Mehrsprachigkeitslernen im fremdsprachlichen Literaturunterricht
Eine empirische Studie zum Einsatz englisch-spanischer Chicano/a-Texte im Englischunterricht der Sekundarstufe II
1211
2023
978-3-8233-9596-6
978-3-8233-8596-7
Gunter Narr Verlag
Nevena Stamenkovic
10.24053/9783823395966
Diese im Bereich der Mehrsprachigkeits- und der Literaturdidaktik situierte Studie untersucht, welche Erfahrungen Schüler:innen im Umgang mit mehrsprachigen Chicano/a-Texten machen. Im Zentrum stehen Unterrichtseinheiten zu zwei Jugendromanen und einem Film, die von US-Autor:innen mexikanischer Abstammung in Englisch und Spanisch verfasst wurden. Die Studie stellt dar, wie Schüler:innen die Texte dekodieren und welche Erfahrungen mit (eigener) Mehrsprachigkeit ihnen helfen, die mehrsprachigen Identitäten der Figuren nachzuvollziehen. Im Fokus stehen jene Unterrichtsdesigns, die zur mehrsprachigen Bildung der Lernenden beitragen, wie z.B. das Schreiben eigener mehrsprachiger Gedichte. Durch die Analyse von Unterrichtsvideos, Fragebögen, Interviews und Lernendentexten werden die Potenziale und die Grenzen des Mehrsprachigkeitslernens im Fremdsprachenunterricht aufgezeigt.
<?page no="0"?> Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidak�k Giessener Beiträge Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidak�k Diese im Bereich der Mehrsprachigkeits- und der Literaturdidak�k situierte Studie untersucht, welche Erfahrungen Schüler: innen im Umgang mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten machen. Im Zentrum stehen Unterrichtseinheiten zu zwei Jugendromanen und einem Film, die von US-Autor: innen mexikanischer Abstammung in Englisch und Spanisch verfasst wurden. Die Studie stellt dar, wie Schüler: innen die Texte dekodieren und welche Erfahrungen mit (eigener) Mehrsprachigkeit ihnen helfen, die mehrsprachigen Iden- �täten der Figuren nachzuvollziehen. Im Fokus stehen jene Unterrichtsdesigns, die zur mehrsprachigen Bildung der Lernenden beitragen, wie z.B. das Schreiben eigener mehrsprachiger Gedichte. Durch die Analyse von Unterrichtsvideos, Fragebögen, Interviews und Lernendentexten werden die Potenziale und die Grenzen des Mehrsprachigkeitslernens im Fremdsprachenunterricht aufgezeigt. Stamenković Mehrsprachigkeitslernen im fremdsprachlichen Literaturunterricht Nevena Stamenković Mehrsprachigkeitslernen im fremdsprachlichen Literaturunterricht Eine empirische Studie zum Einsatz englisch-spanischer Chicano/ a-Texte im Englischunterricht der Sekundarstufe II ISBN 978-3-8233-8596-7 18596_Umschlag_17x24cm.indd 3 18596_Umschlag_17x24cm.indd 3 31.10.2023 11: 27: 51 31.10.2023 11: 27: 51 <?page no="1"?> Mehrsprachigkeitslernen im fremdsprachlichen Literaturunterricht <?page no="2"?> G I E S S E N E R B E I T R ÄG E Z U R F R E M D S P R A C H E N D I DA K T I K Herausgegeben von Eva Burwitz-Melzer, Wolfgang Hallet, Jürgen Kurtz, Michael Legutke, Hélène Martinez, Franz-Joseph Meißner (†) und Dietmar Rösler Begründet von Lothar Bredella, Herbert Christ und Hans-Eberhard Piepho <?page no="3"?> Nevena Stamenković Mehrsprachigkeitslernen im fremdsprachlichen Literaturunter‐ richt Eine empirische Studie zum Einsatz englisch-spanischer Chicano/ a-Texte im Englischunterricht der Sekundarstufe II <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823395966 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0175-7776 ISBN 978-3-8233-8596-7 (Print) ISBN 978-3-8233-9596-6 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0474-6 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 11 I 13 II 21 1 21 2 23 2.1 24 2.2 28 3 29 3.1 29 3.2 30 3.3 31 4 32 III 35 1 35 2 37 2.1 38 2.2 40 3 42 3.1 45 3.2 47 4 47 4.1 48 4.2 51 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachigkeitslernen - Fachdidaktische und bildungspolitische Perspektiven . . . Mehrsprachigkeit als übergeordnete Bildungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachigkeitslernen in europäischen sprach- und bildungspolitischen Dokumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachigkeit im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen und im Companion Volume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachigkeit im FREPA (A Framework of Reference for Pluralistic Approaches to Languages and Cultures) . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Mehrsprachigkeit als Ziel schulischer Bildung . . . . . . . . . . . Das Mehr an ‚Sprachigkeit‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Mehr an Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Mehr an Reflexions- und Handlungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachigkeitslernen als spezifisches Ziel des Englischunterrichts . . Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik hin zu einer integrativen mehrsprachigen Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interkomprehension und Mehrsprachigkeitsdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . Sprach(en)bewusstheit und Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gefahr eines verkürzten Verständnisses von bewusstem Sprachenlernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachbewusstheit aus der Sicht soziokulturell-ökologischer Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symbolic competence und Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symbolic competence und literarische Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von symbolic competence zu mehrsprachiger Diskursfähigkeit . . . Mehrsprachige Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht . . . . . . . . . Der Diskursbegriff und seine Konsequenzen für den Fremdsprachenunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachige Diskursfähigkeit als Ziel des Mehrsprachigkeitslernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 5 56 6 59 IV 61 1 62 1.1 62 1.2 64 1.3 64 1.4 67 2 68 V 73 1 74 2 77 3 82 3.1 83 3.2 87 VI 89 1 89 2 91 2.1 91 2.2 92 2.3 95 3 96 3.1 96 3.2 98 4 99 4.1 99 Zusammenfassung und Desiderata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle mehrsprachiger Texte bei der Förderung des Mehrsprachigkeitslernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Gegenstandsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die englisch-spanische Chicano/ a-Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff ‚Chicano/ a‘ im Kontext der Chicano/ a- Bürgerrechtsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Chicano/ a-Literatur der 1960er und 1970er Jahre - Die Literatur des Movimiento . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Chicano/ a-Literatur der 1980er und 1990er Jahre - Der Chicana-Feminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Chicano/ a-Literatur der 2000er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachenwechsel als Gestaltungsmittel der Chicano/ a-Literatur und des Chicano/ a-Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Chance für das Mehrsprachigkeitslernen? . . . . . Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Beitrag zur mehrsprachigen Bildung Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Brücke zwischen ‚fremder‘ und ‚eigener‘ Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachigkeitslernen im fremdsprachlichen Literaturunterricht . . . Mögliche Phasen des Mehrsprachigkeitslernens im fremdsprachlichen Literaturunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Didaktisch-methodische Prinzipien des Mehrsprachigkeitslernens im Literaturunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallstudien im Englischunterricht der Sekundarstufe II: Untersuchungsdesign . . . . . Erkenntnisinteresse und Zielsetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsmethodische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gütekriterien und Merkmale qualitativer Forschung . . . . . . . . . . . Triangulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ablauf des Forschungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht über die Unterrichtseinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zugang zum Feld und Vorbereitung der Unterrichtseinheiten . . . Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erster Kontakt mit Lernenden und Lehrenden: Kurzfragebögen und Lehrerinterviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 4.2 100 4.3 104 5 106 5.1 106 5.2 107 5.3 107 5.4 111 5.5 113 VII 115 1 115 2 119 2.1 119 2.2 120 3 122 4 123 4.1 124 4.2 128 4.3 128 5 131 5.1 132 5.2 135 6 137 7 143 7.1 145 7.2 150 7.3 155 8 157 8.1 157 8.2 159 9 164 VIII 167 1 167 2 169 2.1 169 2.2 170 Dokumentation der Unterrichtsstunden: Videographie, Feldnotizen und unterrichtsbezogene Produkte . . . . . . . . . . . . . . . Befragung der Lernenden und Lehrenden: Retrospektive Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dokumentation, Kodierung und Auswertung der Daten . . . . . . . . . . . . . . Datenaufbereitung und Transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahl und Begründung der Auswertungsmethoden . . . . . . . . . Die strukturierende Inhaltsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorstellung des Kodierungskatalogs und des Kodiervorgangs . . . . Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Roman Caramelo und sein Potenzial für das Mehrsprachigkeitslernen Vorstellung der Unterrichtseinheit und der Lerngruppe . . . . . . . . . . . . . . Lerngruppe und Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorstellung der Unterrichtseinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwerpunkte der Analyse und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das mehrsprachige Lesen als Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kooperatives Erschließen eines Romanauszugs . . . . . . . . . . . . . . . Vorgehen beim Entschlüsseln und erste Herausforderungen . . . . Hilfreiche Ressourcen beim Entschlüsseln des Spanischen . . . . . . Literarischen Sprachenwechsel interpretieren - Ein Vorwort zu Caramelo schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategien für das Verstehen des Sprachenwechsels . . . . . . . . . . . . Sprachenwechsel als Gestaltungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mehrsprachigkeit literarischer Figuren analysieren . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachiges Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gedicht „Two-headed” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gedicht „Familie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gedicht „I want to tell you“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Retrospektive Betrachtung der Unterrichtseinheit aus Schüler- und Lehrersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen auf den mehrsprachigen literarischen Text . . . . . . . . . Mehrsprachiges Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood . . . . Der Roman Sammy & Juliana in Hollywood und sein Potenzial für das Mehrsprachigkeitslernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorstellung der Unterrichtseinheit und der Lerngruppe . . . . . . . . . . . . . . Lerngruppe und Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorstellung der Unterrichtseinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 3 170 4 172 5 178 6 189 6.1 190 6.2 191 6.3 193 7 195 7.1 195 7.2 197 7.3 199 8 201 IX 203 1 203 2 206 2.1 206 2.2 207 2.3 208 3 209 4 209 4.1 209 4.2 212 5 218 6 226 X 229 1 229 2 243 XI 247 247 247 XII 267 268 270 Schwerpunkte der Analyse und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schülerseitige Interaktionsprozesse beim mehrsprachigen Lesen . . . . . . . Mehrsprachigkeitserfahrungen der Lernenden bei der Interpretation des Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachiges Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlust der Herkunftssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Herkunftssprache als Teil der eigenen Persönlichkeit . . . . . . . Darstellungen von (Herkunfts-)Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Retrospektive Betrachtung der Unterrichtseinheit aus Schüler- und Lehrersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen auf den mehrsprachigen Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachige Leseerfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachiges Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallstudie 3 - Eine Unterrichtseinheit zu Cardosos Real Women Have Curves . . . . . . Der Film Real Women Have Curves und sein Potenzial für das Mehrsprachigkeitslernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorstellung der Unterrichtseinheit und der Lerngruppe . . . . . . . . . . . . . . Lerngruppe und Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Film als Gegenstand der Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorstellung der Unterrichtseinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwerpunkte der Analyse und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen und Zugänge zum Spanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Begegnung mit dem mehrsprachigen Film . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachigkeit als Gestaltungsmittel des Films . . . . . . . . . . . . . . Englisch als Gateway to Languages? - Retrospektives Interview mit den SchülerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen für die Förderung des Mehrsprachigkeitslernens im Fremdsprachenunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung der Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick, weiterführende Fragen und Desiderata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragebögen A und B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interviewleitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 272 274 275 276 277 279 283 Kodierungskatalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallstudie 1 Übersicht über die Lerngruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallstudie 2 Übersicht über die Lerngruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallstudie 3 Übersicht über die Lerngruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexion zum Gedicht „Two-headed“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auszug aus Kapitel 1, Sammy & Juliana in Hollywood . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="11"?> Vorwort Die vorliegende Arbeit ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im April 2022 am Fachbereich 05 (Sprache, Literatur, Kultur) der Justus-Liebig-Universität Gießen eingereicht und am 13. Juni 2022 verteidigt habe. Mit der Veröffentlichung dieses Bandes geht ein langer, spannender und ereignisreicher Lebensabschnitt zu Ende, in dem mich zahlreiche Menschen unterstützt und begleitet haben. Mein Dank gebührt in erster Linie meinem Doktorvater, Prof. Dr. Wolfgang Hallet, der meine Dissertation und meinen akademischen Werdegang von Beginn an intensiv und überaus konstruktiv unterstützt hat. Ihm verdanke ich viele anregende Beratungs‐ gespräche, wertvolle Hinweise und wohlwollende Kritik, für die er sich stets viel Zeit nahm und die in entscheidender Weise zum Vorankommen und zur Verbesserung der Arbeit führten. Seine Leidenschaft für literaturdidaktische, mehrsprachigkeitsdidaktische und kulturwissenschaftliche Fragestellungen hat auch meine eigenen fachdidaktischen Positionen und Interessen maßgeblich geprägt. Zu besonderem Dank bin ich ebenfalls meiner Doktormutter, Prof. Dr. Hélène Martinez, verpflichtet. Ihr verdanke ich nicht nur die vielen wichtigen Hilfestellungen und Anregungen bei der Erstellung meiner Dissertation, sondern durch meine Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an ihrem Lehrstuhl auch die Möglichkeit, im akademischen Umfeld zu reifen und an spannenden Projekten und Veröffentlichungen mitzuarbeiten. Gerade unsere Gespräche rund um das Thema Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität im Fremdsprachenunterricht waren für mich stets inspirierend. Ferner möchte ich den anderen Mitgliedern der Prüfungskommission, Prof. Dr. Frauke Matz, Prof. Dr. Thomas Möbius und Prof. Dr. Falk Seiler, für ihr Interesse an meiner Arbeit, ihre konstruktiven Fragen und ihre Aufmunterung danken. Prof. Dr. Frauke Matz danke ich außerdem für ihre kontinuierliche freundschaftliche Unterstützung meines akademischen Werdegangs und für unsere immer stimmungsvollen Feierabendgespräche. Ebenso gilt mein Dank Prof. em. Dr. Michael K. Legutke, der stets ein offenes Ohr hatte und die Entstehung dieser Arbeit mit großem Interesse verfolgte. Dass er bei allen meinen Fragen als Ansprechpartner zur Verfügung stand und diese Arbeit mit wertvollen Hinweisen inspirierte, weiß ich zu schätzen. Bei Prof. Dr. Dr. h.c. Ansgar Nünning möchte ich mich für die Aufnahme ins International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) der Justus-Liebig-Universität Gießen be‐ danken. Als Promotionsstipendiatin durfte ich von einer hervorragenden Doktorandenaus‐ bildung und den zahlreichen Kolloquien, Masterclasses und Weiterbildungsprogrammen profitieren. Ebenfalls danke ich allen Mitgliedern des IPP-Kolloquiums am GCSC, die meine Arbeit gerade zu Beginn ihrer Entstehung sehr unterstützt haben. Ein großer Dank gilt auch den Mitgliedern des in der Fremdsprachendidaktik verorteten Research Colloquiums Gießen, die mich mit ihrer klugen und konstruktiven Kritik insbesondere bei Fragen rund um die empirische Fremdsprachenforschung stets weiterbrachten. Eine weitere wichtige Stütze war auch das Forschungskolloquium Fremdsprachendi‐ daktik an der Freien Universität Berlin, dessen TeilnehmerInnen mit hilfreichen Vor‐ <?page no="12"?> schlägen und wertschätzender Kritik in entscheidender Weise zur Fertigstellung dieser Arbeit beigetragen haben. In diesem Zusammenhang gebührt ein ganz besonders herzliches Dankeschön Prof. Dr. Daniela Caspari, die mich schon während meines Studiums an der Freien Universität Berlin mit ihrer Begeisterung für literaturdidaktische Fragen ansteckte und die nicht nur den Beginn dieses Projektes im Rahmen meiner Masterarbeit, sondern als zusätzliche Ansprechpartnerin auch die Fertigstellung meiner Promotion unterstützte. Den Beginn meiner Laufbahn als Fremdsprachenlehrerin und Fremdsprachendidakti‐ kerin haben eine Reihe von Menschen begleitet, von denen ich viel über den Lehrerberuf gelernt habe. Ich danke in erster Linie Stefan Pott, ohne dessen aufmunternde Worte es diese Arbeit wahrscheinlich nie gegeben hätte. Besonders bedanken möchte ich mich auch bei Katharina Kräling und Katharina Martín Fraile für ihre kontinuierliche Unterstützung und ihre Begleitung bei allen Fragen rund um die Fremdsprachendidaktik und die Unter‐ richtspraxis. Von ganzem Herzen möchte ich Dr. Sophie Engelen, Dr. Julia Fritz, PD Dr. Christoph Mayer, Helene Pachale und Prof. Dr. Katharina Wieland danken, die diese Arbeit mit größter Sorgfalt Korrektur gelesen haben und von deren Verbesserungsvorschlägen sie in größtmöglichem Maße profitiert hat. Ein großes Dankeschön gilt allen LehrerInnen, SchülerInnen und Schulleitungen, die ihre Türen für diese Studie geöffnet haben und bereit waren, sich auf dieses „mehrsprachige Experiment“ einzulassen. Ohne ihre Kooperationsbereitschaft, Neugierde und Offenheit wäre diese Studie nicht möglich gewesen. Die größte Unterstützung habe ich durch meine Eltern, Ljiljana und Zoran Stamenković, erfahren. Ich danke ihnen für ihre bedingungslose Unterstützung bei allen meinen Vor‐ haben, für ihren unerschütterlichen Glauben an mich und vor allem dafür, dass sie meine eigene Mehrsprachigkeit ermutigt und möglich gemacht haben. Neben meinen Eltern haben meinen persönlichen und beruflichen Werdegang auch meine Großeltern geprägt. Ihnen verdanke ich die Liebe zum Lehrerberuf und meine ersten Lektionen in Lesen und Schreiben, aber auch jene in Menschlichkeit und Toleranz. In Erinnerung an alles, was sie mir gegeben haben, widme ich ihnen diese Arbeit. 12 Vorwort <?page no="13"?> 1 Pero quiere en español (But she loves in Spanish) / Sueña en español (Dreams in Spanish) / piensa en español (thinks in Spanish) / va a la church en español (goes to church in Spanish), Übersetzung in Elizondo (1977: 63). 2 Mit dem Begriff ‚Text‘ werden in dieser Studie „nicht nur Schrifttexte, sondern alle kohärenten Mengen von Zeichen, also vor allem auch Bilder und Filme“ erfasst (Hallet 2016b: 40). Dieses in Anlehnung an die Studien der Semiotik entwickelte Verständnis von ‚Text‘ umfasst alle „Korpora von Zeichen“, die Kohäsion und Kohärenz aufweisen (Decke-Cornill & Küster 2015: 243). I Einleitung Einführung in den Gegenstandsbereich: Mehrsprachige Chicano/ a-Texte She, She speaks English, She raps English, She reads English, She sits English, Pero quiere en español. Sueña en español, piensa en español, va a la church en español. 1 (Elizondo 1977: 62) Der oben zitierte Auszug aus dem Gedicht „She“ des Chicano-Autors Sergio Elizondo gibt Einblick in die Gefühlswelt einer weiblichen Protagonistin, deren Alltag sich zwischen Englisch und Spanisch in einem kulturellen Grenzgebiet gestaltet und somit durch Pro‐ zesse der sprachlichen und kulturellen Hybridisierung gekennzeichnet ist. Das Gedicht zeigt exemplarisch die Besonderheiten der mehrsprachigen Chicano/ a-Texte 2 , die den Gegenstandsbereich der vorliegenden Arbeit darstellen. Der Begriff ‚Chicano/ a‘ stammt aus dem US-amerikanischen Kontext und beschreibt im weitesten Sinne Personen mexi‐ kanischer Abstammung, die häufig im Südwesten der USA leben (vgl. Martín-Rodríguez 1995: 14 f.). Es ist eine politisch motivierte Bezeichnung, die im Zusammenhang mit der Chicano/ a-Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre auftrat und damals zur Legitimierung einer eigenen Borderlands-Identität (vgl. Anzaldúa 1987) und damit einhergehend einer eigenen hybriden Sprache der mexikanisch-amerikanischen Gemeinschaft dienen sollte. Das literarische code-switching gehört zu den bedeutendsten ästhetischen Merkmalen der Chicano/ a-Literatur (vgl. Keller & Keller 1994: 166) und später auch des Chicano/ a-Films und erfüllt in den frühen Jahren der Bürgerrechtsbewegung in erster Linie eine sozialpolitische Funktion. Der gezielte Einsatz der Minderheitensprache Spanisch, deren Ge‐ brauch in öffentlichen Einrichtungen zu dieser Zeit verboten war, fungiert in den mehrsprachigen Chicano/ a-Texten häufig als Instrument der Selbstermächtigung und der Legitimierung einer gemeinsamen ‚Chicano/ a- Identität‘ (vgl. Martin 2005; Pérez-Torres 1995, vgl. auch Kapitel IV, 2). <?page no="14"?> 3 Im Jahr 2019 waren 18,5 % der US-Bevölkerung Hispanics (60,6 Millionen), damit sind sie die größte ethnische Minderheit in den USA (vgl. Noe-Bustamante et al. 2020). Dass dieser Sprachenwechsel allerdings nicht mit einem Abbild gesellschaftlicher Rea‐ lität oder gar einer rein politisch motivierten Symbolsprache verwechselt werden darf, sondern in erster Linie als ein ästhetisches Gestaltungsverfahren zu verstehen ist, zeigt das oben zitierte Gedicht. Der Verweis auf die namenlose „She“ suggeriert eine kollektive Erfahrung, gleichzeitig vermittelt das Gedicht einen eher persönlichen und intimen Einblick in den Alltag einer Chicana. Durch die Aufteilung der beiden Sprachen wird vermittelt, dass die Protagonistin die Alltagsaktivitäten in Englisch verrichtet, während Spanisch als Sprache der gedanklichen und der emotionalen Intimität dargestellt wird. Die Kombination der beiden Sprachen schafft einen spezifischen klanglichen und rhythmischen Effekt, die Konjunktion „pero“ (aber) verweist darauf, dass die Protagonistin die beiden Sprachen (und Kulturen) als durchaus gegensätzlich erlebt. Den LeserInnen wird also das Bild einer Frau vermittelt, deren Existenz durch kulturelle und sprachliche Überlappungen gekennzeichnet ist, wobei sie die verschiedenen Sprachen und Kulturen als getrennte und widersprüchliche Sphären erlebt. Mehrsprachige Chicano/ a-Texte und Mehrsprachigkeitslernen im Fremdsprachenunterricht Die vorliegende Studie geht von der Prämisse aus, dass diese Art von Texten aus mehreren Gründen für das Mehrsprachigkeitslernen im Fremdsprachenunterricht relevant sein kann. Zunächst thematisiert sie sprachliche und kulturelle Hybridisierungsprozesse, die nicht nur für das Verstehen der US-amerikanischen Gesellschaft wichtig sind und angesichts der wachsenden Bevölkerungszahlen der hispanoamerikanischen Gemeinschaft 3 immer wichtiger werden, sondern die auch in einer Migrationsgesellschaft wie der deutschen gerade in den letzten Jahren wieder an Bedeutung gewonnen haben. In der Arbeit wird die Vermutung aufgestellt, dass diese Texte den Lernenden einerseits einen Zugang zur Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität der zielkulturellen Diskurse (USA-Mexiko) bieten können und andererseits eine Folie, vor deren Hintergrund den SchülerInnen die kulturelle und die sprachliche Vielfalt ihrer eigenen Lebenswelt zugänglich und erfahrbar gemacht werden kann. Hallet (2011: 219) betrachtet Mehrsprachigkeitsförderung als eine der zentralen Auf‐ gaben einer modernen schulischen Bildung: „Nur die Erziehung zu Mehrsprachigkeit ermöglicht im 21. Jahrhundert eine schulische Bildung, die zur gesellschaftlichen Partizipa‐ tion führt“. Der in dieser Arbeit verwendete Begriff ‚Mehrsprachigkeitslernen‘ betont, dass Mehrsprachigkeitsförderung in dieser Studie nicht (nur) als ein Lernen in verschiedenen Sprachen konzeptualisiert werden soll - wie dies etwa der Terminus ‚mehrsprachiges Lernen‘ suggerieren könnte. Das Mehrsprachigkeitslernen wird hier verstanden als ein Lernen über Mehrsprachigkeit (Mehrsprachigkeit als Thema und als Gestaltungsverfahren der Texte) in mehreren Sprachen (Sprachenvernetzung als Unterrichtsgestaltungsprinzip), aber auch als ein Lernen mit Mehrsprachigen und mit dem Ziel der Mehrsprachigkeits‐ förderung. Mehrsprachigkeit ist daher sowohl als Voraussetzung des fremdsprachlichen Lernens als auch als Ziel fremdsprachlicher Bildung zu verstehen. Die Förderung von 14 I Einleitung <?page no="15"?> 4 Der Terminus ‚Herkunftssprache‘ leitet sich aus dem in der englischsprachigen Forschung gebräuch‐ lichen Begriff heritage language und heritage speaker ab, womit bilinguale Menschen der mindestens zweiten Einwanderergeneration gemeint sind, die von früher Kindheit an eine Sprache sprechen, die keinen offiziellen Status im Einwanderungsland hat (vgl. Cantone & Olfert 2015: 26 f.), und deren dominante Sprache die Sprache des Einwanderungslandes ist (vgl. Benmamoun et al. 2013: 132). Der Begriff wird daher durch (sprach-)biografische Faktoren bestimmt und ist im Hinblick auf die Sprachkompetenz der HerkunftssprecherInnen nicht aussagekräftig (vgl. Cantone & Olfert 2015: 26). Mehrsprachigkeit ist ein bildungspolitisches Ziel, das bereits 1995 von der Europäischen Union in ihrem Weißbuch zur Bildung (Europäische Kommission 1995) propagiert und im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (Europarat 2001) durch ein „funktionales und differenzierendes Kompetenzkonzept“ (ebd.: 217) konkretisiert wurde. Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität sind zum „Normalfall in deutschen Klassenzimmern“ geworden (ebd.: 215), denn viele SchülerInnen sprechen in ihren Familien eine andere Herkunftssprache 4 als das Deutsche und wachsen mit einer anderen Muttersprache auf. Im Jahr 2020 weisen 21,9 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund auf, das ist mehr als ein Viertel der Bevölkerung (vgl. Destatis 2022). Im Land Berlin, in dem die vorliegende Studie durchgeführt wurde, liegt der Anteil der SchülerInnen nicht deutscher Herkunftssprache im Schuljahr 2020/ 2021 bei 39,3 % und damit bei deutlich mehr als einem Drittel der gesamten Schülerschaft (vgl. Senatsverwaltung 2021: 18). Diese Zahlen geben keine Informationen darüber, ob die Herkunftssprachen überhaupt in der Familie gesprochen werden bzw. wie gut die SchülerInnen sie sprechen. Sie zeigen aber, dass ein großer Teil der Lernenden viel‐ fältige sprachliche und kulturelle Ressourcen in den Fremdsprachenunterricht einbringen kann, die es durch entsprechende didaktisch-methodische Interventionen anzuerkennen und zu erweitern gilt. Eine am Ziel der Mehrsprachigkeit orientierte Bildung muss daher den „monolingualen Habitus“ (Gogolin 1994) und damit auch die Sichtweise auf Mehrsprachigkeit als Bildungshindernis (vgl. Gogolin et al. 2020: 1) überwinden. Dem Englischunterricht kommt bei dieser Aufgabe eine äußerst wichtige Rolle zu, denn Englisch könne als erste Schulfremdsprache als Brücke zu anderen Sprachen (gateway to languages, Schröder 2009) fungieren und „das Fundament für die gesamte schulische Entwicklung von Mehrsprachigkeit und interkultureller Kompetenz“ legen (Kurtz 2011: 75 f.). Versteht man Mehrsprachigkeit als eine „über Einzelsprachen hinausgreifend[e] Fä‐ higkeit, in verschiedenen symbolisch-sozialen Kontexten (Diskursen) handeln zu können“ (Breidbach 2019: 169), dann kann sich der Beitrag des Englischunterrichts zur mehrspra‐ chigen Bildung nicht darauf begrenzen, sprachliche Kenntnisse zu vermitteln. Diese Vorstellung von Mehrsprachigkeit knüpft an eine veränderte Sichtweise auf Lernende „als emanzipierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer an kulturellen Praktiken“ an, die damit einhergeht, dass „die sozialen und individuellen Sinnerfahrungen, die sie im und durch den Gebrauch der Fremdsprache machen, zu einer unmittelbar bedeutsamen Größe“ (ebd.) im Fremdsprachenunterricht werden. Daher sieht diese Arbeit einen wichtigen Beitrag der mehrsprachigen Bildung im Englischunterricht darin, die subjektiven Erfahrungen der Lernenden mit Sprachen und Kulturen ins Zentrum des Unterrichts zu rücken und ihnen eine Teilhabe an zielsprachlichen und lebensweltlichen Diskursen rund um die Themen Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität zu ermöglichen. Die Teilhabe setzt voraus, dass den SchülerInnen auch die Möglichkeit gegeben wird, ihre eigene Realität mit Hilfe I Einleitung 15 <?page no="16"?> 5 Mit dem Begriff ‚englisch-spanische‘ Chicano/ a-Texte sind englisch- und spanischsprachige Texte gemeint. Die Abkürzung wird aus Gründen der Lesefreundlichkeit vorgenommen. von sprachlichen Ressourcen zu gestalten und sich somit als „mehrsprachige Subjekte“ (Kramsch 2009) zu erfahren. Der in Anlehnung an Kramsch (ebd.) verwendete Begriff multilingual subject, der hier mit „mehrsprachiges Subjekt“ wiedergegeben wird, verweist auf ein ganzheitliches Verständnis von fremdsprachlichem Lernen als einer kognitiven und emotionalen Erfahrung, die identitätsbildend wirken kann: „[L]anguage creates and shapes who we are, as subjects“ (ebd.: 17). Diese Studie beruht auf der Annahme, dass sich das besondere Potenzial mehrsprachiger Texte für die Mehrsprachigkeitsförderung daraus ableitet, dass sie am Beispiel mehrsprachiger literarischer Figuren zeigen, wie Sprache(n) und Identität(en) zu‐ sammenhängen und den Lernenden die Möglichkeit bieten, sich an literarisch modellierten Identitätsaushandlungsprozessen kognitiv und affektiv zu beteiligen. Viele an der Rezeptionsästhetik orientierte Arbeiten der fremdsprachlichen Literaturdidaktik nehmen an, dass SchülerInnen beim Versuch, die Identitäts- und Handlungsentwürfe literarischer Figuren zu durchdringen, an ihre lebensweltlichen Erfahrungen anknüpfen und diese vor dem Hintergrund des literarischen Textes hinterfragen und aus anderen Perspektiven verstehen können (vgl. Burwitz-Melzer 2003a; Freitag-Hild 2010; Kimes-Link 2013). Für Bredella (2010: 21) können literarische Texte folglich „Modelle für das Verstehen der fremden und eigenen Welt anbieten“. Übertragen auf den Kontext dieser Studie bedeutet dies, dass die Auseinandersetzung mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten Lernenden die Möglichkeit bieten könnte, sich ihrer Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität bewusst zu werden und zu lernen, wie diese als Ressourcen genutzt werden können, um mehrspra‐ chig zu handeln. Der Fokus auf Sprachen als identitätsstiftende symbolische Ressourcen führt zu der Frage, wie Lernende bei Identitätskonstruktionsprozessen („language learning as the construction of imagined identities“, Kramsch 2009: 17) unterstützt werden können. Es ist also danach zu fragen, wie die Arbeit mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten Ler‐ nende ermutigen kann, sich ihrer Sprachen so zu bedienen, dass sie ihre Mehrsprachigkeit in Interaktion mit anderen artikulieren und sich gegenüber anderen als Mehrsprachige positionieren können. Die Arbeit knüpft an die Vorstellung einer diskursiv verhandelten Identität an (vgl. ebd.: 20; Hu 2019: 19 f.) und geht davon aus, dass der Englischunterricht mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten dann identitätsbildend wirken kann, wenn er für die Lernenden Gelegenheiten schafft, den eigenen Erfahrungen mit Sprache(n) in einer mündlichen oder schriftlichen Form Kohärenz zu verleihen. Ein geeigneter didaktisch-me‐ thodischer Ansatz hierfür könnte das kreative Schreiben sein (vgl. Kramsch 2009: 195), wobei die englisch-spanischen 5 Chicano/ a-Texte den SchülerInnen als Modelle für das Verfassen eigener mehrsprachiger Texte dienen können. Dabei wird davon ausgegangen, dass alle Lernenden unterschiedliche Berührungspunkte mit Mehrsprachigkeit haben und in der Oberstufe bereits alle mehrsprachig sind, da sie neben ihrer Muttersprache mindestens zwei Fremdsprachen erlernt haben (vgl. Europäi‐ sche Kommission 1995: 62). Es wird angenommen, dass die sehr verschiedenen sprachli‐ chen und kulturellen Wissens- und Erfahrungsbestände der Lernenden zu erheblichen Unterschieden beim literarischen Rezeptionsprozess führen können. Gleichzeitig ist die 16 I Einleitung <?page no="17"?> 6 Aus Gründen der Lesefreundlichkeit wird bei Komposita auf eine genderneutrale Schreibweise verzichtet. Die maskuline Personenbezeichnung schließt ausdrücklich auch die weiblichen Personen mit ein. 7 Mayr (2014: 276) zieht am Ende der Arbeit die Schlussfolgerung, „dass die Unterschiedlichkeit der Teilnehmer/ innen in Bezug auf ihre Reaktionen und Denkprozesse nicht wirklich von ihrer lebens‐ weltlichen Sprach- und Kultursituation abhängt“. Die Arbeit mit mehrsprachigen Chicano/ a-Gedichten habe „sowohl bei einals auch bei zweisprachig sozialisierten Schüler/ inne/ n sehr großen Anklang [gefunden] und sie in vielen Fällen zur Reflexion über ihre eigene Sprachsituation“ angeregt (ebd.). 8 Vgl. hierzu die Ausführungen im Kapitel III, 3-4. Arbeit nicht daran interessiert, die Unterschiede zwischen lebensweltlich mehrsprachigen SchülerInnen, d. h. SchülerInnen, die in Familienkontexten eine andere Sprache erworben haben und diese möglicherweise überwiegend zur Alltagskommunikation verwenden (vgl. Gogolin et al. 2020: 3), und den einsprachig aufgewachsenen Lernenden in den Mittelpunkt der Untersuchung zu rücken. Zum einen liegt dies daran, dass die einzige empirische Studie zum Einsatz von Chicano/ a-Gedichten im Spanischunterricht (vgl. Mayr 2014) keine nennenswerten Unterschiede zwischen diesen beiden Schülergruppen 6 bei der Rezeption mehrsprachiger Lyrik feststellen konnte. 7 Zum Zweiten begründet sich diese Entscheidung aus den bildungspolitischen und fachdidaktischen Forderungen an die mehrsprachige Bildung, die sie als ein gesamtschulisches und gesamtgesellschaftliches Ziel (vgl. Hallet 2011: 216-222) sehen, das von allen SchülerInnen, unabhängig von ihren sprachlichen Vorerfahrungen, erreicht werden soll. Die Studie fragt also nicht danach, welche Schülergruppen dieses Ziel besser erreichen können, sondern danach, welchen Beitrag die mehrsprachigen Chicano/ a-Texte leisten können, damit die SchülerInnen ihre individuell unterschiedlichen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität, ihr sprachliches und kulturelles Wissen und Können, aktivieren, reflektieren, neu denken und erweitern können. Zielsetzung, Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit Von der Prämisse ausgehend, dass die Arbeit mit mehrsprachigen Texten einen wichtigen Beitrag für die Ziele mehrsprachiger Bildung leisten kann, gilt es zuerst die theoreti‐ schen und konzeptionellen Grundlagen einer integrativen mehrsprachigen Bildung zu erarbeiten. Zu diesem Zweck werden zunächst die verschiedenen Verständnisse von Mehrsprachigkeit und von Zielen der Mehrsprachigkeitsförderung in bildungspolitischen und fachdidaktischen Publikationen eruiert. Dabei sollen die eher kognitiv ausgerichteten Mehrsprachigkeitsansätze (Interkomprehension), die in der deutschsprachigen Fremdspra‐ chendidaktik am ehesten mit der Mehrsprachigkeitsdidaktik assoziiert werden (vgl. z. B. Meißner & Reinfried 1998), durch Konzepte und Überlegungen ergänzt werden, die Mehrsprachigkeitsförderung als Voraussetzung für die Befähigung der SchülerInnen zur „gesellschaftliche[n] Partizipationsfähigkeit“ (Hallet 2011: 219) sehen, so z. B. die Konzepte ‚symbolic competence‘ (vgl. Kramsch 2009) und ‚mehrsprachige Diskursfähigkeit‘ (vgl. Hallet & Königs 2010). 8 Damit leistet die Arbeit auch einen Beitrag zur Erweiterung des fremdsprachendidaktischen Mehrsprachigkeitsverständnisses hin zu der Vorstellung einer integrativen mehrsprachigen Bildung, die sowohl sprachliche und kulturelle Kompetenzen einschließt, aber auch den kritisch-reflektierten und kreativen Umgang mit Sprache(n) in den Vordergrund rückt. I Einleitung 17 <?page no="18"?> 9 Mit dem Begriff ‚Oberschule‘ sind hier weiterführende Schulen gemeint. In Berlin ist der Begriff eine Sammelbezeichnung für Sekundarschulen und Gymnasien (Klasse 7-12/ 13). Die im Rahmen dieser Studie durchgeführten Unterrichtseinheiten betreffen die Lerngruppen der Jahrgangsstufe 12. Will man bei der Förderung des Mehrsprachigkeitslernens über die Reflexion von Sprache als System hinausgelangen, stellt sich unweigerlich die Frage, wie kognitiv basierte Ansätze der Mehrsprachigkeitsförderung mit kulturellem inhaltsbasiertem Lernen über Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität verknüpft werden können. Diese Frage wurde bisher in fremdsprachendidaktischen Publikationen zu Mehrsprachigkeitsförderung kaum berücksichtigt. Die vorliegende Arbeit geht davon aus, dass die Auswahl an Inhalten und Themen, die im Englischunterricht mehrsprachig modelliert werden können, entscheidend für eine integrative mehrsprachige Bildung ist. Sie stellt die Hypothese auf, dass mehr‐ sprachige Chicano/ a-Texte eine solche Modellierung bieten können, denn sie verhandeln Migrations- und Identitätsfragen in einem Grenzraum zweier kultureller Gemeinschaften und realisieren Mehrsprachigkeit auf einer inhaltlichen und sprachlichen Ebene. Das zweite Ziel der Arbeit besteht darin, ein literaturdidaktisches, an den Prinzipien der Mehrsprachigkeitsdidaktik orientiertes Unterrichtsmodell zu entwerfen, das didaktische und methodische Orientierungspunkte für den Einsatz mehrsprachiger Chicano/ a-Texte im Englischunterricht der Sekundarstufe II bietet. Dabei geht es einerseits um die Be‐ schreibung des literarischen Gegenstandes, d. h. um eine historische und sozio-politische Kontextualisierung des literarischen Schaffens von Chicanos und Chicanas sowie um die Bestimmung von Gattungsmerkmalen, Themen und literarischen Darstellungsverfahren (hier insbesondere in Bezug auf die vielfältigen Funktionen des Sprachenwechsels). Diese Studie fokussiert vor allem die englisch-spanischen Jugendromane und mehrsprachige Lyrik. Für jeden dieser Texte gilt es genau darzustellen und in einem zweiten Schritt auch empirisch zu prüfen, welchen Beitrag sie zur mehrsprachigen Bildung leisten können. Daher werden sie zu Beginn jeder Fallanalyse inhaltlich vorgestellt und einer ersten didaktischen Analyse unterzogen. Anknüpfend an die literaturdidaktische Arbeit von Freitag-Hild (2010) kann angenommen werden, dass sich literarische Texte, die kulturelle und sprachliche Hybridisierungsprozesse thematisieren (und dazu gehören auch die Chi‐ cano/ a-Texte), zur Förderung des inter- und transkulturellen Lernens eignen, wenig ist allerdings über das Potenzial spezifisch mehrsprachiger Mischtexte bekannt (vgl. Freitag-Hild 2019: 223). Daher gilt es zu bestimmen, welche Teilbereiche der mehrspra‐ chigen Bildung mit dieser Art von Texten gefördert werden können, wobei neben dem deklarativen und prozeduralen Wissen über Sprache(n) und Kultur(en) im Sinne einer bildungsorientierten Perspektive auch kritische Reflexionsfähigkeit, Imaginationsfähig‐ keit, kreativer Umgang mit eigenen Sprachen sowie Reflexion und Mitgestaltung der eigenen Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität eine wichtige Rolle spielen. Nach der Formulierung konkreter didaktisch-methodischer Prinzipien findet das literaturdidaktische Modell Anwendung in verschiedenen Unterrichtseinheiten, die in enger Zusammenarbeit mit den Lehrkräften der Berliner Oberschulen 9 entwickelt und auf die Lerngruppen, die an der Studie teilgenommen haben, abgestimmt wurden. Ein wesentliches Ziel der Arbeit ist die qualitativ-empirische Auswertung konkreter Unterrichtsaktivitäten und Lernprozesse in diesen Unterrichtseinheiten, die im Schuljahr 18 I Einleitung <?page no="19"?> 2015/ 2016 durchgeführt wurden. Wichtige Sampling-Kriterien für die Auswahl der Schulen waren dabei die Schulform, die sprachlichen Voraussetzungen der Lehrenden und Ler‐ nenden und die Zusammensetzung der Schülerschaft an den einzelnen Schulen. Die Studie wurde an zwei Gymnasien und zwei Integrierten Sekundarschulen und dabei jeweils in Grund- und Leistungskursen Englisch durchgeführt. Außerdem wurde darauf geachtet, dass die einzelnen Lerngruppen und die beteiligten Lehrkräfte unterschiedliche sprachliche Voraussetzungen (insbesondere bezogen auf das Spanische) aufwiesen und die einzelnen Schulen einen unterschiedlichen Anteil an Lernenden mit Migrationshintergrund hatten. Dadurch konnte beobachtet werden, wie Lernende und Lehrende mit und ohne Spanisch‐ kenntnisse aus unterschiedlichen Teilen Berlins und mit jeweils sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit die mehrsprachigen Texte rezipieren, wie sie darauf reagieren und welche unterschiedlichen Zugänge sie zu diesen entwickeln. Die Auswertung zielte darauf ab, jene Unterrichtssituationen zu identifizieren und zu analysieren, in welchen sich SchülerInnen mit ihrem Wissen, ihren Strategien und ihren Er‐ fahrungen einbringen, um die Mehrsprachigkeit der Texte sprachlich zu entschlüsseln, die Mehrsprachigkeit der Charaktere zu erfassen, sie mit eigenen Erfahrungen zu vergleichen und die eigene Mehrsprachigkeit zum Ausdruck zu bringen. Im Zentrum stand die Frage, was sie dabei über die Mehrsprachigkeit des zielkulturellen Raums (USA-Mexiko) und über ihre eigene Mehrsprachigkeit lernen können, welche der erfassten Unterrichtsaktivitäten in besonderer Weise zur Persönlichkeitsentwicklung der Lernenden beitrugen und welche Faktoren den Erfolg dieser Lernprozesse beeinflussten. Um diese Fragen angemessen zu be‐ antworten, wurde ein umfassendes Untersuchungsdesign entworfen und eingesetzt, in dem Daten aus verschiedenen Quellen miteinander trianguliert wurden. Vor der Durchführung der Unterrichtseinheit sollte ein Kurzfragebogen Auskunft über die Sprachkenntnisse und die Mehrsprachigkeit der SchülerInnen geben. Ein Eingangsinterview mit den Lehrkräften sollte deutlich machen, wo sie Potenziale und Herausforderungen bei der Arbeit mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten sehen, sodass ihre Einschätzungen bei der Erstellung der Unterrichtseinheit berücksichtigt werden und mit der retrospektiven Einschätzung am Ende der Unterrichtseinheit verglichen werden konnten. Wie Lernende im Unterricht mit den Texten umgehen, welche Bedeutungen sie ihnen zuschreiben und was sie dabei über ihr eigenes Verhältnis zu Sprachen äußern, sollte anhand der videographierten Unter‐ richtsgespräche einerseits und der individuell angefertigten Schülerprodukte andererseits identifiziert, beschrieben und analysiert werden. Dabei wurden also die kollektiven Sinn‐ konstruktionsprozesse und die Interaktionen der SchülerInnen untereinander oder mit der Lehrkraft in den Blick genommen und es wurde gleichzeitig untersucht, welche Hinweise die Schülerprodukte auf individuelle Lern- und Reflexionsprozesse geben können. Angesichts der Tatsache, dass die Arbeit mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten ein relativ neuer Gegenstand der fremdsprachendidaktischen Forschung ist und der Mehrspra‐ chigkeitsförderung wegen der Verankerung in bildungspolitischen Dokumenten häufig eine normative Dimension anhaftet, strebt diese Untersuchung an, die Perspektive der beteiligten SchülerInnen und LehrerInnen in möglichst umfassender Form zu erfassen, um genau beschreiben zu können, wie sie den Umgang mit diesen Texten erfahren haben, was sie dabei gelernt haben und welchen Herausforderungen sie begegnet sind. Daraus verspricht sich die Untersuchung Schlussfolgerungen hinsichtlich der Frage, wie Lern‐ I Einleitung 19 <?page no="20"?> prozesse besonders effektiv gestaltet werden können bzw. welche Unterrichtsszenarien und welche methodischen Zugänge sich am ehesten dazu eignen, mit dieser Art von Texten Mehrsprachigkeitslernen zu initiieren. Damit leistet sie einen konkreten Beitrag zur Unterrichtspraxis und beabsichtigt zudem das eher kognitiv basierte, auf Sprachvergleiche ausgerichtete Methodenrepertoire der fremdsprachlichen Mehrsprachigkeitsdidaktik um kreative handlungsorientierte Verfahren der Literaturdidaktik zu erweitern. Die Erkennt‐ nisse aus dem empirischen Teil der Arbeit werden schließlich mit den im Theorieteil formulierten Annahmen über mehrsprachige Bildung mit den Chicano/ a-Mischtexten in Beziehung gesetzt, um Konsequenzen für die Konzeptualisierung und die unterrichtliche Gestaltung des Mehrsprachigkeitslernens im fremdsprachlichen Literaturunterricht zu ziehen. 20 I Einleitung <?page no="21"?> II Mehrsprachigkeitslernen - Fachdidaktische und bildungspolitische Perspektiven 1 Mehrsprachigkeit als übergeordnete Bildungsaufgabe Im kürzlich erschienenen Handbuch Mehrsprachigkeit und Bildung argumentieren Gogolin et al. (2020: 1), dass Mehrsprachigkeit und Bildung Begriffe seien, die selten aufeinander bezogen werden und wenn doch, dann „geschieht dies oft mit einem Akzent auf Schwie‐ rigkeiten, die mit Mehrsprachigkeit für Bildung verbunden sind oder sein können“. Wächst ein Kind mehrsprachig auf oder lernt es vor dem Deutschen die Herkunftssprache der Eltern, werde häufig zunächst die Frage gestellt, inwiefern diese Abweichung von der zum Standard erklärten Einsprachigkeit negative Konsequenzen für die schulische Bildung des Kindes haben könnte. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen lebensweltlicher Mehrsprachigkeit und schulischem Erfolg thematisiert Mehrsprachigkeit als Voraussetzung schulischen Spra‐ chenlernens, da ein Teil der SchülerInnen bereits vor Schulbeginn mit einer anderen Sprache als dem Deutschen aufwächst. Mit dem Begriff ‚lebensweltliche Mehrsprachigkeit‘ wird diejenige Form von Mehrsprachigkeit betrachtet, „in der sich eine Person ihre Spra‐ chenkenntnisse (überwiegend) durch die alltägliche Begegnung mit mehr als einer Sprache aneignet“, dagegen wird mit ‚fremdsprachlicher Mehrsprachigkeit‘ „die Konstellation bezeichnet, dass Sprachenkenntnisse (überwiegend) durch Unterricht angeeignet werden“ (Gogolin et al. 2020: 3). Betrachtet man Mehrsprachigkeit als Ziel fremdsprachlicher Bildung, das alle SchülerInnen erreichen sollen, stellt sich die Frage, inwiefern es der Sache zuträglich ist, eine solche Unterscheidung zwischen lebensweltlicher und fremdsprach‐ licher Mehrsprachigkeit vorzunehmen. Die Unterscheidung könnte allerdings insofern zielführend sein, als sie auf den großen Prestigeunterschied verweist, den die beiden Mehrsprachigkeitsformen aufweisen, und damit auf ein Grundproblem der Mehrsprachig‐ keitsförderung. Während die fremdsprachliche Mehrsprachigkeit als erstrebenswert und prestigereich betrachtet wird, wird die lebensweltliche Mehrsprachigkeit (außer, es handelt sich dabei um die Kenntnis schulischer Fremdsprachen wie etwa des Englischen oder Französischen) häufig als Mangel oder gar als ein Risiko für den Erfolg schulischer Bildung aufgefasst (ebd.). Für den Englischunterricht belegt dies die Studie von Hu (2003), die ausgehend von Interviewdaten eindrucksvoll zeigt, wie Mehrsprachigkeit durch die SchülerInnen und die LehrerInnen je nach dem Prestige der Sprache unterschiedlich gewertet wird und bei weniger prestigeträchtigen Herkunftssprachen „als Störfaktor für fremdsprachliches Lernen“ angesehen werden kann (Hu 2010: 66). Dem gegenüber steht die fachdidaktische Annahme, dass mehrsprachige Lernende nicht nur keine Nachteile beim Erwerb weiterer Fremdsprachen in der Schule haben, sondern dass sie aufgrund ihrer umfangreichen Sprachlernerfahrungen über gute Voraussetzungen verfügen, bessere Leistungen als ihre monolingual aufgewachsenen MitschülerInnen zu erzielen (vgl. Hopp & Jakisch 2020: 198). Auch die Ergebnisse der DESI-Studie belegen dies für die beteiligten <?page no="22"?> SchülerInnen der neunten Klassen an verschiedenen Schulformen in Deutschland. Es zeigte sich, dass die SchülerInnen nichtdeutscher Erstsprache und Mehrsprachige in Bereichen der Hörkompetenz, Lesekompetenz und Sprachbewusstheit im Englischen einsprachigen SchülerInnen überlegen waren (vgl. Hesse et al. 2008). Mehrsprachigkeit ist aber nicht nur eine Voraussetzung für die Gestaltung (fremdsprach‐ licher) Bildung, sondern auch als ihr bildungspolitisch verankertes Ziel zu sehen. Welche bildungspolitischen Zielvorstellungen es hierzu im Einzelnen gibt, wird im Kapitel II ausführlich diskutiert. Gemeinsam verfolgen sie das Ziel, sprachliche Vielfalt zu stärken, lebenslanges Sprachenlernen zu unterstützen, Sprachen zu vernetzen, um das Sprachen‐ lernen effektiver zu gestalten und auf diese Weise auch zu einer besseren interkulturellen Verständigung (europäischer) BürgerInnen beizutragen (vgl. Kommission der europäischen Gemeinschaften 2003). Für den Fremdsprachenunterricht konkretisieren Hallet und Kö‐ nigs (2010: 305) folgendermaßen die Ziele einer mehrsprachigen Bildung: Das „oberste Bildungsziel“ sei die Fähigkeit der Individuen zur kulturellen und sprachlichen Integration in mehrsprachige, di‐ versifizierte Gesellschaften und zur Partizipation an mehrsprachigen gesellschaftlichen Diskursen auch in einer anderen als in der eigenen Sprache (mehrsprachige Diskursfähigkeit). Die Fähigkeit, Sachverhalte aller Art in und zwischen verschiedenen Sprachen kommunizieren zu können, kann als essenzielles Ziel mehrsprachiger Allgemeinbildung gelten. Die mehrsprachige Bildung zielt laut dieser Definition nicht nur darauf ab, SchülerInnen Kenntnisse in möglichst vielen Sprachen zu vermitteln, sondern soll sie auch dazu be‐ fähigen, am gesellschaftlichen Leben über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg teilzunehmen, indem sie lernen, Inhalte „in und zwischen“ Sprachen zu verhandeln. Damit wird zum einen angedeutet, dass gesellschaftliche Teilhabe über das Aushandeln von Inhalten erreicht wird, und zum Zweiten, dass dieses Aushandeln nicht nur in einer Sprache, sondern auch zwischen Sprachen geschieht, also auch eine Verhandlungsfähigkeit erfordert. Damit wird suggeriert, dass mehrsprachige Kommunikation als komplexer, dynamischer und teilweise auch von Widersprüchen geprägter Austausch zu verstehen ist, der multiple Herausforderungen an die Beteiligten stellt, die nicht nur die sprachlichen Formen, sondern auch ihre Wirkungen und die damit verbundenen Werte und Identitäten kennen sollten (vgl. Kramsch 2011: 356). Die mehrsprachige Bildung ist sowohl eine bildungspolitische und curriculare als auch eine spezifisch fremdsprachendidaktische Aufgabe, sie ist als „Schulentwicklungs‐ aufgabe erster Güte“ (Hallet 2017: 32) zu verstehen und gleichzeitig als eine spezifische Herausforderung für den Englischunterricht zu betrachten. Aus bildungspolitischer und curricularer Perspektive werden Überlegungen hinsichtlich eines Überdenkens der tradi‐ tionellen Sprachreihenfolgen angestellt, so etwa die Infragestellung des Englischen als erste Fremdsprache an Grundschulen (vgl. Vollmer 2000). Eine wichtige Rolle spielen auch alternative curriculare Konzeptionen, die Sprachenvernetzung als wichtiges Element einer durchgängigen fremdsprachlichen Bildung begreifen (vgl. Krumm & Reich 2013). Die fremdsprachendidaktische Konzeption des Mehrsprachigkeitslernens fokussierte sich bisher stark auf die Frage, wie Lernende durch metakognitive Sprachreflexionspro‐ zesse das Lernen verschiedener Sprachen vernetzen und den Sprachlernprozess durch den 22 II Mehrsprachigkeitslernen - Fachdidaktische und bildungspolitische Perspektiven <?page no="23"?> 10 Im Folgenden mit „EK“ abgekürzt. Erwerb von prozeduralem und lernstrategischem Wissen ökonomisieren können. Die oben zitierte Definition von Hallet und Königs (2010) suggeriert allerdings, dass mehrsprachige Bildung nicht nur auf den Erwerb von Strategien und die Schulung von Sprachbewusstheit abzielen sollte, sondern vor allem zum Ziel hat, Lernende am gesellschaftlichen Leben in mehr als in einer Sprache teilhaben zu lassen. Welche Fähigkeiten ein so konzeptuali‐ siertes Mehrsprachigkeitslernen umfassen kann und wie diese mit Hilfe mehrsprachiger literarischer Texte gefördert werden können, gilt es im folgenden Kapitel (vgl. III, 6) zu klären. Es erscheint besonders wichtig zu ergründen, welche spezifische Rolle dabei dem Englischunterricht zukommt, der aus zweifacher Sicht einen bedeutenden Beitrag zur mehrsprachigen Bildung leisten kann. Diese ist darin begründet, dass Englisch für die allermeisten SchülerInnen die erste Fremdsprache ist und daher gewissermaßen als ‚Wegweiser‘ mehrsprachiger Bildung gedacht werden kann, da ihm eine besonders wichtige Rolle dabei zukommt, Offenheit und Neugierde für weitere Sprachen zu wecken, aber auch kognitive und metakognitive Prozesse zum Erwerb anderer Sprachen zu aktivieren sowie Wissen über interkulturelle Kommunikation zu vermitteln. Die in dieser Arbeit unterbreiteten didaktischen Konzepte und Unterrichtsdesigns sollen aufzeigen, wie der Englischunterricht zur Förderung des Mehrsprachigkeitslernens beitragen kann, ohne aufgrund seiner lingua-franca-Funktion eine „Sackgasse für Mehrsprachigkeit“ (Vollmer 2000: 76) zu werden. Im Folgenden wird zunächst auf die Modellierung des Mehrsprachig‐ keitslernens in europäischen sprach- und bildungspolitischen Dokumenten eingegangen, um davon ausgehend zu eruieren, was unter individueller Mehrsprachigkeit zu verstehen ist und wie sie als Zielvorstellung mehrsprachiger Bildung im Fremdsprachenunterricht Englisch erreicht werden kann. 2 Mehrsprachigkeitslernen in europäischen sprach- und bildungspolitischen Dokumenten Eine der häufigsten Begründungen für das Mehrsprachigkeitslernen sind die durch den zunehmenden Sprach- und Kulturkontakt veränderten Lebensverhältnisse in Europa. Der Begriff ‚Mehrsprachigkeit‘ taucht 1995 zum ersten Mal explizit in dem von der Europäi‐ schen Kommission verfassten Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung. Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft (Europäische Kommission 10 1995) auf. Das Beherrschen von europäischen Gemeinschaftssprachen ist in diesem Dokument einmal als Voraussetzung zur Nutzung beruflicher Vorteile zu verstehen, die sich „mit der Vollendung des Binnenmarktes ohne Grenzen bieten“ (EK 1995: 62). Andererseits wird die Kenntnis mehrerer Sprachen auch als Brücke zu anderen europäischen Ländern gesehen: „Ihre Beherrschung trägt folglich zur Stärkung des Gefühls der Zugehörigkeit zu Europa mit seiner reichen und kulturellen Vielfalt sowie zur Verständigung der europäischen Bürger bei.“ (ebd.) Der Mehrsprachigkeit wird hier eine identitätsstiftende Funktion zugeschrieben, sie ist ein wesentliches Element der europäischen Identität und Zugehörigkeit (ebd.). Hinter dieser Auffassung von Mehrsprachigkeit steht die Annahme, dass das Individuum 2 Mehrsprachigkeitslernen in europäischen sprach- und bildungspolitischen Dokumenten 23 <?page no="24"?> 11 Im Folgenden mit „GER“ abgekürzt. durch den alltäglichen Sprachkontakt mit anderen europäischen BürgerInnen einen Beitrag zur Bildung einer gemeinsamen europäischen Identität leisten kann. Mehrsprachigkeit ist daher in europapolitischen Dokumenten als „individuelles Gut“ (Harsch 2007: 32) zu verstehen, das den Lernenden zur politischen Handlung befähigt. Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen (Europarat 11 2001) war das erste Doku‐ ment, das Mehrsprachigkeit als eine ‚Kompetenz‘ auffasste (im Unterschied zur Mehrspra‐ chigkeit als „Kenntnis von Sprachen“, vgl. Christ 2006). Seine Vorstellung von Mehrspra‐ chigkeit war in vielfacher Weise innovativ. Sie wurde als eine integrative, ungleichmäßige und individuelle Kompetenz konzeptualisiert, deren Erwerb als ein lebenslanger und kontinuierlicher Prozess verstanden wurde (vgl. Christ 2008: 42). Warum die in diesem Dokument entwickelte Vorstellung von Mehrsprachigkeit trotzdem auch kritisch gesehen werden kann, ist der Gegenstand des folgenden Kapitels. 2.1 Mehrsprachigkeit im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen und im Companion Volume Die Lernenden sind im Sinne des GER „politisch[e] Wesen“ (Christ 2008: 39). Sie lernen Sprachen nicht nur, um mit Angehörigen anderer europäischer Länder effizienter kom‐ munizieren zu können und daraus berufliche und persönliche Vorteile zu ziehen. Die Kenntnis mehrerer Sprachen ist geradezu eine Voraussetzung für die gesellschaftliche Teilhabe an interkulturellen Austauschprozessen und soll die „Achtung von Identitäten und von kultureller Vielfalt“ fördern (GER 2001: 16). Daraus ergibt sich die Vorstellung einer komplexen Kompetenz, die sprachliche und kulturelle Kompetenzen integriert: Mehrsprachigkeit […] betont die Tatsache, dass sich die Spracherfahrung des Menschen in seinen kulturellen Kontexten erweitert, von der Sprache im Elternhaus über die Sprache der ganzen Gesellschaft bis zu den Sprachen anderer Völker […]. Diese Sprachen und Kulturen werden aber nicht in strikt voneinander getrennten mentalen Bereichen gespeichert, sondern bilden vielmehr gemeinsam eine kommunikative Kompetenz, zu der alle Sprachkenntnisse und Spracherfahrungen beitragen und in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen und interagieren (GER 2001: 17). Mehrsprachigkeit umfasst laut dieser Definition alle Sprachen, die ein Individuum erlernt oder erworben hat, und wird deshalb als das Ergebnis eines lebenslangen Sprachlern‐ prozesses gesehen (vgl. Christ 2008: 41). Anders als bei additiven Vorstellungen von Mehrsprachigkeit, bei welchen die einzelnen Sprachlernprozesse isoliert voneinander betrachtet werden, wird hier davon ausgegangen, dass Kenntnisse aller Sprachen (auch der Muttersprache) in eine gemeinsame, ihnen übergeordnete kommunikative Kompetenz einfließen. Mehrsprachigkeit als mehrsprachige und mehrkulturelle Kompetenz? Der Referenzrahmen betont, dass Mehrsprachigkeit stets im Kontext von Plurikulturalität zu denken ist. Analog zur mehrsprachigen Kompetenz werden auch die kulturellen Erfahr- 24 II Mehrsprachigkeitslernen - Fachdidaktische und bildungspolitische Perspektiven <?page no="25"?> ungen eines Individuums als miteinander interagierend dargestellt: „Sie werden verglichen und kontrastiert, und sie interagieren beim Entstehen einer reicheren, integrierten pluri‐ kulturellen Kompetenz“ (GER 2001: 18). Wie genau der Referenzrahmen die Verbindung zwischen der mehrsprachigen und der plurikulturellen Kompetenz auffasst, ist allerdings nicht klar. Mal ist die Rede von der mehrsprachigen Kompetenz als Teil einer integrierten plurikulturellen Kompetenz (ebd.), an anderen Stellen werden die mehrsprachige und die plurikulturelle Kompetenz als Teil einer übergeordneten, gemischten Kompetenz aufgefasst, wie im folgenden Zitat dargestellt: Der Begriff 'mehrsprachige und plurikulturelle Kompetenz' bezeichnet die Fähigkeit, Sprachen zum Zweck der Kommunikation zu benutzen und sich an interkultureller Interaktion zu beteiligen, wobei ein Mensch als gesellschaftlich Handelnder verstanden wird, der über - graduell unter‐ schiedliche - Kompetenzen in mehreren Sprachen und über Erfahrungen mit mehreren Kulturen verfügt. Dies wird allerdings nicht als Schichtung oder als ein Nebeneinander von getrennten Kompetenzen verstanden, sondern vielmehr als eine komplexe oder sogar gemischte Kompetenz, auf die der Benutzer zurückgreifen kann (ebd.: 163). Die Definition legt nahe, dass die Teilnahme an interkulturellen Handlungssituationen den gleichzeitigen Einsatz sprachlicher und kultureller Kompetenzen verlangt, dass somit die beiden Kompetenzbereiche gar nicht voneinander getrennt werden können. Die Idee einer integrativen, übergeordneten Fähigkeit zum mehrsprachigen Handeln wiederholt sich in der Vorstellung, dass die mehrsprachige und die plurikulturelle Kompetenz „partielle“, d. h. ungleichmäßige, sich verändernde Fähigkeiten seien, die „als Teile einer mehrsprachigen Kompetenz anzusehen [sind]“ (ebd.: 134). Beim Lesen des Referenzrahmens entsteht allerdings häufig der Eindruck, dass das Verständnis mehrsprachiger Kompetenz allein auf sprachliche Kenntnisse reduziert ist. Ein Beispiel hierfür ist die Aussage, „dass die betroffenen Personen bei der Anwendung dieser [mehrsprachigen] Kompetenz sowohl ihre allgemeinen als auch ihre sprachlichen Fertigkeiten und Kenntnisse unterschiedlich nutzen“ (ebd.: 133). Auffällig daran ist die Tatsache, dass der Einsatz der Fertigkeiten im Bereich des interkulturellen Lernens gar nicht erwähnt wird. Bei der Operationalisierung der transversalen Kompetenzen, an die später der FREPA anknüpfen wird (siehe Abschnitt 2.2 weiter unten), bleibt der GER wenig konkret. Wie Schröder-Sura (2018: 82) konstatiert, finden sich zwar im Kapitel 5.1 (GER 2001: 103-109) in Ansätzen Beschreibungen dieser Kompetenzen (5.1.1.2 Soziokulturelles Wissen, 5.1.1.3 Interkulturelles Bewusstsein, 5.1.2.2 Interkulturelle Fertigkeiten, 5.1.3 Persönlichkeitsbezogene Kompetenz/ savoir être, 5.1.4 Lernfähigkeit/ savoir-apprendre), doch sind ihre Darstellungen im GER im Umfang und in der Systematik nicht mit den Kompetenzbeschreibungen der kommunikativen Kompe‐ tenzen vergleichbar. Die wenig konkrete Operationalisierung dieser Kompetenzbereiche lässt also offen, ob und in welcher Verbindung die mehrsprachige und die plurikulturelle Kompetenz im Referenzrahmen zueinander stehen. Beim genauen Blick auf die einzelnen Skalen und Teilkompetenzen stellt man fest, dass die mehrsprachige Kompetenz im GER auf kommunikative Kompetenzen reduziert zu sein scheint, dass somit ausgeblendet wird, dass es bei Kommunikationssituationen über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg nicht nur um einen effizienten Austausch von Informationen geht, sondern dass auch kulturelle 2 Mehrsprachigkeitslernen in europäischen sprach- und bildungspolitischen Dokumenten 25 <?page no="26"?