ecke (125) stehende Rubehn an Amor, der Psyche stets in der Dunkelheit aufsucht und bekräftigt hiermit die über die Villa Farnesina hervorgerufenen 146 Vgl. Lexikon der Berliner Straßennamen. Hrsg. von Sylvia Lais und Hans-Jürgen Mende, S. 76. Das Dominikanerkloster ist - in Analogie respektive Abgrenzung zum Franziskanerkloster, dem Grauen Kloster - Schwarzes Kloster genannt worden. 147 Vgl. hierzu Seite 234 dieser Arbeit. 148 Vgl. hierzu Seite 67 dieser Arbeit. 149 Vgl. zur mittelalterlichen Enge Cöllns Seite 33 dieser Arbeit. Der Palazzo Spada liegt am linken Tiberufer, „[d]iese Neustadt des antiken Roms ist jetzt von der dichtesten Bevölkerung eingenommen und trägt im Wesentlichen einen mittelalterlichen Charakter: eine Menge enger schmutziger Gassen und Gässchen, in denen der regste Kleinverkehr herrscht, nur stellenweise von grösseren Strassenanlagen durchbrochen. Die Orientierung ist mitunter schwer, und die Physiognomie des Stadtteils im Ganzen abstossend.“ (Karl Baedeker: Italien. Zweiter Theil: Mittel-Italien und Rom (1877), S. 178.) 150 Vgl. ebd., S. 116 und 124. <?page no="288"?> 276 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ Bezugspunkte zwischen beiden Liebesgeschichten. Zudem versinnbildlicht die dunkle Zimmerecke die aktuelle und zukünftige gesellschaftliche Randlage der beiden. Zum anderen gehört das Konfetti - wie Melanie selbst betont - zum Karneval. (Vgl. 125) Der römische Karneval wird auf der Via del Corso - die sich zwischen der Piazza di Venezia und der Piazza del Popolo erstreckt - mit Blumen- und Konfettiwerfen gefeiert 151 und schließt allabendlich mit einem Pferderennen. 152 Typisch für den Karneval ist die Aufhebung und Verspottung sozialer und kultureller Normen. 153 Umberto Eco (1932-2016) stellt fest, dass der Karneval aufgrund seiner punktuellen Erscheinung der gesellschaftlichen Ordnung im Grunde nicht gefährlich werden kann, denn es handelt sich vielmehr um den zeitweisen Versuch, die Autoritäten zu unterminieren. 154 So kann der Zeitpunkt der Hochzeit nach Karneval 155 auch als ein Bemühen gelesen werden, in die Bürgerlichkeit zurückzukehren. Dabei ist gerade an Karneval die Piazza del Popolo - wenige Stunden vor Ausbruch der Freude - ein grausamer Ort, denn hier werden Missetäter, die ihr Leben verwirkt haben, ö entlich hingerichtet. 156 Da das Liebespaar Ende 151 Vgl. Karl Baedeker: Italien. Zweiter Theil: Mittel-Italien und Rom (1874), S. 110. 152 Vgl. Herbert Rosendorfer: Rom, S. 310. Von ebenjenen Pferdewettrennen hat die Via del Corso ihren Namen. (Vgl. ebd., S. 310.) 153 Vgl. hierzu exemplarisch Marianne Sammer: Karneval. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 177-178, hier S. 177. 154 Vgl. Umberto Eco: „Il comico e la regola“ (1981). In: Ders.: Sette anni di desiderio. Milano 1983, S. 253-260, hier S. 259. 155 Zur Chronologie der Ereignisse: Gegen Ende Februar 1876 tre en Rubehn und Melanie in Rom ein, wobei im Schaltjahr 1876 Aschermittwoch auf den 01. März und Rosenmontag entsprechend auf den 28. Februar fällt. Den erzählerischen Angaben ist zu entnehmen, dass die Scheidungspapiere erst nach Ostern eintre en, (Vgl. 121) wobei der Ostersonntag auf den 16. April 1876 fällt, so dass Rubehns und Melanies Hochzeit frühestens Mitte April statt nden kann. Da das gemeinsame Kind am Bartholomäustag, dem 24.08.1875, gezeugt worden ist, ist der rechnerische Entbindungstermin der 16.05.1876, zu dem man bereits in Venedig weilt. Da zwischenzeitlich noch trübe Wochen (126) in Rom vergehen und die Reise von Rom nach Venedig ohne die Einbeziehung der Eisenbahn vonstattengeht, muss jedoch der Hochzeitstermin recht unmittelbar nach Ostern statt nden. Dazu passt botanisch auch die Crocus- und Veilchenpracht (121) im Garten der Villa d’Este. 156 In der Mitternachtsstunde zuvor wird dem Angeklagten sein Urteil im Gerichtssaal verlesen. Anschließend wird er in eine Kapelle gebracht, wo ihm ein Christusbild, durch <?page no="289"?> 5.4 Rom - Verhinderte Buße, Hochzeit und Depression 277 Februar in Rom (121) eintri t, konstituiert sich eine zeitliche Nähe zu jenen ö entlichen Hinrichtungen. Eine räumliche Nähe ergibt sich, weil sich an der Piazza auch die Porta del Popolo be ndet, also dasjenige Stadttor, „durch das seit jeher der Reisende Rom betr[itt].“ 157 Des Weiteren erzählen Reiseberichte von militärisch organisierten und häu g korrupten Polizei- und Spitzeltruppen, vor denen man sich in Rom in Acht zu nehmen habe. 158 Jene Besonderheiten vermögen zu illustrieren, warum sich Melanie und Rubehn monatelan(g) (121) in ihrer abseits des Fremdenviertels 159 und des mondänen Lebens 160 liegenden Wohnung einschließen, 161 denn das Liebespaar ist zum damaligen Zeitpunkt noch nicht legitimiert, sondern lebt in einer rechtlich ungeklärten Situation. 162 Maschinenwerk in Bewegung gesetzt, vom Kreuze herab die Arme entgegenstreckt. (Vgl. Elisa von der Recke (1754-1833): Piazza del Popolo - Ö entliche Lustbarkeit. In: Rom. Ein literarischer Reiseführer. Hrsg. von Franz Peter Waiblinger. Darmstadt 2000, S. 143-144.) 157 Herbert Rosendorfer: Rom, S. 295. 158 Vgl. hierzu exemplarisch Johann Georg Keyßler: Via del Corso - Carneval in Rom. In: Rom. Ein literarischer Reiseführer. Hrsg. von Franz Peter Waiblinger. Darmstadt 2000, S. 145-147, hier S. 145-146. Dies korrespondiert mit den „[...] bösen Zungen [...]“ (103) in Berlin, von denen Melanie beim Gang zum Gendarmenmarkt spricht, dessen Zwillingskirchen gerade nach dem römischen Vorbild der Zwillingskirchen S. Maria in Montesanto und S. Maria dei Miracoli auf der Piazza del Popolo gebaut worden sind, (Vgl. Otto Drude: Fontane und sein Berlin, S. 183.) wodurch sich gleichsam der Kreis zwischen der Piazza del Popolo und dem Gendarmenmarkt schließt. 159 Dieses erstreckt sich grob in den angrenzenden Straßen der Via del Corso zwischen der Piazza del Popolo und der Piazza di Venezia. (Vgl. Emil J.[acob] Jonas: Italien praktisches Handbuch für Reisende. Mit besonderer Berücksichtigung Ober-Italiens und der klimatischen Kurorte. Mit vielen Karten und Plänen. Berlin 1876 (= Grieben’s Reise-Bibliothek; Band 80), S. 331-337 und ebenso Karl Baedeker: Italien. Zweiter Theil: Mittel-Italien und Rom (1874), S. 110.) Goethe wohnt beispielsweise bei seinem Aufenthalt in der Via del Corso, Hausnummer 18. (Vgl. Herbert Rosendorfer: Rom, S. 310.) 160 Die Via del Corso - heute kaum mehr vorstellbar - ist Ende des 19. Jahrhunderts eine vornehme Einkaufsmeile mit noblen Geschäften, Restaurants und Cafés. Hier dürfen nur Luxusartikel angeboten werden, während die Ansiedlung von Lebensmittelgeschäften und Handwerksbetrieben untersagt ist. (Vgl. ebd., S. 312.) 161 Melanie betont: [...] ich sehne mich nach Einkehr und Stille. Die hab’ ich hier. (125-126) 162 Zum rechtlich-juristischen Aspekt dieses Ehebruchs sei auf Dirk Mende verwiesen: „Rechtlich liegt die Brisanz des Falls in der Massierung und Kombination von Delikten“, (Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 232.) denn der Ehebruch wird mit einer außerehelichen Schwangerschaft sowie der Flucht vor dem Ehemann kombiniert, wonach die „Heirat des Ehebrechers nach außerdeutschem Recht unter Verletzung der Wartep icht <?page no="290"?> 278 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ Ebenjener gefährliche Status quo wird topographisch re ektiert: An ihrem Hochzeitstag muss das Liebespaar die Piazza del Popolo passieren, denn die Kapelle der ansässigen englischen Kirche be ndet sich vor der Porta del Popolo, 163 bei Neuverheiratung“ (Ebd., S. 232.) erfolgt. Entgegen aller Rechtswirklichkeit ra t Fontane die Wartezeit des Scheidungsverfahrens auf wenige Monate zusammen. Überdies hätten sowohl Van der Straaten als auch seine außerliterarische Vorlage Ravené ihre Zustimmung zur Scheidung verweigern können. (Vgl. ebd., S. 233.) 163 Vgl. G. A. Bremner: A Tale of two Churches: ‚Protestant‘ Architecture and the Politics of Religion in Late Nineteenth-Century Rome. In: Papers of the British School at Rome doi: 10.1017/ S0068246219000011 (2019). Online abrufbar unter: https: / / doi.org/ 10 .1017/ S0068246219000011 (letzter Zugri am 20.02.2023), S. 1-37, hier S. 5, 9 und 21 sowie Karl Baedeker: Italien. Zweiter Theil: Mittel-Italien und Rom (1874), S. 101. Bei Bremner ist zudem ein Photo von 1880 mit jener Kapelle zu nden (G. A. Bremner: A Tale of two Churches, S 6.) Der von Gabriele Radecke ins Spiel gebrachte Standort (Vgl. LA, Anmerkungen, S. 254.) kann hingegen aus mehreren Gründen nicht zutre en: Erstens ndet sich in Radeckes Quelle zwar eine „English Baptist Chapel“, (Vgl. Th.[eodor] Gsell Feld: Rom und die Campagna. Dritte Au age. Mit 4 Karten, 49 Plänen und Grundrissen, 18 Ansichten und 1 Panorama in Stahlstich und 47 Ansichten in Holzschnitt. Leipzig 1883 (= Meyers Reisebücher), Spalte 180.) jedoch ist diese mit den Vermerken „neue“ und „(für Römer)“ gekennzeichnet, was nahelegt, dass diese erst kürzlich errichtet und dem einheimischen Publikum vorbehalten ist, wobei der Aspekt des neuen von einer anderen Quelle mit den Worten „ protestant church , recently built“ (Fratelli Treves (Verlag): Rome and the Environs. With the Plans of Rome and the Environs. New Edition. Milan 1889, S. 55.) untermauert wird, wobei letztere Quelle auch dem Aspekt der kleinen englischen Kapelle (121) widerspricht. Zudem legt ebenso die Konsultation eines Plans aus Woerl’s Rom von 1886 nahe, dass die Kirche erst nach der Romanhandlung entstanden ist, denn dort ist sie im Gegensatz zur 1874 geweihten ‚English Church of the Holy Trinity‘ nicht verzeichnet. (Vgl. J. Koenig: Neuester Plan der Stadt Rom, Planquadrat G3.) Überdies existieren im Rom der Romanzeit zwei wichtige anglikanische Gemeinden, nämlich die der amerikanischen Episkopaler und die der Church of England, die beide vor dem Ende des Risorgimento an der Porta del Popolo, außerhalb der Mauern Roms, beheimatet sind. (Vgl. G. A. Bremner: A Tale of two Churches, S. 5.) Bereits zwei Wochen nach dem Fall des päpstlichen Rom, am 20. September 1870, beginnen die Amerikaner mit ersten Aktivitäten zur Verlegung ihrer Gemeinde in die Mauern Roms, was dazu führt, dass ihre Kirche an der Via Nazionale, die ‚St Paul’s within the Walls‘, erbaut nach Plänen von George Edmund Street (1821-1881), am 25. März 1876 geweiht wird. (Vgl. ebd. S. 15.) Diese gilt daher teils als erste protestantische Kirche Roms, (Vgl. Fiona MacCarthy: The last Pre-Raphaelite. Edward Burne Jones and the Victorian Imagination. Cambridge 2012, S. 352.) was jedoch - wie weiter unten belegt - unzutre end ist. Die St. Paul’s kommt aus zwei Gründen nicht als Schauplatz für die Rubehnsche Hochzeit in Frage, denn St. Paul’s ist amerikanisch und eine große Kirche. Die römische Gemeinde der Church of England spaltet sich im Jahr 1870 auf, (Vgl. G. A. Bremner: A Tale of two Churches, S. 23.) wobei die ‚Abtrünnigen‘ eine „schmucke Basilika“, (Vgl. Th.[eodor] Gsell Feld: Rom und die Campagna, Spalte 181.) die ‚English <?page no="291"?> 5.4 Rom - Verhinderte Buße, Hochzeit und Depression 279 entsprechend vor den Toren der Stadt, was gleichfalls die außerhalb der Regeln statt ndende Heirat re ektiert. 164 Melanie schreibt: Ach, wie schön ist diese Stadt, und mitunter ist es mir, als wär’ es wahr und als käm’ uns jedes Heil und jeder Trost aus Rom und nur aus Rom. (126) Heide Eilert konstatiert, dass Melanies Einschätzung zunächst verwundern mag, weil sie zum einen eine „„eingepreußte“ Calvinistin“ 165 sei und sich zum anderen zur Zeit des sogenannten Bismarckschen „Kulturkampfes“ 166 in Rom aufhalte. Für Eilert erschließt sich der Sinn im Zusammenhang mit Wagners Oper „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg“ (1843), weil der Protagonist gleichfalls irrtümlicherweise annimmt, in der „Pilgerstadt“ 167 Rom seine Erlösung zu nden. 168 Ich möchte noch eine weitere Lesart aufzeigen, die im Zusammenhang mit Goethes italienischer Reise (1786-1788) steht: Diese hat ein kaum zu überschät- Church of the Holy Trinity‘, an der Piazza di San Silvestro errichten, die am 26. Oktober 1874 geweiht wird und damit tatsächlich die älteste protestantische Kirche in den Mauern Roms ist. (Vgl. All Saints’ Anglican Church, Rome (Webseite): Anglicans In Rome (1816today). A Short History. Online abrufbar unter https: / / www.allsaintsrome.or g/ history (letzter Zugri am 20.02.2023) sowie Th.[eodor] Gsell Feld: Rom und die Campagna, Spalte 181.) Da es sich hier jedoch ebenfalls nicht um eine kleine Kapelle handelt, ist auch diese als Trauungsort auszuschließen. Die nach der Abspaltung verbleibende All Saints’ Gemeinde verlässt erst nach der Fertigstellung der ‚All Saints’ Church‘ ihre tatsächlich kleine Kapelle an der Porta del Popolo - die ‚Granary Chapel‘ (Vgl. die Webseite der All Saints’ Anglican Church, Rome) - und bezieht die neue, in den Jahren 1880 bis 1887 ebenfalls nach Plänen von George Edmund Street (1821-1881) an der Via del Babuino erbaute Kirche. (Vgl. G. A. Bremner: A Tale of two Churches, S. 1, 20-26.) Mithin entspricht die ‚Granary Chapel‘ als einzige der genannten Gotteshäuser dem Bild einer kleinen englischen Kapelle (121). Dabei besitzt die topographische Situierung des ‚vor den Toren‘ „the obvious connotation of disease and infection.“ (G. A. Bremner: A Tale of two Churches, S. 5.) 164 Dieser Aspekt wird durch die Heirat in einer explizit englischen Kirche unterstrichen, denn einerseits be ndet sich England selbst aufgrund seiner Insellage ‚außerhalb des Kontinents‘ und andererseits sanktioniert die Gründung der anglikanischen Kirche die ehelichen Regellosigkeiten ihres Stifters Heinrich VIII. (Vgl. auch Seite 190 dieser Arbeit.) 165 Heide Eilert: Im Treibhaus, S. 512. 166 Ebd., S. 512. 167 Volker Reinhardt: Rom, S. 184. Hierfür spricht Melanies Wortwahl jedes Heil und jeder Trost[.] (126) 168 Vgl. Heide Eilert: Im Treibhaus, S. 512; Winfried Jung: Bildergespräche, S. 138 sowie Helmuth Nürnberger: Ein fremder Kontinent - Fontane und der Katholizismus. In: Fontane und die Fremde, Fontane und Europa. Hrsg. von Konrad Ehlich. Würzburg 2002, S. 70-87, hier S. 82. <?page no="292"?> 280 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ zendes Echo in der Geistes- und Kulturgeschichte ausgelöst und stellt in mancher Hinsicht das Modell für die Wahrnehmung Italiens als arkadische Gegenwelt zu Deutschland dar. 169 Als Goethe 1786 - ausgelöst durch eine tiefe, lebensbedrohende Krise - uchtartig den Weimarer Hof verlässt, eilt er nach Italien, insbesondere „dem Sehnsuchtsbild Rom“ 170 entgegen und erho t sich hiervon eine „Wiedergeburt“. 171 Bekanntermaßen erklärt Goethe dann am 03. Dezember 1786: „[I]ch zähle einen zweiten Geburtstag, eine wahre Wiedergeburt, von dem Tage, da ich Rom betrat.“ 172 Und konstatiert bei seinem zweiten römischen Aufenthalt am 14. März 1788: „In Rom hab’ ich mich selbst zuerst gefunden, ich bin zuerst übereinstimmend mit mir selbst glücklich und vernünftig geworden [...].“ 173 Auch Melanie drängt es aufgrund ihrer Lebenskrise „[...] [n]ach Süden[,]“ (121) weil sie sich selbst wieder nden und mit sich selbst wieder übereinzustimmen versucht, wie sie beim Abschiedsgespräch mit Van der Straaten betont: „[...] Ich [...] will fort, um mich vor mir selber wieder herzustellen. [...] Und vor allem brauch ich mich selbst. [...]“ (117) Zunächst gelingt diese Nachahmung Goethescher Wiedergeburt scheinbar, denn nach der erfolgten Trauung 174 wird sie als glücklich, unendlich glücklich (121) beschrieben: Alles, was ihr das Herz bedrückt hatte, war wie mit einem Schlage von ihr genommen, und sie lachte wieder, wie sie seit lange nicht mehr gelacht hatte, kindlich und harmlos. (121-122) Doch anders als Goethe oder auch Jacob 169 Vgl. Robert Steiger: Reise nach Italien, ins Land der Wiedergeburt. In: Über die Grenzen Weimars hinaus - Goethes Werk in europäischem Licht. Beiträge zum Jubiläumsjahr 1999. Hrsg. von Thomas Jung und Birgit Mühlhaus. Frankfurt am Main, Berlin, Bern 2000 (= Osloer Beiträge zur Germanistik; Band 27), S. 35-44, hier S. 35. 170 Klaus Adomeit: Ovid über die Liebe. Sein Lehrgedicht „ars amatoria“ - erläutert mit Hinweisen auf Goethes Römische Elegien. Heidelberg 1999 (= Heidelberger Forum; Band 107), S. VI. 171 Johann Wolfgang von Goethe: Italiänische Reise. I., S. 233. Vgl. hierzu ausführlich Robert Steiger: Reise nach Italien, ins Land der Wiedergeburt, S. 36. 172 Johann Wolfgang von Goethe: Italiänische Reise. I., S. 232-233. Vgl. hierzu auch Christine Tauber: Der lange Schatten aus Weimar - Goethes und Burckhardts Italienbild. In: Italien in Aneignung und Widerspruch. Hrsg. von Günter Oesterle, Bernd Roeck und ders. Tübingen 1996 (= Reihe der Villa Vigoni; Band 10), S. 62-92, hier S. 70. 173 Johann Wolfgang von Goethe: Italiänische Reise. III. Weimar 1906 (= Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 32. Band), S. 295. 174 Hierzu erscheint Rom, die Ewige Stadt, buchstäblich als der passende Ort, denn Roma bedeutet - wie schon Ovid betont - rückwärts gelesen Amor. (Vgl. Klaus Adomeit: Ovid über die Liebe, S. VI.) <?page no="293"?> 5.4 Rom - Verhinderte Buße, Hochzeit und Depression 281 Burckhardt, die sich beide als „Wahlrömer“ 175 begreifen und beschreiben, dass sie außerhalb der Mauern Roms „nie mehr so ganz glücklich sein“ 176 werden, gerät Melanie in Rom in eine schwere gesundheitliche Krise; denn sie fällt wenige Tage nach Absendung des Briefe[s] in ihre frühere Melancholie (126) zurück und glaubte bestimmt, daß sie sterben werde, versuchte zu lächeln und brach doch plötzlich in einen Strom von Thränen aus. Denn sie hing am Leben[.] (126) An dieser Stelle verhandelt Fontane die damaligen Vorstellungen zur Entstehung der Melancholie, die als Angst vor einem „verderblichen Ausgang“ 177 begri en wird: Der Kranke hält sich und seinen Körperzustand für gefährdet 178 und erwartet nach Sigmund Freud „Ausstoßung und Strafe.“ 179 Gründet die Melancholie jedoch auf tatsächlicher Schuld oder dahingehenden Schuldgefühlen, kann ein Freispruch eine heilende Wirkung entfalten. 180 Doch gerade einen erho ten Freispruch gibt es für Melanie in Rom nicht, ist sie dort doch - gerade auch aufgrund der sie umgebenden Topographie - fortwährend mit ihrer Schuld konfrontiert. So konstatiert sie selbst: [...] und das Bild, Du weißt schon, über das ich damals so viel gespottet und gescherzt habe, es will mir nicht aus dem Sinn. Immer dasselbe „Steinige, steinige“. Und die Stimme schweigt, die vor den Pharisäern das himmlische Wort sprach. (123) Isabel Nottinger glaubt irrigerweise, Melanie werde melancholisch, weil die Antwort ihrer Schwester, ob sich die gesellschaftlichen Wogen geglättet hätten, 175 Christine Tauber: Jacob Burckhardts ‚Cicerone‘, S. 144. 176 Ebd., S. 145. Nicht nur für Goethe, sondern auch für Burckhardt ist Rom Sehnsuchtsort und Zentrum der Italienreise. (Vgl. ebd., S. 58.) 177 Jean Starobinski: Die Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 112. 178 Ebd., S. 112. 179 Sigm.[und] Freud: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Zehnter Band. Werke aus den Jahren 1913-1917. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte Prinzessin Georg von Griechenland hrsg. von Anna Freud, E.[dward] Bibring, W.[illi] Ho er, E.[rnst] Kris und O.[tto] Isakower. London 1946, S. 431. Die Zitation Freuds ist hier nicht als Anachronismus zu verstehen, fasst er doch in diesem Kontext nur die ohnehin etablierten Ansichten seiner Zeitgenossen zusammen. Hierzu ähnlich versteht Hildegard von Bingen (ca. 1098-1179) die Melancholie „als eine Folge des „Sündenfalls“ und somit als Strafe Gottes[.]“ (Reinhard J. Boerns: Temperament: Theorie, Forschung, Klinik. Berlin, Heidelberg 2015, S. 12.) 180 Jean Starobinski: Die Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 125-126. <?page no="294"?> 282 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ ausbleibt. 181 Der Erzähler betont hingegen, die in der ausbleibenden Antwort liegende Kränkung würde sehr schmerzlich empfunden worden sein, wenn nicht Melanie, wenige Tage nach Absendung des Briefes, in ihre frühere Melancholie zurückverfallen wäre. (126) Meines Erachtens zeichnet insbesondere die Melanie umgebene römische Topographie verantwortlich für ihre wiederkehrende Melancholie, denn sie wird über die Via della Catena sowie die Villa Farnesina beständig an ihr früheres Leben mit dem Kommerzienrat sowie ihren Ehebruch erinnert. Dabei spielt auch die Stadt selbst eine Rolle, denn Rom wirkt nach Au assung Fontanes „durch seine Erinnerungen“, 182 so wie Melanie im Abschiedsgespräch mit Van der Straaten konstatiert: „[...] Und keiner kann vergessen. Erinnerungen aber sind mächtig, und Fleck ist Fleck, und Schuld ist Schuld. [...]“ (117) Nicht nur die römische Topographie, sondern auch Melanies brie iche Reiseschilderungen stehen im Zusammenhang mit dem Ehebruch respektive ihrer ersten Ehe mit dem Kommerzienrat. So zeichnet gleichfalls das Medium Brief für Melanies Rückfall in ihre frühere Melancholie verantwortlich, denn dem Briefeschreiber erscheinen seine Erinnerungen als kürzlich erst geschehen oder um es mit dem von Fontane geschätzten schottischen Schriftsteller Sir Walter Scott (1771-1838) zu formulieren: To the letter-writer every event is recent, and is described while immediately under the eye, without a corresponding degree of reference to its relative importance to what has past and what is to come. All is, so to speak, painted in the foreground, and nothing in the distance. 183 Ähnlich konstatiert Goethe hierzu: „Man spähte sein eigen Herz aus“. 184 So wird Melanie im Moment des Briefeschreibens und Re ektierens der während ihrer Reise besuchten Orte vielfältig mit ihrer Schuld konfrontiert. Ein deutscher Arzt endlich, (126) der hinzugezogen wird, 185 rät zu beständige[m] Orts- und Luftwechsel. (127) Dies entspricht der klassischen Therapieempfehlung 181 Isabel Nottinger: Fontanes Fin de Siècle, S. 168. 182 Theodor Fontane: Ein Sommer in London, S. 2. 183 Sir Walter Scott: The Miscellaneous Prose Works of Sir Walter Scott, Bart. In Three Volumes. Volume I. Biographical Memoirs, Essays, Letters. With Notes. Edinburgh 1847, S. 251. 184 Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Dritter Theil. Weimar 1890 (= Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 28. Band), S. 178. 185 Die Konsultation eines deutschen Arztes folgt einer Empfehlung des Baedekers. (Vgl. Karl Baedeker: Italien. Zweiter Theil: Mittel-Italien und Rom (1874), S. 80.) <?page no="295"?> 5.5 Venedig 283 des 19. Jahrhunderts: Die ‚glückliche Ablenkung‘ gilt als Heilmittel auf die Sinne der Kranken. 186 Insbesondere hilft das Reisen als „Universal-Medizin“, 187 denn durch den raschen Wechsel von Eindrücken soll es die Melancholie zu heilen helfen. 188 Zugleich ist eine Abreise aus Rom geboten, denn die Stadt ist für „nervöse sensible Menschen“ 189 sowie „für Schwerkranke kein passender Ort wegen der schlechten Luft, der großen Wechsel und wenig geschützten Gänge und den vielen historischen Monumenten und Kunstschätzen.“ 190 5.5 Venedig In kurzen Etappen, unter ge issentlicher Vermeidung von Eisenbahn und großen Straßen, ging es, durch Umbrien, immer höher hinauf an der Ostküste hin, bis sich plötzlich herausstellte, daß man nur noch zehn Meilen von Venedig entfernt sei. Und siehe, da kam ihr ein tiefes und sehnsüchtiges Verlangen, ihrer Stunde dort warten zu wollen. Und sie war plötzlich wie verändert und lachte wieder und sagte: „Della Salute! Weißt Du noch? ... Es heimelt mich an, es erquickt mich: das Wohl, das Heil! O, komm. Dahin wollen wir.“ (127) Als das Paar ziellos durch Italien reist und mehr zufällig seine Nähe zu Venedig entdeckt, gibt die Stadt Melanie Orientierung und steht hierdurch au ällig im Melanie und Rubehn verbleiben während ihrer Fluchtreise ganz im Kosmos ihrer alten Heimat. Hierfür spricht nicht nur der deutsche Arzt, sondern auch beispielsweise der Hauptmann von Brausewetter, der bei der Hochzeit zugegen ist. Hierdurch erscheint eine Rückkehr nach Berlin fast zwangsläu g. Ergänzend hierzu sei auf Martin Nies verwiesen, der betont, der deutsche Arzt sei „eine Figur, die semantisch der Heimwelt zugeordnet ist“. (Martin Nies: Venedig als Zeichen, S. 202.) 186 Vgl. Jean Starobinski: Die Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 117. 187 Ebd., S. 149. Ähnlich beschreibt dies Karl Sundelin im Jahr 1830, denn auch er hält das Reisen - die Versetzung in andere Verhältnisse, in eine neue Lebensart - für nützlich zur Behandlung der Melancholie. (Vgl. Karl Sundelin: Handbuch der Nervenkrankheiten, S. 150.) 188 Jean Starobinski: Die Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 153. 189 Robert Flechsig: Bäder-Lexikon: Darstellung aller bekannten Bäder, Heilquellen, Wasserheilanstalten und klimatischen Kurorte Europas und des nördlichen Afrikas in medizinischer, topographischer, ökonomischer und nanzieller Beziehung. Für Ärzte und Kurbedürftige. Leipzig 1883 (= Illustrierte Gesundheitsbücher), S. 613. 190 Handbuch der allgemeinen Therapie. Hrsg. von Hugo von Ziemssen. Bearbeitet von Josef Bauer. Band 1, Teil I. Leipzig 1880, S. 187. <?page no="296"?> 284 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ Kontrast zum allgemein gültigen venezianischen Topos des räumlichen Orientierungsverlustes 191 in den labyrinthischen Strukturen der Stadt. 192 Auf diese Weise wird bereits eingangs eine von den gängigen Reiseschilderungen abweichende venezianische Reiseerfahrung pro liert. 193 Erneut zeigt sich Melanies A nität zu Venedig, (Vgl. 12, 33) wenn sie ein tiefes und sehnsüchtiges Verlangen (127) ergreift. Und sie war plötzlich wie verändert und lachte wieder und sagte: „Della Salute! Weißt Du noch? ... Es heimelt mich an, es erquickt mich: das Wohl, das Heil! O, komm. Dahin wollen wir.“ (127) Über das Wort ‚anheimeln‘ wird die Stadt in den Kontext von ‚vertraut sein und Heimat‘ gestellt und Melanie somit erneut mit Venus assoziiert, 194 denn diese gilt als Personi kation Venedigs: 195 Beide sind aus dem Meer geboren und die eine trägt den Namen der anderen. 196 Die enge Beziehung zwischen Venedig und Venus re ektiert gleichfalls indirekt eine Beschreibung Fontanes, in der es heißt, Venedig wirke „durch den Zauber seiner meerentstiegenen Schönheit“. 197 Während Melanie mehrfach als wassera nes Wesen beschrieben wird, (Vgl. 75, 121-122, 123) gilt Venedig wie keine andere Stadt als architektonisches Extrem, als „die Kunst, das Wasser bewohnbar zu machen.“ 198 Bereits nach Venedig zu fahren, bedeutet den Wasserweg zu nehmen. 199 So kann sich Melanies 191 Vgl. hierzu ausführlicher Angelika Corbineau-Ho mann: Paradoxie der Fiktion: Literarische Venedig-Bilder 1797-1984. Berlin, New York 1993, S. 321 sowie Martin Nies: Venedig als Zeichen, S. 344-349. 192 Goethe schreibt beispielsweise am 29. September 1786 in der ‚Italienischen Reise‘ vom „Labyrinth der Stadt, welche, obgleich durchaus von Canälen und Canälchen durchschnitten, durch Brücken und Brückchen wieder zusammenhängt.“ ( Johann Wolfgang von Goethe: Italiänische Reise. I., S. 104.) Ebenso konstatiert der Baedeker: „Diese engen Gassen bilden ein Gewirr, in welchem sich zurecht zu nden dem Fremden schwierig wird.“ (Karl Baedeker: Ober-Italien (1861), S. 134.) 193 Hierfür spricht ebenso die Abweichung von der kanonischen Reiseroute insgesamt. (Vgl. hierzu Seite 251 sowie Fußnote 46 auf Seite 254 dieser Arbeit.) 194 Vgl. hierzu die Seiten 75, 97, 131, 136, 164, 217, 246 und 261 dieser Arbeit sowie die Fußnoten 91 auf S. 52 und 178 auf S. 75. 195 Vgl. Sabine Engel: Das Lieblingsbild der Venezianer, S. 236. 196 Vgl. ebd., S. 234 und Fußnote 79 auf Seite 133 dieser Arbeit. 197 Theodor Fontane: Ein Sommer in London, S. 2. 