> Identitäten, Werte und Erfahrungen miteinander verhandelt werden. Die mehrsprachige Kompetenz darf daher keinesfalls auf rein sprachliche Fähigkeiten beschränkt werden und es muss überlegt werden, wie solche sprachen- und kulturenübergreifenden Handlungssi‐ tuationen im Unterricht modelliert werden können. Aus vielen fremdsprachendidaktischen Studien weiß man mittlerweile, dass insbe‐ sondere mehrkulturelle literarische Texte Anlässe zu einer Beschäftigung mit solchen Situationen liefern können. In diesem Sinne bemängelt Burwitz-Melzer (2004: 23) am Referenzrahmen, dass das Mehrsprachigkeitskonzept „zu einseitig auf ein sprachliches Kompetenzmodell reduziert“ ist und dass die Rolle von authentischen multikulturellen und mehrsprachigen literarischen Texten in diesem Dokument vollkommen unberücksichtigt bleibt. Diese Studie geht davon aus, dass der Einsatz solcher literarischen Texte dabei helfen kann, dass Lernende für den Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur, für die kulturelle Prägung von Sprache sowie für die bedeutungsstiftende Funktion von Sprache sensibilisiert werden. Diese Bewusstmachung erscheint von zentraler Bedeutung für die Ausbildung einer integrierten mehrsprachigen und plurikulturellen Kompetenz. Die mangelnde Berücksichtigung dieses Aspektes im GER spiegelt sich in der Tatsache wider, dass die einzige Dimension des von Byram entwickelten Modells des interkulturellen Lernens, die vom Referenzrahmen unberücksichtigt bleibt, das savoir s’engager (critical cultural awareness) ist (vgl. Burwitz-Melzer 2003b: 23). Die Entwicklung einer solchen kritischen Reflexionsfähigkeit erscheint aber gerade dann unabdingbar, wenn, wie im GER, das Ziel verfolgt wird, Menschen zur demokratischen Teilhabe an europäischen Gesellschaften zu befähigen. Ein Grund, warum das Mehrsprachigkeitskonzept des GER diesem Ziel nicht gerecht wird, liegt möglicherweise in seiner Konzeption des sprachlichen Handelns. Bredella (2003) kritisiert, dass der GER zwar das sprachliche Handeln als soziales Handeln begreife (Lernende als „gesellschaftlich Handelnde“), den Begriff aber beim genauen Hinsehen auf ein zweckrationales, erfolgsorientiertes und strategisches Handeln reduziert (vgl. auch Altmayer 2004: 6). Es werde ignoriert, dass interkulturelle Kommunikationssituationen Bedeutungsaushandlungsprozesse darstellen, die verstehens- und verständigungsorientiert sind. Ein Beispiel hierfür ist laut Bredella (2003: 47) die einseitige Betrachtung des Lesens als Informationsverarbeitungsprozess, in dem „der bedeutungssuchende Leser mit seinem jeweiligen Vorwissen und seinen Erwartungen in einer bestimmten geschichtlichen und historischen Situation“ keine Rolle spielt. Eine solche Auffassung vom sprachlichen Handeln entspreche weder fremdsprachendidaktischen Erkenntnissen über interkulturelle Kommunikation noch den Bildungsansprüchen, die in der Präambel des Referenzrahmens formuliert werden. Der Idee des Referenzrahmens, Sprachenlernen könne zur politischen Teilhabe der europäischen BürgerInnen führen und für mehr Toleranz gegenüber kultu‐ reller Vielfalt sorgen, werde man durch einen zweckorientierten Handlungsbegriff nicht gerecht. Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass der Referenzrahmen durch den zu einseitig auf die kommunikative Effizienz ausgerichteten Kommunikationsbegriff hinter den selbst gesetzten Ansprüchen, Mehrsprachigkeit als integrative sprachliche und kulturelle Kompetenz zu beschreiben und zu entwickeln, zurückbleibt (vgl. Christ 2008: 42; Quetz 2004: 188). In den Teilkompetenzen und Skalen des GER werde Mehrsprachigkeit laut 26 II Mehrsprachigkeitslernen - Fachdidaktische und bildungspolitische Perspektiven <?page no="27"?> Harsch (2007: 34) als reine Zweisprachigkeit dargestellt (Muttersprache + Fremdsprache). Man suche darin vergeblich nach konkreten Hinweisen auf eine integrativ gedachte mehrsprachige Kompetenz, so wie sie in der Präambel definiert wurde (vgl. auch Christ 2003: 61). Diese mangelnde Operationalisierung der mehrsprachigen Kompetenz zeige sich auch darin, dass die Deskriptoren keine Hinweise auf Sprachenwechsel, auf Sprachtransfer oder auf andere sprachenvernetzende Fähigkeiten enthalten. Des Weiteren kann festgestellt werden, dass die konkrete Modellierung von mehrsprachiger Kompetenz hinter dem Anspruch einer mehrsprachigen Bildung zurückbleibt und daher in dieser Arbeit durch neue (fachdidaktische) Perspektiven ergänzt werden muss. Bereits hier deutet sich an, welche Komponenten entscheidend sind, damit Ansätze zur Mehrsprachigkeitsförderung auch bildend wirken können. Zum einen ist dies die stärkere Berücksichtigung persön‐ lichkeitsbildender und gesellschaftlich-transformatorischer Zielvorstellungen, die kein „Nebenprodukt sprachlichen Lernens“ darstellen, sondern unbedingt expliziter Themati‐ sierung und Bewusstmachung bedürfen (Küster 2013: 60). Analog zu der oben zitierten Kritik von Bredella und Burwitz-Melzer können diese Dimensionen nur erreicht werden, wenn SchülerInnen nicht nur lernen, sich in verschiedenen Sprachen zu verständigen, sondern wenn sie in die Lage versetzt werden, mehrsprachige Praktiken, Dokumente oder Gegebenheiten und die darin offenbarten Werte, Haltungen und Einstellungen kritisch zu reflektieren (vgl. critical cultural awareness, Byram 1997: 53). Einen weiteren Schritt bezüglich der Operationalisierung mehrsprachiger und plurikul‐ tureller Kompetenz leisten die neu hinzugefügten Deskriptoren im Companion Volume, einem im Jahr 2017 erschienenen Ergänzungsdokument des Referenzrahmens. Als Reaktion auf die häufig geäußerte Kritik, dem GER fehle es an konkreten Vorschlägen zur Förderung von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität, entwickelt dieses Dokument zum ersten Mal konkrete Deskriptoren für drei Bereiche der mehrsprachigen und plurikulturellen Kompetenz: building on pluricultural repertoire, plurilingual comprehension und building on plurilingual repertoire. Positiv ist hervorzuheben, dass sowohl der rezeptive Bereich (interlinguale Verstehensstrategien) als auch der produktive Bereich der Mehrsprachigkeit (Sprachenwechsel) Berücksichtigung finden und Kommunikation als eine Mittlungssitua‐ tion aufgefasst wird, in der zwischen Kulturen und Sprachen gleichermaßen gemittelt wird. Die Integration dieser beiden Kompetenzen findet ihre konkreteste Operationalisierung in der Sprachmittlungskompetenz, die in diesem Dokument eine deutliche Aufwertung erfährt. Durch das Bild des „cultural mediator“ wird die von Bredella (2003) am GER kritisierte Vorstellung von Kommunikation als zweckrationalem Handeln relativiert: Rather than simply exploiting his/ her pluricultural repertoire to gain acceptance and to enhance his own mission or message […], he/ she is engaged as a cultural mediator: creating a neutral, trusted, shared ‘space’ in order to enhance the communication between others (Europarat 2017: 170). Die Konzeptualisierung von Kommunikation entspricht hier (zumindest begrifflich) eher der Vorstellung eines dialogischen Bedeutungsaushandlungsprozesses, bei welchem sich die Fremdsprachenlernenden nicht nur auf ihre Absichten, sondern auch auf die Interessen der anderen einstellen müssen, um Verstehen und Verständigung zu erreichen (vgl. Bredella 2003: 45-ff.). 2 Mehrsprachigkeitslernen in europäischen sprach- und bildungspolitischen Dokumenten 27 <?page no="28"?> 2.2 Mehrsprachigkeit im FREPA (A Framework of Reference for Pluralistic Approaches to Languages and Cultures) Der FREPA wurde von Candelier et al. (2012) am Europäischen Fremdsprachenzentrum des Europarats in Graz in zwei Programmen (2004-2007 und 2008-2011) entwickelt. Er versucht „verschiedene Ansätze des sprachsensiblen und sprachenübergreifenden Unter‐ richtens und einer inter- und transkulturellen Sensibilisierung in ein Gesamtkonzept mehrsprachiger und mehrkultureller Bildung zu integrieren“ (Melo-Pfeiffer & Reimann 2018: 15). Mehrsprachige Kompetenz wird hier als die Fähigkeit verstanden, sprachliche und kulturelle Ressourcen abzurufen, um in mehrsprachigen Situationen handeln zu können. Mehrsprachig kompetent ist jemand, der oder die „individuelle Ressourcen (Kenntnisse, Können und Lernerpersönlichkeit) sowie externe Ressourcen“ mobilisieren kann, „um miteinander verwandte komplexe Anforderungen meistern zu können“ (Beckers 2002: 57, zit. nach Candelier et al. 2007: 16). Die Mehrsprachigkeitskompetenz ist daher als eine Mobilisierungskompetenz zu betrachten, d. h. als die Fähigkeit, die für die Problemlösung notwendigen Ressourcen zu identifizieren, zu mobilisieren und zu kombinieren (vgl. Martinez 2015: 10). Interessant für diese Studie ist vor allem der Fokus des Dokuments auf Ressourcen, die im Gegensatz zu Kompetenzen konkreter gedacht werden und sich leichter in Form von Deskriptoren definieren lassen (vgl. Martinez & Schröder-Sura 2011: 75). Die mehrsprachige Kompetenz wird als ein höchst individuelles Repertoire an Ressourcen verstanden, das zur Kommunikation mobilisiert werden soll (vgl. Schädlich 2020: 6). Mit Ressourcen ist nicht nur deklaratives Sprachwissen gemeint, sondern auch eine prozedurale und eine personenbezogene Komponente (vgl. Martinez & Schröder-Sura 2011: 73), womit eine Vorstellung vom ganzheitlichen sprachlichen Lernen zum Tragen kommt: For us competences are - by their very nature - units of a certain complexity, implicating the whole of the individual and linked to socially relevant tasks in the context of which they are activated; in these situations, they signify the mobilisation of different resources which may be internal (coming under knowledge, skills or attitudes) or external (the use of a dictionary, resorting to a mediator …) (Candelier et al. 2012: 11). Versteht man mehrsprachige Kompetenz als Mobilisierungskompetenz, stellt sich die Frage nach den geeigneten didaktischen Szenarien, die eine solche Mobilisierung von Ressourcen erfordern. Martinez und Schröder-Sura (2011) plädieren für den Einsatz von kompetenzorientierten Lernaufgaben, um dies zu ermöglichen. Allerdings liefern die oben vorgestellten bildungspolitischen Dokumente kaum Hinweise hinsichtlich der Frage, wie diese Szenarien konkret aussehen könnten bzw. welche Texte und Themen sich anbieten, um inhaltlich anspruchsvolle und motivierende Lernaufgaben zur Mehrsprachig‐ keitsförderung zu erstellen. Solche didaktisch-methodischen Hinweise sind allerdings von unmittelbarer Relevanz für die Lehrkräfte, damit sie die in den Deskriptoren festgehaltenen Lernziele im Englischunterricht umsetzen können. Diese Lücke versucht die vorliegende Arbeit zu schließen, indem sie empirisch untersucht, wie mehrsprachige Chicano/ a-Texte dazu eingesetzt werden können, inhaltlich komplexe und für die Lernenden relevante Aushandlungssituationen zu schaffen, in denen SchülerInnen ihr gesamtes sprachliches und kulturelles Repertoire mobilisieren und erweitern können. 28 II Mehrsprachigkeitslernen - Fachdidaktische und bildungspolitische Perspektiven <?page no="29"?> 12 Vergleiche zu folgenden Ausführungen auch die definitorische Annäherung an den Begriff ‚Mehr‐ sprachigkeit‘, die Jakisch (2015: 25-48) in ihrer Dissertation vornimmt. 3 Individuelle Mehrsprachigkeit als Ziel schulischer Bildung Aus den bildungspolitischen Dokumenten wird zum einen klar, dass Mehrsprachigkeit stets von Lernenden bzw. von SprecherInnen ausgehend zu denken ist und daher eine höchst individuelle, personale Fähigkeit (Christ 2004: 31) darstellt, und zum Zweiten, dass die Ziele mehrsprachiger Bildung über die Beherrschung mehrerer Sprachen hinausgehen. Dies bedeutet, dass die lebensweltlich mehrsprachigen SchülerInnen zwar ein Mehr an ‚Sprachigkeit‘ in die Schule mitbringen, aber erst in der Schule lernen müssen, wie sie ihre Ressourcen zum sprachlichen und kulturellen Handeln einsetzen können. Die Förderung von Mehrsprachigkeit ist daher nicht als eine Extra-Förderung für diese Gruppe von SchülerInnen zu verstehen, sondern als Bildungsaufgabe für die gesamte Schule und die gesamte Schülerschaft. Um zu wissen, wie diese Aufgabe verwirklicht werden kann, ist es zunächst wichtig zu verstehen, welches Wissen bzw. welche Fähigkeiten oder Kenntnisse die angestrebte Mehrsprachigkeit bei Lernenden umfasst. Es gilt also im Folgenden das Mehr in Mehrsprachigkeit aus fremdsprachendidaktischer und soziolinguistischer Perspek‐ tive näher zu definieren, um sich so einer Konzeption von Mehrsprachigkeitsförderung zu nähern, die den Schüler bzw. die Schülerin als ganzheitliches Individuum denkt und seine bzw. ihre Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in den Vordergrund des Englischunterrichts rückt. 12 3.1 Das Mehr an ‚Sprachigkeit‘ Der Begriff Mehrsprachigkeit impliziert zunächst ein Mehr an ‚Sprachigkeit‘. Es ist im Folgenden zu klären, was diese Sprachigkeit beinhaltet und wann eine Mehr-Sprachigkeit erreicht ist. Ist es die Kenntnis mehrerer (und wie vieler) Sprachen? Wie verändert dieses Mehr an ‚Sprache‘ die sprachliche Kompetenz der Lernenden? Welche Sprachen sollen gelernt werden und in welcher Reihenfolge? Diese Fragen sind, je nachdem welcher Be‐ gründungsansatz dem Mehrsprachigkeitslernen zugrunde liegt und welche Auffassungen von Sprache, Kommunikation und sprachlichem Lernen er vertritt, unterschiedlich zu beantworten. Der Linguist Wandruszka (1979) hat eine sehr weite Definition von Mehrsprachigkeit und geht davon aus, dass wir alle prinzipiell und potenziell mehrsprachig sind, denn die Sprache (Erst- oder Muttersprache) jedes Menschen besteht aus Elementen vieler anderer Sprachen. Somit geht Wandruszka von einer grundsätzlichen Verbundenheit der Sprachen aus. Jede Sprache schlägt für ihn Brücken zu anderen Sprachen (vgl. auch Christ 2008: 37). Jeder Mensch sei grundsätzlich in der Lage, zwischen Akzenten, Dialekten, Registern etc. zu wechseln, und ist deshalb bereits in seiner Muttersprache mehrsprachig (muttersprach‐ liche Mehrsprachigkeit). Dieses Verständnis von Mehrsprachigkeit ist aus verschiedenen Gründen immer noch aktuell und wichtig. Dies liegt zum einen daran, dass Wandruszka die individuelle und die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit nicht als Privileg, sondern als Normalfall betrachtet. Zum anderen hebt er den komplexen und hybriden Charakter von 3 Individuelle Mehrsprachigkeit als Ziel schulischer Bildung 29 <?page no="30"?> 13 Ähnliche Vorstellungen formuliert auch der Europarat auf der Sitzung in Barcelona im März 2002, https: / / ec.europa.eu/ commission/ presscorner/ detail/ en/ PRES_02_930 (15.04.2023). Darin wird die Forderung formuliert, die EU-BürgerInnen sollen bereits im jungen Alter mindestens zwei Fremdsprachen neben ihrer Erstsprache lernen. Sprache hervor, indem er betont, dass „jede Diglossie als Polyglossie, als Mehrsprachigkeit“ zu verstehen ist (Wandruszka 1979: 25). Durch seine Annahme, Sprachen enthalten immer auch Elemente anderer Sprachen, relativiert er auch die angenommene ‚Fremdheit‘ anderer Sprachen und die Vertrautheit der eigenen (Mutter-)Sprache (vgl. auch Hu 2003: 39). Dies spiegelt die zentrale Annahme der heutigen Mehrsprachigkeitsdidaktik wider, dass sprachliches Wissen und Können zwischen Sprachen grundsätzlich transferierbar sei. Obwohl man mit Wandruszka annehmen kann, dass der Mensch prinzipiell mehrspra‐ chig ist, ist allerdings davon auszugehen, dass Fremdsprachen im Unterschied zu Elementen der Muttersprache einen anderen Mehrwert für die Ausbildung individueller Mehrspra‐ chigkeit haben. Für Christ (2000: 9) ist erst der oder die Dreisprachige mehrsprachig, auch für Vollmer (2004: 238) ist eine voll ausgebildete Mehrsprachigkeit als „Triangulismus“ zu definieren. 13 Christ geht davon aus, dass „der Übergang von Zweisprachigkeit zu Mehrsprachigkeit einen qualitativen Sprung gegenüber jenem ersten, ebenfalls qualitativen - von der Einsprachigkeit zur Zweisprachigkeit - darstellt“ (Christ 2000: 10). Worin genau besteht dieser Sprung? Es hat einmal mit einer Horizonterweiterung zu tun, mit dem Aufbrechen von Vorurteilen und mit dem Schaffen von Verbindungen zu Menschen anderer Sprachgemeinschaften (vgl. Christ 2006: 41). Sowohl für Christ (2009: 36) als auch für Königs (2002: 25) hat dieser Sprung auch etwas mit einem Mehr an ‚Sprachigkeit‘ zu tun, d. h. der Mehrwert der Mehrsprachigkeit liegt nicht darin, möglichst viele Sprachen möglichst gut zu können, sondern ist vielmehr in der Ausbildung einer gesamtsprachlichen kommu‐ nikativen Kompetenz zu sehen, in der Sprachen „miteinander agieren, einander ergänzen, ineinander übergehen“ (Christ 2009: 36, H. i. O.). Mehrsprachig sind daher diejenigen, die die Beziehungen zwischen ihren Sprachen oder den Elementen ihres sprachlichen Repertoires kennen, sie produktiv für das Lernen weiterer Sprachen nutzen und diese Sprachen als Ressourcen einsetzen, um kommunikative Absichten zu verwirklichen. Betrachtet man die Sprachen eines Menschen als Ressourcen zur Konstruktion und zum Austausch von Bedeutung, so verändert sich auch die Sicht darauf, was eine mehrsprachige Kompetenz ausmacht. 3.2 Das Mehr an Ressourcen Der Soziolinguist Blommaert (2010: 120) schlägt vor, statt des Begriffs ,Sprache‘ („primarily an ideological and institutional construct“) den Begriff der ,Ressource‘ („the actual and observable ways of using language“) ins Zentrum der Überlegungen zu Mehrsprachigkeit zu rücken. Es komme laut Blommaert nicht darauf an, Sprachen möglichst akkurat und native-like zu beherrschen, sondern zu wissen, wie man die eigenen Ressourcen effektiv einsetzen kann. Diese Ressourcen können unvollkommen und ungleichmäßig verteilt sein, sie sind sprachlich oder nicht-sprachlich. Dabei versteht er unter Ressourcen: „concrete accents, language varieties, registers, genres, modalities such as writing - ways of using language in particular communicative settings and spheres of life, including the ideas 30 II Mehrsprachigkeitslernen - Fachdidaktische und bildungspolitische Perspektiven <?page no="31"?> people have about such ways of using, their language ideologies“ (ebd.: 102). Für Blommaert sind Ressourcen also nicht unbedingt sprachlich, er versteht darunter alle Elemente, Modalitäten, „cultural templates“, die in zwischenmenschlicher Kommunikation Bedeutung stiften können. Ob eine Ressource als valider Kommunikationscode anerkannt wird und ihr bedeutungsstiftendes Potenzial entfalten kann, kommt darauf an, in welchem Kontext sie verwendet wird: The key to understanding this complex pattern is what counts as language in particular contexts: what is ratified and recognized as a valid code for making oneself understood. The key is, in other words, the indexical value that particular linguistic resources have in certain spaces and situations (ebd.: 12, H. i.-O.). Illustrieren lässt sich dies am Beispiel der Herkunftssprachen von Lernenden. So können diese Sprachen im familiären Kontext ein hohes semiotisches Potenzial besitzen, in den monolingual ausgerichteten deutschen Schulen allerdings haben sie meist ein niedriges Signifikationspotenzial. Daher verweist der Begriff darauf, dass Sprachgebrauch immer eng an den jeweiligen sozialen Kontext und seine politischen Strukturen geknüpft ist, dass daher nicht jede Ressource den Status einer Sprache haben kann. Die ressourcenorientierte Perspektive von Blommaert hat mehrere Implikationen für das Mehrsprachigkeitslernen im Fremdsprachenunterricht. Zunächst ist dies die Vorstellung, dass wir alle grundsätzlich über unterschiedlich komplexe Ressourcen verfügen, die uns in die Lage versetzen, mehrsprachige kommunikative Situationen zu bewältigen. Der Begriff ,Ressource‘ ist weiter gefasst als der Begriff ,Sprache‘ und schließt auch kleinere sprachliche Einheiten wie Akzente, Dialekte oder Register mit ein. Wichtig für die Konzep‐ tualisierung des Mehrsprachigkeitslernen ist dabei, dass Lernende neben den sprachlichen Kenntnissen für die Bewältigung einer mehrsprachigen Kommunikationssituation auch eine Reihe an nicht-sprachlichen Ressourcen benötigen, so z. B. das Wissen über bestimmte Spezifika anderer Kulturen, über kulturelle Schemata (Genres), die Fähigkeit, andere semiotische Modi zur Kommunikation zu nutzen etc. Mehrsprachige Kompetenz würde daher laut Blommaert in der Fähigkeit bestehen, das bedeutungsstiftende Potenzial eigener Ressourcen je nach Situation einzuschätzen und es erfolgreich einsetzen zu können. Es kommt also nicht nur darauf an, das Repertoire an sprachlichen und nicht-sprachlichen Ressourcen zu erweitern, sondern auch darauf, ihre Implikationen, Wirkungsweisen, ihre Bezüge zu anderen Ressourcen zu erkennen und sie bewusst bei ihrem Gebrauch zu reflektieren. Eine solche Kompetenz ist folglich nur zu erreichen, wenn die bisherigen bildungspolitischen und fachdidaktischen Ansätze die Mehrsprachigkeitsförderung stärker auf die Förderung einer kritischen Reflexions- und Handlungsfähigkeit ausweiten. 3.3 Das Mehr an Reflexions- und Handlungsfähigkeit Betrachtet man Sprache als Ressource, also als ein Hilfsmittel, auf das in bestimmten Situationen und mit bestimmten GesprächspartnerInnen zurückgegriffen wird, wird die Aufmerksamkeit auf die Lernenden als AkteurInnen gelenkt, wobei Sprache „als soziale Praktik der Lernenden selbst und Teil ihrer Identität“ (Hu 2019: 18, vgl. auch Schädlich 2020: 6) begriffen wird. Diese Position führte laut Schädlich (2020) dazu, dass man auch 3 Individuelle Mehrsprachigkeit als Ziel schulischer Bildung 31 <?page no="32"?> in der deutschsprachigen Forschung stärker die Frage in den Fokus nahm, wie Lernende Bedeutungen zwischen Sprachen und Kulturen aushandeln, konstruieren und inszenieren. Im englischsprachigen Raum betont der Begriff „languaging“ den „performativen und prozeduralen Charakter von Sprache“ (Schädlich 2020: 6). Mit Schädlich (ebd.) ist daher festzustellen, dass sich die Mehrsprachigkeitsforschung aufgrund dieses Denkwechsels redefiniert und Sprache(n) „als jede Art von Zeichensystemen [versteht], die symbolische Bedeutung hervorbringen“ (ebd.). Um solche symbolischen, über die rein denotativen Funktionen von Sprache hinausgehenden Bedeutungen zu erfassen, sollten SchülerInnen lernen, die Wirkungen von Sprache(n) zu durchschauen, indem sie Sprachgebrauch als individuell und kontextgebunden betrachten, um zu verstehen, wie durch Sprache (und andere Zeichensysteme) Werte vermittelt, Identitäten ausgehandelt und politische Macht‐ verhältnisse reproduziert oder neu strukturiert werden können. Für die Konzeptualisierung eines so verstandenen Mehrsprachigkeitslernens erweist sich insbesondere das Konzept der „symbolischen Kompetenz“ von Kramsch (2009) als wegweisend (siehe Kapitel III, 3). Mehrsprachigkeitsförderung würde demnach heißen, bei Lernenden eine Reflexionsfähigkeit anzustreben, die sie dazu befähigt, zu durchschauen, wie Sprachen bedeutungsstiftend wirken können. Es geht dabei also um den symbolischen Gehalt von Sprache, oder in Worten von Blommaert (2010: 12) „the indexical value that particular linguistic resources have in certain spaces and situations“. Eine so definierte Reflexionsfähigkeit kann nur in einem Fremdsprachenunterricht ausgebildet werden, der mehrsprachiges und mehrkulturelles Lernen konsequent zusammendenkt und inhaltsba‐ sierte didaktische Szenarien zu deren Umsetzung schafft, denn Sprache und Kultur sind in diskursiv-reflexiven Konzeptionen von Kultur stark miteinander verbunden. Sprache „ist eines der wichtigen Medien, in denen kulturelle Praxis stattfindet“ (Hu 2019: 21), Kultur als diskursive Praxis wird also laufend durch sprachliche und nicht-sprachliche Ressourcen neu hervorgebracht. Nimmt man die Rolle der Lernenden als „kulturelle Akteure“ ernst, dann muss das Mehrsprachigkeitslernen so konzeptualisiert werden, dass es SchülerInnen nicht nur für die symbolische Bedeutung von Sprache(n) sensibilisiert, sondern sie auch dazu befähigt, den eigenen Gebrauch von Sprache(n) zu durchdenken und nach Mitbedeutungen zu suchen, die die eigenen sprachlichen Ressourcen evozieren können. Das letztendliche Ziel ist eine mehrsprachige Handlungsfähigkeit, die einerseits darin besteht, sprachlich angemessen zu kommunizieren, die aber auch als eine Fähigkeit zur Positionierung in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext gedacht werden kann, denn sprachliches Handeln wirkt identitätsstiftend (vgl. ebd.). Das letztendliche Ziel des Mehrsprachigkeitslernens ist daher immer eine Befähigung zur Teilnahme an anderen so‐ zialen und kulturellen Gemeinschaften und daher auch immer eine Identitätserweiterung. 4 Mehrsprachigkeitslernen als spezifisches Ziel des Englischunterrichts Dem Englischunterricht wird seit langem eine entscheidende Bedeutung bei der Mehrspra‐ chigkeitsförderung im Fremdsprachenunterricht zugewiesen, denn Englisch ist sehr häufig die erste und die am längsten gelernte Fremdsprache im deutschen Schulsystem sowie 32 II Mehrsprachigkeitslernen - Fachdidaktische und bildungspolitische Perspektiven <?page no="33"?> für einige SchülerInnen die einzige Fremdsprache, die sie in ihrer Schullaufbahn erlernen. Dabei wird einerseits darauf hingewiesen, dass der Englischunterricht das Potenzial birgt, als Wegbereiter für das weitere fremdsprachliche Lernen, als „gateway to languages“ (Schröder 2009), zu fungieren. Andererseits wird befürchtet, er könne aufgrund der Rolle des Englischen als lingua franca in der internationalen Kommunikation zu einer „Sackgasse“ (Vollmer 2001: 92) für Mehrsprachigkeit werden und andere Fremdsprachen verdrängen. Die gateway-Funktion verlangt nach Vollmer (2000: 82-85) eine Ausrichtung des Englischunterrichts auf diese verschiedenen Ziele: ● die Förderung von Neugier, Interesse und Offenheit gegenüber anderen Fremdsprachen (affektiv-attitudinale Komponente). ● die Aktivierung kognitiver Grundlagen und Einsichten in sprachenübergreifende sprachliche Phänomene durch Sprachvergleich, Sprachreflexion und Sprachbewusst‐ heit (kognitive Komponente). ● die Förderung von Lern- und Arbeitstechniken zur selbstständigen Aneignung weiterer Sprachen (Sprachlernkompetenz, Lern- und arbeitstechnische Komponente). ● Aufbau und Festigung von allgemeinem Kommunikations- und Diskurswissen ausge‐ hend vom Deutschunterricht (diskursiv-kommunikative Komponente). ● Anbahnung des interkulturellen Lernens, Einsichten in die Dynamik von interkultu‐ rellen Verständigungs- und Aushandlungsprozessen (interkulturelle Komponente). Diese Zielsetzungen seien nur zu erreichen, wenn sich Englischlehrende auf eine veränderte „Mentalität“ (Schröder 2009: 74 f.) einstellen, sich also für andere Sprachen neben dem Eng‐ lischen interessieren und auch mit Lehrkräften anderer Fremdsprachen zusammenarbeiten. Weitere Forderungen betreffen auch die Inklusion der nichtschulischen Herkunftssprachen der SchülerInnen und die Schaffung von multilingualen Unterrichtsarrangements, die die Förderung oben genannter Ziele auf methodischer Ebene möglich machen. Jakisch (2015) untersuchte in einer empirischen Studie die Sicht der Lehrenden und Lernenden bezüglich der Ausrichtung des Englischunterrichts auf die Ziele der Mehrspra‐ chigkeitsförderung und führte zu diesem Zweck eine Fragebogenstudie mit 273 Schüler- Innen und 15 Interviews mit Englischlehrkräften an niedersächsischen Schulen durch. Jakisch leitet aus ihrer Studie die Erkenntnis ab, dass die von ihr befragten Lehrenden und Lernenden der Auffassung sind, dass der Englischunterricht „Grundsteine für weiteres Sprachenlernen legen kann“ (ebd.: 337). Die Lehrkräfte seien grundsätzlich von den Vorteilen eines sprachenübergreifenden und auf die Vernetzung vorhandener sprachlicher Wissensbestände ausgerichteten Englischunterrichts überzeugt, obgleich große Unsicher‐ heiten hinsichtlich der praktischen Umsetzung dieser Ziele im Englischunterricht bestehen und sich die Lehrkräfte mehrheitlich „Anregungen für die unterrichtliche Umsetzung“ und konkrete Unterrichtsmaterialien wünschen (ebd.: 325, 337). Für die Bereitschaft, sich gegenüber dieser Art von Englischunterricht zu öffnen, sei die Frage der unterrichtlichen Umsetzung relevant, aber auch „die Frage der Einstellung“ (ebd.: 338). In dem Abschluss‐ kapitel finden sich einige Hinweise, welche förderlichen oder weniger förderlichen Ein‐ stellungen bei den beteiligten AkteurInnen existieren können: Die Ergebnisse legen die Schlussfolgerung nahe, dass bei SchülerInnen „ökonomische, vom Gebrauchswert des Sprachenlernens geleitete Überlegungen längst die Überhand gegenüber den idealistischen 4 Mehrsprachigkeitslernen als spezifisches Ziel des Englischunterrichts 33 <?page no="34"?> 14 In der Arbeit ist je nach Kontext von ‚Chicanos/ as‘, ‚Hispanics‘ oder ‚Latino/ as‘ die Rede. Der Terminus ‚Hispanic‘ (hispano/ hispana) meint alle Personen, die aus einem spanischsprachigen Land stammen. ‚Chicano/ a‘ bezieht sich ausschließlich auf Personen mexikanischer Abstammung, die in den USA leben. Der Begriff ‚Latino/ a‘ bezieht sich auf alle Personen, die aus einem lateinamerikanischen Land stammen (vgl. https: / / www.exploratorium.edu/ -sites/ default/ files/ Genial_2017_Terms_of_Usage.pdf, 15.04.2023). […] Einschätzungen gewonnen haben“ (ebd.: 320), was für eine Akzeptanz der europäischen Mehrsprachigkeit als Ideal wenig hilfreich ist. Ein solches Denken könnte möglicherweise die Einstellung fördern, Englisch sei im Berufsleben die einzig wichtige und für die internationale Kommunikation wichtige Sprache. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit stellt sich in Anknüpfung an diese empirischen Erkenntnisse daher zunächst die Frage, wie die SchülerInnen auf mehrsprachigkeitsdidakti‐ sche Ansätze im Englischunterricht reagieren, welche Einstellungen dabei möglicherweise sichtbar werden und wie diese das Lern- und Unterrichtsgeschehen beeinflussen. Da die Fallstudien im Englischunterricht der Oberstufe durchgeführt wurden, kann davon ausgegangen werden, dass sich die SchülerInnen bereits mit ihrer Motivation für das Englischlernen auseinandergesetzt haben und das Englische auch mit anderen fremd‐ sprachlichen Fächern vergleichen können. Die Studie knüpft außerdem an das bereits formulierte Desiderat zum Mangel an Unterrichtsmaterialien an und untersucht, welche Unterrichtsdesigns sich für einen sprachen- und kulturenübergreifenden Englischunter‐ richt eignen. Ein besonders wichtiger Beitrag dieser Arbeit könnte darin bestehen, dass die Studie nicht nur konkrete Designs oder Aufgaben umsetzt und aus der Sicht der beteiligten AkteurInnen reflektiert, sondern dass sie die Frage stellt, welche Texte und Inhalte dafür geeignet sind, die Mehrsprachigkeit eines bestimmten anglophonen kulturellen Kontexts den SchülerInnen näher zu bringen, um sie vor diesem Hintergrund zu ermutigen, diese in Bezug zu ihrer eigenen Mehrsprachigkeit zu setzen. Jakisch (2015) weist darauf hin, dass es zwar wichtig sei, zu ermitteln, welchen Nutzen ein solcher Englischunterricht für die Folgefremdsprachen hätte, aber dass auch unbedingt danach gefragt werden muss, „welcher Ertrag für das Fach Englisch zu erwarten wäre“ (ebd.: 319). Der Ertrag für das Fach Englisch wird deutlich, wenn man einen Blick auf die sprachliche und kulturelle Zusammensetzung der anglophonen Länder wirft. Der hier im Fokus stehende geografische Kontext der USA ist seit Jahrzehnten durch sprachliche und kulturelle Hybridisierungsprozesse gekennzeichnet. Viele der im Englischunterricht regulär behandelten Fragestellungen, wie die Situation kultureller und sprachlicher Min‐ derheiten (meistens Hispanics 14 ) im Südwesten der USA, werden mehrsprachig verhandelt. Möchte man diesen Diskurs in seiner Widersprüchlichkeit, Komplexität und Multiperspek‐ tivität modellieren, dann gelingt dies nur durch Texte, die diese auch wahren - und zwar sowohl auf einer sprachlichen als auch auf einer inhaltlichen Ebene. Mit der Entscheidung, mehrsprachige Chicano/ a-Texte in den Fokus der Studie zu rücken, stellt sich also zum einen die Frage, welchen Beitrag diese Texte für das Lernen über anglophone Kulturen und über ihre sprachliche und kulturelle Hybridität leisten können, und zum anderen, ob und wie diese Texte zu einer Reflexion über die Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität der eigenen Lebenswelt der SchülerInnen beitragen können. 34 II Mehrsprachigkeitslernen - Fachdidaktische und bildungspolitische Perspektiven <?page no="35"?> 15 Im Folgenden mit „LA“ abgekürzt. III Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik hin zu einer integrativen mehrsprachigen Bildung Im Folgenden sollen verschiedene fremdsprachendidaktische Ansätze zur Förderung von Mehrsprachigkeit vorgestellt und beschrieben werden, um anschließend ihren Beitrag für die Konzeptualisierung einer mehrsprachigen Bildung zu erarbeiten. Dabei werden einerseits Ansätze berücksichtigt, die die Wahrnehmung, Analyse und Reflexion von Sprache als System in den Vordergrund rücken, wie z. B. die Interkomprehensionsdidaktik und die Kompetenz Sprach(lern)bewusstheit. Andererseits ergibt sich die Notwendigkeit, diese auf die mentalen Sprachverarbeitungsprozesse und Sprachvernetzungsprozesse aus‐ gerichteten Ansätze durch Konzepte zu ergänzen, die eher das subjektive Erleben von Sprachen, die persönlichkeitsbildende Dimension des fremdsprachlichen Lernens und die Teilhabe an mehrsprachigen Diskursen als wichtige Ziele des Mehrsprachigkeitslernens begreifen. 1 Interkomprehension und Mehrsprachigkeitsdidaktik Eine Vernetzung vor- und nachgelernter Sprachen und damit eine Nutzung des sprach‐ lichen und kulturellen Vorwissens für das Lernen neuer Fremdsprachen ist eines der wichtigsten Ziele der Mehrsprachigkeitsdidaktik, wie sie von Meißner und Reinfried (1998: 20) begründet wurde. Das Hauptanliegen des Mehrsprachigkeitslernens ist es, eine Bewusstheit für die Querverbindungen zwischen den Ressourcen des mehrsprachigen und mehrkulturellen Repertoires zu schaffen, denn „[j]edes Sprachenlernen ist […] zu‐ gleich immer eine beständige metasprachliche, sprachvergleichende und metakognitive Tätigkeit“ (Hallet 2011: 223). Sowohl der Language-Awareness 15 -Ansatz als auch die Mehr‐ sprachigkeitsdidaktik basieren auf der Vorstellung, dass sprachkontrastive Betrachtungen und der sich daraus ergebende Transfer zwischen sprachlichen, aber auch zwischen lebensweltlichen und (inter-)kulturellen Kenntnissen und Fähigkeiten (vgl. ebd.) positive Effekte für das Lernen weiterer Sprachen haben. Wie Hülk und Nieweler (2000: 306) betonen, unterstreichen die LA-Ansätze die Bewusstmachung von sprachlichen Strukturen und kulturellen Inhalten, „weitgehend ohne diese Verfahren kognitionspsychologisch zu fundieren“ - im Gegensatz zum inferenziellen Modell von Meißner und Reinfried (1998), das durch kognitionspsychologische Überlegungen begründet ist und die Grundlage für das Entwickeln einer Interkomprehensionsdidaktik darstellt. Interkomprehension meint „die Fähigkeit, eine sprachliche Varietät oder eine Sprache zu verstehen, ohne sie in zielsprachlicher Umgebung auf natürliche Weise erworben oder mittels Fremdsprachenunterricht erlernt zu haben“ (Meißner et al. 2011: 81). Doyés (2005: 7) Definition ist weiter gefasst: „Intercomprehension is a form of communication in <?page no="36"?> which each person uses his or her own language and understands that of the other“. Die Interkomprehensionsdidaktik zielt folglich auf die Ausbildung rezeptiver Kompetenzen in einer wenig vertrauten Sprache. Es geht um Verstehensprozesse in einer kommunikativen Situation, die sowohl mündliche als auch schriftliche Äußerungen beinhalten kann (daher der weite Begriff communication). Die Interkomprehension legt Wert auf die Nutzung eigener sprachlicher Kenntnisse (für das Verstehen anderer Sprachen) und verzichtet auf eine gemeinsame Sprache (lingua franca) und auf die Produktion in der Zielsprache. Dabei ist zu betonen, dass bei interkomprehensiven Erschließungsprozessen verschiedene Kategorien von Wissen zum Einsatz kommen. Diese beinhalten neben grammatikalischem und lexikalischem Wissen auch Weltwissen, kulturelles Wissen, Wissen über die Hand‐ lungssituation sowie pragmatisches Wissen etc. (vgl. Doyé 2005: 14-17). In diesem Sinne darf Interkomprehension als Kommunikationsstrategie nicht rein sprachlich verstanden werden, denn „gerade kulturelles Schema- und Konzeptwissen stellt ein entscheidendes Instrument zur Erschließung unbekannter sprachlicher Inhalte, Elemente und Strukturen in der neuen Sprache dar“ (Hallet 2011: 223). Für Doyé verfolgt ein auf die Förderung von In‐ terkomprehension ausgerichteter Unterricht auch immer das kulturelle Lernen als Ziel: „Er nimmt von vorne herein mehrere Kulturen in den Blick. Er stellt Vergleiche zwischen ihnen an, reduziert Stereotypen, bemüht sich, Vorurteile abzubauen, und hilft, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen.“ (Doyé 2008: 147) Das Erschließen eines Textes in einer unbekannten Sprache ist daher nie nur ein bloßes Entziffern der sprachlichen Zeichen, es beinhaltet ebenfalls das Erschließen seines kulturellen Kontextes. Die Bewusstmachung des eigenen Vorwissens sollte daher auch unbedingt die Selbstreflexion der eigenen kulturellen Position beinhalten. Nach Meißner ist die Identifikation der Transferbasen (der Einheiten, die aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit der bereits bekannten Sprache auf die neue Sprache übertragbar sind) der Ausgangspunkt des Erschließungsprozesses. Dadurch werden Vergleichsprozesse initiiert, die nicht-bewusstes Vorwissen bewusstmachen und das „Vorwissen (re)organisier[en], um es dem Sprachen- und Sprachlernwachstum zugänglich zu machen“ (Meißner 2007: 84 f.). Das Ziel solcher Verfahren ist eine Automatisierung von Strategien, die für das effizientere Lernen einer neuen Fremdsprache gebraucht werden. Es zielt auf die Ausbildung einer multi language learning awareness (Sprachlernkompetenz, vgl. Morkötter 2005) ab und fördert die Lernerautonomie (vgl. Doyé 2010). Das Mehrsprachigkeitslernen ist auch im Sinne der Interkomprehension ein „Zwi‐ schen-Sprachen-Lernen“ (Christ 2000: 18), oder besser noch ein „Zwischen-Sprachen und Kulturen-Lernen“, d. h. es besteht in ständigem Vergleich und Vernetzung bereits bestehender Wissensbestände und neuer sprachlicher und kultureller Elemente sowie in der Fähigkeit, bereits vorhandenes deklaratives und prozedurales Wissen auf neue sprachliche und kulturelle Kontexte zu übertragen. Daher ist für Hallet (2011: 224) „[die] Entwicklung einer entsprechenden metakognitiven und metasprachlichen Transferfähigkeit […] als Hauptziel eines mehrsprachigkeitsorientierten Englischunterrichts“ zu sehen. 36 III Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik hin zu einer integrativen mehrsprachigen Bildung <?page no="37"?> 16 Im Folgenden mit „KMK“ abgekürzt. 2 Sprach(en)bewusstheit und Mehrsprachigkeit Bewusstes Sprachenlernen hat durch die Veröffentlichung der Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (vgl. Kultusministerkonferenz 16 2012) eine deutliche Aufwer‐ tung erhalten und ist somit zu einem zentralen Bildungsziel des Fremdsprachenunterrichts geworden. Versteht man Sprache, in Anlehnung an Blommaert (2010), als ein Repertoire an sprachlichen Ressourcen, dann gehören die Fähigkeiten zur selbstständigen Erweite‐ rung des Repertoires, zur angemessenen Auswahl der Ressourcen und zur Reflexion ihrer Wirkungsweisen zu einem wichtigen Aspekt der mehrsprachigen Kompetenz. Laut Knapp-Potthoff (1997: 11) sei der Begriff ‚Bewusstheit‘ oder awareness zwar schwer zu bestimmen, allerdings herrsche Konsens darüber, dass mit diesem Begriff „eine Reflexions‐ ebene bzw. eine Ebene der mentalen Verarbeitung angesprochen ist, die über rein mecha‐ nisches ,Verhalten‘ und die bloße ,Verwendung‘ von Sprache als Instrument hinausgeht“. Im Kontext des Mehrsprachigkeitslernens hebt dieser Begriff also hervor, dass mehrsprachige Kompetenz über die bloße Kenntnis verschiedener Sprachen und ihren kommunikativen Gebrauch hinausreicht und eine Reflexionsdimension über Sprache als System, als kom‐ munikatives Instrument und als kulturellen Bedeutungsträger miteinbezieht. In ihrer Dissertationsschrift zu Language Awareness und Mehrsprachigkeit definiert Morkötter Sprachbewusstheit als ein ganzheitliches Konzept, „ein individuelles dynami‐ sches Gefüge von Kognitionen, Einstellungen und Emotionen einer Person zu Sprache(n) und zum Lehren und Lernen von Sprachen“ (Morkötter 2005: 37, H. i. O.), das stets einem Restrukturierungsprozess unterworfen ist. Ähnlich argumentiert Gnutzmann (1997: 227 ff., 2010), der verschiedene, miteinander interagierende Bereiche der language awareness iden‐ tifiziert: Die affektive Dimension betrifft die emotionale Ebene des Sprachenlernens, d. h. die Einstellungen gegenüber Sprachen (Neugierde, Offenheit, Interesse), und zielt auf die Ausbildung positiver Einstellungen gegenüber der Zielsprache und deren SprecherInnen. Die soziale Dimension weist eine enge Verbindung zum interkulturellen Lernen auf und betrifft die Beziehung zwischen SprecherIn und HörerIn in einer mehrkulturellen Situation, Reflexionen zu sprachlichen Varietäten und zum Verhältnis von Sprache und sozialer Schicht oder Geschlecht. Für Morkötter (2005: 30) ist besonders der Aspekt der Akzeptanz und der Würdigung von Einzelsprachen im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeitsförde‐ rung wichtig. Insbesondere die Herkunftssprachen der SchülerInnen, die nach wie vor nicht als lernrelevante Fremdsprachen wahrgenommen werden (vgl. Abendroth-Timmer & Breidbach 2000: 11), sollten eine größere Akzeptanz im Schulleben erfahren und in den fremdsprachlichen Unterricht miteinbezogen werden. Die politische Dimension (die bereits genannte critical language awareness, vgl. auch Fairclough 1992) knüpft an die soziale Di‐ mension an und meint einen kritischen Umgang mit Texten und dabei insbesondere mit dem Verhältnis von Sprache und Macht sowie mit dem Manipulationspotenzial von Sprache. Die kognitive Dimension bezieht sich auf die „geistige Durchdringung von Sprache und ihren Gebrauch“ (Gnutzmann 2010: 117) und beinhaltet die Fähigkeit, sprachstrukturelle Regularitäten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Sprachen zu erarbeiten und zu entdecken. Dabei solle diese Dimension nicht im Widerspruch zu den Zielen 2 Sprach(en)bewusstheit und Mehrsprachigkeit 37 <?page no="38"?> eines kommunikativ orientierten Fremdsprachenunterrichts gesehen werden, da sich eine mangelnde formale Beherrschung der Sprache negativ auf die Kommunikationsfähigkeit auswirken könnte (vgl. Morkötter 2005: 31). Die Performanzebene der language awareness wird als problematisch angesehen, weil bisher noch unklar ist, inwiefern das sprachliche Wissen förderlich für die konkrete Realisierung eines kommunikativen Ziels, also für die konkrete sprachliche Performanz, sein kann. Morkötter (2005: 37) unternimmt in ihrer Untersuchung eine wichtige Differenzierung zwischen Sprachbewusstheit als Mittel des Sprachenlernens, „im Sinne einer Nutzung expliziten Wissens für Sprachgebrauch und -erwerb“, und als Ziel an sich, beispielsweise im Sinne einer Bewusstheit über sprachliche Vielfalt oder einer Toleranz gegenüber anderen sprachlichen Varietäten. Eine vergleichbare Unterscheidung trifft Knapp-Potthoff (1997: 14) und unterscheidet zwischen einer instrumentellen und einer emanzipatorischen Funktion der LA. LA kann im Sinne der ersten Funktion als ein Hilfsmittel des Sprachenlernens aufgefasst werden, das zu einer optimalen Verarbeitung des sprachlichen Inputs führt oder zur Ökonomisierung des Sprachenlernens beiträgt. Die emanzipatorische Funktion von LA hat zum Ziel, Lernende dazu zu befähigen, mehr Kontrolle über Sprache als Instrument zu erlangen und deren Gebrauch gezielt zu steuern und zu reflektieren. Dies schließt die Entwicklung von Lernautonomie, das Erkennen von Manipulationspotenzial von Sprache, aber auch den kreativen Umgang mit Sprache mit ein (ebd.: 15) und ist daher an die politische und an die soziale Dimension von LA angelehnt. Dabei scheint bisher insbesondere die instrumentelle Dimension (Sprachbewusstheit als Hilfsmittel zum Sprachenlernen) im Zentrum der fremdsprachendidaktischen und bildungspolitischen Diskussion zu stehen. So wird die Sprachbewusstheit in den Bildungs‐ standards mit der folgenden Formulierung umschrieben: „Die Schülerinnen und Schüler können ihre Einsichten in Struktur und Gebrauch der Zielsprache und anderer Sprachen nutzen, um mündliche und schriftliche Kommunikationsprozesse sicher zu bewältigen“ (KMK 2012: 21). Das Erkennen und Beschreiben von sprachlichen Regelmäßigkeiten, Gemeinsamkeiten und Unterschieden, kultureller Prägung von Sprache etc. soll also dazu führen, den eigenen Sprachgebrauch stärker zu steuern und das zielsprachliche System bewusst und reflektiert zu nutzen. Dabei ist stets „das Vergleichen sprachlicher Schemata im Spiel“ (Vollmer et al. 2017: 205), was eine wichtige Grundlage für das transferbasierte, sprachenvernetzende Lernen darstellt. 2.1 Die Gefahr eines verkürzten Verständnisses von bewusstem Sprachenlernen Der Interkomprehensionsansatz zielt nicht ausschließlich - aber überwiegend - auf die Förderung solcher Fähigkeiten, die der kognitiven Domäne und der instrumentellen Funktion der Sprachbewusstheit zuzuordnen sind (vgl. Knapp-Potthoff 1997). In der Tat scheinen die soziale und vor allem die politische Dimension der Sprachbewusstheit keine große Rolle in der Rezeption des Konzeptes zu spielen, obwohl die ursprüngliche Konzep‐ tion von language awareness nach Hawkins durchaus als ein emanzipatorischer Ansatz gedacht wurde. Gnutzmann (1997: 234) weist darauf hin, dass die politische Dimension ursprünglich nicht zur LA-Konzeption gehörte und ihre Relevanz für das fremdsprachliche 38 III Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik hin zu einer integrativen mehrsprachigen Bildung <?page no="39"?> Lernen, insbesondere im Anfangsunterricht, als weniger bedeutsam angesehen wurde (vgl. Gnutzmann 2010: 117). Auch die Kompetenzbeschreibungen der Sprachbewusstheit in den Bildungsstandards konzentrieren sich primär auf die sprachstrukturelle Ebene. Zwar ist die Rede vom Erkennen, Beschreiben und Bewerten von über Sprache gesteuerten Beeinflussungsstrategien (vgl. KMK 2012: 24), aber dies ist der einzige Punkt, der die politische Dimension betrifft. Das kritische Reflexionsvermögen scheint daher auch in der Konzeption der Bildungsstandards eine untergeordnete Rolle zu spielen. Durch die einseitige Verarbeitung von Sprachbewusstheit (vgl. auch Plikat 2017: 248-262) verliere das Konzept seine emanzipatorische Dimension, die sich in „[der] Befähigung zu kritischem Denken, zu kritischer Sprachanalyse und kritischem Sprachgebrauch und damit zu einer Sprach- und Gesellschaftskritik“ (Vollmer et al. 2017: 203) widerspiegelt. Eine zu einseitige Fokussierung auf die kognitive Dimension birgt die Gefahr - von Küster (2012: 95) als all‐ gemeines Risiko einer zu starken Betonung der Sprach(lern)bewusstheit formuliert -, „das Fremdsprachenlernen als primär mentalen und zugleich linearen Prozess misszuverstehen“. Die Erkenntnisse sozio-kultureller Lerntheorien dürfen laut Küster (ebd.) nicht vernach‐ lässigt werden, denn das Lernen müsse als „ein in interaktiven Kontexten eingebettetes und komplex-interdependentes Geschehen“ (ebd.: 96) verstanden werden. Auch für Hallet ist ein rein sprachbezogenes Wissen „ohne diskursiv-interaktionale Kompetenz […] totes Wissen“ (Hallet 2012: 54 ff.). Gerade in mehrsprachigen Kommunikationssituationen, wo kulturelle Bedeutungen, Widersprüche, Werte etc. verhandelt werden, ist eine auf sozialem und kulturellem Wissen beruhende kritische Grundhaltung für eine gelungene Kommuni‐ kation unabdingbar. Dies betonen auch Ansätze, die der interkulturellen Dimension des Language-Awareness-Ansatzes eine besondere Bedeutung beimessen. So ist für Knapp (2013: 69) (intercultural) communicative awareness „als eine ‚Hab-Acht‘-Haltung bzw. eine ‚Pass immer auf, was in der Interaktion vor sich geht und ob Missverständnisse durch kulturelle Divergenz aufgetreten sein könnten‘-Disposition“ zu verstehen. Auch für Decke-Cornill und Küster (2015: 205) hat awareness mit einer „fragenden Grundhaltung“ zu tun. Diese Haltung könne aber nur dann entwickelt werden, wenn Lehrkräfte das Prinzip der Reflexivität im laufenden Unterrichtsgeschehen immer wieder an geeigneten Stellen im Unterrichtsgespräch zur Geltung bringen, indem sie die Aufmerksamkeit der Lernenden unaufdringlich auf die Metaebene lenken. Erst durch die langfristig angelegten Wiederholungen eines solchen Perspektivenwechsels ist zu erwarten, dass sich auf Seiten der Lernenden eine reflexive Haltung ausbildet (Küster 2012: 94). Bewusstes Sprachenlernen hat daher grundsätzlich mit einer Fähigkeit zur Dezentrierung (Perspektivenwechsel) zu tun, die nur in Interaktionssituationen gefördert werden kann. Damit ist die Fähigkeit gemeint, die kulturellen Positionen der anderen zu durchblicken, mit der eigenen zu vergleichen und sich in diese hineinzuversetzen (hier ist durchaus nicht nur die Fähigkeit zur Empathie gemeint, sondern auch ein kognitives Erfassen der ‚fremden Perspektive‘). Eine ‚fragende‘ oder kritische Grundhaltung kann sich auch darin zeigen, dass die eigene und die andere kulturelle Positionierung (die sich im Text oder in einer direkten Kommunikationssituation manifestiert) kritisch hinterfragt werden, so z. B. im Hinblick auf ihre sprachliche Konstruiertheit. Damit ist ein Nachdenken darüber gemeint, wie Sprachverwendung oder auch die Verwendung nicht-sprachlicher 2 Sprach(en)bewusstheit und Mehrsprachigkeit 39 <?page no="40"?> Ressourcen eine bestimmte kulturelle Positionierung bewirken, bestimmtes kulturelles Wissen evozieren oder aber auch ausschließen können. An dieser Stelle treffen sich Kulturen- und Sprachenbewusstheit. Diese Fähigkeiten sind selbstverständlich generell für das (Fremd-)Sprachenlernen wichtig und nicht unbedingt nur dem Mehrsprachigkeitslernen zuzuordnen, aber sie sind für mehrsprachige Interaktionen von besonderer Bedeutung, weil in ihnen die Anzahl der möglichen kulturellen Positionierungen und der dafür zur Verfügung stehenden semiotischen Ressourcen steigt und damit auch Aushandlungssituationen komplexer, ambivalenter und konfliktreicher werden (vgl. Kramsch 2009: 21). In diesem Sinne besteht Mehrsprachigkeitslernen nicht nur in der Übertragung sprachlicher Ressourcen auf Kon‐ texte anderer Sprachen (Transferfähigkeit), sondern auch im Transfer desjenigen Wissens und Könnens, das eher in Verbindung mit dem kulturellen Lernen gebracht wird. Dies kann Folgendes beinhalten: Wissen über kulturelle Besonderheiten, Besonderheiten mehrspra‐ chiger und mehrkultureller Kommunikation, Erfahrungen im Umgang mit Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit, sprachliche Strategien, um diese Konfliktsituationen zu bewältigen (z. B. code-switching), die Fähigkeit, den Zusammenhang zwischen Sprache und kultureller Zugehörigkeit zu durchblicken etc. Erst durch das Zusammendenken des sprach- und kulturbezogenen Wissens und Könnens kann die emanzipatorische Definition von Sprach‐ bewusstheit entwickelt werden, die van Lier (1995: IX) folgendermaßen beschreibt: Language Awareness can be defined as an understanding of the human faculty of language and its role in thinking, learning and social life. It includes awareness of power and control through language, and the intricate relationship between language and culture. Anknüpfend an van Liers Konzeption der language awareness widmet sich der nächste Abschnitt der Frage, wie das Mehrsprachigkeitslernen als bewusstes und gleichzeitig als interaktionsbasiertes sprachliches und kulturelles Lernen aufgefasst werden kann. Dabei wird davon ausgegangen, dass kritische Reflexionsprozesse auf sprachliche Interaktionen vorbereiten und gleichzeitig nur durch diese überhaupt angebahnt werden können. 2.2 Sprachbewusstheit aus der Sicht soziokulturell-ökologischer Ansätze Ein Ansatz, der das sprachliche Lernen als einen essenziell dialogischen sowie auf Interak‐ tion basierenden Prozess versteht und dabei auch die Rolle der bewussten Wahrnehmung des Interaktionskontextes betont, ist der soziokulturell-ökologische Ansatz, der maßgeblich durch van Lier und Kramsch in den US-amerikanischen applied linguistics geprägt wurde. Hallidays (1978) semiotischer Ansatz geht davon aus, dass Sprache kein geschlossenes System von Bedeutungen ist, sondern „a social semiotic system“ oder, in Worten von van Lier (2004: 108), „an emergent set of resources for enacting linguistic activities“. Bedeutung ist in diesem Sinne relational, sie entsteht in der sozialen Interaktion und entspringt den vielfältigen Beziehungen zwischen den Ressourcen eines Kontextes. Die zentrale Frage ist daher: Wie befähige ich Lernende dazu, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen Bedeutungen hervorzubringen? Sprachenlernen hat hier also mit einer Befä‐ higung zu meaning-making-Prozessen zu tun. Die ökologischen Ansätze untersuchen die Verbindung zwischen Bedeutungs- und Interpretationsprozessen und sozialen Prozessen 40 III Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik hin zu einer integrativen mehrsprachigen Bildung <?page no="41"?> 17 Hier ist die Nähe zu Bachtins Konzept der ‚Dialogizität‘ zu sehen, das davon ausgeht, dass wir gar nicht Sprache gebrauchen können, ohne uns auf die anderen Aussagen bzw. AkteurInnen zu beziehen: „An utterance does not merely refer to its object, … but it expresses its subject in addition […]. The utterance enters in relation to past utterances which had the same object, and with those of the future, which it foresees as answers. Finally the utterance is always addressed to someone.“ (van Lier 2004: 108) und betrachten Sprache daher stets bezogen auf den sozioökonomischen Kontext, in dem sie verwendet wird (vgl. Kearney 2016: 58): We have to proceed from the outside inward, interpreting language by reference to its place in the social process. This is not the same thing as taking an isolated sentence and planting it out in some hothouse that we call a social context. It involves the difficult task of focusing attention simultaneously on the actual and the potential, interpreting both discourse and the linguistic system that lies behind it in terms of the infinitely complex network of meaning potential that is what we call the culture (Halliday 1978: 4-f.). Sprachgebrauch kann daher nie getrennt vom sozialen Kontext gesehen werden, denn der soziale Kontext bestimmt, welche Bedeutungen möglich sind (meaning potential). In Anlehnung daran spricht van Lier (2004) von affordances („relationships of possibilities“), die sich im Zusammenspiel zwischen dem Kontext und den SprecherInnen ergeben, sodass Bedeutungsstiftung nur in einer aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt (engagement) passieren kann. Um das semiotische Potenzial der Umgebung zu nutzen (semiotic budget), müssen Lernende es wahrnehmen und in Relation zu den eigenen Ressourcen interpretieren. Sprachliches Handeln hat nie nur mit der Anpassung an den Kontext zu tun. Es ist ein dialogischer Prozess, in welchem die Lernenden Beziehungen zu anderen AkteurInnen bzw. Ressourcen des Kontextes aufbauen. Für van Lier (ebd.: 108) ist der Gebrauch von Sprache „a form of action, and action is a form of relating to the world“ 17 . Die Wahrnehmung von Sprachen als meaning-making resources und die Entwicklung einer Bewusstheit darüber, wie und mit welchen Implikationen sie genutzt werden können, ist aus der Sicht der ökologischen Theorien die Voraussetzung für das eigenverantwortliche sprachliche Handeln: [I]n order to potentially adapt and become increasingly adept with and able to make agentive choices about use of resources in new contexts, a learner needs first to be able to become aware of, notice and perceive from unfamiliar perspectives (Kearney 2016: 33). Diese Perspektive ist insofern für das Mehrsprachigkeitslernen relevant, als sie die Entwick‐ lung einer Sprach(en)bewusstheit im Zusammenhang mit kulturellen und sprachlichen Aushandlungsprozessen betrachtet und sie als Voraussetzung für die eigenständige Teil‐ habe an solchen Prozessen ansieht. Sprachbewusstheit wird hier nicht mit einem mentalen Sprachverarbeitungsprozess assoziiert, sondern hat für van Lier eine emanzipatorische Funktion: „Language awareness is its own reward. Since language makes us into whatever we are, language awareness enriches all our experiences and gives us a sense of being more in control of our destiny, and to perceive the things that go on around us with greater clarity.“ (van Lier 1995: xii) Sprachbewusstheit befähigt also zum selbstbestimmten sprachlichen Handeln und ermöglicht Kontrolle über Sprache als Instrument des Handelns. 2 Sprach(en)bewusstheit und Mehrsprachigkeit 41 <?page no="42"?> Damit verschiebt sich die Aufmerksamkeit von der referentiellen Funktion von Sprachen (und sprachlicher Form) hin zu einer stärkeren Beachtung ihrer symbolischen Verwendung. Wird ein sprachliches Element weniger als eine bedeutungstragende Einheit und mehr als eine bedeutungserzeugende Ressource betrachtet, sollten wir uns neben der Frage: Wie können SchülerInnen die Bedeutung dieses Wortes lernen? auch die Fragen stellen: Wie können SchülerInnen entdecken, welche Wirkung dieses Wort erzeugen kann bzw. was Sprache tun kann? oder: Wie können Wörter den Kontext, in dem sie ausgesprochen werden, verändern? Die Fähigkeit der Lernenden, diese symbolische, über die rein deno‐ tative Funktion hinausgehende Dimension von Sprache zu durchblicken, konzeptualisiert Kramsch (2009) als symbolic competence. 3 Symbolic competence und Mehrsprachigkeit Das Konzept der symbolic competence ist für Kramsch (2011) eine Erweiterung der inter‐ kulturellen Kompetenz. Es ist eine Kompetenz, die den Anspruch hat, solche Fähigkeiten bei Lernenden zu fördern, die heutige - durch zunehmende Mehrsprachigkeit gekennzeichnete - kommunikative Situationen erfordern. Der Umgang mit Mehrkulturalität und Mehrspra‐ chigkeit erfordere nicht nur die Entwicklung von Empathie und Toleranz gegenüber dem ‚Fremden‘, sondern auch die Fähigkeit, zwischen multiplen, komplexen und sich ständig wandelnden Subjektpositionen zu operieren (vgl. ebd.: 356). Zu den Aufgaben des Spra‐ chenunterrichts gehört daher auch eine Sensibilisierung der SchülerInnen für politische, kulturelle oder historische Implikationen, die ein bestimmter Sprachgebrauch haben kann. Selbstverständlich ist die Fähigkeit, sprachliche Wirkungsweisen in solchen Aushandlungs‐ prozessen zu durchschauen, auch in nicht-mehrsprachigen Kontexten wichtig, aber mit der Präsenz mehrerer Sprachen (und Kulturen) werden die semiotischen Ressourcen vielfältiger und die Aushandlungsprozesse komplexer: „[M]ultilingual and multicultural situations increase exponentially the semiotic resources available - as well as the risks of miscommunication.“ (Kramsch 2009: 21) Ähnlich wie van Lier und Blommaert, so vertritt auch Kramsch (2009, 2020) die Auffas‐ sung, dass Sprache (und andere semiotische Ressourcen) nicht nur eine rein repräsentative Funktion hat, sondern dass durch ihren Gebrauch symbolische Handlungen initiiert werden und symbolische Macht ausgeübt wird: Words uttered are both symbols, whose meaning can be found in the textbook or the dictionary, and ciphers for other meanings: performatives, rituals, myths that index larger, factual or imagined realities and that are inserted into a social context in order to act upon that context by the sheer power of their enunciation (Kramsch 2009: 12). Das Adjektiv ,symbolisch‘ hat für Kramsch (2011) dreierlei Bedeutungen: Es bezieht sich einmal auf die Repräsentationsfunktion von Sprache (kulturelle Bedeutungen werden mit‐ tels Sprache zirkuliert), aber auch auf Sprache als Handlung, die eine bestimmte Wirkung auf den sozialen Kontext hat, und schließlich auf die symbolische Macht, die durch Sprache ausgeübt wird und dadurch entsteht, dass sprachlich geformte Ordnungsstrukturen einer Gesellschaft Beziehungen untereinander eingehen (vgl. ebd.: 357). Diese drei Dimensionen 42 III Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik hin zu einer integrativen mehrsprachigen Bildung <?page no="43"?