198 Jan Pieper: Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne - Zur Einführung, S. 5. 199 Vgl. Martin Nies: „Die unwahrscheinlichste der Städte“. Raum als Zeichen in Thomas Manns Der Tod in Venedig . In: Wollust des Untergangs: 100 Jahre Thomas Manns Der Tod in Venedig. Hrsg. von Holger Pils und Kerstin Klein. Göttingen 2012, S. 10-21, hier S. 11. <?page no="297"?> 5.5 Venedig 285 ‚Erquickung‘, die stets in der Nähe von ungebändigtem Wasser auftritt, 200 in der im Wasser gebauten Stadt gänzlich entfalten und verweist bereits auf ihr Überleben, denn etymologisch steht ‚erquicken‘ im Zusammenhang mit „„lebendig machen, wiederbeleben““. 201 Zudem erinnert sich Melanie an die Stralauer Landpartie, bei der Van der Straaten die Berliner Schlosskuppel mit eben dieser venezianischen Kirche vergleicht und dabei ihren Namensteil ‚della Salute‘ fälschlich in ein „[...] Santa Maria Saluta [...]“ (65) wandelt, was Melanie seinerzeit Anlass zur Korrektur gegeben hat. Zuweilen wird dies von der Forschung zu unrecht kritisiert, 202 wobei übersehen wird, dass jene Korrektur keiner pädagogischen Spitz ndigkeit Melanies geschuldet, sondern für die Protagonistin vielmehr von lebensentscheidender Bedeutung ist: Denn im Gegensatz zur italienischen Grußformel Saluta bedeutet Salute „[...] Heil[,] [...]“ (127) wodurch die Baugeschichte der Santa Maria della Salute 203 auf Melanies Genesung verweist, haben doch die Venezianer während der großen Pest im Jahr 1630 in der Frari-Kirche vor Tizians „Assunta“ um Hilfe gebeten und bei Errettung von der Pest einen neuen Kirchenbau gelobt. 204 Nach Erlösung von der Seuche entscheidet der venezianische Senat, die Votivkirche Dabei werden Gondel oder Barke von den Venezianern genutzt wie andernorts Droschke oder Fiaker. (Vgl. hierzu Karl Baedeker: Italien. Erster Theil: Ober-Italien (1877), S. 201.) 200 Sowohl am schäumenden Inn (123) als auch im wasserreichen Garten der Villa d’Este (121) stellt sich bei Melanie eine Erquickung ein, die bereits ihre Wiedergeburt antizipiert. (Vgl. dazu auch Seite 246 und Abschnitt 5.4.1 dieser Arbeit.) Im Gegensatz hierzu steht Melanies Zwan[g] (46) im Stadthaus auf der Insel Cölln, die von einer massiven Forti kation umgeben ist, die die Spree kanalisiert. (Vgl. Seite 69 dieser Arbeit.) 201 Duden. Das Herkunftswörterbuch. Hrsg. von der Dudenredaktion, S. 257. 202 Zeitz beispielsweise sieht diese als „unwillig“. (Gottfried Zeitz: Die poetologische Bedeutung des Romans „L’Adultera“ für die Epik Theodor Fontanes, S. 173.) 203 Vgl. Karl Baedeker: Italien. Handbuch für Reisende. Erster Theil: Ober-Italien bis Livorno, Florenz und Ravenna, nebst der Insel Corsica und den Reise-Routen durch Frankreich, die Schweiz und Oesterreich. Mit 8 Karten und 32 Plänen. Neunte verbesserte Au age. Leipzig 1879, S. 251. 204 Vgl. exemplarisch Eberhard Horst: Venedig, die Stadt im Meer. Ein Reiseführer. Freiburg im Breisgau 1967, S. 115. Hier schließt sich der Kreis, zwischen Melanies Liebe zu Tizian und Rubehns Liebe zu den ‚Meistersingern‘ sowie dem positiven Romanende, hat doch der Legende nach Wagner vor der „Assunta“ seine Inspiration zu den ‚Meistersingern‘ gefunden. (Vgl. dazu Seite 135 dieser Arbeit.) <?page no="298"?> 286 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ Santa Maria della Salute zu bauen 205 und so bürgt der Namensteil Salute nicht nur für die Heilung Venedigs, sondern auch für die, der als Venus imaginierten Melanie. Und sie gingen, und dort war es, wo die bange Stunde kam. Und einen Tag lang wußte der Zeiger nicht, wohin er sich zu stellen habe, ob auf Leben oder Tod. 206 Als aber am Abend, von über dem Wasser her, ein wunderbares Läuten begann, und die todtmatte Frau auf ihre Frage „von wo“ die Antwort emp ng „von Della Salute“, da richtete sie sich auf und sagte: „Nun weiß ich, daß ich leben werde.“ (127) 207 In diesem Krisenmoment gelangt Melanie zu der Erkenntnis, dass sie leben wird. 208 Die Lagunenstadt und nicht wie erwartet Rom wird zum Ort der Ho nung und Rettung 209 sowie der „metaphorisch[en] ‚Wiedergeburt‘“: 210 Melanie bringt ein gesundes Kind zur Welt und überlebt, „als Zeichen eines neuen, anderen Lebenskonzeptes“ 211 sowie „als Garantie weiterer bürgerlich-familiärer Zukunft.“ 212 Dies widerspricht erneut zwei gängigen Topoi der Venedigliteratur: 205 Vgl. Andrew Hopkins: Santa Maria della Salute. Architecture and Ceremony in Baroque Venice. Cambridge 2000, S. 1. 206 Die Möglichkeit ihres Todes wird auch über die Göttin Venus selbst implementiert, denn in der Antike hat es den Brauch gegeben, „die Gräber von jungen Mädchen und Frauen unter den Schutz der Venus zu stellen“. (Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Hrsg. von W. H. Roscher. Sechster Band, Spalte 203.) Auch Venedig erö net jene Möglichkeit, gilt doch die Stadt als „Signum für Krankheit, Siechtum und Ansteckungsgefahren“. (Martin Nies: Venedig als Zeichen, S. 344.) 207 Ein Tod Melanies wäre kulturgeschichtlich betrachtet fast zwingend, denn zur Romanzeit herrscht die weit verbreitete Meinung vor, der Tod der Frau könne die Ordnung der Gesellschaft wiederherstellen. (Vgl. hierzu allgemein Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. Würzburg 2004, S. V sowie Angela Berlis: Zeichenhaftes Sterben - Deutungen des Todes von Frauen und Männern am Beispiel des Martyriums. In: Sensenfrauen und Klagemann. Sterben und Tod mit Gendervorzeichen. Hrsg. von Silvia Schroer. Zürich 2014, S. 53-70, hier S. 66.) 208 Während Melanie in Rom glaubt, daß sie sterben werde, (126) „[...] weiß [...]“ (127) sie in Venedig, dass sie „[...] leben w[ird].“ (127) 209 Vgl. beispielsweise Arturo Lacrati: Ekphrasis bei Fontane und Marie Luise Kaschnitz, S. 124 sowie Nobert Wichard: Berliner Wohnräume - Kulturraum Venedig, S. 67. Ähnlich wertet Nies „Venedig als Extrem- und Wendepunkt“ (Martin Nies: Venedig als Zeichen, S. 202.) der Fluchtreise. 210 Ebd., S. 202. 211 Hiltrud Bontrup: „... auch nur ein Bild.“, S. 41. 212 Hans Otto Horch: Annäherungen an ein Jahrhundertereignis, S. 58. Im Unterschied dazu bringt die todgeweihte Protagonistin in Fontanes früher Erzählung „Geschwisterliebe“ (1839) nahezu zwangsläu g ein totes Kind zur Welt: „„[...] Gestern schenkte mir die Hartgeprüfte ein Töchterchen, doch es war todt; was anders <?page no="299"?> 5.5 Venedig 287 Einerseits demjenigen des in die Stadt hineinprojizierten Gefährdungspotentials 213 sowie andererseits demjenigen der Venedig als verfallende Stadt zur „Totenstadt“ 214 stilisiert. Der Roman bietet hier einen Gegenentwurf an: Venedig wird von der Stadt des Todes zur Stadt des Lebens, 215 was der Tatsache entspricht, dass Venedig zeitgenössischer Kurort ist, 216 den Melanie zusammen mit dem kurerfahrenen und als Bartholomäus imaginierten Rubehn besucht. 217 Darüber hinaus scheint die Prädestination in Melanies Leben keine Rolle mehr zu spielen: Während der Kommerzienrat einen vermeintlich unvermeidlichen Ehebruch seiner Gattin mit der Unaufhaltsamkeit der Zeit verbindet, 218 liegt der Fall in Venedig anders, denn hier wußte der Zeiger nicht, wohin er sich zu stellen habe, ob auf Leben oder Tod. (127) Van der Straatens Eingebung vor dem ‚Adultera‘-Gemälde ausgerechnet in Venedig ist im Sinne der Romanlogik folgerichtig, 219 denn gerade die Serenissikonnte auch die Halberstorbene gebären? [...]““ (Theodor Fontane: Geschwisterliebe. In: FE, S. 5-40, hier S. 34.) 213 Vgl. Angelika Corbineau-Ho mann: Paradoxie der Fiktion, S. 440. Beispielsweise wird in Thomas Manns (1875-1955) Novelle „Der Tod in Venedig“ (1911) die Stadt für das sich in der Krise be ndliche Individuum zu einem „gefährlichen Raum“. (Martin Nies: Venedig als Zeichen, S. 228.) In Venedig wird „die eigene Identität auf eine Probe gestellt, aus der das Individuum entweder gestärkt hervorgeht, wie das Goethe-Ich in Italienische Reise (1816/ 17) oder unter der es einen fatalen Selbstverlust erleidet, wie weitaus die Mehrzahl der Protagonisten seit Friedrich Schillers modellbildendem Geisterseher -Fragment aus dem Jahr 1787.“ (Martin Nies: „Jene blendende Komposition phantastischen Bauwerks“ - Venedig als räumliche Manifestation des Fantastischen in ästhetischer Kommunikation. In: Fremde Räume: Interkulturalität und Semiotik des Phantastischen. Hrsg. von Klaus Schenk und Ingold Zeisberger. Würzburg 2017, S. 181-204, hier S. 182.) 214 Norbert Huse: Venedig: von der Kunst, eine Stadt im Wasser zu bauen. München 2008, S. 205. 215 Im Unterschied hierzu verbindet sich die Lagunenstadt im Roman „Schach von Wuthenow“ bezüglich der bevorstehenden Hochzeitsreise mit Wuthenow, dem Ort an dem Schach seinen Suizidgedanken fasst: (Vgl. SW, S. 114 und 140.) „„[...] [O]b Venedig über Wuthenow oder Wuthenow über Venedig den Sieg davon tragen werde. Die Lagunen hätten sie gemeinsam und die Gondel auch [...].““ (SW, S. 144.) 216 Vgl. Robert Flechsig: Bäder-Lexikon, S. 686. 217 Vgl. dazu Seite 221 dieser Arbeit. 218 „[...] Und sieh, Lanni, so will ich es auch machen, und das Bild soll mir dazu helfen ... Denn es ist erblich in unserm Haus’ ... und so gewiß dieser Zeiger ...“ (14) 219 „[...] Und sieh, als wir letzten Sommer in Venedig waren, und ich dies Bild sah, da stand es auf einmal Alles deutlich vor mir. [...]“ (14) Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie, dass nicht die von Van der Straaten beschworenen Bildkünste, sondern der „anspruchsvoll[e] Lärm“[,] (56) sprich die Musik, die Annäherung zwischen Rubehn und Melanie vorantreibt. <?page no="300"?> 288 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ ma erscheint nicht nur zum Karneval, sondern im Allgemeinen als sinnlicher Ort außerhalb der Normen des bürgerlichen Lebens 220 und als erotisierter „heterotoper Raum mit abweichenden Regeln“. 221 Dies lässt sich bereits über die räumliche Erschließung Venedigs erkennen, die unter ge issentlicher Vermeidung von Eisenbahn (127) erfolgt. Denn dem Reisen mit der Eisenbahn ist per se eine Gesellschaftsbezogenheit eingeschrieben, weil es festgelegten Routen und Kursbüchern folgt. 222 In diesem Sinne vermag die heterotope Wirkung Venedigs nicht nur den Anstoß für die vermeintlich prädestinierte Ehebruchsgeschichte zu geben, sondern ermöglicht es der Protagonistin durch sein Dasein als Ausnahmeraum gleichzeitig den Ehebruch mit der Geburt des daraus entstandenen Kindes zu einem für sie glücklichen Ende zu führen. Hat Melanie bereits unmittelbar vor ihrer Ankunft die Stadt mit der Kirche Santa Maria della Salute und jene in ihrer Funktion als „das Wohl, das Heil! “ (127) assoziiert, bestätigt sich ihre Ho nung durch ein wunderbares Läuten (127) von ebenjener Kirche her. Während das Glockengeläut der Petrikirche in Cölln ein bevorstehendes Fehlverhalten indiziert hat, 223 ist dem wunderbaren Läuten der Santa Maria della Salute hingegen eine Erlösung eingeschrieben: 224 „Nun weiß ich, daß ich leben werde.“ (127) So wie für Goethe Rom, wird für Melanie Venedig zum Ort der Wiedergeburt. Dies korrespondiert mit dem Schutzpatron der La- 220 Vgl. Arturo Lacrati: Ekphrasis bei Fontane und Marie Luise Kaschnitz, S. 124. 221 Martin Nies: „Jene blendende Komposition phantastischen Bauwerks“ - Venedig als räumliche Manifestation des Fantastischen in ästhetischer Kommunikation, S. 181. Ebenso sei an die Wahrnehmung Venedigs als Ort erotischer Libertinage und seit dem 13. Jahrhundert als „Bordell Europas“ (Ebd., S. 181.) gedacht sowie an die erotische Lebensbeichte des historischen Casanova. (Vgl. Martin Nies: Venedig als Zeichen, S. 346-347.) Auch romanintern ist durch Kagelmanns Ehebruchsgeschichte die erotische Anziehungskraft des Italienischen bezeugt. (Vgl. 90) 222 Vgl. Daniela Ahrens: Grenzen der Enträumlichung. Weltstädte, Cyberspace und transnationale Räume in der globalisierten Moderne. Opladen 2001, S. 32. Zugleich kann das Vermeiden der Eisenbahn in einen gesundheitsfördernden Kontext eingeordnet werden. (Vgl. hierzu das Kapitel „Pathologie der Eisenbahn“ in Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 106-112.) 223 Die dumpfen und langsamen Schläge der Kirche antizipieren die zunächst unnachgiebige Härte der Gesellschaft: Niemand war für sie zu Haus, ihr Gruß wurde nicht erwidert, und ehe der Winter um war, wußte sie, daß man sie, nach einem stillschweigenden Uebereinkommen, in den Bann gethan habe. Sie war todt für die Gesellschaft[.] (138. Vgl. zudem die Seiten 41 und 316 dieser Arbeit.) 224 Vgl. Helmuth Nürnberger: Ein fremder Kontinent - Fontane und der Katholizismus, S. 83 und hierzu ähnlich Martin Nies: Venedig als Zeichen, S. 202. <?page no="301"?> 5.5 Venedig 289 gunenstadt, dem Evangelisten Markus 225 und seinem Attribut, dem ge ügelten Löwen, der für Auferstehung und Todesüberwindung steht. 226 Ein weiteres Schlaglicht auf die Funktion der Musik, hier in Form der läutenden Glocken, wirft Richard Wagners Beethoven-Aufsatz aus dem Jahr 1870. Hierin schildert er den nächtlichen Gesang der venezianischen Gondolieri und spitzt im Rekurs auf Arthur Schopenhauer 227 „die Bedeutung des Klingenden gegenüber dem Bildlichen, der Musik gegenüber der bildenden Kunst [...] zu. Er stellt fest, dass die Wirklichkeit ein Trugbild unserer Sinne sei.“ 228 Wie Matthias Schmidt analysiert, kommt Wagner zu dem Fazit: Die Bildkünste, die ja in Venedig ihre augenscheinliche Dominanz zutage treten lassen, bemühten sich zwar auch um eine „Enttäuschung“ der Trugwelt durch darstellerische Klarheit [...]. Doch einzig die Musik, die nach Schopenhauer vom „Wesen“ der Dinge und nicht nur von ihren „Schatten“ zu künden vermögen, können ein „unmittelbares Bewußtsein der Einheit unseres inneren Wesens mit der äußeren Welt“ geben. 229 Das beschriebene Spannungsverhältnis von Sehen und Hören, ndet dabei seine metaphorische Entsprechung im taghellen bzw. nächtlichen Venedig. 230 Auch Melanie, die in ihre frühere Melancholie zurückverfallen (126) und entsprechend uneins mit sich und der Welt (105) ist, vernimmt am Abend, [sic! ] von über dem Wasser her, ein wunderbares Läuten[,] (127) wodurch sie ihr Überleben erkennt. 225 Vgl. Joachim Schäfer: Markus. In: Ders.: Ökumenisches Heiligenlexikon (DVD-Version): Leben und Wirken von mehr als 3000 Personen der Kirchengeschichte: der katholischen Kirche, der orthodoxen Kirchen, aus den protestantischen und anglikanischen Kirchen. Stuttgart 2018. 226 Vgl. Uta Schaubs: St. Barbara in Ortrand: „Durch das Leiden zur Auferstehung“ (1986- 1988). In: Friedrich Press (1904-1990). Kirchenräume in Brandenburg. Hrsg. von Henriette von Preuschen. Berlin 2008 (= Arbeitsheft des Brandenburgischen Landesamtes für Denkmalp ege und Archäologischen Landesmuseums; Band 20), S. 147-156, hier S. 153. 227 Fontane hat sich vielfältig mit Schopenhauer beschäftigt. (Vgl. hierzu Hanna Delf von Wolzogen: „Eine gefährliche Lektüre.“ Fontane liest Schopenhauer. In: Formen ins O ene. Zur Produktivität des Unvollendeten. Hrsg. von ders. und Christine Hehle. Berlin, Boston 2018, S. 120-143, hier S. 124.) 228 Matthias Schmidt: Inszeniertes Hören, S. 157. 229 Ebd., S. 157. Diese Einschätzung Wagners verdeutlicht erneut, dass Rubehn aufgrund der gemeinsamen Liebe zur Musik der zu Melanie passende Ehemann ist. 230 Vgl. Matthias Schmidt: Inszeniertes Hören, S. 157. <?page no="302"?> 290 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ (Vgl. 127) Bemerkenswert daran ist, dass Melanie das Geläut der Kirche hört, diese dabei jedoch dezidiert nicht sieht. Hierdurch wird erneut die Unvereinbarkeit der Eheleute Van der Straaten verhandelt, denn während Melanie zu den Musikschwärmern zählt, lebt der Bilderschwärmer Van der Straaten durch sein kunstgeübtes Auge (27) in der Welt des Bildes (65): 231 „Sieh, Melanie. Die Schloßkuppel. Sieht sie nicht aus wie Santa Maria Saluta? “ (65) Zudem wird hiermit ein weiteres Spannungsfeld der Ehe angesprochen, denn während Melanie, die bloße Festlegungen auf vermeintliche Kopien ablehnt, 232 das Original aufsucht, lebt der Kommerzienrat in der Welt der Kopien und des Vergleichs. 233 Einen weiteren, anders konnotierten Bezug zu Richard Wagner, genauer zu dessen Oper Tannhäuser, stellt Heide Eilert her: So erinnert Melanies Flucht nach Italien an Tannhäusers Pilgerfahrt und Heilssuche, wobei beide ihr Heil gerade nicht in Rom nden. Auch Melanies Genesung weist Parallelen zum Geschehen der Oper auf, denn sowohl Tannhäuser als auch Melanie hören Erlösung verheißende Glocken und suchen ihr Heil in Maria. 234 Eilert wertet die Tatsache, dass Melanie ihr Heil gerade in der Stadt der Décadence ndet, als Absage „an die „Sünde“ des Ehebruchs“, 235 welche durch den venezianischen Tintoretto xiert sei. 236 Diese Einschätzung möchte ich insofern abschwächen, als dass es sich nicht um eine Absage, sondern vielmehr um den Versuch eines „[...] Ausgleich[s] [...]“ (139) handelt. Dass ebenjener Versuch gelingen kann, ist dabei vor allem der Spezi k Venedigs geschuldet, denn der Stadt ist seit jeher aufgrund ihrer 231 So spricht Melanie beispielsweise von Van der Straatens „[...] bilderreiche[r] Einbildungskraft [...].“ (84) 232 Vgl. hierzu Melanies Selbsteinschätzung: „[...] Ich bin doch anders. [...]“ (110) 233 „Für ihn ist die Welt in rigoros getrennte Typisierungen aufgeteilt. [...] Für ihn ist alles eine Alltäglichkeit, ein typischer, sich in identischer Weise wiederholender Vorgang, eine kongruente oder programmatisch-realistische Kopie, die sich immer schon ähnlich bereits einmal ereignet hat.“ (Marion Doebeling: Eine Gemäldekopie in Theodor Fontanes ‚L’Adultera‘. Zur Destabilisierung traditioneller Erwartungs- und Sinngebungsraster. In: Germanic Review 68 (1993), S. 2-10, hier S. 6.) 234 Vgl. Heide Eilert: Im Treibhaus, S. 515. Die Glocken verkünden Melanie jedoch im Unterscheid zum sterbenden Tannhäuser das Heil in der „Doppelbedeutung von religiösem Heil und Gesundheit“ (Ebd., S. 514. Vgl. ebenso Winfried Jung: Bildergespräche, S. 139.) Auch Helmuth Nürnberger zufolge sind im venezianischen Geläut „„Tannhäuser-Anspielungen“ enthalten“. (Helmuth Nürnberger: Ein fremder Kontinent - Fontane und der Katholizismus, S. 83.) 235 Heide Eilert: Im Treibhaus, S. 515. 236 Vgl. ebd., S. 515 sowie Isabel Nottinger: Fontanes Fin de Siècle, S. 168. <?page no="303"?> 5.5 Venedig 291 geographischen Lage eine Sonderstellung eigen. 237 Während Melanie in Rom - obwohl es gemeinhin als die Stadt des Heils begri en wird - nicht gesunden kann, da sie in der Petrusstadt beständig topographisch mit ihrer Schuld konfrontiert ist, kann sie sich in Venedig von ihren Schuldgefühlen lösen, weil hier stets der Ausgleich zwischen beiden sich widersprechenden abendländischen Frauenbildern gelungen ist: Venedig vermag es nicht nur, sich mit der meergeborenen Jungfrau Maria, sondern auch mit der gleichfalls meergeborenen Liebesgöttin Venus gleichzusetzen. 238 In diesem Kontext ist das auch titelgebende Tintoretto-Gemälde „Cristo e adultera“ zu berücksichtigen: Fontane besichtigt das Bild an seinem letzten Tag in Venedig, am 09. Oktober 1874, in der Akademie und nennt es als eines der Bilder, welches ihm besonders gefallen hat. (Vgl. Rt, S. 318-319.) 239 Die Geschichte der ‚Adultera‘ erkennt Jacob Burckhardt als das Lieblingssujet der Venezianer, 240 welches in Venedig - im Unterschied zu anderen italienischen Städten - nie in Vergessenheit geraten ist, weil das Sujet durch Darstellungen in der Markuskirche sowie im Dogenpalast mehrfach vertreten ist und den Venezianern so stets vor Augen steht. 241 Während die Markuskirche, insbesondere durch ihre Liturgie, Bezüge zwischen der ‚Adultera‘ und Maria erkennen lässt, zeichnet das Ausstattungsprogramm des Dogenpalastes Parallelen zwischen der ‚Adultera‘ und Venus. 242 Die wiederholte Wahl der ‚Adultera‘ als Motiv versinnbildlicht dabei 237 Vgl. Francesca Del Torre Scheuch: Die Venezianische Malerei vom Cinquecento bis zum Settecento, S. 163. 238 Vgl. Sabine Engel: Das Lieblingsbild der Venezianer, S. 233. 239 Fontanes Verhältnis zu Tintoretto ist ambivalent: So urteilt er über das Riesengemälde „Die Glorie des Paradieses“, welches er am 08. Juli 1874 in Venedig sieht: „Es ist ohne alle Tiefe, ohne jeden geistigen Gehalt. Flott zusammengeschmiert.“ (Rt, S. 215. Vgl. zu Fontanes Verhältnis zu Italien und den italienischen Meistern beispielsweise Christian Grawe: „Italian Hours“. Theodor Fontane und Henry James in Italien in den 1870er Jahren. In: Fontane und die Fremde, Fontane und Europa. Hrsg. von Konrad Ehlich. Würzburg 2002, S. 276-294.) 240 Vgl. Sabine Engel: Das Lieblingsbild der Venezianer, S. 259. 241 Vgl. ebd., S. 70. Während Burckhardt das Bild vorrangig dem Hausbesitz zuschreibt, kann Engel belegen, dass es hauptsächlich in Kirchenräumen zu nden ist. (Vgl. ebd., S. 173.) 242 Vgl. hierzu ausführlich ebd., S. 111-120 und 233-247. Vgl. zur Omnipräsenz Mariens und ihrer Ähnlichkeit zu Venetia in der venezianischen Kunst Thomas Maissen: Die Bedeutung der christlichen Bildsprache für die Legitimation frühneuzeitlicher Staatlichkeit. In: Religions-Politik I. Zur historischen Semantik europäischer Legitimationsdiskurse. Hrsg. von Georg P eiderer und Alexander <?page no="304"?> 292 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ die „Tugend der Milde“ 243 und steht für Venedig selbst, welches in seiner Selbstdarstellung vor allem sein „buon governo propagierte.“ 244 Mithilfe des Sujets der ‚Adultera‘ und seiner christlichen Ikonographie in Form der „Rehabilitierung der sündigen Frau“, 245 erfährt zugleich der Makel der ehebrecherischen Göttin Venus eine Beschwichtigung. 246 Hier sei an Melanies eigene Interpretation des Gemäldes erinnert, die au ällig der versöhnlichen Sicht der Venezianer entspricht. (Vgl. 12-13) So verknüpfen sich im Geläut der Santa Maria della Salute von über dem Wasser her (127) die entgegensetzten Frauenbilder von Maria und Venus zum Wissen über das eigene Überleben. Venedig kann für Melanie so zum Ort der Vergebung und Heilung werden, 247 da hier traditionell die unterschiedlichen Frauenbilder koexistieren. Heit. Zürich, Baden-Baden 2013 (= Schriftenreihe des Zentrums für Religion, Wirtschaft, Politik; Band 6), S. 73-192, hier S. 154. 243 Richard Faber: „... der hebe den ersten Stein auf sie.“, S. 144. Im Gegensatz dazu schreibt Melanie aus Rom: Immer dasselbe „Steinige, steinige“. Und die Stimme schweigt, die vor den Pharisäern das himmlische Wort sprach. (123) 244 Sabine Engel: Das Lieblingsbild der Venezianer, S. 125. Venedig hat seit der Renaissance den Anspruch, ein zweites Rom zu sein und versteht sich als altera Roma. (Vgl. Gerhard Rösch: Venedig. Geschichte einer Seerepublik. Stuttgart 2000, S. 22.) Tatsächlich ist die Zufriedenheit der Venezianer mit ihrer Regierung bezeugt. (Vgl. zum Beispiel Karl Friedrich Rudolf: Venedig und Spanien im 17. und 18. Jahrhundert, S. 78.) 245 Sabine Engel: Das Lieblingsbild der Venezianer, S. 247. Ergänzend sei hier an Melanies Vermutung im Hinblick auf das Gemälde und die vermeintliche Intention des Venezianers Tintoretto erinnert: „Und ich kann mir nicht helfen, es liegt so was Ermuthigendes darin. Und dieser Schelm von Tintoretto hat es auch ganz in diesem Sinne genommen.“ (12) 246 Die der Personi zierung Venedigs mit der Ehebrecherin Venus innewohnende politische Brisanz hat man mithilfe der christlichen ‚Adultera‘ und ihrer Rehabilitierung durch Jesus nach dem Johannesevangelium zu beschwichtigen versucht. (Vgl. Sabine Engel: Das Lieblingsbild der Venezianer, S. 233-247.) 247 An dieser Stelle ist Martin Nies zu widersprechen, der meint, es sei gerade der Spezi k Venedigs als Ort aufgeweichter Normen geschuldet, dass „die unglückliche Ehebrecherin [...] Heilung erfahren und sich für den Liebhaber aussprechen [...] [kann].“ (Martin Nies: Venedig als Zeichen, S. 346-347.) Zum einen steht Melanies Melancholie nicht im Zeichen eines Unglücklichseins, (Vgl. 126) sondern vielmehr in der Erwartung einer Bestrafung für ihre Vergehen. Zum anderen ist Rubehn nicht mehr nur Melanies Liebhaber, sondern mit der Heirat in Rom nunmehr ihr Ehegatte. Ebenso geht Helmuth Nürnberger in der Annahme fehl, Melanie hätte in Rom keine „juristische Klärung ihrer Situation“ (Helmuth Nürnberger: Ein fremder Kontinent - Fontane und der Katholizismus, S. 83.) erfahren. <?page no="305"?> 5.6 Interlaken 293 Darüber hinaus kann der Leser über die topographische Spezi zierung von über dem Wasser her (127) erschließen, dass das Quartier der Familie Rubehn auf der anderen Seite des Canal Grande, dem Hauptverkehrsweg der Stadt, liegt. 248 Zum einen folgt das Paar damit erneut einer Empfehlung des Baedekers, 249 bei längeren Aufenthalten Privatwohnungen am Canal Grande zu nutzen, 250 zum anderen wird mit dem Wohnort im Zentrum Venedigs 251 eine Reintegration in die Gesellschaft antizipiert, was durch den Kontrast zur römischen Adresse, fernab des Fremdenviertels und der Via del Corso, unterstrichen wird. 5.6 Interlaken [A]ls die Herbsttage kamen, (127) verlassen Rubehn und Melanie Venedig, die Stadt, an die sie sich durch ernste und heitere Stunden auf ’s innigste gekettet fühlten und gingen in die Schweiz, um in dem lieblichsten der Thäler, in dem Thale „zwischen den Seen“ eine neue vorläu ge Rast zu suchen. Und sie lebten hier glücklich-stille Wochen[.] (127-128) Über die Periphrase „zwischen den Seen“ (128) kann der Leser schlussfolgern, dass die Familie Rubehn in Interlaken verweilt. Die Beschreibung in dem lieblichsten der Thäler (128) korrespondiert mit der topographischen Lage Interlakens, welches durch die umgebenen Gebirgszüge - gleichsam wie „Schutzmauern“ 252 - vor Wind geschützt wird. 253 Zudem liegt Interlaken - ein Gebilde aus Dörfern 248 Vgl. zum Canal Grande als Hauptverkehrsader exemplarisch Francesca Del Torre Scheuch: Die Venezianische Malerei vom Cinquecento bis zum Settecento, S. 163. 249 Vgl. Seite 282 dieser Arbeit. 250 Vgl. Karl Baedeker: Italien. Erster Theil: Ober-Italien (1879), S. 211. 251 Der Baedeker vergleicht den Canal Grande, die „Haupt-Pulsader-Venedigs“ (Karl Baedeker: Ober-Italien (1861), S. 152.) mit der Via del Corso in Rom und den ‚Linden‘ in Berlin. (Vgl. ebd., S. 153.) 252 L. Delachaux: Der klimatische Luftkurort Interlaken im Berner Oberland. Seine hygienischen Vorzüge und seine Annehmlichkeiten. Interlaken 1885, S. 6. Vgl. den hierzu ähnlichen „Mythos der Schweiz als uneinnehmbare Festung.“ (Peter von Matt: Die tintenblauen Eidgenossen, S. 21.) 253 Vgl. L. Delachaux: Der klimatische Luftkurort Interlaken im Berner Oberland, S. 6. Hierdurch unterscheidet sich Interlaken deutlich von Rom, welches zwar gleichfalls in einer Ebene liegt, jedoch dadurch keinen klimatischen Schutz erfährt. (Vgl. Handbuch der allgemeinen Therapie. Hrsg. von Hugo von Ziemssen, S. 187.) <?page no="306"?> 294 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ zwischen dem Brienzersee und dem Thunersee 254 - auf dem Bödeli, einer sogenannten Schwemmebene. 255 Schwemmebenen sind Gebiete, die von Flüssen während Zeiten hohen Ab usses überschwemmt werden. 256 Die topographische Lage Interlakens, sowohl zwischen den beiden Seen als auch an einem Fluss, der Aare, die bei Flusshochwasser das umliegende Gelände überschwemmt, kommen der wassera nen Melanie zupass und erklären den erzählerischen Hinweis der glücklichen Wochen. (Vgl. 128) Überdies ist Interlaken ein Kurort: Die Kurorte Europas entwickeln sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu „Gegenwelten moderner Großstadtkulturen“ 257 und sind dabei realer Gegenraum und Sehnsuchtsort mit „utopische[m] Potential.“ 258 Daher ist Interlaken - nicht nur aufgrund seiner Wassernähe - mit dem „für Realitäts uchten prädestinierten Ausnahmeraum“ 259 Venedig vergleichbar. Konnte sich Melanie in Venedig von ihren Schuldgefühlen und damit ihrer Melancholie befreien, kann sie in Interlaken ihren Heilungsprozess fortsetzen, denn gerade jener Kurort hat in der medizinischen Welt den Ruf, Melancholiker zu heilen. 260 Zugleich wird über den Hinweis auf glücklich-stille Wochen (128) der für den heutigen Leser sonderbar anmutende Saisonverlauf verhandelt: So gilt der Kurort Interlaken bereits zur Romanzeit als „große Zentrale des Fremdenverkehrs des 254 O zieller Name der aus mehreren Dörfern und Siedlungen bestehenden Gemeinde im Berner Oberland ist bis zum Jahr 1891 Aarmühle. Aus touristischem Kalkül erfolgt dann die Umbenennung zu Interlaken, dem Namen eines mittelalterlichen Augustinerstifts, welches den historischen Kern der Gemeinde bildet. Das für die Gemeinde ursprünglich namensgebende Dorf Aarmühle entsteht ebenfalls im Mittelalter an der Verbindungsstraße zwischen ‚Kloster Interlaken‘ und der Stadt Unterseen. (Vgl. Armand Baeriswyl: Zweimal gegründet? Das Chorherren- und Chorfrauenstift Unserer Lieben Frau von Interlaken im Berner Oberland. In: Die Deutsche Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit. Band 27 (2014), S. 191-200, hier S. 191.) 255 Conrad Meyer-Ahrens: Interlaken im Berner Oberland namentlich als Klimatischer und Molken-Kurort. Bern 1869, S. 1. 256 Ein typisches Beispiel für diesen E ekt stellt der Amazonas dar: In Zeiten geringen Ab usses ‚nur‘ wenige Kilometer breit, schwillt er während der jährlichen Überschwemmungsperiode auf bis zu 50 Kilometer Breite an. (Vgl. Michael Begon, Robert W. Howarth und Colin R. Townsend: Ökologie. Aus dem amerikanischen übersetzt von Andreas Held. 3. Au age. Berlin, Heidelberg 2017 (= Spektrum-Lehrbuch), S. 140.) 257 Mirjam Triendl-Zado : Nächstes Jahr in Marienbad. Gegenwelten jüdischer Kulturen. Göttingen 2007, S. 33. 258 Ebd., S. 18. 259 Martin Nies: Venedig als Zeichen, S. 344. 260 Vgl. L. Delachaux: Der klimatische Luftkurort Interlaken im Berner Oberland, S. 15 und 41. <?page no="307"?> 5.6 Interlaken 295 Berner Oberlandes“ 261 und ist historisch tatsächlich von Familien zu mehrmonatigen Aufenthalten besucht worden, 262 hat jedoch seinerzeit als Sommerkurort seine große Saison im Juli und August. 263 Da Melanie und Rubehn als die Herbsttage kamen (127) in die Schweiz aufbrechen und dementsprechend außerhalb der Saison dort verweilen, wird hierdurch ein gesellschaftliches Außenvorsein evoziert, so wie Melanie konstatiert: [I]ch werd’ [...] alles Glück in meiner Zurückgezogenheit suchen und nden müssen. (125) „Nun ist es Zeit. Es kleidet nicht jeden Menschen das Alter und nicht jede Landschaft der Schnee. Der Winter ist in diesem Thale nicht zu Haus oder paßt wenigstens nicht recht hierher. Und ich möchte nun wieder da hin, wo man sich mit ihm eingelebt hat und ihn versteht.“ (128) Auf den ersten Blick mutet Melanies Feststellung dem Leser des 21. Jahrhunderts befremdlich an, fällt doch heutzutage die Hauptsaison der Schweiz „in den Winter, wenn die schneesicheren Wintersportgebiete die Scharen locken.“ 264 Jedoch hat sich die Schweiz als Winterurlaubsort erst nach der Romanhandlung mit Begründung des Skisports in den Alpen entwickelt. 265 Noch in der späten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist Interlaken kein Winterkurort 266 und die sogenannte stille Jahreszeit erstreckt sich dementsprechend von Oktober bis Juni. 267 261 H.[ans] Kempf: Das Berner Oberland. Praktischer Reiseführer. Zweite, neubearbeitete Au age. Mit drei Karten. Berlin 1911 (= Griebens Reiseführer; Band 110), S. 56. 262 Conrad Meyer-Ahrens: Interlaken im Berner Oberland namentlich als Klimatischer und Molken-Kurort, S. 43. Insbesondere wird Interlaken zur Romanzeit wegen seines vermuteten positiven Ein usses auf die kindliche Entwicklung geschätzt. (Vgl. L. Delachaux: Der klimatische Luftkurort Interlaken im Berner Oberland, S. 42.) 263 Conrad Meyer-Ahrens: Interlaken im Berner Oberland namentlich als Klimatischer und Molken-Kurort, S. 42. 264 Klaus Simon: Schweiz: Die Berge rufen. Ost ldern 2018, S. 119. Heutzutage hat die Schweiz hingegen zwei Hauptsaison-Zeiten, die erste im Sommer zwischen Juni und September und die zweite im Winter. (Vgl. ebd., S. 119.) 265 Vgl. Aurel Schmidt: Die Alpen. Eine Schweizer Mentalitätsgeschichte. Zürich 2011, S. 292. Im Jahr 1891 fertigt der Glarner Christoph Iselin (1869-1949) Skier an und unternimmt erste Schneelaufversuche bei Nacht und Schneegestöber, um sich keinem Gespött auszusetzen. Bereits 1902 verändert sich jedoch die diesbezügliche Mentalität in Glarus, dem Pionierkanton des schweizer Skisports, und es nden erste Skirennen statt. (Vgl. ebd., S. 292-293.) 266 Vgl. L. Delachaux: Der klimatische Luftkurort Interlaken im Berner Oberland, S. 17. 267 Vgl. Karl Baedeker: Die Schweiz, nebst den angrenzenden Theilen von Oberitalien, Savoyen und Tirol. Handbuch für Reisende. Mit 26 Karten, 10 Stadtplänen und 9 Panoramen. Neunzehnte neu bearbeitete Au age. Leipzig 1881, S. XVIII. <?page no="308"?> 296 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ Der beginnende Winter und ein scharfer Nordwest vom Thuner See nach dem Brienzer hinüber (128) motivieren die Abreise aus Interlaken. Dieser erzählerische Hinweis ist insofern von besonderer Bedeutung, als dass sich in der Literatur über Interlaken nur der Verweis auf einen auftretenden kalten Ostwind ndet. 268 Meiner Meinung nach wird hier auf die griechische Windgottheit Zephyros verwiesen: 269 Homer berichtet in seinen Hymnen, dass Zephyros Aphrodite nach ihrer Geburt in ihre neue Heimat Zypern bringt, so wie er auch Amor und Psyche beisteht. 270 Ebenso wird die venusgleiche Melanie durch den scharfe[n] Nordwest (128) zum Aufbruch in ihre „[...] Herzensheimath [...]“ (128) animiert und damit gleichsam von der bergigen Schweiz in das Rubehnsche Domizil - also die Mansarde in der Tiergartenstraße - getragen. 271 So sehnt sich die eingepreußt[e] (123) Melanie nach Berlin, wo man sich ihrer Meinung nach mit dem Winter eingelebt habe. (Vgl. 128) Da die obere Berliner Gesellschaftsschicht in den Wintermonaten im Trubel der Geselligkeit lebt, sehnt sich Melanie o enbar nach ebenjenem Gesellschaftsritus. 272 Auch Rubehn erkennt dies scharfsinnig, wenn er anmerkt: „Ich glaube gar“, lachte Rubehn, „Du sehnst Dich nach der Rousseau-Insel! “ (128) 273 Im Jahr 1792 erhält der Tiergarten südöstlich des Großen Sterns - etwa im Winkel zwischen Großer und Kleiner Sternallee - nach einem Entwurf von Justus 268 Vgl. L. Delachaux: Der klimatische Luftkurort Interlaken im Berner Oberland, S. 7. 269 Zephyros personi ziert in der griechischen Mythologie den West- oder Nordwestwind. (Vgl. Christian Tobias Damm: Götter-Lehre und Fabel-Geschichte der alten Griechischen und Römischen Welt. Neue, umgearbeitete und verbesserte Au age von Friedrich Schulz. Berlin 1797, S. 72.) Die heute gängige Assoziation mit einem milden, säuselnden Zephyros ist zwar bereits zu Homers Zeiten überliefert, jedoch ist Zephyros für die Ionier im Allgemeinen „ein rauher, heftiger Wind“, (E.[duard] Buchholz: Die homerischen Realien. Erster Band: Welt und Natur. Erste Abtheilung: Homerische Kosmographie und Geographie. Leipzig 1871, S. 24-25.) der Regen und Schnee bringt und deshalb den Beinamen δυσαής - gefährlich wehend, widrig - trägt. (Vgl. ebd., S. 25.) 270 Vgl. Homerus: Die Homerischen Hymnen, S. 170. 271 Zu denken wäre erneut an die Sage von „Amor und Psyche“, denn Zephyros bringt Psyche von einem hohen Berg in Amors Palast. (Vgl. Apuleius: Der Goldene Esel. Aus dem Lateinischen des Apuleius von Madaura. Von August Rode. Erster Theil. Zweite Au age, mit einem Titelkupfer. Berlin 1790, Viertes Buch, Seite 179.) 272 Die sogenannte Saison liegt im Winterhalbjahr zwischen Oktober und März. In dieser Zeit besucht sich die Gesellschaft gegenseitig in ihren Häusern. (Vgl. Birgit Wörner: Frankfurter Bankiers, Kau eute und Industrielle, S. 109.) 273 Für den Fragment gebliebenen Roman „Allerlei Glück“ (ca. 1877/ 78) fertigt Fontane eine Lageskizze der Rousseau-Insel an. (Vgl. Hans E. Pappenheim: Geographie als Rüstzeug Theodor Fontanes. In: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 5 (1954), S. 95- 102, hier S. 96.) <?page no="309"?> 5.6 Interlaken 297 Ehrenreich Sellos (1758-1818) seine erste Partie im englischen Stil, daher als ‚Neue Partie‘ bezeichnet. „Einer der Wasserläufe, die hier den Wald durchzogen, wurde zu einem langgestreckten See mit leichtgeschwungenen Umrißlinien erweitert, der im südlichen Teil eine Insel enthielt.“ 274 Auf jener Insel wird wenig später die Gedenkstätte für den verstorbenen Rousseau aus dem Park von Ermenonville bei Paris nachgebildet 275 und erhält dazu passend den Namen Rousseau-Insel, 276 was als „Hommage an den mit seinem Namen in Verbindung gebrachten Anspruch auf Erneuerung des Naturbewußtseins zu verstehen“ 277 ist. Hierdurch bildet sich eine kontextuelle Klammer zu Melanies Entscheidung, ein ihrer Natur gemäßes Leben mit dem für sie passenden Partner - Rubehn - zu führen. Gleichzeitig gehört die Rousseau-Insel im 19. Jahrhundert, insbesondere durch das Schlittschuhlaufen im Winter, zu einem der beliebtesten Aus ugsziele. 278 So verbinden sich über die Erwähnung der Rousseau-Insel sowohl elementarnatürliche 279 als auch gesellschaftsbezogene Aspekte von Melanies Persönlichkeit, 280 denn mit ihrer Sehnsucht nach der Rousseau-Insel gibt sie ihren Wunsch zu erkennen, an Rubehns Seite in die Berliner Gesellschaft zurückzukehren. Des Weiteren zeigt sich erneut die Absage an den calvinistischen Prädestinationsgedanken, wenn es Melanie ausdrücklich nicht nach ihrer Geburtsstadt Genf zieht, denn der Name Johannes Calvin (1509-1564) ist mit dem Namen Genf aufs Engste verknüpft: 281 274 Folkwin Wendland: Der Große Tiergaren in Berlin, S. 72. 275 Vgl. ebd., S. 72. 276 Vgl. zur genauen Lokalisierung der Insel JS1910, Blatt III. C. 277 Susanna Brogi: Der Tiergarten in Berlin - ein Ort der Geschichte, S. 113. 278 Vgl. ebd., S. 113 sowie Karl Baedeker: Berlin und Umgebungen (1891), S. 158. 279 Obgleich der die Rousseau-Insel umschließende Wasserlauf im Zuge der Entstehung der ‚Neuen Partie‘ landschaftsgärtnerisch modi ziert worden ist, ist der ursprüngliche, Altwässer und Verzweigungen bildende, mäandrierende Flusslauf der Spree - trotz weitgehender Kanalisierungen - bis heute und zwar gerade in den Gewässern des Großen Tiergartens erhalten. (Vgl. Berlin-Handbuch. Lexikon der Bundeshauptstadt. Hrsg. vom Presse und Informationsamt des Landes Berlin. Berlin 1992, S. 1114.) 280 In diesem Zusammenhang kann Melanie erneut als Wasserfrau eingeordnet werden. Vergleiche zu diesem Motiv auch Fontanes Fragment „Melusine. An der Kieler Bucht“ (1877): „Das Mädchen ist eine Art Wassernixe, das Wasser ist Ihr Element: baden, schwimmen, fahren, segeln, Schlittschuh laufen. Alles was künstl: oder liter: damit zusammenhängt, entzückt sie [...]. Und elementar geht sie unter.“ (Theodor Fontane: Melusine. An der Kieler Bucht. In: Ders.: Fragmente. Erzählungen, Impressionen, Essays. Im Auftrag des Theodor-Fontane-Archivs. Hrsg. von Christine Hehle und Hanna Delf von Wolzogen. Band 1: Texte. Berlin, Boston 2016, S. 296.) 281 Vgl. Karl Baedeker: Die Schweiz, S. 217. <?page no="310"?> 298 Kapitel 5: Flucht „Nach Süden“ „Sieh, in drei Stunden könnt ich von hier aus in Genf sein und das Haus wiedersehen, darin ich geboren wurde. Aber ich habe keine Sehnsucht danach. Es zieht mich nach dem Norden hin und ich emp nd’ ihn mehr und mehr als meine Herzensheimath. Und was auch dazwischen liegt, er muß es bleiben.“ (128) <?page no="311"?> 6 „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin 6.1 Die Mansarde als ambivalenter Wohnort Das Ehepaar Rubehn kehrt an einem milden Decembertage (128) 1876 nach Berlin zurück und wird [a]m Bahnhof [...] von Rubehns jüngerem Bruder empfangen und in ihre Wohnung eingeführt [...]: eine reizendende Mansarde dicht am Westende des Thiergartens[.] (128-129) 6.1.1 Wohnen im Tiergartenviertel Der neue Wohnort erscheint ambivalent: Einerseits erweckt das Wohnen in der Mansarde den Anschein eines sozialen Abstiegs, 1 andererseits wird die Wohnung als ebenso reich wie geschmackvoll eingerichtet (129) beschrieben. Letzteres korrespondiert mit der Adresse der Rubehns, denn das Tiergartenviertel - im Jahr 1861 zur Stadt Berlin eingemeindet 2 - entwickelt sich im 19. Jahrhundert zu einem der nobelsten Wohnviertel der Stadt. 3 Melanie wird später ebenjene Ambivalenz re ektieren, wenn sie betont: „[...] Mansarde klingt freilich anspruchslos genug, aber dieser Trumeau und diese Broncen sind um so anspruchsvoller. [...]“ (157) Während Familie Rubehn in „L’Adultera“ vom Erzähler in einer Mansarde drei Treppen (139) hoch in der Tiergartenstraße verortet wird, 4 mietet in der 1 Vgl. bezüglich Fontanes Einschätzung zum Wohnen in den oberen Etagen Seite 112 dieser Arbeit. 2 Die Tiergartenstraße liegt zur Romanzeit ganz am Rande der Stadt Berlin im Tiergartenviertel. Der Park ‚Tiergarten‘ wird jedoch erst 1881 zu Berlin eingemeindet und ist bis dahin Gutsbezirk im königlichen Besitz. (Vgl. Susanna Brogi: Der Tiergarten in Berlin - ein Ort der Geschichte, S. 66.) 3 Vgl. Olaf Briese: Die Verdichtung Berlins, S. 433. Georg Brandes bezeichnet beispielsweise das Tiergartenviertel als „fashionable Stadtteil“. (Georg Brandes: Berlin als deutsche Reichshauptstadt, S. 431.) 4 Dies geht aus den Angaben des Erzählers hervor: Zum einen kann Melanie von der Mansarde auf den Tiergarten blicken, (Vgl. 129) zum anderen wohnen die Rubehns beinah Wand an Wand mit Duquede[,] (129) der in der Tiergartenstraße, dicht an der <?page no="312"?> 300 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin außerliterarischen Wirklichkeit im Mai 1856 Fontanes Ehefrau Emilie, gleichfalls im Tiergartenviertel, genauer in der Bellevuestr. 16, die Mansarde des zweiten Stocks der prachtvollen Villa des Geheimrats Kaspar an. 5 Dies spiegelt die beiden vorherrschenden Bautypen des Tiergartenviertels wider: Zum einen die freistehende, zumeist zweigeschossige Villa inmitten großzügiger Schmuckgärten oder Parks und zum anderen den neuen Typus der „städtischen Villa“, wie er im Roman erscheint: 6 Zweibis viergeschossige Gebäude, die in ihrer Grundrißorganisation und -anlage einem ebenfalls gehobenen individuellen Wohnbedürfnis entsprachen, jedoch auf kleinen straßenseitigen Parzellen ohne größere Tiefen- und Breitenentwicklung errichtet wurden. Dementsprechend an eine Bauucht gehalten, kennzeichnete sie eine unmittelbare Korrespondenz mit der jeweiligen Nachbarbebauung. Der bauliche Zusammenhang war entweder direkt durch geschlossene Bebauung bzw. einseitigen Anbau gegeben, oder aber dort, wo die Grundstückseinheiten noch Abstand zuließen, durch Vorbauten, Toreinfahrten und Grundstücksmauern räumlich vermittelt. 7 Im Gegensatz zu den Fontanes, die die Mansarde einer freistehenden zweigeschossigen Villa und damit die überkommene Bauart bewohnen, gehört die Mansarde Hofjäger-Allee (45) wohnt. Darüber hinaus wird das Ehepaar Rubehn später nach dem Blick auf die Mansarde in den Tiergarten einmünden, um dann erneut weiter an der Tiergartenstraße entlang zu laufen. (Vgl. 158 und ergänzend SEB1880; SIN1882 sowie JS1910, Blatt III. B und C.) 5 Theodor Fontane arbeitet zu dieser Zeit als Korrespondent in London, besucht die Familie jedoch in der Bellevuestraße 16 im September 1856 sowie im März und April 1857, bevor die Familie dann gemeinsam von Ende Juli 1857 bis Januar 1859 nach London übersiedelt. (Vgl. hierzu Theodor Fontane und Martha Fontane. Ein Familienbriefnetz, S. 962.) Hier ist Hinrich C. Seeba zu widersprechen, der zwar Fontane die Ortskenntnis über das Tiergartenviertel zugesteht, jedoch behauptet: „Mit seinen bescheidenen nanziellen Mitteln hat er es 1872, als ihn die gründerzeitliche Mietsteigerung aus der Königgrätzer Straße vertrieb, nur etwas weiter westlich in die Potsdamer Straße 134c, aber nie bis ins vornehme Tiergartenviertel gescha t.“ (Hinrich C. Seeba: Berliner Adressen, S. 176.) 6 Vgl. die Dokumentation ‚Diplomatenviertel‘ Berlin Tiergarten: Vergangenheit; Wettbewerb 1985/ 86; Gegenwart 1987. Hrsg. von der Bauaustellung Berlin GmbH. Berlin 1987 (= Internationale Bauausstellung Berlin 1987), S. 10. 7 Ebd., S. 10. Im Unterschied zu den ebenfalls mehrgeschossigen Mietskasernen hat die städtische Villa einen Garten und entsprechend weder Quergebäude noch Werkstätten. (Vgl. Tiergarten. Vom kurfürstlichen Jagdrevier zum Stadtbezirk im Zentrum Berlins. Hrsg. vom Bezirksamt Tiergarten von Berlin. Berlin 1986, S. 43.) <?page no="313"?> 6.1 Die Mansarde als ambivalenter Wohnort 301 des Ehepaares Rubehn zum neuen Bautyp. 8 Gleichfalls wohnt der Legationsrat in der höhergeschossigen modernen Bauart, was sich hier im Hinweis sehr hoch (45) äußert. Interessant ist dabei, dass dies nicht mit der realtopographischen Situation übereinstimmt, denn zwischen Hofjägerallee und Hohenzollernstraße - vornehmlich im Bereich der Tiergartenstraße - hat überwiegend eine lockere Villenbebauung das Straßenbild geprägt. 9 Mit jener Abweichung gegenüber der außerliterarischen Topographie erscheint die Figur Duquede erneut ironisch gefärbt, denn gerade der „Herr Negationsrath“ (24) lehnt alles Moderne ab. 10 Nicht nur Duquedes Wohnstätte selbst, sondern auch das Tiergartenviertel widerspricht seiner reaktionären Haltung, denn das Tiergartenviertel geht nicht - wie die allermeisten anderen Quartiere der heutigen Stadt Berlin - aus einer alten märkischen Siedlung hervor und ist dementsprechend auch nicht historisch gewachsen, sondern vielmehr ein neu entstandenes Viertel. 11 Außerdem ist dieses Gebiet im Jahr 1685 zunächst von französischen Hugenotten besiedelt worden, 12 womit ein weiteres ironisches 8 Dies kommt einerseits im drei Treppen (139) zum Ausdruck, was ein 3. Obergeschoss suggeriert und anderseits im Hofthürmchen (147) der Nachbarbebauung, bedarf doch ein Hof seiner Art nach einer mehr oder weniger geschlossenen Straßenfront, die gerade im neuen Typus realisiert und im alten ausgeschlossen ist. Betonung ndet die geschlossene Straßenfront überdies im beinah Wand an Wand mit Duquede (129). 9 Vgl. die Dokumentation ‚Diplomatenviertel‘ Berlin Tiergarten. Hrsg. von der Bauaustellung Berlin GmbH, S. 10. Den neuen Typus der ‚städtischen Villa‘ ndet man zur Romanzeit vor allem in den Nebenstraßen, während die Tiergartenstraße jedoch als die Hauptstraße des Tiergartenviertels anzusehen ist. (Vgl. ebd., S. 10.) Der heutige Charakter des südlichen Tiergartens mit seinen Staatsbauten und Botschaften kommt erst später. (Vgl. ebd., S. 10.) Den Anfang hiermit macht 1888 die chinesische Botschaft. (Vgl. Kulturforum. Konzept zur Weiterentwicklung. Senatsbeschluss (16. März 2004) und Information zu Geschichte, Planung und Konzeption. Hrsg. von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Berlin 2004, S. 20.) Im östlichen Teil des Viertels sowie im südlichen Bereich rechts und links der Friedrich-Wilhelm-Straße, der an den 1869 angelegten Lützowplatz anschließt, kommt es hingegen sukzessive zu einer intensiven Verdichtung. (Vgl. die Dokumentation ‚Diplomatenviertel‘ Berlin Tiergarten. Hrsg. von der Bauaustellung Berlin GmbH, S. 10 sowie ergänzend SEB1880 in Gegenüberstellung zu JS1910, Blatt III. C. und H.) 10 Er ist beispielsweise abgeschworener Feind aller Platzübergänge mit Eisenbahnschienen und Pferdebahn-Geklingel (42) und macht keinen Hehl aus seiner Ablehnung gegenüber Bismarck, (24) dem „[...] Reichsbaumeister [...].“ (45) 11 Susanna Brogi: Der Tiergarten in Berlin - ein Ort der Geschichte, S. 65. 12 Vgl. Kulturforum. Hrsg. von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, S. 20. <?page no="314"?> 302 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin Schlaglicht auf Duquede geworfen wird, denn jener wird zu seiner Empörung (24) für einen Colonie-Franzosen (24) gehalten. Des Weiteren spiegelt seine Adresse in der Tiergartenstraße, aber dicht an der Hofjäger-Allee (45) die allgemeine Verdrängung des Adels durch die Bourgeoisie wider: Auf der Hofjägerallee nden ab dem Jahr 1846 in den Sommermonaten mittwochs und sonnabends Korsofahrten des Hofs und der adeligen Gesellschaft unter musikalischer Begleitung von Kapellen dreier Regimenter statt. 13 Die hohe Beteiligung führt dazu, dass die Hofjägerallee zu dieser Zeit in ihrer ganzen Länge mit vier Reihen blumengeschmückter Equipagen bevölkert ist. Durch die Revolution von 1848 ndet der Korso sein vorläu ges Ende. 14 Erst in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts lebt dieser, nun allerdings in der Tiergartenstraße, wieder auf. Im Unterschied zu den Korsofahrten vor 1848 dominieren nun jedoch die Equipagen der Finanz- und Industriellenwelt, während der Adel in der Minderheit bleibt. 15 Ebenso wie bei den Korsofahrten der Adel durch die Bourgeoisie verdrängt wird, kann anhand der Figur des „[...] Legationsrath[es] a. D. [...]“ (58) der Wandel der preußischen Gesellschaft nach der Reichsgründung 1871 und den Bismarckschen Reformen abgelesen werden, oder um es mit Duquede zu sagen: „[...] und auch das verdanken wir unsrem großen Reichsbaumeister, der die soliden Werkleute fallen läßt oder bei Seite schiebt [...].“ (45) Für die Verdrängung des Adels legt ebenso ein weiteres Detail seiner Adresse dicht an der Hofjäger-Allee (45) Zeugnis ab, denn der ‚Höfjäger‘, der die Aufsicht über das königliche Jagdrevier des Tiergartens führt, 16 wird seit 1830 durch den sogenannten ‚Tiergartenjäger‘ ersetzt. 17 So erscheint der „Altmärkisch[e] von Adel“ (58) an seiner Adresse - in einem Wohnhaus neumodischer Bauart, in einem Gebiet, das nicht nur neu ent- 13 Vgl. Karl Baedeker: Berlin und Umgebungen (1887), S. 35. Vor 1846 sind die Korsofahrten auf dem Floraplatz abgehalten worden, der jedoch in der Folge zu klein wird. (Vgl. Folkwin Wendland: Der Große Tiergaren in Berlin, S. 186.) 14 Vgl. ebd., S. 186. 15 Vgl. ebd., S. 196. 16 Vgl. Friedrich Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente, S. 610. 17 Vgl. Folkwin Wendland: Der Große Tiergaren in Berlin, S. 187. Hier sei erneut an Fontanes diesbezügliche Überlegungen in seinen ‚Wanderungen‘ erinnert: „1. Das Historische. Der Adel war die Gesellschaft, denn auch die höhere Beamtenschaft (Armee und Zivil) war Adel. 2. Nach den Befreiungskriegen bereitete sich ein Umschlag vor, erst langsam, dann rapide, desto rapider, je schneller sich der wirtschaftliche Umschlag vollzog: der Adel wurde arm, der Bürgerstand wurde reich.“ (W7, S. 33.) <?page no="315"?> 6.1 Die Mansarde als ambivalenter Wohnort 303 standen ist, sondern seine vergleichsweise kurze Vergangenheit hugenottischer Einwanderung verdankt und inzwischen von der Bourgeoisie dominiert wird - vierfach deplatziert. Beim Ehepaar Rubehn hingegen re ektiert das Wohnen in einer modernen Bauweise sowie in einem neu entstandenen Viertel ihren neuen Typus der partnerschaftlichen Beziehung. 18 Melanie war sehr glücklich über Wohnung und Einrichtung, überhaupt über Alles[.] (129) Der Wohnort erscheint jedoch zwiespältig, denn das genuin hugenottische und damit calvinistische Gebiet erinnert an Van der Straatens Prädestinationsglauben und sein „[...] Memento mori [...]“ (14) in Form von Tintorettos ‚Ehebrecherin‘. Ist Melanie damals über den geplanten ö entlichen Ausstellungsort der Gemäldekopie besorgt, weil sie sich der medisierenden Räte wegen fürchtet, (Vgl. 13) wohnt sie nunmehr gleichsam als ‚ eischgewordene Adultera-Kopie‘ in unmittelbarer Nähe zu beiden. (Vgl. 45) Insbesondere die räumliche Nähe zu Duquede 19 lässt die Fragilität des von ihr empfundenen Glücks in der Mansarde erahnen, denn Duquede ist nicht nur Akteur innerhalb der medisierenden Gesellschaft, (Vgl. 13, 42-45) sondern hat zusätzlich bereits während der kommerzienrätlichen Ehe gegenüber Melanie als Oppositionsführer agiert. (Vgl. 24, 44, 107) Die These vom scheinbaren Glück bestätigt sich gleich am anderen Vormittage[,] (129) als sich Melanie in eine der tiefen Fensternischen (129) setzt und auf die bereiften Bäume des Parks und auf ein paar Eichkätzchen [sah], die sich haschten und von Ast zu Ast sprangen. Wie oft hatte sie dem zugesehen, wenn sie mit Liddi und Heth durch den Thiergarten gefahren war! Es stand plötzlich Alles wieder vor ihr, und sie fühlte, daß ein Schatten auf die heiteren Bilder ihrer Seele el. (129) Die Erzählinstanz o enbart die innere Welt der Protagonistin in Form der erlebten Rede, die erkennen lässt, dass Melanie Sehnsucht nach ihren beiden Töchtern aus erster Ehe hat. Dies ist insbesondere aufgrund der Jahreszeit bemerkenswert, denn als Kommerzienrätin hat sie ihre Kinder im Winterhalbjahr, während der Saison[,] oft tagelang nicht [gesehen]. (46) Außerdem erinnert das ‚Haschen‘ der 18 Vgl. hierzu Seite 341 dieses Kapitels. 19 Auch im Roman „Irrungen, Wirrungen“ hat die räumliche Nähe der Figuren eine maßgebliche Bedeutung für das Handlungsgeschehen, denn „[d]ie Wohnung bzw. das Leben „Wand an Wand“ wird zum entscheidenden Symbol für die Verbindung von Lene und Gideon [...].“ (Norbert Wichard: Erzähltes Wohnen, S. 186.) <?page no="316"?> 304 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin spielenden Eichhörnchen an die Spiele der Stralauer Landpartie, denn als Elimar beim Blindekuhspiel Anastasia hascht, lässt er Worte fallen [...], die nicht mißdeutet werden konnten (63): So wie jene jedoch in der Folge vergeblich auf ein beginnendes Liebesglück ho t, (Vgl. 63 und 98) wird auch Melanie zunächst vergeblich auf ein glückliches Wiedersehen mit ihren Töchtern ho en. (Vgl. 146) Erst in einem zweiten Schritt zieht es auch Melanie hinaus, und sie wollte die Stadt wieder sehen, die Stadt und bekannte Menschen. (129) Zunächst jedoch kann sie erst einmal nur bei ihrer Freundin Anastasia vorsprechen[,] (129) doch das Tre en verläuft misslich, denn diese feiert nicht nur ihre Rolle der Con denten[,] (98) sondern scheint sich auch an Melanies gesellschaftlichem Abstieg durch ihren Ehebruch und die Heirat mit Rubehn zu erfreuen: 20 Anastasia kam ihr vertraulich und beinah überheblich entgegen[.] (129) 21 Da ausgerechnet das Tre en mit ihrer früheren Verbündeten ohne [...] Freude (129) verläuft, deutet sich hier bereits eine mühsame Reintegration in die Berliner Gesellschaft an. 22 6.1.2 Die reizende Mansarde als ‚Hot-House‘ Als Melanie wieder nach Hause kommt, ist [a]uch hier [...] nicht alles, wie es sein sollte, das Vrenel in schlechter Laune, die Zimmer überheizt, und ihre Heiterkeit kam ihr erst wieder, als sie Rubehns Stimme draußen auf dem Vor ur hörte. Und nun trat er ein. Es war um die Theestunde, das Wasser brodelte schon und sie nahm des geliebten Mannes Arm und schritt plaudernd mit ihm über den dicken, türkischen Teppich hin. Aber er litt von der Hitze, die sie mit ihrem Taschentuche vergeblich fortzufächeln bemüht war. „Und nun sind wir 20 Auch Anastasia ist durch Melanies Scheidung gleichsam abgestiegen, denn diese wird nunmehr während des Sommers nicht länger Dauergast in der Tiergartenvilla sein, oder mit Weihnachtsgeschenken und Einladungen zu Landpartien bedacht werden. (Vgl. 47) Dies wird untermauert, wenn sie die Weihnachtsfeste 1876 und 1877 bei den Rubehns und nicht etwa wie 1875 bei Van der Straaten verbringt. (Vgl. 100, 131, 162) 21 So konstatiert Ernest W. B. Hess-Lüttich: „She feels elevated by the debasement of others [...].“ (Ernest W. B. Hess-Lüttich: ‚Evil tongues‘: the rhetoric of discreet indiscetion in Fontane’s ‚L’Adultera‘, S. 227.) 22 Dies ist umso bemerkenswerter, da der Figur Anastasia als Künstlerin sui generis eine gesellschaftliche Randstellung innewohnt, die die gesellschaftlich geforderte Distanz gleichsam aufzuheben vermag. (Vgl. hierzu Seite 101 dieser Arbeit.) <?page no="317"?