> von Sprache zu erkennen, zu analysieren und zu hinterfragen kann als das Kernstück der symbolischen Kompetenz aufgefasst werden. In diesem Sinne rückt die symbolische Kompetenz in die Nähe einer kritischen language awareness und betont ihre politische und soziale Dimension. Sie geht aber auch darüber hinaus. Sie umfasst neben der Reflexion darüber, wie Sprache zu Bedeutungserzeugung einge‐ setzt wird, auch die Fähigkeit, die semiotischen Ressourcen zu nutzen, um einen Einfluss auf die gesellschaftlichen Umstände zu nehmen. Sie wird definiert als: „an ability to draw on the semiotic diversity afforded by multiple languages to reframe ways of seeing familiar events, create alternative realities, and find an appropriate language position ‚between languages‘“ (Kramsch 2009: 201). Gerade mehrsprachige Lernende verfügen über eine Reihe unterschiedlicher Ressourcen (die häufig widersprüchlich sein können) und sollten lernen, sich zwischen ihnen zu positionieren und somit diese Widersprüche für sich nützlich zu machen (reframing). Symbolic competence ist daher ein emanzipatorisches und politisches Konzept, das darauf abzielt, mehrsprachige Individuen dazu zu befähigen, ihre eigene Position im gesellschaftlichen Zusammenleben zu finden: „Symbolic competence could thus be defined as the ability to shape the multilingual game in which one invests“ (Kramsch & Whiteside 2008: 667). Wie soll symbolic competence gefördert werden? Ein auf die Förderung der symbolic competence ausgerichteter Fremdsprachenunterricht verfolgt das Ziel, den Lernenden möglichst viel Gelegenheit zum ,Ausprobieren‘ verschie‐ dener Subjektpositionen zu geben, die je nach der Auswahl der Sprache, dem Thema des Gesprächs oder den beteiligten AkteurInnen sehr unterschiedlich ausfallen können. Dabei geht Kramsch von der Prämisse aus, dass das ,Subjekt‘ als symbolische Einheit durch solche symbolischen Systeme wie Sprache konstituiert wird (vgl. Kramsch 2009: 17 f.). Das Spra‐ chenlernen wird verstanden „as the construction of imagined identities that are every bit as real as those imposed by society“ (ebd.: 17). Die Voraussetzung für die Entwicklung einer symbolischen Kompetenz ist die Auseinandersetzung mit den subjektiven Bedeutungen, die wir einer Sprache bzw. dem Sprachenlernen zuschreiben: „our ability to recognize and accept ourselves as subjects, with emotions, feelings, memories, and desires, is the prerequisite to developing our sense of self “ (ebd.: 19). Laut Kramsch sollte der Unterricht genügend Raum für die Beschäftigung der Lernenden mit der subjektiven Relevanz der Sprachen geben, d. h. mit den Fragen, welche Emotionen, Erinnerungen, Gefühle oder Erfahrungen mit eigenen Sprachen assoziiert werden. Gerade Fremdsprachenlerner sind im Anfangsstadium des Lernprozesses sensibler für die sprachliche Form. Die Schreibweise der Wörter wird aufmerksamer wahrgenommen, aber auch die Klänge oder die Intonation einer Sprache werden mit Bedeutung versehen: Eine Sprache kann für sie romantisch, hart oder melodisch klingen. Diese anfängliche Aufmerksamkeit für die sprachliche Form und den kreativen Umgang mit ihr (durchaus auch im Sinne eines ‚Mit-Sprache(n)-Spielens‘) sollte der Unterricht weiterentwickeln, damit die Lernenden ihre Sensibilität für die symbolische Dimension der Sprache nicht verlieren. Dies ist für sprachliche AnfängerInnen deutlich leichter, denn „[t]he relation between signs and their objects is not (yet) perceived as natural and necessary“ (ebd.: 13). 3 Symbolic competence und Mehrsprachigkeit 43 <?page no="44"?> Die symbolic competence beinhaltet folglich eine Reflexion der eigenen mehrsprachigen Subjektivität, die stets vor der Folie des mehrsprachigen ,Anderen‘ entwickelt wird: Our subjectivity is constituted and shaped in interaction with our environment through the discourse of others - a subjectivity-in-process. […] We only learn who we are through the mirror of others, and, in turn, we only understand others by understanding ourselves as Other (ebd.: 18). Symbolic competence kann daher dadurch angebahnt werden, dass wir Lernende ermutigen, mehrsprachige Begegnungssituationen, die sie aus ihrer eigenen Lebenswelt kennen, aus unbekannten, neuen oder fremden Perspektiven wahrzunehmen (vgl. Kearney 2016: 33). Das Kernstück der symbolic competence, wie auch schon bei soziokulturell-ökologischen Ansätzen, ist der Gedanke, dass das Mehrsprachigkeitslernen in einem komplexen Zu‐ sammenspiel von Bedeutungen in sozialen, kulturellen und historischen Kontexten über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg passiert und dass es somit nur in Interaktion mit und durch Bezug auf andere zu fördern ist. Es umfasst eine Reihe von Fähigkeiten, die die Lernenden befähigen, mit den eigenen Ressourcen Bedeutung zu stiften. Voraussetzung dafür ist, dass sie lernen, ihre eigene mehrsprachige Subjektivität vor dem Hintergrund anderer (potenziell) möglicher Subjektpositionierungen zu betrachten. Die Rolle der Emotionen Wie aus den bisherigen Ausführungen zur symbolischen Kompetenz deutlich wurde, spielt bei Kramschs Überlegungen, die an ökologische Ansätze (language ecology) angelehnt sind, eine ganzheitliche Sicht auf das Subjekt, das Sprachen und Sprechen körperlich erfährt, erlebt und erinnert, eine wichtige Rolle. In neueren fachdidaktischen Arbeiten wird bemängelt, dass die Beteiligung von Emotionen beim Fremdsprachenlernen in der fremdsprachendidaktischen Forschung lange zugunsten kognitiver Lernfaktoren vernach‐ lässigt wurde (vgl. Burwitz-Melzer et al. 2020). Dies gilt in besonderer Weise für die Mehrsprachigkeitsdidaktik, die vornehmlich die leichter zu operationalisierenden kogni‐ tiven und metakognitiven Fähigkeiten fokussiert hat und die Rolle von Emotionen lediglich im Bereich der Einstellungen und Haltungen berücksichtigt (z. B. bei Deskriptoren, die Interesse/ Neugierde am Sprachlernen oder die Bereitschaft zur Flexibilität/ Anpassung betreffen, vgl. Meißner 2013a: 39-49). Die Förderung solcher Einstellungen ist sicherlich wichtig, gerade auch im Hinblick auf das Ziel, Lernende dazu zu befähigen, das gesell‐ schaftliche Leben als world citizens oder global citizens zu gestalten (vgl. Freitag-Hild 2019: 56 f.), trotzdem bleibt die Frage, wie Sprechen als „verkörperlichtes Tun“ (Schädlich 2020: 6) in mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansätzen Berücksichtigung finden kann. Im Rahmen einer Umfrage der Studierenden an der UC Berkeley stellt Kramsch (2009: 60) fest, dass die Studierenden das Sprachenlernen als eine leibliche Erfahrung beschreiben: „the foreign language is first and foremost experienced physically, linguistically, emotionally, artistically“. Für das Mehrsprachigkeitslernen heißt dies, dass dem Erleben und Erfahren von Sprache(n) eine größere Bedeutung beigemessen werden sollte. Es sollte also ermöglicht werden, dass sich Lernende „selbst und durch die Augen anderer als sprachlich Interagie‐ rende wahrnehmen“ („Spracherleben“, vgl. Busch 2013: 18). Die Identifikation mit dem Anderen, die, wie oben bereits beschrieben, identitätsstiftend wirkt, betrachtet Kramsch 44 III Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik hin zu einer integrativen mehrsprachigen Bildung <?page no="45"?> (2009, 2006) im Kontext des Konzeptes desire (Begehren), das von Kristeva aus semiotischer und psychoanalytischer Perspektive entwickelt wurde. Dabei ist für Kramsch (2006b: 102) Begehren nicht mit Emotion gleichzusetzen: [D]esire is close to ‘affect’, but in a deeper sense than just touchy-feely emotion. Because it is grounded in perception, desire is indissociable from aesthetic attention to and identification with symbolic form. It is triggered by learners’ perception and use of new verbal sounds and shapes, and the subjective meanings they attach to them. Für das Mehrsprachigkeitslernen ergibt sich daher die Notwendigkeit, die Lernenden für die Wahrnehmung ästhetischer Formen, für die lautliche Verwirklichung von Sprache(n) und für die unterschiedlichen Erfahrungen und Erinnerungen, die sie mit ihnen verbinden, zu sensibilisieren. Mehrsprachigkeit muss also über einen ästhetischen Sprachgebrauch erfahrbar gemacht werden, womit bereits deutlich wird, warum literarische Texte bei der Förderung des Mehrsprachigkeitslernens eine wichtige Rolle spielen können. 3.1 Symbolic competence und literarische Texte Für Kramsch (2009) hat die symbolische Kompetenz neben einer kritisch-reflexiven (ebd.: 192-195) auch eine ästhetisch-kreative Dimension (ebd.: 195-199). Die Imaginationskraft und die Fähigkeit, spielerisch und kreativ mit Sprachen umzugehen, seien wichtige Voraus‐ setzungen dafür, symbolische Kompetenz zu entwickeln: „Indeed, it is through the aesthetic experience of writing and other forms of artistic expression that they can act out the social subjects they might want to become.“ (ebd.: 195) Ein künstlerisch-kreativer Umgang mit Sprachen hat also das Potenzial, Lernende in die Gestaltung eigener mehrsprachiger Iden‐ titäten zu involvieren. Dies kann in Form von sprachlichen oder nicht-sprachlichen Dar‐ stellungen geschehen - in Form von language memoires oder kreativen Schreibprodukten, die in Anlehnung an literarische Modelle mehrsprachiger AutorInnen entstehen. Gerade in der Arbeit mit literarischen Texten sieht Kramsch (2006a: 251) eine wichtige Möglichkeit, die Auseinandersetzung mit Herausforderungen mehrsprachiger Gesellschaften und damit die Förderung der symbolischen Kompetenz anzubahnen: Symbolic competence has to be nourished by a literary imagination at all levels of the language curriculum. For it is through literature that learners can communicate not only with living others, but also with imagined others and with the other selves they might want to become. Through literature, they can learn the full meaning making potential of language. Literarische Texte geben nicht nur Einblicke in wichtige zielkulturelle Diskurse, sie bieten auch eine Folie, vor der kulturelle Bedeutungen über zeitliche, historische und sprachliche Grenzen hinaus verhandelt werden können. Die vorliegende Studie geht von der Annahme aus, dass gerade literarische Texte mit mehrsprachiger und mehrkultureller Thematik einen Einblick in die Identitäts- und Handlungsentwürfe anderer mehrsprachiger Menschen bieten können, die für SchülerInnen der Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit eigener Mehrsprachigkeit sein können. Indem sie die fiktiv entworfenen Identitätsbilder auf ihre eigene Lebenswelt beziehen, können Lernende die Vorstellung vom eigenen Selbst reformulieren und mit neuen Bedeutungen versehen. Literarische Texte ermöglichen, 3 Symbolic competence und Mehrsprachigkeit 45 <?page no="46"?> gemäß van Lier, neue affordances, d. h. neue Möglichkeiten zur Bedeutungserzeugung und zur imaginativen Weiterentwicklung des eigenen mehrsprachigen Selbst. Insbesondere drei Aspekte verleihen literarischen Texten große Bedeutung für die Förderung der symbolischen Kompetenz (vgl. Kramsch 2006a: 251). Mehrsprachige Begeg‐ nungssituationen werden in der Literatur in all ihrer Komplexität dargestellt, sodass sprachliche Kommunikation als Aushandlung von Bedeutung, von Identitäten und von Werten dargestellt wird und nicht lediglich als zweckorientierter Informationsaustausch (production of complexity). Zum anderen lösen literarische Texte Widersprüche nicht auf (sondern verstärken sie) und machen deshalb deutlich, dass verschiedene (oft kaum mitein‐ ander zu vereinbarende) Perspektiven auf ein gesellschaftliches Phänomen existieren und diese auch sprachlich realisiert werden können (tolerance of ambiguity). Dies steht im engen Zusammenhang mit dem dritten Aspekt - der Möglichkeit, durch literarische Texte das bedeutungsstiftende Potenzial der sprachlichen Form zu durchblicken (form as meaning). Hier zeigt sich ein besonderes Potenzial mehrsprachiger literarischer Texte, die sich des literarischen Sprachenwechsels bedienen, um bestimmte ästhetische Effekte zu erzielen, aber auch, um soziale Machtverhältnisse durch die Nutzung der Minderheitensprache herauszufordern. Symbolic competence und der ästhetische Umgang mit Sprache Im Sinne eines ganzheitlichen Lernens soll die sprachliche Form aber nicht nur kognitiv erfasst, sondern auch emotional erlebt werden. Die Ästhetik des mehrsprachigen Sprach‐ gebrauchs kann SchülerInnen ermutigen, sprachliche Form aus einer ,verfremdeten‘ Per‐ spektive zu sehen, sie mit neuen Bedeutungen zu versehen und in ein kreatives Spiel mit eigenen Sprachen zu treten. Aus solchen (Neu-)Interpretationen sprachlicher Zeichen und ihren multiplen Relationen zu anderen Zeichen schöpfen Lernende symbolic power (vgl. Kramsch 2006a: 252). Sicherlich können die hier geschilderten Prozesse ebenfalls durch kritische Reflexionsfähigkeit geschult werden, aber nur kreativ-narrative Verfahren eröffnen Wege zum produktiven Gebrauch eigener Ressourcen, um die entdeckten Wider‐ sprüche zu erkennen, umzudeuten und zu versöhnen: „[W]hile critical thought points to these paradoxes, the narrative/ creative experience reconciles them by inserting a space that opens up new possibilities or, at least, the hope of a better future.“ (Kramsch 2009: 197, H.-i.-O.) Kramschs Ausführungen zu symbolic competence sind für die Konzeptualisierung des Mehrsprachigkeitslernens deshalb so wertvoll, weil sie aufzeigen, wie die (kritische) Reflexionsfähigkeit über Sprache(n) und das in der deutschsprachigen Mehrsprachigkeits‐ didaktik thematisierte bewusste Sprachenlernen mit einem ganzheitlichen, ästhetisch-krea‐ tiven Zugang zu Mehrsprachigkeit kombiniert werden sollten. Sprache ist ein untrennbarer Teil des eigenen Selbst, sodass das Mehrsprachigkeitslernen auch Raum bieten muss für die Auseinandersetzung mit den subjektiven Bedeutungen, die Sprachen zugeschrieben werden, mit der ästhetischen Dimension von Sprache, für einen spielerischen Umgang mit Sprachen, für sprachliche Neukreationen sowie für kreatives Schreiben in verschiedenen Sprachen. Es geht dabei um alle Aktivitäten, die für die Lernenden einen Raum bieten, mehrsprachige Ressourcen kreativ zu nutzen, um die eigene soziale Realität neu zu interpretieren und sich selbst als mehrsprachiges Subjekt zu erleben. Solchen Aktivitäten 46 III Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik hin zu einer integrativen mehrsprachigen Bildung <?page no="47"?> ist in der deutschsprachigen Mehrsprachigkeitsdidaktik, die eher auf die Ausbildung kognitiver Transferprozesse und kritischer Reflexionsfähigkeit ausgerichtet ist, bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. 3.2 Von symbolic competence zu mehrsprachiger Diskursfähigkeit Kramsch (2009: 199 f.) betont, symbolic competence sei eine Erweiterung der von ihr im Jahr 1993 vorgeschlagenen Metapher des third place, die sie in Anlehnung an das Konzept third space (vgl. Bhabha 1994) entwirft. Bhabha (ebd.) entwirft mit dieser Metapher die Vorstellung von einem Begegnungs- und Austauschraum an der Grenze zwischen Kulturen, in dem kulturelle Bedeutungen und Differenzen artikuliert, verhandelt und übersetzt werden und der dadurch durch Prozesse stetiger kultureller Hybridisierung gekennzeichnet ist. Die Metapher war auch in der deutschsprachigen Fremdsprachendidaktik sehr ein‐ flussreich und hat die Förderung des kulturellen Lernens entscheidend beeinflusst (vgl. auch Stamenković 2018). Auch wenn der Begriff third place ein „nichtessentialistisches und auf Kulturenvermischung ausgerichtetes Kulturverständnis“ (Bachmann-Medick 1996: 13) durchgesetzt hat, impliziert er eher einen statischen Ort der Kulturverhandlung. Die Anforderungen an heutige (fremdsprachliche) AkteurInnen haben sich verändert, sodass eine so statische Metapher dem heute notwendigen ständigen Wechsel zwischen Sprachen nicht gerecht zu werden vermag. Sich an Kulturen zu beteiligen heiße heutzutage, zwischen ihnen operieren zu können und kulturelle Bedeutungen miteinander (und gegeneinander) denken zu können. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit, Kultur zunehmend als ‚Diskurs‘ zu betrachten (vgl. Kramsch 1998). Die Annahme, dass kulturelle Bedeutungen stets dialogisch hervorgebracht werden, von welcher sowohl van Lier als auch Kramsch ausgehen, impliziert ein diskursives Verständnis von Kultur, sodass Kultur auch als diskursive Praxis gedeutet werden kann. Dies bedeutet, so Küster (2005: 61), dass „ein Sprechen über Kultur selbst als kulturelle Aktivität zu verstehen ist“, womit „die Rede über Kultur […] zur Teilhabe an der Kultur“ wird. Für die Fremdsprachendidaktik ergibt sich daraus die Notwendigkeit, sprachliches und kulturelles Lernen zusammen zu denken und stets mitzureflektieren, wie sie Lernende zur Teilhabe an mehrsprachigen und mehrkulturellen Gesellschaften befähigen können. 4 Mehrsprachige Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht Ein Konzept, das das (mehr-)sprachliche und (mehr-)kulturelle Lernen zusammen denkt und ähnlich wie Kramsch und van Lier davon ausgeht, dass das Potenzial zur Bedeu‐ tungsstiftung erst dann entsteht, wenn Zeichen, Texte und Ressourcen eines Kontextes aufeinander bezogen werden, ist ,mehrsprachige Diskursfähigkeit‘. Noch mehr als der Begriff der symbolischen Kompetenz ist mehrsprachige Diskursfä‐ higkeit ein emanzipatorischer, auf die Befähigung mündiger und selbstständiger mehrspra‐ chiger Lernender zur Partizipation an kulturellen Aushandlungsprozessen ausgerichteter Begriff. Wenn kulturelle Bedeutungen dialogisch, d. h. in einem Zusammenspiel zwischen AkteurInnen, Texten und Ressourcen hervorgebracht werden, dann erfordert die Teilhabe‐ 4 Mehrsprachige Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht 47 <?page no="48"?> 18 Zur Auseinandersetzung mit den Begriffen ‚Diskurs‘ und ‚Diskursfähigkeit‘ im fremdsprachendi‐ daktischen Kontext siehe die Darstellungen von Plikat (2017: 193-248). Die folgenden Ausführungen wurden in ähnlicher Form in Stamenković 2019 veröffentlicht. 19 Diskursfähigkeit als „Leitziel schulischer Bildung“ findet sich z. B. im hessischen Kerncurriculum für moderne Fremdsprachen (Hessisches Kultusministerium 2018: 15), wo sie folgendermaßen definiert wird: „Diskursfähigkeit besteht darin, bewusst kommunikativ zu handeln, sich in den eigenen Äuße‐ rungen auf den Adressaten und Gegenstand einzustellen, sprachliches Handeln zu problematisieren und gegebenenfalls zu variieren, um die Verständigung zu verbessern und zu vertiefen. Das Leitziel Diskursfähigkeit wird durch eine ständige Erweiterung der Kommunikationsfähigkeit erreicht, die mit der Persönlichkeitsentwicklung untrennbar verknüpft ist.“ 20 Ein drittes Verständnis geht auf Habermas zurück, ist aber für die Darstellung der mehrsprachigen Diskursfähigkeit weniger relevant (vgl. Hallet 2008a). 21 Diese sprachlichen Einheiten oberhalb der Satzebene bilden den Untersuchungsgegenstand solcher sprachwissenschaftlichen Forschungstendenzen, die wir aus der angewandten Sprachwissenschaft als Diskursanalyse kennen. Unter der Verwendung diskursanalytischer Methoden werden in der empirischen Unterrichtsforschung die Redeakte der Lehrenden und Lernenden untersucht, die die unterrichtliche Interaktion und damit den classroom discourse konstituieren. Dabei liegt der Fokus in solchen Untersuchungen nicht nur auf der Erforschung von Unterrichtsgegenständen und -inhalten, sondern auch auf verschiedenen sozialen, kulturellen und methodischen Praktiken und Aushandlungsbzw. Interaktionsprozessen, die sich zwischen den einzelnen AkteurInnen im Klassenraum ergeben. fähigkeit an solchen Prozessen die Fähigkeit, zwischen diesen Bedeutungen und Sprachen kommunizieren zu können (vgl. Hallet & Königs 2010). 4.1 Der Diskursbegriff und seine Konsequenzen für den Fremdsprachenunterricht Um zu verstehen, wie der Begriff ,mehrsprachige Diskursfähigkeit‘ unser Verständnis von mehrsprachigem Lernen verändert, ist es zunächst notwendig zu klären, was hier unter ,Diskurs‘ verstanden wird. 18 Der Begriff wird trotz seiner entscheidenden Rolle für das heutige (poststrukturalistische) Verständnis von Kultur kaum in der Fremdsprachendi‐ daktik rezipiert, wenngleich er in den letzten Jahren Einzug in einige bildungspolitische Dokumente und fremdsprachendidaktische Studien (vgl. Plikat 2017) gehalten hat. 19 Grundlegend kann man zwischen zwei unterschiedlichen Verständnissen von Diskurs unterscheiden: dem linguistischen und dem sozialphilosophischen nach Foucault, auf den auch der Begriff „Diskursfähigkeit“ zurückgeht (vgl. Hallet 2008a) 20 . Nach der linguistischen Auffassung des Begriffs ist Diskurs ein längeres Stück Text - eine sprachliche Einheit, die Kohärenz und Kohäsion aufweist 21 . Will man verstehen, wie bestimmte Äußerungen, Rede‐ akte oder Texte hervorgebracht werden oder welche Werte, Ideologien oder Überzeugungen sie reproduzieren, muss man (im Sinne der Dialogizität der Hervorbringung von kulturellen Bedeutungen) danach fragen, in welchem Zusammenhang diese Kommunikationsakte (discourse with a small d, vgl. Kramsch 1998) mit dahinterstehenden und oft unsichtbaren Wissensstrukturen und Praktiken einer discourse community (Discourse with a capital D) stehen. In Language and Culture nimmt Kramsch (1998: 61) den zuletzt genannten Diskursbegriff auf: 48 III Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik hin zu einer integrativen mehrsprachigen Bildung <?page no="49"?> In order to understand a text, one has to understand what the text is responding to or against. This existing prior knowledge, accumulated over the life of a discourse community, has been called Discourse with a capital D. Discourses, in this sense, are more than just language, they are ways of being in the world, or forms of life that integrate words, acts, values, beliefs, attitudes, and social identities. Kommunikationsakte, Äußerungen oder Texte werden also erst durch kulturelle Kontextualisierung - durch ihren Bezug zu anderen Redeakten - zum Diskurs. Diskursive Struk‐ turen repräsentieren und reproduzieren das Wissen einer Gesellschaft, sie regulieren aber auch gleichzeitig das gesellschaftliche Zusammenleben und damit einhergehend die Zirkulation bestimmter ethischer und politischer Vorstellungen, Ideologien und Identitäten (vgl. Hallet 2008a: 82). Eine solche Definition vom Diskurs (Discourse with a capital D, vgl. Kramsch 1998) unterscheidet sich grundlegend von der linguistischen Auffassung des Begriffs und geht auf Foucault (1973) zurück. Er definiert Diskurse als unsichtbare Wissens- und Ordnungs‐ strukturen, die sich gewissermaßen hinter der Sprache verbergen und das gesellschaftliche Leben regulieren. Der Begriff ‚Diskurs‘ bezeichnet eine Ordnung, die außerhalb des Sprachlichen liegt, zwischen Wörtern und Dingen, wobei Diskurse „keine dünne Kontakt- und Reibefläche einer Wirklichkeit und einer Sprache“ (ebd.: 74) darstellen. Diskurse sind zwar sprachlich gefasst, Foucault betont allerdings, dass diese Zeichen nicht nur eine Repräsentationsfunktion haben, sondern auch Bedeutung produzieren: „Sie [Diskurse] benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muss man ans Licht bringen und beschreiben.“ (ebd.) Das ,Mehr‘ der Diskurse bezieht sich hier auf die Frage, wie Diskurse Dinge hervorbringen und ordnen, wie sie die Grenzen des Sagbaren bestimmen und „systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (ebd.). Foucaults Diskursanalyse zielt auf die Rekonstruktion diskursiver Spuren ab, d. h. auf die Offenlegung inhaltlicher Verbindungen zwischen Redeakten, die eine gemeinsame thematische Orientierung haben und historisch eingrenzbar sind. Man hat es mit einer ,dis‐ kursiven Formation‘ zu tun, wenn „man in einer bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuung“ beschreiben kann, d. h. wenn bei den Objekten, Typen oder Themen von Äußerungen eine Regelmäßigkeit identifiziert werden kann (ebd.: 58). Der Begriff ‚diskursive Formationen‘ verweist darauf, dass Wissen stets sprachen- und kulturenübergreifend hervorgebracht wird und erst durch die Verknüpfung mit anderen signifikativen Einheiten Bedeutungseffekte erzielen kann (vgl. Sarasin 1996). Erst durch das Aufdecken dieser vielfältigen Verknüpfungen und Beziehungen zwischen Äußerungen lässt sich feststellen, wie sich verschiedene Texte aufeinander beziehen, welche Position sie im Diskurs vertreten, welche Position sie herausfordern oder warum das Auftauchen dieser Äußerung möglich war und nicht einer anderen. Somit trägt jede Art von Äußerung zur Weiterentwicklung von Diskursen bei und positioniert die Sprecherin oder den Sprecher in der Diskursgemeinschaft: „To speak is to assume a subject position within discourse and to become subjected to the power and regulation of the discourse.“ (Weedon 1987: 119) Daher ist der ‚Diskurs‘ in seinem sozialphilosophischen Verständnis immer eine „politische Kategorie“ (Hallet 2008a: 83), die zur Analyse von kulturellen und sozialen Privilegierungs- und Ausgrenzungsprozessen verwendet wird. 4 Mehrsprachige Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht 49 <?page no="50"?> Aus fremdsprachendidaktischer Perspektive betrachtet bedeutet dies, dass jede Art von Äußerung, die die Schülerin oder der Schüler tätigt, eine soziale und kulturelle Praktik dar‐ stellt, die den Diskurs und somit das gesellschaftliche Zusammenleben mitgestaltet. Ist die Entwicklung der mehrsprachigen Diskursfähigkeit das Ziel des Fremdsprachenunterrichts, so muss der Unterricht stärker vom Individuum her gedacht werden, d. h. SchülerInnen rücken als kulturelle AkteurInnen und mehrsprachige Subjekte in den Vordergrund des Unterrichts (vgl. Freitag-Hild 2010: 40). Durch ihre Teilhabe an unterrichtlichen Aushand‐ lungsprozessen nehmen sie teil an lebensweltlichen, aber auch an zielsprachlichen Dis‐ kursen, die durch Texte oder anderes Material in den Fremdsprachenunterricht eingespeist werden. Die spezifische Mehrstimmigkeit des Fremdsprachenunterrichts ergibt sich daraus, dass die sich begegnenden Texte mindestens drei unterschiedlichen Diskurssphären ent‐ stammen: der eigenkulturellen, der zielkulturellen und der transkulturellen Diskurssphäre, sodass sich in diesem interplay der Texte und Kulturen Äußerungen begegnen, die Spuren verschiedener Sprachen und Kulturen beinhalten (vgl. Hallet 2002a). Lernende versehen sie vor der Folie eigenkultureller Diskurse mit neuen Bedeutungen, interpretieren ihre eigenen Erfahrungen und Wissen vor dem Hintergrund zielkultureller Texte und beziehen sie somit stets auf Neue aufeinander. Aus dieser am Intertextualitätsparadigma orientierten Sicht auf Unterricht als einem „Überlappungsraum zwischen Sprachen und Kulturen“ (ebd.) resultiert die Vorstellung, dass der Fremdsprachenunterricht „immer - unabhängig vom Thema oder von der Unter‐ richtssprache und oft latent - mehrsprachig und mehrkulturell geprägt ist“ (ebd.: 41). Unabhängig davon, ob Diskurse durch Texte in verschiedenen Sprachen modelliert werden, der Unterricht also mehrsprachig gestaltet wird, verweisen die an ihm beteiligten Texte und AkteurInnen stets auf Diskurse anderer Länder und Sprachen. Bei der Erschließung unbekannter sprachlicher oder kultureller Inhalte greifen SchülerInnen auf das sprachliche, aber auch auf das kulturelle Schema- und Konzeptwissen, das ihnen in ihrer Muttersprache, Zweitsprache oder weiteren Fremdsprachen vorliegt, zurück (vgl. Hallet 2011: 223). So ist der Fremdsprachenunterricht stets an der Grenze zwischen Diskursen angesiedelt und verfolgt einen doppelten Bildungsanspruch: Wie jede Art von Unterricht hat auch der Fremdsprachenunterricht die Aufgabe, Lernende zur zukünftigen autonomen und individuellen Lebensgestaltung, und damit zur Teilhabe an lebensweltlichen Diskursen, zu befähigen. Gleichzeitig sollte der Fremdsprachenunterricht Zugang zu zielkulturellen Diskursen ermöglichen, d. h. SchülerInnen die Gelegenheit bieten, zielkulturelle Diskurse zu identifizieren, sie weiterzuentwickeln, in Bezug zu lebensweltlichen Diskursen zu setzen und sie kritisch zu hinterfragen. Aus diesem doppelten Bildungsanspruch des Fremdsprachenunterrichts ergibt sich seine mehrsprachige und mehrkulturelle Dimension (vgl. Hallet 2009: 71). Der Gegenstand folgender Überlegungen ist die Frage, welchen Beitrag das Lern‐ ziel ,mehrsprachige Diskursfähigkeit‘ für die Konzeptualisierung des Mehrsprachigkeits‐ lernens im Fremdsprachenunterricht leisten kann. Dabei werden insbesondere drei Aspekte beleuchtet, die in der Forschungsliteratur rund um Mehrsprachigkeit immer wieder eine Rolle gespielt haben und durch das Umdenken hin zu einer Diskursfähigkeit eine besondere Legitimierung erfahren: die Verbindung zwischen sprachlichem und kulturellem sowie 50 III Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik hin zu einer integrativen mehrsprachigen Bildung <?page no="51"?> zwischen sprachlichem und inhaltlichem Lernen und der Zusammenhang zwischen sprach‐ lichem Lernen und Identitätsbildung. 4.2 Mehrsprachige Diskursfähigkeit als Ziel des Mehrsprachigkeitslernens Sprachliches und kulturelles Lernen Eigentlich ist ‚mehrsprachige Diskursfähigkeit‘ ein tautologischer Begriff, denn jede Art von Diskursfähigkeit ist per se mehrsprachig und mehrkulturell. Diskurse sind, unabhängig davon, ob sie durch mehrsprachige Texte modelliert werden oder nicht, sprachen- und kulturenübergreifend gefasst. Ein Text wird erst dann zum Diskurs, wenn er Verknüp‐ fungen zu anderen Texten eingeht. Hallet hat in diversen Publikationen (vgl. z. B. Hallet 2002b, 2017) darauf verwiesen, dass wir der Multiperspektivität von Diskursen erst dann gerecht werden, wenn wir die verwendeten Textarrangements für weitere Sprachen öffnen, denn bestimmte Diskursausschnitte und gesellschaftliche Gegebenheiten sind nur in einer bestimmten Sprache zugänglich. Der Mehrwert des mehrsprachigen Arbeitens liegt also darin, dass wir durch Kenntnisse mehrerer Sprachen Zugang zu bestimmten Perspektiven bzw. Weltausschnitten erhalten, die uns sonst verborgen geblieben wären. Hierin ist die Verknüpfung zwischen (mehr-)kulturellem und (mehr-)sprachlichem Lernen zu sehen, auf die bereits der GER (2001) hinweist (vgl. Kapitel II, 2). Foucaults Idee der Rekonstruktion diskursiver Spuren bringt Sarasin (1996: 132 f.) in Verbindung mit Geertz’ Metapher von Kultur als „luftigem Bedeutungsgewebe“ und er vergleicht das Vorgehen poststrukturalistischer Diskursanalysen mit der Zerlegung dieses Gewebes in einzelne Fäden (oder Spuren). Durch diskursive Regeln wird das Auftauchen dieser Spuren, ihre Formation und Verknüpfung geordnet. Diskurse sind also Ordnungssysteme, die einzelne Fäden zusammenhalten, die bestimmen, welche Begriffe, Äußerungen, Gegenstände des Wissens Teil des großen Gewebes sein dürfen und welche nicht. Um Zugang zu diesem Gewebe an Bedeutungen zu erhalten und selbst Bedeutungen hervorbringen zu können, sollten Lernende dafür sensibilisiert werden, wie die einzelnen Fäden zusammenhängen (und wo es Ambivalenzen und Brüche gibt). Die Prozesse des kulturellen Lernens, die durch den Vergleich verschiedener kultureller Manifestationen angestoßen werden, haben nach Foucault wenig mit einem in der Hermeneutik inspirierten Verstehen anderer Kulturen zu tun. Es gibt keinen Sinn, der sich hinter dem Text verbirgt und den es zu entdecken gilt, „der Sinn ist vielmehr der Effekt von materiellen und diskursiven Strukturen“ (Sarasin 2005: 109). Kultur wird daher nur in ihrer materiellen Form greifbar (in Form von Texten, Praktiken, Institutionen etc.). Für den Fremdsprachenunter‐ richt bedeutet dies, dass Kulturen durch Texte repräsentierbar und rekonstruierbar werden. Texte sind aber nicht nur als Repräsentationen von Kulturen zu lesen, sondern auch als kulturelle Äußerungen, die in ein Geflecht von Bedeutungen integriert sind: „Sie sind nun nicht mehr bloß Objekte der ‚Behandlung‘‚ oder der Interpretation, die eine fremde Kultur repräsentieren, sondern sie sind textualisierte kulturelle Äußerungen“ (Hallet 2002a: 34). Wiederum ist eine Teilhabe an der Produktion von kulturellen Bedeutungen nur mittels Sprache, in Form der textuell-diskursiven Genres (vgl. Hallet 2016a), möglich. Somit kommt der Sprache eine bedeutungserzeugende Funktion zu - im Sinne des von Kramsch (2009) geprägten Konzeptes der symbolic power von Sprache. 4 Mehrsprachige Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht 51 <?page no="52"?> Mehrkulturelles Lernen beinhalt daher eine Reflexion darüber, wie Texte mittels Sprache(n) (oder anderer semiotischer Systeme) über nationale Grenzen hinweg Sinn konstruieren. Ein solch verstandenes kulturelles Lernen ist weniger darauf fokussiert, Differenzen zwischen ‚eigener‘ und ‚fremder‘ Kultur zu erkennen und zu überwinden, sondern animiert SchülerInnen dazu, nach Verknüpfungspunkten zwischen verschiedenen kulturellen Manifestationen zu suchen. Es geht darum, herauszufinden, welche gemein‐ samen Wirkungsmechanismen und Ordnungsstrukturen, die sich unterschiedlichen kultu‐ rellen Kreisen zuordnen lassen, zur Herausbildung einer thematischen Diskursformation beigetragen haben und beitragen. Wichtig ist aber auch, sich die Frage nach dem ‚Mehr‘ der sprachlichen Zeichen zu stellen, d.-h. die Aufmerksamkeit auf die Form, auf die materielle Verfasstheit des Wissens, zu lenken. Dafür eignen sich - so die Annahme dieser Studie - besonders mehrsprachige literarische Texte, die eine sprachen- und kulturenübergreifende Hervorbringung von Bedeutungen sowohl thematisch als auch durch extreme Verfremdung der Sprache formal inszenieren und häufig Diskurse (und Sprachen) verknüpfen, die sich sonst eher widersprechen oder sich gegenseitig ausgrenzen würden (vgl. Link 1988). Sprachliches und inhaltliches Lernen Der Stellenwert der Inhalte für den Fremdsprachenunterricht ist in der Fremdsprachendi‐ daktik vielfach diskutiert worden, vor allem im Zusammenhang mit der Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts auf Kompetenzorientierung und der Einführung der Bildungs‐ standards, an denen viele die Vernachlässigung der Inhalte kritisierten (vgl. Bausch et al. 2009). Wichtig ist nicht nur die Frage, welche Inhalte im Fremdsprachenunterricht eine Rolle spielen können, sondern auch, welche Qualität diese Inhalte haben sollten. Nach Küster (2009: 15) sei es besonders wichtig, solche Texte einzusetzen, „die mehrere Bedeutungsschichten aufweisen, folglich mehrdeutig sind und zudem zu individueller Positionierung einladen“. Im Hinblick auf die Diskursfähigkeit ist dieses Argument besonders wichtig, weil nur die Auseinandersetzung mit Texten, die ein Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, eine vergleichende Beschäftigung mit diesen Perspektiven und damit auch Bedeutungsaushandlungsprozesse initiieren kann. Im Bereich der Mehrsprachigkeitsdidaktik ist die Frage nach relevanten Inhalten sträflich vernachlässigt worden, obwohl sie gerade im Hinblick auf die Implementierung eines fächerverbindenden Lernens von hoher Relevanz ist (vgl. Dausend 2014). Der durch die Verbindung der Fächer (und der Fremdsprachen) resultierende mehrperspektivische und mehrsprachige Blick auf ein Thema ermöglicht ein differenziertes und tiefergehendes Verstehen (vgl. Surkamp 2012: 265) und damit eine Rekonstruktion verschiedener Perspek‐ tiven, die zur Herausbildung eines Diskurses beigetragen haben. Diese fachliche und sprachliche Vernetzung ist nur anhand komplexer fächerübergreifender Inhalte möglich. Im Sinne der mehrsprachigen Diskursfähigkeit ist daher die Frage zu stellen, welche Themen bzw. Diskurse eine besondere sprachen- und kulturenübergreifende Relevanz haben, sodass eine Partizipation an ihnen nur durch eine Kommunikation in und zwischen mehreren Sprachen und Kulturen möglich wird. Hallets Unterrichtsvorschläge zu Themen wie „Ho‐ locaust Childhoods“ (2002b) oder „Olympische Spiele“ (2008b) sowie verschiedene Beiträge zum Thema ,Migration im Raum USA-Mexiko‘ (vgl. z. B. die Beiträge in Leitzke-Ungerer et al. 2012) sind nur einige Beispiele für solche Diskurse. 52 III Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik hin zu einer integrativen mehrsprachigen Bildung <?page no="53"?> Die genannten Beiträge bleiben allerdings Ausnahmen. Überblickt man die bisherigen Publikationen, die unterrichtspraktische Möglichkeiten zur Förderung des Mehrsprachig‐ keitslernens beinhalten, stellt man schnell fest, dass es sich bei diesen Materialien um relativ kurze Unterrichtssequenzen handelt, die eher auf eine sprachstrukturelle Beschäftigung mit Sprache abzielen (vgl. von Kahlden et al. 2015). Häufig entsteht dadurch der Eindruck, Mehrsprachigkeit könne ,mal so zwischendurch‘ gefördert werden. Diese mangelnde Beschäftigung mit den Inhalten und der Aufgabenkonzeption für die Mehrsprachigkeits‐ förderung ist vermutlich mitverantwortlich dafür, dass das Mehrsprachigkeitslernen trotz 20 Jahre intensiver fachdidaktischer Forschung scheinbar noch nicht Einzug in Schulen gehalten hat. Dies konstatiert Jakisch (2015: 310) in ihrer Studie zu Einstellungen von Englischlehrkräften zum Thema Mehrsprachigkeit: „Der Stellenwert, der dem Lernziel Mehrsprachigkeit in seiner schulischen und lebensweltlichen Dimension von fachdidakti‐ scher Seite derzeit entgegengebracht wird, deckt sich also nicht mit der Präsenz, die das Konzept unter Praktikern hat“ (vgl. auch die Studie von Heyder & Schädlich 2014). Im Sinne der mehrsprachigen Diskursfähigkeit ist die Frage zu stellen, welche Themen bzw. Diskurse eine besondere sprachen- und kulturenübergreifende Relevanz haben, sodass eine Partizipation an ihnen nur durch eine Kommunikation in und zwischen mehreren Sprachen und Kulturen möglich wird. Die Verbindung zwischen sprachlichem und inhaltlichem Lernen ist für Hallet (2009: 70) bereits im Begriff ‚Diskurs‘ angelegt: [D]ie mit Diskursfähigkeit gemeinte kommunikative Kompetenz [lässt sich] nur auf dem Weg über die und als Teilhabe an der Verhandlung eines kulturellen oder gesellschaftlichen Themas realisieren. Umgekehrt und zugespitzt kann man sagen: Diskursfähigkeit lässt sich nur über die Verhandlung von Inhalten entwickeln. Dies liegt daran, dass Diskurse immer thematisch organisiert sind, sodass die mehrspra‐ chige gesellschaftliche Teilhabe immer an die Fähigkeit gebunden ist, einen bestimmten Sachverhalt in mehreren Sprachen verhandeln zu können. Dies setzt voraus, dass Ler‐ nende in der Lage sind, diese Sachverhalte in und zwischen verschiedenen Sprachen zu kommunizieren und das notwendige thematisch gebundene kulturelle und konzeptuelle Wissen aus lebensweltlichen Diskursen auf die zielsprachlichen zu übertragen. Durch die Repräsentation eines bestimmten Phänomens aus einer zielsprachlichen Perspektive soll eine Verknüpfung zwischen der lebensweltlichen Relevanz, die dieses Thema für die Lernenden hat, und seinen Repräsentationen im zielsprachlichen Bereich erreicht werden. Die zielsprachliche mehrsprachige Diskursfähigkeit, die Lernende im Unterricht entwickeln, soll daher auch ihren lebensweltlichen Umgang mit diesen Themen verändern. Diese Veränderungen können sich auf verschiedenste Arten und Weisen äußern: als Wissenserweiterung, als die Fähigkeit, in einer anderen als der eigenen Sprache über dieses Thema sprechen oder lesen zu können, oder als die Fähigkeit, Vorstellungen über die eigene Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität zu hinterfragen und ggf. neu zu entwickeln. Mehrsprachige Diskursfähigkeit ist daher nicht nur thematisch orientiert, sondern hat auch einen persönlichkeitsbildenden Anspruch, wie im Folgenden dargestellt werden soll. 4 Mehrsprachige Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht 53 <?page no="54"?> Sprachliches Lernen und Identitätsbildung Der Begriff ‚mehrsprachige Diskursfähigkeit‘ verweist auf einen weiteren Zusammenhang, der in der Mehrsprachigkeitsdidaktik stets wiederkehrt - die Verbindung zwischen mehr‐ sprachigem Lernen und der Ausbildung mehrsprachiger Identitäten. Obwohl Foucaults Verhältnis zur Autonomie des Subjektes unklar bleibt (er ist eher daran interessiert zu zeigen, wie Diskurse AkteurInnen einen Platz legitimen Sprechens zuweisen), ist davon auszugehen, dass Foucault eine grundsätzliche Partizipationsmöglichkeit der Subjekte an Diskursen annimmt, die über eine Subjektposition realisiert werden kann. In seinen „Über‐ legungen zu einer diskursanalytischen Kulturgeschichte“ erläutert Sarasin (1996: 139), dass die diskursiven Strukturen „den Subjekten, ihrem Sprechen und ihrem Handeln nicht vorgängig [sind], sondern selbst von den Subjekten laufend neu hervorgebracht [werden]“. Wenn wir also Lernende dazu ermutigen sollen, als Subjekte autonom gesellschaftlich zu handeln, dann stellt sich unweigerlich die Frage, wie wir ihnen Möglichkeiten bieten können, über ihre eigene Subjektivität zu reflektieren und darüber nachzudenken, wie sie sich gegenüber bestimmten gesellschaftlichen Gegebenheiten in mehr als in einer Sprache positionieren möchten. Wie oben dargelegt, ist der Begriff symbolic competence ebenfalls mit der Vorstellung einer Ausbildung mehrsprachiger Subjektivität verbunden. Er zielt eher auf die individuelle, psychologische Entwicklung des Selbst ab. Es geht um eine Entwicklung alternativer Ver‐ sionen der mehrsprachigen Subjektivität (alternativer Subjektpositionen) und die Reflexion der Rolle, die eigene Sprachen in diesem Zusammenhang einnehmen. Der Begriff ‚mehr‐ sprachige Diskursfähigkeit‘ verbindet die Vorstellung einer Weiterentwicklung des eigenen Selbstverständnisses als mehrsprachiges Subjekt mit der Idee, dass dieses Selbstverständnis nur durch gesellschaftliche Partizipation an mehrsprachigen Diskursen entwickelt werden kann. Hinter den Konzepten ‚mehrsprachige Diskursfähigkeit‘ und symbolic competence verbirgt sich die gemeinsame Vorstellung, dass sie die mehrsprachige Subjektivität als dialogisch hervorgebracht sehen und die Lernenden als aktive Hervorbringende von Kultur betrachten. Die Vorstellung, dass Identitäten zwischen Kulturen und Sprachen ausgehan‐ delt werden, führt dazu, dass ‚Identität‘ als flüchtige Kategorie wahrgenommen wird. In Anlehnung an Lacan und Kristeva suggeriert Kramsch, dass wir durch Sprache (und andere symbolische Ressourcen) zu Subjekten werden und sich diese Subjektivität im Dialog mit anderen Subjekten herausbildet, mit denen wir (sprachlich) interagieren. Mit jedem Redeakt entwickeln wir nicht nur einen Diskurs weiter, sondern wir positionieren uns auch gegenüber anderen AkteurInnen im Diskurs und nehmen dadurch eine Subjektposition (subject position) ein. Durch die Begriffe ‚Subjekt im Prozess‘ bzw. ‚Subjekt in der Krise‘ wird angedeutet, dass die Subjektbildung ein unsicherer, unabschließbarer, widersprüchlicher und konfliktreicher Prozess sein kann. Betont wird hier die Flüchtigkeit und Unsicherheit von Subjektpositionen sowie der politische Charakter jeder Positionierung, die mittels sprachlicher Akte vollzogen wird. Dabei wird davon ausgegangen, dass ein Subjekt mehrere Subjektpositionen gleichzeitig einnehmen kann (vgl. Kramsch 2009: 20). Der ‚dritte Ort‘ (third place), in diesem Falle nach Hallet (2002a) der Fremdsprachenun‐ terricht selbst, bietet nach Kramsch (1995: 63) die Möglichkeit, „jemand anderes in der eigenen Sprache und man selbst in der Sprache anderer“ zu sein. Die Neupositionierung gelingt also dann, wenn kulturelle AkteurInnen in der Lage sind, sich selbst als ‚Andere‘ zu 54 III Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik hin zu einer integrativen mehrsprachigen Bildung <?page no="55"?> sehen und das ‚Andere‘ als eigen zu betrachten. Auch hier deutet sich bereits eine wichtige Funktion literarischer Texte für die Förderung des Mehrsprachigkeitslernens an: Vor dem Hintergrund der Identitätskonflikte mehrsprachiger literarischer Figuren können Lernende über ihr eigenes Selbstverständnis nachdenken und reflektieren, wie dieses sprachlich konstruiert wird bzw. ebenfalls durch Sprache hinterfragt werden kann. Die Reflexion darüber, warum eine literarische Figur eine bestimmte Sprache nutzt, oder die Analyse ihres code-switching-Verhaltens können SchülerInnen zum Nachdenken über ihr eigenes Sprachverhalten ermutigen. In anderen Worten: Unsere Äußerungen über Sprache und Identität prägen wiederum unser Bild eigener Identität (vgl. Küster 2003: 324). In diesem Sinne können mehrsprachige und mehrkulturelle Texte für die SchülerInnen als Folie zur Reflexion des eigenen Umgangs mit Sprachen und Mehrsprachigkeit dienen. Eine solche Art von Dezentrierung ist notwendig, damit SchülerInnen lernen, Bezüge zwischen eigenen und fremden Umgangsformen mit Mehrsprachigkeit zu reflektieren: „the multilingual subject is […] someone who resonates to each language relative to the other“ (Kramsch 2009: 119). Für das Mehrsprachigkeitslernen resultiert daraus der Gedanke, dass die eigene mehr‐ sprachige Subjektivität und die Fähigkeit zur Partizipation an mehrsprachigen Diskursen nur durch Reflexion weiterentwickelt werden können. Die hier gemeinte Reflexivität verbindet die kognitiv-analytisch ausgerichtete Fokussierung auf die sprachliche Form (auf die sprachliche Verfasstheit der Diskurse und die bedeutungserzeugende Funktion von Sprache), die ästhetisch-kreative Betrachtung von Sprachspielen oder Sprachmanipulation und die kritische Reflexion der symbolic power von Sprache, die sich bei Identitätszuwei‐ sungen und Ausgrenzungen manifestiert. Beide der hier genannten Stichwörter betrachtet Küster (2004) als wichtige Prinzipien der Bildung: das Prinzip der Reflexivität (im Span‐ nungsfeld von Sach- und Selbstbezug) und das Prinzip der Subjektivität (im Spannungsfeld von Ich- und Fremdbezug). Die Reflexion über Sprache als meaning-making device und seine Bedeutung für die Bestimmung der eigenen Position im gesellschaftlichen Leben sehen Breidbach und Küster (2014: 130-f., H. i.-O.) als Kernelemente einer sprachlichen ‚Bildung‘ im Sinne Humboldts: Language is not just a means of communicating pre-existing ideas; it is to no lesser degree a means of constructing knowledge in search for personal orientation. In Wilhelm von Humboldt’s terminology, this search is a process of Bildung, which mainly consists in clarifying one’s own relationship to the world and to the self (Selbst- und Weltverhältnis). Hence, language learning can, of course, be considered in a technical sense as the expansion of available communication tools, but also in a more holistic way as the transformation of one’s concept of self and one’s position in and towards the world. In einer Welt, die zunehmend mehrsprachiger wird, sind sowohl das Selbst als auch die Welt und die Positionen, die zwischen ihnen eingenommen werden können, komplexer geworden. Um zu wissen, wie man sich in ihr positioniert, muss man ihre Verfasstheit und die eigene Subjektivität in ihrer Pluralität zunächst erfassen. Der Bildungsanspruch des Fremdsprachenunterrichts kann daher nur durch eine Erziehung zum Umgang mit Mehr‐ sprachigkeit verwirklicht werden, „eine Bildung hingegen, die sich an monokultureller, 4 Mehrsprachige Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht 55 <?page no="56"?> nationaler und monolingualer Homogenität orientiert, muss man als obsolet betrachten“ (Hallet 2011: 219). 5 Zusammenfassung und Desiderata Die oben dargestellten Überlegungen dürften deutlich gemacht haben, dass die Befähigung der Lernenden zur Partizipation an mehrsprachigen und mehrkulturellen Bedeutungsaus‐ handlungsprozessen nur gelingen kann, wenn das Mehrsprachigkeitslernen integrativ gedacht wird. Es erschöpft sich also nicht in der Vermittlung sprachlicher Kenntnisse, sondern umfasst auch den Erwerb von deklarativem, prozeduralem und personenbezo‐ genem Wissen, Fähigkeiten und Strategien. Dabei sind diese Dimensionen keinesfalls rein sprachlich zu denken, denn gerade in mehrsprachigen Kontexten spielen Wissen über die fremdkulturellen Kontexte, Weltwissen oder auch interkulturelle Strategien eine wichtige Rolle. Gemeinsam ist allen vorgestellten Konzeptionen des Mehrsprachigkeits‐ lernens der Gedanke, dass Mehrsprachigkeitsförderung auf einen reflektierten Umgang mit sprachlichen Ressourcen abzielt, der schlussendlich zur Ausbildung einer mehrspra‐ chigen Handlungsfähigkeit beitragen soll. Küster (2013: 54) fasst fünf „Kennzeichen des bildungsorientierten Unterrichts“ zusammen, die hier auf das Verständnis vom Mehrspra‐ chigkeitslernen als ‚mehrsprachiger Bildung‘ übertragen werden sollen: Das Prinzip der Reflexivität bezieht sich auf die Ausbildung bestimmter kognitiver und meta-kognitiver Fähigkeiten, die den Lernenden helfen, ihren Lernprozess zu steuern, also in diesem Falle ihr mehrsprachiges Repertoire zu erweitern und sich der Bedeutung ihrer Ressourcen für sich und ihr gesellschaftliches Handeln bewusst zu werden. Wie Küster (2013: 58) mit Bezug auf language awareness betont, ist dabei für die Bildungsprozesse weniger das Nachdenken über den formalen Aufbau von Sprache relevant als über ihre Funktionalität. In mehrsprachigen Kontexten sollten Lernende also darüber nachdenken, wie Sprachen in unterschiedlicher Weise Bedeutung stiften können, und dies auch auf ihr eigenes Sprachverhalten übertragen. Das Prinzip der Subjektivität spiegelt sich zunächst in der Ausrichtung der mehrspra‐ chigkeitsdidaktischen Ansätze auf die Lernenden und ihre individuelle Mehrsprachigkeit wider. Der Begriff bezieht sich aber auch auf ein wichtiges Lernziel im Zusammenhang mit der Mehrsprachigkeitsförderung, nämlich die Erkenntnis darüber, dass Sprachgebrauch und das Erleben von Sprache(n) sehr individuell sind und dass Einstellungen gegenüber Sprachen oder auch Mehrsprachigkeit je nach individueller Biographie, dem kulturellen oder dem historischen Kontext sehr unterschiedlich ausfallen können. Die Einsicht in die „Relativität eigener Standpunkte“ (ebd.) ist beispielsweise dann erreicht, wenn Schü‐ lerInnen erkennen, dass Ein- und Mehrsprachigkeit von Gesellschaften oder Personen in Abhängigkeit vom Sprachenprestige oder auch vom gesellschaftlichen Status der kul‐ turellen Gemeinschaften, die diese Sprachen nutzen, unterschiedlich bewertet werden können. Der von Küster (ebd.) genannte Aspekt der Prozessualität ist vor allem bezüglich des lebenslangen Lernens von Bedeutung. Er spiegelt sich beispielsweise in solchen Unterrichtshandreichungen wider, die als eine Dokumentation und Reflexion sprachlicher 56 III Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik hin zu einer integrativen mehrsprachigen Bildung <?page no="57"?> Lernprozesse und interkultureller Begegnungen angelegt sind, so z. B. das Europäische Sprachenportfolio (Europarat 2007) oder die Autobiography of Intercultural Encounters (Europarat 2009). Solche Instrumente können helfen, die individuelle Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität als Resultat von lebenslangen Lernprozessen zu begreifen und auch zu reflektieren, wie sich die Einstellungen gegenüber Sprachen und Kulturen mit der Zeit verändert haben. Das Prinzip ist aber auch an das Ziel geknüpft, Lernende dafür zu sensibilisieren, wie Sprache gesellschaftliche Strukturen verändern kann bzw. wie sich der Status oder das Prestige von Sprachen verändern können. Das Prinzip der Sozialität verdeutlicht, dass SchülerInnen erkennen sollen, wie mittels Sprache gesellschaftliche Macht konstituiert wird, aber auch, wie der eigene Sprachge‐ brauch auf die KommunikationspartnerInnen wirkt bzw. wie die Wahl einer bestimmten Sprache oder einer Varietät einen selbst als SprecherIn im Gespräch positioniert. Damit verbunden ist die Einsicht, dass Sprachgebrauch immer auch etwas über die soziale Stellung des Sprechers bzw. der Sprecherin offenbart (vgl. ebd.: 58). Eine solche Reflexion über das eigene und das fremde Sprachverhalten ist insbesondere im Kontext von Herkunftsspra‐ chen wichtig, denn diese haben häufig ein gesellschaftlich niedriges Prestige und werden von SprecherInnen im Vergleich zur Schulsprache Deutsch als ‚minderwertig‘ (vgl. Kapitel VIII, 6) erlebt. Besonders der Aspekt der Ganzheitlichkeit wurde lange Zeit bei der Mehrsprachig‐ keitsförderung vernachlässigt und wurde oben im Zusammenhang mit der symbolischen Kompetenz diskutiert. Mehrsprachige Bildung lässt sich nur in einem Fremdsprachen‐ unterricht umsetzen, der Lernende gleichzeitig kognitiv und emotional anspricht und herausfordert und ihnen die Möglichkeiten gewährt, sich in verschiedenen Sprachen zu erleben. Es erfordert also einen ästhetischen Zugang zur Sprache und zu sprachlicher Form und damit die Aufmerksamkeitslenkung auf den Rhythmus und Klang von Sprachen sowie auf die persönlichen Erinnerungen, Erfahrungen und Erlebnisse, die Lernende mit ihren unterschiedlichen Sprachen verbinden. Die Grundlage dieses Projekts ist der Gedanke, dass das Mehrsprachigkeitslernen immer dann passiert, wenn Lernende in komplexe sprachen- und kulturenübergreifende Aushandlungen eines Sachgegenstandes verwickelt werden, die den Einsatz ihres kriti‐ schen Reflexionsvermögens erfordern und sie zum kreativen Umgang mit ihrer eigenen Mehrsprachigkeit ermutigen. Dieser Ansatz kombiniert mehrere Aspekte der heutigen Mehrsprachigkeitsdidaktik: Er betrachtet Mehrsprachigkeit als die Fähigkeit, bestimmte Sachverhalte in mehr als in einer Sprache zu rezipieren und zu kommunizieren, dabei eine Bewusstheit für die sprachliche Form und ihre bedeutungserzeugende Funktion zu entwickeln und diese Bewusstheit zu nutzen, um die eigene Position als mehrsprachiges Subjekt zu artikulieren und sie neu zu entwickeln. Zu einem solch konzeptualisierten mehrsprachigen Lernen sind all diejenigen Prozesse zu zählen, in denen SchülerInnen ihr gesamtes sprachliches und kulturelles Wissen und Können mobilisieren, um einen Sachverhalt formal und inhaltlich zu entziffern, ihre Meinung dazu zu artikulieren und vor dem Hintergrund dieses Sachverhaltes über ihren eigenen Umgang mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität zu reflektieren. Ein in diesem Sinne konzipierter Unterricht lädt gleichermaßen zu kritisch-kognitiven Analysen des mehrsprachigen Sprachgebrauchs und zu kreativ-ästhetischem Spiel mit Sprachen ein. 5 Zusammenfassung und Desiderata 57 <?page no="58"?> Der Fremdsprachenunterricht entfaltet das Potenzial zur Förderung mehrsprachiger Bil‐ dung, indem er es Lernenden ermöglicht, sich als kulturelle AkteurInnen wahrzunehmen, ihre Mehrsprachigkeit im Kontext lebensweltlicher und zielsprachlicher Diskurse zu reflektieren und sich an der Hervorbringung dieser Diskurse im unterrichtlichen Rahmen zu beteiligen. Dies ist nur möglich, wenn eine Verknüpfung zwischen dem lebensweltlichen Umgang mit (eigener) Mehrsprachigkeit der SchülerInnen mit zielsprachlichen Repräsen‐ tationen von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität geschaffen wird. Zum einen bedeutet dies, dass alle Sprachen der Lernenden (Fremd- und Herkunftssprachen), die ohnehin Teil des unterrichtlichen Diskurses sind, durch entsprechende didaktisch-methodische Interventionen auch explizit in die Unterrichtsgestaltung einbezogen werden müssen. Zum Zweiten stellt sich die Frage, welche Inhalte und Texte bzw. Textarrangements eine solche Verknüpfung der beiden Diskurssphären im Unterricht ermöglichen. Hallet (2016b: 39) spricht von der „überragende[n] Bedeutung aller Texte“ bei der Begegnung mit zielsprachlichen Kulturen im Fremdsprachenunterricht: Jede Wahl eines Textes und die Zusammenstellung von Materialien in Gestalt von Lese- und Hörtexten, Videofilmen, Photos, Graphiken und Zeichnungen vermittelt stets ein bestimmtes Bild von der fremdsprachigen Kultur, ihrer inneren Verfasstheit und ihrem Verhältnis zu anderen Kulturen. Auch aus der Sicht soziokulturell-ökologischer Theorien spielt der Einsatz von Texten eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der Lernumgebung (semiotic budget), die ein bedeu‐ tungsvolles sprachliches Handeln ermöglichen soll (vgl. van Lier 2004: 81). Dabei sind Möglichkeiten zur Bedeutungsstiftung (affordances) abhängig von den Beziehungen, die AkteurInnen zu bestimmten Inhalten, Texten oder anderen AkteurInnen eingehen (vgl. ebd.: 96). In anderen Worten: Lernende können im Unterricht nur dann tätig werden, wenn sie eine Verbindung zwischen dem Unterrichtskontext und ihnen selbst erkennen. Sprachliches Lernen passiert also nur durch eine intensive Auseinandersetzung mit der Umwelt, in der Lernende etwas Relevantes, Interessantes, Irritierendes wahrnehmen und dabei sprachliche und kulturelle Ressourcen mobilisieren, um es zu verstehen. Umso überraschender erscheint es, dass der Frage, welche Inhalte bzw. Textsorten für das Mehrsprachigkeitslernen geeignet sind, sowohl in bildungspolitischen als auch in fachdi‐ daktischen Publikationen kaum Beachtung geschenkt wurde. Ähnliches gilt für den Einsatz von mehrsprachigen literarischen Texten. Mehrsprachige literarische Texte spielen sowohl in der Mehrsprachigkeitsdidaktik als auch in der fremdsprachlichen Literaturdidaktik kaum eine Rolle. In ihrem Überblicksartikel zu „Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit im Literaturunterricht“ hält Freitag-Hild (2019: 223) fest: Gerade mit Blick auf Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit […] wird allerdings deutlich, dass sich die Forschung zum fremdsprachlichen Literaturunterricht weitgehend auf den Aspekt der Mehrkulturalität fokussiert hat und die Frage nach der Einbindung von Mehrsprachigkeit häufig ausgeblendet wird. 58 III Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik hin zu einer integrativen mehrsprachigen Bildung <?page no="59"?> 22 Bei den Werken des genre beur handelt es sich um ein mehrsprachiges Genre arabisch-französisch‐ sprachiger AutorInnen (vgl. Schumann 2008: 81-f.). 6 Die Rolle mehrsprachiger Texte bei der Förderung des Mehrsprachigkeitslernens Das oben formulierte Desiderat im Hinblick auf die mangelnde Berücksichtigung (mehr‐ sprachiger) literarischer Texte in der fremdsprachendidaktischen Forschung gilt in beson‐ derer Weise für den Englischunterricht, für den meines Wissens noch keine systematischen fremdsprachendidaktischen Untersuchungen zu diesem Thema vorliegen. Im Bereich der Didaktik der romanischen Sprachen sind jedoch jüngst zwei Studien erschienen, die das Potenzial von mehrsprachigen und mehrkulturellen Texten und Medien für den Fremdsprachenunterricht erforschen. Zum einen ist dies die Studie von Mayr (2014) zu mehrsprachiger Chicano/ a-Poesie im Spanischunterricht und zum Zweiten die Arbeit von Hennig-Klein (2018), die im Kontext des Französischunterrichts den Einsatz eines film beur 22 in mehrsprachigen Lerngruppen erforscht. Des Weiteren sind sporadisch un‐ terrichtspraktische Vorschläge zu finden, die das Potenzial eines spezifischen Mischtextes (häufig eines Jugendromans) für den sprachenübergreifenden Fremdsprachenunterricht untersuchen und vor allem darin begründet sehen, „dass sie [die Texte] das Thema ‚Fremdverstehen/ interkulturelles Lernen‘ ebenfalls auf der sprachlichen Ebene realisieren“ (Caspari 2004: 10). Dazu zählen Beiträge zu englisch-französischen Mischtexten (vgl. Caspari 2004; De Florio-Hansen 2002), zu deutsch-englischen Jugendromanen (vgl. O’Sullivan & Rösler 2013: 112-124) oder zu mehrsprachiger Lyrik (vgl. Fäcke 2020). Auch Arbeiten im Bereich der DaZ/ DaF-Didaktik thematisieren den Einsatz mehrsprachiger Literatur (vgl. Eder 2009; Gawlitzek & Kümmerling-Meibauer 2013; Rösch 1995), wobei hier häufig mehr‐ sprachige Bilderbücher oder mehrsprachige ,Migrationslyrik‘ im Vordergrund stehen. Eine vergleichsweise größere Aufmerksamkeit wurde dem Bereich englisch-spanischer Chi‐ cano/ a-Literatur und -Filme gewidmet - einer Sprachenkombination, die vor allem durch die Veröffentlichung des Sammelbandes English-Español: Vernetzung im kompetenzorien‐ tierten Spanischunterricht (vgl. Leitzke-Ungerer et al. 2012) an Aufmerksamkeit gewonnen hat. Weitere Beiträge zum didaktischen Potenzial mehrsprachiger Chicano/ a-Literatur für die Förderung des literarischen, transkulturellen und mehrsprachigen Lernens im Englisch- und Spanischunterricht finden sich bei Blell (2009, 2012a, 2015a), Delanoy (2012, 2014) und Glawion & Stamenković (2015) sowie jüngst in Martinez & Stamenković (2020) und Volkmann (2021). Außerdem haben einige fachdidaktische Publikationen auf das Potenzial mehrsprachiger Chicano/ a-Filme für einen fächerverbindenden Fremdsprachenunterricht hingewiesen, darunter beispielsweise Blell (2015b, 2016), Surkamp (2012) und Weber (2010). Bevor weiter unten genauer erläutert wird, was unter Chicano/ a-Literatur zu verstehen ist und welche Formen und Funktionen von Mehrsprachigkeit diese Texte aufweisen, soll zunächst allgemein begründet werden, warum insbesondere literarische Texte für die För‐ derung von mehrsprachigen Bildungsprozessen eine herausragende Rolle spielen können. Die Bedeutung von Literatur für fremdsprachliche Bildungsprozesse ist vielfach betont worden (vgl. z. B. Bredella 2007a, 2007b; Küster 2013). Im Kontext der mehrsprachigen Bildung sind dabei vor allem zwei Aspekte von großer Wichtigkeit: Gerade weil literarische 6 Die Rolle mehrsprachiger Texte bei der Förderung des Mehrsprachigkeitslernens 59 <?page no="60"?> 23 Irritationen lösen häufig Differenzerfahrungen aus, d. h. Erfahrungen, die nicht in bisherigen Rahmungen bearbeitet werden können und die oft eine Identitätserweiterung bewirken und somit Bildungsprozesse anregen können (vgl. Bonnet et al. 2009: 181). Texte Lernende sowohl kognitiv als auch emotional herausfordern und weil sie sprach- und inhaltsbezogene Reflexionsprozesse anregen, ermöglichen sie eine ganzheitliche Mehrspra‐ chigkeitsförderung, die Lernende zu aktivem Mitgestalten von kulturellen Diskursen befä‐ higen kann. Literarische Texte können eine affektive und emotionale Wirkung entfalten und „bilden auf diese Weise eine Brücke zwischen der fremdsprachigen fiktionalen Welt und der Erfahrungswelt der Lesenden“ (ebd.: 42). Das didaktische Potenzial literarischer Texte rührt also daher, dass sie als Bindeglied zwischen Lernenden als kulturellen AkteurInnen und dem Unterrichtskontext, in dem sich eigenkulturelle, zielkulturelle und transkulturelle Diskurssphären begegnen, fungieren können. Um Texte zu finden, die solche Verbindungen zwischen den Diskurssphären ermögli‐ chen, können folgende Fragen berücksichtigt werden: Thematisieren die Texte Gescheh‐ nisse, Krisensituationen, Identitätskonflikte oder ungewöhnliche Lebenssituationen, die nur mit Hilfe der Gesamtheit aller sprachlichen und kulturellen Ressourcen entschlüsselt bzw. mit Bedeutung versehen werden können? Handeln diese Texte von Situationen, die sowohl eine lebensweltliche Relevanz für die SchülerInnen haben als auch vorherr‐ schende sozio-politische Diskurse der zielsprachlichen Welt abbilden? Sind diese Texte sprachlich so gestaltet, dass sie eine Reflexion der sprachlichen Form verlangen und auf ihre bedeutungsstiftende Funktion hinweisen? Können bestimmte Ausschnitte des Textes nur mit Einsatz verschiedener Sprachen entschlüsselt werden? Die Fragen machen deutlich, dass zur Mehrsprachigkeitsförderung eingesetzte Texte Diskurse so modellieren sollten, dass ihre Mehrsprachigkeit, die Multiperspektivität, die Komplexität und die Dialogizität des Sachgegenstandes, den sie abbilden, erhalten bleiben. Sie sollten einerseits einen Wiedererkennungswert haben, d. h. ein gewisses Identifikationspotenzial für Jugendliche bieten und sie andererseits mit Situationen konfrontieren, die sie nicht kennen und die zunächst irritierend auf sie wirken. 