> 6.1 Die Mansarde als ambivalenter Wohnort 305 im Norden! “ lachte er. „Und nun sage, haben wir im Süden je so was von Gluth und Samum auszuhalten gehabt? “ (129) Die Mansarde trägt Attribute des Südens und des „märchenhaften Nahen Ostens“. 23 Mit den überheizten Zimmern, die Rubehn mit einem Samum (129) - einem heißen, in Teilen des Orients auftretenden Wüstenwind 24 - assoziiert sowie der Theestunde (129) 25 und dem dicken, türkischen Teppich[,] (129) erfüllt sich rückblickend erneut die echt van der Straaten’sch[e] Expectoration[,] (68) die den Ehebruch im Palmenhaus vorausgedeutet hat, denn während der Landpartie nach Stralau imaginiert 26 der Kommerzienrat weibliche Untreue im Zusammenhang mit dem ‚Orient‘: 27 „[...] [J]ede von Euch ist wenigstens für einen indischen Prinzen oder für einen Schah von Persien geboren. Allein schon wegen der Teppiche.“ (68) Andererseits sind Teppiche ursprünglich nicht nur Abbildungen von Gärten, 28 sondern „buchstäblich „Wintergärten““. 29 So zitieren Melanie und Rubehn in 23 Hugo Caviola: Zur Ästhetik des Glücks, S. 317. Hierzu passend erscheint auch die parallele Attribuierung der Mansarde und der Burnuswirkung als reizend. (Vgl. 69, 128) 24 Vgl. Handbuch der allgemeinen Therapie. Hrsg. von Hugo von Ziemssen, S. 48. Das arabische ‚Samum‘ bedeutet wörtlich übersetzt ‚Giftwind‘. (Vgl. FJT, Anmerkungen, S. 301.) 25 Zwischen 1865 und 1900 wird chinesischer Tee fast komplett durch indischen ersetzt. (Vgl. Roman Sandgruber: Der Tee in Österreich. Eine kleine Kulturgeschichte eines großen Getränks. In: Genuss und Kunst. Ka ee, Tee, Schokolade, Tabak, Cola. Hrsg. von dems. und Harry Kühnel. Innsbruck 1994 (= Ausstellung Schloß Schallaburg 1994), S. 50-58, hier S. 53.) So kann Van der Straatens Vergleich mit einem „indischen Prinzen“ (68) mit dem Teekonsum der Rubehns in Verbindung gebracht werden, denn ursprünglich steht der Tee im Zusammenhang mit der Orientmode, bevor er im 18. Jahrhundert zum Bestandteil der Alltagskultur wird. (Vgl. Martin Krieger: Tee. Eine Kulturgeschichte. Köln, Weimar, Wien 2009, S. 168 sowie Annerose Meininger: Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Ka ee, Tee und Schokolade in Europa. (16.-19. Jahrhundert). Stuttgart 2004, S. 322.) 26 Vgl. dazu Seite 159 dieser Arbeit. 27 Hier sei an die vernezobresche Ehebrecherin, „[...] aus ’ne Färberei, türkischroth[,] [...]“ (110) erinnert, von der Christel Melanie beim Abschiedsgespräch erzählt hat. 28 Vgl. Michel Foucault: Andere Räume. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Hrsg. von Karlheinz Barck, Peter Gente und Heidi Paris. Leipzig 1992, S. 34-46, hier S. 43. 29 Michel Foucault: Die Heterotopien (Radiovortrag vom 07. Dezember 1966 auf France Culture). In: Ders.: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt von Michael Bischo . Mit einem Nachwort von Daniel Defert. Frankfurt am Main 2005, S. 9-22, hier S. 15. <?page no="318"?> 306 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin der Tiergartenstraße - der südlichen Begrenzung des Tiergartens -, wenn sie über ihren dicken, türkischen Teppich hin (129) schreiten, vielfach ihren ehebrecherischen Aufenthalt nicht nur im Palmenhaus, sondern auch im Van der Straatenschen Park, (Vgl. 87) der wiederum Teil des Tiergartens ist. (Vgl. 8) Dabei simuliert das Palmenhaus eine Reise in den Orient, 30 so wie der türkisch[e] Teppich (129) seine Herkunft im Orient hat. 31 Unterstrichen wird die Parallelisierung beider Schauplätze zusätzlich durch die Hitze in der Mansarde, die mit der „hot-house-Atmosphäre“ 32 des Palmenhauses korrespondiert und gemeinhin mit Erotik in Verbindung gebracht wird, wobei an die in Stralau etablierte Verknüpfung von Orient und Sexualität erinnert sei: Dort sieht Melanie reizender aus, als zuvor[,] (69) nachdem sie die Kapuze [ihres Burnus] cokett in die Höhe geschlagen (69) hat. Die Präzisierung in die Höhe (69) verweist dabei auf den späteren Ort des Ehebruchs oben (93) 33 in der Laube (93) der Kuppel des Palmenhauses. Durch die Bezeichnung der im obersten Stockwerk gelegenen Rubehnschen Wohnung als reizende Mansarde (128) entsteht so eine Dreiecksbeziehung zwischen den Schauplätzen, die die Mansarde als fortgesetztes Palmenhaus evoziert. In diesem Zusammenhang kann der dicke Teppich gleichfalls als Verweis auf die dicht[e] Laube[,] (93) den Ort des Ehebruchs, gelesen und das gemeinsame Beschreiten des Teppichs als Symbol der Liebe interpretiert werden, 34 während diese Bedeutungsebene in der Van der Straatenschen Ehe im Licht der rein kommerziellen Komponente des Teppichkaufs eine Leerstelle bildet: „[...] Und jetzt komm, wir wollen zu Haas 35 [...] und uns einen Teppich ansehen ... [...].“ (22) Vgl. ausführlicher zum Wintergarten als künstlichem Orient Karlheinz Stierle: Imaginäre Räume, S. 287. 30 Vgl. dazu Seite 198 dieser Arbeit. 31 Vgl. Jacob Burckhardt: Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien, S. 449. 32 Vgl. Seite 196 dieser Arbeit. Zudem wird das Palmenhaus mit einem Tropenwal[d] (93) verglichen und seine weiche, schla e Luft (94) betont. 33 In den Romanen Fontanes ist der Ehebruch räumlich häu g ‚oben‘ angesiedelt. Vgl. dazu Fußnote 373 auf Seite 200 dieser Arbeit. 34 Vgl. Daniela Gretz: Teppich. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 384-385, hier S. 385. Im Roman wird jene Symbolik ebenso bedient: [S]ie nahm des geliebten Mannes Arm und schritt plaudernd mit ihm über den dicken, türkischen Teppich hin. (129) 35 Das Wiener Unternehmen ‚Philipp Haas und Söhne‘ gelangt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die orientalische Ornamentik seiner Teppiche zu Weltruhm und unterhält eine Zweigstelle in Berlin. (Vgl. hierzu Jutta Pemsel: Die Wiener Weltausstellung von 1873. Das gründerzeitliche Wien am Wendepunkt. Wien, Köln 1998, S. 55-62.) <?page no="319"?> 6.1 Die Mansarde als ambivalenter Wohnort 307 Ob der Hitze fragt Rubehn: „Und nun sage, haben wir im Süden je so was von Gluth und Samum auszuhalten gehabt? “ (129) Doch Melanie erinnert ihn an die Gewitterschwüle in Venedig: „O doch, Ruben. Entsinnst Du Dich noch, als wir das erste Mal nach dem Lido hinausfuhren? Ich wenigstens vergeß es nicht. All mein Lebtag hab ich mich nicht so geängstigt, wie damals auf dem Schi : erst die Schwüle und dann der Sturm. Und dazwischen das Blitzen. Und wenn es noch ein Blitzen gewesen wäre! Aber wie feurige Laken el es vom Himmel. Und Du warst so ruhig.“ (129-130) Über die hier beschriebene Schwüle während des Gewitters in Venedig entsteht eine Assoziation mit der Luft im Palmenhaus. 36 Hierzu passend zeichnet sich Venedig als klimatischer Kurort durch gleichmäßige - im Sommer mitunter sehr heiße - Temperaturen und hohe Luftfeuchtigkeit aus, was ebenso für ein ‚Hot-House‘ charakteristisch ist. 37 Jedoch konnotiert nicht nur die Hitze die Stadt erotisch, sondern sie gilt auch historisch aufgrund ihrer erotischen Lockungen und lasziven Abenteuer gleichsam als Sündenbabel, 38 in dem sich zugleich der Okzident zum Orient ö net. 39 Auf diese Weise schreibt die Mansarde die ebenfalls in Venedig anklingende Treibhausmotivik fort. 40 Folglich kann es Melanie in der Mansarde nicht gelingen, sich aus der ‚ehebrecherischen‘ Treibhausatmosphäre zu befreien, so dass sie hier „ihre Schuld nicht sühnen“ 41 können wird und 36 Vgl. Isabel Nottinger: Fontanes Fin de Siècle, S. 168 sowie Heide Eilert: Im Treibhaus, S. 514. 37 Vgl. Robert Flechsig: Bäder-Lexikon, S. 686. 38 Vgl. hierzu exemplarisch Werner von Koppenfels: Sunset City - City of the Dead: Venice and 19th Century Apocalyptic Imagination. In: Venetian Views, Venetian Blinds. English Fantasies of Venice. Edited by Manfred P ster and Barbara Scha . Amsterdam, Atlanta 1999 (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft; Band 37), S. 99-114, hier S. 99. 39 Vgl. Gerhard Kaiser: „Schach von Wuthenow“ oder die Weihe der Kraft: Variationen über ein Thema von Walter Müller-Seidel, zu seinem 60. Geburtstag. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 22 (1978), S. 474-495, hier S. 484. 40 Vgl. Heide Eilert: Im Treibhaus, S. 514. Nach Lacrati wirkt Venedig selbst auf das Liebespaar so wie zuvor das Treibhaus. Die besondere geographische Lage lässt Venedig wie eine Insel, wie ein künstliches Paradies außerhalb der Geschichte und Normen des bürgerlichen Lebens erscheinen und hat daher einen heterotopen Charakter. (Vgl. Arturo Lacrati: Ekphrasis bei Fontane und Marie Luise Kaschnitz, hier S. 124.) 41 Heide Eilert: Im Treibhaus, S. 516. <?page no="320"?> 308 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin folglich weiterhin das Stigma der Ehebrecherin trägt. 42 Dabei steht der Orient gleichfalls in Verbindung mit der Möglichkeit einer Bestrafung 43 - hier durch gesellschaftliche Isolation -, die auch in der apokalyptischen Gewitterschilderung anklingt, und wiederum die Korrespondenz Palmenhaus, 44 Venedig, Mansarde aufgreift: Während Italien die erste Gegenwelt der ausgestoßenen Ehebrecherin anzeigt, 45 die sich dort in der Acht (122) be ndet, bildet die isolierte Privatwelt der Mansarde die zweite Gegenwelt. Während Nina Hirschbrunn unterstellt, das Ehepaar Rubehn betrete nach seiner Rückkehr nach Berlin keinen heterotopen Raum mehr, weil Melanie dieser Art der Fluchträume nicht mehr bedürfe, 46 trägt meines Erachtens gerade die Mansarde deutliche Züge eines solchen heterotopen Raumes, denn jene stellt einerseits eine Verbindung zum Palmenhaus und andererseits zu Venedig - einer Stadt mit stark heterotopem Charakter 47 - her. Des Weiteren steht Melanies Erinnerung an die venezianische Schi fahrt zum Lido erneut im Zeichen eines positiven Romanausgangs, denn die überwundene Lebensgefahr (Vgl. 130) lässt die Beinahe-Schi brüchige „die Güte der göttlichen Providenz“ 48 erkennen, die hier jedoch eine demütige Haltung zur Voraussetzung hat: 49 „In unserer Angst und Sorge beten wir, auch wir, die wir’s in unseren guten Tagen an uns kommen lassen. Und das versöhnt die Götter. Denn sie wollen, daß wir uns in unserer Kleinheit und Hilfsbedürftigkeit fühlen lernen.“ (130) Rubehn schlägt nachfolgend vor, den Tee einzunehmen und begründet dies mit dessen zeitgenössisch assoziierten Vorzügen, denn Tee 42 Hierbei sei angemerkt, dass die milde Sichtweise auf die Ehebrecherin, die sich in Venedig über Jahrhunderte erhalten hat, in der Hauptstadt des Kaiserreichs keinerlei Relevanz besitzt. 43 Vgl. zur Verbindung von Ehebruch, Bestrafung und Orient erneut EB, S. 14. In einer weiteren Lesart ließe sich auch der Samum in seiner Übersetzung als Giftwind (Vgl. FJT, Anmerkungen, S. 301.) im Sinne einer Bestrafungssymbolik deuten. 44 Hier sei an Anastasiens Zitat „[...] Man wandelt nicht ungestraft unter Palme[n]“ (95) erinnert. 45 Vgl. hierzu Seite 279 dieser Arbeit. 46 Vgl. Nina Hirschbrunn: „Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.“, S. 301-302. 47 Vgl. hierzu Fußnote 40 auf Seite 307 dieser Arbeit. 48 Simon Bunke: Kahnfahrten als Heterotopien der Wahrhaftigkeit, S. 51. 49 Vgl. zu den Analogien mit der Rettung von Kaiser Maximilian I. Seite 247 dieser Arbeit. Vgl. zu Melanies späterer demütiger Haltung als Voraussetzung für ihr „[n]eues Leben [...]“ (157) mit Rubehn in Wilmersdorf Seite 332 dieser Arbeit. <?page no="321"?> 6.1 Die Mansarde als ambivalenter Wohnort 309 „[...] hilft auch immer und gegen Alles, und wird uns auch aus dieser afrikanischen Hitze helfen. Um aber sicher zu gehen, will ich doch lieber noch das Fenster ö nen.“ Und er that’s, und unter dem halb aufgezogenen Rouleau hin zog eine milde Nachtluft ein. „Wie mild und weich,“ sagte Melanie. „Zu weich,“ entgegnete Rubehn. „Und wir werden uns auf kältere Luftströme gefaßt machen müssen.“ (130) Zum einen pro liert der Teekonsum, der mit Rubehn assoziiert ist, (Vgl. 99, 130, 157) 50 erneut einen Kontrast zum Kommerzienrat, denn dieser ist vor allem durch seinen Alkoholkonsum in Erscheinung getreten, 51 wobei ab Mitte des 19. Jahrhunderts Tee als kultivierte 52 und „gesunde Alternative zum Alkohol gepriesen“ 53 wird. Zum anderen stellt das Ö nen des Fensters eine Verbindung zur Außenwelt her, die Rubehn - die ersten gesellschaftlichen Reaktionen vorwegnehmend - betont, wenn er vermutet, dass sich die beiden „[...] auf kältere Luftströme gefaßt machen müssen.“ (130) In diesem Kontext kann die „[...] afrikanisch[e] Hitze[,] [...]“ (130) die Rubehn vertreiben will, als Versuch gewertet werden, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern, denn die Hitze verweist nicht nur auf die Treibhausluft, sondern als spezi sch afrikanische Hitze auf den „zeitgenössischen Topos von der besonderen sexuellen Promiskuität der Afrikaner“. 54 Die Hitze kann zudem auch als Hinweis auf die unbewusste Unsicherheit des Ehepaares 50 Rubehns Maxime, Tee sei ein Allheilmittel, erinnert an den berühmt gewordenen Ausspruch des britischen Premierministers William Gladstone (1809-1898): „It will warm you, if you are cold. It will cool you, if you are heated. It will cheer you up, if you are depressed. It will calm you, if you are excited.“ (Oxford Treasury of Sayings and quotations. Edited by Susan Ratcli e. Fourth Edition. Oxford 2011, S. 171.) Fontane hat sich mit dem englischen Politiker beschäftigt, wie aus seinen Tagebüchern hervorgeht. (Vgl. exemplarisch Rt, S. 481.) Auch im Roman „Frau Jenny Treibel“ ndet der englische Staatsmann Gladstone Erwähnung. (Vgl. FJT, S. 95.) 51 Es seien hier der im commercienräthlichen Hause von alter Zeit her berühmte Monte ascone[,] (27-28) Van der Straatens Hinweis auf „[...] [s]einen Champagner [,] [...] “ (33) der italienische Süßwein „[...] Lacrymae Christi, [...]“ (37) sei[n] Sherry[,] (59) die von ihm vorgeschlagene Glühweinbowle (70) in Stralau sowie der schwedisch[e] Punsch (100) zu Weihnachten genannt. 52 Der Teegenuss wird „mit einer bestimmten Lebenshaltung assoziiert - mit einem hö ichen und aufmerksamen Verhalten ebenso wie mit Geschäftstüchtigkeit und Intelligenz.“ (Martin Krieger: Tee, S. 168.) 53 Ebd., S. 251. 54 Daniela Gretz: „Quer durch Afrika, was soll das heißen? “, S. 187. Gretz belegt dies am Beispiel einer Szene aus „E Briest“. (Vgl. ebd., S. 186-187.) <?page no="322"?> 310 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin gedeutet werden, 55 wie sich die Gesellschaft ihnen gegenüber stellen wird, denn Wärme ist im Roman bereits mit Unsicherheit assoziiert worden. 56 6.2 „Die Gesellschaft ist unversöhnlich.“ 6.2.1 Reaktionen der Gesellschaft: Zwischen Neugier, Ächtung und Milde Melanie folgt Rubehns Empfehlung, wenigstens während der nächsten Wochen noch ein Incognito bewahren und erst von Neujahr an die nöthigsten Besuche machen zu wollen. (131) Einerseits fürchtet sie sich vor den gesellschaftlichen Reaktionen, doch hält sie andererseits das Geschehene der Gesellschaft gegenüber, [für] so gut wie ausgeglichen; allem Schicklichen war genügt, alle Formen waren erfüllt, und so gewärtigte sie nicht einer Strenge zu begegnen, zu der die Welt in der Regel nur greift, wenn sie’s zu müssen glaubt[.] (131) Im allerengsten Kreise wird Heiligabend verbracht, denn lediglich Rubehns Bruder und der alte Frankfurter Procurist (131) sind neben Anastasia zugegen. Letztere ist dabei die einzige Figur aus Melanies früherem Berliner Leben. Am zweiten Weihnachtsfeiertag erscheint der Polizeirat Rei mit geradezu sprichwörtlicher weiße[r] Weste (132) und that Fragen über Fragen. (133) Der Polizeirat, der, wie Rubehn scharfsichtig erkennt, Melanie hat „[...] aushorchen wollen[,]“ (134) beherrscht damit nicht nur sein beru iches „[...] [M]étier“[,] (134) sondern repräsentiert die gesellschaftliche Neugier (140) gegenüber dem Paar. Wenn Rei dem aus der Stadt zurückkommenden Rubehn begegnete (133) und gleichzeitig die Droschke, darin er gekommen war, nicht allzu lange warten (133) lassen will, erscheint es hierdurch wahrscheinlich, dass der Polizeirat auf dem Weg in die Stadt ist, 55 Afrika steht seit Jean Paul (1763-1825) in seiner metaphorischen Dimension des ‚inneren Afrikas‘ für das durch den Prozess der Zivilisation disziplinierte Unbewusste. (Vgl. hierzu ebd., S. 183.) 56 Aufschlussreich bemerkt Riekchen in Stralau über Rubehn: „[...] Und so sicher er ist, so kalt ist er auch.“ (75) Eine weitere Verbindung zwischen der Landpartie in Stralau und der Hitze in der Mansarde ergibt sich aus den jeweils ungewöhnlichen Temperaturen: Während in Stralau mitten im Sommer Polarzustände (70) auftreten, erscheint die milde Nachtluft (130) im Dezember gleichfalls ungewöhnlich. <?page no="323"?> 6.2 „Die Gesellschaft ist unversöhnlich.“ 311 was einen sich anschließenden Rapport bei Van der Straaten andeutet, 57 dessen Namen er durch Zufall oder Absicht (133) fallen lässt und der ihn bereits während der Stralauer Landpartie in con dentieller Mission abschicken (62) will. 58 Als das neue Jahr 1877 beginnt, tritt das Paar aus seinem Incognito (134) heraus. Melanie will als erstes ihrer Schwester einen Besuch abstatten, wiewohl sie sich, in Erinnerung an den unbeantwortet gebliebenen Brief, nicht viel gutes von diesem Besuche versprechen konnte[.] (134) Tatsächlich lässt sich ihr ehemaliger Schwager, Major v. Gryczinski, von seiner Bediensteten verleugnen, (Vgl. 135) während Jacobines Abwesenheit in der Besichtigung des Bildes ‚die Fackeln des Nero‘ (Vgl. 135) gründet. Jenes „gigantomanisch[e] Breitwandbil[d]“ 59 des polnischen Genre- und Historienmalers Henryk Siemiradzki (1843-1902) mit dem Titel „Die brennenden Fackeln des Nero“ aus dem Jahr 1876 stellt thematisch die durch Kaiser Nero für den Brand Roms verantwortlich gemachten und zum Feuertod verurteilten Christen dar, die der römische Kaiser als menschliche Fackeln in seinem Garten brennen lässt. 60 Das Gemälde ist in zahlreichen europäischen Städten gezeigt worden und be ndet sich ab Januar 1877 im Rahmen einer Einzelausstellung im Oberlichtsaal des Berliner Industrie-Gebäudes. 61 So wertet Gabriele Radecke die Erwähnung des Gemäldes als ein „Realitätssigna[l]“, 62 welches Bezüge zum zeitgenössischen Kontext herstellt. Darüber hinausgehend steht die im Gemälde dargestellte Befriedigung der Schaulust des Publikums für den Umgang der Berliner Gesellschaft mit dem Ehepaar Rubehn. 63 57 Das Van der Straatensche Stadthaus am Petriplatz liegt in unmittelbarer Nähe - circa 500 Meter entfernt - zum Polizeipräsidium am Molkenmarkt. (Vgl. JS1910, Blatt II. A. und III. A.) 58 Die scheinbare Ahnungslosigkeit des Erzählers unterstreicht die Schwierigkeit, Rei s Motive einschätzen zu können. 59 Moritz Wullen: Deutsche Zeitgenossen. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Produzierbarkeit. In: Fontane und die bildende Kunst. Hrsg. von Claude Keisch, Peter- Klaus Schuster und dems. Berlin 1998, S. 169-230, hier S. 171. Es hat die Maße 7 Meter (Breite) mal 5 Meter (Höhe). (Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 36.) 60 Vgl. ebd., S. 36. 61 Vgl. Winfried Jung: Bildergespräche, S. 228. Das Gemälde ist unter anderem in Rom, Berlin, Wien und Paris gezeigt worden. (Vgl. ebd., S. 228.) 62 Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen, S. 36. 63 Vgl. Winfried Jung: Bildergespräche, S. 228. <?page no="324"?> 312 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin Mit seiner Szene der Christenverbrennung enthält das Monumentalgemälde Elemente der Bestrafung, die Abweichlern zuteil wird. Dabei stellt das zu Fontanes Zeiten äußerst berühmte Gemälde 64 nicht nur eine römische Szene dar, die Rom erneut historisch als grausamen Ort kennzeichnet, 65 sondern ist auch dort gemalt worden und zwar genau zu ebenjener Zeit, als sich Melanie und Rubehn in der Ewigen Stadt aufhalten. 66 Nunmehr folgt es dem Ehepaar sozusagen nach Berlin, so wie sich Melanie ihrer durch den Ehebruch eingenommenen gesellschaftlichen Außenseiterstellung und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Bestrafung nicht entziehen kann, die schlussendlich darin kulminiert, dass sie „[...] eine Sehenswürdigkeit geworden [...]“ (144-145) ist, so wie die Christen des Gemäldes auf dem Höhepunkt ihrer Verfolgung zur Attraktion werden. Hierfür spricht ebenso der Ausstellungsort, denn das Industrie-Gebäude ist durch den Umbau einer alten Kaserne entstanden: 67 Da die Kunstausstellung Jung sieht einen Zusammenhang zwischen der in der Rezeption des Gemäldes „erkennbaren Vorliebe für den sensationellen E ekt“ (Ebd., S. 230.) und dem später gegenüber dem Paar eintretenden „sentimentalen Blick auf ihre „Bewährung““. (Ebd., S. 230.) Dass das Gemälde eher die Verherrlichung ‚römischen Lotterlebens‘, als des Christentums bewirke, gilt als zeitgenössischer Kritikpunkt. (Vgl. ebd., S. 228.) 64 So wird es etwa in den Reisebriefen Fanny Lewalds (1811-1889) thematisiert. (Vgl. Fanny Lewald: Reisebriefe aus Deutschland, Italien, Frankreich (1877, 1878). Berlin 1880, S. 344.) Im Roman „Die Poggenpuhls“ (1886) erinnert sich eine Roman gur an das Gemälde, was umso bemerkenswerter ist, weil die Ausstellung bereits „„[...] vor zehn Jahren [...]““ (PP, S. 72.) stattgefunden hat: „„[...] Nun sieh, das war ein Bild, so groß wie die Segelleinwand von einem Spreekahn oder wohl eigentlich noch größer, und rechts an der Seite, ja, da war ja nun das, was die Gelehrten die ‚Fackeln des Nero‘ nennen, und ein paar brannten auch schon und die anderen wurden eben angesteckt. Und was glaubst du nun wohl, Albertine, was diese Fackeln eigentlich waren? Christenmenschen waren es, Christenmenschen in Pechlappen einbandagiert, und sahen aus wie Mumien oder wie große Wickelkinder, und dieser Nero, der Veranstalter von all dieser Gräßlichkeit, der lag ganz gemütlich auf einem goldnen Wagen, und zwei goldfarbne Löwen davor und der dritte Löwe lag neben ihm, und er kraulte ihn in seiner Mähne, als ob es ein Pudel wäre. [...]““ (PP, S. 73.) 65 Vgl. hierzu die Seiten 274 und 276 dieser Arbeit. 66 Nach Fertigstellung ist es dort im Mai 1876 in der Akademie San Luca ausgestellt worden. (Vgl. Julita Greenleaf: Henryk Siemiradzki - ein Phänomen in der polnischen Malerei der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel von „Neros Fackeln“ von 1876. Wien 2011 (= Diplomarbeit an der dortigen Universität). Online abrufbar unter: http: / / othes.univie.ac.at/ 17404 (letzter Zugri am 20.02.2023), S. 40.) 67 Vgl. hierzu den Führer durch Berlin - für die Theilnehmer an der Ersten Versammlung des Verbandes deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine am 23. bis 26. September 1874 in Berlin. Hrsg. vom Verband deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine. Berlin 1874, S. 20. <?page no="325"?> 6.2 „Die Gesellschaft ist unversöhnlich.“ 313 - organisiert vom Verein Berliner Künstler 68 - vom Adel besucht wird, (Vgl. 135) nden sich hier die Bereiche Adel, Militär, Industrie und Künstlertum zusammen, die die Bandbreite der Wilhelminischen Gesellschaft repräsentieren. Die jedoch nur temporäre Ausstellung des Bildes deutet gleichsam die schnelle Verfallszeit der gesellschaftlichen Sensationslust an. (Vgl. 138, 160) Nachdem Melanie ihre Schwester nicht angetro en hat, erreicht sie am andern Morgen ein Brief (135) aus der Alsenstraße. Dieser bezeugt die unterschiedliche Lebensanschauung der Schwestern, die gleichfalls als Entfremdung gelesen werden kann, denn Jacobine wartet nicht nur sehnsüchtig auf die Beförderung ihres Gatten, sondern mutmaßt ganz selbstverständlich, dass ihre Schwester ebenso auf einen Titel Rubehns ho t. 69 Daneben zeigt sich im Kontaktverbot für Jacobine, 70 dass dem Major nach Melanies Scheidung „der Kursverfall seiner Spekulationsanlage“ 71 droht und er seine Aussichten auf eine Beförderung nicht gefährden möchte: „[...] Ich habe nicht Lust um solcher Allotria willen bei Seite geschoben zu werden. [...]“ (136) Seine geringen Aufstiegsmöglichkeiten, die vor allem der - wie der zeitgenössische Leser der 1880er Jahre weiß - kommenden Friedenszeit geschuldet sein werden, stehen im ironischen Kontrast zu seiner Beschreibung als „[...] Carrièremacher [...].“ (45) 72 Sein Dasein als „[...] Streber[,] [...]“ (44. Vgl. 23, 136) 68 Vgl. Verein Berliner Künstler. Versuch einer Bestandsaufnahme von 1841 bis zur Gegenwart. Hrsg. vom Verein Berliner Künstler. Berlin 1991, S. 32. Das Industrie-Gebäude hat sich in der Kommandantenstraße 77-79 befunden. (Vgl. hierzu Führer durch Berlin. Hrsg. vom Verband deutscher Architekten- und Ingenieur- Vereine, S. 16.) 69 Im Kontrast dazu wird Melanie später äußern: „Mir ist das Glück etwas anderes als ein Titel oder eine Kleiderpuppe.“ (156) 70 „Ach, meine liebe Melanie, wie gerne wär’ ich selbst gekommen [...] Aber er hat es mir verboten und hat auch dem Diener gesagt, ‚daß wir nie zu Hause sind‘.“ (136) 71 Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe.‘, S. 189. Ähnlich äußert sich Duquede gegenüber Rei : „[...] Ich hätte nicht sagen sollen, er hat die Kleine geheirathet, weil sie die Schwester ihrer Schwester ist, sondern weil sie die Schwägerin ihres Schwagers ist. Er braucht diesen Schwager, und ich sag’ Ihnen, Rei , denn ich kenne den Ton und die Strömung oben, es gibt Weniges, was nach oben hin so emp ehlt wie das. [...]“ (45) Dazu passend erscheint ebenso Jacobines Beschreibung ihres Gatten: „[...] Gryczinski, wie Du weißt, ist zu klug, als daß er etwas wollen sollte, was man oben nicht will. [...]“ (136) 72 Auch die katholische Religionszugehörigkeit der „[...] meisten Gryczinskis[,] [...]“ (135) die der Major „[...] persönlich los sein und von sich abwälzen möchte[,] [...]“ (136) steht einer Beförderung im Wege, „[...] [d]enn sie sind immer noch sehr di cil oben [...] Und <?page no="326"?> 314 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin ein zur damaligen Zeit neu aufkommender Terminus, 73 wird räumlich durch seine Adresse unterstrichen, denn er wohnt nicht nur in der zentralen Straße des Alsenviertels, 74 der Alsenstraße (23), 75 sondern zusätzlich in unmittelbarer Nähe zu seinem Arbeitsplatz, 76 dem Generalstab. 77 Den Lebensmittelpunkt des Majors bildet demnach das preußische Militär als zentrale Instanz des kaiserlichen Staates. 78 Hiermit wird sein Habitus gegenüber der Ehebrecherin Melanie sowie das verhängte Kontaktverbot topographisch re ektiert, denn in Fontanes Romanen fallen die moralischen Verurteilungen umso deutlicher aus, je mehr sich eine Figur als Repräsentant der gesellschaftlichen Ordnung begreift. 79 wär’ es nicht wegen der vielen Todten und Verwundeten, so wünscht’ ich mir einen neuen Krieg. [...] Und hätten wir den Krieg, so wären wir die ganze Frage los und Gryczinski wäre Oberstlieutenant. [...]“ (136. Vgl. zum sogenannten „Kulturkampf “ und den Ressentiments gegenüber Katholiken in der Kaiserzeit unter Bismarck allgemein Jens Flemming: „Ich liebe sie, weil sie ritterlich und unglücklich sind“, S. 211.) 73 Vgl. zur Wortschöpfung ‚Streber‘ Georg Brandes: Berlin als deutsche Reichshauptstadt, S. 113. 74 Die Alsenstraße wird am 10. Januar 1867 angelegt und im Jahr 1978 getilgt. Der Begri ‚Alsenviertel‘ ist nie o zieller Name, hat sich allerdings im 19. Jahrhundert eingebürgert. (Vgl. Lexikon der Berliner Straßennamen. Hrsg. von Sylvia Lais und Hans-Jürgen Mende, S. 15.) In einem Brief vom 21. Dezember 1884 an Georg Friedlaender schreibt Fontane: „Und was heißt Karriere machen anders, als in Berlin leben, und was heißt in Berlin leben anders, als Karriere machen? “ (Theodor Fontane: Brief an Georg Friedlaender vom 21. Dezember 1884. In: Ders.: Briefe an seine Freunde. Hrsg. von Otto Pniower und Paul Schlenther. Zweiter Band. Vierte Au age. Berlin 1910 (= Briefe Theodor Fontanes. Zweite Sammlung), S. 96-98, hier S. 97.) 75 Vgl. SIN1871, Planquadrat B3: SIN1882 sowie JS1910, Blatt IV. B. 76 Dies ist umso bemerkenswerter, als dass ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Stadtzentren für das Bürgertum als Wohnraum an Attraktivität verlieren: Die Stadtwohnung wird durch freistehende Villen oder Landhäuser ersetzt. Das Familienoberhaupt hat seinen Arbeitsplatz jedoch weiterhin im Stadtzentrum, während Ehefrau und Kinder nun räumlich von der Stadt getrennt sind. (Vgl. Birgit Wörner: Frankfurter Bankiers, Kau eute und Industrielle, S. 49 und John Burton Lyon: Out of Place: German realism, displacement, and modernity, S. 38-39.) 77 Das Generalstabsgebäude gilt laut Georg Brandes als „Preußens Allerheiligstes“. (Georg Brandes: Berlin als deutsche Reichshauptstadt, S. 388.) 78 Vgl. zum Alsenviertel und seiner Rolle als Zentrum des gesellschaftlichen und politischen Lebens des Kaiserreichs Susanna Brogi: Der Tiergarten in Berlin - ein Ort der Geschichte, S. 288. 79 Für den Roman “E Briest“ hat Karl Richter Ähnliches nachgewiesen. (Vgl. K.[arl] Richter: Poesie der Sünde. Ehebruch und gesellschaftliche Moral im Roman Theodor Fontanes. In: Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift for Charlotte Jolles. In Honour of her 70th Birthday, Nottingham 1979, S. 44-51, hier S. 46.) <?page no="327"?> 6.2 „Die Gesellschaft ist unversöhnlich.“ 315 Zugleich o enbart sich, dass Gryczinski insgeheim - vergleichbar mit dem Kommerzienrat - die weibliche Sexualität als Bedrohung emp ndet, die sich in seiner Angst vor einem gefürchteten Ehebruch manifestiert: 80 „[...] ‚[...] Und sieh dich vor, Jacobine. Du bist ein entzückendes kleines Weib’ (er sagte wirklich so), ‚aber ihr seid wie die Zwillinge, wie die Druv- Aepfel, und es spukt 81 Dir auch so was im Blut. Ich bin aber nicht Van der Straaten und führe keine Generositätskomödien auf. Am wenigsten auf meine Kosten.‘ [...]“ (136-137) Hier zeigt sich, dass Ehefrauen das gesellschaftliche und soziale Kapital ihres Mannes erhöhen, oder auch schädigen können. 82 Der Major hält beide Schwestern für Zwillinge im Geiste, womit er o ensichtlich falsch liegt. 83 Seine Einschätzung jedoch, dass ihm ein ähnliches Schicksal wie seinem früheren Schwager drohen könnte, erscheint gerechtfertigt, 84 denn Jacobine selbst bestätigt dies o en, wenn sie unter dem Verweis auf „[...] eine sonderbare Neugier [...]“ (137) anmerkt, sie beschäftige sich - inspiriert durch Elimar - mit dem „[...] ‚[...] Vergleichenkönnen‘ [...].“ (137) 85 Dies wird subtil unterstrichen, denn Jacobine plant, ihre Schwester trotz Kontaktsperre wiederzusehen und dazu die Abwesenheit ihres Mannes während „[...] eine[r] kleine[n] Generalstabsreise [...]“ (137) zu nutzen, die jener im Zuge der preußischen „[...] Landesvermessungen [...]“ (142) wahrzunehmen hat. 80 Den Kagelmannschen Eheverzicht und die Gryczinskische Ehekontrolle deutet Mende im Sinne einer unterschiedlichen Abwehrstrategie, um der weiblichen Sexualität Herr zu werden. (Vgl. Dirk Mende: Frauenleben, S. 195.) 81 Vgl. hierzu Instettens Glaubenssatz: „„[...] Spuk aber wird nie gemacht, Spuk ist natürlich.““ (EB, S. 244.) Dieser rückt auch Gryczinskis Aussage in den Kontext einer unabänderlichen weiblichen Neigung zum Ehebruch, so wie dies zuvor Van der Straaten im Kontext der ‚Mohrenwäsche‘ macht. Jedoch gedenkt Gryczinski nicht, sich mit dem ‚Problem‘ einzuleben, sondern sucht es - ganz in der Art eines Militärs - zu kontrollieren. (Vgl. zur ‚Mohrenwäsche‘ auch Seite 88 dieser Arbeit.) 82 Anhand der Figuren E Briest und Victoire von Carayon belegen dies Sabina Becker und Sascha Kiefer. (Vgl. Sabina Becker und Sascha Kiefer: Einleitung. In: „Weiber weiblich, Männer männlich“? Zum Geschlechterdiskurs in Theodor Fontanes Romanen. Hrsg. von dens. Tübingen 2005, S. 7-16, hier S. 12.) 83 Vgl. dazu die Seiten 106 und 313 dieser Arbeit. 84 In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass Jacobine über die Farbe Rot zweifach ein erotisches Moment eingeschrieben ist: Erstens durch ihren Mädchennamen de Caparoux (23) und zweitens durch die Haarfarbe rothblond[.] (23) 85 Ursache und Wirkung sind bei den Schwestern vertauscht: Während sich Jacobine nach dem Vergleichenkönnen sehnt, kann Melanie nun vergleichen, ohne dass dies Ausgangspunkt ihres Handelns gewesen wäre. <?page no="328"?> 316 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin Die Verknüpfung zwischen dem Kontrollverlust gegenüber der eigenen Ehefrau bei zeitgleicher topographisch-kartographischer Erfassung des Raumes, die ein Gefühl von Sicherheit und Berechenbarkeit vermittelt, entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie, 86 zumal Jacobine im Gegenzug ihren Gatten nur allzu genau berechnen kann: „[...] Und dann seh ich Dich. Und wenn er wiederkommt, so beicht’ ich ihm Alles. Ich kann es dann. Er ist dann immer so zärtlich. [...]“ (137) Rubehn wertet Jacobines Brief und die Tatsache, dass jene ihre Schwester o ziell meiden muss als Vorausdeutung, wie sich die restliche Gesellschaft stellen wird: „Ja, Herz, das sind die Tage, von denen es heißt, sie gefallen uns nicht. Ach, und sie beginnen erst. [...]“ (137) „Cheer up, dear“, hatte Rubehn Melanie zugerufen, und sie wollte dem Zurufe folgen. Aber es glückte nicht, konnte nicht glücken, denn jeder neue Tag brachte neue Kränkungen. Niemand war für sie zu Haus, ihr Gruß wurde nicht erwidert, und ehe der Winter um war, wußte sie, daß man sie, nach einem stillschweigenden Uebereinkommen, in den Bann gethan habe. Sie war todt für die Gesellschaft[.] (138) Obwohl Melanie bei ihrer Rückkehr nach Berlin zunächst nicht gewärtigte [...] einer Strenge zu begegnen, (131) weil sie mutmaßt allem Schicklichen [...] genügt [zu haben,] (131) wird sie von der Gesellschaft gemieden. Einerseits hat Melanie mit ihrer Einschätzung nicht ganz unrecht, gilt das Ereignis der Hochzeit doch gemeinhin als die Versöhnung der „neuen Ordnung des Paares mit der alten Ordnung der Autoritäten und Instanzen.“ 87 Daher folgt der Trauung traditionell die Hochzeitsreise, die es der alten Umgebung ermöglicht, sich auf das neue Paar einzustimmen und es anschließend in seiner Mitte zu empfangen. Andererseits kann im konkreten Fall die Hochzeitsreise - eine sogenannte Initiationsreise 88 - 86 Eine vergleichbare Analogie ndet sich im Roman „Cécile“ am Beispiel der Figur des Oberst v. St. Arnaud: Seine „Karten-Passion“ (Cc, S. 68.) bildet das Gegengewicht zur drohenden Orientierungslosigkeit, denn „[d]ie kartographische Erfassung des Raums hat auch psychologische Bedeutung, insofern die Beherrschung ein Gefühl der Sicherheit und Überlegenheit vermittelt.“ (Christian Thomas: Theodor Fontane, S. 155. Vgl. hierzu ebenso Joseph Vogl: Telephon nach Java: Fontane. In: Realien des Realismus: Wissenschaft - Technik - Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa. Hrsg. von Stephan Braese und Anne-Kathrin Reulecke. Berlin 2010, S. 117-128, hier S. 118.) 87 Peter von Matt: Liebesverrat, S. 65. 88 Vgl. hierzu Fußnote 129 auf Seite 271. <?page no="329"?> 6.2 „Die Gesellschaft ist unversöhnlich.“ 317 ihre diesbezügliche Wirkung nicht entfalten: Erstens ndet die Hochzeit nicht wie üblich vor, sondern auf der Reise statt, so dass das ‚Publikum‘ überrumpelt statt eingebunden wird. Zweitens beinhaltet jene Reise die Scheidung von Van der Straaten und drittens die Geburt eines durch Ehebruch gezeugten Kindes. Somit kulminieren hier gleich mehrere Verstöße gegen die elementaren Anstandsregeln der Gesellschaft, weshalb die mit der Reise versuchte Initiation zunächst scheitern muss und zwar in Form gesellschaftlicher Ächtung, so dass es folglich einer weiteren, dann gelingenden Initiation bedarf. 89 Denn obwohl das Scheidungsrecht im Kaiserreich zu den liberalsten Europas gehört, hat sich diese juristische Großzügigkeit keineswegs in der ö entlichen Meinung widergespiegelt. 90 So erweist sich beispielsweise im Roman „E Briest“ die Überzeugung E s, die grausame Bestrafung von Ehebrecherinnen in Kon- 89 Vgl. hierzu ähnlich Hugo Caviola: Zur Ästhetik des Glücks, S. 313. „Die Tat einer Ehebrecherin wurde verstanden als Verstoß gegen Wertnormen, als Rechtsverstoß und nicht zuletzt als Verstoß gegen das christliche Gebot; der Ehebruch des Mannes hingegen galt weitläu g als Kavaliersdelikt.“ (Karen Bauer: Fontanes Frauen guren, S. 95.) Etwas anders konnotiert bemerkt Thomas Schröder: „Die Gesellschaft und ihre fragwürdige Moralität ist das Kriterium für das Weltbild der Protagonisten Fontanes. Sogar dort, wo sie sich scheinbar als religiöse Autoritäten gerieren, wie Christine Holk in Unwiederbringlich , ist ihr Standpunkt letztlich „rein gesellschaftlich“. Der Ehebruch ist damit entschieden kein religiöses, moralisches, ja nicht einmal ein zwischenmenschliches Problem, sondern ganz im Sinne von Hegels Rechtsphilosophie ein zentraler Angri auf die staatliche Ordnung, das Gemeinwesen.“ (Thomas Schröder: Gebrochene Verhältnisse. Theodor Fontanes Ehebruchsromane Unwiederbringlich und E Briest gegenüber Gustave Flauberts Madame Bovary und Lew Tolstois Anna Karenina . In: Theodor Fontane. Berlin, Brandenburg, Preußen, Deutschland, Europa und die Welt. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen, Richard Faber und Helmut Peitsch. Würzburg 2014 (= Fontaneana; Band 13), S. 191-206, hier S. 196-197.) Einschränkend sei hierzu nochmals betont, dass die Kirche im 19. Jahrhundert eine gesellschaftlich normsetzende Instanz darstellt. (Vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918, S. 428.) 90 Vgl. hierzu allgemein Helen Chambers: The Inadequacy of the Wife-and-Mother Model. Female Happiness in Theodor Fontane’s „Unwiederbringlich“. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 47, 2 (2011), S. 285-297, S. 287. Trotz des vergleichsweise liberalen Scheidungsrechts kommt der juridische Diskurs der Zeit zu dem Ergebnis, dass die Ehebrecherin die alleinige Schuld trägt und privat- und strafrechtlich für ihre Tat belangt werden kann. (Vgl. Antje Harnisch: Keller, Raabe, Fontane, S. 141.) Durch eine Scheidung verliert die Frau nicht nur ihr gesellschaftliches Ansehen, sondern auch Kinder und Vermögen. (Vgl. dazu beispielsweise Karen Bauer: Fontanes Frauen guren, S. 95.) <?page no="330"?> 318 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin stantinopel würde es in ihrer Heimat nicht geben, als trügerisch: 91 „„[...] so vom Boot aus sollen früher auch arme unglückliche Frauen versenkt worden sein, natürlich wegen Untreue.“ „Aber doch nicht hier.“ „Nein, nicht hier,“ lachte E , „hier kommt so was nicht vor. Aber in Konstantinopel [...].““ (EB, S. 14.) Gleichsam wie Melanie in Rom imaginiert, dass die Stimme schweigt, die vor den Pharisäern das himmlische Wort sprach[,] (123) wird sie in Berlin nach einem stillschweigenden Übereinkommen (138) von der Gesellschaft geschnitten, was eine tiefe Niedergedrücktheit ihres Gemüths (138) bewirkt. Dies spiegelt sich auch topographisch wider, denn die frühere Bezeichnung der Tiergartenstraße als Kanonenweg 92 verweist darauf, dass Melanie und auch Rubehn gesellschaftlich ‚unter Beschuss stehen‘. (Vgl. 138) Der Name Kanonenweg ist seiner Funktion als Verbindung zwischen dem vom Soldatenkönig (1688-1740) angelegten Exerzierplatz - dem späteren Königsplatz - und dem Artillerie-Übungsplatz in der Nähe des heutigen Magdeburger Platzes geschuldet. 93 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden dann erstmals vermehrt Wohnhäuser im Bereich der Tiergartenstraße - einem ursprünglich von Hugenotten besiedelten Gebiet - gebaut: Im Jahr 1828 überlässt hierfür König Friedrich Wilhelm III. den „ersten Beamten des Hofes“ 94 Bauland, so dass in der Folge das sogenannte „Geheimratsviertel“ 95 entsteht. Zugleich halten der Adel und später die Bourgeoisie in diesem Gebiet ihre Korsofahrten ab. 96 Entsprechend kann die Tiergartenstraße sinnbildlich als Brennglas der ‚besseren‘ Berliner Gesellschaft aufgefasst werden, das gleichermaßen Militär, Beamtentum, Adel und Bourgeoisie repräsentiert. So wird Melanie mit ihrer Adresse in der Tiergartenstraße beständig daran erinnert, dass man sie gesellschaftlich [...] in 91 Vgl. Debra N. Prager: „Alles so orientalisch“: The Elaboration of Desire in Theodor Fontane’s E Briest (1896), S. 136 sowie Norbert Mecklenburg: „Alle Portugiesen sind eigentlich Juden.“ Zur Logik und Poetik der Präsentation von Fremden bei Fontane. In: Fontane und die Fremde, Fontane und Europa. Hrsg. von Konrad Ehlich. Würzburg 2002, S. 88-102, hier S. 90-91. 92 Vgl. Lexikon der Berliner Straßennamen. Hrsg. von Sylvia Lais und Hans-Jürgen Mende, S. 443. 93 Vgl. Tiergarten I. Vom Brandenburger Tor zum Zoo. Hrsg. von Helmut Bräutigam, Helmut Engel, Ste Jersch-Wenzel und Wilhelm Treue. Band I. Berlin 1989 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission zu Berlin), S. XII. 94 Dokumentation ‚Diplomatenviertel‘ Berlin Tiergarten. Hrsg. von der Bauaustellung Berlin GmbH, S. 9. 95 Georg Brandes: Berlin als deutsche Reichshauptstadt, S. 431. 96 Vgl. Folkwin Wendland: Der Große Tiergaren in Berlin, S. 196. <?page no="331"?> 6.2 „Die Gesellschaft ist unversöhnlich.“ 319 den Bann gethan habe. (138) Doch Rubehn tröstet sie, indem er aus seiner Zeit in England schöpft und versichert: „Ich kenne das, Melanie. Wenn es in London etwas ganz Apartes giebt, so heißt es ‚it is a nine days wonder‘, und mit diesen neun Tagen ist das höchste Maß von Erregungs-Andauer ausgedrückt. Das ist London. Hier dauert es etwas länger, weil wir etwas kleiner sind. Aber das Gesetz bleibt dasselbe.“ (138) Jedoch kommt Melanie aufgrund ihrer aktuellen Lage zu der Überzeugung: „Die Gesellschaft ist unversöhnlich.“ (138) Doch Rubehn beharrt darauf, dass ebenjene nicht gern zu Gericht sitzt und versichert: „[...] Wir haben einen Eindruck gemacht und müssen ehrlich bemüht sein, einen andern zu machen. Einen entgegengesetzten. Aber auf demselben Gebiete ... Du verstehst? “ Sie nickte, nahm seine Hand und sagte: „Und ich schwöre Dir’s, ich will. Und wo die Schuld lag, soll auch die Sühne liegen. Oder sag’ ich lieber, der Ausgleich. Auch das ist ein Gesetz, so ho ’ ich. Und das schönste von allen. Es braucht nicht alles Tragödie zu sein.“ (138-139) Ebenjene Ho nungen scheinen sich prompt zu bestätigen, denn Riekchen meldet sich nunmehr zum Besuch an: „Ach, mein liebes Riekchen! Wie mich das freut, daß du kommst, daß du da bist. Und wie schwer es dir geworden sein muß ... Ich meine nicht bloß die drei Treppen ... Ein halbes Stiftsfräulein und jeden Sonntag in Sanct Matthaei! Aber die Frommen, wenn sie’s wirklich sind, sind immer noch die besten.“ (139) In demjenigen Moment, in dem die Gesellschaft, einschließlich ihrer Schwester, den Umgang mit Melanie o ziell meidet, überwindet Riekchen die gesellschaftlich geforderte Distanz. Dies verweist zum einen auf Melanies spätere Suche nach „Trost“ (153) in der Kirche, da die Freundin semantisch der Kirchenwelt zugeordnet ist, und zum anderen auf Van der Straatens Milde, 97 denn Riekchen 97 Das spätere Wiedersehen Melanies mit ihren Kindern, Lydia und Heth, wäre zur Romanzeit undenkbar, wenn der Kommerzienrat nicht seine Einwilligung gegeben hätte. <?page no="332"?> 320 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin hat ihn vorab unterrichtet, 98 wie sie gleich zu Beginn erklärt: „Habe doch ’mal sehen wollen ... Und ich bin auch nicht hinter seinem Rücken hier. Er weiß es und hat mir zugeredet.“ (140) Melanie räumt ein, dass sie mit dem Verlassen Van der Straatens aus Neigung gehandelt habe, (Vgl. 139) zeigt jedoch zugleich ein Bewusstsein für die Problematik ihres Handelns, denn sie bekräftigt: „[...] Aber gefährlich ist es, soviel räum’ ich ein, und ich will es anders zu machen suchen. Will es lernen. Ganz bestimmt. [...]“ (139) Demnach erkennt sie einerseits „keine Schuldhaftigkeit in ihrem Handeln“, 99 versichert jedoch andererseits, sich zukünftig an die geltenden Normen halten zu wollen. Durch Riekchens anschließenden Vorwurf, Melanie habe ihre Kinder ohne Blick verlassen und damit ihr eigen Fleisch und Blut verleugnet[,] (140-141) bietet sich retrospektiv eine weitere Lesart des Namens Große Petristraße (5) an, nämlich im Sinne einer ,großen Verleugnung’ an ihren Kindern. 100 Doch Melanie verteidigt ihr Handeln: „[...] Ich wollte gehn, das stand fest. Und wenn ich die Kinder sah, so konnt’ ich nicht gehn. Und so hatt’ ich denn meine Wahl zu tre en. Ich mag eine falsche Wahl getro en haben, in den Augen der Welt hab ich es gewiß, aber es war wenigstens ein klares Spiel und o en und ehrlich. [...]“ (141) Riekchen verspricht daraufhin mithilfe Jacobines ein Wiedersehen mit den beiden Töchtern, Lydia und Heth, zu arrangieren. 6.2.2 „Die Kinder sitzen überall zu Gericht, still und unerbittlich“ Und so vergingen Wochen, und Ostern war schon nahe heran, als endlich ein Billet abgegeben wurde, dem sie’s ansah, daß es ihr gute Botschaft bringe. Es war von der Schwester, und Jacobine schrieb: „Meine liebe Melanie! Wir sind allein, und gesegnet seien die Landesvermessungen! [...] Riekchen war hier und hat es mir an’s Herz gelegt, und so denk’ ich, wir säumen keinen Augenblick länger und Du kommst morgen um die Mittagsstunde. Da werden sie hier sein und Riekchen auch. 98 Dies belegt, dass Riekchen weiterhin zum Hause Van der Straaten gehört, was naheliegend erscheint, denn sie gehört diesem bereits an, bevor Melanie den Kommerzienrat heiratet. (Vgl. 141) 99 Martin Nies: Venedig als Zeichen, S. 203. 100 Vgl. zur Figuration der Verleugnung Seite 67 dieser Arbeit. <?page no="333"?> 6.2 „Die Gesellschaft ist unversöhnlich.“ 321 Aber wir haben nichts gesagt und sie sollen überrascht werden. Und ich bin glücklich, meine Hand zu so was Rührendem bieten zu können. Denn ich denke mir, Mutterliebe bleibt doch das Schönste ...“ (142-143) Der Verweis auf eine gute Botschaft (142) steht im au älligen Kontrast zu Jacobines Wortwahl „[...] Rührendem[,] [...]“ (143) denn an zwei anderen Stellen im Roman (Vgl. 13, 87) fällt dieses Wort jeweils im Kontext einer Ehebruchsrelativierung. 101 Hierdurch wird unterschwellig auf die Unvereinbarkeit zwischen Mutterschaft und Erotik angespielt, die Melanie bereits gegenüber Riekchen betont hat, 102 wobei Jacobine mit ihrer Präferenz der Mutterschaft indirekte Kritik an ihrer großen Schwester übt, die sich mit ihrer Flucht für Rubehn und gegen ihre Kinder entschieden hat. Meine These ndet ihre raumsemantische Bestätigung, denn der Weg, den Melanie von der Mansarde zum Haus ihrer Schwester zu überwinden hat, impliziert die durch den Ehebruch aufgebaute Distanz zu ihren Töchtern, denn sie muss nun den Thiergarten in seiner ganzen Breite (144) passieren. Dabei erinnert der Gang durch den Tiergarten an Melanies früheres Leben, denn sie blieb öfters stehen, um [...] sich an den stillen Bildern erwachenden Lebens und einer hier und da schon knospenden Natur zu freuen. (144) Die Beschreibung der Natur und einer vorbei iegenden Schwalbe (144) korrespondiert mit Melanies Wohlgefühl (46) in der Tiergartenvilla, denn auch hier hat sie sich an dem beinah ungestörten Stillleben (46) mit der knospenden Natur und den zwitschernden Schwalben erfreut. (Vgl. 46) Dazu passend ist gerade in der Zeit um Ostern im kommerzienrätlichen Hause die Frage verhandelt (16) worden: „Wann ziehen wir hinaus? “ (16) Während Melanie ihre beiden Töchter während der Saison oft tagelang nicht sah[,] (46) hat sie in der Tiergartenvilla an deren Aufwachsen und Lernen [...] den regsten Antheil (46-47) genommen. 103 Deshalb erscheint es 101 Das erste Mal fällt das Wort als Melanie den Ehebruch der ‚Adultera‘ Tintorettos rechtfertigt (Vgl. 13) und ein zweites Mal, als Melanie und Rubehn im „Orchard“ (86) gleichsam wie Adam und Eva ihren Ehebruch im Palmenhaus vorab legitimieren. (Vgl. 87) 102 „Wer aus der Ehe fortläuft und aus keinem andern Grund als aus Liebe zu einem andern Manne, der begibt sich des Rechts, nebenher auch noch die zärtliche Mutter zu spielen. Und das ist die Wahrheit. Ich bin ohne Blick und ohne Abschied gegangen, weil es mir widerstand, Unheiliges und Heiliges durch einander zu werfen.“ (141. Vgl. exemplarisch zur Gegenüberstellung von Erotik und den P ichten der Mutterschaft: Helen Chambers: The Inadequacy of the Wife-and-Mother Model, S. 285-297.) 103 Im Frühjahr 1875 heißt es über Melanies Aufenthalt in der Tiergartenvilla: Und dieses Wohlgefühl steigerte sich noch in dem entzückenden und beinah ungestörten Stillleben, dessen sie draußen genoß. Wohl liebte sie Stadt und Gesellschaft und den Ton der großen Welt, <?page no="334"?> 322 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin folgerichtig, dass sie in dieser sie umgebenen Topographie an ihre beiden Kinder denkt, (Vgl. 144) die sie wort- und blicklos verlassen hat. Gleichzeitig bildet das Passieren des Tiergartens in seiner ganzen Breite (144) einen Kontrapunkt zu seiner früheren Erschließung, denn um vom Cöllnischen Stadthaus zur Sommervilla - am Nordwestrande des Tiergartens (8) - zu gelangen, hat Melanie den Tiergarten in seiner ganzen Länge durchqueren müssen. Dieses sinnbildliche Überkreuz-Laufen spiegelt Melanies familiären Kon ikt mit den beiden Töchtern wider und wird durch sie mit dem Verlassen der „[...] Straße des Hergebrachten [...]“ (144) assoziiert. Der Weg durch den Tiergarten verwandelt ihre anfänglich euphorisch konnotierte Aufregung (143) und ihre hochgespannten Erwartungen (143) in eine Furcht vor ihren Kindern: „[...] Ich glaubte recht zu thun, als ich ohne Blick und Abschied von meinen Kindern ging, ich wollte kein Rührspiel; entweder oder, dacht’ ich. Und ich glaub auch noch, daß ich recht gedacht habe. Aber was hilft es mir? Was ist das Ende? Eine Mutter, die sich vor ihren Kindern fürchtet.“ (144) Weil das Tre en in der Passionszeit - Ostern [ist] schon nahe heran (142) - statt ndet, wird bereits die tief[e] Demüthigung [...], die sie von ihrem eigenen Kinde (148) wird erdulden müssen, zeitlich indiziert. Unterstrichen wird dies über den erwähnten Gundermann[,] (144) der mit seinen violetten Blüten gleichfalls auf die Passionszeit (Vgl. 142) verweist. 104 Mit ihrem Gang wird Melanie nicht nur an ihre Mutterschaft gegenüber Lydia und Heth erinnert, sondern zum anderen direkt mit ihrem Ehebruch konfrontiert aber wenn die Schwalben wieder zwitscherten, und der Flieder wieder zu knospen begann, da zog sie’s doch in die Park-Einsamkeit hinaus, die wiederum kaum eine Einsamkeit war, denn neben der Natur, deren Sprache sie wohl verstand, hatte sie Bücher und Musik, und - die Kinder. (46) Zugleich verweist ebenso die Uhrzeit des Tre ens um die Mittagsstunde (Vgl. 143) auf Melanies kommerzienrätliches Leben in der Tiergartenvilla, in der sie für gewöhnlich um zwölf (47) Uhr ihr Frühstück eingenommen hat. 104 Vgl. exemplarisch zum Gundermann und der Tradition, aus ihm eine Gründonnerstagssuppe zu kochen: Birgit Baur-Müller: Westliche Heilp anzen in der chinesischen Medizin. Von der Musterdiagnose zur Rezeptur. Berlin 2016, S. 66. Außerdem handelt es sich bei dem erwähnten Gundermann um eine alte Heilp anze. (Vgl. ebd., S. 66.) so dass hierdurch gleichzeitig eine positive Wendung anklingt. Hier sei gleichfalls an die Veilchenpracht in Tivoli erinnert, die in einem ähnlichen Kontext interpretiert werden kann. (Vgl. Seite 263 dieser Arbeit.) <?page no="335"?> 6.2 „Die Gesellschaft ist unversöhnlich.“ 323 und zwar erstens durch den Tiergarten selbst als Ort des Ehebruchs 105 und zweitens dadurch, dass sie die Zeltenallee, die Vergnügungsmeile des Tiergartens, 106 passieren muss, die wiederum auf diejenige Ehebruchsgeschichte verweist, die Gärtner Kagelmann unmittelbar vor Melanies eigenem Ehebruch erzählt: „[...] un saß immer ins mittelste Zelt, Nummer 4 [...].“ (89) Und so passirte sie den Thiergarten in seiner ganzen Breite, bis sie zuletzt den kleinen, der Alsenstraße unmittelbar vorgelegenen Platz erreicht hatte, den sie den „kleinen Königsplatz“ nennen. Hier setzte sie sich auf eine Bank und fächelte sich mit ihrem Tuch und hörte deutlich, wie ihr das Herz schlug. (144) Dieser formal namenlose Platz 107 am Generalstabsgebäude wird von der verlängerten auf den Königsplatz zulaufenden Alsenstraße geteilt und schließt sich unmittelbar nördlich an den Königsplatz an. 108 Die Namenlosigkeit gepaart mit dem erzählerischen Hinweis den sie [(sic! )] den „kleinen Königsplatz“ nennen (144) re ektiert topographisch Melanies gesellschaftliches Außenvorsein. Der Königsplatz selbst bildet zur Romanzeit den Mittelpunkt der repräsentativen Bauten im Alsenviertel, 109 welches als ein Zentrum des gesellschaftlichen und 105 Eine weitere Verbindung zum Ehebruch ergibt sich aus dem bekanntermaßen balsamischen Geschmack des Gundermanns und der balsamische[n] Luft (95) von den frisch gemähten Wiesen (95) unmittelbar nach dem Ehebruch. (Vgl. zum Gundermann Carl Ludwig Willdenow: Anleitung zum Selbststudium der Botanik, ein Handbuch zu ö entlichen Vorlesungen. Zweite vermehrte und verbesserte Au age. Berlin 1809, S. 265.) 106 Die ‚Zelte‘ sind 1745 ursprünglich aus einem Leinwandzelt entstanden und bis zum Jahr 1769 auf sechs Zelte angewachsen. Als beliebte Speise- und Bierlokale sind sie 1786 durch massive Gebäude ersetzt worden und für eine lockere Atmosphäre bekannt. (Vgl. MM, S. 13 sowie MM, Anhang, S. 303-304.) 107 O ziell hat dieser Platz nie einen Namen erhalten, jedoch hat sich der Name Alsenplatz für den Platz vor dem Generalstabsgebäude eingebürgert. (Vgl. Lexikon der Berliner Straßennamen. Hrsg. von Sylvia Lais und Hans-Jürgen Mende, S. 15.) Der Alsenplatz wiederum ist auch „Kleiner Königsplatz“ genannt worden. (Vgl. Michael S. Cullen: Der Reichstag. Die Geschichte eines Monuments. Berlin 1983, S. 104.) 108 1864 wird der Exerzierplatz von König Wilhelm I. von Preußen in Königsplatz umbenannt, um daran zu erinnern, dass hier unter vier preußischen Königen die Berliner Regimenter ausgebildet worden sind. (Vgl. Susanna Brogi: Der Tiergarten in Berlin - ein Ort der Geschichte, S. 288.) 109 Hierzu gehören unter anderem das für seine Konzerte und Großveranstaltungen berühmte „Krollsche Etablissement“, das bis 1883 an der Stelle des späteren Reichstags stehende Palais des Grafen Raczynski - mit einer ö entlich zugänglichen Kunstsammlung und <?page no="336"?> 324 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin politischen Lebens und zunehmend als „Forum des neuen Reiches“ 110 begri en wird. Der Königsplatz wird dabei als ehemaliger Exerzierplatz ab dem Jahr 1864 spektakulär umgestaltet: Als größter Platz Berlins gilt er für die Aufstellung der Siegessäule im Jahr 1873 als idealer Standort, 111 deren Denkmalsgedanke die „unau ösbare Verbindung von Monarchie, Armee und Nation“ 112 versinnbildlichen soll, 113 womit auch auf die allgemeine, zeitgenössische Macht des Militärs verwiesen wird, (Vgl. W1, S. 223.) die gesellschaftliche Restriktionen und Zwänge zur Folge hat. 114 Darüber hinausgehend erinnert die Siegessäule an den preußisch-deutschen Sieg von 1870/ 71 über Frankreich, den die in Sichtweite sitzende und als von französische[m] Wese[n] (7) beschriebene Melanie, auch als Sieg der Berliner Gesellschaft gegen sich selbst und ihre Schwäch[e] (7) der Untreue lesen kann. 115 Melanie be ndet sich entsprechend an einem Ort, der die Wilhelminische Gesellschaft überdeutlich repräsentiert und an dem sie folgerichtig zu dem Schluss gelangt: „[...] Es nutzt uns nichts, daß wir uns selber frei sprechen. Die Welt ist doch stärker als wir und besiegt uns schließlich in unserem eigenen Herzen. [...]“ (144) Der Gang durch den Tiergarten bezeugt demgemäß sowohl Melanies familiären Kon ikt mit den Töchtern aus erster Ehe, als auch ihren Kon ikt mit der Gesellschaft. Als sie das Gryczinski’sche Haus (144) erreicht, erwartet sie zunächst ein erneuter „gesellschaftlicher Kommentar“: 116 Künstlerateliers - und schließlich das Generalstabsgebäude. (Vgl. ebd., S. 288 und dazu ergänzend SIN1871, Planquadrat B3 und C3 in Gegenüberstellung zu SIN1882 und JS1910, Blatt III. B. und IV. B.) 110 Susanna Brogi: Der Tiergarten in Berlin - ein Ort der Geschichte, S. 288. 