23 Diese Arbeit beschäftigt sich daher mit der Frage, ob und wie die englisch-spanischen Chicano/ a-Texte diesen Kriterien genügen können, und diskutiert in diesem Zusammenhang fremdsprachendidaktische Begründungsansätze sowie didaktische Zielvorstellungen und Prinzipien für ihren Einsatz im Englischunterricht der Oberstufe. 60 III Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik hin zu einer integrativen mehrsprachigen Bildung <?page no="61"?> 24 In einigen Studien zu Literatur und Mehrsprachigkeit wird zwischen den Begriffen unterschieden: „Als Sprachwechsel ist zu bezeichnen, wenn in einem Text Segmente, die unterschiedlichen Idiomen zuzuordnen sind, aufeinanderfolgen, wohingegen man von Sprachmischung bei solchen Texten oder Textteilen sprechen kann, in denen zwei Idiome zu unterscheiden sind, ohne dass sie sich einzelnen Segmenten zuordnen ließen“ (Dembeck 2017: 125). IV Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Gegenstandsbereich Mit dem Begriff ‚mehrsprachige Texte‘ sind Mischtexte gemeint, die interlingual angelegt sind, d. h. in denen einzelne Textelemente in verschiedenen Sprachen verfasst sind, wobei eine der Sprachen dominieren kann, aber nicht muss (vgl. Eder 2009: 22 ff.). Zu mehrspra‐ chigen literarischen Texten können sog. Paralleltexte gezählt werden, die einen gleichen Text in verschiedenen Sprachen nebeneinander abdrucken, wie dies beispielsweise in mehr‐ sprachigen Bilderbüchern der Fall sein kann. Bei diesen Texten kann die Präsenz der jeweils anderen Sprache ignoriert werden, bei Mischtexten ist dagegen die Mehrsprachigkeit bei der Rezeption nicht zu übersehen. In diesen Texten ist der Wechsel zwischen Elementen ver‐ schiedener Sprachen ein zentrales Element der literarisch-ästhetischen Gestaltung, sodass beide Sprachen beherrscht werden müssen, um einen vollständigen Zugriff auf den Text zu haben. Blell (2012a) spricht in diesem Zusammenhang von „künstlerischer Transkulturalität und Hybridität“, die häufig sowohl inhaltlich als auch sprachlich „fragmentiert“ erscheint. Charakteristisch für die mehrsprachige Literatur ist also eine sprachliche Heterogenität, die auf der Textoberfläche deutlich erkennbar ist (vgl. Helmich 2016: 17). Sie ist durch einen mehr oder weniger intensiven Sprachenwechsel (code-switching) gekennzeichnet, der in‐ nerhalb eines Satzes vorkommen kann (intrasentential code-switching) oder außerhalb, also zwischen den Sätzen geschieht (intersentential code-switching). Wird innerhalb eines Satzes zwischen den Sprachen gewechselt, sind zwei weitere Sonderformen zu unterscheiden: tag-switching (bei Interjektionen, Redewendungen etc.) und noun-switching, also der Sprachenwechsel innerhalb eines Lexems, der auch als Entlehnung aufgefasst werden kann (ebd.: 18). Die Begriffe Sprachmischung und Sprachenwechsel sind dabei „weniger zwei grundsätzlich verschiedene Phänomene als das Ergebnis zweier unterschiedlicher Arten der Betrachtung“ (ebd.). Sprachmischung bezeichnet das Ergebnis der Integration einer fremdsprachigen Passage oder einzelner Elemente einer anderen Sprache in ein sprachli‐ ches Umfeld, womit die sprachliche Linearität unterbrochen und von der einsprachigen Norm abgewichen wird. Der Begriff Sprachenwechsel betont die Art und die Intensität der Durchdringung zwischen verschiedenen Sprachen, wie dies bereits durch die oben erwähnten verschiedenen Typologien des code-switching deutlich wurde. 24 In dieser Arbeit werden die beiden Begriffe daher synonym verwendet. Das Interesse an Mehrsprachigkeit und Literatur ist sowohl in der deutschsprachigen als auch in der internationalen literaturwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Forschung stark gestiegen. So sind gerade in den letzten Jahren umfassende Monographien, Sammelbände und Handbücher erschienen, die dieses Phänomen aus verschiedenen Per‐ spektiven betrachten und in denen Beispiele aus mehrsprachigen Chicano/ a-Texten eine wichtige Rolle bei der Analyse spielen (vgl. z. B. Bürger-Koftis et al. 2010; Dembeck & Parr <?page no="62"?> 2017; Helmich 2016; Sebba et al. 2011). Die Studien befassen sich u. a. mit der Frage, in welchen (literarischen) Texten Phänomene wie Sprachenwechsel und Sprachmischung zu finden sind, unter welchen Rahmenbedingungen sie entstehen, welche gesellschaftliche und kulturpolitische Relevanz sie haben und wie sie historisch kontextualisiert werden können (vgl. Dembeck 2017: 127). Mehrsprachigkeit in literarischen Texten ist dabei keinesfalls ein neues Phänomen. Als prominente Beispiele solcher Literatur nennt Dembeck (ebd.: 127-144) die griechisch-lateinische Zweisprachigkeit in der römischen Antike, die makkaronische Dichtung der Frühen Neuzeit, die lateinische Texte mit volkssprachlicher Lexik untermischt (ebd.: 132), bis hin zu Werken des 19. und 20. Jahrhunderts, darunter Prosper Mérimées Novelle Carmen (1847), die auf Spanisch, Baskisch und Romani zurück‐ greift, James Joyce’ Finnegans Wake (1939) oder die modernistische Lyrik von T. S. Eliot, Ezra Pound oder Ernst Jandl. Ein Grund für das gesteigerte Interesse an der mehrsprachigen Literatur ist sicherlich dem Umstand geschuldet, dass die Analyse mehrsprachiger Literatur „allen, die sich für Fragen der Inter- und Transkulturalität sowie der Migration interes‐ sieren, einen wichtigen Zugang zu Phänomenen sprachlicher, kultureller und auch sozialer Differenz“ (Dembeck & Parr 2017: 9) verspricht. 1 Die englisch-spanische Chicano/ a-Literatur Insbesondere der Südwesten der USA bietet einen fruchtbaren Boden für das Verfassen mehrsprachiger Literatur, denn er ist von jahrhundertelangem Kulturkontakt zwischen den USA und Mexiko geprägt, der eine immer noch voranschreitende kulturelle und sprachliche Hybridisierung des Grenzgebiets zu Folge hatte. Häufig wurde die sprachliche Misch-Gestaltung der kulturellen Erzeugnisse (Literatur, Filme, Lieder, Kunstwerke etc.) der Chicano/ a-Community pejorativ als Spanglish oder Tex-Mex bezeichnet, doch scheint sie gerade in den letzten Jahren an Legitimierung zu gewinnen: „[T]he increasing growth of bilingual literature in the United States in the last decades seems to indicate that mixing languages at the written level has obtained a level of legitimacy“ (Montes-Alcalá 2011: 68). 1.1 Der Begriff ‚Chicano/ a‘ im Kontext der Chicano/ a-Bürgerrechtsbewegung Der Begriff ‚Chicano‘ (weibliche Form ‚Chicana‘) wird häufig mit der Chicano/ a-Bürger‐ rechtsbewegung der 1960er Jahre in Verbindung gebracht, in der er als „self-defining moniker of pride“ (González 2019: 1) genutzt wird und ein Bekennen zu politischen Zielen der Bewegung ausdrücken soll. Möglicherweise lässt sich der Begriff auf den spanischsprachigen Begriff mexicano (Mexikaner) und seine Aussprache in den Sprachen der indigenen Bevölkerung zurückführen (vgl. García 2020: 129) und wurde ursprünglich verwendet, um die neu hinzugezogenen mexikanischen Immigranten (chicanos/ as) von den in den USA bereits länger lebenden Menschen mexikanischen Ursprungs (pochos) abzugrenzen (vgl. Amastae 1992: 210; Martín-Rodríguez 1995: 14). Heutzutage wird der Begriff chicano/ a allerdings eher für die Bezeichnung von Personen verwendet, die in den USA geboren wurden, und nicht für neu immigrierte Menschen aus Mexiko (ebd.: 15). Die Chicano/ a-Bevölkerung bekannte sich in den 1960er Jahren zu den Zielen des chicanismo 62 IV Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Gegenstandsbereich <?page no="63"?> und lehnte jeglichen Einfluss der anglo-amerikanischen Kulturen auf das ‚Wesen‘ der Chicanos/ as ab. Sie suchten nach einer neuen Identität, die durch das Konzept des mestizaje geprägt war - einer hybriden Identität, die aus der Begegnung der indigenen und der europäischen Völker erwächst (vgl. Martín-Rodríguez 1994: 109) und ihre Verwirklichung in ‚Aztlán‘ erlebt - einer während der Bewegung gängigen Metapher für eine imaginierte Heimat der Chicanos/ as: Aztlán soon moved to the center of the Chicano national imaginary and became a focalizing signifier for conceptualizing a specific, exclusionary ethnic essence of a people connected through a common territory, history, language and culture. By spatially and culturally lining the geographies of what is now the U.S. Southwest and Northern Mexico, Aztlán represented (and still represents) […] the spiritual unity of Mexicans and Mexican Americans. The national vision epitomized by Aztlán has been of central importance for Chicano/ a identity formation (Priewe 2007: 13-f.). Die Metapher des Aztlán steht für das Streben nach Unabhängigkeit und Zusammenhalt aller Chicanos/ as sowie für den Wunsch, die koloniale Hegemonie der USA gemeinsam zu überwinden (ebd.: 15). Die Chicano/ a-Bürgerrechtsbewegung verfolgte das Ziel, die Chi‐ cano/ a-Bevölkerung im gemeinsamen Kampf gegen die politische und die wirtschaftliche Unterdrückung zu vereinen: The Chicano Movement was a historic first attempt to shape a politics of unification on the basis of a nonwhite identity and culture and on the interests of the Mexican American working class. The movement rejected all previous identities, and thus represented a counter-hegemonic political and cultural project (Muñoz 2007: 22). Der Wunsch nach Zusammenhalt blieb allerdings eine Utopie, denn die Chicano/ a-Bewe‐ gung umfasste wenig kohärente Einzelströmungen in verschiedenen Regionen der USA, die unterschiedliche Zielsetzungen verfolgten, um Chicanos/ as einen höheren Grad an politischer und gesellschaftlicher Partizipation zu ermöglichen (ebd.: 12). Einige dieser Ein‐ zelbewegungen sind die durch César Chávez in Delano (Kalifornien) angeführte Streikwelle der Landarbeitergewerkschaft United Farm Workers (UFW) sowie die unter dem Begriff „blowouts“ oder auch „walkouts“ bekannten Schüler- und Studenteninitiativen, die in Los Angeles für eine höhere Bildungsgerechtigkeit und Bildungsbeteiligung der Chicanos/ as protestierten und sich für eine angemessene Repräsentation der Chicanos/ as und ihrer Geschichte in den Schulcurricula einsetzten (vgl. García 2020: 131 ff.). Einer der Gründe für die Massenproteste war u. a. auch der Umstand, dass das Sprechen des Spanischen in den US-amerikanischen Schulen streng untersagt wurde, sodass die SchülerInnen dafür auch körperliche Züchtigung erfuhren (ebd.: 132). Diese Art von Diskriminierung dauerte auch lange nach der Chicano/ a-Bewegung an und führte dazu, dass sich viele Chicano/ a-Eltern dagegen entschieden, ihren Kindern das Spanische beizubringen (vgl. Galindo 1995: 87 f.). Die Chicano/ a-Bürgerrechtsbewegung steht für den Wunsch, die lange Geschichte der territorialen Entwurzelung und der wirtschaftlichen und politischen Ausbeutung zu überwinden: „Be it a result of the dispossessions […] or of the displacements caused by continued immigration and economic exploitation, Chicano cultural identity emerges from a keen historical consciousness“ (Pérez-Torres 1995: 8). 1 Die englisch-spanische Chicano/ a-Literatur 63 <?page no="64"?> 25 Die Werke der Chicano/ a-AutorInnen vor 1959 blieben laut Lomelí (1994: 86) „a silent act of creativity within an Anglo-American vacuum“ und werden daher nicht berücksichtigt. 1.2 Die Chicano/ a-Literatur der 1960er und 1970er Jahre - Die Literatur des Movimiento Die Chicano/ a-Literatur der 1960er Jahre 25 trägt zur Legitimierung einer gemeinsamen Identität bei und ist eng mit den Zielen der Chicano/ a-Bürgerrechtsbewegung (Movimiento) verknüpft. In dieser Zeit erlebten die Literatur und auch der Film (Maciel 1994: 315), eine „Chicano Renaissance“ (Ortego 1971) und fungierten im Sinne einer sozial-kritischen Funktion als „instrument[s] of change“ (Lomelí 1994: 90). So wurde beispielsweise das Teatro Campesino - ein Projekt der LandarbeiterInnen der UFW (United Farm Workers) - zu einem didaktischen Instrument der Bewusstseinsgewinnung, zur politischen Propaganda für eine neue Chicano/ a-Identität, „a vehicle for action“ (ebd.: 91). Im Zeitraum von 1967 bis 1974 entstand die sog. „Movement poetry“, also eine moralisierend-politische Lyrik, deren AutorInnen sich den politischen Idealen des Movimiento verpflichtet fühlten und durch ihr literarisches Schaffen als „educators of the masses“ agierten (Martín-Rodríguez 1994: 111). Einer der wichtigsten Vertreter dieser Poesie war Alurista, der einerseits zur Etablierung des Aztlán-Konzepts beigetragen hat und andererseits einen einzigartigen Sprachstil prägte, der Elemente des Englischen und Spanischen sowie ihrer verschiedenen Mischungen enthielt. Das code-switching wurde damit zu einem wichtigen Element der poetischen Sprache der Chicanos/ as und zu einer bewussten Gestaltungsstrategie. Die Literatur dieser Zeit schaffte es, die Chicano/ a-Einheit zu propagieren und die Rechte der Chicanos/ as präsent zu machen. Allerdings blieb die Rolle der Chicanas untergeordnet, da sowohl die Bewegung als auch die Literatur zum großen Teil von männlichen Protagonisten dominiert wurden (vgl. Antoszek 2012: 36; Fernández de Pinedo 2006: 663). 1.3 Die Chicano/ a-Literatur der 1980er und 1990er Jahre - Der Chicana-Feminismus Ab den 1980er Jahren begaben sich die Chicana-Autorinnen auf die Suche nach einer Neuinterpretation ihrer kulturellen und geschlechtlichen Identität: „Chicana writers reflect the dilemmas of inheriting a cultural baggage with which they do not identify, be that because of its patriarchal dimension or because of its lack of connection with their lives.“ (Fernández de Pinedo 2006: 663 f.) Es zeigt sich also in dieser Epoche eine Paradigmenän‐ derung, denn das Sinnbild von Aztlán als idealisierte Chicano/ a-Heimat wird abgelöst durch das der Borderlands. Der Begriff bezieht sich auf ein Grenzgebiet, das durch sprachliche und kulturelle Hybridität gekennzeichnet ist und nationale Grenzen auflöst (vgl. Heide 2004: -37). Die mit Abstand einflussreichste Chicana-Figur dieser Zeit war Gloria Anzaldúa. Anzal‐ dúas Borderlands/ La frontera ist ein in vielfacher Weise hybrider Text, und zwar im Hinblick auf die dort vertretenen Genres (eine Mischung aus Poesie, Prosa und Essays), die Mischung aus historischer und autobiografischer Perspektive, aber auch im Hinblick auf die Sprache, die sich durch eine Mischung des Spanischen und Englischen auszeichnet. Anzaldúa (1987) entwirft die Vorstellung einer „mestiza consciousness“ und meint damit einen Zustand 64 IV Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Gegenstandsbereich <?page no="65"?> sprachlicher und kultureller Hybridität, der sich als Konsequenz eines Lebens zwischen den Grenzregionen Mexiko und USA ergibt: The new mestiza copes by developing a tolerance for contradictions, a tolerance for ambiguity. She learns to be Indian in Mexican culture, to be Mexican from an Anglo point of view. She learns to juggle cultures. She has a plural personality, she operates in a pluralistic mode […] Not only does she sustain contradictions, she turns the ambivalence into something else (ebd.: 79, H.i.O.). Im Gegenteil zu der Abgrenzungsrhetorik der Chicano/ a-AutorInnen rund um die Bür‐ gerrechtsbewegung entwirft Anzaldúa in diesem Werk die Vorstellung einer hybriden Grenzidentität, die durchaus im Sinne von Bhabhas (1994) third-space-Konzept aus der Begegnung verschiedener kultureller Einflüsse erwächst und aus den Ambivalenzen etwas Neues hervorbringt („something else“) - „a multiple subjectivity, which may pose difficulties and cause pain, but which also provides strength through cultural inclusivity and interpenetration“ (Priewe 2007: 43). Die kulturelle Grenzüberschreitung wird auch auf der sprachlichen Oberfläche umgesetzt, denn Anzaldúa schreibt ihr Werk in einer Mischung aus Englisch und Spanisch: „In few other works is the ‚mestizaje‘ of form and content so seamlessly executed as it is in Borderlands/ la Frontera - a text that calls for the deconstruction of ‘genre’ and ‘gender’ differences through language“ (Pérez 2020: 292). „El lenguaje de la frontera“ (Anzaldúa 1987: 55) - „die Sprache der Grenze“ - die von vielen als unreines Spanisch empfunden wird, sei laut Anzaldúa (ebd.) die einzige Möglichkeit, sich der sprachlichen Hegemonie der Standardvarietäten des Spanischen und Englischen zu widersetzen und eine eigene Sprache zu kreieren: For a people who are neither Spanish nor live in a country in which Spanish is the first language; for a people who live in a country in which English is the reigning tongue but who are not Anglo; for a people who cannot entirely identify with either standard (formal, Castilian) Spanish nor standard English, what recourse is left to them but to create their own language? Diese neue Sprache ist Anzaldúas Weg aus der Isolierung, die einzige Möglichkeit, die eigenen Positionen als Chicana, als Frau und als Autorin sichtbar zu machen und die Machtverhältnisse durch das Schreiben herauszufordern: Until I am free to write bilingually and to switch codes without having always to translate […], and as long as I have to accommodate the English speakers rather than having them accommodate me, my tongue will be illegitimate […]. I will have my voice: Indian, Spanish, white. I will have my serpent’s tongue - my woman’s voice, my sexual voice, my poet’s voice. I will overcome the tradition of silence (ebd.: 59). Die Überwindung und die Dekonstruktion von Identitätskategorien wie gender oder ethnische Herkunft kann also nur durch eine Sprache geschehen, die keine Kompromisse eingeht und sich keiner Tradition und keinem Standard beugt. Die Chicano/ a-Literatur der 1980er Jahre wird von Autorinnen dominiert, darunter die in dieser Untersuchung vertretene Sandra Cisneros auf dem Gebiet des Romans, Pat Mora in der Lyrik und Cherríe Moraga im Theater (vgl. Lomelí 1994: 104). Für diese Autorinnen hatte die Identitätssuche weniger mit einer kollektiven Chicano/ a-Identität zu tun und wird eher in ihren unterschiedlichen Ausprägungen auf der individuellen Ebene 1 Die englisch-spanische Chicano/ a-Literatur 65 <?page no="66"?> verhandelt: „Their motivation seems to be grounded on examining the inner-self, the person vis-à-vis intrahistorical matters, such as maturation, the passage of time, family upbringing, cultural institutions, peer pressure, a sense of otherness, sexuality, social conditioning and expectations.“ (ebd.) Die Autorinnen werden mit dem ‚Chicana Feminism‘ assoziiert, denn ihre Literatur stellt einen Gegenentwurf zur männlichen Chicano-Erfahrung dar, sie ist aber auch als eine Antwort auf den ‚weißen‘ Feminismus zu verstehen, den sie aus der Perspektive ethnischer Minderheiten neu interpretiert (vgl. Fernández de Pinedo 2006: 665). Viele Chicano/ a-Romane der 1980er Jahre thematisieren das barrio (Viertel, Kiez) als Zentrum des gesellschaftlichen Lebens der Chicano/ a-Community. Eines der wichtigsten Werke von Sandra Cisneros ist sicherlich der coming-of-age-Roman The House on Mango Street (1984), der die Erfahrungen der Latino/ a-BewohnerInnen eines Chicano/ a-Viertels in Chicago aus der Perspektive der jungen Protagonistin Esperanza darstellt. In den einzelnen Vignetten werden aus Esperanzas Perspektive die verschiedenen Schicksale der Nachbar- Innen aus dem barrio geschildert, aus denen die vielfachen sozialen Probleme der Latino/ abarrios hervorgehen: Gewalt, Armut, Unterdrückung von Frauen in patriarchalischen Strukturen etc. Esperanza (Hoffnung) versucht, diesem Lebensumfeld zu entkommen, und begibt sich auf die Suche nach einem eigenen Zuhause („a house of my own“, Cisneros 1984: 108), sie signalisiert aber auch, dass sie zurückkommen möchte, um ihre Community zu unterstützen: „They will not know I have gone away to come back. For the ones I left behind. For the ones who cannot out“ (ebd.: 110). Das Haus („Not a flat. Not an apartment in back. Not a man’s house. Not a daddy’s. A house all my own.“, ebd.: 108) ist das zentrale Bild des Textes und steht für eine sexuelle und ethnische Emanzipation. Die Suche nach dem eigenen Heim ist mit einer Suche nach Selbstverwirklichung und nach eigener Identität verbunden: „Not having a place to identify as home implies not being able to construct one’s world of reference. From this point of view, Esperanza’s search becomes one seeking a system of shared values, an opinion about the world, an identity.“ (Careri 2013: 15) Esperanza fühlt sich also einerseits dem barrio und seinen BewohnerInnen verbunden, andererseits ist das Verlassen des armen Viertels für sie der einzige Weg, sich durch Bildung eine bessere Zukunft aufzubauen. Diesen Konflikt erfahren viele der ProtagonistInnen der in dieser Studie eingesetzten Chicano/ a-Texte. Celaya (Lala) in Cisneros’ Roman Caramelo (2002) hat ein kompliziertes Verhältnis zu ihrer Großmutter Soledad, merkt aber in dem Moment, in dem sie sich ihren Eltern und der strengen katholischen Moral ihrer Schule widersetzen möchte, dass ihre Geschichte untrennbar mit der ihrer Grußmutter verbunden ist (vgl. Kapitel VII, 1). Auch der Titel des Romans spielt auf den caramelo rebozo (Schal) an, den Lala von ihrer Großmutter erbt und der für sie die enge Verwobenheit aller Familienmitglieder repräsentiert. Lalas Weg zur Selbstverwirklichung ist also nur möglich, wenn sie die Familie als Teil ihres eigenen Selbst akzeptiert: „It hits me at once, the terrible truth of it. I am the Awful Grandmother. […] Him inside her, me inside him, like Chinese boxes, like Russian dolls, like an ocean full of waves, like the braided threads or a rebozo.“ (Cisneros 2002: 424 f., H. i. O.) Im Roman Sammy & Juliana in Hollywood (Sáenz 2004) entscheidet sich Sammy - anders als Ana im Film Real Women Have Curves (Cardoso 2002) - dafür, in seinem barrio Hollywood zu bleiben und seinen Vater nach einem Unfall zu pflegen, wofür er seine Zukunft an einem renommierten College aufgibt (vgl. Kapitel VIII, 1). 66 IV Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Gegenstandsbereich <?page no="67"?> 26 Weitere Informationen unter: https: / / www.education.txstate.edu/ ci/ riverabookaward/ (15.04.2023). 27 Weitere Informationen unter: https: / / wowlit.org/ blog/ 2012/ 05/ 07/ englishspanish-codeswitching-in -childrens-literature/ (15.04.2023). Anhand der Beispiele wird also deutlich, dass das barrio ein zentrales Setting für viele Chicano/ a-Texte von den 1980er bis hin zu den 2000er Jahren bleibt. Wie Fernández de Pinedo (2006: 668) suggeriert, verändern diese Romane die Vorstellung eines Chicano/ abarrios als eines sicheren heimischen Ortes, die in den frühen Texten der Chicano/ a- Literatur verbreitet war. Ana, die Protagonistin des Films Real Women Have Curves, der auf dem gleichnamigen Theaterstück der Autorin Josefina López beruht, macht ähnliche Erfahrungen (vgl. Kapitel IX, 1). Sie möchte einerseits ihre Familie und die Schneiderei ihrer Schwester unterstützen, entscheidet sich aber letztendlich dafür, in New York zu studieren und sich dem traditionellen Rollenverständnis ihrer Mutter Carmen zu widersetzen. Sie ist die einzige der drei ProtagonistInnen, die die Familie verlässt, um für sich eine neue Zukunft aufzubauen. Die aktuelle Fachliteratur zum Latino/ a- und Chicano/ a-Film problematisiert vor allem die immer noch starke Unterrepräsentation der Latinos/ as in der US-Medienwelt und die stark stereotypisierenden Darstellungen von Latinos/ as als Kriminelle, Drogenhändler, Prostituierte oder Putzkräfte (vgl. Aldama 2019: 3). Der Film Real Women Have Curves bricht mit diesen Stereotypen, indem er eine Protagonistin entwirft, die traditionelle Vorstellungen von Schönheit überwindet und ihren Weg in die Unabhängigkeit durch Bildung und Courage sucht. 1.4 Die Chicano/ a-Literatur der 2000er Jahre Die Identitätssuche und das Erwachsenwerden an der Grenze zwischen den USA und Mexiko bleiben wichtige Themen der Chicano/ a-Literatur und sind vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur (Young Adult Fiction) zu finden - ein Bereich, in dem die mehrsprachige Literatur in den letzten Jahren besonders vertreten zu sein scheint. Recherchen nach aktuellen Werken der Kinder- und Jugendliteratur, wie z. B. auf den Seiten des Texas State University College of Education, das den Tomás Rivera Mexican-American Children’s Book Award 26 vergibt, oder auf diversen Blogs, die Bücherlisten zu dieser Thematik erstellen (vgl. z. B. die Liste der University of Arizona) 27 , machen die große Anzahl an mehrsprachigen Jugendromanen, aber auch an mehrsprachigen Bilderbüchern sichtbar. Dazu zählen beispielsweise die Jugendromane Mexican Whiteboy (de la Peña 2008) oder auch der deutlich jüngere vielfach prämierte Roman I Am Not Your Perfect Mexican Daughter (Sánchez 2017). Beide weisen code-switching-Elemente auf, die allerdings deutlich sporadischer vorkommen als in den in dieser Studie eingesetzten Texten. Auch wenn Sprachmischung weniger intensiv gebraucht wird, scheint es für Sánchez - wie auch für ihre VorgängerInnen der 1960er Generation - eine bewusste Gestaltungsstrategie zu sein, die sie unter Bezug auf die junge Protagonistin des Romans folgendermaßen begründet: I don’t want to differentiate them because those words are just such a part of who she is. She can’t separate English and Spanish. It’s just part of her world, […] I feel like we live in a country that should know a lot of Spanish and if someone doesn’t, that’s not really my problem. They should just look it up. And within context, a lot of times they can just figure it out (Prado 2017). 1 Die englisch-spanische Chicano/ a-Literatur 67 <?page no="68"?> 28 Folgende Bilderbücher weben die spanischen Wörter systematisch in die englische Narration ein: I Love Saturdays y domingos (Ada & Savadier 2004), Dear Primo: A Letter to My Cousin (Tonatiuh 2011) oder Before You Were Here, Mi Amor (Vamos & Cohen 2009). Einige WissenschaftlerInnen vermuten eine Abkehr der neueren Latino/ a-Literatur von Mehrsprachigkeit als literarischem Gestaltungsmittel (vgl. Pérez 2020: 282), allerdings scheint die mehrsprachige Gestaltung im Bereich der spanisch-englischen Bilderbücher zuzunehmen (vgl. Kümmerling-Meibauer 2013). 28 Diese Entwicklung ist für den Fremdsprachenunterricht ganz besonders erfreulich, weil gerade Bilderbücher aufgrund ihrer geringeren sprachlichen Komplexität bei gleichzeitiger inhaltlicher Tiefe bei der Darstellung von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität ihrer ProtagonistInnen eine besondere Chance bieten, die Ziele des Mehrsprachigkeitslernens bereits in der Sekundarstufe I umzusetzen. Die Recherche zu den neuesten Entwicklungen in der Chicano/ a-Literatur in den letzten zehn Jahren (ab 2010) lässt eine (noch relativ vage) Vermutung äußern, dass die Literatur der Chicanos/ as immer seltener als eine separate Richtung in der Literatur der Latino/ as der USA erforscht wird und zunehmend von „Latino/ s Literatures“ (Pérez 2020) gesprochen wird. Damit wird der Diversität und der thematischen und der sprachlichen Komplexität der Literaturen Rechnung getragen, die immer zweisprachig sind - „always bilingual in the sense that it is the literature of writers who co-habit two languages and two cultures (if not more) at the same time“ (ebd.: 283). 2 Sprachenwechsel als Gestaltungsmittel der Chicano/ a-Literatur und des Chicano/ a-Films Wie bereits oben deutlich geworden ist, ist der Wechsel zwischen dem Spanischen und Englischen eine häufige Gestaltungsstrategie der Chicano/ a-Literatur, die alle drei Epochen durchzieht, und wie der Aussage der jungen Schriftstellerin Sánchez zu entnehmen ist, wird er immer noch bewusst als politisches Signal eingesetzt. Für Keller und Keller (1994: 166) ist das code-switching „the single most unique characteristic element of U.S. Hispanic creative literature“. Alurista sieht sich als Pionier der mehrsprachigen Chicano/ a-Literatur. Wie er in einem Interview mit Bruce-Novoa im Jahr 1980 formuliert, war er der erste Chicano-Autor, der sich in seiner Poesie systematisch des Sprachenwechsels bediente: I don’t want to brag, but I believe that I was the first modern Chicano writer who dared send bilingual work to an editor. […] And that was only a natural thing. I knew that this would happen; that all that was needed was for someone to get the nerve… to say this is the way I think, the way I write, this is the way the people write and think, this is how they speak. One of the responsibilities of the writer is to use the popular language (Bruce-Novoa 1980: 271-f.). Für Alurista resultiert der literarische Sprachenwechsel zwischen Spanisch und Englisch aus der sprachlichen und gesellschaftlichen Realität vieler Chicanos/ as. Das code-switching ist Ausdruck einer Grenzexistenz, die durch den Dialog mindestens zweier kultureller Gemein‐ schaften geprägt ist. Wie unzertrennlich die Frage der Identität und die des sprachlichen Ausdrucks für die Chicano/ a-AutorInnen ist, zeigt auch die folgende Aussage von Anzaldúa: 68 IV Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Gegenstandsbereich <?page no="69"?> „Ethnic identity is twin skin to linguistic identity - I am my language“ (Anzaldúa 1987: 59). Wie aus dem weiteren Verlauf des Interviews mit Bruce-Novoa (1980: 272) hervorgeht, gefiel Aluristas Entscheidung, den Sprachenwechsel als literarische Gestaltungsstrategie einzusetzen, seinem Herausgeber nicht. Er wurde ermahnt, möglichst korrektes Englisch zu benutzen: „You ought to use correct English“ (ebd.), woraufhin Aurista auf die Gründe für den Sprachenwechsel eingeht: „we don’t write in Spanish so they won’t understand, but so that they will be forced to recognize the need to learn Spanish as well.“ (ebd.: 280) Der Einsatz des Spanischen wird hier als eine politische Strategie begründet, die die Machtverhältnisse hinterfragen soll und die der benachteiligten Minderheit eine sprachlich superiore Stellung verleiht. Zwar mag Aluristas Ton aggressiver erscheinen („forced“), diese Art von Begründung ist aber auch heutzutage unter den Chicano/ a-AutorInnen weit verbreitet, wie dies aus dem oben zitierten Interview mit Erika Sánchez deutlich wird. Die Affirmation der eigenen Sprache und Identität ergibt sich folglich aus einer Opposition zwischen dem Wir („we“) und den anderen („they“), denen der Zugang zum Chicano/ a-Text bei nicht vorhandenen Spanischkenntnissen verweigert wird. In keiner anderen Gattung der Chicano/ a-Literatur ist das code-switching so verbreitet wie in der Lyrik. Auch hier erfüllt es in den 1960er und 1970er Jahren eine politische Legitimierungsfunktion. Mehrsprachige Gedichte dieser Zeit fungieren als „aggressively affirmative form of self-identification“, wie Pérez-Torres (1995: 214) in seiner umfangrei‐ chen Studie zur Chicano/ a-Lyrik feststellt. Auch Martin (2005) betont, dass der Sprachen‐ wechsel nicht einfach den Sprachgebrauch der Chicano/ a-Community nachahmen soll, sondern dass er der Validierung der sprachlichen und kulturellen Herkunft der Chicanos/ as dient: „[B]y including their ethnic languages, writers lay claim to the languages of their communities and resist the dominance of English by proposing that these languages can accompany English in the creation of works of US literature.“ (ebd.: 403-f.) Illustrieren lassen sich diese Annahmen anhand des Gedichtes „address“ (Alurista 1976: 26): address occupation age marital status perdone. . . yo me llamo pedro telephone height hobbies previous employers perdone. . . yo me llamo pedro pedro ortega zip code i.d. number classification rank perdone mi padre era 2 Sprachenwechsel als Gestaltungsmittel der Chicano/ a-Literatur und des Chicano/ a-Films 69 <?page no="70"?> 29 „Don“ wird in vielen spanischsprachigen Ländern als vertraute und weniger formelle Form für „Herr“ genutzt. el señor ortega (a veces don josé) race Die Trennung der beiden Sprachen wird auf der formalen Ebene klar und stringent umgesetzt. Wie Candelaria (1986: 83) in ihrer Einführung in die Chicano/ a-Poesie feststellt, besteht der englischsprachige Anteil des Gedichtes lediglich aus Substantiven, womit er sich auch auf den ersten Blick von syntaktisch vollständigeren Sätzen der spanischen Zeilen abhebt. Die Auflistung der englischen Substantive gleicht dem Vorlesen der Angaben eines Behördenfor‐ mulars und entwirft möglicherweise die Vorstellung einer unpersönlichen, förmlichen und bürokratischen englischsprachigen Öffentlichkeit (vgl. Martín-Rodríguez 1995: 44 f.). Die Poesie von Alurista ist, wie Keller und Keller (1994: 170) bemerken, von Oralität geprägt. Dieses Prinzips bedient sich Alurista auch in diesem Gedicht, denn werden die Substantive schnell hintereinander vorgelesen, entsteht der Eindruck einer maschinellen Abfertigung. Die spanischsprachigen Zeilen suggerieren dagegen einen humaneren und intimeren Umgang mit der angesprochenen Person, „Don José“ 29 . Die Abfrage von Don José scheint am Ende auf eine finale (aber zentrale) Kategorie zugespitzt - „race“. Scheinbar suggeriert Alurista eine Entpersonalisierung, ja gar eine Entmenschlichung der Chicano/ a-Bevölkerung durch die vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen in den USA, wodurch die Chicanos/ as letztendlich auf ihre ethnische Herkunft („race“) reduziert werden. Zu dieser ersten Phase der Chicano/ a-Lyrik rund um die Bürgerrechtsbewegung gehört auch der Dichter Sergio Elizondo, dessen Gedicht „She“ (Elizondo 1977) in fast allen Unterrichtseinheiten dieser Studie zum Einsatz kam und den SchülerInnen als generische Vorlage für das Verfassen eigener mehrsprachiger Gedichte diente. She, She speaks English, She raps English, She reads English, She sits English, Pero quiere en español. Sueña en español, piensa en español, va a la church en español. Juega en español, works in English, siente en español, drives in English, hace cariños en español, runs in English… se mece en las curvas de sus pasos en español, Mira,-¡Ay! ¡Mira! en español. 70 IV Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Gegenstandsbereich <?page no="71"?> 30 Ein Beispiel für diese letzte Kategorie ist der mit dem Pulitzer Award ausgezeichnete Roman The Brief Wondrous Life of Oscar Wao des US-amerikanisch-dominikanischen Schriftstellers Junot Díaz (2007). Duerme, duerme chula, únicamente en español. Im Gegensatz zum letzten Gedicht, das ein starkes politisches Signal sendet, präsentiert Elizondo in „She“ einen sehr persönlichen, intimen Blick auf das weibliche Ich. Er entwirft einen Kontrast zwischen den im Alltag ausgeübten eher rationalen Handlungen (Sprechen, Lesen, Arbeiten, Fahren, Laufen), die im Englischen ausgedrückt werden, und den in Spa‐ nisch wiedergegebenen Gedanken, Gefühlen und Träumen. Da der gesamte Gedichtband den Themen Liebe und Sinnlichkeit gewidmet ist (vgl. Herms 1990: 213), lässt sich auch für dieses Gedicht schlussfolgern, dass die Protagonistin eine gewisse Anziehungskraft auf den Betrachter ausübt, der sie als „chula“ (mex. Spanisch für „hübsch“) bezeichnet. Wie bereits bei Alurista suggeriert die sprachliche Zweiteilung des Gedichtes auch eine inhaltlich thematisierte Separierung zwischen dem Intimen und Emotionalen und dem rational geprägten Alltag bzw. einer unpersönlich erscheinenden US-Öffentlichkeit. Die Sprache der Emotionen und der Nähe scheint in beiden Gedichten das Spanische zu sein, denn es ist die einzige Sprache, die als nah und vertraut empfunden wird. Dies ist also weniger der Entwurf einer kulturellen und sprachlichen Hybridität, wie dies später bei Anzaldúa (1987) der Fall sein wird, es ist vielmehr eine Sehnsucht nach dem Spanischen, deren Verwendung Chicanos/ as in dieser Epoche vielerorts öffentlich untersagt wurde. So ist es nicht verwunderlich, dass das Spanische und das Englische in beiden Gedichten keine Berührungspunkte haben. Innerhalb einer gleichen Zeile wird zwischen den beiden Sprachen nicht gewechselt (intrasentential code-switching), sodass auch keine syntaktische Durchdringung vorkommt und es sich daher um ein additives Verfahren handelt (vgl. Hel‐ mich 2016: 482). Der Sprachenwechsel in den Gedichten, wie auch in Lyrik im Allgemeinen, ist häufig aufgrund der starken sprachlichen Verdichtung intensiver und komplexer als in narrativen Texten, wobei die spanischen Anteile ohne eine entsprechende Übersetzung von LeserInnen, die des Spanischen nicht mächtig sind, nicht erschlossen werden können. In seiner Studie Ästhetik der Mehrsprachigkeit stellt Helmich (2016) exemplarisch ausgewählte Auszüge aus Chicano/ a-Romanen vor und weist darauf hin, dass in der Gattung Roman stets eine Grund- und eine Einlagerungssprache vorhanden ist, sodass die beiden Sprachen nie gleichwertig, wie oben in der Lyrik, sondern immer hierarchisiert auftreten (ebd.: 178). In den im Rahmen dieser Untersuchung eingesetzten Romanen ist Englisch immer die präsentere Sprache, sie dominiert also die Narration. Hinsichtlich der Verständlichkeit der Einschübe kann es große Unterschiede geben. Torres (2007: 77 ff.) unterscheidet diesbezüglich: (1) „cushioned Spanish“, d. h. Einschübe werden erläutert, paraphrasiert oder direkt übersetzt, (2) komplexere spanische Elemente, die das Verständnis des Textes bei einsprachigen Lesenden nicht hindern, sodass sie der Handlung weiterhin folgen können, und (3) häufiger Sprachenwechsel, der ausschließlich von zweisprachigen Lesenden verstanden werden kann 30 . Die beiden Romane Caramelo und Sammy & Juliana in Hollywood lassen sich den Kategorien (1) oder (2) zuordnen, wobei der Sprachenwechsel in Caramelo deutlich intensiver ausfällt, aber auch häufigere Kontextualisierungen und 2 Sprachenwechsel als Gestaltungsmittel der Chicano/ a-Literatur und des Chicano/ a-Films 71 <?page no="72"?> 31 Zur Darstellung der Mehrsprachigkeit im zeitgenössischen Film vergleiche auch Junkerjürgen & Rebane 2019. Erläuterungen bzw. Übersetzungen enthält. Im Gegensatz dazu enthält Sammy & Juliana in Hollywood deutlich kürzere, aber auch weniger kontextualisierte spanische Einschübe, wobei diese sehr häufig in der Figurenrede vorkommen, und zwar häufig in Situationen, in denen Angehörige älterer Generationen zur Sprache kommen, oder wenn Gefühle oder spontane Äußerungen ausgedrückt werden (vgl. auch Helmich 2016: 179 f.). Der folgende Auszug aus Sammy & Juliana in Hollywood illustriert einige dieser Strategien: My father looked at me and shook his head. “A veces no te conozco.“ He‘d switched to Spanish. That meant he was mad. Not good. Sometimes, I disappointed him. “Estás muy joven para pensar así.“ He was right - I was too young to be so cynical. […] He laughed. “Me estoy volviendo loco.“ “No dad, you‘re not crazy“. I hated when he got down on himself (Sáenz 2004: 82-f.). Es ist also der Vater, der hier zum Spanischen wechselt, wobei der Sprachenwechsel vom Ich-Erzähler Sammy als Resultat seines Stimmungswechsels begründet wird. Auch wenn die genaue Bedeutung der Einschübe ohne Spanischkenntnisse schwer zu erraten ist, so wird ihr Inhalt doch für die LeserInnen im weiteren Gesprächsverlauf verständlich. Beim ersten spanischen Satz wird deutlich, dass es sich um eine kritische Bemerkung des Vaters handelt, beim zweiten wird die Bedeutung der Aussage paraphrasiert und auch der dritte Satz ist durch die Antwort von Sammy verständlich. Ähnlich verhält es sich mit dem Sprachenwechsel im Film Real Women Have Curves (Cardoso 2002), denn auch hier nutzt die Protagonistin eher Spanisch, wobei ihr Großvater und vor allem ihre Mutter häufig ins Spanische wechseln. Dies geschieht meistens bei Streitgesprächen, bei denen der Sprachenwechsel eine emphatische Wirkung entfalten soll, wie Androutsopoulos (2007) im Folgenden anmerkt: We witness the parent generation using the home language with each other and with their children, but the younger ones using (an ethnolect of) the majority language with each other. In a mother-daughter dialogue in Real Women Have Curves, the mother switches to Spanish for emphatic repetition in an emotional outburst (ebd.: 220). Die wenigen spanischen Einschübe im Film sind also der Unterstreichung der Emotionalität dienlich, sind aber oft für den Handlungsverlauf redundant und daher für das Verständnis der Szene eher sekundär. Es kann also davon ausgegangen werden, dass sich der Film eher an einsprachige, also in erster Linie an englischsprachige ZuschauerInnen richtet (ebd.). In seiner Studie zu Mehrsprachigkeit in Hollywood-Filmen unterscheidet Bleichenbacher (2008) weitere Funktionen, die das code-switching annehmen kann: Der Sprachenwechsel kann als „indicator of geographical setting“ (ebd.: 26) fungieren, d. h. mit dem Ziel eingesetzt werden, eine bestimmte soziale Realität widerzuspiegeln, wobei diese Strategie immer noch eine ästhetische bleibt und die Realität nicht abbilden kann. 31 Des Weiteren ist eine sozialkritische Funktion zu nennen, denn Sprachenwechsel fordert Ideologien rund um Standardsprache heraus und reflektiert das Verhältnis zwischen Sprache und Macht (ebd.: 28), aber auch die Schaffung eines bestimmten humorvollen Effekts ist denkbar (ebd.: 29). 72 IV Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Gegenstandsbereich <?page no="73"?> 32 Siehe beispielsweise die GewinnerInnen des Tomas Rivera Book Award, benannt nach dem promi‐ nenten Chicano-Autor Tomás Rivera: https: / / www.education.txstate.edu/ ci/ riverabookaward/ bookaward-winners.html oder die Lektüreempfehlungen, die anlässlich des Young Adult Hispanic Heritage Month zusammengestellt werden: https: / / arapahoelibraries.bibliocommons.com/ list/ share/ 67877290 2/ 700086287 (15.04.2023). V Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Chance für das Mehrsprachigkeitslernen? Im Folgenden soll ausgehend von den im Kapitel III dargestellten Grundsätzen des Mehr‐ sprachigkeitslernens als ‚mehrsprachige Bildung‘ eruiert werden, warum mehrsprachige Chicano/ a-Texte einen wichtigen Beitrag zur Bildung „mehrsprachiger Subjekte“ leisten können, welche Zielvorstellungen an einen solchen Englischunterricht geknüpft sind und welche Prinzipien der didaktisch-methodischen Unterrichtsgestaltung bei der Arbeit mit den Chicano/ a-Texten zu beachten sind. Zunächst soll der Frage nachgegangen werden, warum gerade die Chicano/ a-Texte und die Sprachenkombination Englisch-Spanisch einen Vorteil im Vergleich zu anderen mehrsprachigen Literaturen bzw. Sprachenkombinationen für den Englischunterricht bieten. Die mehrsprachigen Chicano/ a-Texte weisen im Vergleich zu anderen mehrsprachigen Texten ein relativ umfangreiches Textkorpus auf und damit eine große Auswahl an Texten verschiedener Gattungen, die im Englischunterricht eingesetzt werden können. Dabei stellt der Sprachenwechsel kein Randphänomen dar, sondern eine literarische Darstellungsform, die seit den 1960er Jahren auch im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur konsequent umgesetzt wird. Dass die Chicano/ a-Literatur in diesem Bereich besonders produktiv ist, zeigen zahlreiche Zusammenstellungen an prämierten Werken, die spezifisch für Kinder und junge Erwachsene verfasst wurden. 32 Der Englischunterricht kann also aus diesem umfangreichen, für junge SchülerInnen thematisch leicht zugänglichen Textkorpus schöpfen. Der zweite Grund für den Einsatz dieser Texte ist aus der Relevanz und der Aktualität der in ihnen mehrsprachig verhandelten gesellschaftlichen Entwicklungen abzuleiten. Der Grenzraum zwischen den USA und Mexiko ist gerade in der Ära Trump noch stärker zu einem Ort der Ausgrenzung geworden. Die Mauer wurde zu einem Symbol politischer Abgrenzung, mit dem man eine „‚Invasion‘ in die Wohlfahrtssysteme der USA und die Unterwanderung durch organisierte Kriminalität“ abzuwenden versuchte (Maihold 2021). Das aus heutiger Sicht sehr komplexe Verhältnis zwischen den USA und Mexiko kann ausgehend von den Chicano/ a-Texten historisch kontextualisiert und in seinen Konsequenzen für die Situation von MigrantInnen in den USA greifbar gemacht werden. Die mehrsprachigen Chicano/ a-Texte blicken auf diese gesellschaftlichen Entwicklungen aus der Perspektive mexikanischstämmiger MigrantInnen und modellieren sie im Sinne einer kulturellen Stimmenvielfalt in beiden Sprachen der Chicano/ a-Community, nämlich sowohl in Englisch als auch in der Minderheitensprache Spanisch. Des Weiteren lassen sich die mehrsprachigen Chicano/ a-Texte in den Unterrichtsalltag sowohl des Englischals auch des Spanischunterrichts leicht integrieren, weil die Grenz‐ <?page no="74"?> 33 Das Thema ‚Migrationsbewegungen in den USA‘ lässt sich curricular auch im Englischunterricht anderer Bundesländer verorten, so z.-B. in Hessen in den Themenfeldern „Ideals and realities (Ideal und Wirklichkeit)“ und „The encounter of cultures (Das Zusammentreffen der Kulturen)“ (vgl. Hessisches Kultusministerium 2019: 37-41). zone zwischen den USA und Mexiko sowie die Migrationsbewegungen zwischen den Ländern ein gängiges Thema beider Fächer im Oberstufenbereich sind. Curricular lässt sich das Thema ‚Migration‘ im Englischunterricht im 2. Kurshalbjahr „Nationale und kulturelle Identität“ (vgl. Senatsverwaltung 2014: 29) und im Spanischunterricht im 3. Kurshalbjahr „Eine Welt - globale Fragen“ (vgl. Senatsverwaltung 2017: 34) verankern und bietet daher eine gute Grundlage zum fächer- und sprachenverbindenden Fremdsprachenlernen. 33 Ein Blick in die Oberstufenlehrwerke für Englisch und Spanisch, die sich diesen Themen widmen, macht deutlich, dass diese bereits mehrsprachige Chicano/ a-Literatur in ihre Lektionen integrieren (vgl. z.-B. Escárate López et al. 2014; Klein & Kugler-Euerle 2013). Bei der konkreten Umsetzung mehrsprachiger Chicano/ a-Texte im Englischunterricht der Oberstufe stellt sich zunächst die Frage, ob die spanischen Anteile der Texte für alle SchülerInnen verständlich sind. Der Vorteil der Chicano/ a-Texte ist dabei, dass sie eine Sprache in den Englischunterricht einbringen, die vielen Lernenden als zweite Fremd‐ sprache vertraut sein wird und die sie möglicherweise zumindest auf einem grundlegenden Niveau in der Oberstufe beherrschen könnten. Die Sprachenkombination Englisch-Spa‐ nisch könnte den SchülerInnen außerdem vertraut sein, weil sie in der Medienwelt, z. B. in bei Jugendlichen populären Serien (z. B. Narcos, Modern Family, One Day at a Time) oder in der Latino/ a-Popmusik, weit verbreitet ist. Wie anhand des im vorigen Kapitel zitierten Romanauszugs aus Sammy & Juliana in Hollywood (Sáenz 2004) deutlich wurde, wirkt sich auf die Verständlichkeit des Spanischen ebenfalls positiv aus, dass sich gerade die Chicano/ a-Romane (mit denen in dieser Studie mehrheitlich gearbeitet wurde) durch eine starke Kontextualisierung des Spanischen bzw. durch eigene Übersetzungsstrategien auszeichnen, die den einsprachigen LeserInnen die spanischen Anteile des Textes zugänglich machen. Wenn die Chicano/ a-AutorInnen auf den Einsatz solcher Strategien verzichten, können Lernende ohne Spanischkenntnisse auf die Kenntnisse einer anderen romanischen Sprache (meistens Französisch, Latein oder Italienisch) zurückgreifen, um die Textoberfläche zu dekodieren, wodurch Worterschlie‐ ßungsstrategien trainiert und sprachenvernetzendes Lernen angestoßen werden kann. 1 Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Beitrag zur mehrsprachigen Bildung Um den Zusammenhang zwischen englisch-spanischen Chicano/ a-Texten und mehrspra‐ chiger Bildung herzustellen, wird im Folgenden auf die im Kapitel III, 5 vorgestellten Aspekte der fremdsprachlichen Bildung nach Küster (2013) zurückgegriffen. Für die Ler‐ nenden sind die Texte durch die Kombination zweier Fremdsprachen in doppelter Hinsicht fremd, was bei der Rezeption unweigerlich zu einem verlangsamten Lesetempo und zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit für die sprachliche Form führt (vgl. „verzögertes Lesen“ in Delanoy 2012: 431 ff.). Diese doppelte Fremdheit der mehrsprachigen Texte verlangt 74 V Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Chance für das Mehrsprachigkeitslernen? <?page no="75"?> von den Lernenden einen reflektierten Umgang mit Sprache, der verschiedene Ebenen der Textarbeit betrifft: die Dekodierung der sprachlichen Oberfläche, die Analyse des mehrsprachigen Sprachverhaltens einzelner literarischer Figuren oder die Interpretation verschiedener Funktionen des literarischen Sprachenwechsels als Gestaltungsmittel. Die Förderung von Reflexivität (vgl. Küster 2013) könnte im Umgang mit mehrspra‐ chigen Chicano/ a-Texten zunächst bei der Dekodierung des Spanischen stattfinden, da sie eine Aktivierung sprachlicher und nicht-sprachlicher Wissensbestände und Strategien bei den Lernenden voraussetzt. Die Gegenüberstellung von Spanisch und Englisch ermöglicht es, die SchülerInnen dafür zu sensibilisieren, wie die sprachliche Form bedeutungsstiftend wirkt. Dies kann sich sowohl auf die Frage beziehen, welche Wirkung eine bestimmte Sprachwahl in einem kulturellen und politischen Kontext entfalten kann oder wie sich bestimmte Einstellungen zu Sprachen und Kulturen im Sprachverhalten der Protagonist- Innen widerspiegeln. Wie anhand zuvor besprochener Beispiele der Chicano/ a-Literatur deutlich wurde, können Lernende des Weiteren darüber reflektieren, wie Sprache als Gestaltungsmittel genutzt wird, um den literarischen Text in Beziehung zum politischen Diskurs zu setzen oder um das Verhältnis einer literarischen Figur zu einer bestimmten kulturellen Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen. Die Reflexion über die sozialkritische Funktion des literarischen Sprachenwechsels in den Chicano/ a-Texten ist aber erst möglich, wenn Lernende in der Lage sind, durch wide-reading-Strategien (vgl. Hallet 2007, 2010) den historischen und politischen Kontext des Chicano/ a-Textes zu erfassen. Dies bedeutet bei‐ spielsweise, dass sie die untergeordnete Stellung des Spanischen als Minderheitensprache in den 1960er Jahren und den langen Kampf der Chicanos/ as, diese Sprache in der Öffentlichkeit nutzen zu dürfen, anerkennen. Erst unter diesen Voraussetzungen können Lernende verstehen, wie die Chicano/ a-AutorInnen den Wechsel ins Spanische als ein Instrument der Selbstermächtigung nutzen. Solche Lern- und Denkprozesse sind eng verbunden mit dem Prinzip der Sozialität und der politischen Dimension von Sprachbe‐ wusstheit, die auf die Sensibilisierung der Lernenden für den Zusammenhang zwischen Sprache und Macht abzielt. Ein weiterer wichtiger Reflexionsvorgang, der durch die Arbeit mit diesen Texten angestoßen werden kann, betrifft die Frage, wie sich Einstellungen gegenüber Sprachen und der gesellschaftliche Status, den ihre SprecherInnen genießen, innerhalb eines bestimmten Zeitraums verändern können (Prozessualität). Die Chicano/ a-Texte bieten hierfür eine gute Grundlage, denn sie stellen dar, wie sich unterschiedliche Generationen der Protago‐ nistInnen je nach historischem Kontext und ihren Erfahrungen als Minderheitengruppe in den USA hinsichtlich ihrer Spanischkenntnisse, aber auch ihrer Einstellungen gegenüber Mexiko unterscheiden. Die Jugendlichen aus dem Roman Sammy & Juliana in Hollywood, die in den 1960er Jahren in den USA aufwachsen, begreifen das Spanische als wesentliches Merkmal ihrer Chicano/ a-Identität, doch es wird ihnen untersagt, diese Sprache in der Schule zu sprechen. Dagegen betrachtet die Protagonistin des Romans Caramelo, Lala, das Spanische eher distanziert - als Sprache der Eltern und Großeltern, die sie mit ihren Geschwistern nicht spricht: „[W]e don’t use that language with kids, we only use it with grown-ups.“ (Cisneros 2002: 23) Lernende können die verschiedenen Vorstellungen von Mehrsprachigkeit und dem sozialen Prestige von Sprachen auch mit ihren eigenen Einstel‐ lungen zu Sprachen und Mehrsprachigkeit vergleichen und darüber nachdenken, wie diese 1 Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Beitrag zur mehrsprachigen Bildung 75 <?page no="76"?> durch verschiedene historische, politische und kulturelle Kontexte geprägt werden. Die von Küster (2013: 54) im Zusammenhang mit dem Prinzip der Subjektivität angesprochene Einsicht in die „Relativität der eigenen Standpunkte“ können SchülerInnen erlangen, indem sie vergleichen, wie die individuelle Mehrsprachigkeit sowohl als Bildungsziel als auch als Bildungshindernis in den USA der 1960er Jahre wahrgenommen werden kann. Ausgehend von mehrsprachigen Chicano/ a-Texten können Lernende nicht nur den Zusammenhang zwischen Sprache, Macht und Identität kognitiv durchdringen, sondern sie sind auch als individuelle Persönlichkeiten ganzheitlich herausgefordert (Prinzip der Ganzheitlichkeit, ebd.). Die Rezeption der literarischen Texte erfordert ein emotionales Sich-Einlassen der SchülerInnen, denn sie sollen die Perspektive der jugendlichen Protago‐ nistInnen einnehmen und können viele ihrer Erfahrungen rund um das Erwachsenwerden in einer mehrsprachigen und mehrkulturellen Gesellschaft aufgrund der Nähe zur eigenen Lebenswelt nachvollziehen. Die besondere Verfremdung der Oberfläche durch die Sprach‐ mischung macht gleichzeitig die sprachliche Form und ihre Wirkungen für die Lernenden erfahrbar und erlebbar. Die Texte können vorgetragen oder vorgelesen werden, sodass der besondere Rhythmus, der Klang oder die Dynamik der sprachlichen Hybridität für die SchülerInnen unmittelbar greifbar werden. Hierfür eignen sich insbesondere lyrische Chicano/ a-Texte, die sich durch eine besonders verdichtete Ästhetik auszeichnen. Der kreativ-ästhetische Umgang mit Sprach(n) wurde in der Mehrsprachigkeitsdidaktik bisher vernachlässigt, kann aber - so die Annahme dieser Arbeit - dazu beitragen, dass Lernende die Mehrsprachigkeit der Texte sowohl kognitiv erfassen als auch durch die kreative Um‐ setzung der literarischen Mehrsprachigkeit sich selbst im Klassenraum als Mehrsprachige erleben. So kann angenommen werden, dass SchülerInnen im Umgang mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten die eigenen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität aktivieren bzw. sich an Situationen erinnern, in denen sie ähnliche Identitätskonflikte wie die ProtagonistInnen der Texte erlebt haben. Mehrsprachige Chicano/ a-Texte haben in diesem Zusammenhang nicht nur das Potenzial, das Nachdenken über die soziale, politische und identitätsstiftende Funktion von Sprache bei Lernenden zu fördern. Sie ermöglichen zudem den Lernenden, die literarische (und womöglich auch die eigene) Mehrsprachigkeit beim Vorlesen, Vortragen oder kreativen Umschreiben der Texte auch selbst zu erleben. Wie aus den obigen Ausführungen deutlich wurde, geht diese Arbeit von der Prämisse aus, dass Lernende beim Umgang mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten nicht nur einen Einblick in die Mehrsprachigkeit des spezifischen fremdkulturellen Kontexts USA-Mexiko erhalten, sondern dass dabei vielfältige Bezüge zu ihrer eigenen Mehrsprachigkeit herge‐ stellt werden können. Aus den rezeptionsästhetischen Arbeiten (vgl. z. B. Bredella 2007a, 2010) ist bekannt, dass Lernende bei der Rezeption literarischer Texte an bereits vorhandene Wissens- und Erfahrungsbestände anknüpfen, um die Identitäts- und Handlungsentwürfe der Figuren zu erfassen und die im Text präsentierten Perspektiven auf Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität zu verstehen und zu beurteilen. Folglich bergen auch die mehrspra‐ chigen Chicano/ a-Texte das Potenzial, Lernende und ihre eigene Mehrsprachigkeit ins Zentrum des Unterrichtsgeschehens zu rücken. Die Texte können Lernende auf verschie‐ denen Ebenen herausfordern - beim Dekodieren der fremdsprachlichen Anteile müssen sie ihr Weltwissen oder die Kenntnisse anderer Fremd- und Familiensprachen nutzen; bei der Analyse literarischer Mehrsprachigkeit sind sie möglicherweise dazu angehalten, 76 V Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Chance für das Mehrsprachigkeitslernen? <?page no="77"?> ihre Vorstellungen oder Einstellungen gegenüber Mehrsprachigkeit mit den in den Texten präsentierten abzugleichen oder gar ihr eigenes Sprachverhalten zu hinterfragen. Im Sinne der Ganzheitlichkeit kann es aber auch zu einer emotionalen Teilhabe kommen: SchülerInnen können die Identitätskonflikte der Figuren nachempfinden, sie erfahren die Sprachmischung in ihrer ästhetischen Wirkung und lernen die sprachliche Form in ihrer bedeutungsstiftenden Funktion kennen. Wie bei Elsner (2012) erwähnt, ist es vorstellbar, dass Lernende ausgehend von den Chicano/ a-Texten lernen, Sprachmischung als ein ästhetisches Gestaltungsmittel zu nutzen, um sich als mehrsprachige Subjekte zu artikulieren, z. B. indem sie eigene mehrsprachige Gedichte verfassen. Daher kann davon ausgegangen werden, dass die mehrsprachigen Texte eine Beteiligung der Lernenden an fremdkulturellen, aber auch an lebensweltlichen mehrsprachigen Diskursen ermöglichen, da sie nicht nur ein Nachdenken über Sprache(n) und über Identitäts- und Handlungsent‐ würfe mehrsprachiger Menschen fördern können, sondern auch ein aktives Mitgestalten der eigenen Mehrsprachigkeit. Wie dieses Potenzial im Englischunterricht umgesetzt werden kann und wie Lernende mit den Chicano/ a-Texten konkret umgehen, war eine wichtige Frage für den empirischen Teil dieser Studie und wird im Rahmen der drei Fallstudien näher diskutiert (vgl. Kapitel VII-IX). 2 Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Brücke zwischen ‚fremder‘ und ‚eigener‘ Mehrsprachigkeit Ein besonderes Anliegen dieser Studie war es, die Lernenden und ihre individuellen mehrsprachigen Repertoires in den Vordergrund der Arbeit mit den mehrsprachigen Chicano/ a-Texten zu rücken. Es stellte sich dabei die Frage, ob und wie ein Nachdenken über literarische Mehrsprachigkeit auch die Sicht auf die eigene Mehrsprachigkeit der SchülerInnen verändern kann. Dass der Einsatz mehrsprachiger Literaturen im Fremdsprachenunterricht eine solche Verknüpfung zwischen verschiedenen lebensweltlichen und fremdkulturellen mehrspra‐ chigen Diskursphasen möglich machen kann, zeigt Burwitz-Melzer (2004). Sie stellt den Zusammenhang zwischen Literatur- und Mehrsprachigkeitsdidaktik her und argumentiert folgendermaßen: „Literaturdidaktik, Mehrsprachigkeit und Multikulturalität miteinander sinnvoll in Verbindung zu bringen, bedeutet zu verstehen, mit wie vielen kulturellen Stimmen Autoren zu uns sprechen, mit wie vielen kulturellen Hintergründen Leser Texte rezipieren“ (ebd.: 23). Mehrsprachige Texte können also kulturelle und sprachliche Plura‐ litäten auf verschiedenen Ebenen sichtbar machen: Sie modellieren die sprachliche und kulturelle Vielfalt zielsprachlicher kultureller Diskurse und laden die Lernenden ein, sich im Rahmen von Verstehens- und Explorationsprozessen gegenüber den dort präsentierten kulturellen Deutungsmustern zu positionieren, dies auf ihre eigene Lebenswelt zu beziehen und mit den eigenen Handlungs- und Orientierungsmustern zu vergleichen. Es ergibt sich daraus die Möglichkeit, eine doppelte Partizipationsfähigkeit zu fördern, denn die Lernenden, die als kulturelle AkteurInnen an den gesellschaftlichen Prozessen der ziel‐ sprachlichen Kulturen teilnehmen, vergleichen diese auch stets mit den Sichtweisen oder Haltungen, die ihnen in der eigenen Lebenswelt begegnen. Das Besondere mehrsprachiger 2 Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Brücke zwischen ‚fremder‘ und ‚eigener‘ Mehrsprachigkeit 77 <?page no="78"?> Chicano/ a-Texte liegt darin, dass der Zugang zu den fremdkulturellen Diskursen über Sprache geschieht, denn die kulturelle Vielfalt des Grenzraums USA-Mexiko wird in der Mehrheits- und der Minderheitensprache der Diskurse realisiert. Die kulturelle Diversität der US-Gesellschaft ist daher in den Chicano/ a-Texten nur zu erschließen, wenn sich die LeserInnen und die ZuschauerInnen gleichzeitig auf beide Sprachen, Englisch und Spanisch, einlassen. Zugänge zur Mehrsprachigkeit der zielkulturellen Diskurse Die mehrsprachigen Chicano/ a-Texte vermitteln einen Zugang zur Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität eines für den Englischunterricht relevanten und gesamtgesellschaftlich wichtigen geografischen Kontexts (USA-Mexiko) und gewähren Einblicke in das Leben von Menschen, die tagtäglich die Grenzen zwischen Kulturen, Identitäten und Sprachen überschreiten. Damit haben diese literarischen Texte ein großes Potenzial im Hinblick auf die Förderung des inter- und transkulturellen Lernens, wie dies in den bisherigen fachdidaktischen Publikationen zu mehrsprachiger Literatur bereits hervorgehoben wurde (vgl. Blell 2012a, 2012b). Ausgehend von den Chicano/ a-Texten können Lernende die Situation mehrsprachiger und mehrkultureller Menschen nachvollziehen; die mehrspra‐ chigen Chicano/ a-Texte ermutigen zur Revision des bisherigen Vorwissens und fördern eine Sensibilisierung für kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten und die kulturelle Hybridität von heutigen Gesellschaften (vgl. Blell 2012a; Elsner 2012: 421; Rösch 1995: 77). Sicherlich kann das Wissen über die Chicano/ a-Community und ihren gesellschaftlichen Status in den USA auch über Sachtexte vermittelt werden (wie dies vielerorts auch durch die gängigen Lehrwerke geschieht), die literarischen Texte aber haben die Eigenschaft, dass sie diese für die SchülerInnen neuen und möglicherweise auch fremden Zugänge auf Mehrsprachigkeit interpretierbar und verstehbar machen. Die Chicano/ a-Texte verarbeiten Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität aus verschiedenen Perspektiven, weil sie häufig Identitätskonflikte junger ProtagonistInnen behandeln, die sich zwischen mehreren Generationen abspielen, sodass die Großeltern-, die Eltern- und die Enkelgeneration unterschiedliche Sichten auf das Spanische und die dominantere Sprache Englisch haben. In den Chicano/ a-Texten wird Englisch häufig von den Personen des öffentlichen Lebens (Schule, Arbeitgeber etc.) gesprochen, die wiederum die gesellschaftlich dominante Gruppe darstellen und die öffentliche Haltung gegenüber dem Spanischen als Minderheitensprache vertreten. Dabei werden aber keine binären Kategorien präsentiert, vielmehr wird durch die Kontrastierung der Perspektiven deutlich, wie durch Sprachgebrauch gesellschaftliche Macht verhandelt wird. Illustrieren lässt sich dies an einem Ausschnitt aus dem Roman Sammy & Juliana in Hollywood, in welchem Sammy es ablehnt, mit seinem US-amerikanischen Mitschüler, Eric Fry, Spanisch zu sprechen (vgl. Sáenz 2004: 140). Eric spricht fließend Spanisch, was Sammy und seine Freunde als eine Provokation deuten, denn aus ihrer Sicht beansprucht Eric durch seine Nutzung des Spanischen ein Identifikationsmerkmal der Chicano/ a-Community, zu welcher er nicht gehört. Anhand dieses Beispiels wird also deutlich, wie kulturelle Zugehörigkeiten oder die Identifikation mit einer bestimmten kulturellen Gemeinschaft über einen bestimmten Sprachgebrauch kommuniziert und auch herausgefordert werden können. 