111 Vgl. ebd., S. 288. 112 Ebd., S. 299. 113 Die Siegessäule ist das erste Nationaldenkmal des deutschen Kaiserreichs. Dabei ist es ursprünglich lediglich als preußisches Siegesdenkmal für den Triumph gegen Dänemark von 1864 geplant, dann jedoch schrittweise programmatisch erweitert worden, um schließlich an die militärischen Erfolge der Jahre 1864, 1866 und 1870/ 71 zu erinnern. (Vgl. ebd., S. 288-289.) 114 Vgl. zur Macht des Militärs im Zusammenhang mit dem Roman „Cécile“ Elena Tresnak: Theodor Fontane: ‚Wegbereiter‘ für weibliche Emanzipation um 1900? Vergleichende Untersuchung literarischer Weiblichkeitskonzepte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Theodor Fontanes „Cécile“ (1887) und Helene Böhlaus „Der Rangierbahnhof “ (1896). Hamburg 2011, S. 24. 115 Vgl. Seite 66 dieser Arbeit. 116 Norbert Wichard: Erzähltes Wohnen, S. 198. <?page no="337"?> 6.2 „Die Gesellschaft ist unversöhnlich.“ 325 Die Portiersleute, Mann und Frau, und zwei halberwachsene Töchter, mußten schon auf dem Hintertreppenwege von dem bevorstehenden Ereignisse gehört haben, denn sie hatten sich in die halbgeö nete Souterrain- Thür postirt und guckten einander über die Köpfe fort. Melanie sah es und sagte vor sich hin: „A nine-days wonder! Ich bin eine Sehenswürdigkeit geworden. Es war mir immer das Schrecklichste.“ (144-145) Hierin glaubt Norbert Wichard eine Opposition zwischen dem Grün des Tiergartens (Vgl. 144) und dem Haus der Schwester zu erkennen. 117 Dies scheint wenig schlüssig, denn der Gang durch den Tiergarten bis zum „kleinen Königsplatz“ (144) vermag es, wie geschildert, durch seine kommentierende Topographie Melanies anfänglich optimistische Stimmung in ihr völliges Gegenteil zu verkehren. Zudem erscheint ebenso Wichards Einschätzung unschlüssig, gerade die Szene mit den Portiersleute[n] (144) inszeniere das Gryczinskische Haus „als gesellschaftlichen Zentralpunkt [...]“, 118 denn die topographische Lage des Hauses im Zentrum des Alsenviertels und damit im Herz der kaiserlichen Gesellschaft ist spätestens mit dem Gryczinskischen Silvesterball hinlänglich etabliert. (Vgl. 103-104) Vielmehr re ektiert die Szene, dass Melanie bereits zum Stadtgespräch - oder wie sie es nennt zu einer „[...] Sehenswürdigkeit [...]“ (144-145) - sämtlicher Gesellschaftsschichten avanciert ist, an dessen Teilhabe ein reges und allseitiges Interesse besteht. Andererseits beinhaltet die Redewendung „A nine-days wonder! [...]“ (144) bereits eine versöhnliche Komponente, denn „[...] mit diesen neun Tagen ist das höchste Maß von Erregungs-Andauer ausgedrückt. [...]“ (138) Zwar gilt dies explizit für London und in Berlin, so Rubehns Annahme, „[...] dauert es etwas länger, weil wir etwas kleiner sind. 119 Aber das Gesetz bleibt dasselbe. [...]“ (138) Die Möglichkeit der Versöhnung ist dabei dem „kleinen Königsplatz“ (144) bereits eingeschrieben, denn die durch den Königsplatz symbolisierte gesellschaftliche Übermacht erscheint gewissermaßen räumlich verkleinert. 117 „Kann sie sich zunächst sanft an dem Berliner Grün wie dem Tiergarten erfreuen, nimmt sie sich zusammen, um die Barriere des Hauses zu durchdringen.“ (Ebd., S. 198.) 118 Ebd., S. 198. 119 „London hat einen unvertilgbaren Eindruck auf mich gemacht; nicht sowohl seine Schönheit als seine Großartigkeit hat mich staunen lassen. Es ist Modell oder die Quintessenz einer ganzen Welt. Der mehrerwähnte Umstand, daß London mehr Nachtwächter hat als das Königreich Sachsen Soldaten, ist am ehesten geeignet, eine Vorstellung von den Dimensionen dieser Riesenstadt zu geben.“ (Theodor Fontane: Tagebuchnotiz vom 28. Mai 1844. Auszugsweise in: Roland Berbig: Theodor Fontane Chronik. Band 1, S. 75.) <?page no="338"?> 326 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin Und nun stieg sie hinauf und klingelte. [...] Das Wohn- und Empfangszimmer, in das man jetzt eintrat, war ein großer und luftiger, aber im Verhältnis zu seiner Tiefe nur schmaler Raum, dessen zwei große Fenster (ohne Pfeiler dazwischen) 120 einen nischenartigen Ausbau bildeten. Etwas Feierliches herrschte vor, und die rothen, von beiden Seiten her halb zugezogenen Gardinen gaben ein gedämpftes, wundervolles Licht, das auf den weißen Tapeten re ectirte. 121 Nach hinten zu, der Fensternische gegenüber, bemerkte man eine hohe Thür, die nach dem dahinter gelegenen Eßzimmer führte. Melanie nahm auf einem kleinen Sofa neben dem Fenster Platz, die beiden anderen Damen mit ihr, und Jacobine versuchte nach ihrer Art eine Plauderei. Denn sie war ohne jede tiefere Bewegung und betrachtete das Ganze vom Standpunkt einer dramatischen Matinée. Riekchen aber, die wohl wahrnahm, daß die Blicke Melanies immer nur nach der einen Stelle hin gerichtet waren, unterbrach endlich das Gespräch und sagte: „Laß, Binchen. Ich werde sie nun holen.“ Eine peinliche Stille trat ein, Jacobine wußte nichts mehr zu sagen und war herzlich froh, als eben jetzt vom Platze her die Musik eines vorüberziehenden Garde-Regiments hörbar wurde. Sie stand auf, stellte sich zwischen die Gardinen, und sah nach rechts hinaus ... „es sind die Ulanen,“ sagte sie. „Willst du nicht auch ...“ Aber ehe sie noch ihren Satz beenden konnte, ging die große Flügelthür auf, und Riekchen, mit den beiden Kindern an der Hand, trat ein. Die Musik draußen verklang. (145-146) 120 Durch den zunächst geplanten Ausstellungsort der Adultera-Kopie an einem „[...] Pfeiler [...]“ (13, vgl. 15) ist die semantische Doppeldeutigkeit des Pfeilers einerseits als tragendes Bauelement und andererseits als Basis einer zwischenmenschlichen Beziehung, hier konkret einer Ehe, romanintern hinlänglich etabliert. Folglich kann das hier durch Klammern penetrant exponierte Fehlen des Pfeilers bezüglich der in unmittelbarer Nähe platznehmenden Damen verstanden werden, denn Rieckchen ist unverheiratet und Melanies erste Ehe geschieden. Aber auch Jacobines Ehe bewegt sich auf tönernen Füßen, denn Sie selbst emp ndet eine „[...] sonderbare Neugier[,] [...]“ (137) während die Ehe für den Major drastisch an Wert verliert, denn „[e]r braucht diesen Schwager [...], es giebt Weniges, was nach oben hin so emp ehlt wie das. [...]“ (45) 121 Dies erinnert an Leutnant Tigris Einschätzung „[...] Un teint de lys et de rose [...]“ (104), so dass hier im Rekurs auf den Gryczinskischen Silvesterball die Spannungen zwischen Mutterrolle und Ehebruch, zwischen Marien- und Venushaftigkeit, verhandelt werden. (Vgl. dazu auch Seite 216 dieser Arbeit.) <?page no="339"?> 6.2 „Die Gesellschaft ist unversöhnlich.“ 327 Das Wohn- und Empfangszimmer (145) der Gryczinskis stellt nicht nur aufgrund seiner Funktion als Empfangszimmer Ö entlichkeit her, sondern ist zugleich als „Bühnenraum“ 122 inszeniert. Dieser Eindruck verstärkt sich durch die Portiersleute, die Melanie wie Zuschauer entgegentreten sowie durch die roten Vorhänge und die Musik eines vorüberziehenden Garde-Regiments[.] (145) Gleichsam wie die Ouvertüre einer Oper verstummt die Musik in ebenjenem Moment, in dem sich der Vorhang hebt. 123 Auch der Hinweis, dass Jacobine das Ganze vom Standpunkt einer dramatischen Matinée (145) betrachtet, rückt die Darstellung der „Scenerie“ 124 in den Kontext einer theatralischen Veranstaltung, so dass insgesamt der Eindruck entsteht, Melanie müsse hier vor einem Publikum bestehen. 125 Melanie hatte sich rasch erhoben und war den verwundert und beinah’ erschrocken dastehenden Kindern entgegengegangen. Als sie aber sah, daß Lydia einen Schritt zurück trat, blieb auch sie stehen und ein Gefühl ungeheurer Angst überkam sie. [...] Und ihre ganze Kraft zusammen nehmend, hatte sie sich bis dicht an die Thüre vorbewegt und bückte sich, um Heth mit beiden Händen in die Höhe zu heben. Aber Lydia warf ihr einen Blick bitteren Hasses zu, riß das Kind am Achselbande zurück und sagte: „Wir haben keine Mutter mehr.“ (146) Im Kontrast zum Silvesterball 1875 im Hause Gryczinski, bei dem neben Rittmeister von Schnabel eine ganze Gruppe von jungen O zieren (104) zu den Melanie-Bewunderer[n] (104) gehört haben, erhält Melanie nunmehr eine vernichtende Kritik von ihrer Tochter Lydia, die in einer Ohnmacht gipfelt: Melanie war ohnmächtig zusammengesunken. (146) 126 Damit kommt es raumsemantisch 122 Norbert Wichard: Erzähltes Wohnen, S. 199. 123 Vgl. Gottfried Zeitz: Die poetologische Bedeutung des Romans „L’Adultera“ für die Epik Theodor Fontanes, S. 180. 124 „Als ich vor beinah 8 Jahren mein „L’Adultera“ wohl oder übel schrieb, lag mir vorwiegend daran, ein Berliner Lebens- und Gesellschaftsbild zu geben, das zuständliche, die Scenerie war mir Hauptsache.“ (Theodor Fontane: Brief an Paul Lindau vom 03. [und 07.] November 1886. In: Paul Alfred Merbach: Theodor Fontane an Paul Lindau (Schluß). In: Deutsche Rundschau. Band CCXI (April-Mai-Juni 1927), S. 56-63, hier im Nachtrag vom Sonntag, dem 07. November 1886, S. 61-62, hier S. 62.) 125 Vgl. John Osborne: Vision, Supervision, and Resistance, S. 74. 126 Setzt beispielsweise Frau Jenny Treibel im gleichnamigen Roman ihre scheinbare Ohnmacht als Kalkül ein, wenn sie „wie die meisten ohnmächtigen Frauen, doch nicht ohnmächtig genug [ist], um nicht genau zu wissen, was um sie her vorging“, (FJT, <?page no="340"?> 328 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin erneut zu einer Gegenüberstellung von Erotik und Mutterschaft, 127 denn während beim Ball die Melanie-Bewunderer [...] [i]n der letzten Fensternische (104) stehen, be nden sich nun die beiden Töchter der Fensternische gegenüber [...] (145) im dahinter gelegenen Eßzimmer[.] (145) Die Erwähnung des Esszimmers erinnert zugleich an die als Esszimmer genutzte Van der Straatensche Gemäldegalerie mit seiner Veronesischen „Hochzeit zu Cana“, (26) die die Einhaltung christlicher Ehetugenden einfordert. 128 Auf diese Weise wird Melanies „[...] Schuld [...]“ (117) noch einmal räumlich konzentriert. Eine weitere Verbindung zum Silvesterball (Vgl. 103) ergibt sich über den Hinweis auf die Ulanen-Figur (104) des Rittmeisters von Schnabel und des nun vorüberziehenden Garde-Regiments (145): „es sind die Ulanen[.]“ (145) Damit erö net sich eine weitere Lesart, denn wie Rolf Parr ganz allgemein feststellt, steht ein „Regiment [...] [stets] auch für einen Standort und damit indirekt eine Adresse“: 129 Erneut sind Handlungsgeschehen und Topographie eng aufeinander bezogen, denn die Ulanen sind im 19. Jahrhundert an der Invalidenstraße stationiert. 130 Der Invalide gilt als Außenseiter, 131 so wie sich Melanie in der Acht (122) be ndet und von der Gesellschaft in den Bann gethan (138) wird. Außerdem ist dem Invaliden gleichsam ein ‚Defekt‘ eigen, so wie Melanie der Makel der S. 167.) korrespondiert Melanies tatsächliche Ohnmacht mit dem abrupten Ende der räumlichen und erzählerischen Darstellung. Vgl. hierzu Norbert Wichard: Erzähltes Wohnen, S. 199. 127 Diese Form der Gegenüberstellung ist bereits angeklungen, als sich Melanie in der Mansarde in eine der tiefen Fensternischen (129) gesetzt hat und beim Anblick des Tiergartens, dem Ort des Ehebruchs, an ihre beiden Töchter aus erster Ehe denkt. 128 Vgl. hierzu Seite 95 dieser Arbeit. 129 Rolf Parr: Die nahen und die fernen Räume. Überlagerungen von Raum und Zeit bei Theodor Fontane und Wilhelm Raabe. In: Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Hrsg. von Roland Berbig und Dirk Göttsche. Berlin, Boston 2013 (= Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft; Band 9), S. 53-76, hier S. 62. 130 Vgl. JS1874, Planquadrat D5; KPL1888, Planquadrat E3 sowie St, Anmerkungen, S. 149. Die Invalidenstraße durchläuft die Oranienburger und Rosenthaler Vorstadt, im 19. Jahrhundert zwei Industrie- und Arbeiterviertel, und endet in Moabit. Die Straße ist nach den Verwundeten der ersten beiden Schlesischen Kriege unter Friedrich dem Großen (1712-1786) benannt worden. (Vgl. ebd., S. 149.) 131 Am Beispiel der Neben gur Schickedanz im Roman „Der Stechlin“ belegt Neumann die Außenseiterposition eines Invaliden. (Vgl. Gerhard Neumann: „Invalide ist ja doch eigentlich jeder.“ Fontanes „fremde“ Helden. In: Fontane und die Fremde, Fontane und Europa. Hrsg. von Konrad Ehlich. Würzburg 2002, S. 57-69, hier S. 57.) <?page no="341"?> 6.2 „Die Gesellschaft ist unversöhnlich.“ 329 Untreue anhaftet. 132 Die Kaserne der Ulanen liegt darüber hinaus nicht nur neben dem Zellengefängnis - einer modernen Musterstrafanstalt 133 -, sondern auch in direkter Nachbarschaft zum gerade im Bau be ndlichen Kriminalgericht 134 sowie dem Hamburger Bahnhof, als einem „Signal der Freiheit“: (W6, S. 223.) 135 Der Standort des Garde-Regiments (145) spiegelt somit den Kon ikt Melanies zwischen freier Lebensentfaltung und gesellschaftlicher Bestrafung wider. Anhand des unfertigen Gerichtsgebäudes deutet sich jedoch an, dass das gesellschaftliche Urteil noch nicht abschließend gefällt ist. Wenn Melanie das Verhalten ihrer ältesten Tochter später in den Zusammenhang mit einem vernichtenden Gerichtsurteil (Vgl. 149) bringt und Rubehn dies mit den Worten „[...] Lydia war immer ein kleiner Großinquisitor [...]“ (149) bestätigt, ergibt sich hieraus eine weitere Lesart im Hinblick darauf, dass die Tochter als der Mutter Ebenbild (8) Züge der Familie de Caparoux trägt, 136 denn der Scharfrichter, auch „Rothmantel“ 137 genannt, trägt traditionell einen roten Mantel oder eine rote Kapuze. 138 So erö net sich eine weitere Lesart im Hinblick auf die Große Petristraße[,] (5) denn auch Lydia - „Wir haben keine Mutter mehr.“ (146) - wohnt in ebenjener Straße, deren semantischer Kern die Verleugnung darstellt. Daraus ergibt sich retrospektiv, warum das Van der Straatensche Stadthaus gerade 132 Fontane bekundet, dass seine „Frauengestalten alle einen Knax weghaben“. (Theodor Fontane: Brief an Colmar Grünhagen vom 10. Oktober 1895. In: Ders.: Werke, Schriften und Briefe. Abteilung IV: Briefe, Band 4: 1890-1898. Hrsg. von Otto Drude und Helmuth Nürnberger unter Mitwirkung von Christian Andree. München 1982, S. 487-488.) 133 Im Sommer 1853 besucht Fontane das Zellengefängnis und verö entlicht einen Artikel zu seinem Besuch. (Vgl. W6, Anmerkungen, S. 679.) 134 Die Ulanenkaserne wird städtebaulich von Zellengefängnis und Kriminalgericht (erbaut in den Jahren 1877-1882) gerahmt. (Vgl. SEB1880; KPL1888, Planquadrat E3 sowie JS1910, hier Blatt IV. B. und IV. C. in Gegenüberstellung mit JS1874, Planquadrat D5 und SIN1871, Planquadrat B2. Vgl. ebenso Ralf Schmiedecker: Berlin-Tiergarten. Erfurt 2011, S. 69.) 135 Fontane re ektiert die topographische Situierung des nach dem pennsylvanischen Modell gebauten Gefängnisses: „[...] Unmittelbar zur Rechten Pennsylvaniens erhebt sich der Neubau des Hamburger Bahnhofes. Welch höhnische Nachbarschaft! Allmorgens schrillt die Pfeife der Lokomotive, wie ein Signal der Freiheit, in die Zellen lebenslänglich Verurteilter hinüber und ndet ein still-lautes Echo in ihren Herzen. Ein stilles nur! Denn drohend von der anderen Seite, mit schlanken Türmchen den pennsylvanischen Massenbau fast überragend, erhebt sich eine Kaserne und sieht so siegessiecher auf ihren Nachbar herab wie die gewappnete Kraft auf einen gefesselten Sklaven.“ (W6, S. 223.) 136 So stellt der Kommerzienrat fest: „[...] Lydia spielt schon die de Caparoux.“ (83) 137 GP, Anmerkungen, S. 289. 138 Vgl. ebd., S. 289. <?page no="342"?> 330 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin auf der Hausnummer Vier liegt, denn Melanie verleugnet nicht nur Ehemann und beide Töchter, sondern Lydia auch ihre Mutter, was insgesamt genau vier Verleugnungen ergibt. Die beiden Kinder begreift Susanne Konrad richtigerweise als „personi ziertes Gericht“, 139 übersieht dabei jedoch den zwischen den Schwestern pro lierten Unterschied, denn Lydia zog und zwang [...] die halb widerstrebende Kleine mit sich fort[.] (146) Hierdurch wird noch einmal auf die Möglichkeit eines versöhnlichen Ausgangs mit Van der Straaten und den Töchtern verwiesen, weil Heth als zugewandt und gleichzeitig als des Vaters [...] Ebenbild (8) gezeichnet wird. Jene Möglichkeit einer Versöhnung oder allgemeiner gesprochen die Nichtabgeschlossenheit der Urteils ndung wird dabei raumsemantisch re ektiert, denn die Töchter verlassen den Raum durch die halb o en geblieben[e] Thür[.] (146) Demgemäß ergeben sich zwischen dem ‚Gesellschaftsgericht‘ und dem ‚Familiengericht‘ folgende Korrespondenzen: Die halb o en geblieben[e] Thür (146) kann mit dem im Bau be ndlichen Gericht identi ziert werden, während Lydia zugleich mit dem Zellengefängnis für Anklage und Bestrafung steht, wohingegen der Hamburger Bahnhof in seiner Freiheitssymbolik mit Heths augenscheinlicher Vergebungsa nität korrespondiert. Der Unterschied zwischen diesen beiden ‚Gerichtsdarstellungen‘ besteht o ensichtlich in der Gruppe der Urteils nder, denn Gesellschaft und Familie fällen ober ächlich betrachtet jeweils für sich ein Urteil. Diese ‚Selbstständigkeit‘ wird jedoch aufgehoben, denn die Gryczinskische Wohnung mit ihrer Lage im Zentrum der kaiserlichen Gesellschaft ist gleichzeitig Schauplatz der familiären Gerichtsszene. 140 6.3 „Ein neues Leben! “ 6.3.1 Ehekrise im Hause Rubehn Gegenüber dem Polizeirat Rei hat Melanie während seines weihnachtlichen Besuchs erklärt: „Ich habe nun mein Glück, ein wirkliches Glück; mais il faut payer pour tout et deux fois pour notre bonheur.“ (133) Dieses ‚doppelte Bezahlen‘ äußert sich bei Melanie in Form von sozialer Ächtung, die sie sowohl von der 139 Susanne Konrad: Die Unerreichbarkeit von Erfüllung in Theodor Fontanes „Irrungen, Wirrungen“ und „L’Adultera“, S. 96. 140 Dies ndet seine Bestätigung, wenn später der gesellschaftlichen Reintegration Melanies die familiäre Versöhnungsgeste Van der Straatens folgt. (Vgl. Seite 361 dieser Arbeit.) <?page no="343"?> 6.3 „Ein neues Leben! “ 331 Gesellschaft als auch von ihren Kindern erfährt und die mit der Verleugnung der Mutter durch Lydia ihren Höhepunkt erreicht. 141 Rubehn zusätzlich, der die Last ihrer Einsamkeit verringern sollte, verdoppelte sie nur durch seine Gegenwart[,] (150) weil er sich bemüht, einen Schirm aufzurichten, hinter dem er, was eigentlich in ihm vorging, verbergen konnte. (150) Und nun war Ostern. [...] Und so kam auch der zweite Festtag, unfestlich und unfreundlich wie der erste, und als Rubehn über Mittag erklärte, „daß er abermals eine Verabredung habe“, konnte sie’s in ihrer Herzensangst nicht länger ertragen, und sie beschloß in die Kirche zu gehen und eine Predigt zu hören. Aber wohin? [...] Endlich entsann sie sich, daß ihr Christel von Abendgottesdiensten erzählt hatte. Wo doch? In der Nikolaikirche. Richtig. Es war weit, aber desto besser. Sie hatte so viel Zeit übrig, und die Bewegung in der frischen Luft war seit Wochen ihr einziges Labsal. (150-151) Die viele[e] Zeit[,] (151) die Melanie übrig hat, belegt auf der einen Seite, dass sie nicht mehr ins „gesellschaftliche Leben der großen Stadt“ (EB, S. 244.) eingebunden ist, denn in den Winterwochen bis Ostern ndet die sogenannte Saison statt. 142 Zum anderen lässt der Hinweis auf die frische Luft als Melanies einzige[m] Labsal (151) seit Wochen erkennen, dass sich ihre Beziehung zu Rubehn in einer angespannten Lage be ndet. Bereits während der ehelichen Krise mit Van der Straaten hat sie sich nach Luft und Bewegung (101) gesehnt: 143 Damals [...] stürzte sie fort, oft ohne Ziel, öfter noch in Anastasiens stille, zurückgelegene Wohnung[.] (105) 144 Doch im Unterschied zu früher, als Rubehn die Noth ihres 141 Im Realismus gilt allgemein das Prinzip: Je höher das Glück, desto höher der Preis, der von der Gesellschaft gefordert wird. (Vgl. Michael Titzmann: „Natur“ vs. „Kultur“: Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe im Kontext der Konstituierung des frühen Realismus. In: Ders.: Zwischen Goethezeit und Realismus: Wandel und Spezi k in der Phase des Biedermeier. Berlin 2002, S. 441-480, hier S. 459.) 142 Es war eine belebte Saison gewesen; aber Ostern [...] lag schon wieder zurück [...]. (16) Ebenso sei auf folgende erzählerische Anmerkung im Roman „E Briest“ verwiesen: „Das gesellschaftliche Leben der großen Stadt war [...] während der Aprilwochen [...] noch nicht vorüber, wohl aber im Erlöschen [...]. In der zweiten Hälfte des Mai starb es dann ganz hin [...].“ (EB, S. 244.) 143 Jeder Tag wurd’ ihr qualvoller [...] [u]nd dann war es ihr, als müsse sie iehen und aus dem Fenster springen. (105) Dies korrespondiert mit einem ihrer früheren Versuche, einen vergleichbaren Zustand zu mildern: „[...] aber ich sehne mich nach Luft und Bewegung. Ach, unbeschreiblich ... Mir ist so bang und schwer ...“ (101) 144 Da Melanies Sehnsucht nach Bewegung den Krisenzustand der neuen Ehe unterstreicht, ist Nina Hirschbrunn zu widersprechen, die hierin einen Unterschied zur Van der Straa- <?page no="344"?> 332 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin Herzens (106) lindern konnte, ist er nun derjenige, der für ihre Herzensangst (150) verantwortlich zeichnet. In ihrer Suche nach „Tros[t]“ (153) zieht es Melanie in die Nikolaikirche. 145 Da sie durch ihre frühere Dienerin Christel von den dort statt ndenden Abendgottesdiensten unterrichtet ist und sich dessen entsinnt, steht ihr Kirchgang ganz im Zeichen ihres früheren Lebens als Kommerzienrätin, weshalb der Gang von der Tiergartenstraße bis zum Petriplatz unerwähnt bleibt und die Wegbeschreibung erst einsetzt, als sie das Van der Straatensche Stadthaus passiert: 146 So machte sie sich auf den Weg, und als sie die große Petristraße passierte, sah sie zu den erleuchteten Fenstern des ersten Stockes auf. Aber ihre Fenster waren dunkel und auch keine Blumen davor. Und sie ging rascher und sah sich um, als verfolge sie wer, und bog endlich in den Nikolaikirchhof ein. (151) Der Kontrast zwischen beleuchteten und unbeleuchteten Fenstern zeigt, dass Melanie eine nicht wieder gefüllte Lücke im Hause Van der Straaten hinterlassen hat. In Form der erlebten Rede wird die innere Welt der Protagonistin dargestellt: Über die Wortwahl [a]ber ihre Fenster (151) wird erkennbar, dass Melanie in Teilen noch ihrem alten Leben als Kommerzienrätin verhaftet ist. Beim Anblick des Stadthauses in der große[n] Petristraße (151) wird sie mit ihrer Schuld konfrontiert, die sich in ihrer Verfolgungsangst äußert, denn sie ging rascher und sah sich um, als verfolge sie wer, und bog endlich in den Nikolaikirchhof ein. (151) Nina Hirschbrunn kommt zu dem wenig schlüssigen Ergebnis, Melanie könne durch die „körperliche Bewegung [...] das schlechte Gewissen verdrängen und tenschen Ehe pro liert sehen möchte: „Sah sie während des Ehelebens mit Van der Straaten sehnsuchtsvoll aus dem Fenster, kann sie nun, in ihrem „neuen Leben“ an der Seite Rubehns, Teil haben an dem umgebenden Draußen und sich aktiv in diesem [...] bewegen.“ (Nina Hirschbrunn: „Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.“, S. 330.) Ebenso zu widersprechen ist Hirschbrunns These, dass Melanie teil hat am ‚Draußen‘, denn sie ist vielmehr im Gegenteil aktuell von den gesellschaftlichen Ereignissen ausgeschlossen. (Vgl. 138) 145 Melanie folgt hiermit ihrer eigenen Einsicht: „In unserer Angst und Sorge beten wir, auch wir, die wir’s in unseren guten Tagen an uns kommen lassen. Und das versöhnt die Götter. Denn sie wollen, daß wir uns in unserer Kleinheit und Hilfsbedürftigkeit fühlen lernen. Und haben sie nicht Recht? “ (130) 146 Buchstäblich naheliegender wäre ein Besuch der Matthäikirche im Tiergartenviertel mit einer Entfernung von circa 1,4 km, im Unterschied zur Entfernung von circa 4,2 km zwischen Mansarde und Nikolaikirche. (Vgl. JS1910, Blatt III. A. bis C.) <?page no="345"?> 6.3 „Ein neues Leben! “ 333 es durch Konzentration auf die Bewegung aus dem Bewusstsein auslagern.“ 147 Vielmehr korrelieren jedoch abermals Handlungsgeschehen und Topographie: Auf dem kurzen Weg vom kommerzienrätlichen Stadthaus zur Nikolaikirche muss die Protagonistin den Mühlendamm überqueren, der seinen Namen von den hier betriebenen Mühlen erhalten hat. 148 Hiermit wird raumsemantisch auf den Ehebruch Bezug genommen, denn die Mühle gilt in der europäischen Kulturgeschichte als sinnlicher Ort und „amouröser Tre punkt“, 149 an dem die weibliche Tugend gefährdet ist. 150 Diesen Zusammenhang hat Melanie bereits in ihrem Brief an ihre Schwester re ektiert: Wer in die Mühle geht, wird weiß. (125) Anschließend passiert sie den Mühlenhof 151 am Mühlendamm Ecke Molkenmarkt. 152 Hier be ndet sich bis zum Januar 1865 der Sitz des königlichen Amtes Mühlenhof, 153 das bis ins 19. Jahrhundert die Gerichtsbarkeit unter anderem über den Mühlendamm, die Fischerbrücke und alle in und um Berlin be ndlichen Mühlen inne hat. 154 Auf dem Mühlenhofareal be ndet sich auch die Gerichtsstube 155 und im 19. Jahrhundert zudem die Stadtvogtei 156 - also das Berliner 147 Nina Hirschbrunn: „Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.“, S. 330. 148 Vgl. Felix Escher: Die Mitte Berlins, S. 37. 149 Giuliana Biagioli: Die Mühle. In: Orte des Alltags. Miniaturen aus der europäischen Kulturgeschichte. Hrsg. von Heinz-Gerhard Haupt. München 1994, S. 35-43, hier S. 42. 150 Vgl. ebd., S. 41. 151 Dieser fungiert als Vorratskammer des Berliner Hofes. Der Hauptmann vom Mühlenhof ist ein Vorläufer der späteren Landräte und mithin Vertreter der Regierungsgewalt. (Vgl. Berlin Wilmersdorf. Ein StadtTeilBuch . Hrsg. von Udo Christo el. Beiheft. Die Zeittafeln. Bearbeitet von U.[do] Christo el und H.[elmut] Verch. 3. Au age. Berlin 1982, S. 23.) 152 Vgl. auch SIN1871, Planquadrat E3 und SIN1882. 153 Vgl. Brandenburgisches Landeshauptarchiv (Archiv): 7 Berlin-Mühlenhof 134 (Signatur). Verlegung der Geschäftslokale des Amtes Mühlenhof von dem Haus Mühlendamm 1 (dessen Räumlichkeiten an das Polizeipräsidium übergehen) nach dem Haus Grünstraße 3 (ab 30. Jan. 1865), wo das Polizeipräsidium Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt hat - Unzulänglichkeit dieser Räume (Titel). 1865-1866 (Dat.-Findbuch). Im Zusammenhang mit SIN1871, Planquadrat E3 sowie JS1910, Blatt II A. und III A. ergibt sich hieraus, dass die Adresse Mühlendamm 1 neben dem Haus Molkenmarkt 1 gelegen ist. 154 Vgl. Friedrich Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente, S. 309 sowie Brandenburgisches Landeshauptarchiv (Archiv): 2A III D 11991 (Signatur). Änderung der bisherigen Bezeichnung Justizamt Mühlenhof und Niederschönhausen und der Jurisdiktion über die Dörfer Rixdorf, Schöneberg und Wilmersdorf sowie die spätere Bildung des Landgerichts Berlin anstelle des Justizamtes Mühlenhof und des Stadtgerichts Teltow (Titel). 1832-1836 (Dat.-Findbuch). 155 Friedrich Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente, S. 309. 156 Hier o enbart sich abermals ein erzählerischer Kunstgri , der sich im Spannungsverhältnis zwischen Stadtvogtei und Hausvogtei erkennen lässt: Nach dem Abschiedsdiner <?page no="346"?> 334 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin Stadtgefängnis. 157 Hierdurch wird topographisch das Bestrafungsverhalten der Gesellschaft des Ehebruchs wegen re ektiert. Überdies gehen 1865 die ehemaligen Räumlichkeiten des Domänenamts Mühlenhof an das Polizeipräsidium - also die Arbeitsstelle von Rei - über, 158 wodurch das polizeiliche Tätigkeitsfeld der Überwachung (Vgl. 31, 134) raumsemantisch ausgestellt wird, was sich in Melanies Verfolgungsangst spiegelt. Die Nikolaikirche ist die älteste Kirche Berlins 159 und gilt als „recht eigentlich die städtische Hauptkirche“. 