78 V Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Chance für das Mehrsprachigkeitslernen? <?page no="79"?> In mehrsprachigen Chicano/ a-Texten müssen jugendliche ProtagonistInnen ihre Identi‐ täten immer wieder neu zwischen teilweise widersprüchlichen Welten (Familie, Schule, Freundeskreis) verhandeln. Mit Link (1988: 301) lässt sich daher feststellen, dass auch diese Art von Texten gesellschaftliche Diskurse rund um das Thema Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität auf eine Art und Weise thematisiert, „die die Ambivalenz wahrt und häufig künstlich steigert“ und somit auf die dialogische Hervorbringung von Kultur verweist. Die Multiperspektivität und die Ambivalenz der hier vertretenen kulturellen Positionen finden ihre sprachliche Realisierung in der Sprachmischung, die als literarisches Darstellungsver‐ fahren sowohl ästhetische Effekte schafft als auch als Träger von kultureller, politischer und historischer Bedeutung fungiert. Durch die ästhetische Verfremdung von Sprache haben literarische Texte grundsätzlich das Potenzial, eine höhere Aufmerksamkeit für die Form zu erzeugen und damit auch die Sprachbewusstheit zu fördern (vgl. Burwitz-Melzer 2012). Bei der Rezeption mehrsprachiger Texte können Lernende durchschauen, wie inhaltlich verhandelte Emotionen oder Konflikte sprachlich umgesetzt und unterstrichen werden, wie sich kulturelle Zugehörigkeiten im Sprachgebrauch manifestieren oder wie eine bestimmte gesellschaftliche Positionierung durch die Nutzung der Minderheitensprache vorgenommen wird. Die Texte machen also Mehrsprachigkeit auf verschiedenen Ebenen greifbar und interpretierbar: auf der Ebene der literarischen Figuren als Ausdruck der persönlichen kulturellen Hybridität, auf der Ebene des Ästhetischen als ästhetisches Darstellungsverfahren und auf der Ebene des größeren gesellschaftlichen Diskurses, auf den die Chicano/ a-Texte reagieren, indem sie seine Mehrsprachigkeit sichtbar machen und die gesellschaftlichen Verhandlungen von kulturellen Bedeutungen sprachlich modellieren und mittels Sprache auch herausfordern. Die von Kramsch (2006) diskutierten Merkmale von literarischen Texten, die sie für die Förderung von symbolic competence besonders geeignet machen (production of complexity, tolerance of ambiguity, form as meaning), lassen sich problemlos auf die mehrsprachigen Chicano/ a-Texte übertragen und gelten für diese sogar in besonderer Weise. Anhand der hier modellierten Einzelschicksale wird die Komplexität von Kulturen und ihre inhärente Hybridität deutlich. Die Figuren begegnen Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen und tragen Identitäts- und Handlungskonflikte aus, die durch das code-switching zwischen Eng‐ lisch und Spanisch auch sprachlich realisiert werden. Die Aufmerksamkeit der Lernenden wird somit auf die Form der Texte gelenkt, die Auskunft über die kulturelle Zugehörigkeit der Figuren gibt, aber auch etwas über die Positionierung des Textes gegenüber dem vorherrschenden gesellschaftlichen Diskurs aussagt. Die Frage, warum eine literarische Figur in einer bestimmten Situation Spanisch oder Englisch nutzt bzw. warum der Autor oder die Autorin die Figuren an einer bestimmten Stelle des Textes in die andere Sprache wechseln lässt, begleitet die LeserInnen durch die gesamte Rezeption der mehrsprachigen Texte. Zugänge zur Mehrsprachigkeit der eigenen Lebenswelt der Lernenden Literarischen Texten wird bei der Förderung von Bildungsprozessen im Fremdsprachenun‐ terricht schon lange eine entscheidende Rolle zugewiesen, weil sie, wie Bredella (2010: 21) formuliert, „Modelle für das Verstehen der fremden und eigenen Welt anbieten“. Literatur habe für die LeserInnen „eine existenzielle Bedeutung“, „weil sie ihnen Welten 2 Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Brücke zwischen ‚fremder‘ und ‚eigener‘ Mehrsprachigkeit 79 <?page no="80"?> 34 In der Fremdsprachendidaktik angesiedelte literaturdidaktische Untersuchungen haben mit Zugriff auf die Rezeptionsästhetik immer wieder betont, welch herausragende Rolle das Vorwissen und die Vorerfahrungen der Lernenden bei der Rezeption von literarischen Texten spielen (vgl. z. B. Burwitz-Melzer 2003a; Freitag-Hild 2010; Kimes-Link 2013). erschließt, die für ihr Selbst- und Weltverständnis wichtig sind“ (ebd.: 18). Mehrsprachige Chicano/ a-Texte können also die Mehrsprachigkeit eines fremdkulturellen Kontextes erschließen, der sich geografisch, historisch und politisch deutlich von der Lebenswelt der SchülerInnen unterscheidet. Diese literarische Modellierung von Mehrsprachigkeit als gesellschaftliches Phänomen und als Merkmal individueller Identitäten kann den Lernenden aber auch helfen, ihre eigene Mehrsprachigkeit zu reflektieren und in den größeren gesellschaftlichen Zusammenhang einzuordnen. Damit ein Nachdenken über die eigene Mehrsprachigkeit angeregt werden kann, benötigt es einer Annäherung an das Andere, dem wir versuchen eine Bedeutung zu verleihen, um dadurch auch das Eigene besser zu verstehen (ebd.: XX-XXIII). Beim Versuch, Gründe für den Sprachenwechsel der literarischen Figuren zu finden, könnten die Lernenden auf eigene Vorerfahrungen mit Mehrsprachigkeit zurückgreifen und so in einen Dialog zwischen der eigenen und der fiktiv dargestellten Mehrsprachigkeit treten, um diese zu vergleichen und auch voneinander abzugrenzen. Sie werden sich möglicherweise fragen, in welchen Situationen sie oder Menschen aus ihrer Umgebung zwischen Sprachen wechseln, oder werden an andere Medien (beispielsweise die Musik) denken, in denen Sprachmischung vorkommt. Dabei könnten auch Erinnerungen, Emotionen und Erlebnisse, die sie mit dem Englischen und Spanischen verbinden, relevant werden. 34 Daraus lässt sich die Vermutung formulieren, dass mehrsprachige Chicano/ a-Texte das Potenzial haben, den SchülerInnen einen Zugang zur fremdkulturellen, aber auch zur eigenen Mehrsprachigkeit zu ermöglichen. Bei der Beantwortung der Frage, warum literarische Figuren in die eine oder die andere Sprache wechseln, werden Lernende mit einer Sicht auf Mehrsprachigkeit konfrontiert, die sich auf den spezifischen historischen und politischen Kontext der Chicano/ a-Texte zurückführen lässt und sich möglicherweise von ihrer eigenen Wahrnehmung von Mehr‐ sprachigkeit unterscheidet (Prinzip der Subjektivität, Küster 2013). Auf diese Weise können sie Einsicht in die Kulturbedingtheit ihrer eigenen Positionen und Einstellungen gegen‐ über Mehrsprachigkeit erlangen. Nach Bredella sollen Texte, die ein bildungsrelevantes Potenzial entfalten, zum Interpretieren und Bewerten anregen (ebd.: 6). Chicano/ a-Texte regen diese Prozesse bereits auf der sprachlichen Oberfläche an und verlangen von den SchülerInnen, Deutungen anzustellen, sich in Sinnkonstitutionsprozesse zu begeben und Bedeutung auszuhandeln. Durch die starke Verfremdung der sprachlichen Oberfläche können diese literarischen Mischtexte zu einem höheren Grad als einsprachige Literatur am Vorverständnis der Lernenden ‚rütteln‘. Aus bildungsorientierten Ansätzen ist bekannt (vgl. Bonnet et al. 2009: 181), dass der Moment der Irritation, also die Konfrontation mit Problemen, die sich durch Rückgriff auf bereits bekannte kognitive Muster nicht lösen lassen, eine Erweiterung des Wissens- und Erfahrungsspektrums bewirken kann und daher eine Persönlichkeitserweiterung möglich macht. Zur Selbstbestimmung gehört deshalb auch, dass sich die SchülerInnen zunächst von einem Gegenstand bestimmen lassen, der ihnen andersartig oder gar irritierend vorkommen mag. 80 V Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Chance für das Mehrsprachigkeitslernen? <?page no="81"?> Dafür müssen sich die Irritation, das Neue und das Fremde am literarischen Text mit den Aspekten des Textes die Waage halten, die den Lernenden bekannt und vertraut vorkommen. Voraussetzung ist eine emotionale Nähe zu den ProtagonistInnen, die sich hier aufgrund des ähnlichen Alters und der für die Jugendlichen relevanten Themen rund um das Erwachsenwerden ergibt. Die Begegnung mit Personen aus unterschiedlichen Kulturen oder das Aufwachsen zwischen kulturellen Gemeinschaften und verschiedenen Sprachen sind Erfahrungen, die die Lernenden aus der eigenen Lebenswelt kennen oder die für sie in der Zukunft relevant sein könnten. Dies betrifft auch Erlebnisse, die mit Ausgegrenztsein oder mit der Erfahrung des Nicht-Verstehens zu tun haben. Mehrsprachige Chicano/ a-Texte modellieren also Begegnungen mit Mehrsprachigkeit und bieten Identi‐ täts- und Handlungsoptionen an, zu denen sich die SchülerInnen positionieren können, in die sie sich hineindenken und die sie möglicherweise in ihr Repertoire aufnehmen können. Die eingangs zitierte Formulierung von Bredella (2010: 21), literarische Texte seien „Modelle für das Verstehen […] der eigenen Welt“, bezieht sich im Falle der Chicano/ a-Texte nicht nur auf eine inhaltliche Modellierung von mehrsprachigen Diskursen, sondern auch darauf, dass die Mischtexte als generische Modelle für eine kreativ-produktive Exploration der eigenen Mehrsprachigkeit dienen können. Die generische Form dieser Texte (und hier insbesondere der Lyrik) bietet eine Möglichkeit für die Lernenden, die eigenen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit zu artikulieren, zu erweitern und im Sinne eines future self (vgl. Kramsch 2009) auch neu zu gestalten. Das Potenzial der mehrsprachigen Chicano/ a-Lyrik wurde diesbezüglich bereits in fachdidaktischen Publikationen untersucht. Mehrsprachige Gedichte bieten laut Elsner (2012: 410) „wie kaum eine andere Textform die Möglichkeit, mit sich selbst ins Gespräch zu kommen, indem eigene Gedanken, Wünsche und Emotionen in beliebig verschlüsselter Form in Sprache transformiert werden“ (vgl. auch Delanoy 2014). Sie schreibt mehrsprachigen Gedichten grundsätzlich das Potenzial zu, Lernende zu einer kreativ-produktiven Auseinandersetzung mit eigenen Sprachen zu ermutigen, um „ihre eigene sprachliche und kulturelle Identität zu erkennen und anderen gegenüber darzustellen“ (Elsner 2012: 421). Im Rahmen ihres Dissertationsprojektes unterrichtete Mayr (2014) drei Unterrichtsein‐ heiten im Spanischunterricht einer österreichischen Schule und setzte in zwei Lerngruppen vier unterschiedliche englisch-spanische Chicano/ a-Gedichte ein, wobei sie die Schüler- Innen aufforderte, vor der Folie dieser Gedichte ein eigenes mehrsprachiges Gedicht zu verfassen. Sie hält in einer späteren Publikation fest, dass sich bei Lernenden insbesondere durch das mehrsprachige Schreiben „ein grundlegendes Bewusstwerden über die eigenen Einstellungen und Gefühle gegenüber einzelnen Sprachen und kulturellen Einflüssen“ (Mayr-Hueber 2016: 212) feststellen lässt. Die vorliegende Studie knüpft an diese noch relativ allgemein gehaltene Beobachtung an und geht der Frage nach, welche Art von Einstellungen und Emotionen beim mehrsprachigen Schreiben artikuliert und in der Anschlusskommunikation reflektiert werden kann sowie zu welchen Erkenntnissen die SchülerInnen dabei über sich selbst und auch über andere kommen können. 2 Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Brücke zwischen ‚fremder‘ und ‚eigener‘ Mehrsprachigkeit 81 <?page no="82"?> 3 Mehrsprachigkeitslernen im fremdsprachlichen Literaturunterricht Wenn die Auseinandersetzung mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten sowohl einen Zu‐ gang zur Mehrsprachigkeit des fremdkulturellen Diskurses als auch zur eigenen Mehr‐ sprachigkeit der Lernenden ermöglichen soll, müssen bei der Unterrichtsgestaltung zwei Aspekte berücksichtigt werden. Zum einen sollten die SchülerInnen in der Lage sein, die literarischen Texte und ihre Mehrsprachigkeit in den geografischen, historischen und kulturellen Kontext einzuordnen, und zum Zweiten sollten sie durch entsprechende Unterrichtsdesigns angeregt werden, die eigene Mehrsprachigkeit zu artikulieren und in Interaktion mit anderen zu reflektieren. Anknüpfungspunkte für mögliche Lernprozesse und ihre didaktisch-methodische Gestaltung können in diesem Zusammenhang die rezeptionsästhetische Literaturdidaktik, die Ansätze zum inter- und transkulturellen Lernen sowie die verschiedenen Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik liefern. Diese Ansätze rücken zwar bei der Arbeit mit mehrsprachigen Texten unterschiedliche Lernprozesse in den Vordergrund, gemeinsam ist ihnen allerdings die Ausrichtung des Englischunterrichts auf die Lernenden als kulturelle AkteurInnen, die ihr Repertoire an Wissen, Einstellungen, Strategien und Erfahrungen in Interaktion mit der Umwelt aktivieren und selbstständig erweitern sollen, um an gesellschaftlichen Diskursen in mehr als in einer Sprache par‐ tizipieren zu können. Die Verbindung dieser unterschiedlichen Ansätze ermöglicht es, den Englischunterricht als einen Ort zu konzeptualisieren, in dem die mehrsprachige Partizipationsfähigkeit durch eine Verknüpfung zwischen sprachlichem und inhaltlichem Lernen erfolgt und in dem kognitiv basierte Betrachtungen der sprachlichen Form mit den ganzheitlichen und kreativen Zugängen zur eigenen Mehrsprachigkeit kombiniert werden. Die SchülerInnen begeben sich im Umgang mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten in einen literarischen Rezeptionsprozess, der in vielerlei Hinsicht dem von Freitag-Hild (2010) für die fictions of migration beschriebenen ähnelt. Ebenso wie die in dieser Arbeit dargestellten Werke verhandeln auch die Chicano/ a-Texte „kulturelle Fremdheitserfah‐ rungen, interkulturelle Konflikte und Versuche des Fremdverstehens auf der Handlungs‐ ebene“ sowie „die Pluralität, Heterogenität und Hybridität individueller und kultureller Identitätskonzepte“ auf der Ebene der Figuren (ebd.: 65). Daher könnte man zunächst annehmen, dass die von Freitag-Hild dargestellten Kompetenzbereiche für den inter- und transkulturellen fremdsprachlichen Literaturunterricht auf die Arbeit mit mehrspra‐ chigen Chicano/ a-Texten übertragen werden können. Neben der Bereitschaft, sich mit fremdkulturellen Sichtweisen, aber auch mit persönlichen eigenkulturellen Einstellungen und Wahrnehmungsbzw. Deutungsmustern auseinanderzusetzen, gehört dazu auch die Bereitschaft und die Fähigkeit, fremde Perspektiven zu übernehmen und zu koordinieren. Auch die Fähigkeit, literarästhetische Gestaltungsmittel zu analysieren oder im Sinne eines wide-reading den Chicano/ a-Text zu kontextualisieren, um somit „durch intertextuelles […] Relationieren Spuren gesellschaftlicher Diskurse im literarischen Text [zu] entdecken“ (Hallet 2007: 44), sind für das Lesen mehrsprachiger Chicano/ a-Texte ebenfalls von großer Relevanz. Die Chicano/ a-Texte konfrontieren die SchülerInnen mit einer Sicht auf gesellschaft‐ liche und individuelle Mehrsprachigkeit, die kulturell kodiert ist und für Lernende ohne entsprechendes soziales und kulturelles Wissen in Form von Schemata zunächst schwer 82 V Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Chance für das Mehrsprachigkeitslernen? <?page no="83"?> zugänglich ist. Dieses fehlende Wissen sollte deshalb durch Bezugstexte zum geografischen und historischen Kontext der Chicano/ a-Texte vermittelt werden, um zu vermeiden, „dass Lernende in eigenkulturellen Deutungsmustern gefangen bleiben“ (ebd.: 97). Um zu verstehen, warum die Entscheidung mancher Chicano/ a-AutorInnen, die Texte in einer Mischung aus Englisch und Spanisch zu verfassen, nicht nur aus literarästhetischen Gründen geschieht, sondern auch politisch motiviert ist, müssen Lernende einen Einblick in die gesellschaftliche Stellung der Chicano/ a-Bevölkerung Anfang der 1960er Jahre in den südwestlichen USA erhalten. Auf diese Weise können sie erfahren, welche maßgebliche Rolle das Recht auf die Nutzung der spanischen Sprache in der Öffentlichkeit bei der Legitimierung der Chicano/ a-Identität im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung gespielt hat und immer noch spielt. Eine solche Einordnung ist für die SchülerInnen unentbehrlich, wenn es darum geht, den mehrsprachigen Chicano/ a-Text innerhalb des zielsprachlichen gesellschaftlichen Diskurses zu verorten. Für die vorliegende Untersuchung stellt sich die Frage, ob und welche Lebenswelterfah‐ rungen und welches soziale, kulturelle und literarische Wissen in Form von Schemata (frames) die Lernenden beim Verstehen der literarischen Figuren und ihrer Mehrsprachig‐ keit aktivieren (ebd.: 95). Es ist davon auszugehen, dass sich diese je nach eigenen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit in der Familie oder in der Lebenswelt der SchülerInnen individuell unterscheiden werden. Da die Wissensstrukturen aber auch sozial und kulturell gebunden sind, ist auch von geteilten Einstellungen gegenüber Mehrsprachigkeit auszu‐ gehen, z. B. wenn es um die Wahrnehmung der individuellen Mehrsprachigkeit als Bil‐ dungsgut und als persönliche Bereicherung im deutschen Schulsystem geht. Die Kenntnis des Englischen und Spanischen könnten Jugendliche als bereichernd empfinden, dies ent‐ spricht allerdings nicht der Wahrnehmung von Mehrsprachigkeit in der US-Öffentlichkeit der 1960er Jahre. Ausgehend von den Chicao/ a-Texten könnten die Lernenden also in einen Aushandlungsprozess eintreten, in dem sie ihre lebensweltlichen Erfahrungen und die le‐ bensweltlichen kognitiven Schemata mit den im Unterricht erworbenen Wissensstrukturen abgleichen, Differenzen wahrnehmen und eigene Deutungsmuster kritisch reflektieren (ebd.: 94-97). Dabei könnten sie nicht nur die Mehrsprachigkeit der literarischen Figuren erschließen, sondern auch lernen, ihre Sicht auf die eigene Mehrsprachigkeit oder auf die Mehrsprachigkeit ihrer Umgebung zu reflektieren und zu hinterfragen. 3.1 Mögliche Phasen des Mehrsprachigkeitslernens im fremdsprachlichen Literaturunterricht Im Folgenden soll ausgehend von den spezifischen Merkmalen mehrsprachiger literarischer Texte ein Vorschlag zur Strukturierung von Unterrichtseinheiten erarbeitet werden, der eine Anbahnung des Mehrsprachigkeitslernens im Englischunterricht zum Ziel hat. Dieser Vorschlag dient der Operationalisierung der im Kapitel III diskutierten Zielvorstellungen des Mehrsprachigkeitslernens und fungierte als eine wichtige Grundlage für die Erarbei‐ tung von Unterrichtseinheiten, die im Rahmen dieser Studie in Grund- und Leistungskursen Englisch zum Einsatz kamen (vgl. Kapitel VII-IX). Die Studie zielt darauf ab, die Lernak‐ tivitäten und Lernprozesse, die innerhalb dieser Phasen stattgefunden haben, genau zu dokumentieren, um sie einerseits am Datenmaterial weiter ausdifferenzieren zu können 3 Mehrsprachigkeitslernen im fremdsprachlichen Literaturunterricht 83 <?page no="84"?> und um andererseits genau zu beschreiben, wie Lernende innerhalb dieser Phasen mit dem Text vorgehen, welche Aspekte der Texte sie im Unterricht thematisieren und welche Ressourcen (Wissen, Strategien, Einstellungen und Erfahrungen) sie bei ihrer Rezeption aktivieren. Die erste Spezifik der mehrsprachigen Texte liegt zunächst in der erschwerten Dekodie‐ rung der zweifach fremden sprachlichen Oberfläche, die die Aktivierung des sprachlichen und kulturellen Wissens sowie der Worterschließungsstrategien verlangt. Daher sollte die erste Phase im Umgang mit literarischen Mischtexten im Englischunterricht die der Entschlüsselung des mehrsprachigen Textes (erste Phase) sein. Die Dekodierung der Texte setzt Kompetenzen voraus, die traditionellerweise dem Bereich des Mehrsprachig‐ keitslernens zugeordnet werden bzw. durch die Interkomprehensionsforschung bereits eingehend empirisch untersucht wurden. Dazu zählen die im FREPA aufgelisteten Fähig‐ keiten im Bereich des prozeduralen Wissens, die die Wahrnehmung, die Analyse und den Vergleich von sprachlichen und kulturellen Phänomenen verschiedener Sprachen betreffen und dazu führen sollen, dass Lernende in der Lage sind, das sprachliche und kulturelle Wissen aus ihrem Repertoire auf weniger vertraute Sprachen zu übertragen, um die Sprache besser zu verstehen (vgl. Meißner 2013a: 50-58). Die im gleichen Dokument erfassten Teilfähigkeiten im Bereich der Einstellungen und des deklarativen Wissens bilden häufig die Voraussetzung für den Erwerb solcher Kompetenzen. Anhand der Fallstudien gilt es zu eruieren, welche Ressourcen ihres mehrsprachigen und mehrkulturellen Repertoires (Her‐ kunftssprachen, Fremdsprachen, Wissen über den kulturellen Kontext etc.) die Lernenden bei der Dekodierung des Spanischen aktivieren, auf welche Strategien sie zurückgreifen und welche sie neu im Leseprozess entwickeln sowie wie sie den Verstehensprozess beschreiben und reflektieren. Des Weiteren zeichnen sich mehrsprachige literarische Texte durch eine gesteigerte Polysemie und eine größere Ambiguität aus, die durch die Kombination verschiedener sprachlicher Codes und damit auch zweier symbolischer Systeme entstehen. Literarische Texte zeichnen sich zwar immer durch eine Bedeutungsvielfalt aus und erfordern eine aktive Dekodierung der kulturellen, historischen, sozialen und politischen Implikationen, die durch Sprache (oder andere symbolische Formen) vermittelt werden. Bei Mischtexten ist die Vielfalt an möglichen Bedeutungen und die Notwendigkeit, zwischen diesen verschiedenen Implikationen zu navigieren, aber größer, da der Sprachenwechsel bedeu‐ tungstragend ist. Er stellt die LeserInnen vor die Frage, welche politischen, literarischen oder sozialen Implikationen der Wechsel zum Spanischen hat und wie diese literarische Strategie den Text im Kontext des gesellschaftlichen Diskurses positioniert. Daher sollten sich an die sprachliche Dekodierungsarbeit Unterrichtsaktivitäten anschließen, die die SchülerInnen ermutigen, die Mehrsprachigkeit der literarischen Figuren und die Mehrsprachigkeit als literarisches Darstellungsverfahren wahrzunehmen und zu interpretieren (zweite und dritte Phase), um eine Bewusstheit für die verschiedenen ästhetischen, sozialkritischen und historischen Implikationen von Sprachenwechsel in den Chicano/ a-Texten zu erlangen. Die Fähigkeit, solche symbolischen, über das Denotative hinausgehenden Bedeutungen aufzudecken, ist beim Lesen mehrsprachiger literarischer Texte essenziell und wurde im Kapitel III, 3 als ‚symbolische Kompetenz‘ diskutiert (vgl. Kramsch 2009). Die symbolische 84 V Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Chance für das Mehrsprachigkeitslernen? <?page no="85"?> Kompetenz verlangt von den Lernenden eine aufmerksame kognitive Analyse der sprach‐ lichen Oberfläche und des Sprachenwechsels als Gestaltungsmittel, aber auch eine genaue Kontextualisierung des Textes (wide-reading, vgl. Hallet 2007, 2010), um das Wirkungs‐ potenzial der Sprachmischung erfassen zu können. Obgleich solche kognitiv basierten Fähigkeiten, wie eine höhere Sprachbewusstheit, damit an Bedeutung gewinnen, bedeutet dies keinesfalls, dass die ästhetische Erfahrung des Textes und der Mehrsprachigkeit der Figuren unwichtig ist. Genau das Gegenteil ist der Fall, denn der Sprachenwechsel zwischen dem Englischen und dem Spanischen erzeugt eine spezifische Ästhetik - durch einen bestimmten Klang, einen besonderen Rhythmus oder durch das Erzeugen von bildlichen Vorstellungen, die Lernenden ermöglichen, die beiden Sprachen mit allen Sinnen zu erfahren. Die Rezeption mehrsprachiger Texte führt unweigerlich zu der Frage, warum literarische Figuren in die eine oder die andere Sprache wechseln, und erfordert damit von den Lernenden eine Interpretationsleistung, die eine kognitive, aber auch eine emotionale Teilhabe am literarischen Geschehen voraussetzt. Um die Frage für sich zu beantworten, müssen sich die Lernenden in die Perspektiven der fiktiven Figuren hineinversetzen und verstehen, was diese Sprachen für sie bedeuten bzw. in welchen Situationen sie diese verwenden. Um eine solche Erklärung zu finden, könnten den Lernenden ihre eigenen Erfahrungen mit Sprachen und Kulturen helfen. Vielfach findet der Sprachenwechsel in den Chicano/ a-Texten in besonders emotional geladenen Situationen statt, in denen der Wechsel in die Muttersprache für die Angehörigen der Elterngeneration leichter erscheint oder die Emotionalität der Szene unterstreicht (Real Women Have Curves, vgl. Kapitel IX) oder aber die Solidarität einer Gruppe markieren soll (Sammy & Juliana in Hollywood, vgl. Kapitel VIII). Die Identitätskonflikte vieler Charaktere werden durch die mehrsprachige Gestaltung des Textes auch auf der sprachlichen Oberfläche ausgetragen, sodass die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang zwischen Sprache und Emotion gelenkt wird. Die Verfremdung der sprachlichen Oberfläche ermöglicht den Lernenden, zu beobachten, wie Sprache an der Identitätsbildung der Figuren mitwirkt und wie der Sprachgebrauch der Figuren auch unsere Wahrnehmung ihrer Identitäten prägt und verändert. Die Arbeit mit diesen Texten kann also die subjektive Relevanz, die Sprachen für ein Individuum haben können, ins Zentrum des Fremdsprachenunterrichts rücken und damit auch einen Raum schaffen, in dem Sprache jenseits ihrer rein denotativen Funktion, als symbolische Form, reflektiert wird. Vor der Folie des Fiktiven können sich die Lernenden diese Frage auch für ihre eigenen Sprachen stellen und beim kreativen Schreiben auch selbst erforschen. Ein Kernelement symbolischer Kompetenz mehrsprachiger Subjekte ist für Kramsch (2009: 201) die mehrsprachige Imaginationskraft (multilingual imagination): If being a multilingual subject means having the choice of belonging to different communities of sign users, resonating to events differently when expressed through different semiotic systems, positioning oneself differently in different languages, and ultimately having the words to reflect upon the experience and to cast it into an appropriate symbolic form, then we need to revisit the notion of imagination and its link to language. For teachers, learners, and language users of all kinds, a multilingual imagination is the capacity to envision alternative ways of remembering an event, of telling a story, of participating in a discussion, of empathizing 3 Mehrsprachigkeitslernen im fremdsprachlichen Literaturunterricht 85 <?page no="86"?> with others, of imagining their future and ours, and ultimately of defining and measuring success and failure (Hervorhebungen NSt). Wenn also Lernende als mehrsprachige Subjekte lernen sollen, mittels Sprachen (und an‐ derer symbolischer Ressourcen) Möglichkeiten zum Andersdenken und -fühlen zu schaffen und zu nutzen, sich je nach Sprache anders zu positionieren und sich selbst in anderen Sprachen und Kulturen vorzustellen, dann erscheint es unentbehrlich, mit literarischen Texten zu arbeiten, die diese Imaginationskraft fördern, aber auch Ressourcen an die Hand geben, solche alternative realities anzudenken. Selbstverständlich fördert Literatur immer die Imaginationskraft und ermutigt LeserInnen dazu, ihnen wenig vertraute Ansichten und Positionen durch die Perspektivenübernahme zu verstehen und sich ihnen gegenüber zu positionieren. Die mehrsprachige Chicano/ a-Literatur zeigt exemplarisch, wie ein bestimmter kreativer Umgang mit Sprachen als symbolischen Ressourcen zur Umkehrung von gesellschaftlicher Realität und zur Erschaffung einer bestimmten Borderlands-Identität führen kann. Die AutorInnen nutzen den Sprachenwechsel, um bestehende Machtverhält‐ nisse herauszufordern, und erschaffen ein Bild ihrer eigenen kulturellen und sprachlichen Hybridität, die ihnen in der US-Gesellschaft häufig abgesprochen wird. Die Studie geht von der Annahme aus, dass SchülerInnen vor dem Hintergrund der Chicano/ a-Texte lernen können, wie sie durch mehrsprachiges kreatives Schreiben ihren eigenen Identitäten Ausdruck verleihen und gegenüber anderen artikulieren können. Daher ist eine mögliche Aktivität bei der Arbeit mit mehrsprachigen literarischen Texten die des mehrsprachigen Schreibens (vierte Phase). Ausgehend von den Chicano/ a-Texten können SchülerInnen mit Sprache, Rhythmus und Klang spielen, Sprachenwechsel kreieren oder aber auch eigene mehrsprachige Texte verfassen. Die Chicano/ a-Texte (und hier insbesondere die Lyrik) können dabei als Modelle dienen, weil sie aufzeigen, wie durch eine solche kreative Kombination der sprachlichen Formen Bedeutungen gestaltet werden können und wie ein kreativer Umgang mit verschiedenen symbolischen Formen auch einen empowerment-Effekt haben kann. Auch Kramsch (2009: 201) plädiert für einen solchen kreativen und gestalterischen Umgang mit Sprache, weil er unseren Erfahrungen, Gefühlen und Erinnerungen im Kontext von Sprachen und Kulturen Sinn und Kohärenz verleihen kann: [A]ll these linguistic experiences are given meaning, coherence, and a sense of purpose when represented symbolically in the form of an analytic argument, mischievous code-switching and punning, or a well-told story. The symbolic form not only assembles the randomness of experience into a coherent whole, but makes it comprehensible to others. Die Chicano/ a-Texte können also einen Ausgangspunkt für mehrsprachiges kreatives Schreiben bieten, indem sie einen Rahmen zur Verfügung stellen, innerhalb dessen Ler‐ nende ihre Erfahrungen mit Sprachen und Kulturen evozieren, ordnen, kreativ ausdrücken und mit anderen teilen können. 86 V Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Chance für das Mehrsprachigkeitslernen? <?page no="87"?> 3.2 Didaktisch-methodische Prinzipien des Mehrsprachigkeitslernens im Literaturunterricht Um den Lernenden die Möglichkeit zu geben, einen Einblick in die Mehrsprachigkeit des fremdkulturellen Diskurses zu erhalten und über ihre eigene Mehrsprachigkeit zu reflektieren, bedarf es einiger didaktisch-methodischer Prinzipien, die in einem auf die Mehrsprachigkeitsförderung ausgerichteten Englischunterricht beachtet werden sollen. Die im Folgenden dargestellten Prinzipien dienten als Grundlage für die Konzeption der Unterrichtsreihen und -stunden in den vorliegenden Fallstudien. Martinez (2020: 421 f.) leitet in einem Überblick über methodische Implikationen der Mehrsprachigkeitsförderung einige wichtige Prinzipien ab, die auch auf diese Studie übertragen werden können und durch andere literaturdidaktisch ausgerichtete Prinzipien ergänzt werden sollen. An erster Stelle steht dabei die Offenheit gegenüber anderen Sprachen und Kulturen im Englischunterricht, wobei dies in erster Linie auf die spanische Sprache zu beziehen ist, die einen festen Bestandteil der Chicano/ a-Texte darstellt und je nach sprachlichen Vorkenntnissen für einige SchülerInnen im Englischunterricht mehr oder weniger fremd sein wird. Das Prinzip der Offenheit gilt aber auch für alle anderen Sprachen und Kulturen, die Teil der sprachlichen Repertoires von Lernenden sind, beispielsweise für nicht-schulische Familien- und Herkunftssprachen und -kulturen. Möchte man die Lernenden und ihre Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Mehrkultu‐ ralität ins Zentrum des Unterrichtsgeschehens rücken, müssen Gelegenheiten geschaffen werden, in denen die Lernenden ihr Vorwissen, ihre Vorerfahrungen und Strategien nicht nur implizit im literarischen Rezeptionsprozess, sondern auch explizit aktivieren, vernetzen und erweitern können. Dies können Situationen sein, in denen Lernende gemeinsam sprachliche und kulturelle Bedeutungen aushandeln, beispielsweise bei der De‐ kodierung der sprachlichen Oberfläche, beim Ausgestalten der mehrsprachigen Identitäten literarischer Figuren oder bei der kreativen Gestaltung eigener Mehrsprachigkeit. Es sollen also Gelegenheiten geschaffen werden, in denen Phasen der kognitiven, auf die sprachliche Form bezogenen Analyse mit kreativ-produktiven Phasen abgewechselt werden. Soll literarische Mehrsprachigkeit in Bezug zu eigenen Erfahrungen mit Mehrsprachig‐ keit gesetzt werden, so sind unbedingt Reflexionsphasen einzubauen, die Lernende dazu ermutigen, ihre Erkenntnisse auf die eigene Lebenswelt zu übertragen und mit ihr zu vergleichen. Der Begriff meint zum einen Phasen, in denen eine kritische Reflexivität angestrebt wird, in denen SchülerInnen die symbolischen Funktionen von Sprache durch‐ schauen und in Bezug zu dem spezifischen Kontext der Chicano/ a-Texte setzen sollen. Er meint aber auch Phasen der Anschlusskommunikationen, in denen die Lernenden Identitäts- und Handlungsentwürfe der literarischen Figuren auf sich beziehen und im Zuge dessen mit den eigenen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität abgleichen. Eine wichtige Frage für die vorliegende Studie betrifft die didaktisch-methodi‐ sche Gestaltung dieser Phasen, da aus literaturdidaktischen Vorarbeiten bekannt ist, dass die Verknüpfung zwischen lebensweltlichen und literarischen Erfahrungen insbesondere durch handlungsorientierte kreativ-produktive Verfahren angestoßen werden kann (vgl. z.-B. Nünning & Surkamp 2013). Die Frage der Gestaltung solcher Reflexionsphasen ist also unmittelbar daran geknüpft, wie ein ganzheitlicher Zugang zu literarischer Mehrsprachigkeit ermöglicht wird, bei dem 3 Mehrsprachigkeitslernen im fremdsprachlichen Literaturunterricht 87 <?page no="88"?> Lernende als mehrsprachige Individuen kognitiv und emotional angesprochen werden. Das Prinzip der Reflexivität muss daher durch die Prinzipien der Subjektivität und der Ganzheitlichkeit ergänzt werden, die im engen Zusammenhang mit dem von Martinez genannten Prinzip des mehrsprachigen Unterrichts „In-Beziehung-Setzen von Identität und Sprachen“ (Martinez 2020: 422), stehen. Die zentrale Frage lautet deshalb: Wie können Gelegenheiten geschaffen werden, in denen Lernende Sprachverwendung (z. B. den Sprachenwechsel) als Mittel zur Konstitution und zur Zuschreibung von bestimmten Identitäten im Kontext der Chicano/ a-Community und auch im Kontext der eigenen Lebenswelt verstehen und selbst nutzen, um sich als Mehrsprachige zu artikulieren? Das Letztere ist nur zu ermöglichen, wenn Raum für sprachliche Kreativität eröffnet wird, d. h. für Spiele mit Sprachen, für nonsense-code-switching-Dialoge, für eigene mehrsprachige Geschichten und Gedichte etc., die eine subjektive Involviertheit der Lernenden bewirken können. Die von Martinez (ebd.) genannte Interaktion und Kooperation zwischen Ler‐ nenden ist hierbei besonders wichtig, da die kreativen mehrsprachigen Produkte den eigenen Erfahrungen Kohärenz verleihen und sie für andere verständlich machen. Gerade in Interaktion mit anderen (SchülerInnen und Lehrenden) lernen die SchülerInnen, sich als Mehrsprachige zu positionieren, und können in ihrer Mehrsprachigkeit wertgeschätzt werden. Damit all dies gelingt, ist eine offene, flexible und mehrperspektivische didaktisch-methodische Gestaltung (ebd.) notwendig, die verschiedene Subjektpositi‐ onen sowie verschiedene Sprachen und Perspektiven auf Mehrsprachigkeit und Mehrkul‐ turalität zulässt und sichtbar macht (z. B. die Perspektiven der SchülerInnen, der Lehrkraft, der literarischen oder der nicht-fiktionalen Texte). Im Sinne des Intertextualitätsparadigmas sollen also Vernetzungen zwischen den unterschiedlichen Diskursen, aber auch die Vernet‐ zung und die Ambivalenz zwischen eigenen Subjektpositionen expliziert, kreativ dargestellt und kritisch reflektiert werden. 88 V Mehrsprachige Chicano/ a-Texte als Chance für das Mehrsprachigkeitslernen? <?page no="89"?> VI Fallstudien im Englischunterricht der Sekundarstufe II: Untersuchungsdesign 1 Erkenntnisinteresse und Zielsetzungen Das vorliegende Dissertationsprojekt widmet sich der Frage, ob und wie die Arbeit mit englisch-spanischen Chicano/ a-Texten im Englischunterricht der Oberstufe Prozesse des Mehrsprachigkeitslernens anbahnen kann, und hinterfragt, was passiert, wenn Schüler- Innen in ihren Leistungs- oder Grundkursen Englisch solche Mischtexte lesen und disku‐ tieren. Im Zentrum der Studie stehen sowohl die Verstehens- und Deutungsprozesse der Lernenden im Hinblick auf die literarische Mehrsprachigkeit der Chicano/ a-Texte als auch die damit einhergehende Darstellung und Reflexion ihrer eigenen Mehrsprachigkeit. Es wird also einerseits danach gefragt, wie Lernende unterschiedliche Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit erfassen und erleben, und andererseits, ob und inwieweit sie ausgehend davon über Mehrsprachigkeit in ihrer eigenen Lebenswelt nachdenken und ihre Einstellungen zu Sprachen hinterfragen. Dabei gilt ein besonderes Interesse der Frage, welche Unterrichtsdesigns besonders geeignet sind, um solche Verstehens- und Reflexionsprozesse anzubahnen, und welche Herausforderungen sich Lehrenden und Lernenden bei der Interaktion mit diesen Texten stellen. Aus diesem Erkenntnisinteresse lassen sich drei Forschungsfragen ableiten, die im Folgenden näher erläutert werden sollen: 1. Was lernen die SchülerInnen im Umgang mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten? 2. Welche Unterrichtsdesigns und Unterrichtsaktivitäten tragen in besonderer Weise zur mehrsprachigen Bildung und Persönlichkeitsentwicklung der Lernenden bei? 3. Welche Faktoren beeinflussen das Mehrsprachigkeitslernen mit den Chicano/ a-Texten und welche Problemfelder ergeben sich für die Unterrichtsplanung und die Unter‐ richtspraxis? Mit der ersten Frage sollen alle Lernaktivitäten und Lernprozesse erfasst werden, die sich spezifisch dem Mehrsprachigkeitslernen zuordnen lassen, so wie es in dieser Studie kon‐ zeptualisiert wurde. Gemeint sind damit alle Aktivitäten im Bereich der Dekodierung mehr‐ sprachiger Texte, der Wahrnehmung und Interpretation literarischer Mehrsprachigkeit sowie des mehrsprachigen Schreibens. Unterrichtsaktivitäten, die sprachlich-kommunika‐ tive, spezifisch interkulturelle, literaturdidaktische oder allgemein pädagogische Lernziele betreffen, werden lediglich dann in die Auswertung einbezogen, wenn sie einen eindeutigen Bezug zu den Zielen des Mehrsprachigkeitslernens aufweisen. Bei der Beantwortung dieser ersten Frage ist es wichtig zu beschreiben, wie Lernende auf die mehrsprachigen Texte reagieren, welche Wissensbestände und Strategien sie bei deren Dekodierung aktivieren, wie sie den Sprachenwechsel erklären und wie sie ihre Erfahrungen mit Sprachen und Kulturen in selbst verfassten mehrsprachigen Texten thematisieren und reflektieren. Die zweite Forschungsfrage nimmt die Unterrichtsdesigns in den Blick, die es den Lernenden ermöglichten, sich als „mehrsprachige Subjekte“ (vgl. Kramsch 2009, Kapitel <?page no="90"?> III, 3) in die Rezeption der mehrsprachigen Texte einzubringen. Zunächst soll bei der Auswertung der Daten festgestellt werden, ob und in welchen Unterrichtssituationen Lernende ihre eigenen Erfahrungen mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit und Mehrkul‐ turalität thematisieren bzw. wann sie Mehrsprachigkeit als ein für sie persönlich relevantes Thema erfahren. Zum einen zielt die Frage auf die Identifikation und Beschreibung dieser Unterrichtssituationen und zum Zweiten fokussiert sie Unterrichtsdesigns, mit deren Hilfe solche Verbindungen zwischen literarischen und lebensweltlichen Erfahrungen der Lernenden initiiert werden können. Der zuletzt genannte Aspekt ist insbesondere für die Gestaltung der Unterrichtspraxis interessant. Die Frage nach den geeigneten Aufgabenformaten ist von großer Bedeutung, wenn es darum geht, über die Arbeit mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten eine Brücke zu den Erfahrungen der SchülerInnen mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität zu schlagen. Auch die dritte Forschungsfrage ist für die Unterrichtspraxis, aber auch für weiterfüh‐ rende Forschungen im Bereich der Mehrsprachigkeitsdidaktik relevant, denn sie zielt auf die Erfassung solcher Faktoren ab, die einen entscheidenden Einfluss auf die im Rahmen der ersten und der zweiten Forschungsfrage beschriebenen Unterrichtsaktivitäten der SchülerInnen haben. Diese Faktoren können verschiedene Ebenen des Unterrichts betreffen - von bestimmten Haltungen und Einstellungen der beteiligten Lehrkräfte und Lernenden bis hin zu allen Entscheidungen, die die didaktisch-methodische Unterrichts‐ gestaltung betreffen (z. B. Text- und Medienauswahl, Aufgabenformate, Gestaltung von Schüler-Lehrer-Interaktionen etc.). Für die Beantwortung dieser Frage sind insbesondere die Daten relevant, die einen Einblick in die Wahrnehmungs- und Denkprozesse der am Unterrichtsgeschehen beteiligten Lehrkräfte und SchülerInnen gewähren, darunter beispielsweise das aus den schriftlichen und mündlichen Befragungen der TeilnehmerInnen stammende Datenmaterial (vgl. Abschnitt 4.3). Da sowohl die unterrichtspraktische Förderung von Mehrsprachigkeit als auch die didaktischen Potenziale mehrsprachiger literarischer Texte kaum empirisch erforscht worden sind, besteht eine der wichtigsten Zielsetzungen dieser Arbeit darin, authentische Einblicke in die unterrichtspraktische Arbeit mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten im Englischunterricht zu gewinnen. Zum einen sollen diese Einblicke genutzt werden, um mehrsprachigkeitsdidaktische Theoriebildung voranzutreiben, d. h. die aus der Theorie gewonnenen Überlegungen zu verschiedenen Phasen des Mehrsprachigkeitslernens mit Literatur zu erweitern und zu präzisieren. Zum anderen zielt die Arbeit darauf ab, durch die Erforschung konkreter mehrsprachigkeitsdidaktischer Verfahren wertvolle Impulse für die Unterrichtspraxis zu gewinnen und damit methodische und didaktische Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Mehrsprachigkeit den Weg aus ihrem Schattendasein in die alltägliche fremdsprachliche Unterrichtspraxis schaffen kann. Nicht zuletzt sind die in Zusammen‐ arbeit mit den Lehrkräften konzipierten Unterrichtseinheiten ein Versuch, fächer- und fremdsprachenverbindenden Unterricht zu gestalten und Einblick in seine Potenziale und Herausforderungen zu gewinnen. Es soll also auch erforscht werden, unter welchen Bedingungen fremdsprachenverbindendes Lehren und Lernen gelingen kann, welche Fä‐ higkeiten, Kenntnisse und Einstellungen den Beteiligten abverlangt werden sowie welche Texte und Aufgaben bzw. Methoden sich besonders eignen, um sprachenvernetzend zu unterrichten. Nicht zuletzt verfolgt diese Arbeit das Ziel, auf bisher in der Fremdsprachen‐ 90 VI Fallstudien im Englischunterricht der Sekundarstufe II: Untersuchungsdesign <?page no="91"?> didaktik kaum beachtete mehrsprachige literarische Texte, und hier insbesondere auf die englisch-spanischen Chicano/ a-Texte, aufmerksam zu machen, ihre literaturwissenschaft‐ lichen Besonderheiten darzulegen sowie ihr fremd- und mehrsprachigkeitsdidaktisches Potenzial zu eruieren. Somit schlägt die Studie eine Brücke zwischen Literatur- und Mehrsprachigkeitsdidaktik und fragt danach, wie durch den Umgang mit mehrsprachigen literarischen Texten die SchülerInnen selbst und ihre eigenen Erfahrungen mit Sprachen und Kulturen ins Zentrum des Unterrichts gerückt werden können. Sollen im Englischun‐ terricht die eigene und die literarische Mehrsprachigkeit erfahrbar gemacht werden, stellt sich unweigerlich die Frage nach den geeigneten methodischen Verfahren. Daher besteht ein wichtiges Ziel der Arbeit darin, das bisher eher kognitiv-analytische Aufgaben- und Methodenrepertoire der Mehrsprachigkeitsdidaktik um ganzheitliche handlungsorientierte und kreativ-produktive Verfahren zu erweitern. 2 Untersuchungsdesign 2.1 Forschungsmethodische Vorüberlegungen Die Erforschung des Fremdsprachenunterrichts kann verschiedenen Forschungspara‐ digmen folgen, die sich qualitativen oder quantitativen Ansätzen zuordnen lassen oder eine Mischform der beiden aufweisen. Die zentralen Merkmale dieser Ausrichtungen fasst Grotjahn (2003: 495) mit den Adjektiven „analytisch-nomologisch“ für die quantitative und „explorativ-interpretativ“ für die qualitative Forschung zusammen. Nach Riemer (2016: 572) werden qualitative Forschungsansätze üblicherweise gewählt, „wenn Vorannahmen über das Untersuchungsfeld zunächst erkundet und Hypothesen generiert werden sollen oder vertiefende Einblicke angestrebt werden“. In der Regel gilt, dass das qualitative Paradigma als interpretativer Ansatz das subjektbezogene Verstehen und damit die Rekonstruktion der Perspektiven beteiligter AkteurInnen im Vordergrund sieht und weniger versucht, objektbezogene Erklärungen zu finden, wie dies bei quantitativer Forschung häufig der Fall ist (Lamnek 2010: 216 ff.). Die vorliegende Studie erfasst zunächst beschreibend, wie Ler‐ nende und Lehrende mit mehrsprachigen literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht der Oberstufe umgehen, wie sie die Arbeit mit diesen literarischen Texten erleben und welche Bedeutungen sie einem solchen mehrsprachigen Literaturunterricht zuschreiben. Insbesondere weil das Konzept der Mehrsprachigkeit oft als ein ‚von oben‘ aufgestülptes bildungspolitisches Ziel empfunden wird (vgl. Jakisch 2015), setzt sich diese Studie das Ziel, das Mehrsprachigkeitslernen und -lehren in der fremdsprachlichen Unterrichtspraxis aus der Perspektive der beteiligten AkteurInnen darzustellen und zu versuchen, diese unterschiedlichen Perspektiven nachzuvollziehen (vgl. Riemer 2016: 573). Dabei werden die theoretisch generierten Annahmen zum Mehrsprachigkeitslernen mit literarischen Texten im Kontext des Untersuchungsfeldes neu interpretiert und modifiziert erlebt, sodass der Forschungsprozess zur Generierung neuer Hypothesen über eine gelungene Mehrsprachig‐ keitsförderung im fremdsprachlichen Literaturunterricht führen soll. Die interpretative und kommunikative Ausrichtung der Studie, ihr theorieentwickelndes Vorgehen und die Bemühungen um das Verstehen subjektiver Sichtweisen der Untersuchungsteilnehmenden 2 Untersuchungsdesign 91 <?page no="92"?> sind einige wichtige Gründe, um das Design der Untersuchung nach dem qualitativen Forschungsparadigma auszurichten. Viele qualitative und literaturdidaktische Forschungen in der Fremdsprachendidaktik sind in Form von Fallstudien organisiert (vgl. Burwitz-Melzer 2003a; Freitag-Hild 2010; Kimes-Link 2013; Steininger 2014), wobei man unter Fallstudie „eine mehrmethodische Untersuchung unterschiedlicher Konstituenten eines oder mehrerer komplexer Fälle“ (Ca‐ spari 2016: 69) versteht. Auch die vorliegende Arbeit ist in Form von Fallstudien organisiert, denn es werden unterschiedliche Methoden der Datenerhebung kombiniert, um zu erfassen, wie verschiedene Lerngruppen mit englisch-spanischen Chicano/ a-Texten umgehen. Auch wenn die Einzelfallstudie auf das Individuelle und das Einzigartige eines Falls ausgerichtet ist, heißt dies nicht, dass Fallstudien ausschließlich der Analyse individueller Handlungen dienen: „Es geht um Handlungsmuster, die zwar individuell festzumachen sind, aber keineswegs nur einmalig und individuenspezifisch wären. Vielmehr manifestieren sich in diesen Handlungen generellere Strukturen“ (Lamnek 2010: 284 f.). Daher ist diese Studie nicht nur daran interessiert, wie SchülerInnen einer spezifischen Lerngruppe mit einem konkreten mehrsprachigen Chicano/ a-Text arbeiten. Sie fragt auch danach, welche generellen Handlungsmuster, Erlebnisse und Begründungszusammenhänge des mehrsprachigen literarischen Lernens sich (trotz unterschiedlicher Erhebungskontexte und verschiedener Chicano/ a-Texte) fallübergreifend ableiten lassen. Besonders interessant sind solche Kontexte, in denen sich Abweichungen von diesen generellen Strukturen feststellen lassen. Hier gilt es, genau zu untersuchen, was Lernende oder Lehrende dazu bewegt, in einer anderen Art und Weise als üblich zu handeln, und wie sie solche Situationen erleben. Voraussetzung für ein solches Vorgehen ist die gezielte Auswahl der Fälle, die ‚typisch‘ oder gezielt abweichend sein können (vgl. Caspari 2016: 69), und damit die Frage nach den Sampling-Entscheidungen der Forschenden. 2.2 Gütekriterien und Merkmale qualitativer Forschung Da sich methodische Vorgehensweisen der qualitativen Forschung nur eingeschränkt standardisieren lassen und sich ihre Forschungspraxis eher durch Offenheit auszeichnet, ist die Übertragbarkeit der ‚klassischen‘ quantitativen Gütekriterien (Objektivität, Reliabilität und Validität) auf qualitative Forschungsansätze nur begrenzt möglich. Daher formuliert Steinke (2000) für qualitative Forschungsansätze breit angelegte Gütekriterien, die je nach Fragestellung, dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand und den verwendeten Methoden untersuchungsspezifisch konkretisiert, modifiziert und ergänzt werden sollen (vgl. Steinke 2000: 324). Die folgenden Ausführungen umreißen die von Steinke vorgeschlagenen Gütekriterien und konkretisieren diese im Hinblick auf das vorliegende Projekt. Auf das Gütekriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit wird im Folgenden ausführlich eingegangen, da es für diese Arbeit von besonderer Relevanz erscheint, den Ein‐ fluss der Forscherin auf den Forschungsgegenstand und den Forschungsprozess möglichst detailliert und für andere nachvollziehbar darzustellen. Mehrere Studien im Bereich der Mehrsprachigkeitsdidaktik haben auf die konstituierende Rolle der Forschenden in qualita‐ tiven Forschungsdesigns aufmerksam gemacht (vgl. Morkötter 2005: 85; Prokopowicz 2017: 70). Beide Arbeiten weisen darauf hin, dass Forschende in qualitativen Untersuchungen den 92 VI Fallstudien im Englischunterricht der Sekundarstufe II: Untersuchungsdesign <?page no="93"?> 35 Um diesem Kriterium Rechnung zu tragen, wurden die Datenauszüge und die Auswertungen in regel‐ mäßigen Abständen in drei unterschiedlichen Kolloquien vorgestellt: dem Forschungskolloquium für Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung und dem IPP-Kolloquium der Justus-Liebig-Uni‐ versität Gießen sowie im Rahmen des Forschungskolloquiums am Institut für Romanistik der Freien Universität Berlin. Forschungsprozess in entscheidendem Maße beeinflussen können, weil sie Entscheidungen bezüglich der Datenerhebung und der Datenauswertung vornehmen und ihre aus der Theorie generierten Vorannahmen an die Daten herantragen. Bereits durch diese theore‐ tischen Vorüberlegungen nehmen Forschende also immer eine „spezifische Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand“ ein (Aguado 2000: 121), die nie als vollständig objektiv gelten kann. Anstelle der Objektivität als klassischem Gütekriterium tritt in qualitativer Forschung das Kriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit (vgl. Steinke 2000: 324), das durch eine sorgfältige Dokumentation des gesamten Forschungsprozesses erfüllt werden soll. Gerade bei einem so unterschiedlich verwendeten Terminus wie dem der Mehrsprachigkeit erscheint es aus forschungsmethodologischer Sicht unabdingbar, das eigene Verständnis des Begriffs möglichst genau darzulegen und dadurch für andere verständlich zu machen, wie die eigene theoretische Konzeptualisierung die Auswahl und die Konstruktion der Datenerhebungsinstrumente, aber auch die Auswertung der Daten mit beeinflusst hat (vgl. Morkötter 2005: 85). Die Sicht der Forscherin auf das Mehrsprachigkeitslernen spiegelt sich beispielsweise bei der Auswahl von Fragen für die Leitfadeninterviews mit Lernenden und Lehrenden wider, aber auch der Datenaus‐ wertungsprozess wurde durch die aus der Theorie deduktiv abgeleiteten Phasen des Mehrsprachigkeitslernens vorstrukturiert (vgl. Kapitel V, 3). Ferner kann intersubjektive Nachvollziehbarkeit laut Steinke (2000) auch dadurch hergestellt werden, dass die Daten in Gruppen mit anderen Mitgliedern der Forschungs‐ gemeinschaft 35 diskutiert werden, aber auch dadurch, dass bei der Datenauswertung ein kodifizierendes Verfahren eingesetzt wird. Als regelgeleitetes Kodierverfahren ermög‐ licht die in dieser Arbeit eingesetzte qualitative Inhaltsanalyse eine systematische und detaillierte Beschreibung einzelner Analyseschritte, die dadurch auch für Außenstehende nachvollziehbar werden. Wichtige Bedingung für die Gewährleistung intersubjektiver Nachvollziehbarkeit ist außerdem die Berücksichtigung der Merkmale der „Offenheit“ und der „Kommunikation“ (vgl. auch Grotjahn 1993: 235). Da qualitative Forschung eine Exploration des Untersuchungsgegenstandes in seinem eigenen sozialen und insti‐ tutionellen Kontext anstrebt, sind Forschende angehalten, dem Forschungsgegenstand, der Forschungsmethodologie und den beteiligten Personen stets mit der größtmöglichen Offenheit zu begegnen (vgl. Lamnek & Krell 2016: 33-f.). In dieser Arbeit wurde das Prinzip der Offenheit unterschiedlich realisiert. Im Sinne der Transparenz und der Reflexivität ist es ein wichtiges Anliegen, den gesamten Forschungs‐ prozess möglichst umfassend zu dokumentieren. Dies gilt ebenfalls für die Darstellung von Schwierigkeiten, Ungereimtheiten oder Widersprüchen, die sich im Verlauf des Forschungsprozesses oder bei der Darstellung von Forschungsergebnissen zeigten. Diese critical incidents sind von besonderer Relevanz für den Forschungsprozess, weil sie auf mögliche Herausforderungen des mehrsprachigen Arbeitens im Fremdsprachenunterricht hinweisen und häufig als Anlass genommen wurden, zusätzliche Reflexionsphasen mit 2 Untersuchungsdesign 93 <?page no="94"?> den SchülerInnen einzuplanen bzw. den Unterrichtsablauf zu modifizieren. Ein solches Vorgehen entspricht den Kriterien Flexibilität und Reflexivität, die Lamnek und Krell (2016: 36 ff.) im Zusammenhang mit der qualitativen Forschung erwähnen. Um erfolgreich Herausforderungen bewältigen zu können, sollen Forschende mit der nötigen Flexibilität auf die veränderte Forschungssituation reagieren und den aktuellen Erkenntnisfortschritt für die Planung nachfolgender Untersuchungsschritte nutzen. Grundsätzlich erfordert dies eine kritische Einstellung der Forschenden, die ihre Rolle im Forschungsprozess im Sinne einer Autoethnographie reflektieren und das Untersuchungsinstrumentarium flexibel handhaben sollten. Gemäß dem Kriterium der Offenheit ergibt sich für die qualitative Forschung die Forderung, die Perspektive der Forschenden mit den Perspektiven der an der Untersuchung beteiligten Personen zu triangulieren und somit auch ihre Unterschiedlichkeit zu berück‐ sichtigen (vgl. Flick et al. 2015: 23). Für diese Arbeit war es äußerst wichtig, die Prozesse des Mehrsprachigkeitslernens nicht nur aus der Perspektive der Forscherin, sondern in erster Linie „von innen heraus“, d. h. aus der Sicht der beteiligten SchülerInnen und Leh‐ rerInnen, zu beschreiben (vgl. ebd.: 14). Die Kommunikation zwischen der Forscherin und den ForschungspartnerInnen war ein wesentlicher Bestandteil des Forschungsprozesses (vgl. Lamnek & Krell 2016: 34 f.), weil in solchen Interaktionsprozessen verschiedene Vorstellungen von Mehrsprachigkeit und von mehrsprachigem Unterricht verhandelt wurden. Auch die genaue didaktisch-methodologische Planung der hier verwendeten Unterrichtseinheiten war häufig ein Produkt von Aushandlungsprozessen zwischen der Forscherin und den Lehrenden - sie spiegeln somit nicht nur unterschiedliche methodische Zugänge zu Mehrsprachigkeit wider, sondern auch unterschiedliche Verständnisse von Mehrsprachigkeit und von mehrsprachigem Unterricht. Die in solchen Interaktionen wahrgenommenen Verhaltensweisen oder Aussagen sind „als prozesshafte Ausschnitte der Reproduktion und Konstruktion sozialer Realität“ (ebd.: 35) zu sehen und somit nicht als objektiv gegeben zu deuten. Alle Aussagen der Forschungsbeteiligten sind demnach stets im Rahmen des spezifischen sozialen Kontextes zu interpretieren und sollen somit als grundsätzlich veränderbar gelten. Übertragen auf die vorliegende Studie heißt dies, dass die Äußerungen von Lehrenden und Lernenden zu Mehrsprachigkeit nicht als statische Repräsentationen der Unterrichtswirklichkeit wahrzunehmen sind. Sie sollten stets vor dem Hintergrund des spezifischen Unterrichts- oder Interviewkontextes interpretiert werden. Als zweites Gütekriterium der qualitativen Forschung nennt Steinke (2000: 326) die In‐ dikation des Forschungsprozesses, d. h. die Angemessenheit der eingesetzten Forschungs‐ methoden und damit die Frage, inwiefern die gewählten methodischen Zugangsweisen dem Untersuchungsgegenstand gerecht werden und ihn vollständig zu erfassen vermögen. Steinke (2000: 328) spricht sich für eine empirische Verankerung der Theoriebildung aus. Dies bedeutet, dass Theorien in qualitativer Forschung „dicht an den Daten (z. B. den subjektiven Sicht- und Handlungsweisen der beteiligten Personen) und auf Basis systematischer Datenanalyse“ entwickelt werden. Diesem Kriterium wird gefolgt, indem ein kodifizierendes Analyseverfahren (qualitative Inhaltsanalyse) eingesetzt wird und sich die Falldarstellungen stets am Datenmaterial orientieren bzw. die Analyse dicht an ausgewählten Textbelegen erfolgt. Im Zusammenhang mit dem Kriterium der Limitation 94 VI Fallstudien im Englischunterricht der Sekundarstufe II: Untersuchungsdesign <?page no="95"?> wird diskutiert, inwiefern die gewonnenen Ergebnisse einer Fallstudie und die daraus abgeleiteten Theorien auf andere Kontexte übertragbar sind. Im Zuge dieser Arbeit wird daher der spezifische Untersuchungskontext der Studie im Rahmen der Datenerhebung ausführlich beschrieben, sodass die dargestellten Ergebnisse stets auf diesen ursprüngli‐ chen Geltungsbereich zurückgeführt werden können (vgl. Seifert 2016: 150). Das Kriterium der Kohärenz thematisiert, inwiefern die entwickelte Theorie in sich konsistent ist und ob Widersprüche in den Daten offengelegt werden - eine Frage, die bereits im Zusammenhang mit dem Kriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit und dem Gütemerkmal der Offenheit diskutiert wurde. Mit dem Kriterium der Relevanz wird beurteilt, inwiefern die gewählten Forschungsfragen relevant sind bzw. inwieweit sie ein Forschungsdesiderat ansprechen. Die zuletzt genannte reflektierte Subjektivität fordert einen selbstreflexiven Umgang im Forschungsprozess und bezieht sich dabei auf die bereits erläuterte Notwen‐ digkeit des bewussten Umgangs mit theoretischen Vorannahmen, eingesetzten Methoden und Analyseverfahren. Da die Anwendung der hier beschriebenen Kriterien immer un‐ tersuchungsspezifisch erfolgen sollte, d. h. ihre Gewichtung und Relevanz stark vom jeweiligen Untersuchungsgegenstand und den konkreten Fragestellungen abhängig ist, wird im Folgenden zunächst der Untersuchungskontext beschrieben und anschließend der Einsatz einzelner Datenerhebungsverfahren vor dem Hintergrund der Gütekriterien begründet. 2.3 Triangulation Unter Triangulation ist eine methodologische Strategie zu verstehen, die „die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven auf einen untersuchten Gegenstand“ (Flick 2011: 12) bein‐ haltet. Dabei können verschiedene Datensorten, Methoden, theoretische Zugänge oder Einflüsse verschiedener Forschender kombiniert werden, um einen Erkenntniszugewinn zu erreichen, d. h. um den untersuchten Gegenstand auf verschiedenen Ebenen umfassender beschreiben und erklären zu können. Die Triangulation eignet sich nach Knorr und Schramm (2016: 90) insbesondere für die Erfassung von Settings, die durch „eine hohe Faktorenkomplexion gekennzeichnet sind“, wie z. B. das fremdsprachliche Lehren und Lernen. Aus der Auffassung des Fremdsprachenlernens und -lehrens als eines „dynami‐ schen, vielschichtigen und kontextgebundenen Komplexes, dem affektive, kognitive und sozial-kommunikative Prozesse zugrunde liegen“ (Riemer 2007: 32), resultiert die Notwen‐ digkeit, reichhaltige Daten aus verschiedenen Quellen und unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und ihre Divergenzen und Kongruenzen aufzuzeigen. Flick (2011: 13 ff.) unterscheidet in Bezug auf Denzin (1989) vier unterschiedliche Formen der Triangulation: die Daten-, Methoden-, ForscherInnen- und Theorientriangulation. In der vorliegenden Untersuchung wurden die Daten- und die Methodentriangulation angewandt, um vertiefte und erweiterte Erkenntnisse über das Mehrsprachigkeitslernen im fremdsprachlichen Literaturunterricht zu gewinnen. Datentriangulation bezieht sich auf die Kombination von Daten aus mehreren Quellen, die zu unterschiedlichen Zeit‐ punkten, in mehreren Kontexten und bei verschiedenen Personen erhoben wurden. Die wohl am häufigsten eingesetzte Form von Triangulation ist die Methoden-Triangulation, d. h. die Kombination verschiedener Methoden (between-method) oder unterschiedlicher 2 Untersuchungsdesign 95 <?page no="96"?> 36 Da der Einsatz verschiedener Methoden grundsätzlich immer zu unterschiedlichen Datensätzen führt, könnte jede Art von Methodentriangulation gleichzeitig auch als Datentriangulation be‐ zeichnet werden. Daher wird von Datentriangulation nur dann gesprochen, wenn mehrere Daten‐ sätze mit derselben Methode erhoben wurden (Knorr & Schramm 2016: 91; Settinieri 2015: 23). methodischer Ansätze innerhalb einer Methode (within-method) zur Beantwortung von Forschungsfragen. Datentriangulation bedeutet im Rahmen dieser Studie, dass verschie‐ dene Datensätze mit gleichen Methoden an unterschiedlichen Schulen und damit bei verschiedenen Personen zu unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben wurden 36 . Im Sinne der Methodentriangulation wurden in der vorliegenden Untersuchung Verfahren zur Unterrichtsbeobachtung (Videographie) mit Befragungstechniken (leitfadengestützte In‐ terviews mit Lehrenden und Lernenden) kombiniert und aufeinander bezogen. Eine solche Methodenkombination ist im Rahmen dieser Arbeit von besonderer Relevanz, denn insbesondere in den Interviews können Unterrichtsergebnisse aus der Sicht der Lehrenden und Lernenden reflektiert, näher erklärt und ggf. modifiziert dargestellt werden. Dabei ist darauf zu achten, wie die Aussagen der Lehrenden und Lernenden zu bestimmten Unterrichtsprozessen die Perspektive der Forscherin ergänzen oder dem ersten Eindruck aus der Unterrichtsbeobachtung gar widersprechen. Perspektivenvielfalt und -triangulation ist von besonderer Relevanz für empirische Untersuchungen von Unterricht, „weil sie den untersuchten Subjekten die nötige Gele‐ genheit zur Artikulation bieten, der Vervollständigung bereits analysierter Datensätze dienen und für ein hohes Maß an Transparenz in der empirischen Untersuchung sorgen“ (Burwitz-Melzer 2003a: 486). Die große Herausforderung triangulativer Studien besteht darin, Strategien zur Reduktion von Daten und deren strukturierter Darstellung zu ent‐ wickeln (vgl. Settinieri 2015: 29), weshalb in dieser Studie die Datensätze zunächst in ihrem Erhebungskontext getrennt besprochen und danach in Beziehung zueinander gesetzt werden. 3 Ablauf des Forschungsprozesses 3.1 Übersicht über die Unterrichtseinheiten Die Studie umfasste insgesamt fünf Unterrichtseinheiten zu mehrsprachigen Chi‐ cano/ a-Texten, die im Schuljahr 2015/ 2016 an vier Berliner Oberschulen stattfanden. Bei der Auswahl der Schulen wurde darauf geachtet, dass es sich um unterschiedliche Schulformen (zwei Gymnasien und zwei Integrierte Sekundarschulen) sowie um Grund- und Leistungskurse Englisch handelte. Beteiligt waren vier Lehrkräfte mit ihren jeweiligen Kursen der Jahrgangsstufe 12, die jeweils zwischen 12 und 22 SchülerInnen umfassten. Ein weiteres wichtiges Sampling-Kriterium waren die unterschiedlichen sprachlichen Voraus‐ setzungen der Lehrkräfte und der SchülerInnen. Zwei Lehrkräfte unterrichteten die Fächer Englisch und Spanisch, die anderen beiden Lehrerinnen verfügten über keine oder kaum Spanischkenntnisse. Die beteiligten SchülerInnen wiesen keine oder grundlegende Spa‐ nischkenntnisse auf, auch die Anzahl der SchülerInnen nichtdeutscher Herkunftssprache variierte stark je nach Lerngruppe (siehe die Übersicht über die Fragebogen-Daten im 96 VI Fallstudien im Englischunterricht der Sekundarstufe II: Untersuchungsdesign <?page no="97"?> 37 Die zweite und die dritte Fallstudie ließen sich von der ersten Studie beispielsweise dadurch abgrenzen, dass die Erfahrungen der SchülerInnen mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit sowie ihre Spanischkenntnisse unterschiedlich waren, sich die Texte hinsichtlich der Komplexität und der Ästhetik der literarischen Mehrsprachigkeit unterschieden, aber auch die eingesetzten Unterrichts‐ designs verschiedene Lernprozesse ermöglichten (vgl. Kapitel VII-IX). 38 Sowohl Caramelo als auch Sammy & Juliana in Hollywood wurden im Jahr 2009 in die „Outstanding Books for the College Bound and Lifelong Learners“-Liste der Young Adult Library Services Associa‐ tion (YALSA) der American Library Association aufgenommen (http: / / booklists.yalsa.net/ directory/ results? booklist=27&; year=2009, 15.04.2023). Der Film Real Women Have Curves gewann 2002 u. a. Preise auf dem Sundance Film Festival und dem San Sebastián International Film Festival (https: / / www.imdb.com/ title/ tt0296166/ awards/ , 15.04.2023). Anhang). Die beobachteten Unterrichtseinheiten führten die Lehrkräfte im Zeitraum vom September 2015 bis April 2016 durch, wobei die ersten beiden Unterrichtseinheiten zum mehrsprachigen Film Real Women Have Curves (Cardoso 2002) Teil der Pilotstudie waren (September-Oktober 2015) und die Einheiten zu verschiedenen mehrsprachigen Romanen im Rahmen der Hauptstudie stattgefunden haben (Februar-April 2016). Bei den Romanen handelt es sich um folgende englisch-spanische Texte: Caramelo (Cisneros 2022), Sammy & Juliana in Hollywood (Sáenz 2004) und Red Glass (Resau 2007). Die erste Einheit, die im Rahmen der Pilotstudie in einem fremdsprachenübergreifenden fakultativen Seminarkurs eines Berliner Gymnasiums durchgeführt wurde, wurde von der Forscherin selbst unterrichtet und wegen des starken Eingreifens in das erforschte Geschehen nicht in die Datenauswertung einbezogen. Sie war allerdings insofern hilfreich, als sie der Forscherin ermöglichte, die Arbeit mit mehrsprachigen Texten aus der Sicht einer Lehrkraft zu erleben und daraus Schlussfolgerungen bzw. weitere Fragestellungen für die Hauptstudie zu entwickeln. Die Daten der restlichen vier Fallstudien wurden vollständig ausgewertet, wobei in der vorliegenden Arbeit drei Unterrichtseinheiten ausführlich analysiert werden (vgl. Kapitel VII-IX). Die Ergebnisse aus der Fallstudie zum Roman Red Glass, die an einer Sekundarschule im Leistungskurs Englisch stattfand, wiesen viele Parallelen zu den Daten aus der ersten Fallstudie (Caramelo) und der zweiten Fallstudie (Sammy & Juliana in Hollywood) auf. Aufgrund der Ähnlichkeiten bei den Ergebnissen war es deshalb schwierig, eine neue Schwerpunktsetzung für die Analyse zu finden - im Gegensatz zu den anderen drei Fallstudien, wo unterschiedliche Schwerpunkte identifiziert werden konnten. 37 Aus diesem Grund wird sie nicht als separate Fallstudie in der Arbeit dargestellt. Da die Lehrenden bisher wenige bis keine Erfahrungen mit mehrsprachigen Chi‐ cano/ a-Texten gesammelt hatten, machte die Forscherin Vorschläge zu der Textauswahl und den Textkombinationen. Bei der Textauswahl wurde der Bekanntheitsgrad der Texte berücksichtigt sowie die Frage, ob sie sich als Lektüre für jugendliche LeserInnen eignen und inwieweit ihr Potenzial für den Fremdsprachenunterricht in bisherigen fachdidakti‐ schen Publikationen berücksichtigt wurde. Alle drei hier dargestellten Texte (Caramelo, Sammy & Juliana in Hollywood und Real Women Have Curves) sind vielfach mit Preisen ausgezeichnet worden 38 , behandeln für Jugendliche potenziell interessante Themen (z. B. Erwachsenwerden, Generationskonflikte und Identitätskrisen) und waren bereits Gegen‐ stand einiger fremdsprachendidaktischer Publikationen, auf die bei der Vorbereitung der 3 Ablauf des Forschungsprozesses 97 <?page no="98"?> 39 Vgl. dazu folgende Publikationen: Blell (2009, 2012a, 2015a); Delanoy (2014); Mayr (2014); Surkamp (2012) und Weber (2010). Die Publikationen von Delanoy (2014) und Mayr (2014) sind vor allem im Hinblick auf das Gedicht „She“ (Elizondo 1977) für diese Studie von Interesse. 40 Für die Durchführung der Studie lag eine Genehmigung der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft vom 12.08.2015 vor. 41 Dies gilt für die Romane Caramelo und Sammy & Juliana in Hollywood, die lediglich in Auszügen gelesen wurden (vgl. Kapitel VII und VIII). Unterrichtseinheiten zurückgegriffen werden konnte. 39 In der ersten und zweiten Fallstudie (vgl. Kapitel VII und VIII) wurden die Auszüge aus den beiden mehrsprachigen Romanen mit den Gedichten „She“ (Elizondo 1977) und „Legal Alien“ (Mora 1985) kombiniert, um im Sinne eines „intertextuelle[n] Designs“ unterschiedliche Perspektiven auf die Frage der mehrsprachigen und mehrkulturellen Chicano/ a-Identitäten zu ermöglichen (vgl. Freitag-Hild 2010: 147). Die Kontextualisierung der literarischen Texte erfolgte durch eine Kombination unterschiedlicher nicht-fiktionaler Texte und Medien (z. B. bildliche Darstellungen des Sprachenwechsels, Videomaterial des Senders PBS zu „LA-walkouts“ etc., vgl. Kapitel VII) und verschiedener Lehrbuchtexte, die die Lehrkräfte aus gängigen Lehrwerken für den Englischunterricht der Oberstufe auswählten (vgl. z. B. Becker-Ross et al. 2015; Klein & Kugler-Euerle 2013). 3.2 Zugang zum Feld und Vorbereitung der Unterrichtseinheiten Bevor die Durchführung der Studie von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft in Berlin genehmigt wurde, musste der Kontakt zu Schulen etabliert und entsprechende UntersuchungsteilnehmerInnen akquiriert werden. 40 Das Projekt wurde den KollegInnen und SchulleiterInnen vorgestellt und im Rahmen von Fachkonferenzen besprochen. Zwei Lehrkräfte waren der Forscherin aus dem Vorbereitungsdienst entfernt bekannt, mit der anderen Lehrkraft bestand vor der Durchführung der Untersuchung kein Kontakt. Die jeweiligen Schulleitungen erhielten ein Informationsschreiben über das Projekt und informierten entsprechend die Schulkonferenz. Vor der Datenerhebung wurden einige vorbereitende Schritte unternommen, um die Inhalte der Unterrichtseinheiten und ihre konkreten didaktisch-methodischen Realisie‐ rungen abzusprechen. Für jede Lerngruppe wurde ein Chicano/ a-Text ausgesucht, den die Lehrkraft in voller Länge oder in Auszügen las oder sich anschaute. Alle Lehrkräfte stimmten der von der Forscherin vorgeschlagenen Textauswahl zu, merkten aber in zwei Fällen an, dass sie lieber einzelne Ausschnitte und nicht die gesamte Ganzschrift lesen würden, was angesichts der Romanlänge und der relativ überschaubaren Anzahl der Stunden, die für die Untersuchung zur Verfügung stand, sinnvoll erschien. 41 Die Auswahl der Textauszüge erfolgte in enger Absprache mit den Lehrkräften, die sich während der Lek‐ türe bereits relevante Passagen markierten und erste Ideen für Umsetzungsmöglichkeiten entwickelten. In einem zweiten Schritt fertigte die Forscherin eine Übersicht an, die einzelne Textausschnitte bestimmten vorab erarbeiteten Teilaspekten des Mehrsprachigkeitslernens zuordnete (vgl. Kapitel V, 3) und mögliche Aufgabentypen für die Umsetzung im Unterricht vorschlug. Die endgültige didaktisch-methodische Realisierung legten jedoch stets die Lehrkräfte fest, da sie am besten einschätzen konnten, ob die Unterrichtsverfahren dem 98 VI Fallstudien im Englischunterricht der Sekundarstufe II: Untersuchungsdesign <?page no="99"?> 42 In der ursprünglichen Version des Fragebogens A, die nach der Pilotierung überarbeitet wurde, wurden die SchülerInnen außerdem nach ihrer Wahrnehmung von Sprachmischung als gesellschaft‐ liches Phänomen und nach ihren eigenen Erfahrungen mit Sprachenwechsel gefragt. Dieser zweite thematische Block erwies sich allerdings für die Beantwortung der Forschungsfragen als irrelevant und wurde daher gestrichen. Sprachniveau der SchülerInnen angemessen waren, ihrem Vorwissen und Vorerfahrungen mit Mehrsprachigkeit gerecht wurden und sie kognitiv und emotional in geeigneter Weise ansprachen. Die Beteiligung der Forscherin an der Unterrichtsplanung erschien notwendig, da die Lehrkräfte den mehrsprachigen Chicano/ a-Texten zum ersten Mal im Rahmen dieser Studie begegneten und mit Ansätzen des Mehrsprachigkeitslernens nur sehr begrenzt vertraut waren (vgl. auch Burwitz-Melzer 2003a: 139). Eine solche intensive Interaktionsbeziehung zwischen der Forscherin und den Lehrenden war „ein konstitutiver Bestandteil des Forschungsprozesses“ (Lamnek 2010: 21) und führte dazu, dass sich die Lehrkräfte in ihrer Expertise ernst genommen fühlten und dass ihre spezifischen Interessen (z. B. die Vorbereitung des Kurses auf eine Oberstufenklausur) bei der Planung stets mitberücksichtigt werden konnten. 4 Datenerhebung 4.1 Erster Kontakt mit Lernenden und Lehrenden: Kurzfragebögen und Lehrerinterviews Vor der Unterrichtsdurchführung wurden zwei Forschungsinstrumente eingesetzt, die jeweils unterschiedliche Funktionen verfolgten. Der Fragebogen A (siehe Anhang) um‐ fasste allgemeine Daten zur Person sowie zu sprachlichen Kenntnissen der Lernenden, die schulisch und außerhalb der Schule (z. B. in der Familie) erworben wurden. 42 Die Angaben zu den gelernten Fremd- oder Herkunftssprachen waren aus mehreren Gründen von Relevanz für die Durchführung dieser Studie. Zunächst war es wichtig zu ermitteln, wie viele Lernende in der jeweiligen Lerngruppe über Spanischkenntnisse verfügten und wie fortgeschritten sie beim Lernen dieser Sprache waren, sodass auch nach der Dauer des Lernprozesses gefragt wurde. Die Information, welche anderen (romanischen) Fremdsprachen von den SchülerInnen gelernt wurden oder werden, war für die Gestaltung des Unterrichts und insbesondere für die Planung von Gruppenarbeitsphasen von Bedeu‐ tung. Es wurde auf Grundlage der im Fragebogen erhobenen Informationen versucht, die Gruppen möglichst heterogen zusammenzusetzen, sodass sich die SchülerInnen mit ver‐ schiedenen sprachlichen Kenntnissen gegenseitig unterstützen konnten. Von besonderem Interesse für die Studie war es auch zu erfahren, ob es SchülerInnen mit lebensweltlich mehrsprachigem Hintergrund gibt und welche Sprachen neben dem Deutschen in ihrem Alltag eine Rolle spielten. Diese Informationen halfen dabei, die sprachliche und kulturelle Zusammensetzung der Lerngruppe zu überblicken und zu antizipieren, welche Lernenden die mehrsprachigen und mehrkulturellen Erfahrungen der Chicano/ a-Charaktere grund‐ sätzlich aus ihrer eigenen Lebenswelt kennen könnten. Daher lieferte der Fragebogen einen wichtigen Bezugsrahmen sowohl für die Unterrichtsplanung als auch für die Interpretation 4 Datenerhebung 99 <?page no="100"?> 43 Der Leitfaden kann im Anhang eingesehen werden. der Deutungs- und Verhaltensweisen von Lernenden. Die Antworten auf die Fragen 5 und 6 sowie die Auskunft über die Zeugnisnoten in der dritten Frage halfen der Forscherin und der Lehrkraft einzuschätzen, wie häufig und in welchem Umfeld die lebensweltlich mehrsprachigen SchülerInnen ihre Herkunftssprache im Alltag verwendeten und wie gut ihre Sprachkenntnisse in Englisch bzw. Spanisch waren. Selbstverständlich handelte es sich hierbei lediglich um erste Orientierungsinformationen, die bei der Vorbereitung des Leseprozesses oder bei der Differenzierung der Aufgaben hilfreich waren und damit vor allem in der Phase der Unterrichtsplanung berücksichtigt wurden. Des Weiteren hatte der Fragebogen A, in Kombination mit dem Fragebogen B (siehe Anhang), eine wichtige Funktion bei der Auswahl der InterviewpartnerInnen für das retro‐ spektive Interview (Stichwort ‚Sampling‘, siehe auch Abschnitt 4.3). Die Interviewpartner- Innen wurden so ausgesucht, dass sie möglichst umfassend die verschiedenen sprachlichen und kulturellen Hintergründe der Lerngruppe abbildeten, aber auch ihre unterschiedlichen Einstellungen zur Unterrichtseinheit repräsentierten. Dies wurde dadurch gewährleistet, dass die SchülerInnen sowohl auf dem Fragebogen A als auch auf dem Fragebogen B einen Code eintragen mussten, der aus einer Buchstaben- und Zahlenkombination bestand (siehe Anhang) und es der Forscherin erlaubte, eine anonyme Zuordnung der beiden Fragebögen vorzunehmen. Mit den Lehrkräften wurde in dieser einleitenden Phase der Untersuchung ein kurzes leitfadengestütztes Interview durchgeführt. 43 Im Rahmen des Interviews sollte eruiert werden, welches Verständnis von Mehrsprachigkeit die jeweiligen Lehrkräfte hatten, welches didaktische Potenzial sie mehrsprachigen Chicano/ a-Texten zuschrieben und welche Herausforderungen sie für ihren Einsatz im Unterricht antizipierten. Im Zentrum des Interviews standen also die individuellen Sichtweisen der Lehrkräfte hinsichtlich der Mehrsprachigkeitsförderung im fremdsprachlichen Literaturunterricht und der einge‐ setzten mehrsprachigen Texte. Diese manchmal ähnlichen, aber auch konkurrierenden Verständnisse von Mehrsprachigkeit bildeten den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Unterrichtseinheiten und waren häufig Gegenstand gemeinsamer Aushandlungspro‐ zesse zwischen den Lehrenden und der Forscherin. Das Interview hatte in diesem Sinne einen Orientierungscharakter, denn die hier geäußerten Überzeugungen, Haltungen und Meinungen der Lehrkräfte lieferten einen ersten Hintergrund für die Interpretation ihrer didaktisch-methodischen Entscheidungen, ihrer Unterrichtshandlungen sowie ihrer Aus‐ sagen im anschließend durchgeführten retrospektiven Interview. 4.2 Dokumentation der Unterrichtsstunden: Videographie, Feldnotizen und unterrichtsbezogene Produkte Wie andere ethnographische Forschungen war auch diese Studie daran interessiert, aus einer teilnehmenden Perspektive zu erforschen, wie die Mitglieder einer sozialen oder kulturellen Gruppe durch ihr Wissen, ihre Praktiken und ihre Interaktionen die soziale Wirklichkeit ‚praktisch‘ erzeugen (vgl. Lüders 2005: 390). Unterrichtsbezogene Ethnogra‐ phien versuchen, die situative Praxis des Klassenzimmers in ihrem natürlichen Setting 100 VI Fallstudien im Englischunterricht der Sekundarstufe II: Untersuchungsdesign <?page no="101"?> zu beobachten und dabei sowohl die Prozesse von außen (etische Perspektive) als auch von innen (emische Perspektive), d. h. aus der Perspektive der beteiligten AkteurInnen, zu erfassen (vgl. Nunan & Bailey 2009: 197 f.). Die folgenden Ausführungen machen deutlich, durch welche Datenerhebungsverfahren die Beobachtung von äußerlich wahrnehmbaren Unterrichtsinteraktionen und Handlungen realisiert wurde. In den Lerngruppen wurde jeweils eine Unterrichtseinheit zu einem mehrsprachigen Chicano/ a-Text vollständig in gewohnter Umgebung des Kursraums videographiert. Vor‐ aussetzung für das Anfertigen der Video-Aufnahmen war im Sinne des Datenschutzes die Genehmigung der beteiligten Personen und Institutionen: der Berliner Senatsverwaltung, der jeweiligen Schulleitungen und Schulkonferenzen sowie der Lehrenden und Lernenden. Falls nicht alle SchülerInnen dem Videographieren zustimmten, wurde die Kamera so positioniert, dass diese Lernenden nicht im Bild erschienen. Die Kamera wurde während des Unterrichts nicht bewegt. Grundsätzlich wurde im gesamten Stundenablauf auf Interven‐ tionen oder Störungen des Unterrichtsgeschehens verzichtet, um die Unterrichtssituation möglichst wenig zu beeinflussen. Der Einsatz von Videographie erschien im Rahmen dieser Studie aus mehreren Gründen gegenstandsangemessen. Zunächst diente diese Methode der „theorieunabhängigen und komplexitätserhaltenden Dokumentation“ des Unterrichtsgeschehens (Schramm & Aguado 2010: 186) und somit einer detaillierten Erfassung von vielschichtigen verbalen und non-verbalen Manifestationen der Schüler-Lehrer-Interaktionen (vgl. Kimes-Link 2013: 102). Durch andere Beobachtungsverfahren, wie z. B. durch Beobachtungsbögen oder teilnehmende Beobachtung, wäre die Komplexität des Unterrichtsgeschehens nicht in gleichem Maße erfassbar und möglicherweise stärker von den theoretischen Vorannahmen der Forscherin beeinflusst gewesen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass mittels Videogra‐ phie das Unterrichtsgeschehen vollständig ‚konserviert‘ werden konnte, denn je nach Positionierung und Ausrichtung der Kamera wurden immer nur Ausschnitte des Unter‐ richtsgeschehens erfasst. Über die Komplexität der erhobenen Daten und ihrer Darstellung entscheiden letztendlich sowohl die Gestaltung der konkreten Erhebungssituation als auch die Kombination der Videographie mit anderen Methoden (Triangulation) und die Art der Datenaufbereitung (Transkriptionssystem) (vgl. Kurtz 2016: 46 f.). Damit möglichst viele und möglichst vollständige Unterrichtsausschnitte erhoben werden konnten, wurden in dieser Studie zwei Videokameras genutzt. Die erste Kamera wurde in der hinteren Ecke des Raums positioniert und war damit auf die Lehrkraft ausgerichtet und die zweite Kamera befand sich im vorderen Bereich des Klassenraums und nahm damit die Lernenden in den Fokus. Manchmal war es aufgrund der Raumgröße und der Raumgestaltung nicht möglich, die Kamera so zu positionieren, dass sie alle SchülerInnen in den Blick nahm, sodass einige hinten sitzende SchülerInnen nicht von der Kamera erfasst werden konnten. Dies gilt ebenso für die Partner- und die Gruppenarbeitsphasen, die aufgrund des hohen Geräuschpegels von der Kamera nicht aufgenommen werden konnten, weshalb zusätzliche Tonbandgeräte nötig waren, um diese wichtigen Arbeitsphasen zumindest auditiv zu do‐ kumentieren. Da Videographie ein höchst invasives Verfahren der Unterrichtsbeobachtung darstellt (vgl. Schramm 2014: 243), wurde während der gesamten Unterrichtseinheit darauf geachtet, den beteiligten Lehrenden und Lernenden transparent zu machen, in welchen 4 Datenerhebung 101 <?page no="102"?> Unterrichtsphasen die Kamera eingesetzt wird und wie mit den Videodaten umgegangen wird, sodass jederzeit vollständiger Datenschutz gewährleistet werden konnte. Trotz der eingeschränkten Vollständigkeit von Videoaufnahmen weisen audio-visuelle Daten eine viel größere Dichte und Vielschichtigkeit auf, als dies bei einer Beobachtung mit bloßem Auge möglich wäre (vgl. Tuma et al. 2013: 34). Neben der Dichte der erhobenen Daten ist ein weiterer wichtiger Vorteil der Videographie die Permanenz, also die Dau‐ erhaftigkeit der Daten. Videoaufzeichnungen erfassen „zeitlich ablaufende Handlungen und Interaktionen, sie sind also permanente Datenaufzeichnungstechniken“ (ebd.: 33), die nicht nur die Komplexität der aufgenommenen Handlungen wahren, sondern auch ihre Sequenzialität, d.-h. ihren Ablaufcharakter dokumentieren. Eine solche Aufzeichnung von Unterrichtsverläufen ist insbesondere für die vorliegende Studie wichtig, da hier erfasst werden soll, wie SchülerInnen und LehrerInnen durch gemeinsame Aushandlungsprozesse literarischer Mehrsprachigkeit Bedeutung zuschreiben und wie sie in Unterrichtsinterak‐ tionen ihre eigene Mehrsprachigkeit (re-)konstruieren. Mittels Videographie können die einzelnen Schritte solcher Aushandlungsprozesse in ihrem zeitlichen und räumlichen Ablauf genau aufgezeichnet und nachvollzogen werden. Permanenz bezieht sich aber auch auf die technische Dauerhaftigkeit von Videoaufnahmen, die beliebig oft reproduziert und damit unabhängig von der forschenden Person analysiert werden können. Dies ist im Sinne der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit aus zwei Gründen ein wichtiger Vorteil. Zum einen gehen beim Videographieren die Interpretationsleistungen der Forschenden weniger in die Daten ein, als dies bei rekonstruierenden Verfahren der Fall wäre, und zum Zweiten bieten Videoaufnahmen die Möglichkeit, die Datenanalyse der Forschenden genau zu verfolgen und nachzuvollziehen, und stellen somit „die valideste Datensorte dar, die der sozialwissenschaftlichen Forschung derzeit zur Verfügung steht“ (ebd.: 34). Ein wichtiger Vorteil von Videostudien ist außerdem die Möglichkeit, emische und etische Forschungsperspektiven (siehe oben) zu kombinieren und damit Videoanalysen durch Befragungen der beteiligten Personen zu ergänzen. Mittels Videographie kann der Unterricht zunächst in seinem natürlichen Kontext von außen beobachtet werden, um danach die eigene Wahrnehmung der Forschenden durch die subjektiven Perspektiven der beteiligten Lehrenden und Lernenden zu ergänzen (vgl. Schramm & Aguado 2010: 187; Schramm 2014: 245). Eine solche Triangulation ist wichtig, weil die Unterrichtsvideo‐ graphie erlaubt, Beobachtungen und Eindrücke während des Unterrichts in Feldnotizen festzuhalten, critical incidents zu erkennen und durch beliebig häufige Reproduktionen zu analysieren. Die Interviews (oder andere Formen der Befragung) andererseits dienen dazu, die Perspektive der Beteiligten zu diesen critical incidents zu eruieren und somit ggf. erste Eindrücke der Forschenden aus der Beobachtungssituation zu revidieren. Unterrichtsvideos können des Weiteren dabei helfen, InterviewpartnerInnen für die anschließende Befragung auszuwählen, denn mittels Videoaufnahmen lassen sich Reaktionen von Lehrenden und Lernenden bezüglich bestimmter critical incidents retrospektiv genau beobachten und analysieren. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Angemessenheit des Videogra‐ phie-Einsatzes in dieser Studie vor allem in der Komplexität des Untersuchungsgegen‐ standes begründet ist, denn mittels Videographie können Lehrer-Schüler-Interaktionen aus verschiedenen Wahrnehmungsperspektiven erfasst werden, wobei die Flüchtigkeit ihrer 102 VI Fallstudien im Englischunterricht der Sekundarstufe II: Untersuchungsdesign <?page no="103"?> Erstbeobachtung und die Eingeschränktheit der Wahrnehmungskapazität der Forscherin überwunden werden können (vgl. Seifert 2016: 158). Im Sinne der oben genannten Perspektiventriangulation war auch der Einsatz von Feld‐ notizen, die es erlaubten, die Videosequenzen besser zu kontextualisieren, Beobachtungen und erste Deutungen des Unterrichtsgeschehens festzuhalten und diese als Anhaltspunkte für die Auswahl der zu analysierenden Videosequenzen und für ihre Analyse zu nutzen. In den Feldnotizen wurden einerseits Informationen notiert, die der Kontextualisierung der Stunden dienten, beispielsweise Bemerkungen der Lehrenden zur Planung oder zum Ablauf der Stunde. Ebenfalls wurden auffälliges oder abweichendes Unterrichtsverhalten der Lernenden oder bestimmte critical incidents notiert, denen während des anschließenden Analyseprozesses der Videosequenzen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Auf diese Weise waren Feldnotizen von besonderer Bedeutung bei der Auswahl der zu trans‐ kribierenden Sequenzen und halfen dabei, eine erste Strukturierung und Reduktion der großen Datenmenge vorzunehmen und diejenigen Ausschnitte zu identifizieren, die für die Beantwortung der Forschungsfragen wichtig erschienen (vgl. Jones 2018: 174). Weitere unmittelbar im Unterricht erhobene Datensätze umfassten Tafelbilder, die nach der Durchführung der Stunde abfotografiert wurden, und die verschiedenen Lernertexte, die von den SchülerInnen im Laufe der Unterrichtseinheit angefertigt wurden. Dazu zählen Texte, die der Dokumentation des Lernens dienten (z. B. ausgefüllte Arbeitsblätter), literari‐ sche bzw. literarisierende Texte wie mehrsprachige Gedichte (vgl. Kapitel VII und VIII), aber auch Texte, die zur Reflexion des mehrsprachigen Schreib- oder Leseprozesses dienten (vgl. Caspari 2016: 195). Solche unterrichtsbezogenen Produkte bergen ein enormes Potenzial für die fremdsprachendidaktische Forschung, weil sie direkten Einblick in die schulische Realität ermöglichen und insbesondere bei sog. schwer messbaren Kompetenzen, die über den bloßen Erwerb kommunikativer Fertigkeiten hinausgehen, ein wertvolles Instrument zur Erfassung von Lehr- und Lernprozessen darstellen (vgl. ebd.: 200). Das Mehrsprachig‐ keitslernen, so wie es in dieser Arbeit konzeptualisiert wurde, umfasst ähnlich schwer messbare Lernprozesse, die es in ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität zu erfassen gilt. Unterrichtsbezogene Produkte, wie z. B. die mehrsprachigen Gedichte, ermöglichen nicht nur einen Einblick in die individuellen Erfahrungen der Lernenden mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität. Sie können außerdem darüber Aufschluss geben, inwiefern sich Ler‐ nende bei ihren kreativ-literarischen Darstellungen auf die Mehrsprachigkeit der gelesenen Chicano/ a-Texte stützen, um sie als literarisches Verfahren für die Darstellung eigener Mehrsprachigkeit zu nutzen. Daher sind insbesondere diese Schülerprodukte von zentraler Bedeutung für die Beantwortung der Forschungsfragen. Da bei drei Unterrichtseinheiten mit bis zu jeweils 20 Stunden eine große Menge an Schülerprodukten eingesammelt wurde, bestand die Herausforderung bei der Darstellung der Daten darin, eine Auswahl an relevanten Produkten zu treffen und diese zu begründen sowie zu entscheiden, wie die unterschiedlichen Produkte aufeinander zu beziehen sind und welche Funktion dabei einzelnen Lernertexten zukommt (vgl. ebd.: 204). Daher wurde stets darauf geachtet, die Schülerprodukte in ihrer Entstehung zu kontextualisieren, ihren Stellenwert in der Unterrichtseinheit genau herauszuarbeiten und die Relevanz ihrer Analyse im Hinblick auf die Forschungsfragen zu begründen. 4 Datenerhebung 103 <?page no="104"?> 4.3 Befragung der Lernenden und Lehrenden: Retrospektive Interviews Nachdem der Unterricht von außen beobachtet und dokumentiert worden war, wurden re‐ trospektive Interviews mit Lehrenden und Lernenden durchgeführt, um ihre Erfahrungen, Einstellungen, Motivationen und Haltungen bezüglich des Mehrsprachigkeitslernens mit Chicano/ a-Texten zu erfassen. Die Befragungen zielten darauf ab, Einsicht in subjektive Sichtweisen der Beteiligten zu gewinnen, ihre individuellen Denk- und Wahrnehmungs‐ muster zu eruieren und dadurch die von außen beobachteten Handlungen und Prozesse genauer aus der Perspektive der Lehrenden und Lernenden zu rekonstruieren (vgl. Riemer 2016: 155; Trautmann 2012: 218 f.). Im Rahmen der Interviews konnten die Beteiligten schildern, wie sie den Unterricht mit dem mehrsprachigen Text erlebt haben, welche Erfahrungen sie bei der Rezeption gemacht haben und wie sie ihren eigenen Lernfortschritt oder den Fortschritt ihrer Lernenden beurteilen. Für die Zwecke dieser Studie wurden Leitfadeninterviews eingesetzt, die in einzelnen Fällen als fokussierte Interviews angelegt waren. Der Einsatz von stärker vorstrukturierten Leitfadeninterviews hat den Vorteil, dass durch eine vorab vorgenommene Strukturierung von Interviewfragen gewährleistet werden kann, dass solche Themen oder Aspekte des Un‐ terrichts zur Sprache kommen, die für die Forschungsfragen von Relevanz sind (vgl. Riemer 2016: 163). Außerdem ermöglicht ein solches Vorgehen eine Vergleichbarkeit der Interviews untereinander und entlastet die InterviewerInnen in der konkreten Erhebungssituation (vgl. Friebertshäuser 2000: 376). Dabei ist die Reihenfolge der Fragen in einem Leitfaden nie genau festgelegt, er dient vielmehr als Gerüst zur Strukturierung des Gesprächs und sollte niemals zu einer „Leitfadenbürokratie“ führen (ebd.: 376 f.). Im Sinne des Gütekriteriums der Offenheit sollte er lediglich einen Orientierungscharakter haben, weshalb die Reihenfolge der Fragen in dem vorliegenden Leitfaden nicht festgelegt war (siehe Anhang). Bei der Durchführung des Interviews standen in erster Linie offene Erzählungen der Lernenden im Vordergrund, wobei die Forscherin versuchte, das Gespräch durch Nach‐ fragen zu lenken, um so eine gewisse Reichhaltigkeit und Tiefe der Antworten zu erreichen. Das Gespräch mit Lehrenden und Lernenden wurde durch eine offene Erzählaufforderung begonnen: „Könnten Sie kurz beschreiben, was Sie in den letzten Wochen in Ihrem Englischunterricht gemacht haben? “ Durch diese Eröffnungsfrage wurde einerseits ein „Sich-aufeinander-Einstellen“ ermöglicht (vgl. Trautmann 2012: 220), andererseits war es interessant zu hören, wo Lehrende und Lernende bei der Auswahl von Unterrichtsinhalten und Unterrichtserlebnissen individuelle Schwerpunkte setzten. Im Verlauf des Interviews wurden die Fragen immer spezifischer und fokussierten einzelne im Unterricht erlebte Situationen, konkrete Lehr- und Lernverfahren oder Lernmaterialien. Diese besondere Ausprägung des Leitfadeninterviews wird auch „fokussiertes Interview“ genannt (vgl. Merton & Kendall 1993) und dient dazu, „bestimmte Aspekte einer gemeinsamen Erfahrung der Befragten möglichst umfassend, thematisch konzentriert, detailliert und einschließlich der emotionalen Komponenten auszuleuchten“ (Friebertshäuser 2000: 378). Fokussierte Interviews sind in ihrer Anlage freier als die Leitfadeninterviews, weil sie assoziative Stellungnahmen zum Gegenstand erlauben und eine möglichst große Themenreichweite erreichen wollen, also auch Standpunkte evozieren wollen, die nicht im Voraus antizipiert werden konnten (vgl. Hopf 2000: 353 f.). Zum Gesprächsgegenstand fokussierter Interviews wurden hier konkrete Unterrichtssituationen oder Unterrichtsgegenstände, die bei der 104 VI Fallstudien im Englischunterricht der Sekundarstufe II: Untersuchungsdesign <?page no="105"?> 44 Ähnlich wie der Fragebogen A wurde auch der Fragebogen B nach der Pilotierung der Studie gekürzt und grundlegend überarbeitet. Er enthielt in der ursprünglichen Version weiterführende Detailfragen wie die Frage nach der möglichen Identifikation mit den ProtagonistInnen der Texte, die bei der dritten Fallstudie zu Real Women Have Curves mit in die Auswertung aufgenommen wurde (vgl. Kapitel IX, 4.2), in den Unterrichtseinheiten der Hauptstudie (vgl. Kapitel VII und VIII) aber keine Rolle mehr spielte. Durchsicht der Videoaufnahmen interessant oder auffällig erschienen, zu denen sich Bemerkungen in den Feldnotizen fanden oder die in dem Fragebogen B von den Lernenden selbst thematisiert wurden. Der Fragebogen B wurde von den SchülerInnen am Ende der Einheit ausgefüllt und enthielt drei kurze offene Fragen zur Reflexion der Unterrichtseinheit (siehe Anhang). 44 Der Fragebogen B wurde zum Zwecke des Samplings eingesetzt, erlaubte aber auch einen ersten Einblick in die subjektiven Sichtweisen der Lernenden zur Unterrichtseinheit und diente somit auch der inhaltlichen Vorbereitung des fokussierten Interviews. Die Einführung des Fragebogens B hatte den Vorteil, dass durch den individuellen zugeordneten Code die Antworten auf diesem zweiten Fragebogen den Angaben auf dem Fragebogen A zugeordnet werden konnten, sodass bei der Auswahl der InterviewpartnerInnen auch die sprachlichen Voraussetzungen der SchülerInnen berücksichtigt werden konnten. Durch die Zuordnung der Antworten zum Fragebogen A konnte sichergestellt werden, dass zum Interview sowohl SchülerInnen mit als auch ohne Spanischkenntnisse eingeladen werden. Außerdem wurden Lernende als InterviewpartnerInnen eingeladen, die möglichst unterschiedliche - positive und negative - Meinungen zu der durchgeführten Unterrichtseinheit auf dem Fragebogen B notierten (vgl. „Prinzip der maximalen Variation“, Grum & Legutke 2016: 86). Dort, wo die Schüleraussagen aus dem Fragebogen B thematisch in den Gesprächsverlauf des Interviews passten, wurden diese Aussagen in anonymisierter Form zum Gesprächsge‐ genstand gemacht, um so spezifische Situationen aus dem Unterricht in den Mittelpunkt der Diskussion zu rücken (Kriterium der Spezifität, vgl. Hopf 2000: 354). Die Lernenden wurden ermutigt, ihre zumeist allgemein formulierten Antworten aus dem Fragebogen B durch Beispiele zu illustrieren und detaillierter zu begründen, wodurch die Fragebogendaten an Tiefe gewannen (Kriterium der Tiefe, vgl. ebd.). Die retrospektiven Interviews mit den Lernenden wurden unmittelbar nach dem Ende der Unterrichtseinheit in Gruppen von sieben bis acht SchülerInnen auf Deutsch ohne Anwesenheit der Lehrkraft durchgeführt und vollständig auf Tonband akustisch aufgezeichnet. Die SchülerInnen wurden anonym mit Angabe des entsprechenden Codes zum Interview aufgerufen, konnten aber die Teilnahme am Interview auch ablehnen. Die SchülerInnen sollten zu Beginn des Interviews beschreiben, wie sie ihre Arbeit mit mehrsprachigen Texten erlebt haben, was sie dabei gelernt haben und wie ihnen der Unterricht mit den mehrsprachigen Chicano/ a-Texten gefallen hat. Die Fragen sollten sie dazu ermutigen, ihren Lernprozess zu reflektieren und den Einsatz bestimmter Aufgaben oder Methoden im Unterricht zu beurteilen. Die Interviews mit den Lehrenden beleuchteten die Erfahrungen, die sie mit dem Einsatz mehrsprachiger Chicano/ a-Texte im Englischunterricht gemacht haben, und fragten nach ihren Begründungen für bestimmte didaktisch-methodische Entscheidungen sowie nach einer Beurteilung des Lernfortschritts ihrer Lerngruppe im Hinblick auf das Mehrsprachig‐ 4 Datenerhebung 105 <?page no="106"?> keitslernen. Im Sinne der Triangulation (vgl. Abschnitt 2.3) war es wichtig, die Meinungen der SchülerInnen und die Beobachtungen aus dem Unterricht mit den Einschätzungen der Lehrkräfte abzugleichen, um mögliche Parallelen, aber auch Unterschiede in der Wahrneh‐ mung der Lernaktivitäten und Lernprozesse zu beschreiben. Die Aussagen der Lehrkräfte aus dem Abschlussinterview konnten außerdem in Relation zu ihren Einschätzungen und Vorannahmen aus dem Eingangsinterview gesetzt werden, um feststellen zu können, ob und welche ihrer Erwartungen an die Unterrichtseinheit sich erfüllt haben. 5 Dokumentation, Kodierung und Auswertung der Daten 5.1 Datenaufbereitung und Transkription Sowohl die Video- und die Audioaufzeichnungen der Unterrichtseinheiten als auch die mittels Tonband aufgenommenen Interviews wurden unmittelbar nach der Durchführung verschriftlicht. Durch die Transkription wurden diese Aufzeichnungen in analysierbare Texte, d. h. in „dauerhaft fixierte (gespeicherte) Dokumentation gesprochener Sprache“ (Dittmar 2009: 31) überführt. Die auf diese Weise verschriftlichten Texte bildeten die Grundlage für die wissenschaftliche Analyse mündlicher Kommunikationsprozesse zwi‐ schen Lehrenden und Lernenden und stellten im weiteren Verlauf der Untersuchung die „eigentlich interessierende Realität“ (Flick 1998: 162) für die Forscherin dar. Dies bedeutet, dass die Verschriftlichung der erhobenen Daten mit einem Prozess der Kürzung und der Selektion der aufgezeichneten Texte einherging, sodass Transkripte vorzugsweise lediglich diejenigen Informationen enthielten, die einen unmittelbaren Bezug zu den Forschungsfragen aufwiesen. So rückten beim Transkribieren solche unterrichtlichen In‐ teraktionsprozesse in den Vordergrund, in denen Lehrende und Lernende unterschiedliche Positionen zur Mehrsprachigkeit der Texte beziehen, die Perspektive der jeweiligen Cha‐ raktere einnehmen oder ausgehend vom fiktiven Geschehen über ihre eigenen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit berichten. Im Unterschied zu Unterrichtsaufzeichnungen, die in dieser Studie selektiv transkribiert wurden, wurden die Interviews in ihrer gesamten Länge verschriftlicht. Alle Transkriptionen wurden von der Forscherin selbst mit Hilfe der Software f4transkript angefertigt. Ein Vorteil dieser zeitaufwendigen Arbeitsphase war die mehrkanalige Auseinandersetzung und damit die intensive Durchdringung der Daten, die kurz nacheinander angehört, verschriftlicht und gelesen wurden (vgl. Ehrenreich 2004: 169). Flick (1998: 162) plädiert dafür, nur so viel und so genau zu transkribieren, wie es die Fragestellung erforderlich macht. Da diese Studie vor allem an den inhaltlichen Aspekten der Unterrichtsinteraktionen interessiert ist und nicht so sehr an dem genauen diskursiven Ablauf der Gespräche, wird das von Nunan (2005) in den USA erprobte und in vielen lite‐ raturdidaktischen Arbeiten eingesetzte (vgl. Burwitz-Melzer 2003a: 148; Kimes-Link 2013: 106) Transkriptionssystem verwendet. Dieses Transkriptionssystem verzichtet auf genaue Messgenauigkeit und erlaubt gewisse Anpassungen des Gesagten an die Schriftsprache sowie syntaktische Glättungen, um eine leichtere Zugänglichkeit und Lesbarkeit der Daten zu erreichen. Paraverbale und verbale Markierungen (Pausen, Versprecher, Lachen, Seufzen 106 VI Fallstudien im Englischunterricht der Sekundarstufe II: Untersuchungsdesign <?page no="107"?> oder Veränderungen der Intonation und der Lautstärke) wurden lediglich dann mitnotiert, wenn eine besondere emotionale Beteiligung der Untersuchungspersonen festzustellen war (vgl. auch Ehrenreich 2004: 169). 5.2 Auswahl und Begründung der Auswertungsmethoden Grundsätzlich lassen sich bei explorativ-interpretativem Forschen zwei Strategien der Datenauswertung unterscheiden. Zur ersten Strategie sind sequenzielle Verfahren zu zählen, die auf „möglichst umfassende Rekonstruktion und Interpretation des Einzelfalls“ (Caspari et al. 2003: 502) abzielen, indem sie Informationen kontextualisieren, Strukturen beschreiben oder Bezüge zwischen Texten freilegen. Im Gegensatz dazu hat die zweite Strategie nicht die Vermehrung, sondern die Verkürzung des Datenmaterials zum Ziel, weil sie durch Kodierung und Kategorisierung das Material fallübergreifend bzw. fallver‐ gleichend auswertet (vgl. ebd.). Für diese Studie sind beide Strategien relevant und wurden bei der Analyse der Unterrichtseinheiten in der Regel nacheinander angewandt. Zunächst wurden mittels eines kodierenden Interpretationsverfahrens, in diesem Falle der qualita‐ tiven Inhaltsanalyse, die Unterrichtsinteraktionen sowie die subjektiven Sichtweisen der beteiligten AkteurInnen in ihrer Komplexität erfasst und im Hinblick auf fallübergreifende Themen und Muster analysiert. Die auf diese Weise vorgenommene Zusammenfassung und Strukturierung des vielschichtigen Datenmaterials ermöglichte es, Bezüge zwischen den einzelnen Datensätzen zu untersuchen und damit auch einzelne Unterrichtseinheiten miteinander zu vergleichen. Neben der fallübergreifenden Betrachtung standen auch die Ganzheitlichkeit und die Spezifik des Einzelfalls im Vordergrund der Analyse und damit auch die Rekonstruktion der zwischen den Zeilen stehenden latenten Sinnstrukturen durch den Bezug auf den sprachlichen und nicht-sprachlichen Kontext. Die Kombination dieser beiden Forschungsebenen, der Ebene des Einzelfalls und der Ebene der Generalisierung, sei, so Oswald (2013: 187), ein wesentliches Merkmal der qualitativen Forschung, hinsichtlich dessen sie sich von der rein quantitativen unterscheidet. Im Folgenden werden zwei unterschiedliche Methoden der Datenauswertung vorgestellt, die beide Forschungsebenen berücksichtigen und die Auswertung von Unterrichtsinteraktionen und von retrospektiven Interviews gleichermaßen betreffen. 5.3 Die strukturierende Inhaltsanalyse Im Unterschied zu sequenziell vorgehenden Analyseverfahren, die zu einer Vermehrung von Daten führen, hat die strukturierende Inhaltsanalyse den erheblichen Vorteil, dass sie durch ein strukturiertes Vorgehen die Datenmenge verkürzt. Die strukturierende Inhalts‐ analyse hat sich in vielen literatur- und kulturdidaktischen Arbeiten als Analyseverfahren bewährt (vgl. z. B. Burwitz-Melzer 2003a; Kimes-Link 2013; Eberhardt 2013a), „da mit ihrer Hilfe vielschichtige Datensammlungen wie z. B. Lehrer-/ Lernertexte oder Transkriptionen von Audiobzw. Videomaterial von Unterricht oder Interviewsequenzen sehr gut analysiert werden können“ (Burwitz-Melzer & Steininger 2016: 258). Auch Aguado (2013: 129) hält den Einsatz qualitativer Inhaltsanalyse insbesondere bei komplexen Fragestellungen für sinnvoll, nämlich immer dann, „wenn ein noch unerforschtes Themengebiet bearbeitet 5 Dokumentation, Kodierung und Auswertung der Daten 107 <?page no="108"?> wird oder wenn vertiefte Einsichten in Deutungsprozesse individuell oder sozial geprägter Wirklichkeitskonstruktion gewonnen werden sollen“. Auch diese Studie verfolgt ein solches komplexes Forschungsvorhaben, indem sie danach fragt, wie Lernende und Lehrende mit mehrsprachigen Texten umgehen, welche Lernaktivitäten und Lernprozesse dabei beobachtet werden können und wie die Beteiligten diese Prozesse erleben und reflektieren. Das systematische und komplexitätsbewältigende Vorgehen der Inhaltsanalyse erscheint für die vorliegende Studie gegenstandsangemessen, weil es eine Strukturierung und Verknappung von Unterrichtsinteraktionen und Redebei‐ trägen ermöglicht, sodass sie aufgebrochen und gezielt auf ihren inhaltlichen Gehalt hin durchsucht werden können (vgl. Burwitz-Melzer 2003a: 149). Ein forschungspragmatischer Vorteil der Inhaltsanalyse ist nicht nur die Reduktion und dadurch die leichtere Handha‐ bung der großen Datenmenge, sondern auch ihre Regelgeleitetheit und ihre strukturierte Vorgehensweise, die Prozesse des Verstehens, Interpretierens, Zusammenfassens und Explizierens umfasst. Nach Mayring (2010: 48 f.) zeigt sich die Systematik der Inhaltsanalyse an der Festlegung des konkreten Ablaufs einzelner Analyseschritte und ihrer Reihenfolge sowie der Definition von inhaltsanalytischen Einheiten, die bei der Kategorienbildung am Material im Grad der Offenheit variieren können. Systematisch ist die Inhaltsanalyse auch deshalb, weil sie das gesamte qualitative Material gleichberechtigt einbezieht und gleichbehandelt, wobei die Auswertung im Hinblick auf eine klare theoretische Fragestel‐ lung erfolgt. Dieser regelgeleitete Ablauf „ermöglicht, dass die Analyse nachvollzogen und auf Gütekriterien hin überprüft werden kann“ (Gläser-Zikuda 2013: 138). Die inter‐ subjektive Nachvollziehbarkeit wird also dadurch gewährleistet, dass die Analyse- und Interpretationsschritte der Inhaltsanalyse genau aufgezeigt, begründet und daher auch von anderen InhaltsanalytikerInnen nachverfolgt werden können. Die Forschenden werden also angehalten, ihren Weg zur Erkenntnisgewinnung offenzulegen und möglichst detail‐ liert zu erklären, wodurch einer möglichen Willkür und Beliebigkeit von Interpretation entgegengewirkt werden soll. Ein wesentliches Merkmal qualitativer Inhaltsanalyse ist ihre Theoriegeleitetheit. Sie besteht zunächst in der Forderung, vorangegangene Erfahrungen mit dem Gegenstand, d. h. den Stand der Forschung zum Gegenstand, bei allen Verfahrensschritten heranzu‐ ziehen (vgl. Mayring 2010: 51). Bei strukturierender Inhaltsanalyse des Materials fordert Mayring (ebd.: 92) die theoretische Begründung der Strukturierungsdimensionen und die theoriegeleitete Herausarbeitung ihrer Ausprägungen. Eine solche Orientierung der Inhaltsanalyse bietet einen entscheidenden Vorteil für das theoriegeleitete Vorgehen dieser Studie, das von einer spezifischen theoretischen Vorstellung des Mehrsprachigkeitslernens ausgeht (siehe Kapitel V, 3) und die daraus abgeleiteten Kompetenzschwerpunkte als Grundlage für die Konzeption und die Analyse der Unterrichtseinheiten nimmt. Die Auswertungskategorien wurden zunächst deduktiv abgeleitet und stellen somit einen Zusammenhang zum bereits existierenden Wissen der Mehrsprachigkeits- und der Lite‐ raturdidaktik sowie zu den theoretischen Vorüberlegungen zum Potenzial literarischer Mischtexte her. Eine solche theoretische Vorstrukturierung der Auswertung erschien angesichts der Vielschichtigkeit der gewonnenen Daten sinnvoll, denn die erfassten mündlichen und schriftlichen Redebeiträge der SchülerInnen sind komplex und beziehen sich nicht nur auf mehrsprachige Phänomene, sondern verfolgen auch fremdsprachliche, 108 VI Fallstudien im Englischunterricht der Sekundarstufe II: Untersuchungsdesign <?page no="109"?> pädagogische, kultur- oder literaturdidaktische Lernziele, die sich überlappen und daher für die Analyse getrennt werden sollten (vgl. Burwitz-Melzer 2003a: 156). Angesichts dieser Komplexität des Materials erschien es umso wichtiger, die theoretischen Überlegungen zum Mehrsprachigkeitslernen als ein Suchraster zu nutzen, um eine zielgerichtete Analyse im Hinblick auf die mehrsprachigen Lernprozesse zu ermöglichen, Unterrichtsabläufe vorzustrukturieren und Analyseeinheiten zu identifizieren. Das Ziel dieser Studie bestand allerdings nicht in der Prüfung dieser theoretisch abgeleiteten Annahmen. Im Sinne der Offenheit qualitativer Forschung sollte der theoretische Bezugsrahmen vielmehr als Ausgangspunkt für die Gewinnung neuer Hypothesen genutzt werden, wobei bereits bestehende Überlegungen ergänzt, modifiziert oder gänzlich revidiert werden konnten. Für diese Arbeit heißt dies, dass der „Wahrnehmungstrichter“ (Lamnek & Krell 2016: 33) bei der Analyse der Daten nicht nur die vorab aus der Theorie abgeleiteten mehrsprachigen Lernprozesse erfassen soll, sondern dass er offen bleibt für weitere Lernsituationen, für nicht antizipierte Faktoren, die das Mehrsprachigkeitslernen beeinflussen können, für widersprüchliche Sichtweisen und unerwartete Unterrichtsabläufe. Den Ausgangspunkt für die Auswertung der Daten bildeten immer die subjektiven Sichtweisen der beteiligten Individuen und somit die Frage, wie Lernende und Lehrende das Mehrsprachigkeitslernen mit Literatur erleben, wie sie die literarische Mehrsprachigkeit wahrnehmen und deuten und wie sie diese auf sich selbst beziehen. Mittels einer „dichten“ Beschreibung (Geertz 1987) sollte zunächst ohne eine genaue Hypothesenbildung dargestellt werden, was passiert, wenn SchülerInnen der Oberstufe mehrsprachige Chicano/ a-Texte lesen und besprechen (vgl. Burwitz-Melzer 2003a: 148). Dabei sollte möglichst genau erfasst werden, wie SchülerInnen Sinn aushandeln, welche Bedeutungen sie der Mehrsprachigkeit in den Texten zuschreiben, welche Perspektiven sie gegenüber den Texten entwickeln und wie sie Handlungs- und Deutungsmuster der Charaktere bewerten. Das „Verstehen“ als zentrales Prinzip sozialwissenschaftlicher Forschung zielt in einem nächsten Schritt darauf ab, die komplexen Zusammenhänge zwischen den eingesetzten Texten, den handelnden Akteur- Innen und den initiierten Lern- und Lehrprozessen zu erfassen sowie die verschiedenen subjektiven Sichtweisen auf diese Zusammenhänge nachzuvollziehen. Die „Interpretation“ zielt schließlich darauf ab, Erkenntnisse hinsichtlich eines Beitrags literarischer Mischtexte für die Mehrsprachigkeitsförderung abzuleiten und Konsequenzen für die konkrete Um‐ setzung in der Unterrichtspraxis zu ziehen. Insbesondere beim Verstehen und Interpretieren impliziter Bedeutungen ist die Rolle des sprachlichen und situativen Kontextes zu betonen, denn Einzeläußerungen können nur im Kontext einer längeren Antwort oder des gesamten Forschungsablaufs analysiert werden (vgl. Flick et al. 2015: 23). Manche KritikerInnen bemängeln, dass eine Schritt-für-Schritt-Analyse, die theoretisch begründete Kategorien an das Datenmaterial heranträgt und sich vorschnell von den erhobenen Daten löst, rein überprüfend sei und deshalb nicht dafür geeignet, latente Sinnstrukturen aufzudecken (vgl. Aguado 2013: 126). Eberhardt, der in seiner Studie mit Hilfe der Inhaltsanalyse das Strukturmodell zur interkulturellen Kompetenz von Byram verfeinert, diskutiert das Potenzial dieser Auswertungsmethode mit Bezug auf eine wie folgt formulierte kritische Aussage von Flick (2005: 283): 5 Dokumentation, Kodierung und Auswertung der Daten 109 <?page no="110"?> Die schnelle Kategorisierung mit von außen herangetragenen, theoretisch begründeten Kategorien lenkt möglicherweise den Blick eher auf den Inhalt des Textes, als dass sie den Text und seine (Un-)Tiefen auszuloten erleichtert. Interpretation des Textes im Sinne der meisten anderen Auswertungsverfahren wird eher schematisch durch die explikative Inhaltsanalyse realisiert. Eberhardt tritt dieser Kritik entschieden entgegen, indem er argumentiert, dass die Inhalts‐ analyse sowohl dem Prinzip der Offenheit als auch der Kontextualität gerecht wird und damit auch eine Analyse und Interpretation latenter Sinnstrukturen ermöglicht. Zu Recht argumentiert er, dass die indikatorenbasierte Interpretation der qualitativen Inhaltsanalyse jedem Forscher an vielen Stellen des Ablaufmodells einen großen Spielraum lässt. Insbesondere die stets individuell zu treffenden Entscheidungen über die Größe der Kodier- und Kontexteinheiten sind dafür ver‐ antwortlich, wie weit sich die Dateninterpretation von der Denotation einzelner Wörter und der Textoberfläche entfernt und Interpretation verbaler Aussagen miteinbezieht, inwiefern sie einzelne Sätze und Textpassagen nicht isoliert, sondern in ihrem Kontext betrachtet, und damit auch die Rekonstruktion latenter Sinneinheiten ermöglicht (Eberhardt 2013b: 173). Eberhardt unterstreicht hier, dass hinter jeder Entscheidung innerhalb des Ablaufmodells der Inhaltsanalyse ein Akt der Interpretation steht, bei dem die einzelnen Forschenden selbst entscheiden sollen, wie stark sie bei der Analyse den Kontext berücksichtigen und wie sehr sie sich vom Datenmaterial entfernen möchten. Dies gilt auch für die rein theoriegeleitete deduktive Kategorienbildung. Die Zuordnung zu einer Kategorie oder die verbale Beschreibung der Kategorie muss auch hier durch Interpretation individuell bestimmt werden (vgl. auch Gläser & Laudel 2010: 195). Die Annahme, dass das Verstehen des Forschungsgegenstands immer eine Interpretation der zugrunde liegenden Daten erfordert, verweist auf das Interpretative Paradigma qualitativer Forschung (vgl. Eberhardt 2013a: 182). Dieses betrachtet gesellschaftliche Zusammenhänge „als nicht objektive vor‐ gegebene und deduktiv erklärbare soziale Tatbestände, sondern [als] Resultat eines inter‐ pretationsgeleiteten Interaktionsprozesses zwischen Gesellschaftsmitgliedern“ (Lamnek & Krell 2016: 43). Für die Forschungsmethodologie ergibt sich daraus die Konsequenz, dass die Theoriebildung zu einem bestimmten Gegenstandsbereich „als interpretativer Prozess, d.-h. als rekonstruktive Leistung“ angelegt werden soll (ebd.). Möchte man in dieser Studie also erforschen, was Lernende im Umgang mit mehr‐ sprachigen Chicano/ a-Texten lernen, muss man sich den subjektiven Sichtweisen und Deutungsmustern der SchülerInnen interpretativ nähern. Laut Aguado (2013: 130) ist „[i]nsbesondere für die Erfassung subjektiver Wahrnehmungen und Deutungsprozesse sowie für die Aufdeckung latenter Sinnstrukturen“ eine Kombination aus deduktiver theoriegeleiteter und induktiver empiriegeleiteter Kategorienbildung zu empfehlen. Der grundlegende Unterschied dieser beiden Vorgehensweisen besteht darin, dass im Rahmen deduktiv orientierter Ansätze theoretische Vorannahmen an das Material herangetragen werden, während bei induktiven Ansätzen das Datenmaterial selbst dazu dient, Kategorien zu bilden, Zusammenhänge zu systematisieren und daraus datengeleitet Erklärungsmodelle abzuleiten (vgl. Burwitz-Melzer & Steininger 2016: 259). Eine kombinierte Kategorien‐ bildung, so wie sie in dieser Arbeit eingesetzt wird, hat den entscheidenden Vorteil, 110 VI Fallstudien im Englischunterricht der Sekundarstufe II: Untersuchungsdesign <?page no="111"?> dass sie einerseits die Theoriegeleitetheit dieser Arbeit unterstützt und andererseits die Möglichkeit schafft, auf Grundlage der beobachteten Schüleraktivitäten und -beiträge neue Hypothesen zum Mehrsprachigkeitslernen mit literarischen Texten zu generieren. Diese Vorgehensweise erschien besonders sinnvoll, weil der Einsatz literarischer Mischtexte im Fremdsprachenunterricht empirisch weitgehend unerforscht ist, die Bezugsfelder Mehr‐ sprachigkeits- und Literaturdidaktik jedoch bereits wertvolle Impulse zu der Erforschung dieses Themas bieten konnten. Die deduktive Kategorienbildung berücksichtigte folglich die vielfältigen theoretischen Erkenntnisse der Mehrsprachigkeits- und der Literaturdi‐ daktik, die als Ausgangspunkt der Hypothesengenerierung dienten. Ihre Kombination mit der induktiven Vorgehensweise sollte sicherstellen, dass die am Ende stehenden Erkennt‐ nisse zum Mehrsprachigkeitslernen mit Chicano/ a-Texten „in der Sprache des Materials“ (Mayring 2010: 84), d.-h. ausgehend von den beobachteten Lern- und Reflexionsprozessen aus der Perspektive der beteiligten Lernenden und Lehrenden erfasst werden konnten. Indem möglichst offene Fragen an das Material herangetragen wurden und die Kategorien ergänzt und erweitert werden konnten, blieb die Handhabung des Kategoriensystems stets flexibel (vgl. Gläser & Laudel 2010: 205). 5.4 Vorstellung des Kodierungskatalogs und des Kodiervorgangs Das Ziel jeder qualitativen Inhaltsanalyse ist die Entwicklung und Anwendung eines Kategoriensystems, das darauf abzielt, das komplexe Datenmaterial hinsichtlich theoretisch interessierender Merkmale klassifizierend zu beschreiben (vgl. Früh 2017: 42; Kuckartz 2018: 32). Bestimmte inhaltliche Passagen des Textes werden also durch Paraphrasierungen und Zusammenfassungen verkürzt und in eine Kategorie überführt, somit kann eine Kate‐ gorie als „das Ergebnis einer Klassifizierung von Einheiten“ verstanden werden (Kuckartz 2018: 37). Durch eine solche Klassifizierung wird eine „Informationsbasis“ geschaffen, die lediglich die für die Beantwortung der Forschungsfragen relevanten Passagen enthält, sodass die weitergehende Analyse relativ unabhängig vom Ursprungstext stattfinden kann (vgl. Gläser & Laudel 2010: 200). Wie oben bereits dargelegt, wurden in dieser Arbeit die theorieorientierte deduktive und die empirieorientierte induktive Kategorienbildung kombiniert. Einhergehend mit diesen zwei Arten der Kategorienbildung unterscheidet Mayring zwei Techniken der Inhaltsana‐ lyse - die strukturierende und die zusammenfassende/ explizierende inhaltsanalytische Technik. Bei der strukturierenden Inhaltsanalyse werden die Hauptkategorien häufig aus den Forschungsfragen abgeleitet und theoretisch begründet (z. B. kann man sich dabei häufig an den Themen des Interviewleitfadens orientieren), diese werden dann im Laufe des Analyseprozesses erweitert, präzisiert und ausdifferenziert (vgl. Burwitz-Melzer & Steininger 2016: 265; Kuckartz 2018: 64-67; Mayring 2010: 92 ff.). Das besondere Problem der deduktiven Kategorienbildung sei laut Kuckartz (2018: 67) die präzise und trennscharfe For‐ mulierung der Kategoriendefinitionen, die eine Überschneidung der Kategorien verhindern soll. Es existieren verschiedene Vorgehensweisen, um diesem Problem entgegenzuwirken. Die erste Maßnahme besteht darin, die Entwicklung der Kategorien mit KollegInnen zu besprechen (Kodierer-Übereinstimmung). Wichtig ist auch, auf eine Differenzierung der Kategorien während der Analyse zu achten, d. h. Kategorien an das Textmaterial 5 Dokumentation, Kodierung und Auswertung der Daten 111 <?page no="112"?> 45 Der Kodierungskatalog kann im Anhang eingesehen werden. anzupassen und durch neue induktiv gebildete Subkategorien auszudifferenzieren (ebd.: 67-72, vgl. auch Burwitz-Melzer & Steininger 2016: 260). In dieser Arbeit wurden beide Verfahren umgesetzt: Durch die mehrmalige Besprechung der Forschungsfragen und des Interviewleitfadens mit den Mitgliedern des Forschungskol‐ loquiums an der Universität Gießen wurde sichergestellt, dass die deduktiv gewonnenen Kategorien erschöpfend sind, d. h. alle wichtigen theoretischen Überlegungen zum Mehr‐ sprachigkeitslernen berücksichtigen und dabei so klar formuliert sind, dass sie als trenn‐ scharf gelten können. Die induktive Bildung der Kategorien am Material führte andererseits unweigerlich dazu, dass grobe deduktive Hauptkategorien zusätzlich differenziert wurden. Für die induktive Kategorienbildung wurden die von Mayring vorgeschlagenen Techniken der Zusammenfassung und der Explikation genutzt (vgl. Mayring 2010: 67-92), allerdings in einer leicht modifizierten Form nach Kuckartz (2018: 72-95). Erschien eine offene Kodierung direkt am Material besonders uneindeutig oder schwierig, wurde die Technik der fokussierten Zusammenfassung nach Kuckartz (2018: 86 ff.) angewandt. Bei dieser Technik entfällt der Schritt der Paraphrasierung und die Kategorienbildung erfolgt sehr nah am Text durch die Formulierung inhaltlicher Zusammenfassungen. Die Aussagen, die sich wiederholten oder besonders relevant erschienen, wurden verkürzt und in Kategorien und mögliche Subkategorien überführt. In allen anderen Fällen wurden Kategorien direkt am Material gebildet (vgl. ebd.: 91), wobei Interpretationsvorschläge bzw. Hinweise für den weiteren Kodiervorgang in Form von Memos festgehalten wurden. Parallel zur Inhaltsanalyse wurde das theoretische Kodieren angewandt, um spezifische aus der Theorie abgeleitete inhaltliche Schwerpunkte des Mehrsprachigkeitslernens im Datenmaterial zu identifizieren (etwa Sprachtransfer oder Nachdenken über die Funktion literarischer Mehrsprachigkeit). Dieses Vorgehen war für die vorliegende Studie insofern hilfreich, als damit nicht nur Verstehens- und Rezeptionsprozesse der Lernenden im Klassenraum berücksichtigt werden konnten, sondern auch die Frage nach den Resultaten solcher Lernprozesse. Dieses Verfahren wurde daher insbesondere bei schriftlichen und mündlichen Schülerprodukten angewandt, um zu erkunden, ob und wie differenziert be‐ stimmte Lernprozesse stattgefunden haben und wie sich diese fallübergreifend vergleichen lassen (vgl. Burwitz-Melzer 2003a: 149; Kimes-Link 2013: 108 f.). Da dabei nach Indikatoren für gelungene mehrsprachige Lernprozesse gesucht wurde, ist diese Art von Kodieren normativ und ergänzt das eher deskriptiv ausgerichtete offene Kodieren am Datenmaterial. Die Liste der Kodierungen geht von einer stets in ähnlicher Weise gestalteten Textarbeit aus, die sich an der Struktur videographierter Unterrichtssequenzen orientiert. 45 Trotz der jeweils unterschiedlichen Unterrichtsabläufe lässt sich eine grundlegende Struktur herausarbeiten, die sich auf jede der durchgeführten Unterrichtseinheiten in ähnlicher Form übertragen lässt: 1. Nach einer Kontextualisierung im Rahmen des zielkulturellen Diskurses (USA-Me‐ xiko) begegnen Lernende dem mehrsprachigen Chicano/ a-Text. Hierbei steht das sprachliche Dekodieren der spanischen Einschübe im Vordergrund und die Frage nach den Wissensbeständen und Strategien, die die Lernenden dabei aktivieren (Codes 1-3). 112 VI Fallstudien im Englischunterricht der Sekundarstufe II: Untersuchungsdesign <?page no="113"?> 46 Die letzten Kategorien (Nr. 5) umfassen die Schüleraussagen aus den Unterrichtsgesprächen, aber auch aus den retrospektiven Interviews, da sich die im Unterricht initiierte Reflexion zum Mehr‐ sprachigkeitslernen in den Interviews fortsetzt und sich somit in den Unterrichtsablauf ergänzend einfügt. 2. Es folgt eine durch kognitiv-analytische oder kreativ-produktive Verfahren eingelei‐ tete Wahrnehmung und Interpretation der Mehrsprachigkeit literarischer Figuren. Hierbei stellt sich die Frage, wie die SchülerInnen den Sprachenwechsel der Figuren erklären und welche Erfahrungen sie dabei aktivieren (Codes 4-8). 3. Nachdem die SchülerInnen die Mehrsprachigkeit der Chicano/ a-Texte als literarisches Darstellungsverfahren interpretiert haben (Code 9), 4. gestalten sie einen mehrsprachigen Text in ihren Sprachen und denken über diesen Schreibprozess nach (Codes 10-12), 5. um abschließend über die Mehrsprachigkeit der literarischen Texte und über Mehr‐ sprachigkeit als Unterrichtsprinzip zu reflektieren (Codes 13-15). 46 Die so isolierten Arbeits- und Unterrichtsschritte zeichnen den Umgang mit den mehr‐ sprachigen Texten nach und geben somit auch Aufschluss über die Progression der einzelnen Lernschritte. Die hier dargestellten Hauptkategorien wurden aus der theoreti‐ schen Darstellung des Mehrsprachigkeitslernens (vgl. Kapitel V, 3) deduktiv abgeleitet, die Unterkategorien (1-15, vgl. Kodierungskatalog) wurden am Material induktiv gebildet und beziehen sich auf die Wissensbestände, Erfahrungen, Strategien und Haltungen, die die SchülerInnen im Laufe der Unterrichtseinheit aktivierten und (neu) entwickelten. Im Zentrum des Kodiervorgangs steht die Auseinandersetzung der Lernenden mit den Chicano/ a-Texten, sodass der Kodierungskatalog nur Codings enthält, die die Beiträge der Lernenden betreffen. Die Aussagen der Lehrenden wurden nicht kodiert, sie spielen dennoch eine wichtige Rolle bei der Datenanalyse, denn sie helfen, die Wahrnehmung der SchülerInnen durch die Perspektiven der Lehrenden zu ergänzen und mit ihnen ggf. zu vergleichen. Das systematische Vorgehen im Kodierungskatalog erlaubt einerseits, innerhalb des jeweiligen Bereichs des Mehrsprachigkeitslernens genaue Angaben über eine Operationalisierung mehrsprachiger Lernziele zu machen, und bietet andererseits durch die bereits vorgenommene Kategorisierung eine Orientierung für die Strukturierung der Fallstudienanalysen. Die Funktion des folgenden Kodierungskatalogs besteht also in einer Strukturierung und Reduzierung des Datenmaterials und ermöglicht somit den Vergleich zwischen einzelnen Lerngruppen, mehrsprachigen literarischen Texten und Aufgabenstellungen. 