160 So kann Melanies dortige Teilnahme an einem Gottesdienst als Versuch gesehen werden, sich wieder in die Berliner Gesellschaft einzugliedern und an alte Verbindungen anzuknüpfen, denn zum einen kennt sie den Pfarrer von ein paar großen und überschwenglichen Bourgeois-Begräbnissen des Jahres 1875 in der Großen Petristraße passiert die kommerzienrätliche Equipage die Hausvogtei, wodurch bereits zu diesem Zeitpunkt die kommende gesellschaftliche Härte gegenüber der Ehebrecherin vorweggenommen wird. (Vgl. Seite 104 dieser Arbeit.) Überdies re ektiert die Hausvogtei aber auch Melanies damaligen Stand als Kommerzienrätin, denn „[f]rüher gab es zwei Schuldgefängnisse in Berlin: die Hausvogtei für die Eximirten, wozu bei uns nur der Adel und die Beamten gehören, und die Stadtvogtei für die Bürger.“ (Herrmann Wollin: Deutsche Lebensbilder. Teil 3. In: Zeitung für die elegante Welt. Freitags, den 10. April 1840. Vierzigster Jahrgang, Nummer 72. Leipzig 1840, S. 285-287, hier S. 286.) Durch den Ehebruch, die sich anschließende Scheidung und das Rubehnsche Finanzdebakel wird Melanie jedoch in Kürze in den Kreis der einfachen Bürger ‚absteigen‘, was in der jetzigen Passage der ‚für ihren Stand nunmehr zuständigen‘ Stadtvogtei ihren Ausdruck ndet. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass „[d]as Su x ‚-rat‘ [...] die weithin erwünschte Gleichrangigkeit mit der hochgeschätzten Beamtenschaft [suggeriert]“, ( Jürgen Kocka: Arbeiten an der Geschichte. Gesellschaftlicher Wandel im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2011 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Band 200), S. 187.) also den vorgenannten Eximierten, was durch Van der Straaten als Geheimen Kommerzienrat unterstrichen wird. (Vgl. zu letzterem Aspekt Fußnote 3 auf Seite 31 dieser Arbeit.) 157 Vgl. Felix Escher: Die Mitte Berlins, S. 38. 158 Das Stadtgefängnis und das Polizeipräsidium be nden sich „am Molkenmarkt, in unmittelbarer Nähe zur Nikolaikirche“. (Gernot Jochheim: Der Berliner Alexanderplatz. Berlin 2006, S. 99. Vgl. auch SIN1871, Planquadrat E3 und SIN1882 sowie zur Datierung: Brandenburgisches Landeshauptarchiv (Archiv): 7 Berlin-Mühlenhof 134 (Signatur).) 159 Vgl. Karl Baedeker: Berlin und Umgebungen (1887), S. 125. 160 L.[udwig] Rellstab: Berlin und seine nächsten Umgebungen in malerischen Originalansichten, S. 57. Fontane selbst hat Gottesdienste in der Nikolaikirche besucht. Vgl. Wilhelm Hü meier: „Ein Lied, ein Satz, ein Wort trägt unendliche Frucht“ - Paul Gerhardt bei Theodor Fontane. In: „Und was er sang, es ist noch nicht verklungen“: Paul Gerhardt im Spiegel. Hrsg. von Günter Balders und Christian Bunners. Berlin 2011 (= Beiträge der Paul- Gerhardt-Gesellschaft; Band 7), S. 11-26, hier S. 11. <?page no="347"?> 6.3 „Ein neues Leben! “ 335 her (152) und zum anderen ist hier Van der Straaten durch den alten Bischof Roß, in die christliche Gemeinschaft aufgenommen (7) worden. Dass ein gesellschaftliches Anknüpfen zunächst nicht erfolgen kann, wird erkennbar, denn Melanie selbst wirkt deplatziert, 161 da es sich um einen Armen-Gottesdienst (152) handelt. So ndet Melanie, die als Rand gur gezeichnet wird und nicht zur Gemeinschaft der Spittelfrauen (152) und Waisenhauskinder, lauter Mädchen, (151) gehört, auch in der Predigt keinen Trost. (Vgl. 152) Jedoch vermag es der gemeinsame Gesang des „Oster-Liedes“ (152) ihr Herz zu bewegen. Dies erscheint aus drei Gründen plausibel: Erstens wird Melanie als Musikschwärmerin (Vgl. 55) angesprochen, zweitens spiegelt die österliche Thematik ihre eigene Suche nach familiärer Vergebung und gesellschaftlicher Auferstehung wider und drittens bringt gerade der musikalische Teil der Liturgie die Gemeinschaftlichkeit der Gottesdienstbesucher hervor, denn er vermag es, deren Distanz durch die verbindende Wirkung der Musik für einen Moment aufzuheben. 162 Dazu passend rücken dann auch zwei von den kleinen Mädchen (152) an Melanie heran, um ihr das Gesangbuch (152) zu geben, was als stellvertretende Verzeihungsgeste ihrer Töchter gelesen werden kann. Dies prä guriert, dass Melanies Ho en in der Folge nicht vergebens sein wird, jedoch auch, dass sie einen wirtschaftlichen Abstieg wird hinnehmen müssen, denn gerade der sie bewegende und gemeinschaftsstiftende Gesang verbindet sie mit den anderen Besuchern des Armen-Gottesdienstes und zudem kennt sie den Pfarrer gerade von Bourgeois-Begräbnissen [(sic! )] her[.] (152) 6.3.2 „Zusammenbrechen der Rubehn’schen Finanz-Herrlichkeit“ Als Melanie nach Hause zurückkehrt, sitzt Rubehn an seinem Arbeitstische (153): Er las einen Brief, den er, als sie eintrat, bei Seite schob. Und er ging ihr entgegen und nahm ihre Hand und führte sie nach ihrem Sophaplatz. 161 Melanie setzte sich auf die letzte Bank und sah, wie die kleinen Mädchen kicherten und sich anstießen und immer nach ihr hinsahen und nicht begreifen konnten, daß eine so feine Dame zu solchem Gottesdienste käme. (151-152) 162 Vgl. zum gemeinschaftsstiftenden Aspekt des Gesangs Eckart Beutel: Fontane und die Religion. Neuzeitliches Christentum im Beziehungsfeld von Tradition und Individuation. Gütersloh 2003, S. 194-195. Bei dem gesungenen Osterlied handelt es sich um die vier ersten Zeilen der 4. Strophe des Chorals „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt“ von Karl August Döring (1783-1844): „Du lebst, Du bist in Nacht mein Licht, Mein Trost in Noth und Plagen, Du weißt, was alles mir gebricht, Du wirst mir’s nicht versagen.“ (152. Vgl. zudem Wilhelm Hü meier: „Was ist, ist durch Vorherbestimmen.“, S. 254.) <?page no="348"?> 336 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin „Du warst fort? “ sagte er, während er sich wieder setzte. „Ja, Freund. In der Stadt ... In der Kirche.“ „In der Kirche! Was hast du da gesucht? “ „Trost.“ Er schwieg und seufzte schwer. Und sie sah nun, daß der Augenblick da war, wo sich’s entscheiden müsse. Und sie sprang auf und lief auf ihn zu und warf sich vor ihm nieder und legte beide Arme auf seine Knie: „Sage mir, was es ist? Habe Mitleid mit mir, mit meinem armen Herzen. Sieh, die Menschen haben mich aufgegeben und meine Kinder haben sich von mir abgewandt. Ach, so schwer es war, ich hätt’ es tragen können. Aber daß Du Dich abwendest von mir, das trag’ ich nicht.“ „Ich wende mich nicht ab von Dir.“ „Nicht mit deinem Auge, wiewohl es mich nicht mehr sieht, aber mit Deinem Herzen. Sprich, mein Einziger, was ist es? [...].“ (153) Während Melanie glaubt, sie habe Rubehns „[...] Liebe nicht mehr[,] [...]“ (153) bezeugen die räumlichen Strukturen Gegenteiliges, denn er ging ihr entgegen und nahm ihre Hand und führte sie nach ihrem Sophaplatz. (153) So zeigt er ihr durch Entgegengehen und Handnehmen seine Liebe, während die räumliche Gleichzeitigkeit von seinem Arbeitstisch (153) und ihrem Sophaplatz (153) 163 auf eine partnerschaftliche Beziehung verweist. Doch Melanie vermutet ihren Ehebruch als Grund für die Krise, denn ihre Gedanken kreisen um die Themen Treue und Untreue 164 sowie ihre durch den Ehebruch verursachte gesellschaftliche Randstellung. 165 Dabei liegt Rubehns unzugängliches Verhalten einzig seinen Bemühungen zugrunde, ihr den nanziellen Niedergang des großen Frankfurter Bankhauses (96) zu verheimlichen: Er fuhr sich über Stirn und Auge, dann nahm er den bei Seite geschobenen Brief und sagte: „Lies.“ Melanie faltete das Blatt auseinander. Es waren Zeilen vom alten Rubehn, dessen Handschrift sie sehr wohl kannte. Und nun las sie: „Frankfurt, Ostersonntag. Ausgleich gescheitert. Arrangiere, was sich arrangieren läßt. 163 Vgl. hierzu auch Seite 360 dieser Arbeit. 164 „[...] Oder ist es, daß du mir mißtraust? Ist es der Gedanke an das alte ‚heute dir und morgen mir.‘ O sprich. [...]“ (153) 165 „[...] Ist es der Bann, unter dem ich lebe und den du mit zu tragen hast? Oder ist es, daß ich so wenig Licht und Sonnenschein in dein Leben gebracht und unsere Einsamkeit auch noch in Betrübsamkeit verwandelt habe? [...]“ (153) <?page no="349"?> 6.3 „Ein neues Leben! “ 337 In spätestens acht Tagen muß ich unsere Zahlungseinstellung aussprechen. M. R. ...“ (154) Der Konkurs des Hauses Rubehn im Jahr 1877 entspricht der zeitgenössischen volatilen Wirtschaftsentwicklung: Nach der Stabilität verheißenden Reichsgründung 1871, die die Konjunktur angeheizt hat, folgen die sogenannten Gründerjahre. 166 Ende 1873 schließlich kommt es ausgelöst durch den Wiener Börsenkrach zum großen Börsenkrach. 167 Die folgende Weltwirtschaftskrise mündet in der sogenannten „Großen Depression“: 168 Diese Krise, in der Unternehmen massenhaft in Konkurs gehen, dauert von 1873 bis 1878, 169 wobei das Jahr 1877 die meisten Liquidationen zählt. 170 Die nanziellen Schwierigkeiten des Frankfurter Bankhauses strahlen in die Rubehnsche Ehe aus. 171 In demjenigen Augenblick jedoch, in dem Melanie Rubehn zur Aussprache nötigt, ist die Krise gemeistert, denn sie erkennt nun eine „wahrhaft authentische Zukunftsperspektive“. 172 Dies korrespondiert mit der räumlichen Semantik, denn Melanie hat sich in einem wahren Freudenjubel erhoben[,] (154) was im Sinne der österlichen Auferstehungssymbolik 173 und als „Verweis auf den Beginn ihres neuen Lebens“ 174 gelesen werden kann: 166 Vgl. Georg Verweyen: Literarische Blamagen, S. 212. 167 Vgl. Ruth Glatzer: Berlin wird Kaiserstadt, S. 94. 168 Vgl. Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 163. 169 Vgl. ebd., S. 163. 170 Vgl. Ruth Glatzer: Berlin wird Kaiserstadt, S. 98. 171 Rubehn schweigt, weil er seine Frau falsch einschätzt, die viel, viel mehr war, als ein bloß verwöhnter Liebling der Gesellschaft[.] (154) Die Rubehnsche Ehekrise hat dabei Parallelen zur Van der Straatenschen: Kennzeichnend dafür ist ein für Rubehn eigentlich untypisches Verhalten, das - gleich wie sein Vorgänger Van der Straaten - Melanie bloße Bilder und Rollen zuweist. So reduziert er das missglückte Wiedersehen mit ihren Kindern auf das Typische und spricht allgemein von Müttern und Vätern, während Melanie den Einzelfall betrachtet. (Vgl. hierzu Kurt Wölfel: „Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch“, S. 347.) 172 Eckart Beutel: Fontane und die Religion, S. 192. Henry Garland spricht von Melanies „transformation“ (Henry Garland: The Berlin Novels of Theodor Fontane, S. 61.) im Augenblick des Rubehnschen Finanzniedergangs. 173 Vgl. Dirk Mende: Frauenleben, S. 203 sowie Norbert Wichard: Erzähltes Wohnen, S. 204. Der Höhepunkt der gesellschaftlichen und familiären Ächtung und zugleich der Krise mit Rubehn ereignet sich dazu passend in der Passionszeit. (Vgl. 142) Daneben erinnern inhaltlicher und zeitlicher Ablauf von ‚Melanies österlicher Auferstehung‘ stark an die Geschichte von Kaiser Max. (Vgl. dazu Seite 247 dieser Arbeit.) 174 Norbert Wichard: Erzähltes Wohnen, S. 204. <?page no="350"?> 338 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin „[...] Als ich damals ging [...] da sprach ich von den Menschlichen unter den Menschen. [...] Und auf diese Menschlichen baut’ ich meine Zukunft und rechnete darauf, daß sie’s versöhnen würde: ich liebte dich! Aber es war ein Fehler [...]. Denn die Liebe thut es nicht und die Treue thut es auch nicht. Ich meine die Werkeltagstreue, die nichts Besseres kann, als sich vor Untreue bewahren. [...]. Aber die bewährte Treue, die thut es. Und nun kann ich mich bewähren und will es und werd’ es, und nun kommt meine Zeit. Ich will zeigen, was ich kann, und will zeigen, daß alles Geschehene nur geschah, weil es geschehen mußte, weil ich Dich liebte, nicht aber, weil ich leicht und übermüthig in den Tag hineinlebte und nur darauf aus war, ein bequemes Leben in einem noch bequemeren fortzusetzen.“ (154-155) Mit dem Zusammenbruch der Rubehnschen Bankgeschäfte „scheint mit poetischer Gerechtigkeit die letzte Strafe über die Ehebrecherin hereinzubrechen.“ 175 Schließlich geht der Konkurs einher mit dem Ende der großbürgerlichen Existenz, 176 doch Melanie verzichtet gelassen „auf den gewohnten Luxus, um die Finanzierung der Familie mitzutragen“. 177 Zunächst bleibt Rubehn skeptisch und kann nicht recht glauben, dass Melanie „[...] spielend entbehren [...]“ (155) können wird. Doch sie betont, dass sie „[...] andere Vorstellungen von Glück habe. Mir ist das Glück etwas anderes als ein Titel oder eine Kleiderpuppe. Hier ist es, oder nirgends. [...]“ (156) Fast zitiert Melanie hierbei ihren Autor, denn Fontane erklärt: „Das Glück besteht darin, daß man da steht, wo man seiner Natur nach hingehört. Selbst die Tugend- und Moralfrage verblaßt daneben.“ 178 Melanie betont in diesem Kontext: „[...] Ein Gefühl ist immer das herrschende, und seiner Liebe zuliebe kann man Alles, Alles. Wir Frauen wenigstens. Und ich gewiß. Ich habe so Vieles freudig hingeopfert und ich sollte nicht einen Teppich opfern können! [...]“ (156) So entspricht die Opferung des türkischen Teppich[s] (129) nicht nur einem Verzicht auf Luxus, sondern markiert zugleich die Verabschiedung von der mit dem Ehebruch in Verbindung stehenden, orientalischen Symbolik. (Vgl. 175 Niels Werber und Esther Ruelfs: Techniken der Zeit- und Raummanipulation, S. 277. 176 Vgl. Hugo Caviola: Zur Ästhetik des Glücks, S. 318. 177 Niels Werber und Esther Ruelfs: Techniken der Zeit- und Raummanipulation, S. 277. 178 Theodor Fontane: Brief an Gustav Karpeles vom 03. April 1879. In: Ders.: Briefe an seine Freunde. Hrsg. von Otto Pniower und Paul Schlenther. Erster Band. Vierte Au age. Berlin 1910 (= Briefe Theodor Fontanes. Zweite Sammlung), S. 413. <?page no="351"?> 6.3 „Ein neues Leben! “ 339 68, 69, 103-104, 110) Gleichzeitig bedeutet der Auszug aus der Mansarde das Ende der hierin fortgesetzten „hot-house-Atmosphäre“ 179 , so dass sich die aus dem Ehebruch hervorgegangene Rubehnsche Ehe nun auch unter realen Bedingungen als beständig erweisen muss: Denn so wie der kommerzienrätliche Reichtum die Isolation eines Treibhauses ermöglicht hat, gilt dies für die Rubehn’sche Finanz-Herrlichkeit (159) bezüglich des buchstäblich abgehobenen Lebens in der treibhausartigen Mansarde. Die erfolgreiche Bewährungsprobe Melanies liest Hanni Mittelmann als Zeichen ihrer Integrität und Voraussetzung für das versöhnliche Ende. 180 Ich möchte eine weitere Lesart vorschlagen, die im Zusammenhang mit Melanies Genfer Herkunft steht, die sie ausdrücklich betont: „[...] Wozu bin ich eine Genferin! [...]“ (157) Dies re ektiert die sogenannte Luxusdebatte des 18. Jahrhunderts, 181 die maßgeblich vom konsumkritischen Rousseau auf der einen und dem luxusa nen Voltaire (1694-1778) auf der anderen Seite geführt worden ist. 182 Somit prä guriert Melanies Genfer Herkunft bereits, dass sie mehr zu sein vermag als ein bloß verwöhnter Liebling[.] (154) Zugleich sind auch der Figur Rubehn aufgrund seiner A nität zum Englischen (Vgl. 18, 20, 130, 138) die luxuskritischen Ideen von ‚moral sense‘ und ‚common sense‘ eingeschrieben. 183 179 Vgl. dazu Seite 196 dieser Arbeit. 180 Vgl. Hanni Mittelmann: Die Utopie des weiblichen Glücks in den Romanen Theodor Fontanes, S. 71. 181 Ebenso schlüssig könnte man die hier anklingende Luxuskritik auch am Genfer Calvinismus festmachen. (Vgl. dazu Christoph Strohm: Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Ein üsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus. Berlin, New York 1996 (= Arbeiten zur Kirchengeschichte; Band 65), S. 626.) 182 Vgl. zur Luxusdebatte exemplarisch Bernd Blaschke: Luxus als Leidenschaft bei Honoré de Balzac. In: Luxus. Die Ambivalenz des Über üssigen in der Moderne. Hrsg. von Christine Weder und Maximilian Bergengruen. Göttingen 2011, S. 192-216, hier S. 192. So hält beispielsweise Friedrich der Große die Ansichten Rousseaus bezüglich seiner Hinwendung zurück zum ursprünglichen Leben für verrückt. Er stimmt mit dem Genfer Philosophen jedoch in der Frage überein, dass er Luxus für unnötig hält. (Vgl. hierzu Frank-Lothar Kroll: Rousseau in Preußen und Russland. Zur Geschichte seiner Wirkung im 18. Jahrhundert. Berlin 2012, S. 11-13.) Fontane selbst äußert Kritik am zeitgenössischen, „greulichste[n] Protzentum“. (Theodor Fontane: Brief an Georg Friedlaender vom 27. Mai 1891. In: Ders.: Briefe an seine Freunde. Hrsg. von Otto Pniower und Paul Schlenther. Zweiter Band. Vierte Au age. Berlin 1910 (= Briefe Theodor Fontanes. Zweite Sammlung), S. 266-267, hier S. 266.) 183 Vgl. beispielsweise Martin Krieger: Tee, S. 168. <?page no="352"?> 340 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin „Ein neues Leben! [...] Ich habe nichts gelernt und das ist gut, denn wie die meisten, die nichts gelernt haben, weiß ich allerlei. Und mit Toussaint L’Ouverture fangen wir an, nein, nein, mit Toussaint-Langenscheidt, und in acht Tagen oder doch spätestens in vier Wochen geb’ ich meine erste Stunde. Wozu bin ich eine Genferin! [...]“ (157) Melanies Wunsch nach Erwerbstätigkeit verweist einerseits erneut auf Genf, denn Arbeit gilt gegenüber dem adeligen ‚jeu‘ als ein Rousseauscher Basisgegensatz. 184 Andererseits re ektiert ihr Bestreben eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen ein aktuelles und brisantes Thema der Bismarck-Zeit. 185 Dies korrespondiert damit, dass Fontane einer der wenigen Autoren in der deutschsprachigen Literatur der 1880er und 1890er Jahre ist, der sich mit der Frage der Berufstätigkeit von Frauen beschäftigt, 186 denn die Ausbildungsmöglichkeiten als Erwerbsgrundlage für Frauen beginnen sich erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich zu verbessern. 187 Melanie jedoch ist bestrebt, einen autodidaktischen Weg mit der 1856 entwickelten Sprachlernbriefmethode Toussaint-Langenscheidt 188 einzu- 184 Vgl. zu diesem Basisgegensatz allgemein Gerhart Graevenitz: Theodor Fontane, S. 481. 185 Vgl. Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 236. Hier sei angemerkt, dass zur Romanzeit diejenigen Frauen, die nicht der sogenannten ‚guten Gesellschaft‘ angehören, stets arbeiten, um den Familienunterhalt mitzutragen. Exemplarisch dokumentiert dies Lene Nimptsch im Roman „Irrungen, Wirrungen“ (Vgl. IW, S. 56 und 118.) oder die Beschreibung einer Plätterin im Roman „Frau Jenny Treibel“. (Vgl. FJT, S. 170.) 186 Vgl. Sabina Becker: ‚Wiederhergestellte‘ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 148. 187 So gibt es das „Lehrerinnenseminar“, das 1868 gegründete „Viktoria-Lyceum“ mit akademischen Kursen in Geschichte, Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften sowie den Lette-Verein. (Vgl. hierzu ausführlicher Renate Böschenstein: Das Rätsel der Corinna: Beobachtungen zur Physiognomie einer ‚realistischen‘ Figur aus komparatistischer Perspektive. In: Verborgene Facetten. Studien zu Fontane. Hrsg. von Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer. Bearbeitet von Hanna Delf von Wolzogen, Christine Hehle und Ingolf Schwan (= Fontaneana; Band 3), S. 224-246, hier S. 226.) Der Lette- Verein gilt als erste Berufsbildungsanstalt für Frauen in Deutschland und wird 1866 in Berlin gegründet. (Vgl. exemplarisch FJT, Anmerkungen, S. 296.) 188 Melanies Versprecher „[...] Toussaint L’Ouverture [...]“ (157) wertet Dirk Mende als Zeichen, dass sie sich mit dem aus einer westafrikanischen Sklavenfamilie stammenden, haitianischen Freiheitskämpfer Toussaint L’ Ouverture (1743-1803) identi ziere. Aufgrund des bisher im Roman etablierten Zusammenhangs zwischen Afrika und dem Topos sexueller Freizügigkeit erscheint jedoch Melanies Versprecher, gerade weil sie ihn sofort korrigiert, vielmehr als Absage an Afrika und die damit verbundenen zeitgenössischen Vorstellungen. (Vgl. dazu die Seiten 88 und 309 dieser Arbeit.) Dies kann als Versuch gelesen werden, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Unterstützt wird diese Lesart durch den Fortgang der Romanhandlung selbst, der so antizipiert wird. <?page no="353"?> 6.3 „Ein neues Leben! “ 341 schlagen. Ihre Genfer Herkunft verweist dabei nicht nur auf [i]hre Kenntniß des Französischen[,] (157) sondern legt auch ein emanzipatorisches Zeugnis ab, denn es ist gerade die Schweiz, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Vorreiterrolle im universitären Frauenstudium und damit der höheren Bildung für Frauen einnimmt. 189 Den Neubeginn ihres Lebens verknüpft Melanie mit einer neuen Wohnung: „Ein neues Leben! Und das Erste ist, wir geben diese Wohnung auf und suchen uns eine bescheidenere Stelle. Mansarde klingt freilich anspruchslos genug, aber dieser Trumeau und diese Broncen sind um so anspruchsvoller. [...]“ (157) Sie lässt sich ihr Vorhaben von Rubehn bestätigen: „[...] Und nun sage: Willst du? Glaubst du? “ „Ja.“ „Topp.“ Und sie schlug in seine Hand[.] (157) Hiermit beschreibt Fontane, besiegelt durch den Handschlag, als einer der ersten Autoren in der deutschsprachigen Literatur eine gleichberechtigte und gleichrangige Partnerschaft. 190 Gegenüber 189 Vgl. exemplarisch Franziska Rogger und Monika Bankowski: Ganz Europa blickt auf uns! Das schweizerische Frauenstudium und seine russischen Pionierinnen. Baden 2010, S. 27 sowie zum ‚Frauenstudium‘ der Kaiserzeit und seine Verspätung beispielsweise Astrid Franzke: Anfänge des Frauenstudiums in Leipzig. In: Frauen in Wissenschaft und Technik. Ergebnisse einer Fachtagung vom 30. September bis 02. Oktober 1999 am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (FH). Hrsg. von ders. und Rudolf Schweikart. Münster 2001 (= Leipziger Beiträge zur sozialen Arbeit; Band 1), S. 173-192, hier S. 173-175. 190 Vgl. Sabina Becker: ‚Wiederhergestellte‘ Weiblichkeit, alternative Männlichkeit, S. 147- 148 und hierzu ähnlich Hanni Mittelmann: Die Utopie des weiblichen Glücks in den Romanen Theodor Fontanes, S. 72. Historisch betrachtet ist die Erwerbstätigkeit einer Frau zur Romanzeit an das Einverständnis ihres Ehemannes gebunden. (Vgl. zum Beispiel Henry Garland: The Berlin Novels of Theodor Fontane, S. 61.) Zugleich wird hiermit ein Unterschied zur Ehe der v. Gryczinskis pro liert, die auf Heimlichkeiten beruht: „[...] Und wenn er wiederkommt, so beicht’ ich ihm Alles. Ich kann es dann. Er ist dann immer so zärtlich. Und ein Blaubart ist er überhaupt nicht.“ (137) Auch wenn Jacobine ihren Vergleich zu Blaubart ex negativo zieht, ist ihre Assoziation vielsagend: Im Märchen verbietet Ritter Blaubart seiner Frau, während seiner Abwesenheit ein bestimmtes Zimmer des ehelichen Anwesens aufzusuchen. Jene unterläuft das Verbot jedoch und ndet in besagtem Zimmer die Leichen ihrer Vorgängerinnen. Nach seiner Rückkehr kommt Blaubart seiner Frau auf die Schliche und versucht sie daraufhin ebenfalls zu töten, was misslingt und mit dem Tod Blaubarts endet, der mithilfe ihrer Schwester von ihren Brüdern getötet wird. Zum Schluss heiratet die Frau als reiche Witwe einen ehrenwerten Mann und wird glücklich. Überdies verhilft sie ihrer Schwester zur Ehe mit ihrem Geliebten und den Brüdern zu Ansehen. (Vgl. zu Blaubart allgemein Monika Szczepaniak: Männer in Blau. Blaubart-Bilder in der deutschsprachigen Literatur. <?page no="354"?> 342 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin dem Kommerzienrat ist Rubehn bereits zuvor abgegrenzt worden, denn seine progressiven Vorstellungen goutieren die Eigenständigkeit seiner Ehefrau: 191 „[...] Ich hasse junge Frauen, die beständig am Fenster passen, ‚ob er noch nicht kommt‘, und mit dem Wächter unten auf Du und Du stehen, nur, um immer eine Heil-Ablieferungsgarantie zu haben. [...]“ (149) 192 Melanie setzt ihre neuen Lebenspläne rasch um und hatte dabei ganz ihre Frische wieder und eh ein Monat um war, war die modern und elegant eingerichtete Wohnung gegen eine schlichtere vertauscht und das Stundengeben hatte begonnen. (157) Der Wohnungswechsel markiert wie von Melanie angekündigt einen neuen Lebensabschnitt. Hierfür spricht auch ihre Frische[,] (157) die sie nunmehr wiedererlangt. Jene fehlende Frische hat in der Treibhausluft, der „weiche[n] hot-house-Atmosphäre“, 193 dem Ehebruch Vorschub geleistet (Vgl. 94) und ist in der Hitze der Mansarde gleichsam fortgeschrieben worden, so dass sie sich hier von ihrer Schuld zunächst nicht lösen kann. Ihre Erwerbstätigkeit wird in der Forschung vielfältig diskutiert und allgemein positiv bewertet. 194 Erscheint Melanies Arbeit beispielsweise für Humbert Settler Köln, Weimar, Wien 2005 (= Literatur - Kultur - Geschlecht. Große Reihe; Band 37), insbesondere Kapitel 3.) Demzufolge verweigert Blaubart in seiner Rolle als Patriarch die grundsätzliche Gleichheit der beiden Liebenden, (Vgl. Peter von Matt: Liebesverrat, S. 66.) womit hier der signi kante Unterschied zwischen der Rubehnschen und der Gryczinskischen Ehe deutlich pro liert wird. Außerdem verhandelt das Märchen vom Ritter Blaubart die vermeintliche weibliche Neugier und Unbeherrschtheit, (Vgl. ebd., S. 66.) so dass hiermit erneut auf Jacobines „[...] Neugier [...]“ (137) Bezug genommen wird, der sich beide Gryczinskischen Eheleute bewusst sind. Gleichzeitig gibt Jacobine indirekt zu verstehen, dass Melanie nicht auf ihre Unterstützung bezüglich eines gesellschaftlichen Wiederauflebens zu ho en braucht, denn Jacobine ist gerade nicht Blaubarts Frau und hilft ihrer Schwester demgemäß auch nicht bezüglich des Geliebten. Auch sei nochmals auf den Helmkakadu verwiesen, der eine gleichrangige Partnerschaft führt, denn beispielsweise die Aufzucht der Jungen übernehmen beide Elternteile. (Vgl. hierzu Dieter Hoppe: Kakadus, S. 110 sowie Seite 72 dieser Arbeit.) 191 Zu widersprechen ist in Anbetracht der Erkenntnisse Eva Geulens Einschätzung: „[D]ie zweite Ehe wiederholt die erste.“ (Eva Geulen: Frauen vom Meer, S. 110.) 192 Während hingegen Van der Straaten in Jacobine, „[...] mit den ewigen Schmachtaugen[,] [...]“ (44) um ihres anschmiegenden Wesens willen, ein kleines Frauenideal verehrte . (58) 193 Vgl. hierzu Seite 196 dieser Arbeit. 194 Vgl. hierzu Gabriele Altho : Weiblichkeit als Kunst, S. 35; Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 201-202 und 239; Gerhard Friedrich: Das Glück der Melanie van der Straaten, S. 367; Henry Garland: The Berlin Novels of Theodor Fontane, S. 60; Ingrid Mittenzwei: Die Sprache als Thema, S. 49; Uta Schürmann: Tickende Gehäuseuhren, gefährliches <?page no="355"?> 6.3 „Ein neues Leben! “ 343 allein aus wirtschaftlicher Not begründet, 195 möchte ich eine andere Lesart vorstellen, die abermals auf ihre Genfer Herkunft rückverweist: 196 Der schottische Essayist und Historiker Thomas Carlyle (1795-1881) - der dem schottischen Puritanismus, einer „Tochterkirche des calvinistischen Genf “ 197 angehört - hat bei seiner Antrittsrede im Jahr 1866 als Rektor der Universität Edinburgh die berühmt gewordene Au orderung „Arbeiten und nicht verzweifeln“ 198 geprägt. 199 Dieser Topos repräsentiert dabei eine Au assung des 19. Jahrhunderts, dass Melancholie durch Arbeit geheilt werde. 200 Daher kann Melanies wiedergewonnene Frische (157) als Zeichen der Bewältigung ihrer erneut eingetretenen Melancholie (Vgl. 150) gelesen werden, welche die Ehe der Rubehns nach der Rückkehr in Sofa, S. 127; Rita Unfer Lukoschik: Die Novelle als Erlebnisraum: Boccaccio - Fontane, S. 50; Georg Verweyen: Literarische Blamagen, S. 222 und schließlich Norbert Wichard: Erzähltes Wohnen, S. 197. 195 Vgl. Humbert Settler: „L’Adultera“ - Fontanes Ehebruchsroman, auch im europäischen Vergleich, hier S. 129. 196 Vgl. zu Calvins Ein uss auf den protestantischen Arbeitsethos Emidio Campi: Johannes Calvin in seiner und unserer Zeit (1509-2009). In: Johannes Calvin und die kulturelle Prägekraft des Protestantismus. Hrsg. von dems., Peter Opitz und Konrad Schmid. Zürich 2012 (= Zürcher Hochschulforum; Band 46), S. 11-26, hier S. 19. 