5.5 Diskursanalyse Die Auswertung der Daten zielte nicht nur auf die Reduktion und die Systematisierung des Datenmaterials, sondern auch auf die nähere Betrachtung des Einzelfalls, d. h. der einzelnen Gesprächs- oder Interaktionsabläufe. Die diskursanalytische Einzelbetrachtung eines Gesprächs oder einer Interaktion kam in dieser Studie lediglich punktuell zum Einsatz, und zwar in den Situationen, in denen es um das „prozessorientierte Aushandeln von Bedeutung“ (Burwitz-Melzer 2003a: 148) ging. Damit sind solche Unterrichtsinteraktionen 5 Dokumentation, Kodierung und Auswertung der Daten 113 <?page no="114"?> oder Gespräche gemeint, in denen Lehrende und Lernende literarischen Texten und ihrer Mehrsprachigkeit unterschiedliche und oft widersprüchliche Bedeutungen zuschreiben, verschiedene Positionen miteinander verhandeln oder versuchen, Unklarheiten oder Miss‐ verständnisse untereinander zu klären bzw. zu reparieren. Solche Situationen wurden einer linguistischen Diskursanalyse unterzogen, um Handlungsmuster oder Kommunika‐ tionsabsichten zu rekonstruieren, die sich nicht einfach an der sprachlichen Oberfläche ablesen ließen (vgl. Becker-Mrotzek & Vogt 2009: 39). Der Einsatz der Diskursanalyse in dieser Arbeit verfolgte daher weniger die Absicht, den Gesprächsverlauf sequenziell zu rekonstruieren (etwa im Sinne einer Konversationsanalyse), sondern zielte eher darauf ab, die sprachliche Verfasstheit von Lehrer- und Schüler-Äußerungen in den Blick zu nehmen, sie in Beziehung zueinander zu setzen und ihre Wirkungen (in Anlehnung an die Sprechakttheorie nach Austin) zu beschreiben. Die Schüleräußerungen sind als einzig greifbare Resultate von Verstehens- und Er‐ kenntnisprozessen im Unterricht zu verstehen und rückten deshalb in den Fokus der Fallstudien. Wie Lernende mehrsprachige literarische Texte lesen, kann von außen kaum beobachtet werden (high inference behavior nach Nunan 2005: 60), wir können lediglich auf ihre sprachlichen Realisierungen zurückgreifen. Die Annahme einer sprachlichen Konstruktion von Wirklichkeit ist ein zentraler Standpunkt aller diskursanalytischen Ansätze, die davon ausgehen, dass Wirklichkeit nur mittels Sprache konstituiert und wiederum nur in sprachlicher Form wieder rekonstruiert werden kann (vgl. Niehr 2014: 48). Mittels Diskursanalyse sollte in dieser Studie die Sprachlichkeit von Interaktionen und Aussagen in den Blick genommen werden, um ihre kommunikative Funktion und die kommunikative Absicht des Sprechers oder der Sprecherin rekonstruieren zu können. In diesem Zusammenhang sollte beobachtet werden, wie Lehrende den Vermittlungsprozess gestalten, welche didaktisch-methodischen Entscheidungen und Erwartungen sie wie umsetzen und wie diese von Lernenden angenommen und umgesetzt werden. Dabei dienten folgende Fragen als Grundlage für die Analyse unterrichtlicher Interaktionsprozesse: ● Welche Aussagen treffen Lernende über die Mehrsprachigkeit der Chicano/ a-Texte? Wie ausführlich gestalten sie ihre Antworten (oder sind SchülerInnen lediglich ‚Stich‐ wortlieferanten‘)? Welche Schülerbeiträge werden vom Lehrenden in den Fokus der Diskussion gerückt? Welche werden ausgeklammert? ● Welche Hypothesen stellen Lernende bezüglich der Mehrsprachigkeit von Chi‐ cano/ a-Texten auf und wie gelingt es ihnen, sie am Text zu verifizieren? ● Wie werden unterschiedliche Meinungen zu mehrsprachigen Texten verhandelt? Welche Meinungen setzen sich in der Diskussion durch? ● Welche Aussagen machen Lehrende und Lernende über ihre eigene Mehrsprachigkeit? Wann und wie positionieren sie sich als „mehrsprachige Subjekte“? Wie reagieren andere UntersuchungsteilnehmerInnen darauf ? 114 VI Fallstudien im Englischunterricht der Sekundarstufe II: Untersuchungsdesign <?page no="115"?> VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo 1 Der Roman Caramelo und sein Potenzial für das Mehrsprachigkeitslernen Der Roman Caramelo (2002) der mexikanischstämmigen Autorin Sandra Cisneros ist im Hinblick auf seine inhaltliche und sprachliche Gestaltung der komplexeste mehrsprachige Chicano/ a-Text, der in dieser Studie zum Einsatz kam. Die in Chicago geborene und vielfach prämierte Autorin ist eine der Schlüsselfiguren der Chicano/ a-Literatur und wurde vor allem durch ihren Roman The House on Mango Street (1984) international bekannt. Ähnlich wie in ihren früheren Werken macht Cisneros das Erwachsenwerden und die Identitätssuche ihrer Protagonistin Celaya (Lala) Reyes zum wichtigsten Thema des englisch-spanischen Romans. Viele der in anderen Texten angesprochenen Themen, wie die Konstruktion kultureller Hybridität und Ethnizität oder die Infragestellung von Geschlechterrollen, finden ihren Höhepunkt in der Publikation von Caramelo (vgl. McCra‐ cken 2000: 2). Der Roman erzählt die Geschichte der Familie Reyes, die sich zwischen den 1920er und den 1980er Jahren in Mexiko und den USA abspielt. Im Zentrum des ersten Teils (Recuerdo de Acapulco) steht die Reise der in den USA wohnenden Familie Reyes nach Mexiko, um die Großmutter Soledad (Awful Grandmother) zu besuchen. Der zweite Teil (When I was Dirt) beschreibt die Ursprünge der Familie Reyes, insbesondere das Leben der Großmutter und des Großvaters zur Zeit des Kolonialismus und der Mexikanischen Revolution am Anfang des 20. Jahrhunderts. Mehrere Jahrzehnte danach muss die Großmutter ihr geliebtes Mexiko verlassen und lässt sich mit ihrer Familie in Chicago nieder. In diesem letzten Teil des Romans (The Eagle and the Serpent: My Mother and Father) verbindet Cisneros die Geschichte der Großmutter, die in der Familie immer unsichtbarer wird und letztlich stirbt, mit der Geschichte Celayas, die sich den religiös, kulturell und gesellschaftlich bedingten Erwartungen ihrer Umgebung stellt und ihre Position in der Reyes-Familie neu definiert. Die durchgeführte Unterrichtseinheit fokussierte in erster Linie verschiedene Auszüge aus dem ersten Teil des Romans, in denen Lala noch ein junges Mädchen ist. Lalas Identi‐ tätssuche ist eng verknüpft mit Momenten des Raumwechsels, d. h. der Grenzüberquerung zwischen Mexiko und den USA. Auf diesen Reisen wird sie sich ihrer Existenz als Chicana bewusst - eine Veränderung, die sie emotional und physisch erlebt - und die für sie vor allem durch den Wechsel zu einer anderen Sprache manifest wird: „As soon as we cross the bridge everything switches to another language. Toc, says the light switch in this country, at home it says click. […] Every year I cross the border, it’s the same - my mind forgets. But my body always remembers.“ (Cisneros 2002: 17 f., H. i. O.) In ihrer Suche nach einer eigenen Position in Familie und Gesellschaft wechselt Lala nicht nur zwischen unterschiedlichen Orten und Sprachen. Ihre Suche hat auch eine temporale und soziale Dimension. Indem Lala die unterschiedlichen Wege ihrer Familienmitglieder zwischen Geschichte und Gegenwart <?page no="116"?> 47 Aufgrund dieser Genre-Polyphonie sowie der Präsenz zahlreicher intertextueller Referenzen stellt Gutiérrez y Muhs (2008: 23) die Behauptung auf, Caramelo sei eine interaktive, auf das Internet angewiesene Lektüre, denn nur das Internet ermöglicht es, die zahlreichen historischen Referenzen nachzuschauen und den ethnographischen Charakter des Romans zu erfassen. historisch rekonstruiert, webt sie symbolisch den von ihrer Grußmutter geerbten caramelo rebozo (karamellfarbener Wollschal) ihrer Familiengeschichte zusammen und findet auf diese Weise auch ihren eigenen Weg in die Zukunft: „Each and every person [is] connected to me, and me connected to them, like the strands of a rebozo“ (ebd.: 389, H. i. O.). Durch diesen Akt der Narration, den sie im Dialog mit ihrer Großmutter gestaltet, verleiht sie ihrer durch gesellschaftliche Marginalisierung gekennzeichneten Familiengeschichte eine Stimme und stellt somit das kollektive Gedächtnis ihrer Familie wieder her. McCracken (2000: 8) hebt daher hervor: „the story of the Reyes clan […] is the excavation project of Celaya Reyes, who attempts to recover the repressed secrets of both her family and the larger historical master narrative.“ Als Erzählerin überschreitet Lala temporale und räum‐ liche Grenzen und findet ihre eigene Identität irgendwo zwischen den unterschiedlichen Strängen ihrer Familiengeschichte, zwischen Mexiko und den USA, zwischen Spanisch und Englisch: „The identity she is constructing can be characterized not only as hybrid and transnational but also as nomadic and transitional, since it is formed in the process of her numerous travels and instead of being a fixed concept continues to be in flux“ (Antoszek 2012: 183). Grenzüberschreitung ist nicht nur kennzeichnend für Lalas Identitätssuche, sondern auch für den Lektüreprozess des Romans selbst. Seine formale Hybridität verlangt von LeserInnen, sich bei der Lektüre zwischen Sprachen, Kulturen, Zeitepochen, Genres und Erzählmodi zu bewegen (vgl. auch Alumbaugh 2010: 72). Die Erzählung ist in Form von 87 kurzen Vignetten strukturiert, die neben einer Vielzahl an Themen, Motiven, Figuren und Erzählerstimmen zusätzlich zur Komplexität und Nicht-Linearität des Romans beitragen und ihm einen episodischen Charakter verleihen. Die Struktur des Textes wird außerdem durch zahlreiche Fußnoten, Endnoten und Chronologien aufgebrochen, die Informationen über historische Ereignisse, Persönlichkeiten der mexikanischen Geschichte etc. enthalten und eher in einer wissenschaftlichen Abhandlung als in Fiktion zu erwarten wären 47 . Das rebozo-Narrativ löst somit nicht nur die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit auf, sondern lässt auch die Genre-Grenzen zwischen historischen und literarischen Erzäh‐ lungen, zwischen historischer Dokumentation und Fiktion verschmelzen (vgl. Finnegan 2008: 136; McCracken 2000: 10). Ganz im Sinne der inhaltlich thematisierten kulturellen Hybridität der Reyes-Familie verschmelzen in Caramelo auch die beiden Sprachen Englisch und Spanisch. Da das Hauptinteresse dieser Studie dem Mehrsprachigkeitslernen mit Caramelo gilt, wird dieser sprachlichen Hybridisierung in den folgenden Ausführungen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. An mehreren Stellen im Roman wird deutlich, dass Englisch die dominante Sprache der dritten Generation ist, d. h. der Kinder, die in den USA geboren und aufge‐ wachsen sind. Spanisch dagegen wird vor allem von der Eltern- und der Großeltern-Gene‐ ration gesprochen, insbesondere die unbeliebte Großmutter fordert ihre Enkel stets zum Sprechen des Spanischen auf. Die Stellung der beiden Sprachen wird in folgender Episode 116 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="117"?> 48 Das Substantiv cielo ist polysem und kann sowohl mit heaven (metaphorisch/ religiöse Bedeutung) als auch mit sky (geografisch/ meteorologische Bedeutung) übersetzt werden. deutlich (Cisneros 2002: 23), in der Lalas ältester Bruder von einem längeren Aufenthalt in Mexiko zurückkehrt und versucht, mit seinen Geschwistern Spanisch zu sprechen. That’s true. It is a year before we see him. And when he comes back to us in a clean white shirt and with hair shorter than we’ve ever remembered it, his Spanish is as curly and correct as Father’s. […] He tries talking to us in Spanish, but we don’t use that language with kids, we only use it with grown-ups. We ignore him and keep watching our television cartoons. Later when he feels like it and can talk about it, he’ll explain what it’s like to be abandoned by your parents and left in a country where you don’t have enough words to speak the things inside you. -Why did you leave me? -It was for your own good, so that you’d speak better Spanish. Your grandmother thought it for the best… Dieser Ausschnitt zeigt deutlich, wie die Sprachenwahl der Charaktere über ihre Positio‐ nierung in der Familie entscheidet: Der Bruder wird nicht mehr als Teil der jüngeren, dritten Generation akzeptiert, weil er das bei Kindern unbeliebte und von der Großmutter ‚überwachte‘ Spanisch spricht. Celaya erlebt ebenfalls Situationen der Sprachlosigkeit, diese sind allerdings eher als Ausdruck ihres natürlichen Sprachlernprozesses zu verstehen und werden von ihr weniger als Ausgrenzung und eher als ein Lernmoment empfunden. Während eines Aufenthaltes im Haus der Großeltern möchte Celaya ihrer Familie mitteilen, dass das Dach eingestürzt ist, und findet die Wörter weder im Englischen noch im Spanischen (ebd.: 60-f., H.-i.-O.): I scramble downstairs to tell everyone, only I don’t have the words for what I want to say. Not in English. Not in Spanish. -The wall has fallen, I keep saying in English. […] - La pared arriba, es que se cayó. Ven, Papá, ven. […] Mother shouts downstairs. -Everybody, quick! The ceiling’s fallen! ¡Se cayó el cielo raso! Father says. And then it is I learn the words for what I want to say. “Ceiling” and “cielo.” Cielo-the word Father uses when he calls me “my heaven.” The same word the Little Grandfather reaches for when he wants to say the same thing. Only he says it in English. -My sky 48 . Das Interessante an diesem Ausschnitt ist der emotionale Wert, der dem unter Kindern eher unbeliebten Spanisch zugeschrieben wird. Lala wechselt ins Spanische und verbindet das neu gelernte spanische Wort mit der liebevollen Anrede ihres Vaters „cielo“. Die Szene zeigt außerdem, dass, obwohl das Spanische einen geringen Stellenwert in Lalas Alltag hat, ihre sprachliche Entwicklung trotzdem durch die sprachstrukturelle Vernetzung der beiden Sprachen gekennzeichnet ist. Wie diese Auszüge bereits verdeutlichen, erfüllen die beiden Sprachen im Roman unterschiedliche Funktionen. Der Wechsel in eine andere Sprache ist dabei nicht zufällig und sorgt nicht nur für ein lokales Kolorit, sondern gibt Aufschluss 1 Der Roman Caramelo und sein Potenzial für das Mehrsprachigkeitslernen 117 <?page no="118"?> 49 ¡Lárgate! You disgust me, me das asco, you cochino! - Verschwinde! Du ekelst mich an, du Schwein! (Übersetzung aus dem Spanischen durch die Forscherin). über die kulturelle und sprachliche Positionierung des Charakters in der Gesellschaft und in der Familie selbst. Die Techniken, die Cisneros nutzt, um den Sprachenwechsel darzustellen, sind vielfältig. Die spanischen Einschübe reichen von Ein-Wort-Einschüben bis hin zu ganzen Sätzen oder Abschnitten, die ohne eine englische Übersetzung in den Text integriert werden. Die spanischen Sätze im oben genannten Beispiel werden kursiv gesetzt (als fremdsprachlich markiert), aber nicht weiter erklärt, sodass die nicht spanischsprachigen LeserInnen den Kontext hinzuziehen müssen, um die Bedeutung zu verstehen. Dieses Vorgehen ist für den gesamten Roman charakteristisch und wird durch die Autorin selbst in einem frühen Interview folgendermaßen begründet: I’m not going to make concessions to the non-Spanish speaker. I will try my best everywhere else if it flows into the piece […]. I’m not going to do that for the person who’s monolingual, but I will try to weave it in in such a way in the rest of the story so they don’t lose it ( Jussawalla & Dasenbrock 1992: 290-f.). Der Alteritätseffekt ist also von der Autorin selbst durchaus gewünscht und bringt die LeserInnen dazu, Strategien zum Umgang mit Nicht-Verstehen zu entwickeln und durch Erschließungsstrategien den fremdsprachlichen Anteil zu dekodieren. Die einzelnen code-switching-Techniken und Funktionen im Roman können nicht im Einzelnen dargestellt werden. Daher finden sich im Folgenden zwei Beispiele, die für die im Unterricht gelesenen Romanauszüge relevant sind (vgl. auch García Viczaíno 2008). Der Wechsel ins Spanische erfolgt zumeist dann, wenn die Affektivität einer Äußerung unterstrichen werden soll. Dies geschieht meistens in Form von Imperativen oder pejorativen Bezeichnungen, wie in diesem Streit zwischen Lalas Tante und Onkel: „I don’t ever want to see you again. ¡Lárgate! You disgust me, me das asco, you cochino! You’re not fit to be the father of my children.“ 49 (Cisneros 2002: 11, H.-i.-O.). Es darf nicht vergessen werden, dass die mehrsprachige Gestaltung des Romans nicht nur dazu dient, die Chicano/ a-Existenz möglichst realitätsnah abzubilden, sondern in erster Linie eine literarisch-ästhetische Funktion hat. In der bereits erwähnten Szene der Grenzüberschreitung zwischen Mexiko und den USA wird beispielsweise in onomatopoe‐ tischer Form ins Spanische gewechselt, um die Emotionalität und die Körperlichkeit der mehrsprachigen und mehrkulturellen Erfahrung sprachlich zu inszenieren: As soon as we cross the bridge everything switches to another language. Toc, says the light switch in this country, at home it says click. Honk, say the cars at home, here they say tántántán. The scrip-scrape-scrip of high heels across saltillo floor tiles. The angry lion growl of the corrugated curtains when the shopkeepers roll them open each morning and the lazy lion roar at night when they pull them shut. The pic, pic, pic of somebody's faraway hammer. Church bells over and over, all day, even when it's not o'clock. Roosters. The hollow echo of a dog barking. Bells from skinny horses pulling tourists in a carriage, clip-clop on cobblestones and big chunks of horse caquita tumbling out of them like shredded wheat (ebd.: 17-f., H.-i.-O.). 118 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="119"?> 50 Einen detaillierten Einblick in die Angaben der SchülerInnen auf dem Fragebogen A liefert die Tabelle im Anhang. Durch den Gebrauch des Spanischen lässt Cisneros nicht nur das mexikanische Dorf vor unseren Augen lebendig entstehen, sondern lässt uns die Atmosphäre mit Lalas Sinnen erleben. Als LeserInnen bekommen wir also mit, wie Lala Mexiko wahrnimmt, welche Gerüche, Geräusche und Bilder für sie diese Welt ausmachen und wie sich Mexiko von ihrem Zuhause unterscheidet. Die skizzierten Beispiele zeigen bereits, warum die Auseinandersetzung mit Caramelo für das Mehrsprachigkeitslernen geeignet erscheint. Das Lesen dieses Romans erfordert höchste Konzentration, bewusste Aufmerksamkeit für spanischsprachige Einschübe und den Einsatz von Lese- und Erschließungsstrategien, um die spanischen Lexeme dekodieren zu können. Des Weiteren können SchülerInnen im Umgang mit diesem Roman lernen, wie sprachliche Form Bedeutung stiftet, d. h. wie das Sprachverhalten oder die Sprachenwahl des Charakters ihn oder sie in der Familie oder in der Gesellschaft positioniert. Der ästhetische Gebrauch von Mehrsprachigkeit kann neben einem analytischen Zugang auch als Ausgangspunkt genutzt werden, um Lernende darüber nachdenken zu lassen, wie sie ihre Mehrsprachigkeit erleben, mit welchen Emotionen sie ihre Sprachen verbinden, aber auch, wie sie ihre Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität mit ihren Sinnen und ihrem Körper wahrnehmen. Die ästhetischen Strategien von Cisneros könnten den Lernenden dabei helfen, diese Erfahrungen nicht nur zu evozieren, sondern auch kreativ zum Ausdruck zu bringen. 2 Vorstellung der Unterrichtseinheit und der Lerngruppe 2.1 Lerngruppe und Institution Die Unterrichtseinheit zu Sandra Cisneros’ Caramelo wurde im Rahmen der Hauptstudie von Februar bis März 2016 in einem Englisch-Leistungskurs einer Berliner Integrierten Sekundarschule durchgeführt und umfasste 16 Einzelstunden. Die Lerngruppe bestand aus 17 SchülerInnen, davon zehn weibliche und sieben männliche SchülerInnen. Alle SchülerInnen lernten Englisch als erste Fremdsprache. Davon gaben sechs auf dem Fra‐ gebogen A an, Spanisch, sieben Französisch, vier Latein und drei Chinesisch als zweite Fremdsprache zu lernen. Bei der Frage, ob sie zu Hause eine andere Sprache als das Deutsche nutzen, notierten sechs SchülerInnen, dass sie eine andere Sprache sprechen, darunter Vietnamesisch (1), Türkisch (2), Polnisch (2), Russisch (1) und Kroatisch (1) 50 . Die Lehrerin (Fächer: Englisch, Französisch, Chinesisch) unterrichtete den Leistungskurs seit einem halben Jahr. Der erste Kontakt zur Lehrkraft erfolgte via E-Mail. Nachdem die Lehrerin Interesse an der Studie bekundete, nahm sie den Vorschlag der Forscherin an, die Unterrichtseinheit ausgehend vom mehrsprachigen Roman Caramelo durchzuführen. Der Aufbau der Einheit wurde von der Forscherin vorgeschlagen und orientierte sich an den vier Bereichen des Mehrsprachigkeitslernens, die im Folgenden (Abschnitt 2.3, siehe unten) vorgestellt werden. Die didaktisch-methodische Feinplanung übernahm die Lehrerin, 2 Vorstellung der Unterrichtseinheit und der Lerngruppe 119 <?page no="120"?> 51 Dieses Vorgehen gilt auch für die anderen beiden Unterrichtseinheiten. 52 Die Aktivitäten in dieser Unterrichtsphase wurden nicht kodiert, weil sie eher der Kontextualisierung der Texte dienten und weniger der Förderung spezifischer Ziele des Mehrsprachigkeitslernens. 53 In dieser Lerngruppe wurde ein Artikel zur Migrationsgeschichte der Journalistin Liz Balmaseda „¡Viva América! “ (vgl. Becker-Ross et al. 2015: 96 f.) gelesen sowie der Lehrbuchtext „Going Ethnic“ (vgl. Klein & Kugler-Euerle 2013: 40-f.) zur Einführung in die Chicano/ a-Literatur. 54 „LA Walkouts”: http: / / www.pbs.org/ latino-americans/ en/ education/ activities/ (15.04.2023). Das Video zeigt emotionale Berichte von Studierenden und SchülerInnen, die zusammen mit ihren DozentInnen und Lehrkräften den Unterricht verließen, um für eine gerechte Bildung zu demons‐ trieren. wobei die Planung in regelmäßigen Abständen reflektiert und je nach Lernfortschritt der SchülerInnen modifiziert wurde (vgl. auch Kapitel VI, 3.1). 51 2.2 Vorstellung der Unterrichtseinheit Anhand der Unterrichtseinheit zum mehrsprachigen Roman Caramelo soll exemplarisch dargestellt werden, wie die Einheiten zu den Chicano/ a-Texten aufgebaut waren und auf welchen unterschiedlichen Ebenen sich die Lernenden mit der Mehrsprachigkeit der literarischen Texte und mit ihrer eigenen Mehrsprachigkeit auseinandergesetzt haben. Alle Unterrichtseinheiten der im Folgenden vorgestellten drei Fallstudien waren in vier größere Phasen eingeteilt, die den verschiedenen Abschnitten des Kodierungssystems (vgl. auch Kapitel V, 3) entsprechen und hier ausführlich vorgestellt werden sollen. 1. Die Annäherung an das code-switching und an den fremdkulturellen Kon‐ text 52 : Die Einführung in die Arbeit mit dem mehrsprachigen Text erfolgte durch die Werbeplakate, die in einer Mischung aus dem Englischen und Spanischen für ihre Produkte werben, um dieses besondere sprachliche Phänomen im Kontext der südwestlichen USA zu verorten. Anschließend erhielten die SchülerInnen die Hausaufgabe, eigene Beispiele von Sprüchen, Werbetexten etc. zu finden, die Sprachenwechsel enthalten, um Aufmerk‐ samkeit für sprachliche Hybridisierungsprozesse in der eigenen Lebenswelt zu wecken. Die Lehrerin dieses Leistungskurses hat großen Wert darauf gelegt, dass das Thema Hispanics in the USA anhand von Sachtexten aus gängigen Oberstufenlehrwerken 53 vor dem Lesen des Romans aufgearbeitet wird, damit die Lernenden eine Vorstellung von der Bedeutung der Hispanics für den USA-Kontext entwickeln und den Entstehungskontext der Chicano/ a-Literatur kennenlernen können (siehe Kapitel IV). Die Einordnung war im Sinne des wide-reading (vgl. Hallet 2010: 5) notwendig, denn der Roman Caramelo umfasst verschiedene Epochen der Chicano/ a-Geschichte, in denen sich die Rolle der Chicanos/ as und damit auch die Rolle des Spanischen in der US-Gesellschaft stark verändert haben. Die Lernenden sahen sich anschließend den Dokumentarfilm „LA Walkouts“ der TV-Senderkette PBS 54 an, um sich ein Bild von der Ungleichbehandlung der Chicanos/ as in den 1960er Jahren und von ihren Forderungen nach Gleichberechtigung zu machen. Da einige der hier eingesetzten literarischen Texte die Diskriminierung von Chicano/ a-Jugendlichen im schulischen Kontext thematisieren, sollte das Video den Lernenden helfen, solche Szenen in den Kontext der Chicano/ a-Bürgerrechtsbewegung einzuordnen. 2. Dekodierung des mehrsprachigen Textes: Anschließend wurden die Lernenden mit Hilfe von sprachvernetzenden, an die Interkomprehensionsdidaktik angelehnten 120 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="121"?> Aufgaben an den Leseprozess herangeführt und sollten ihre Entschlüsselungsstrategien verbalisieren, strukturieren und sie beim selbstständigen Lesen anwenden. Um die Anwen‐ dung dieser Strategien und den reflektierten Umgang mit Nicht-Verstehen kontinuierlich zu fördern, wurde eine lesebegleitende Lernaufgabe (im Sinne einer prozessorientierten while-reading-Aktivität) konzipiert, die das Verfassen eines Vorworts für eine (fiktive) vom Cornelsen-Verlag herausgegebene Neuauflage des Romans beinhaltete. Das aus der Sicht des jeweiligen Lernenden verfasste Vorwort richtete sich an eine nicht Spanisch sprechende Leserschaft und sollte ihnen durch die Nennung entsprechender Strategien oder Hinweise auf bestimmte Hilfsmittel helfen, das Spanische im Text leichter zu verstehen und seine Funktion innerhalb des Romans zu erfassen. Im zweiten Teil der Aufgabe sollten die SchülerInnen den Sprachenwechsel in Caramelo als ‚Roman-ExpertInnen‘ kommentieren und die verschiedenen Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit im Roman verständlich für andere LeserInnen erklären. 3. Wahrnehmung und Interpretation der Mehrsprachigkeit: In dieser Phase setzten sich die Lernenden mit der Mehrsprachigkeit der Romanfiguren auseinander und untersuchten, wie sich die Mehrkulturalität der Figuren in ihrem Sprachverhalten manifestiert. Insbesondere bei Caramelo wurde die Mehrsprachigkeit auch als ein literari‐ sches Gestaltungsmittel in seiner ästhetischen und politischen Funktion untersucht. Es wurden lediglich Ausschnitte aus dem umfangreichen Roman gelesen, die Einblick in Lalas Erwachsenwerden zwischen den Kulturen gewähren. Die Ausschnitte, die die Migrations‐ geschichte ihrer Eltern und ihrer Großmutter thematisieren, wurden ausgespart, sodass der Fokus auf den Kapiteln 1-6 (ebd.: 3-24) und dem Kapitel 13 (ebd.: 50-62) lag. Die letzten Stunden rückten Lalas Mehrsprachigkeit in den Vordergrund, wobei vor dem Hintergrund des mehrsprachigen Gedichts „She“ (Elizondo 1977) der Vergleich zwischen der Darstellung der weiblichen Protagonistin und der Darstellung von Lalas Mehrsprachigkeit im Roman gezogen werden sollte. Der Einsatz des Gedichtes erfolgte aus zweierlei Gründen: Zunächst diente es den Lernenden als Folie zur Reflexion und Analyse von Lalas Zugehörigkeit zu den beiden Sprachen und Kulturen, die sich deutlich von der Darstellung im Gedicht unterscheidet. Andererseits sollte dieses Gedicht die SchülerInnen ermutigen, über ihre eigene Mehrsprachigkeit nachzudenken, und ihnen gleichzeitig eine ästhetisch einfach gestaltete generische Vorlage liefern, um ihre Mehrsprachigkeit selbst kreativ-produktiv darzustellen. 4. Mehrsprachiges Schreiben: Im Rahmen einer Hausaufgabe sollten die Schüler- Innen nach der Vorlage des Gedichtes „She“ zum Abschluss der Unterrichtseinheit ein Gedicht in ihren eigenen Sprachen verfassen und in lyrischer Form ausdrücken, welche Bedeutung die dort dargestellten Sprachen und Kulturen für sie haben. Die Gedichte wurden in der darauffolgenden Stunde vorgetragen und im Plenum diskutiert. Die Lehrerin beschloss, dass die SchülerInnen ihre Sprachen frei wählen durften, sodass Englisch nicht unbedingt vorkommen musste. Diese mehrsprachigen Gedichte nehmen eine zentrale Stelle bei der Auswertung der Fallstudie ein, weil die Lernenden in ihnen der Mehrsprachigkeit auf unterschiedliche Art und Weise begegneten - als literarisches Mittel zur ästhetischen Gestaltung ihres Textes, als Thema oder Gegenstand ihrer poetischen Darstellung, als Teil ihrer eigenen Persönlichkeit und als Erfahrung und Erlebnis ihrer lebensweltlich mehrsprachigen MitschülerInnen. 2 Vorstellung der Unterrichtseinheit und der Lerngruppe 121 <?page no="122"?> 3 Schwerpunkte der Analyse und Fragestellungen Der Gegenstand der vorliegenden Fallanalyse sind Unterrichtssituationen, die Aufschluss darüber geben, wie Lernende an und mit dem mehrsprachigen Chicano/ a-Roman arbei‐ teten, d. h. wie sie ihm inhaltlich und sprachlich begegneten, wie sie seine Mehrsprachigkeit erfassten sowie welches Wissen, Erfahrungen und Emotionen sie dabei aktivierten. Zu‐ nächst steht im Mittelpunkt der Analyse die Frage, wie Lernende die Mehrsprachigkeit als Thema und als Gestaltungsmittel des Romans analysieren, wobei besonderes Augenmerk darauf gelegt werden soll, wie sie die identitären, die sozialen und die literarischen Funk‐ tionen von Sprachen und Mehrsprachigkeit im Roman durchdringen (vgl. Hennig-Klein 2018: 146). Die mehrsprachige Gestaltung des Romans rückt daher zum einen in ihrer ästhe‐ tischen Wirkung und zum anderen in ihrer identitätsstiftenden Funktion, als Instrument zur gesellschaftlichen und politischen Positionierung, in den Vordergrund der unterrichtlichen Betrachtung. Diese Schwerpunktsetzung bei der Analyse der Unterrichtseinheit hat mit dem Roman selbst zu tun, denn Caramelo zeichnet sich durch einen besonders elaborierten litera‐ risch-ästhetischen Umgang mit Mehrsprachigkeit aus und bietet daher zahlreiche Gele‐ genheiten zum Nachdenken über Funktionen und Wirkungen von Sprache(n). Dieser Chicano/ a-Roman ist im Vergleich zu den anderen mehrsprachigen Texten durch ein intensives code-switching und dadurch auch durch einen relativ hohen Anteil an spanisch‐ sprachigen Passagen gekennzeichnet, wodurch die Frage aufgeworfen wird, wie Lernende den mehrsprachigen Leseprozess bewältigen und wie sie bei der Entschlüsselung des Spanischen vorgehen. Die Herausforderung scheint umso größer, wenn man bedenkt, dass in dieser Lerngruppe - im Unterschied zu den Kursen der zweiten und der dritten Fallstudie - die Mehrzahl der Lernenden über keine Spanischkenntnisse verfügt. Die Frage, wie die Lernenden und die Lehrenden auf den mehrsprachigen Text reagieren, inwieweit sie sich auf den Leseprozess einlassen und wie sie beim Verstehen vorgehen, ist daher im Kontext dieser Fallstudie von besonderer Relevanz. Aus der rezeptionsästhetischen Literaturdidaktik wissen wir, dass sich Lernende bei der Analyse der ‚Textwelt‘ auch immer fragen, welche Verbindungen diese Welt mit ihrer eigenen Wirklichkeit aufweist, sodass sie auch in Phasen der kognitiv-analytischen Textrezeption über sich selbst (vgl. Bredella 2007a: 60) und ihre eigene Mehrsprachigkeit nachdenken. Daher soll im Folgenden auch untersucht werden, wann und wie sich Lernende bei der Arbeit mit dem Roman als mehrsprachige und mehrkulturelle Individuen einbringen und wie sie - ausgehend von der literarischen Vorlage - selbst mehrsprachige Texte verfassen. In ihrem Aufsatz zur Chicano/ a-Lyrik stellt Elsner die Hypothese auf, mehrsprachige Chicano/ a-Literatur fordere den „kritisch-kreativen Leser“ (Elsner 2012: 412) in ganz neuer Form heraus. Die Lektüre motiviere die Leserinnen und Leser dazu, sowohl die textimmanente Struktur der Texte zu untersuchen als auch ihren sprachlich-kulturell geprägten Kontext zu betrachten, sodass ein Informationsfluss zwischen RezipientIn, Text und AutorIn entstehe (ebd.). Die folgende Analyse berücksichtigt die von Elsner angesprochene Mehrdimensionalität des Rezeptionsprozesses und betrachtet den Umgang der Lernenden mit der Mehrsprachigkeit des Romans auf drei unterschiedlichen Ebenen: 122 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="123"?> ● Erste Begegnung mit Mehrsprachigkeit und sprachliches Verständnis: Wie gestaltet sich die erste Begegnung der Lernenden und Lehrenden mit dem mehrspra‐ chigen Roman? Ist der mehrsprachige Text für die Lernenden verständlich? Wie entschlüsseln die SchülerInnen die spanischen Anteile des Textes? Was hilft ihnen dabei? Wo stehen sie vor besonderen Herausforderungen? ● Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität der Figuren: Wie beschreiben und inter‐ pretieren die SchülerInnen das mehrsprachige Sprachverhalten der Charaktere? Wie erklären sie ihren Sprachenwechsel in bestimmten Situationen? Wie beschreiben sie ihre Einstellungen zu Sprachen? ● Mehrsprachigkeit als literarisches Gestaltungsmittel verstehen: Welches Funk‐ tions- und Wirkungspotenzial schreiben Lernende der mehrsprachigen Gestaltung des Romans zu? ● Mehrsprachige Texte gestalten: Wie nutzen Lernende Mehrsprachigkeit in ihren eigenen Texten und welche Erfahrungen mit Sprachen und Kulturen thematisieren sie dabei? Die oben beschriebenen Rezeptionsprozesse werden im Folgenden anhand exemplarisch ausgewählter Datensätze nacheinander sichtbar gemacht und inhaltsanalytisch sowie diskursanalytisch ausgewertet (vgl. Kapitel VI, 4). Im Sinne der Triangulation werden die Unterrichtstranskripte mit anderen Datentypen aus der Lerngruppe (Angaben auf dem Fragebogen, Interviewdaten, Schülerprodukte) kombiniert, um eine ergänzende oder kontrastive Darstellung von Verstehensprozessen der Lernenden zu ermöglichen. Die Fallstudie ist so strukturiert, dass sie einzelne Arbeitsphasen nachzeichnet - von der inhaltlichen und sprachlichen Rezeption des Textes bis hin zur mehrsprachigen Textpro‐ duktion der SchülerInnen. Sie soll - im Unterschied zu den anderen beiden Fallstudien, die sich auf einzelne Schwerpunkte in der Analyse fokussieren - einen umfangreichen und differenzierten Einblick in die Lese- und Analysearbeit der Lernenden gewähren und den Prozess von der Rezeption des mehrsprachigen Romans bis hin zur Reflexion der eigenen Mehrsprachigkeit der SchülerInnen detailliert aufzeigen. 4 Das mehrsprachige Lesen als Herausforderung Bereits zu Beginn der Unterrichtseinheit rückte für die Lehrkraft die Bewältigung des mehrsprachigen Leseprozesses ins Zentrum unterrichtsmethodischer Überlegungen. Im ersten Interview vor der Durchführung der Einheit thematisiert sie den Leseprozess als eine mögliche Herausforderung bei der Auseinandersetzung mit Caramelo: I: Was haben Sie beim ersten Lesen des Romans im Sommer gedacht, welche Herausforderungen könnten sich sowohl für Sie beim Unterrichten dieses Romans als auch für die Schüler ergeben? L 1: Na ja es ist ein sehr umfangreicher Roman, dass die Schüler das nicht alles lesen, aber das ist eine Herausforderung, die durch das Lesen insgesamt jetzt kommt. Dass es immer einen Teil der Schüler gibt, die wenn überhaupt, sich durch das Internet informieren und dann dass sie nur die Zusammenfassung aus dem Internet kennen. Das wäre das Erste. Das Zweite ist eben, dass die Schüler sagen, das mit dem Spanischen, das stört mich. […] Wenn Schüler sich quasi verweigern 4 Das mehrsprachige Lesen als Herausforderung 123 <?page no="124"?> 55 ¡Lárgate! You disgust me, me das asco, you cochino! - Verschwinde! Du ekelst mich an, du Schwein! (Übersetzung aus dem Spanischen durch die Forscherin). gegenüber diesen spanischen Einsprengseln oder sich benachteiligt fühlen. Weil sie das nicht verstehen, weil sie das nicht in der Schule hatten. (Interview vor der Einheit) Als möglicherweise herausfordernd für die SchülerInnen betrachtet die Lehrkraft den Umfang des Textes, aber auch die Präsenz der Sprache Spanisch im Roman. Im zweiten Teil ihrer Aussage thematisiert sie die ungleichen Voraussetzungen der SchülerInnen bei der Rezeption des Textes, da einige über Spanischkenntnisse verfügen und andere nicht. Es war daher äußerst wichtig, dieser Angst vor der Benachteiligung der nicht spanischsprechenden SchülerInnen bei der Unterrichtsgestaltung Rechnung zu tragen. Die didaktisch-methodischen Überlegungen zur Strukturierung des Lernprozesses waren in allen drei in der Studie präsentierten Unterrichtseinheiten von der Frage geprägt, wie die Selbstwirksamkeit und die Motivation aller SchülerInnen bei der Dekodierung der Texte gestärkt werden können. Damit ihre ersten Entschlüsselungsversuche zum Erfolg führen und sie eine Frustrationstoleranz im Umgang mit Nicht-Verstehen aufbauen können, wurden die Lernenden kleinschrittig an die mehrsprachige Lektüre herangeführt und es wurden Gelegenheiten geschaffen, ihre Dekodierungserfolge mit anderen zu teilen und als solche zu reflektieren. 4.1 Kooperatives Erschließen eines Romanauszugs Die Heranführung der Lernenden an die Mehrsprachigkeit des Romans erfolgte zunächst durch eine kurze Aufgabe zum Kapitel 3 Qué elegante und orientierte sich an den Methoden der Interkomprehensionsdidaktik. Nach einer inhaltlichen Einführung in den Roman (Vor‐ stellung der Charaktere, zeitliche und räumliche Einordnung der Handlung) wurden die SchülerInnen gebeten, eine Szene aus dem Kapitel zu lesen und die spanischen Einschübe ohne fremde Hilfe zu entschlüsseln. Bei der Szene handelt es sich um einen Streit, bei welchem Lalas Tante ihren Ehemann beschuldigt, sie betrogen zu haben (Cisneros 2002: 11, H.-i.-O.): Once Aunty almost tried to kill herself because of Uncle Fat-Face. — My own husband! What a barbarity! A prostitute's disease from my own husband. Imagine! Ay, get him out of here! I don't ever want to see you again. ¡Lárgate! You disgust me, me das asco, you cochino! 55 […] Too terrible to watch. Elvis, Aristotle, and Byron had to run for the neighbors, but by the time the neighbors arrived it was too late. Uncle Fat-Face sobbing, collapsed in a heap on the floor like a broken lawn chair, Aunty Licha cradling him like the Virgin Mary cradling Jesus after he was brought down from the cross, hugging that hiccuping head to her chest, murmuring in his ear over and over, — Ya, ya. Ya pasó. It's all over. There, there, there. When Aunty's not angry she calls Uncle payaso, clown. —Don't be a payaso, she scolds gently, laughing at Uncle's silly stories, combing the few strands of hair left on his head with her fingers. But this only encourages Uncle to be even more of a payaso. 124 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="125"?> —So I said to the boss, I quit. This job is like el calzón de una puta. A prostitute's underwear. You heard me! All day long it's nothing but up and down, up and down, up and down… Aufgrund der Emotionalität der Szene enthält der Ausschnitt viele spanischsprachige Ausrufe, Imperative und pejorative Bezeichnungen. Einige davon übersetzt Cisneros gleich ins Englische, andere werden paraphrasiert oder sind aus dem Kontext leicht verständlich. Die Aufgabe der SchülerInnen bestand darin, die Bedeutung der spanischen Wörter herauszuarbeiten, ihre Übersetzung in einer Tabelle zu notieren und zu vermerken, wie sie beim Entschlüsseln vorgegangen sind. Das Wörterbuch sollte als letzte mögliche Ressource genutzt werden. Die Aufgabe wurde in Gruppen bearbeitet, die zunächst nach Sprachkenntnissen getrennt waren, dann aber neu zusammengesetzt wurden, sodass nicht Spanisch sprechende SchülerInnen Unterstützung von ihren MitschülerInnen erhalten konnten. Die Gruppenarbeit dauerte ungefähr 20 Minuten, anschließend wurde über den Entschlüsselungsprozess im Plenum diskutiert. Der Gruppenprozess hatte zum einen den Vorteil, dass sich die SchülerInnen gegenseitig unterstützen konnten, und zum Zweiten forderte eine solche Sozialform die Lernenden dazu auf, eigene Überlegungen beim Dekodierungsprozess zu verbalisieren sowie anderen mitzuteilen, und machte sie somit auch nach außen sichtbar. Das interkomprehensive Lesen ist, wie Meißner (2013b: 33) hervorhebt, nicht so sehr auf das inhaltliche Leseverständnis des Textes ausgerichtet, sondern eher auf die Dekodierung der sprachlichen Ebene: Lernende aktivieren ihr sprachliches und nicht-sprachliches Wissen, um lexikalische oder grammatische Strukturen in einer fremden Sprache zu entschlüsseln. Die in dieser Unterrichtseinheit eingesetzte Aufgabe ist im Gegensatz zu interkomprehensiven Verfahren nicht spracherwerbsorientiert, d. h. Lernende werden nicht dazu angehalten, Hypothesen zu den Regelmäßigkeiten des Spanischen aufzustellen, sondern sollen lernen, wie sie durch die Aktivierung individuell verfügbarer kognitiver und affektiver Ressourcen den Herausforderungen des mehrsprachigen Leseprozesses begegnen können. Lernende sollten hierbei ihre ganze Aufmerksamkeit auf die sprachliche Oberfläche des Textes richten und sich ihrer sprachlichen Ressourcen (z. B. ihres lexikali‐ schen und grammatischen Wissens aus Fremdsprachen bzw. Herkunftssprachen) sowie ihrer nicht-sprachlichen Ressourcen (z. B. ihres Weltwissens, kulturellen Wissens, Diskurs‐ wissens) bedienen, um spanische Strukturen auf Wort- und Satzebene zu entschlüsseln. In‐ teressant ist hierbei nicht nur, wie Lernende bei der Entschlüsselung vorgehen und welche Ressourcen sie nutzen, sondern auch, wie sie dem Nicht-Verstehen affektiv begegnen und darunter insbesondere, welchen Grad an Frustrationstoleranz sie mitbringen. Die Aufgabe strebt schließlich auch die Bewusstmachung spontan verwendeter Textverstehens- und Texterschließungsstrategien an, indem sie Lernende auffordert, ihren Entschlüsselungs‐ prozess in Gruppen zu reflektieren und Strategien für das weitere Lesen zu abstrahieren. Das folgende Transkript ist ein Auszug aus der Entschlüsselungsarbeit einer Gruppe von Lernenden ohne Spanischkenntnisse, die sich gemeinsam den spanischen Einschüben aus dem zuvor zitierten Ausschnitt nähern. Alle vier SchülerInnen lernen oder haben Französisch als zweite Fremdsprache gelernt, allerdings verfügen Anton und Andrej vermutlich nur über sehr geringe Französischkenntnisse, da sie die Sprache nach eigenen Angaben auf dem Fragebogen A erst ab Klasse 11, d. h. seit einem halben Jahr, lernen. Anton verfügt außerdem über Kenntnisse des Russischen und Polnischen, Andrej spricht 4 Das mehrsprachige Lesen als Herausforderung 125 <?page no="126"?> 56 Bei den Namen der SchülerInnen handelt es sich in allen drei Fallstudien um Pseudonyme. 57 Die Codes können im Kodierungskatalog im Anhang eingesehen werden. zu Hause Kroatisch. Die Analyse zielt zunächst darauf ab, die Herausforderungen der Lernenden beim Entschlüsseln herauszuarbeiten, um anschließend darzustellen, welche sprachlichen und nicht-sprachlichen Wissensbestände und Strategien ihnen helfen, diese Herausforderungen zu bewältigen. Da sich die vorliegende Entschlüsselungsarbeit schwer in einzelne Phasen einteilen lässt und der Interaktionsprozess bei dieser ersten Analyse in seiner Gesamtheit betrachtet werden soll, wird anbei ein längerer Abschnitt aus der Gruppenarbeit der vier SchülerInnen präsentiert: 1 Mara 56 Cochino … what does ‘cochino’ mean? Ich finde das klingt so ein bisschen wie eine Beleidigung. 1d? 57 2 Mirko Ja schon und das würde auch in den Zusammenhang passen. 1d 3 Mara Ja deswegen, aber was denn für eine Beleidigung? Idiot? 4 Anton ‚Payaso‘ kann doch nicht ‚clown‘ sein. 5 Andrej Warum denn nicht? 6 Anton Weil sie kann ja nicht sagen… Ich sag ja auch nicht auf einer Sprache das Wort und dann hole ich das in einer anderen Sprache nach. versteht nicht die Überset‐ zungsstrategie des Textes 7 Mirko Das hat sie ja nicht gesagt. Das ist ein Anhang mit dem Komma dahinter, das ist für den Leser. […] 1e 8 Mara „Ay“? 9 Mirko Ja das ist nicht so… Das ist so ein Ausruf. 1d? 10 Andrej Auf Kroatisch ist es so „los, aj“… 1c 11 Anton Ajdi, ajdi. 12 Andrej ‚Calzón de una puta‘, das weiß ich. (lacht) 1a 13 Anton lacht 14 Andrej Das heißt doch ‚puta de la madre‘. 1a 15 Mara Oh das habe ich gar nicht gesehen. 16 Mirko ‚Lárgate‘ und ‚cochino‘ sind beides Ausdrücke, aber ich weiß es nicht. 1d 17 Andrej ‚Puta‘ ist auch. 1a 18 Mirko Das steht unten: ‚prostitute's underwear‘, ‚el calzón de una puta‘. 1e 19 Mara Was heißt jetzt ‚loca‘? 20 Andrej He raten wir jetzt eigentlich nur? 126 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="127"?> 21 Mara Ne, ne. Das wissen wir wirklich. 22 Mara Aber ‚ya, ya‘… - 23 Mirko Sagen ja die Mütter, wenn die kleinen Kinder weinen: there, there. Und dann würde ich einfach sagen: Ya, ya, it’s over. 1a Hypothese auf‐ gestellt 24 Anton Was? - 25 Mirko Na dieses hier ‚ya, ya, ya pasó‘ und das ist glaube ich dieses hier ‚there, there‘. 1d, 1e 26 Mara Aber dann kann es nicht ‚It’s over‘ heißen. Es müsste: ‚There, there, it’s over‘ heißen. - 27 Mirko He aber was ist denn ‚pasó‘ dann? - 28 Andrej ‚Pasó‘ ist doch so ‚past‘, ich weiß nicht… 1b 29 Mirko Ja, past over. 1b 30 Andrej Ja, vorbei halt. - 31 Mirko Ja, deswegen dachte ich es auch ein bisschen. […] Hypothese von Mirko bestätigt 32 Andrej Hey ich weiß, warum ‚calzón‘ Unterwäsche heißt. Calzedonia, kennt ihr nicht diesen Laden? 1a 33 Anton ‚Calzón‘ heißt auch Unterwäsche auf Polnisch. 1c 34 Mirko Heißt nicht ‚Lárgate‘ irgendwas auf Polnisch oder Kroatisch, was ihr kennt? 3a Herkunftsspra‐ chen der an‐ deren SuS einbe‐ ziehen 35 Anton Ich kann Polnisch und Russisch. - 36 Andrej Wo steht denn das? - 37 Anton Wo steht ‚Lárgate‘? - 38 Mara Ihr seid so richtige Pfeifen, oder? - 39 Andrej Wir markieren es doch einfach kurz. - 40 Mara Ja… (lacht) kann doch nicht so schwer sein. - 41 Andrej Verzieh dich so, zieh Leine. 1d 42 Mirko Ja, Abflug. 1d 43 Andrej Eigentlich müsste es das sein. - 44 Mirko Ja und dann ‚cochino‘. - 45 Andrej Verpfeif dich. Fahr zur Hölle mit dir. 1d 46 Anton Wie sagt ihr das? - 47 Mara Fahr zur Hölle mit dir, verpiss dich. 1d 4 Das mehrsprachige Lesen als Herausforderung 127 <?page no="128"?> 58 Im Folgenden mit „Ab.“ abgekürzt. 48 Anton Muss ja sein. ,I don’t want to see you again’. Muss das heißen. Wenn ich zu dir sage, ich will dich nie wiedersehen, sage ich doch nicht willkommen. Weißt du, was ich meine? 1d Tab. 1: Mehrsprachiges Entschlüsseln eines Kapitels aus Caramelo 4.2 Vorgehen beim Entschlüsseln und erste Herausforderungen Zunächst fällt auf, dass die Lernenden beim Entschlüsseln eher unsystematisch vorgehen, d. h. ihre spontanen Assoziationen zu den spanischen Begriffen noch nicht koordinieren können und häufig einzelwortgeleitet vorgehen. Dies ist, wie Bär (2009: 439) berichtet, ein übliches Vorgehen bei den SchülerInnen, die wenig Erfahrung in der Interkomprehen‐ sionsarbeit haben. Sie konzentrieren sich zu Beginn auf die sprachliche Oberfläche, wie dies im Abschnitt 58 4 anhand des Nomens „payaso-clown“ deutlich wird. Anton betrachtet das Wort isoliert und ist über die nachgeschobene Übersetzung verwundert, weil er die texteigenen Übersetzungsstrategien des literarischen Textes nicht berücksichtigt. Hier wird deutlich, dass das bottom-up-Vorgehen - sprachliche Dekodierung von der Oberfläche aus - nicht ausreicht, um die spanischen Einschübe einzuordnen. Dies passiert erst, als Mirko mit Blick auf die Textsorte und die Spezifik des mehrsprachigen Schreibens darauf hinweist, dass es sich bei „clown“ um eine nachgeschobene Übersetzung von payaso als Verständnishilfe für die LeserInnen handelt (Ab. 7). Hieran wird deutlich, wie wichtig es ist, bottom-up- und top-down-Strategien gleichzeitig zu nutzen und von unterschiedlichen Vorgehensweisen der MitschülerInnen zu profitieren. Dafür bedarf es allerdings einer koordinierten Interaktion und der Abstimmung einzelner Arbeitsschritte, also metakognitiver und sozial-affektiver Strategien. Der Blick auf die Kodierungen zeigt, dass die SchülerInnen in Bezug auf den sozialen Aspekt der Entschlüsselungsarbeit die Herausforderung erfahren, dass Anton und Andrej etwas langsamer (wenn auch nicht unproduktiv) arbeiten und daher häufig Nachfragen (Ab. 20, 24, 36, 37) stellen. Maras ketzerische Frage (Ab. 38) reguliert hier den sozialen Aspekt der Interaktion und ist eine Aufforderung an die beiden Schüler, konzentrierter zu arbeiten. Gerade also zu Beginn einer ko-konstruktiven Erschließungsarbeit müssen die Lernenden eine Reihe von nicht-sprachlichen Herausforderungen bewältigen, z. B. die Beteiligung an der Interaktion regeln oder Vorgehensweisen abstimmen. Das gemeinsame Erschließen in der Gruppe erfordert deshalb neben sprachlichen Strategien auch die Mobilisierung sozio-affektiver und metakognitiver Strategien. 4.3 Hilfreiche Ressourcen beim Entschlüsseln des Spanischen Die Lernenden greifen an einer einzigen Stelle auf die Kenntnisse ihrer Fremdsprachen zurück, in diesem Falle auf ihr Englischwissen (Ab. 27-30, 1b). Die Imperfekt-Form „pasó“ (Infinitiv: pasar) wird mit dem englischen „past“ (als Assoziation mit der Vergangenheits‐ form) in Verbindung gebracht und daraus geschlossen, dass „Ya pasó“ „Es ist vorbei“ (it’s 128 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="129"?> over) bedeutet. Der Transfer zum Französischen, der Sprache, die alle vier SchülerInnen gelernt haben oder lernen, wird nicht unternommen, obwohl sich das französische cochon als Transferbasis zur Entschlüsselung des spanischen cochino (Schwein) angeboten hätte (Ab. 1). Als hilfreich erweist sich der Rückgriff auf die Herkunftssprachen (1c): Andrej greift auf seine Erstsprache Kroatisch zurück (Ab. 10), um die Interjektion „Ay“ zu dekodieren. Das gelingt ihm teilweise, denn die kroatische Imperativform „aj/ ajde“ („los, komm schon“) ist im Gegensatz zur spanischen Interjektion „ay“ („ach“) als eine Aufforderung zum Handeln zu verstehen. Anton erklärt die Bedeutung des Nomens calzón, indem er sich auf das polnische Wort kalesony (lange Unterwäsche) als Transferbasis (Ab. 33) stützt. Dabei erfahren die beiden Herkunftssprachen eine Aufwertung und werden auch von anderen Lernenden als wertvolle Ressourcen wahrgenommen, wie aus der Nachfrage von Mirko deutlich wird (Ab. 34). Das allgemeine Weltwissen erweist sich ebenfalls als eine nützliche Ressource, wie die Antwort von Andrej (Ab. 32) zeigt. Er assoziiert calzón mit dem italienischen Laden Calzedonia, der auf den Verkauf von Strümpfen und Bademode spezialisiert ist. Das Alltagswissen ist ebenfalls bei der Einordnung von „Ya, ya. Ya pasó. It's all over. There, there, there.“ hilfreich. Die SchülerInnen sind verwirrt über die umgekehrte Reihenfolge in der englischen Übersetzung, und Mirkos Erklärung (Ab. 23) in Kombination mit dem Rückgriff auf das Englische (Ab. 28) hilft ihnen, den Satz besser einzuordnen. An dieser Stelle zeigt sich auch, dass Mirkos Orientierung am Textthema und seine eher globale Vorgehensweise (top-down) die bottom-up-Orientierung der anderen Lernenden am konkreten Text gut ergänzt und zu erfolgreichen Entschlüsselungsprozessen führen kann (vgl. Morkötter 2018: 351). Mirko zeigt an einigen Stellen eine Tendenz zu ganzheitlichem Vorgehen, so z. B. bei der Einordnung der Beleidigung „cochino“ in den Textzusammenhang (Ab. 2) und bei der Nachfrage zu payaso (Ab. 7), wo er das Textgenre und die Besonderheiten seiner mehrsprachigen Gestaltung im Blick behält. Der inhaltliche Kontext erweist sich ebenfalls bei der Entschlüsselung von „Lárgate“ als hilfreich, denn Anton stellt den Zusammenhang zum vorausgehenden Satz „I don’t want to see you again.“ her (Ab. 48) und bestätigt somit die Vermutung, Lalas Tante nutze die Imperativ-Form „Lárgate“, um ihren Ehemann zum Gehen aufzufordern (Ab. 41, 42, 45). Damit wird die anfangs geäußerte Hypothese, es handle sich um einen „Ausdruck“ (Ab. 16), korrigiert. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Lernende die Herausforderungen der Entschlüsselungsarbeit insbesondere deshalb meistern, weil sie sich im Rahmen der Grup‐ penarbeit gegenseitig unterstützen und von unterschiedlichen sprachlichen Kenntnissen der anderen, aber auch von verschiedenen Vorgehensweisen beim Entschlüsseln profitieren können. Das Potenzial solcher ko-konstruktiven Interaktionsprozesse für die sprachliche und die inhaltliche Entschlüsselung der Texte soll im Rahmen der zweiten Fallstudie näher beleuchtet werden, wobei ebenfalls zu klären ist, wie die Lernenden eine interaktionale Kompetenz entwickeln und in Form von sozio-affektiven oder metakognitiven Strategien umsetzen (vgl. Bonnet 2009: 5). Hervorzuheben ist außerdem die Vielfalt der Wissensbe‐ stände, die beim Entschlüsseln aktiviert werden, da neben sprachlichem Wissen sehr häufig Weltwissen, literarisches Wissen oder das Wissen über den situativen Kontext dabei helfen, die sprachlichen Strukturen auf der Textoberfläche vom Textthema oder -kontext aus zu denken (top-down). Die außersprachlichen Kategorien sind, wie Doyé (2010: 4 Das mehrsprachige Lesen als Herausforderung 129 <?page no="130"?> 135) betont, „nicht außer Acht zu lassen, denn sie liefern potenzielle Basisinformationen, die die Lernenden benutzen können, wo die sprachlichen Kategorien nicht genügend Informationen hergeben“. Im retrospektiven Interview reflektieren die Lernenden das Erschließen des Romanaus‐ zugs als eine motivierende Aufgabe, „wo man was zu knobeln hatte“, und finden es „ziemlich interessant, dass man sich so Gedanken darüber macht, was könnte es [die spanischen Einschübe] denn überhaupt bedeuten“ (Mara). Wie wir aus den Interkompre‐ hensionsstudien wissen, wird das Erschließen von Bedeutungen von Lernenden häufig als lustvoll empfunden (vgl. Bär 2009, 2010), weil es ihre Entdeckerfreude weckt und so wie oben als ‚Knobeln‘ bzw. als Rätseln aufgefasst wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die SchülerInnen das Rätseln um die Bedeutung der spanischen Einschübe anfänglich noch kritisch sehen, worauf Andrejs Frage: „He raten wir jetzt eigentlich nur? “ (Ab. 20) hindeutet. Das ‚Raten‘ erfährt im Laufe der Entschlüsselungsarbeit eine positive Umdeutung (‚Knobeln‘), möglicherweise weil die Lernenden erste Erfolge beim Entschlüsseln erleben und somit eine positive Selbstwirksamkeitserfahrung machen (vgl. Bär 2009: 519). Nach der abgeschlossenen Gruppenarbeit sollten die Lernenden ihre Erschließungsstra‐ tegien zusammenfassen und in Kategorien einordnen. In Zusammenarbeit mit der Lehrerin entstand ein Tafelbild, das die Strategien als topic-based strategies (Berücksichtigung des Themas bzw. der Situation), text-based strategies (Übersetzung oder Paraphrasierung der spanischen Einschübe im Text) und lexical strategies (Nutzbarmachung von lexikalischen Ähnlichkeiten mit anderen Sprachen) zusammenfasste. Diese Übersicht sollte erste Hilfe‐ stellungen für die eigenständige Lektüre des mehrsprachigen Romans liefern. In den Unterrichtstranskripten finden sich wenige Aussagen der SchülerInnen, die explizit die Verständlichkeit des Romans thematisieren, was bereits ein Hinweis darauf sein kann, dass es keine großen Verständnishürden beim Leseprozess gab. Diese Vermutung bestätigt der unten zitierte Ausschnitt aus einem Unterrichtsgespräch, das unmittelbar nach dem Lesen des ersten Kapitels stattfand: 1 L 1 Is there anything that was unfamiliar to you when reading those two pages compared to other texts you are used to in your English lessons? - 2 Mirko Yes, it was sometimes confusing when they started writing Mexican words down first so you couldn't understand anything but they tried to explain it so it was okay, but it was quite unusual for a text to read. 13a 3 L 1 Your last sentence was it was okay because you could find… - 4 Mirko Yes, because they explain it afterwards so… […] - 5 L 1 What about the others? Mirko said Spanish words were ok for him. How did you deal with them? Christina says I just read them and understood them. Lara, you have no Spanish, right? 13a 6 Lara I think it's ok because most of it is translated afterwards so easy to understand. 13a Tab. 2: Unterrichtsgespräch zur Verständlichkeit des Romans Caramelo 130 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="131"?> Die mehrsprachige Lektüre sei ungewöhnlich („unusual“), bereite aber keine Verständ‐ nisprobleme, woraus vorläufig geschlossen werden kann, dass die SchülerInnen dieser Lerngruppe keine großen Schwierigkeiten hatten, dem ersten Kapitel des mehrsprachigen Romans zu folgen, und grundsätzlich bereit waren, sich auf das Lesen der mehrsprachigen Lektüre einzulassen, ohne negative Einstellungen gegenüber dem Spanischen zu zeigen. 5 Literarischen Sprachenwechsel interpretieren - Ein Vorwort zu Caramelo schreiben Um eine Möglichkeit zur selbstständigen Anwendung der Entschlüsselungsstrategien zu schaffen und zu verhindern, dass spanischsprachige Einschübe überlesen werden, wurde eine Lernaufgabe entwickelt, die die Lernenden aufforderte, für eine angeblich vom Schulbuchverlag Cornelsen herausgegebene kommentierte Ausgabe von Caramelo ein Vorwort zu schreiben. Das Vorwort sollte sich an nicht Spanisch sprechende Lernende des Englischen richten und als eine Art Einführung in den Roman konzipiert werden. Im Mittelpunkt sollte das zentrale Merkmal des Romans, das literarische code-switching, stehen und aus zweierlei Perspektiven betrachtet werden. Zunächst sollten Lernende schildern, welche Rolle das code-switching im Roman spielt, was seine Funktion als Darstellungsverfahren ist und welchen Bezug seine Nutzung zu der sprachlichen Realität der südwestlichen USA aufweist. Der zweite Teil der Aufgabe besteht darin, Ratschläge zu formulieren, die das Verständnis der spanischen Einschübe für einen Englisch spre‐ chenden Lernenden erleichtern, wobei konkrete Beispiele aus dem Roman herangezogen werden sollten, um die vorgeschlagenen Strategien zu illustrieren. Das Formulieren von Ratschlägen ermöglicht den Lernenden nicht nur ihre Strategien zu nennen, sondern auch zu erklären und damit über ihr Vorgehen beim Entschlüsseln intensiv nachzudenken und dabei Selbstwirksamkeit zu erfahren. Die Aufgabe spricht damit zwei verschiedene Ebenen der Textrezeption an, und zwar sowohl die Ebene des sprachlichen und inhaltlichen Verständnisses (Sinnkonstitutionsebene 1) als auch die Ebene der kognitiven Erfassung von literarischen Mitteln (Sinnkonstitutionsebene 2) (vgl. Burwitz-Melzer 2007: 140 f.). Sie fördert einerseits das sprachliche und inhaltliche Erfassen des mehrsprachigen Ro‐ mans sowie die Bewusstmachung von Erschließungsstrategien und fungiert somit als lesebegleitendes Reflexionsinstrument. Andererseits fokussiert sie das code-switching als Sprachpraktik der literarischen Figuren und als ästhetisches Gestaltungsmittel des Romans, indem sie die Lernenden dazu auffordert, genau zu untersuchen, wann welcher Charakter ins Spanische wechselt (You should also briefly explain who of the characters code-switch and in which situations they switch to other languages). Dadurch wird den SchülerInnen suggeriert, dass das Sprachverhalten der Charaktere Aufschluss über ihre sprachlichen und kulturellen Identitäten geben kann, dass also die bewusste Betrachtung der sprachlichen Form für das Verstehen der Romanfiguren und für die Interpretation ihrer Mehrsprachigkeit unabdingbar ist. 5 Literarischen Sprachenwechsel interpretieren - Ein Vorwort zu Caramelo schreiben 131 <?page no="132"?> 59 Die in der Studie erhobenen Schülerprodukte werden im Original zitiert. Eventuelle sprachliche Fehler wurden aus dem Original übernommen und nicht korrigiert. 5.1 Strategien für das Verstehen des Sprachenwechsels Zu Beginn soll dargelegt werden, welche Ratschläge die Lernenden zum Erschließen des Sprachenwechsels geben, welche Strategien sie vorschlagen, wie sie ihren Einsatz begründen und erklären und inwieweit sie auch neue Strategien heranziehen, die im Unter‐ richtsgespräch nicht genannt wurden. Die exemplarisch ausgewählten Ausschnitte aus den Vorwort-Texten der Lernenden werden im Folgenden nach dem eingesetzten Strategietyp klassifiziert und entsprechend kodiert. Martinez (2016: 374) ordnet „intra- und interlinguale Strategien, die auf Sprachenvergleich basieren und im Rahmen mehrsprachigkeitsdidakti‐ scher Ansätze unerlässlich sind“, den kognitiven Strategien zu. Weitere Kategorien zur Klassifizierung von Strategien sind: metakognitive Strategien zur „Steuerung und Regulie‐ rung“ des Erschließungsprozesses, die sozialen Strategien (Interaktion der Lernenden mit anderen) und die affektiven Strategien („Verhaltensmuster, die mit den Gefühlen des Lerners verbunden sind“) (ebd.: 373). Um die kognitiven Strategien zu strukturieren, werden die im Folgenden zitierten Schüleraussagen den verschiedenen Wissenskategorien von Doyé (2005) zugeordnet, denn die oben besprochenen Daten zeigen, dass die Lernenden bei der Reflexion des Erschließungsprozesses stärker differenzieren können, welche Art von „thematischem Wissen“ (topic-based strategy) sie bei der Dekodierung angewendet haben. 59 Kognitive Strategien 1. Sometimes it might also happen that a general, more far-reaching knowledge about the topic and context of the novel helps you to understand the content. In chapter seventy-two, Lala lists all different kinds of Mexicans, among these also the ”negrito Mexicans of the double coasts”. If you imagine the map of Mexico, you see that the country has several coasts on the western and eastern sides. Today, there are not as much black Mexicans as before, just because most of them became part of the mestizos in America. But you can still find many of them on the western coasts, so the phrase ”negrito Mexicans” is here synonym with ”black Mexicans”. („cultural knowledge”, Doyé 2005: 14) (1a) 2. In the following sentence of chapter thirteen, it is worth looking on the sentence structure and the word classes: ”Ven, Papá, ven”. Because of the repetition of the first word and the fact that it addresses one specific person, we can assume that it is an imperative and with that also a verb. We also know that it refers to Lala’s father and that she is rather young, so one phrase which is used quite often at that age is ”come, dad, come”. („grammatical knowledge”, „situational knowledge”, ebd.) (1b), (1d) 3. In the sixth chapter for example, the word ”plaza” strongly reminds me of the German word ”Platz” and the French word ”place". They have all the same initial letter and a quite similar formation. The phrase ”La capital” in the seventh chapter is almost equal with the English translation ”capital”, which makes the foreign word much less foreign. („lexical knowledge”, ebd.) (1b) 4. Especially in ”Caramelo” the language is quite often situational, which means that the situation of the characters tells you what they are talking about. […] When Mr. Coochi, a 132 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="133"?