197 Heidi Neuenschwander-Schindler: Das Gespräch über Calvin. Frankreich 1685-1870. Historiographische Variationen zu einem interkonfessionellen Thema. Basel und Stuttgart 1975 (= Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft; Band 136), S. 142. Hierzu passend erscheint ebenso Carlyles „vertiefte Au assung vom Sinn der Arbeit“. (Ebd., S. 163.) 198 Lebensweisheiten berühmter Dichter und Denker. Über 2000 Zitate von Aristoteles bis Zuckmayer. Hrsg. von Roland Leonhardt. Hannover 2011, S. 209. Carlyle äußert überdies, Arbeit sei „das beste Heilmittel für alle Krankheiten“. (Ebd., S. 209.) 199 Fontane kennt Carlyles Werke, wie aus seinem Ehebriefwechsel hervorgeht. (Vgl. Theodor Fontane: Brief an Emilie Fontane vom 08. Juni 1879. In: Ebw3, S. 168.) 200 Vgl. Wolf Lepenies: „Melancholie ist ein aktuelles gesellschaftliches Problem“. Kulturinterview vom 16. Februar 2006 im Deutschlandfunk Kultur. Bis heute kann Carlyles Au orderung als Motto zur Bekämpfung einer schwierigen Lebenssituation zitiert werden. (Vgl. Duden. Zitate und Aussprüche. Herkunft und aktueller Gebrauch. 4., überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Hrsg. von der Dudenredaktion. Berlin 2017 (= Duden; Band 12), S. 51.) Karin Tebben liest den Roman in dem Sinne als autobiographisch inspiriert, dass Fontane hierdurch seine eigene Herzensentscheidung rechtfertigt, den sicheren Apothekerberuf zugunsten der unsicheren Schriftstellerexistenz aufzugeben. (Vgl. Karin Tebben: „Der Roman dahinter“: zum autobiographischen Hintergrund von Theodor Fontanes „L’Adultera“ In: German Life and Letters 55, 4 (2002), S. 348-362.) Folgt man Tebbens These, kann Fontanes ausuferndes Œuvre als Versuch gewertet werden, Carlyles Au orderung vom „Arbeiten und nicht verzweifeln“ zu entsprechen. <?page no="356"?> 344 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin die Heimat belastet. 201 Hierfür spricht ebenso, dass der Rückfall in ihre frühere Melancholie (126) während des Aufenthalts in Rom von Passivität 202 begleitet wird, denn damals werden die neuen Reisepläne von der Kranken apathisch angenommen . (127) Diese Passivität hat sich auch nach ihrer Rückkehr fortgesetzt, denn [a]m Bahnhof aber waren sie von Rubehns jüngerem Bruder empfangen und in ihre Wohnung eingeführt worden[.] (128) Nun jedoch wird Melanie als aktiv Handelnde gezeichnet, 203 die auf einen Wohnungswechsel und die Aufnahme einer Berufstätigkeit besteht und damit zum Familienglück beiträgt: Und nun folgten idyllische Wochen, und jeden neuen Morgen, wenn sie von der Wilmersdorfer Feldmark 204 her am Rande des Thiergartens hin ihren Weg nahmen und an ihrer alten Wohnung vorüber kamen, sahen 201 So fragt Melanie Rubehn auf dem Höhepunkt der Ehekrise: „Oder ist es, daß ich so wenig Licht und Sonnenschein in Dein Leben gebracht und unsere Einsamkeit auch noch in Betrübsamkeit verwandelt habe? “ (153) 202 Die Passivität Melanies zeigt sich zudem bereits beim Fensterblick im Winter 1875 in der Großen Petristraße, als die Flocken vom Luftzuge neu gefaßt und wieder in die Höhe gewirbelt [werden]. (10) 203 Dies korrespondiert mit Melanies aktivem Handeln kurz vor Erreichen Venedigs - „Della Salute! [...] Es heimelt mich an, es erquickt mich: das Wohl, das Heil! O, komm. Dahin wollen wir.“ (127) - und dem sich anschließenden „Nun weiß ich, daß ich leben werde.“ (127) 204 Vgl. zur genauen Lokalisierung der Wilmersdorfer Feldmark die Karte der Feldmark der Gemeinde zu Deutsch-Wilmersdorf, Kreis Teltow, nach der im Jahre 1847 durch Schneider und Adler angefertigten Brouillonkarte, copiert im Februar 1882 durch den Königlichen Vermessungs-Revisor Hawlitschka. Verkleinerter Abdruck zu nden in Berlin Wilmersdorf. Wilmersdorf, Schmargendorf, Kolonie und Forst Grunewald dargestellt im Kartenbild der Jahre 1588 bis 1938. Hrsg. von Udo Christo el. Berlin 1983, S. 24. Fasst man den Begri der Wilmersdorfer Feldmark weiter und nimmt das in deren Nordwesten angrenzende Rittergut Wilmersdorf hinzu, ergeben sich als Grenzen diejenigen, die noch im Jahr 1907 - ein Jahr nach der Erlangung des Stadtrechts und im Jahr des Ausscheidens aus dem Kreis Teltow - das Weichbild Wilmersdorfs bilden. (Vgl. dazu den Übersichtsplan 1: 2000 von Dt. Wilmersdorf in 16 Blättern. Nach vorhandenem städtischen Planmaterial bearbeitet vom April bis Dezember 1907. Hrsg. vom Städtischen Vermessungsamt. Berlin 1907. Als Faksimile vollständig abgedruckt in: Berlin Wilmersdorf. Wilmersdorf, Schmargendorf, Kolonie und Forst Grunewald dargestellt im Kartenbild der Jahre 1588 bis 1938. Hrsg. von Udo Christo el. Berlin 1983, S. 35-47. Dies deckt sich im Bereich des abgebildeten Gebiets mit dem Plan EG1875, Planquadrate F1, F2, G1 und G2.) Der Bebauungszustand des gesamten in Rede stehenden Areals um 1880 kann dem Plan SEB1880 entnommen werden, der jedoch leider keine dahingehenden Gemarkungsgrenzen ausweist, was den Abgleich mit vorgenannten Plänen erforderlich macht. <?page no="357"?> 6.3 „Ein neues Leben! “ 345 sie zu der eleganten Mansarde hinauf und athmeten freier, wenn sie der zurückliegenden schweren und sorgenreichen Tage gedachten. (158) Sowohl Dirk Mende als auch Hinrich C. Seeba behaupten irrigerweise, Familie Rubehn sei „in die billigere Wilmersdorfer Feldmark“ 205 gezogen. Jedoch ist es im Jahr 1877 in der außerliterarischen Realität ausgeschlossen, in dieser damals noch ländlichen Umgebung 206 zu wohnen, weil dieses Gebiet zu jenem Zeitpunkt noch nicht bebaut ist. 207 Der Hinweis des Erzählers von der Wilmersdorfer Feldmark 205 Hinrich C. Seeba: Berliner Adressen, S. 144. Hierzu ähnlich schreibt Dirk Mende „von der billigeren, neuen Wohnung auf der „Wilmersdorfer Feldmark““. (Dirk Mende: ‚Wenig mit Liebe‘, S. 240.) 206 Hier sei auch an den ländlichen Charakter der sich „Mitte der 70er Jahre noch [...] feldeinwärts“ (IW, S. 5.) erstreckenden „Dörr’schen Gärtnerei“ (IW, S. 9.) gedacht, die sich in einem Grenzgebiet be ndet, denn sie gehört weder zum sich erst in den Folgejahren ausbreitenden Berliner Stadtgebiet, noch zum bis 1920 selbständigen Wilmersdorf. (Vgl. hierzu Maria A. Schellstede: Mehr als ein literarisierter Stadtplan, S. 80-81.) An dieser Stelle ist Katrin Scheiding zu widersprechen, die den Dörrschen Garten als „mitten in Berlin“ (Katrin Scheiding: Raumordnungen bei Theodor Fontane, S. 197.) und als „Kontrast zur umgebenden Metropole gestaltet“ (Ebd., S. 198.) zu erkennen glaubt. Dies ist umso erstaunlicher, wird doch die ländliche Prägung der Gärtnerei auch textintern mehrfach re ektiert, wenn beispielsweise die Roman guren während eines Spaziergangs die Gärtnerei durch ein „verstecktes Seitenpförtchen“ (IW, S. 58.) verlassen und zunächst auf einen Feldweg (IW, S. 58.) gelangen, bis dieser weiter abwärts in das freie Wiesengrün (IW, S. 58.) einbiegt. Ähnlich glaubt Gerhard Kaiser in der Dörrschen Gärtnerei eine „idyllische Insel in Stadtbereichen“ (Gerhard Kaiser: Soziale Welten im Wassertropfen. Fontanes realistisches Erzählen. Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs- Universität Freiburg (1998). Online abrufbar unter: http: / / www.freidok.uni-frei burg.de/ volltexte/ 424/ pdf/ fontane.pdf (letzter Zugri am 20.02.2023), S. 34-42, hier S. 35.) zu sehen, obwohl gerade das Signi kante der Gärtnerei ihre topographische Verortung außerhalb des Städtischen ist. 207 Das früheste Gebäude der weiter gefassten Wilmersdorfer Feldmark (Vgl. Fußnote 204 auf Seite 344 dieser Arbeit.) ist die Villa Schas(s)ler, die zwischen 1874 und 1875 am Halberstädter Platz, dem heutigen Prager Platz, gebaut wird. Dies lässt sich anhand des Berliner Adressbuchs erschließen. Während das Adressbuch für das Jahr 1874 den Philologen und Redakteur der deutschen Kunstzeitung „Die Dioskuren“, Dr. Max Schasler, in der Landgrafenstraße 7 verzeichnet, wird im Adressbuch von 1875 die Villa Schasler als sein Wohnort angegeben. (Vgl. Berliner Adreß-Buch für das Jahr 1875. Hrsg. unter Mitwirkung von Dr. jur. H. Schwabe [von der Societät der Berliner Bürger-Zeitung]. VI. Jahrgang. Berlin 1874, I. Teil, S. 715 sowie Berliner Adreß-Buch für das Jahr 1875. Hrsg. von der Societät der Berliner Bürger-Zeitung, I. Teil, S. 760.) Ein weiteres, 1880 als großes Baugrundstück ausgezeichnetes Gebiet be ndet sich zwischen der heutigen Berliner, Helmstädter-, Jenaer- und Güntzelstraße. Dieses erwirbt 1865 der Bankier Adolph Engelhardt, lässt hier aber erst 1885 eine Villa inmitten eines Landschaftsparks erbauen. <?page no="358"?> 346 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin her (158) muss deshalb als die Richtung aus der das Paar kommt verstanden werden und deutet im Umkehrschluss an, dass die Familie nunmehr direkt in Wilmersdorf zu verorten ist. 208 Aufgrund seiner geologischen und verwaltungsgeschichtlichen Spezi ka erscheint dieser Wohnort als topographisch vielschichtig: Durch den Wilmersdorfer See und der sich anschließenden Wilmersdorfer Feuchtwiese, das sogenannte ‚Große Fenn‘, erscheint dieser Wohnort für die wassera ne Melanie passend, denn es handelt sich hierbei um natürliche, nicht künstlich eingehegte Wasserformationen. 209 Im Gegensatz dazu hat sie im kommerzienrätlichen Stadthaus (Vgl. Berlin Wilmersdorf. Wilmersdorf, Schmargendorf, Kolonie und Forst Grunewald dargestellt im Kartenbild der Jahre 1588 bis 1938. Hrsg. von Udo Christo el, S. 29-31.) Das wohl bekannteste Gebäudeensemble der beinahe unbebauten Wilmersdorfer Feldmark stellt das Joachimsthalische Gymnasium dar, welches 1880 erö net wird. (Vgl. Jonas Flöter: Dic Cur Hic. Sag, warum du hier bist. Joachimsthal - Berlin - Templin. 400 Jahre Joachimsthalsches Gymnasium. Katalog zur Ausstellung. Berlin 2007, S. 13.) Die drei beschriebenen Bauten auf der erweiterten Wilmersdorfer Feldmark werden entweder erst nach der Romanhandlung errichtet, oder sind nicht von Privatpersonen zur Miete zu bewohnen gewesen, so dass das Ehepaar Rubehn nicht im Gebiet der Wilmersdorfer Feldmark - das ehemalige Rittergut Wilmersdorf inkludierend - zu verorten ist. (Vgl. zum Bebauungszustand den Senatsplan SEB1880 und ergänzend dazu den Bebauungszustand von 1888 im Situations-Plan von der Haupt- und Residenz-Stadt Berlin und Umgebung, bearbeitet von W. Liebenow. Berlin 1888. Einen Ausschnitt dieser Karte mit Teilen des betre enden Gebiets ndet man in: Berlin Wilmersdorf. Wilmersdorf, Schmargendorf, Kolonie und Forst Grunewald dargestellt im Kartenbild der Jahre 1588 bis 1938. Hrsg. von Udo Christo el, S. 31.) 208 Dies entspricht der wachsenden Beliebtheit Wilmersdorfs als Wohnort nach der Reichsgründung: Im Jahr 1856 hat Wilmersdorf 945 Einwohner und im Jahr 1886 eine Einwohnerzahl von 4000. (Vgl. Berlin Wilmersdorf. Ein StadtTeilBuch . Hrsg. von Udo Christo el. Beiheft. Die Zeittafeln, S. 16.) 209 Vgl. zur geologischen Lage Wilmersdorfs die Geologische Karte von Preußen und benachbarten Bundesstaaten. Hrsg. von der königlich preußischen geologischen Landesanstalt. Berlin ab 1853 (= Geologische Spezialkarte von Preußen und den Thüringischen Staaten. Hrsg. vom königlich preußischen Ministerium für Handel, Gewerbe und ö entliche Arbeiten), Blatt Teltow (Nr. 1907, Neue Nr. 3545, erschienen 1878) und Tempelhof (Nr. 1908, Neue Nr. 3546, erschienen 1878) sowie ergänzend Spandow (Nr. 1836, Neue Nr. 3445, erschienen 1875) und Berlin (Nr. 1837, Neue Nr. 3446, erschienen 1882). Blatt Teltow ist online abrufbar unter: https: / / digita l.u b.u nip ots d a m .d e/ c o nte nt/ titleinfo/ 7 8 3 2 3 , Blatt Tempelhof unter: https: / / digital.ub.uni-potsdam.de/ content/ titleinfo/ 78375 , Blatt Spandow unter: https: / / digital.ub.uni-potsdam.de/ content/ titleinfo/ 78119 und Blatt Berlin unter: https: / / digital.ub.uni-potsdam.de/ content/ titleinfo/ 78608 (letzter Zugri am 11.01.2023). <?page no="359"?> 6.3 „Ein neues Leben! “ 347 einen Zwang (Vgl. 46) empfunden, der sich architektonisch in der von starken Befestigungen umgebenen Insel Cölln zeigt, die dem Wasser seine Natürlichkeit nimmt. 210 Auch die verwaltungsgeschichtliche Historie (Deutsch-)Wilmersdorfs ist aufschlussreich: So untersteht das kleine Angerdorf seit dem Jahr 1673 als landherrliches Gut dem kurfürstlichen, später königlichen Domänenamt Mühlenhof und wird von dort verwaltet. 211 Das Amt Mühlenhof hat die Gerichtsbarkeit beispielsweise über den Mühlendamm, die Fischerbrücke, alle in und um Berlin be ndlichen Mühlen sowie zwei Vorwerke und sieben Dörfer außerhalb Berlins, darunter auch Wilmersdorf. 212 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts sinken dann die Kompetenzen des Amts Mühlenhof gegenüber Wilmersdorf immer weiter herab. So wird in den 1830er Jahren das Justizamt Mühlenhof aufgelöst, 213 wohingegen das Domänenpolizeiamt Mühlenhof noch bis ins Jahr 1874 bestehen bleibt. 214 Außerdem wechselt 1865 der Verwaltungssitz des Amtes Mühlenhof vom Mühlenhofareal selbst zur Grünstraße 3, der westlich gelegenen Parallelstraße der Petristraße. 215 Die Blätter Teltow und Tempelhof zeigen neben dem Wilmersdorfer See auch insbesondere dessen verlandete Teile, das Fenn. (Vgl. zur Lage des Fenns ebenfalls Udo Christo el: Wilmersdorf. Erfurt 1998 (= Die Reihe Archivbilder), S. 6.) Die Badeanstalt Schramm wird erst 1879, also nach der Romanhandlung, erö net. (Vgl. Uta Maria Bräuer und Jost Lehne: Bäderbau in Berlin. Architektonische Wasserwelten von 1800 bis heute. Berlin 2013, S. 93.) Im Jahr 1915 wird dann der allmählich versandende Wilmersdorfer See zugeschüttet. (Vgl. ebd., S. 93.) 210 Vgl. hierzu Seite 69 dieser Arbeit. 211 Vgl. Berlin Wilmersdorf. Ein StadtTeilBuch . Hrsg. von Udo Christo el. Beiheft. Die Zeittafeln, S. 8. Wilmersdorf unterhält zwischen 1714 und 1898 eine Windmühle. (Vgl. ebd., S. 20.) 212 Friedrich Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente, S. 309. 213 Vgl. Brandenburgisches Landeshauptarchiv (Archiv): 2A III D 11991 (Signatur). 214 Vgl. Brandenburgisches Landeshauptarchiv (Archiv): 7 Berlin-Mühlenhof 15 (Signatur). Aufhebung der polizeilichen Funktion des bisherigen Domänenpolizeiamtes Mühlenhof nach Durchführung der Kreisordnung in den Kreisen Teltow und Niederbarnim, mit dem 01. Aug. 1874, und Übergang der auf die Polizeiverwaltung bezüglichen Geschäfte des Amtes Mühlenhof an die neu bestellten Amtsvorsteher (Titel). 1874 (Dat.-Findbuch) sowie Brandenburgisches Landeshauptarchiv (Archiv): 7 Berlin-Mühlenhof 16 (Signatur). Nachweisung der dem Domänenamt Mühlenhof nach Durchführung der Kreisordnung und Abnahme seiner bisherigen Polizeifunktionen verbliebenen Amtsgeschäfte (Titel). 1875 (Dat.-Findbuch). 215 Vgl. Brandenburgisches Landeshauptarchiv (Archiv): 7 Berlin-Mühlenhof 134 (Signatur). In der Folge wird es noch weitere Standortwechsel geben, da das stark zurechtgestutzte Amt - nunmehr lediglich ein Rentamt - keine zufriedenstellenden Räumlichkeiten n- <?page no="360"?> 348 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin Mithin kann die historische Entwicklung Wilmersdorfs als eine verwaltungstechnische Abnabelung von der Oberhoheit des eng mit Cölln und dem Areal um die Petristraße verknüpften Amtes Mühlenhof gelesen werden, was mit dem Niedergang des Amtes selbst korreliert. Analoges tri t auch auf die Protagonistin Melanie zu, die sich vom Cöllner Geschäftsmann Van der Straaten lossagt. Gleichzeitig jedoch bleibt sie aufgrund ihrer Geschichte und durch ihre beiden Töchter aus erster Ehe mit Cölln verbunden, so wie Wilmersdorf mit dem Mühlenhof und Cölln aufgrund seiner Geschichte und der verbleibenden Rentamtstätigkeit des Amtes Mühlenhof verbunden bleibt. Diese Ambivalenzen korrespondieren mit dem Mühlentopos selbst, dem eine Zwitterstellung zwischen Natur und Kultur eigen ist, 216 so wie Melanie als Elementarwesen der Natur zugeordnet ist und gleichzeitig gesellschaftsbezogen bleibt. 217 6.3.3 Gemeinsamer Arbeitsweg im Tiergarten Die vom Erzähler beschriebenen idyllische[n] Wochen (158) gründen nicht nur in der Liebe des Paares, (Vgl. 160) sondern auch in der verbindenden Wirkung des gemeinschaftlich beschrittenen Arbeitsweges, den die beiderseitige Berufstätigkeit mit sich bringt und der den partnerschaftlichen Charakter der Ehe unterstreicht. Dies spiegelt nicht nur die von Melanie beschworene bewährte Treue (155) wider, sondern zeigt implizit auch die drastischen Di erenzen zwischen dem alten - Van der Straatenschen - und dem neuen - Rubehnschen - Ehemodell auf. Jene lassen sich dabei topographisch anhand der unterschiedlichen Landschaftsarchitekturen im Tiergarten untermauern: Der Tiergarten - im Jahr 1740 unter den kann. (Vgl. Brandenburgisches Landeshauptarchiv (Archiv): 7 Berlin-Mühlenhof 16 (Signatur); Brandenburgisches Landeshauptarchiv (Archiv): 7 Berlin-Mühlenhof 134 (Signatur) und ebenso Brandenburgisches Landeshauptarchiv (Archiv): 7 Berlin-Mühlenhof 135 (Signatur). Weitere Verlegung der Geschäftslokale des Amtes Mühlenhof, nachdem das mit dem Polizeipräsidium getro ene Abkommen (wegen Bescha ung eines Lokals für das Rentamt) gekündigt und die Bescha ung der Amtslokalitäten dem jeweiligen Rentmeister gegen Dienstaufwandsentschädigungen überlassen worden (Titel). 1866-1885 (Dat.-Findbuch).) Vgl. zur Lage des neuen Standorts JS1910, Blatt III A. 216 Vgl. Martina Switalski: Landmüller und Industrialisierung. Sozialgeschichte fränkischer Mühlen im 19. Jahrhundert. Münster, New York, München, Berlin 2005 (= Internationale Hochschulschriften; Band 450), S. 13. 217 Vgl. dazu Seite 75 und 297 dieser Arbeit. <?page no="361"?> 6.3 „Ein neues Leben! “ 349 Friedrich dem Großen (1712-1786) der Ö entlichkeit zugänglich gemacht 218 - entwickelt sich im 19. Jahrhundert „zur Parklandschaft für die Bürger Berlins“ 219 und verliert dadurch seine Rolle als exklusives Refugium des Adels, um stattdessen der Allgemeinheit Erholung zu bieten. 220 Während der Kommerzienrat hier - ganz dem aristokratischen Habitus nacheifernd - einen privaten Park unterhält, dessen Park-Einsamkeit (46) Melanie einst in Abwesenheit ihres Gatten genossen hat, (Vgl. 46) nutzen die Rubehns nunmehr gemeinschaftlich den Tiergarten als ö entlichen Raum. 221 Dabei erscheint Van der Straaten - in einer Zeit in der Museen und Gärten mehr und mehr der Ö entlichkeit zugänglich gemacht werden - mit seiner hauseigenen Gemäldegalerie und seinem privaten Landschaftsgarten abermals als anachronistisch. 222 Über den genauen Arbeitsweg jenseits der Tiergartenstraße erfährt der Leser nichts, doch lässt sich vermuten, dass Rubehn, der als amerikanischer Correspondent in ein Bankhaus (158) eingetreten ist, in der nördlichen Friedrichstadt arbeitet, in der sich im 19. Jahrhundert das Bankenviertel be ndet. 223 Melanie hingegen erteilt in ein paar großen, schlesischen Häusern, die gerade vornehm genug waren, den Tagesklatsch ignorieren zu können (158) Sprach- und Klavierunterricht. 224 Weil einige reiche schlesische Familien bevorzugt in den Stadtpalais 218 Vgl. die Dokumentation ‚Diplomatenviertel‘ Berlin Tiergarten. Hrsg. von der Bauaustellung Berlin GmbH, S. 8. 219 Otto Drude: Fontane und sein Berlin, S. 353. 220 Therese von Poggenpuhl bemerkt dazu: „„[...] Der Tiergarten [...] ist doch etwas Oe entliches, und was ö entlich ist, ist immer gewöhnlich. Und vieles, was man im Tiergarten sieht, ist geradezu cynisch. [...] Auf jeder Bank sitzt ein Paar und verletzt durch seine Haltung. [...]““ (PP, S. 109.) 221 Die sich verändernde Gartennutzung - vom Privatpark zum ö entlichen Raum - kann als Ausdruck einer sich wandelnden Epoche gelesen werden. Ähnliches gilt gleichfalls für die private Kunstsammlung gegenüber dem ö entlichen Museum. (Vgl. hierzu allgemein Hildegard Haberl: Von Gärten und Museen. Wissens- und Erinnerungsräume im enzyklopädischen Roman des 19. Jahrhunderts bei Goethe und Flaubert. In: Literarische Räume. Architekturen - Ordnungen - Medien. Hrsg. von Martin Huber, Christine Lubkoll, Ste en Martus und Yvonne Wübben. Berlin 2012, S. 93-110, hier S. 94-95.) 222 Dies belegt auch die enge Verzahnung aus Arbeiten und Wohnen im Van der Straatenschen Stadthaus, während sich zur Romanzeit bereits die Trennung von Wohnen und Arbeiten durchgesetzt hat. (Vgl. hierzu Seite 51 dieser Arbeit.) 223 Vgl. Günter Peters: Kleine Berliner Stadtgeschichte, S. 142. 224 Im Unterschied hierzu bleibt E Briest nach ihrer Scheidung sogar ein Ehrenamt in einem Bildungsverein versagt: „„[...] Und in solchen Verein, wo man sich nützlich machen kann, da möchte ich eintreten. Aber daran ist gar nicht zu denken; die Damen nehmen mich nicht an und können es auch nicht. Und das ist das schrecklichste, daß einem die <?page no="362"?> 350 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin am Pariser Platz wohnen, 225 vermag dies den Gang entlang der Tiergartenstraße zu erklären. Und dann bogen sie plaudernd in die schmalen, schattigen Gänge des Parkes ein, bis sie zuletzt unter der schräg liegenden Hängeweide fort, die zwischen dem Königsdenkmal und der Louiseninsel steht und hier beinahe den Weg sperrt, in die breite Thiergartenstraße wieder einmündeten. (158) Die schrägliegende Hängeweide 226 kann hier als Symbol der verleugneten Ehe und der unglücklichen Liebe verstanden werden 227 und versinnbildlicht demnach Welt so zu ist und daß es sich einem sogar verbietet, bei Gutem mit dabei zu sein. Ich kann nicht ’mal armen Kindern eine Nachhülfestunde geben ...““ (EB, S. 315.) 225 Vgl. Roswitha Schieb: Jeder zweite Berliner. Schlesische Spuren an der Spree. Potsdam 2012, S. 15. In einem Brief Fontanes an den Breslauer Geschichtsprofessor Colmar Grünhagen (1828-1911) vom 10. Oktober 1895 lässt sich erkennen, warum Melanie ausgerechnet in schlesischen Adelshäusern eine Anstellung nden kann: „[...] wie ich eine Vorliebe für die Schlesier überhaupt habe, so speziell für den schlesischen Adel. Er ist gewiß, nach bestimmten Seiten hin, sehr anfechtbar, aber gerade diese Anfechtbarkeiten machen ihn interessant und mir auch sympathisch. Es sind keine Tugendmeier, was mir immer wohltut. Ich war nie ein Lebemann, aber ich freue mich, wenn andere leben, Männlein wie Fräulein. Der natürliche Mensch will leben, will weder fromm noch keusch noch sittlich sein, lauter Kunstprodukte von einem gewissen, aber immer zweifelhaft bleibenden Wert, weil es an Echtheit und Natürlichkeit fehlt. Dies Natürliche hat es mir seit lange angetan, ich lege nur darauf Gewicht, fühle mich nur dadurch angezogen, und dies ist wohl der Grund, warum meine Frauengestalten alle einen Knax weghaben. Gerade dadurch sind sie mir lieb, ich verliebe mich in sie, nicht um ihrer Tugenden, sondern um ihrer Menschlichkeiten, d. h. um ihrer Schwächen und Sünden willen. Sehr viel gilt mir auch die Ehrlichkeit, der man bei Magdalenen mehr begegnet, als bei den Genoveven. Dies alles, um Cécile und E ein wenig zu erklären.“ (Theodor Fontane: Brief an Colmar Grünhagen vom 10. Oktober 1895, S. 487-488.) 226 Hängeweide, (echte) Trauerweide und Tränenweide sind Synonyme für die aus Asien stammende Weidenart Salix Babylonica. In Nord- und Mitteleuropa wird diese zumeist mit Silberweiden (Salix alba) oder Bruchweiden (Salix fragilis) hybridisiert, um eine ausreichende Winterhärte zu erzielen. (Vgl. Riegel und Wießner (Verlag): Unterhaltungen des Lehrers Erich mit seinen Schülern im Walde. Eine faßliche Forstlehre sowohl zur Belehrung der Jugend als der Landleute, welche Waldungen besitzen oder dergleichen anzulegen wünschen. Nürnberg 1831, S. 266; Pierre-Philippe-André Lévèque de Vilmorin: Vilmorin’s illustrierte Blumengärtnerei. Dritter Theil (Supplement). Die Bäume und Sträucher. Bearbeitet von J. Hartwig und Th. Rümpler. Berlin 1875, S. 509 und ebenso Ernst Lautenschlager: Die Weiden der Schweiz und angrenzender Gebiete. Bestimmungsschlüssel und Artbeschreibung für die Gattung Salix L. Basel 1989, S. 64.) 227 Die Trauerweide gilt gemeinhin als Symbol der unglücklichen Liebe. Im Roman „Frau Jenny Treibel“ beispielsweise nutzt Fontane dieses Symbol, um Leopolds unaufrichti- <?page no="363"?> 6.3 „Ein neues Leben! “ 351 die Van der Straatensche Ehe sowie deren Scheitern. 228 Zugleich vermag die schrägliegende Position des Baumes die nicht nur aufgrund der Altersdi erenz unpassende Verbindung zwischen dem Kommerzienrat und Melanie erneut zu re ektieren. Bedeutsam erscheint auch, dass die Hängeweide zwischen dem Königsdenkmal und der Louiseninsel 229 steht[.] (158) Die Louiseninsel (158) entsteht auf Initiative von Berliner Bürgern im Jahr 1808 nach dem Abzug der napoleonischen Truppen und der bevorstehenden Rückkehr des Königspaares, Friedrich Wilhelm III. und Luise, aus Königsberg. 230 Königin Luise soll einen Gedenkstein im Tiergarten erhalten: Hierfür wird eine im südöstlichen Teil des Tiergartens ge Liebe gegenüber Corinna zu unterstreichen, denn auf einem seiner Briefe ist eine Trauerweide abgebildet. (Vgl. FJT, S. 211 und zur Symbolik der Trauerweide Hans-Georg Grüning: Weide. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 417-418, hier S. 417.) Im hiesigen Kontext ist jedoch die fehlende Liebe Melanies gegenüber Van der Straaten während deren gemeinsamer Ehe hinreichend etabliert, so dass - mit der Petrussymbolik der Verleugnung korrespondierend - die Trauerweide als Symbol der verleugneten Ehe zu interpretieren ist. (Vgl. hierzu auch Seite 67 dieser Arbeit.) 228 Im Zusammenhang mit dem Abschiedsgespräch heißt es: Es kam nicht der empörte Mann, sondern der liebende. (112) Dazu passend erklärt Riekchen bei ihrem Besuch in der Mansarde gegenüber Melanie: „[...] Er war unglücklich und ist es noch. [...]“ (140) 229 Die Louiseninsel ist diejenige Insel, auf der seit 1903 und bis heute das Kronprinzendenkmal steht. Die (große) Luiseninsel hingegen ist erst 1880 gescha en und mit einem Marmorstandbild der Königin von Erdmann Encke (1843-1896) gestaltet worden. Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg sind die Insel sowie das Standbild der Königin wiederhergestellt worden. Hier ist Dirk Mende zu widersprechen, der Fontane eine zeitliche Ungenauigkeit unterstellt und anmerkt, die Louiseninsel mit ihrem Denkmal sei „allerdings erst nach der Handlungszeit des Romans, 1880, enthüllt worden.“ (Dirk Mende: Anmerkungen. In: Theodor Fontane: L’Adultera. Mit einem Nachwort, einer Zeittafel zu Fontane, Anmerkungen und bibliographischen Hinweisen von Dirk Mende. München 1997, S. 268-333, hier S. 332.) Zumindest das 19. Jahrhundert hatte nicht die heutigen Unterscheidungsprobleme, denn in den Stadtplänen nach 1880 wird die Insel mit dem Gedenkstein von Johann Gottfried Schadow (1764-1850) aus dem Jahr 1809 als ‚Louisen Insel‘ geführt, während das 1880 von Erdmann Encke gestaltete Marmorstandbild als ‚Luisen Denkmal‘ erscheint. (Vgl. exemplarisch SIN1882 und JS1910, Blatt III. B. sowie zu den heutigen Unterscheidungsproblemen Klaus von Krosigk: Die Wiederherstellung eines Denkmalensembles im Berliner Tiergarten. In: Wieder wandelnd im alten Park. Beiträge zur Geschichte der Gartenkunst für Harri Günther zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Ursula zu Dohna. Potsdam 1993, S. 83-98, hier S. 98.) 230 Der Hof mit König Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise geht 1806 nach Königsberg und kommt erst 1809 nach Berlin zurück. (Vgl. W3, S. 340.) <?page no="364"?> 352 Kapitel 6: „Herzensheimath“ - Rückkehr des Ehepaares Rubehn nach Berlin - nahe der Tiergartenstraße - gelegene Insel gewählt, weil sich die Königin in dieser Partie besonders gern zu Spaziergängen aufhält. Am 23. Dezember 1809 wird der von Schadow gescha ene Gedenkstein in Form eines Marmoraltars enthüllt. 231 Erst im Jahr 1849, neun Jahre nach dem Tod von König Friedrich Wilhelm III., wird das Königsdenkmal (158) - unweit der Louiseninsel (158) und durch den Wasserlauf verbunden 232 - von Friedrich Drake (1805-1882) angefertigt. Es zeigt eine Skulptur des Königs und zwar barhäuptig und im Bürgerrock gekleidet. Auch die