> friend of Lala’s father, tries to persuade her to come with him in the same chapter, it is a quite similar case: ”Now will you come and be my niña? ”. We already know because of the ongoing conversation that he treats her like a little princess and like a little girl, so the meaning can be inferred. („situational knowledge”, ebd.) (1d) 5. Sometimes you can guess the meaning by sayings or songs you know. For example, the Spanish ‘vida’ can be found in Coldplay’s song ‘Viva la vida’ which means something like cheer or hurray life. („general knowledge”, ebd.) (1a) Metakognitive Strategien 1. As a first step, I would suggest you to look at the respective sentence again and to reread the passage. (2c) 2. In order to come a step closer to understanding the Spanish words or sentences, I first highlighted them and then looked up their meaning in a dictionary, or if it’s a longer sentence, translated them online. (2c) Soziale Strategien 1. When I first started reading the book, I tried to read over the Spanish words, but after some time I got that this was not the sense of reading Caramelo, so I started to translate them or asked my friends to explain the idea of the words. (3a) Affektive Strategien 1. Sometimes one method might be really helpful and another completely useless. You always have to work with the material which is there, and I am sure that you will be surprised how much you can actually conclude out of a single sentence without speaking the language. (3b) 2. You don’t have to understand every word to get the meaning of the text. (3b) Die in diesen Ausschnitten genannten Strategien sind äußerst vielfältig und umfassen neben kognitiven Strategien, von denen bereits viele bei der Erstellung des Tafelbildes genannt wurden, auch metakognitive, soziale und affektive Strategien, die bisher nicht als Ressourcen aufgefasst wurden. Zwar werden die Letzteren nicht immer als Strategien benannt, aber sie erscheinen in Form von Tipps oder Hinweisen, die die SchülerInnen vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen an andere weitergeben möchten. Die gemeinsam formulierten Strategien werden nicht nur an neuen Beispielen angewandt, sondern auch weiter ausdifferenziert bzw. durch neue Strategien ergänzt. Im zweiten Absatz des Abschnitts ‚Kognitive Strategien‘ wird der Wissensbereich „grammatical knowledge“ zum ersten Mal zur Erschließung eines spanischen Satzes („Ven, Papá, ven”) aktiviert, indem aufgrund der Satzstruktur und der Stellung der Satzglieder im Satz auf die Wortart (Verb) und auf den Modus des Verbs (Imperativ) geschlossen wird. Außerdem aktiviert die Schülerin Wissen über die KommunikationspartnerInnen in der betreffenden Gesprächs‐ situation und schließt daraus, dass der Satz eine Aufforderung der kleinen Lala an ihren Vater (papá) darstellt. Die Ausführlichkeit und die Genauigkeit der Erklärung, aber auch die Tatsache, dass die Schülerin ohne vorherige Anleitung durch die grammatische Analyse des Satzes seine Bedeutung erschließt und dies auch für andere verständlich erklärt, zeugen von 5 Literarischen Sprachenwechsel interpretieren - Ein Vorwort zu Caramelo schreiben 133 <?page no="134"?> sehr guten analytischen Fähigkeiten der Schülerin und von einer bewussten und intensiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Erschließungsprozess. Das Gleiche gilt für das erste Beispiel im Bereich der kognitiven Strategien, in welchem das Wissen über den fremdkulturellen Kontext bei der Dekodierung herangezogen wird. Bemerkenswert ist, dass dieses Wissen nicht auf kulturellen Stereotypen basiert, wie dies häufig beim Vorwissen in diesem Bereich der Fall ist (vgl. Doyé 2005: 14 f.), sondern sehr differenzierte und genaue Informationen über Mexikos Geschichte und Geographie bereitstellt. Ein ähnlich reflektiertes Vorgehen zeigt sich auch beim Erschließen des spanischen Lexems „niña“ (4. Beispiel), das durch eine genaue Analyse des Verhältnisses zwischen den KommunikationspartnerInnen richtig als „Mädchen“ übersetzt wird. Auf‐ fällig ist außerdem die Charakterisierung der Sprache (eher des Sprachenwechsels) als „situational“, denn tatsächlich ist der Gebrauch des Spanischen in Caramelo sehr stark an konkrete Situationen gebunden. Ob die Figuren ins Spanische wechseln, hängt von ihrem/ r KommunikationspartnerIn bzw. vom Gesprächsanlass ab (siehe Abschnitt 1 in diesem Kapitel). Die Schülerin zeigt also nicht nur, dass sie Erschließungsstrategien sehr gezielt einsetzt und reflektieren kann, sondern auch, dass sie die literarische Funktion des Sprachenwechsels als Darstellungsverfahren verstanden hat. Die Beispiele illustrieren deutlich die Wichtigkeit des außersprachlichen Wissens (hier mit dem Code 1a markiert), auf die Doyé (2005: 14-17, 2010: 135) hinweist, denn gerade bei literarischen Texten liefert das Wissen über den fremdkulturellen Raum oder über die Ver‐ hältnisse der jeweiligen Romanfiguren in einer bestimmten Gesprächssituation wichtige Informationen über die mögliche Bedeutung und die Funktion der spanischen Einschübe. Die Reflexion im Rahmen des Vorwortes hilft den Lernenden, das außersprachliche Wissen, das sie zu Beginn der Erschließungsarbeit noch unter ‚Kontext‘ oder ‚Zusammenhang‘ eingeordnet haben (vgl. Ab. 2), stärker zu differenzieren und in Ressourcen zu überführen, die beim nächsten Erschließungsversuch gezielt abgerufen werden können. Ein anderer außersprachlicher Wissensbereich ist der des Weltwissens („general knowledge“), der nicht an die Themen des Romans gebunden ist, sondern eher allgemeines Wissen, wie hier aus dem Bereich der Pop-Musik, darstellt (5. Beispiel). Auch sprachliche Transferstrategien kommen zum Tragen, hier in Form von lexikalischen Ähnlichkeiten, wobei nicht nur die gut beherrschten Sprachen wie Deutsch oder Englisch als Brückensprachen eingesetzt werden, sondern auch das insgesamt weniger genutzte Französisch. Die von den Lernenden angeführten metakognitiven Strategien betreffen die Vorgehens‐ weise beim Lesen, aber auch die verwendeten Hilfsmittel, z. B. das (Online-)Wörterbuch. Interessant ist die Schüleraussage, die den sozialen Strategien zugeordnet wurde, da in ihr eine Veränderung in der Leseeinstellung deutlich wird. Die/ der SchülerIn habe mit der Zeit gemerkt, dass die spanischen Einschübe nicht ignoriert werden sollen, weil es nicht dem Sinne des Romans entspreche. Die Formulierung lässt darauf schließen, dass der/ die SchülerIn die Schlüsselrolle literarischer Mehrsprachigkeit für das Erfassen von Handlung und von Romanfiguren in Caramelo erfasst hat - möglicherweise auch als Resultat des Erschließungsprozesses in Gruppen. Schließlich betreffen die Hinweise unter affektiven Strategien den Umgang mit Nicht-Verstehen und die Ausbildung einer positiven Einstellung im Umgang mit dem ‚Fremden‘. 134 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="135"?> 60 Die Kodierungen beziehen sich auf die markierten Stellen im Text. 5.2 Sprachenwechsel als Gestaltungsmittel Anhand folgender Auszüge aus den Vorwort-Texten der Lernenden soll nun untersucht werden, wie SchülerInnen den Sprachenwechsel als literarisches Darstellungsverfahren wahrnehmen, welche Funktionen sie ihm zuschreiben und wie sie seine Wirkung be‐ schreiben. The novel ”Caramelo” by Sandra Cisneros tells the story of a young girl called Celaya "Lala" Reyes, living in a big family of Mexican origin in the United States. Every summer, they visit her grandparents in Mexico City. Celaya can be considered as the observer of the happening, who tells the reader her personal experiences while travelling between the U.S.-Mexican border and within the United States, always searching for her own national identity. As Celaya’s family switches from one country to another, they soon find themselves not only between two nations, but also between two languages. To express that conflict and way of living, Sandra Cisneros uses a stylistic device known as code-switching. 60 (9a) In ”Caramelo" we can find many examples, applied by the author, which show how the characters deal with their linguistic situation. […] When we look at all these examples, we can already gather much about the reasons for the characters to code-switch. A quite expressive, exemplary passage can be found when Celaya and her family cross the U.S.-Mexican border in chapter four. Immediately, there appear a range of Spanish words, on one hand to express the regional, outer change, on the other hand to convey the character’s inner change. Lala thinks more Spanish because she is now in a Spanish surrounding, a surrounding where people not only behave, but also drink and eat Spanish, ”frijoles with fresh cilantro; molIetes; or scrambled eggs with chorizo; eggs a la mexicana with tomato, onion, and chile; or huevos rancheros” (p. 18, ll. 19-21). (9b) As this code-switching phenomenon is an important part of the novel and also an important part of the life and language of Celaya and her family, it really makes sense to keep paying attention to it and to analyse the Spanish parts as much as possible. It does not only give you access to the personal life of all the characters you will soon encounter (9b), but also to the Spanish language itself. […] At the same time, ”Caramelo” is not really like other books. […] It is about crossing borders, geographic as well as linguistic ones, and the problems and conflicts which come with it. Conflicts which are even reflected in the realistic language of Sandra Cisneros, who thereby builds an equally realistic image of the life of Hispanics in the United States. (9c) The Spanish is essential because it’s one of Cisneros’ most original narrative tools. When we talk about code-switching, we have to think about people who belong to two or three cultures. Those people have a mixed identity and it is difficult to categorize them. You can recognize these people on the spontaneous change of language, also known as code-switching. (9c) Gemeinsam ist allen Ausführungen, dass sie das code-switching als ein wichtiges literari‐ sches Gestaltungsmittel nennen („stylistic device“, „original narrative tool“) und seine Funktion insbesondere in der Darstellung mehrsprachiger und mehrkultureller Identi‐ täten sehen („mixed identity“). In der ersten Schüleraussage wird argumentiert, dass der 5 Literarischen Sprachenwechsel interpretieren - Ein Vorwort zu Caramelo schreiben 135 <?page no="136"?> Sprachenwechsel den Identitätskonflikt und die mehrkulturelle Lebensweise der Familie Reyes vermitteln soll (Code 9a). Darüber hinaus wird ein Zusammenhang zwischen Kultur- und Sprachenwechsel hergestellt, indem der Identitätskonflikt nicht nur auf einen Kulturenwechsel, sondern auch auf einen Sprachenwechsel zurückgeführt wird („they soon find themselves not only between two nations, but also between two languages“). Dieser Zusammenhang wird in der zweiten Aussage weiter vertieft: Der Wechsel zwischen Kulturen („the regional, outer change“) im Rahmen der Familienreise zu den Großeltern nach Mexiko bedeute für Celaya auch einen inneren Wechsel („the character’s inner change“). Damit wird angedeutet, dass Celaya bei der Anreise in Mexiko, in der Heimat ihrer Eltern, nicht nur zu einer anderen Sprache wechselt und sich an eine kulturell anders geprägte Umgebung gewöhnen muss, sondern dass dieser Kulturkreis und seine Sprache auch auf ihr Inneres, ihr Denken und Fühlen Einfluss nehmen (Code 9b). An dieser Stelle wird deutlich, wie Lernende durch eine aufmerksame Betrachtung der sprachlichen Form den Zusammenhang zwischen Sprache, Kultur und Identität erforschen. Sprache wird hier als konstitutives Element menschlicher Identitäten wahrgenommen: In ein anderes Land zu reisen und sich einer anderen Sprache zu bedienen, bedeute auch, sich selbst in Frage zu stellen. Dies wird auch im dritten Abschnitt deutlich, wo von „two selves“ und „two languages“ gesprochen wird. Mehrsprachige literarische Texte wie Caramelo bieten die Möglichkeit, diese Zusam‐ menhänge ausgehend von der Betrachtung der sprachlichen Form zu beleuchten. Sprach‐ bewusstheit wird insbesondere dadurch gefördert, dass Lernende durch die Betrachtung des Sprachenwechsels auf die inhaltlich vermittelte Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität der Romanfiguren schließen und nicht umgekehrt. Die Bedeutung des Sprachenwechsels für das Verstehen der „inneren Welt“ einer Romanfigur wird im dritten Abschnitt her‐ ausgearbeitet und wird deutlich in der Empfehlung an die LeserInnen, sich mit dem code-switching auseinanderzusetzen, denn über die mehrsprachige Gestaltung gewinne man Zugang zu den Charakteren („the personal life of all the characters“, Code 9b). Dem Sprachenwechsel wird hier eine neue Funktion zugewiesen: Sprache verleihe den mehrsprachigen individuellen und kollektiven Identitäten nicht nur Ausdruck, sondern der Leser oder die Leserin erhalten erst durch Sprache einen Zugang zur Innenwelt der Romanfigur - Identitäten werden also erst durch die Betrachtung von Sprache greifbar. Diese Beobachtungen zeugen von einem sehr reflektierten Umgang mit Sprache und einer aufmerksamen Textanalyse im Sinne eines close-reading (vgl. Hallet 2007, 2010). Das code-switching wird also hier auf einer textimmanenten Ebene mit Bedeutung versehen. Mit Blick auf den dritten und vierten Lernertext lässt sich außerdem noch eine andere Interpretationsebene feststellen - die Ebene des kulturellen Kontextes. Der Sprachen‐ wechsel diene neben der Darstellung mehrsprachiger Identitäten zur Abbildung einer gesellschaftlichen Realität: „builds an equally realistic image of the life of Hispanics in the United States“ (Code 9c). Diese Interpretationsebene wird auch im letzten Abschnitt angedeutet, da hier nicht von Romanfiguren, sondern allgemein von Menschen gesprochen wird, die zwischen mehreren Kulturen leben („people who belong to two or three cultures“). Das code-switching fungiere hier als ein Mittel zur Repräsentation des sprachlichen Alltags hispanoamerikanischer MigrantInnen in den USA. Diese Schülerergebnisse sprechen für die von Elsner (2012: 412) aufgestellte These, dass mehrsprachige Chicano/ a-Literatur (bei 136 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="137"?> Elsner die Lyrik) die Leserinnen und Leser geradezu dazu einlädt, ihre textimmanente Struktur und ihren spezifischen sprachlichen und kulturellen Kontext gemeinsam zu betrachten. Obwohl die Frage in der Aufgabenstellung lediglich auf die textimmanente Analyse zielte („briefly explain which characters code-switch and in which situations they switch to other languages“), beschreiben Lernende Sprachmischung auch als ein Merkmal des zielkulturellen Kontextes, wodurch ein besonderes Potenzial mehrsprachiger literarischer Texte deutlich wird. Durch ihre mehrsprachige Gestaltung ermöglichen diese Texte eine Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit als individuellem Merkmal des Sprachverhal‐ tens einzelner Romanfiguren, schaffen aber auch Bewusstheit dafür, dass Mehrsprachigkeit nicht nur ein individuelles, sondern auch ein gesellschaftliches Phänomen ist, das für eine bestimmte gesellschaftliche Gruppierung identitätskonstituierend sein kann. 6 Die Mehrsprachigkeit literarischer Figuren analysieren Eine der Zielsetzungen bei der Arbeit mit dem mehrsprachigen Roman Caramelo war die Betrachtung und Beschreibung der mehrsprachigen Sprachpraktiken der Romanfiguren sowie die Interpretation ihrer Einstellungen gegenüber Sprachen und Kulturen. Wichtig war in diesem Zusammenhang, dass die SchülerInnen eine Aufmerksamkeit für die sprach‐ liche Form der Texte entwickeln und dafür sensibilisiert werden, dass der Sprachenwechsel bedeutungstragend sein kann. Interessant ist hier die Frage, welche Bedeutung Lernende dem Sprachenwechsel zuschreiben und welches Wissen bzw. Erfahrungen sie nutzen, um diesen zu erklären. Beziehen sie hierbei ihr Wissen über die Romanfiguren bzw. über die Mehrsprachigkeit als literarisches Gestaltungsmittel des Romans ein? Welche Rolle spielt dabei die Mehrsprachigkeit des spezifischen kulturellen Kontextes des Romans? Von besonderer Bedeutung ist die Frage, inwiefern Lernende vor dem Hintergrund literarischer Mehrsprachigkeit auch ihre eigenen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit aktivieren und wie sie diese auf die Mehrsprachigkeit der Romanfiguren beziehen. Im Sinne des Fremdverste‐ hens ist ebenfalls danach zu fragen, inwiefern das von den Lernenden aktivierte Wissen bzw. Erfahrungen ihnen einerseits helfen, das Verhältnis der Figuren zu ihren Sprachen und Kulturen zu verstehen, und andererseits möglicherweise dabei hilfreich sein können, die eigenen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität zu hinterfragen und zu reflektieren. Um ein Verständnis für die Mehrsprachigkeit der Romancharaktere zu erlangen, sollten die Lernenden die Kapitel 3, 4, 5, 6 und 13 zu Hause lesen, um anschließend arbeitsteilig an den jeweiligen Kapiteln im Unterricht zu arbeiten. Die Arbeitsaufträge verfolgen einen Dreischritt: Lernende sollten zunächst Situationen identifizieren, die für das Verständnis von Lalas Mehrsprachigkeit relevant sind, das Sprachverhalten der Protagonistin in der Situation beschreiben und es anschließend interpretieren, indem sie ausgehend von ihrem Sprachverhalten auf ihre sprachlichen und kulturellen Identitäten schließen. Die Arbeits‐ aufträge lauteten wie folgt: 1. Try to find passages from the chapter which deal with Lala as a multilingual growing up between two cultures and languages. (Identifizieren) 6 Die Mehrsprachigkeit literarischer Figuren analysieren 137 <?page no="138"?> 2. How does she deal with the situation? How would you describe her use of language at that moment? (Beschreiben) 3. How would you describe her attitude towards the two languages in this chapter? Which language comes more naturally to her and why? How do the other characters deal with her multilingualism? How is that reflected in the language they use with Lala? (Interpretieren) Im Folgenden wird anhand eines kurzen Auszugs aus der Gruppenarbeit zum Kapitel 13 dargelegt, welche Antworten die Schülerinnen auf diese Fragen finden. Aus dem Kapitel 13 stammt die in der vorausgehenden Analyse des Romans (siehe Abschnitt 1 in diesem Kapitel) zitierte Episode mit der Zimmerdecke (ceiling/ cielo). Während eines Aufenthaltes im Haus der Großeltern in Mexiko möchte Celaya ihrer Familie mitteilen, dass die Decke eingestürzt ist, und kann das passende Wort weder im Englischen noch im Spanischen finden (Cisneros 2002: 60-f., H.-i.-O.): I scramble downstairs to tell everyone, only I don’t have the words for what I want to say. Not in English. Not in Spanish. -The wall has fallen, I keep saying in English. […] - La pared arriba, es que se cayó. Ven, Papá, ven. […] Mother shouts downstairs. - Everybody, quick! The ceiling’s fallen! ¡Se cayó el cielo raso! Father says. And then it is I learn the words for what I want to say. “Ceiling” and “cielo.” Cielo - the word Father uses when he calls me “my heaven.” The same word the Little Grandfather reaches for when he wants to say the same thing. Only he says it in English. - My sky. Dieser Abschnitt zeigt, dass Lala gerade in Mexiko, in einem Umfeld, wo viele Erwachsene Spanisch sprechen, mit ihrer Mehrsprachigkeit konfrontiert wird. Da sie anfangs in keiner der Sprachen das richtige Wort zu finden scheint, erlebt sie zunächst eine gewisse Sprachlosigkeit, die sie versucht zu überwinden, indem sie ihre Gedanken auf Spanisch paraphrasiert (La pared arriba, es que se cayó./ Die Wand oben, sie ist gefallen.). Die folgende Audiotranskription gibt wieder, wie die drei Schülerinnen zu Beginn der Gruppenarbeitsphase die Aufgabenstellungen bearbeiten: 138 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="139"?> 61 Die Schülerin verwechselt hier „aburrido" (langweilig) mit „abuelo" (Opa). 1 Maria I only have one passage. I think that's quite crucial for it. It's the line where the ceiling falls and she wants to inform the other people about it and she searches for words and she has to search for the word as well as in her Spanish vocabulary as well as in her English one. But she doesn't find the right word. And then she just says it in English so I think … 4- 2 Gizem She doesn't find the Spanish word? - 3 Maria At the first moment she doesn't find any word ähm … So, no word in Spanish but also no word in English. 4 4 Pauline Ok, also dieses hier „I don't have the words”… Ja das habe ich auch. 4 5 Maria Yes, I think that's important. - 6 Pauline But I would say English is more natural to her. 5 7 Maria Yes. - 8 Gizem Yes, because she always answers when somebody speaks with her Spanish she answers in English. 5a 9 Pauline Or only here, wenn sie sagt „aburrido", also Opa eben auf Spanisch. 61 5a Tab. 3: Gruppenarbeit zum Kapitel 13 des Romans Caramelo Die Schülerinnen greifen gleich zu Beginn des Arbeitsprozesses aus dem elfseitigen Kapitel des Romans die richtige Stelle heraus und erkennen somit ihre besondere Relevanz für das Verständnis von Lalas Mehrsprachigkeit. Maria identifiziert nicht nur die richtige Stelle, sondern beschreibt auch richtig die Sprachlosigkeit Lalas - sie finde in keiner der beiden Sprachen das richtige Wort für „Decke“ (Code 4). Möglicherweise wird diese Erkenntnis als Widerspruch empfunden („but“ in Paulines Aussage), denn die Schülerinnen sind der Meinung, dass das Verhältnis Lalas zu den beiden Sprachen nicht gleich ist: Englisch zu sprechen sei für Lala natürlicher als Spanisch. Hier beginnt also die Interpretation des Sprachgebrauchs, wobei die Schülerinnen erkennen, dass die Wahl der Sprache davon abhängig ist, mit wem Lala spricht (Code 5a). Zu Beginn der Gruppenarbeitsphase zeichnet sich also ab, dass die Schülerinnen in der Lage sind, Lalas Mehrsprachigkeit zu erfassen und richtig zu interpretieren. Interessant ist nun, inwiefern es den Lernenden gelingt, den Umgang der Romanfiguren mit Mehrsprachigkeit nachzuvollziehen und für sich zu erklären. Um dieser Frage nachzugehen, soll nachfolgend auszugsweise aus einem Unterrichtsgespräch zitiert werden, in dem die Lernenden über die Gründe diskutieren, die Lalas Eltern möglicherweise dazu veranlasst haben, ihre Kinder mehrsprachig zu erziehen, d.-h. ihnen neben dem Englischen auch ihre Muttersprache Spanisch beizubringen: 6 Die Mehrsprachigkeit literarischer Figuren analysieren 139 <?page no="140"?> 1 L 1 But then why do they continue using Spanish? They could say… 2 Gizem So they don’t forget the language… or the origin where they come from. […] - 3 Tim It’s like a secret language and neighbours cannot understand them or other people. (Gizem lächelt, Julia: Ja, ja) 6eigene Erfahrung? 4 Lara Darauf sollte man sich nicht verlassen. Zu Hause? […] - 5 L 1 Their mind is blank so to say and you just decide how to fill it. And you could decide ok I am going to fill this brand-new mind with English words but they decided to fill them with English and Spanish words. And I think there is one more reason for the parents doing so that we haven't mentioned yet. Perhaps it's clear to you but … - 6 Pauline For better education? 6 7 L 1 In the long run. But at that time, it was not clear that it would help them, she was born at the end of the 1950s and at that time they were so to say inferior to those people speaking the real English being the real white Americans, so etc. So it's 50 years back. A long time ago. - 8 Tim Sometimes families come together and make something like a dinner or party and children have to understand what the elders are saying. Because elders sometimes don't know a lot of words in English or can't speak English. 6 9 L 1 Keep in touch with family, big family. Aunts, uncles who don't live in the USA. - 10 Gizem I think that's also the case in our family because my grandmo‐ ther just speaks Arabic and little sentences in … like wenige Sätze Turkish and I cannot understand her which I … When she says could you bring me water in Arabic then … I don't know what she means. 7a Erfahrungen in der eigenen Fa‐ milie 11 L 1 Ok, so you would always need a translator, somebody else from your family? - 12 Gizem Yes. I just can understand a little bit and that's really little. 7b 13 L 1 Is your grandmother the only person with Arabic language background? - 14 Gizem No, my father. 7a 15 L 1 So why did they decide not to teach you? - 16 Gizem I don't know. I think they totally forget it. 7b 17 L 1 So, they thought you to speak Turkish. - 18 Gizem Yes. - 19 L 1 And you don't know why they decided to teach you this language and not the other one? - 20 Gizem No. But my sister learned Arabic. 7a 140 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="141"?> 21 L 1 From your parents? 22 Gizem Yes. - 23 L 1 You have an older or a younger sister? - 24 Gizem Younger. - 25 L 1 So now your parents have got time. (lachen) - 26 Gizem I don't know. - 27 L 1 It would be interesting to find out. Or they just found out you are not able to understand and now they decided your siblings should run. Ok, that's interesting. Ok, so they should keep in touch with the family. What do you think is the better language what's the better language of the parents? […] - 28 Tim Of course, Spanish. - 29 L 1 Ok, so that's probably also one reason, a practical reason. Their Spanish is better. I am not sure whether they would actually think of the other reasons which are very clear and good reasons to teach but the one of the prerequisites when you start teaching a language would be ok you need to speak it and you would need to speak it fluently and know all the words. And then it's their first language, their native language so that's also one reason. beantwortet die eigene Im‐ pulsfrage aus Ab. 1 Tab. 4: Unterrichtsgespräch zur Mehrsprachigkeit der Figuren Die Kodierungen im Gespräch deuten darauf hin, dass die Lernenden möglicherweise auf ihre lebensweltlichen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit zurückgreifen, um die Entschei‐ dung der Eltern zu erklären (Code 6), bzw. diese am Ende des Gesprächs auch explizit thematisieren, wie dies bei den Aussagen von Gizem deutlich wird (7a). Literarisches Wissen, wie etwa das Wissen über die literarischen Figuren oder über den spezifischen kulturellen Kontext des Romans, kommt nicht zum Tragen. So wird zum Beispiel aus der Aussage von Pauline (Ab. 6) deutlich, dass sie den historischen Kontext des Romans außer Acht lässt und die untergeordnete Stellung des Spanischen in der US-Gesellschaft der 1960er Jahre nicht berücksichtigt. Paulines Aussage, die Kenntnisse des Spanischen könnten die Bildungschancen der Kinder erhöhen, spiegelt die heutige Auffassung von Mehrsprachigkeit als einem Bildungszugewinn wider, die allerdings mit der damals verbrei‐ teten Sicht auf Spanisch als Sprache der inferioren hispanoamerikanischen MigrantInnen nicht übereinstimmt (siehe Erklärung der Lehrerin im Ab. 7). Hierbei wird deutlich, dass die Schülerin ihr eigenes Verständnis von Mehrsprachigkeit aktiviert, um die Entscheidung der Eltern zu erklären, dass sie aber durch den literarischen Text, der das Leben der mexikanischen ImmigrantInnen in den USA der 1960er Jahren thematisiert, mit einer anderen Sicht auf Bildung und Mehrsprachigkeit konfrontiert wird. Insbesondere Gizem kann sich mit der Situation der Reyes-Familie identifizieren, denn auch sie ist mehrsprachig aufgewachsen (mit den Sprachen Türkisch und Deutsch) und kann aufgrund mangelnder Arabischkenntnisse nicht mit ihrer Großmutter kommuni‐ zieren (Ab. 10). Sie zieht somit eine Parallele zwischen Lalas Kommunikationsschwierig‐ 6 Die Mehrsprachigkeit literarischer Figuren analysieren 141 <?page no="142"?> keiten mit ihrer spanischsprechenden und der eigenen Großmutter. Das Gespräch mit der Lehrkraft gibt ihr die Möglichkeit, ihre eigenen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit nicht nur zu aktivieren, sondern auch zu hinterfragen, denn es wird deutlich, dass sie sich mit der Entscheidung ihrer Eltern, der jüngeren Schwester das Arabische beizubringen und ihr nicht, nie bewusst auseinandergesetzt hat (vgl. Ab. 16). Die Frage der Lehrerin nach den Motiven, die die Eltern dazu bewogen haben, ihre Muttersprache an die eigenen Kinder weiterzugeben, knüpft also direkt an Gizems eigene familiäre Situation an und führt womöglich auch dazu, dass sich Gizem mit diesem Teil ihrer Identität auseinandersetzt. Indem Gizem also versucht, die mehrsprachigen Identitäten der Romancharaktere zu verstehen, eröffnet sich ihr die Möglichkeit, auch sich selbst und die Mehrsprachigkeit ihrer Familie besser zu verstehen. Gizems Rezeption des mehrsprachigen Romans ist ein Hinweis darauf, dass den Schülerinnen beim Versuch, die Mehrsprachigkeit der Romanfiguren nachzuvollziehen, auch das Verstehen des eigenen mehrsprachigen Selbst gelingen könnte (vgl. Bredella 2010: XIX). Interessant ist an diesem Abschnitt außerdem die Gesprächsführung der Lehrkraft, die die Diskussion schon allein aufgrund der Länge ihrer Beiträge dominiert. Am Ende des Ausschnitts wird deutlich, dass die Lehrerin eine ganz genaue Vorstellung von der Antwort auf ihre Frage nach den Beweggründen für eine mehrsprachige Erziehung hat, nämlich die Tatsache, dass Lalas Eltern besser Spanisch als Englisch beherrschen und es ihnen leichter fällt, den Kindern ihre Muttersprache beizubringen (Ab. 29). Indem sie auf der textimmanenten Analyse der Charaktere besteht, versäumt sie die Möglich‐ keit, auf die Schülerbeiträge einzugehen und danach zu fragen, welche Bedeutung die eigenen Mehrsprachigkeitserfahrungen der Lernenden für ihre Interpretation der Roman‐ charaktere hatten. Deutlich wird anhand dieses Gesprächsausschnitts, dass die Arbeit mit dem mehrsprachigen Roman das Potenzial birgt, Lernenden durch das Verstehen der Mehrsprachigkeit anderer die Möglichkeit zu geben, sich selbst als Mehrsprachige zu reflektieren, dass dies aber gleichzeitig die Herausforderung mit sich bringt, diese lebensweltlichen Erfahrungen stets auch mit der textimmanenten Analyse des Romans und des entsprechenden kulturellen Kontextes abzugleichen. Damit also das Vorverständnis über Mehrsprachigkeit nicht nur aktiviert, sondern im Verstehensprozess auch verändert werden kann, sollten die Lernenden nachvollziehen können, wie sich die Perspektive auf Mehrsprachigkeit im literarischen Text von ihrer eigenen eventuell unterscheidet. So könnte Pauline ihr Vorverständnis über Mehrsprachig‐ keit vor dem Hintergrund des literarischen Textes erweitern, indem sie versteht, dass die Kenntnis der Herkunftssprache in Abhängigkeit vom bestimmten kulturellen und historischen Kontext und dem Prestige der jeweiligen Sprache in diesem Kontext nicht immer als gewinnbringend für die Sprachbildung angesehen wird. Gizem könnte die Erfahrung machen, dass die Entscheidung, in welcher Sprache das eigene Kind erzogen wird, für mehrsprachige Eltern von einer Reihe von Faktoren abhängig ist, und die Lektüre könnte eine Anregung sein, ihre eigenen Eltern dazu zu befragen, um diesen Teil ihrer Persönlichkeit möglicherweise besser verstehen zu können. 142 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="143"?> 7 Mehrsprachiges Schreiben In den vorausgehenden Kapiteln wurde an verschiedenen Stellen deutlich, dass die Ler‐ nenden bei der Analyse mehrsprachiger literarischer Texte in einen Dialog mit der eigenen Mehrsprachigkeit treten. Sie mobilisieren ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit Sprachen und Kulturen, um das Verhältnis der Charaktere zu ihren Sprachen und Kulturen besser zu verstehen, und hinterfragen eigene Erfahrungen vor dem Hintergrund der literarischen Texte. Im Folgenden stehen Unterrichtssituationen im Vordergrund, in denen sich die SchülerInnen als mehrsprachige Individuen erfahren, indem sie ausgehend von dem mehr‐ sprachigen Chicano/ a-Roman oder Gedicht selbst mehrsprachige Texte verfassen. Diese Lernertexte sind für die Frage, wie SchülerInnen ihre eigene Mehrsprachigkeit erleben und wie sie sich als Mehrsprachige in diesen Texten konstruieren, von zentraler Bedeutung. Die Lernertexte ermöglichen einerseits, die sehr persönlichen Zugänge der Lernenden zu Mehrsprachigkeit zu erforschen. Andererseits stehen sie immer „im Wechselverhältnis [zu] Texten der Zielkulturen“ (Legutke 2007: 132) und können zeigen, wie SchülerInnen die literarische Mehrsprachigkeit der Chicano/ a-Texte auf ihre eigenen Texte übertragen, welche Aspekte der Chicano/ a-Texte sie in eigenen Texten aufgreifen, aber auch, wie sie diese umdeuten und sich dadurch zu eigen machen. Die Lernertexte sind daher sowohl als individuelle kreative Produkte einzelner Lernender zu sehen als auch als Teil einer gemeinsamen Textwelt, in der sie mit Lernertexten anderer SchülerInnen und den mehrsprachigen literarischen Texten in einen Dialog treten (ebd.). Die lyrische Form birgt ein ganz besonderes Potenzial für die Auseinandersetzung mit eigener Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität, denn sie zieht die SchülerInnen „über einen Identifikationsprozess“ selbst in „eine Auseinandersetzung mit fremder und eigener Subjektivität“ hinein (Spinner 1995: 16 f.). Gedichte laden die LeserInnen geradezu dazu ein, eigene Gefühle im Text wiederzufinden und „sich selbst gegenüberzutreten“ (ebd.: 17), und leisten so „einen Beitrag zur persönlichen Identitätsentwicklung“ (Elsner 2012: 410). Die lyrische Form bietet nicht nur Raum für Selbstreflexion, sondern aufgrund ihrer „verschlüsselte[n] Form“ (ebd.) auch für eine intensive Auseinandersetzung mit der Frage, welche Sprache, welche Worte und welche Zeichen bestimmte Emotionen oder Gedanken am besten vermitteln. Diese „gesteigerte Zeichenhaftigkeit“ (Spinner 1995: 8) von Gedichten macht den Umgang mit ihnen für die SchülerInnen oft herausfordernd, da sie ihre Gedanken ästhetisch verarbeiten müssen, bevor sie sie zum Ausdruck bringen können. Hierin könnte aber genau die Chance des lyrischen Schreibens für die Reflexion der eigenen Mehrsprachigkeit liegen. Gerade die Verfremdung der lyrischen Sprache eröffnet einen Rahmen, in dem sich die SchülerInnen geschützt mit ihren (auch widersprüchlichen) Einstellungen gegenüber eigenen Sprachen und Kulturen auseinandersetzen können, sodass die eigenen Unsicherheiten zur Fiktion werden und „als etwas Abgeschlossenes“ mit anderen besprochen werden können (vgl. Mummert 1989: 18). In Anlehnung an Delanoy (2014) und Mayr (2014) wurde das mehrsprachige Gedicht „She“ (Elizondo 1977, siehe Kapitel IV, 2) als literarisches Modell gewählt, um den Lernenden eine Vorlage für das mehrsprachige Schreiben zu bieten. Die Aufgabe bestand darin, ein Gedicht in zwei Sprachen zu verfassen, die den Lernenden persönlich besonders wichtig sind, und lautete folgendermaßen: „Use this poem as a model for writing your own 7 Mehrsprachiges Schreiben 143 <?page no="144"?> multilingual poem. Write the poem in two languages which are important for you. The poem should express what these languages mean to you and why you consider them important.“ Die Lehrkraft entschied sich, dass die SchülerInnen ihre Sprachen frei wählen durften, dass also das Englische nicht notwendigerweise eine der gewählten Sprachen sein musste. Das Gedicht wurde als Hausaufgabe in einer Pause zwischen der Klausur und dem ‚regulären‘ Unterricht, in den letzten Stunden der Unterrichtseinheit verfasst und anschließend im Unterricht im Plenum vorgelesen und diskutiert. Kennzeichnend für die Rezeption dieser Aufgabe war eine gewisse Skepsis, die ihr vor der Bearbeitung sowohl seitens der SchülerInnen als auch seitens der Lehrkraft entgegengebracht wurde. Sie äußerte sich darin, dass die Lehrkraft darauf bestand, die Aufgabe erst nach der Klausur als ein ‚Extra‘, als Belohnung nach der geschriebenen Prüfung, einzusetzen. Tatsächlich gaben nach der Klausur nur einige wenige SchülerInnen das Gedicht als Hausaufgabe ab. Nach der Stunde, in der die Gedichte vorgetragen und diskutiert wurden, reichten weitere Lernende das Gedicht freiwillig nach und äußerten den Wunsch, ihre Texte ebenfalls vor der Klasse vorzulesen. Da der mehrsprachige Text als Produkt einer Interaktion der Lernenden mit dem Chi‐ cano/ a-Original, mit der eigenen mehrsprachigen Lebenswelt und mit dem mehrsprachigen Klassenzimmer zu verstehen ist, soll er bei der Analyse als Einzelprodukt, aber auch als Teil einer komplexeren, zwischen Lernenden und Lehrenden gemeinsam gestalteten Text- und Lernwelt (vgl. Legutke 2007), betrachtet werden. Daher werden die Lernertexte im Folgenden zunächst in ihrer Individualität als kreative Auseinandersetzungen einzelner SchülerInnen mit Mehrsprachigkeit analysiert, um anschließend darzulegen, wie die Lernenden und die Lehrkraft auf die Gedichte reagierten, was sie an ihnen interessant fanden und wie sie diese im Unterrichtsgespräch oder in den Interviews thematisierten. Bei der Analyse werden außerdem folgende Fragen an den Text gestellt: ● Welche Themen/ Erfahrungen/ Gedanken/ Gefühle sprechen Lernende in den Gedichten an? ● Welche Sprachen nutzen sie und wie gestalten sie ihr mehrsprachiges Gedicht? ● Was sagen die Lernenden über ihre Person und ihre Mehrsprachigkeit durch die Nutzung der unterschiedlichen Sprachen? ● Was fällt an der thematischen und der sprachlichen Gestaltung des Gedichtes besonders auf ? ● Wie reflektieren Lernende ihren Schreibprozess und was lernen sie dabei über sich selbst? ● Wie werden die Lernertexte von Lehrenden und Lernenden im Klassenraum diskutiert? Zum Schluss soll zusammenfassend eruiert werden, welche unterschiedlichen Möglich‐ keiten zur Auseinandersetzung mit der eigenen Mehrsprachigkeit durch die Aufgabe eröffnet wurden und wie sie einzelne Lernende genutzt haben, um ihrer Mehrsprachigkeit Ausdruck zu verleihen. Die Analyse richtet sich daher sowohl auf die individuellen Lernertexte als auch auf das Potenzial der hier gestellten Aufgabe für die Anbahnung eines reflexiven Umgangs mit eigener Mehrsprachigkeit. 144 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="145"?> 7.1 Das Gedicht „Two-headed” Das englisch-deutsche Gedicht „Two-headed“ ist aus vielerlei Gründen sehr bemerkens‐ wert. Berücksichtigt man die Tatsache, dass die Autorin des Gedichtes eine siebzehnjährige Schülerin ist (hier Maria genannt), ist seine inhaltliche und insbesondere seine überaus elaborierte ästhetische Gestaltung mehr als beeindruckend. Das Gedicht weist insofern Ähnlichkeiten mit der literarischen Vorlage auf, als auch der Schülertext eine Aufteilung der Sprachen in zwei unterschiedliche Köpfe suggeriert. In beiden Gedichten steht eine Sprache (Spanisch bzw. Deutsch) für das Intime, das Innere („the inner one“), und die andere Sprache (in beiden Fällen Englisch) für das Äußere, das mit Anstrengung und Arbeit verbundene („the outer talk“). „Two-headed“ ist allerdings sowohl in seiner inhaltlichen als auch in seiner sprachlichen Gestaltung deutlich komplexer als „She“. Es weist eine genau durchdachte Ästhetik und eine inhaltliche Tiefe auf, die gleichermaßen von der reichhaltigen Schreiberfahrung der Schülerin als auch von dem Grad ihrer Reflektiertheit in der Auseinandersetzung mit der eigenen Mehrsprachigkeit zeugen. Two-headed men we are One quite near, One quite far. English and German heretofore Distinguish in the very core. The English-word as foreign land, Gives me precious things to seek As an endless mystery Of words I can and cannot speak. Now, I’ve build up a cave Holding Anglo seeds, And if I sow them right They’ll give me trees. This cave is in my head (Well, the English one) - Enriched by school and mind Until the work is done. Withal, it is a gate Showing the foreign thought Of other human kinds Coming from abroad. 7 Mehrsprachiges Schreiben 145 <?page no="146"?> 62 Die Schülerin möchte mit ihrem selbst gewählten Kürzel „MB“ als Autorin des Gedichtes genannt werden. So it’s the outer talk My English can afford But for the inner one I need das deutsche Wort. Es schließt mir Türen auf (Lasst mich sie gar aufreißen) - Und kann in großem Chaos So manchen Sinn beweisen. Auch birgt mein zweiter Kopf Wörter tausendfach Und schenkt mir warmes Land Das mein Gefühl entfacht. Two-headed I go all along The lettered trace of tongue One older und so herzensnah And one so very young. 62 Die Darstellung von Mehrsprachigkeit im Gedicht Ein weiterer wichtiger Unterschied zum Gedicht „She“ liegt darin, dass die Schülerin ihre Sprachen Englisch und Deutsch zwar - ähnlich wie die weibliche Protagonistin bei Elizondo - als grundsätzlich verschieden erlebt, aber sie gleichzeitig beide als Teil ihrer Persönlichkeit begreift (daher die Metapher der „Zweiköpfigkeit“). Bei Elizondo werden die Sprachen Englisch und Spanisch eher als getrennte Sphären dargestellt (vgl. Kapitel IV, 2). Das Englische wird als fern und fremd dargestellt („quite far“/ „The English-word as foreign land“), aber auch als eine Sprache, die neugierig macht und unentdeckte Schätze bereithält („Gives me precious things to seek“). Sie befindet sich im Wachstums- und Entwicklungsprozess und kann erst durch die schulische Bildung Früchte tragen. Aus den „Anglo-seeds“ sollen durch eigene Anstrengung Bäume erwachsen („And if I sow them right/ The’ll give me trees“), sodass das Englische nicht nur in der Höhle („cave“) bleibt, sondern auch nach außen Stärke zeigen kann („trees“). Das Bild der Höhle (cave) wird durch das eines Tors („gate“) abgelöst, wobei das Sprechen („talk“) eine wichtige Rolle einnimmt und buchstäblich Tür und Tor zu fremden Kulturen eröffnet. Aber es ist nicht nur die Fremdsprache, die als Tür zu einer neuen Welt fungiert. Das Deutsche gewährt als Muttersprache den Eintritt in die Welt des Inneren, verleiht Kraft („Es schließt mir Türen auf/ Lässt mich sie gar aufreißen“) und wirkt sinnstiftend („kann in großem Chaos/ So manchen Sinn beweisen“). Das Deutsche ist die Sprache der Intimität („But for the inner one/ I need das deutsche Wort“) und der Emotionen („das mein Gefühl entfacht“). Vor allem das Schreiben in der deutschen Sprache ist für die Schülerin eine Möglichkeit, ihre 146 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="147"?> 63 Die relevanten Auszüge aus der schriftlichen Reflexion von Maria befinden sich im Anhang. Die Zeilenangaben beziehen sich auf das Dokument im Anhang. Emotionen zum Ausdruck zu bringen. Wie die Schülerin in ihrer Reflexion 63 schreibt, haben die Wörter ihrer Muttersprache das Potenzial, Ordnung in ihre Gefühle und Gedanken zu bringen, das Schreiben helfe ihr dabei, „dieses Chaos zu ordnen oder wenigstens in ein fassbares Muster zu bringen“ (Z. 40 f.). Daher verbinde sie die deutsche Sprache mit Wärme, Sicherheit und einem ‚Gefühl von Zuhause‘ - anstelle des Kopfes tritt daher die Metapher des Herzens („herzensnah“). Der Anfang der letzten Strophe („Two-headed I go all along/ The lettered trace of tongue“) verweist darauf, dass sie der Zustand der Zweiköpfigkeit weiter begleiten wird, wobei die geschickt gewählte Alliteration „lettered trace of tongue“ andeutet, dass der poetische Umgang mit Sprache eine zentrale Rolle bei der Entwicklung ihres mehrsprachigen Selbst einnehmen wird. Die mehrsprachige Gestaltung des Gedichtes Beeindruckend ist die Fähigkeit der Schülerin, mit sprachlicher Form, mit Klang und mit Rhythmus sowie mit Bildern und Zeichen künstlerisch umzugehen und dadurch eine bemerkenswerte Ästhetik zum ersten Mal auch in der Fremdsprache Englisch zu schaffen. Der präzise und differenzierte Umgang mit sprachlichen Zeichen scheint für die Schülerin von außerordentlicher Bedeutung zu sein, wenn es darum geht, die eigenen Gefühle und Gedanken zu verstehen, sie zu ordnen und ihnen Sinn zu verleihen: Ich denke, dadurch, dass ich stets versuche, meinen (deutschen) Wortschatz zu erweitern, etwa durch Literatur oder durch andere Menschen, die bestimmte, interessante oder nützliche Worte verwenden, erlange ich mit der Zeit auch die Fähigkeit zur Präzision oder Differenzierung, Dinge, die erstmal banal erscheinen. Doch haben sie für mich einen sehr großen, persönlichen Wert, denn durch den präzisen Ausdruck kann ich auch präziser meine Gefühle und Gedanken begreifen und sie aufschreiben, wenn ich möchte. Ist das meiste, was an innerlicher Bewegung in einem vor sich geht, eine unfassbare, ferne Masse, die nur unbewusst wahrgenommen, aber nie in Worte transportiert werden kann, so kann dies sehr ernüchternd und einschränkend sein. Manchmal führt es auch zu großem, geistigem Chaos, und hat man dann die nötigen Begriffe, dieses Chaos zu ordnen oder wenigstens in ein fassbares Muster zu bringen, kann ein gewisser „Sinn“ wiederhergestellt werden (Z.-30-41). Die ästhetische Verwendung von Worten und der kreative Umgang mit sprachlichen Zeichen haben für die Schülerin „einen sehr großen, persönlichen Wert“, denn sie helfen ihr, zu neuen Erkenntnissen über sich selbst zu kommen. Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen, bedeutet aber nicht nur, sie besser zu verstehen, sondern auch, ihnen einen Sinn zu verleihen und so das „geistige Chaos“ zu überwinden (Code 10a, 10b). Sprache hat für sie eine persönlichkeitsbildende und welterschließende Funktion: Sie nutzt sprachliche Zeichen, um sich die Welt zu erschließen, aber auch, um die Welt für sich zu ordnen und neue Bedeutungen zu schaffen. Sie ist sich bewusst, dass wir als „makers and users of signs“ (Kramsch 2009: 40) durch die Nutzung von sprachlichen Zeichen unsere Identitäten zum Ausdruck bringen und gestalten können. Wie in diesem Falle deutlich wird, scheint die lyrische Form in besonderem Maße einen solchen präzisen, differenzierten 7 Mehrsprachiges Schreiben 147 <?page no="148"?> und kreativen Umgang mit Sprache zu ermöglichen. Beim Schreiben von mehrsprachigen Gedichten werden die SchülerInnen dazu angehalten, über das enge Zusammenspiel zwischen sprachlicher Form und Inhalt nachzudenken und sich zu fragen, welche Worte und welche Sprachen ihre Gedanken und Gefühle am besten zum Ausdruck bringen und wie die Wahl der sprachlichen Zeichen die Wirkung des Gedichtes verändert. Ein solch ästhetischer Umgang mit Sprache, den Maria aus ihrer Muttersprache kennt, bekommt durch die Verknüpfung mit ihrer Fremdsprache Englisch eine gänzlich neue Dimension und ermöglicht Maria, zu neuen Erkenntnissen über sich selbst zu kommen. Das Hinzuziehen des Englischen erweitert nicht nur das sprachliche Repertoire der Schülerin, sondern bringt Maria auch dazu, über ihre eigene Mehrsprachigkeit und ihr Verhältnis zu Deutsch und Englisch nachzudenken. Sie erfährt sich also als einen Menschen, der in zwei Sprachen schreiben und denken kann und der durch die neue Sprache mit symbolic power (vgl. Kramsch 2009) ausgestattet wird. Diese Erweiterung der Identifikationsmög‐ lichkeiten sowie die Fähigkeit, eigene Erfahrungen bzw. Erinnerungen je nach Sprache unterschiedlich auszudrücken und dies zu reflektieren, sind nach Kramsch (ebd.: 201) wichtige Fähigkeiten der multilingual subjects, having the choice of belonging to different communities of sign users, resonating to events differently when expressed through different semiotic systems, positioning oneself differently in different languages, and ultimately having the words to reflect upon this experience and to cast it into an appropriate symbolic form. Für Kramsch zeichnen sich multilingual subjects (im Gegensatz zu native-speakers) dadurch aus, dass sie Sprachen nicht nur als kommunikative Werkzeuge gebrauchen, sondern dass sie Schreiben und Sprechen in einer Fremdsprache mit allen Sinnen erfahren und dabei ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf die „aesthetic appeal of the language itself“ (ebd.: 206) richten. In diesem Sinne ist auch Marias Freude am künstlerischen Umgang mit Sprache und am Erfinden von Bildern und Metaphern in zwei Sprachen als eine Hinwendung zur affektiven bzw. zur kreativ-subjektiven Dimension des Fremdsprachenlernens zu sehen. Reflexion der eigenen Mehrsprachigkeit Ihre Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit reflektiert die Schülerin aus ihrer Position als Lyrikerin, d. h. ausgehend von ihrer bisherigen Schreiberfahrung heraus. Das lyrische Schreiben scheint für ihre Selbstwahrnehmung von zentraler Bedeutung zu sein. In der Reflexion zu ihrem mehrsprachigen Gedicht bezeichnet sie das Schreiben als eine zutiefst emotionale „Herzenstätigkeit“, die sie mit Freude erfüllt und auch etwas Unvorhersehbares und Unkontrollierbares birgt: „Man zieht sich als Lyriker sein Material von hier und von dort, mal von dem einen Herzenswinkel, mal von dem anderen, und beobachtet freudig, was passiert“ (Z. 6 f.). Im Zentrum ihrer Reflexion steht das veränderte Erleben dieses Schreibprozesses, der sich durch die Einbindung ihrer ersten Fremdsprache (Englisch) zum ersten Mal mehrsprachig gestaltet. Erst das lyrische Schreiben in zwei Sprachen macht also die Entwicklung des mehrsprachigen Selbstverständnisses möglich: „Dieses mehrsprachliche Experiment war somit für mich ebenso unvorhersehbar. Erst jetzt lässt sich sagen: Ich bin ein zweiköpfiger Mensch und stehe zwischen zwei Sprachen […]“ (Z.-63-ff.). 148 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="149"?> Das Schreiben in zwei Sprachen führe „zu aufschlussreichen Erkenntnissen, nicht zuletzt über sich selbst“ (Z. 26 f., Code 10b). Die bewusste Aktivierung ihrer ersten Fremdsprache als Schreibressource lässt sie einen „zweiten Kopf “ wahrnehmen und sich als „zweiköpfig“ erleben: „Besonders an eben diesem Prozess war wohl, dass ich mich nicht nur in meinem deutschen Schreiberkopf, sondern auch in meinem englischen bewegt habe - und überhaupt erst einmal festgestellt habe, dass Letzterer tatsächlich existiert.“ (Z. 8 ff.) Das Englische wird nicht nur als ‚Pool‘ an neuen sprachlichen Strukturen verstanden, vielmehr verändert die Präsenz dieser Sprache die Gefühle und die Gedanken, die die Schülerin beim Schreiben erfährt. Es weckt in ihr „Ungewissheit und Unsicherheit“ (Z. 16), schafft „Anlass zur Hemmung und zum Zweifel“ (Z. 21) und konfrontiert sie mit einer neuen „Denkweise“ (Z. 24). Diese „schwankend[e] Sprache“ (Z. 29) eröffnet aber auch neue Möglichkeiten, „ein ganz eigenes Feld möglicher Perspektiven“ (Z. 24 f.) und „die Freiheit eines größeren Vokabulars“ (Z. 22 f.). Die englische Sprache erlebt sie einmal als eine zusätzliche Schreibressource, aber auch als eine Sprache, die neue Möglichkeiten der Selbstfindung bietet. Sie ermöglicht eine persönliche Horizonterweiterung (Englisch ist eine Tür zu fremden Kulturen) und hat eine bildende Funktion („Enriched by school and mind until the work is done“). Marias schriftliche Reflexion über den mehrsprachigen Schreibprozess zeugt nicht nur von einem ausgeprägten Reflexionsvermögen und von intensiver Auseinandersetzung mit eigener Mehrsprachigkeit, die weit über die Anforderungen an eine Hausaufgabe hinaus‐ gehen. Bemerkenswert ist vor allem, wie Maria Sprachen erlebt und welche Funktionen sie ihnen zuschreibt. Sie sind nicht nur kommunikative Werkzeuge, sondern wirken, aus ihrer Perspektive als Lyrikerin heraus, bedeutungsstiftend und ermöglichen einen Dialog mit sich selbst und mit anderen Menschen: „Beide [Deutsch und Englisch] sind sie kommunikative Werkzeuge, und ich denke, es ist sehr gewiss, dass man sowohl mit seiner eigenen Seele als auch mit den Seelen der Menschen um einen herum […] ständig im Dialog bleiben sollte.“ (Z.-48-ff., Code 10c) Zum Abschluss der Reflexion beschreibt Maria das mehrsprachige lyrische Schreiben nicht nur als eine Möglichkeit, das eigene Verhältnis zu Englisch und Deutsch zu verstehen, sondern auch als Gelegenheit, sich selbst nach außen als multilingual subject zu artikulieren: Abschließend kann ich sagen, dass diese lyrische Erfahrung mir definitiv dabei geholfen hat, meine persönliche Beziehung zu meinen meist verwendeten Sprachen zu begreifen, und dies verständlich, zugleich aber auch verschlüsselt auszudrücken. Das ist wohl das Schöne am Dichten - man codiert komplexe Sachverhalte und wartet dann darauf, bis sie decodiert werden, und wenn es gelingt, wird viel mehr über einen offenbart, als ein sachlicher, analytischer Text je offenbaren könnte (Z.-51-56). Marias Aussage lässt die Vermutung zu, dass sie die Aufgabe als Möglichkeit genutzt hat, um sich anderen, möglicherweise ihren MitschülerInnen und der Lehrerin, als Mehrsprachige mitzuteilen. Das Bedürfnis, die eigene Person zum Ausdruck zu bringen, lasse sich weniger gut durch die im Unterricht eher üblichen analytischen Texte verwirklichen als beim lyrischen Schreiben. Beim mehrsprachigen lyrischen Schreiben entwirft Maria also ein bestimmtes Bild ihres Selbst und positioniert sich damit gegenüber ihren MitschülerInnen als mehrsprachige Lyrikerin. 7 Mehrsprachiges Schreiben 149 <?page no="150"?> 64 Die Schülerin möchte mit ihrem Namen „Julia J.“ als Autorin des Gedichtes genannt werden. 7.2 Das Gedicht „Familie“ Wie der Titel bereits verrät, thematisiert die Schülerin in diesem Gedicht die enge Verbindung zu ihrer polnischsprachigen Familie. Dies ist eines der wenigen Gedichte dieser Lerngruppe, das in einer Herkunftssprache geschrieben ist und nicht in einer an der Schule erlernten Fremdsprache. Niema rzeczy która byla by Es gibt kein Wort, das Wichtiger od rodziny wichtiger als Familie wäre Wspólne spędzane Mittagessen Zusammen verbrachten wir Mahlzeiten i immer mile Augenblicke und immer nette Momente We wszystkie swięta razem An allen Feiertagen zusammen zu sein Ostern, Weihnachten, Geburtstage an Ostern, Weihnachten und Geburtstagen Pomagamy w trudnych chwilach Wir helfen in schweren Zeiten Wigdy nas nie lekcewazą Wir schätzen jeden in der Familie Namet w tych nay gorszych chwilach sogar in den schlimmsten Zeiten Kto nie ma prawdziwiej rodziny Wer keine echte Familie hat, Ten nie jest naprawde glücklich. der kann nicht wirklich glücklich sein. 64 Originalgedicht 150 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="151"?> Darstellung der Mehrsprachigkeit und die mehrsprachige Gestaltung des Gedichtes Das zentrale Thema des Gedichtes ist die tiefe emotionale Verbundenheit mit der Familie, mit der man nette Momente und Feiertage verbringt, auch schwere Zeiten zusammen durchsteht und in der man Glück, Fürsorge und Zusammenhalt finden kann. Anders als Maria, die bei ihrem Gedicht den Schwerpunkt auf den präzisen sprachlichen Ausdruck in beiden Sprachen legt, scheinen für Jana der Inhalt des Gedichtes und der Gebrauch des Polnischen im Zentrum zu stehen. Das Polnische dominiert das Gedicht, das Deutsche wird lediglich punktuell, in Form von Einzelwörtern, integriert. Aus dem Unterrichtsgespräch wird deutlich, dass das Gedicht zunächst lediglich einsprachig vorlag, d. h. nur im Polni‐ schen geschrieben war. Die deutschen Wörter wurden laut Janas Aussage im Unterricht zum Zwecke des besseren Verständnisses eingefügt. Auf die Nachfrage der Lehrerin hin beschreibt Jana die deutschen Wörter in ihrem Gedicht als „the important words“ oder „the words you think you are closer to your family“. Die Aussage ist zwar nicht sehr eindeutig, doch lässt sich daraus schließen, dass Jana solche Wörter auf Deutsch eingefügt hat, die für ihre MitschülerInnen als Verstehenshilfe fungieren sollen und die sie eng mit der polnischen Familie verbindet. Jana hat die Aufgabe als Anlass genommen, sich als Sprecherin des Polnischen zu arti‐ kulieren und damit auf ihre Herkunftssprache aufmerksam zu machen: Sie konstruiert sich als Mehrsprachige gerade durch das Bestehen auf dem Polnischen, durch die umfangreiche Nutzung einer Sprache, die, außer einem Mitschüler, keine andere Person im Klassenraum versteht. Sie begreift deshalb diese Aufgabe als eine Chance, sich beim Schreiben als Pol‐ nischsprecherin zu erfahren und damit ihrer polnischsprachigen Familie näherzukommen. Bei der visuellen Gestaltung des Gedichts ist einerseits auffällig, dass Jana eine tiefe emotionale Beziehung zu ihrer Familie empfindet (siehe das Herz-Symbol am Ende des Gedichtes), und andererseits, dass sie im Gebrauch des Polnischen gewisse Unsicherheiten hat, denn sie hat über einigen polnischen Wörtern die deutsche Übersetzung notiert. Dies lässt vermuten, dass sie beim Schreiben auf die Hilfe ihrer polnischsprechenden Familie angewiesen war und dass das lyrische Schreiben eine Möglichkeit war, sich der Sprache ihrer Kindheit und damit auch ihrer Familie wieder zu nähern (siehe unten). Reflexion der Mehrsprachigkeit Die polnische Sprache bietet für Jana einen Zugang zur Heimat ihrer Familie sowie zum Gefühl von Zusammenhalt und zur Geborgenheit, die sie mit der Sprache verbindet (Code 10e). Um zu verstehen, wie die Aufgabe Jana eine Reflexion über die eigene Mehrsprachigkeit ermöglicht hat und was sie dabei über ihre Beziehung zum Polnischen erfahren hat, werden anschließend Auszüge aus dem Abschlussinterview und aus dem Unterrichtstranskript analysiert. Im Abschlussinterview äußert sich Jana folgendermaßen zur Aufgabe: Ich fand diese Aufgabe am schönsten und am kreativsten von allen und die hat mir auch am besten gefallen. Und dann war das so, dass ich gleich die Gelegenheit genutzt habe, dass es nicht um Spanisch ging, dass ich halt ein bisschen Polnisch einbringen kann. Dadurch, dass meine Familie in Polen lebt, dass ich hier gar keinen habe, keine Bezugsperson habe, habe ich das Thema Familie gewählt, weil mir die Familie in Polen ziemlich wichtig ist. Und dadurch, dass meine Eltern halt auch aus Polen stammen, habe ich halt wieder die Gelegenheit genutzt, dass ich sie halt frage 7 Mehrsprachiges Schreiben 151 <?page no="152"?> und sie mir vielleicht beim Gedichtschreiben helfen, auch bei Wörtern, wo ich jetzt nicht selber komme, weil ich ja im polnischen Sprachgebrauch nicht so gut noch, dass ich sagen kann, ich kann fließend sprechen und schreiben, kann ich noch eher gar nicht leider. Deshalb habe ich halt gedacht, ich nutze dann mal die Gelegenheit und frage meine Eltern und so kam es eigentlich auch zustande und warum ich mein Thema gewählt habe (Hervorhebungen NSt). Die Aufgabe wird von der Schülerin positiv bewertet, da sie in ihr eine Möglichkeit sieht, die im Zusammenhang mit der Chicano/ a-Literatur thematisierte Mehrsprachigkeit auf sich selbst und auf ihre Sprachen zu beziehen (Code 14c). Sie habe „die Gelegenheit genutzt“ (siehe die dreimalige Wiederholung), um Polnisch einzubringen und damit wohl auch „die Erfahrung von Fremdbestimmung“ (Legutke 2007: 133) aufzuheben und sich selbst als Mehrsprachige in den Englischunterricht einzubringen (Code 14 f). Damit ist mögli‐ cherweise auch das Einmalige dieser Gelegenheit gemeint, denn in dem unten zitierten Interview wird deutlich, dass die SchülerInnen bisher wenig Möglichkeiten hatten, sich im Englischunterricht über ihre sprachlichen und kulturellen Identitäten auszutauschen. Das Polnische kann daher „als emotionales Kapital im Hinblick auf die Entwicklung der personalen und auch der familialen, sozialen Identität“ (Krumm 2013: 124) betrachtet werden. Wie auch bei anderen Lernenden mit einer anderen Herkunftssprache (vgl. Kapitel VIII, 6) wird auch hier deutlich, dass das Verhältnis zum Polnischen ambivalent ist: Die Sprache wird als persönlich sehr wichtig erlebt, die Kenntnisse aber werden von den SchülerInnen als unzureichend empfunden, „weil ich ja im polnischen Sprachgebrauch nicht so gut noch, dass ich sagen kann, ich kann fließend sprechen und schreiben, kann ich noch eher gar nicht leider“. Auch wird deutlich, dass die Sprache trotz ihrer persönlichen Relevanz nicht als Teil der unmittelbaren Lebenswelt erlebt wird, weil die Bezugspersonen außerhalb Deutschlands leben. Umso wichtiger erscheint dann die Möglichkeit, diese Sprache und die eigene Mehrsprachigkeit zum Gegenstand des Fremdsprachenunterrichts zu machen. Der folgende Auszug aus dem Unterrichtsgespräch zeigt, wie Jana ihr Gedicht vor dem Kurs präsentiert und wie ihre MitschülerInnen auf dieses persönliche kreative Statement reagieren: 1 L 1 Thank you very much. Are there any questions about any words you are interested in and you couldn't understand? - 2 Lara Ich würde voll gerne wissen, was übersetzt alles heißt. äußert Interesse am Gedicht, Wechsel der Sprache 3 L 1 Then I think it's completely valid that Lara says I would actually like to know all words of the poem. Perhaps we could do it like this. Jana, you read the first line and then either Alex or Jana, you translate it. bezieht Alex mit ein 4 Jana First line: Es gibt keine wichtigen Dinge, die wichtiger sind als die Familie. - 5 Alex Should we do this in English? - 6 L 1 For now, I think it's ok if you translate into in German. Because I know once you switch between two languages positioniert sich als Mehrsprachige 152 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="153"?> sometimes it's more difficult to switch into the third. And so I had plenty of such experiences, that's why it's ok. 7 Alex Zusammen verbrachten wir Mittag, Mahlzeiten und schöne Zeiten miteinander zu verbringen, nette Momente zu erleben/ An allen Feiertagen zusammen zu sein, an Weihnachten, Ostern und an Geburtstagen/ Wir helfen in schweren Zeiten, wir schätzen jeden in der Familie, sogar in den schlimmsten Zeiten/ Wer keine echte Familie hat, der kann nicht wirklich glücklich sein. übersetzt das Ge‐ dicht von Jana 8 Pauline Sehr tiefsinnig. - 9 Lara Ist voll süß. Wo hast du aber …? Sprecht ihr zu Hause Deutsch? 12 10 Jana Nur Polnisch. Meine Eltern können nicht so gut Deutsch. 11a 11 Lara Nur Polnisch? Nicht schlecht. - 12 L 1 Ok, then you started learning German in the kinder‐ garten. (Jana nickt) How should we go on, is there a similar topic? wechselt ins Engli‐ sche 13 Lara Kann ich kurz noch was fragen? Kannst du dich daran erinnern, als du in den Kindergarten kamst und die anderen nicht verstanden hast? bleibt im Deut‐ schen unterbricht noch einmal 12 14 Jana Ne. Ich hab mich eigentlich sofort angepasst. 11b 15 Marina Sie kam so rein: „Hey Leute" (imitiert Zeichensprache) (SchülerInnen lachen) - 16 Jana Ne das nicht, aber ich konnte mich relativ gut an das Deutsche anpassen, das liegt mir ja auch mehr als das Polnische, deshalb. 11b 17 Alex War bei mir auch so. Ich bin auch in den Kindergarten ohne Deutschkenntnisse. 11b 18 Lara Ja? - 19 Alex Nur mit Russisch/ Polnisch-Kenntnissen. 11b 20 L 1 Und wie alt? - 21 Lara Kannst du dich daran erinnern? 12 22 L 1 Wie alt waren Sie, als Sie in den Kindergarten kamen? passt sich an den Gesprächsverlauf an 23 Alex Ich glaube mit zwei … durfte ich nicht mehr. Dann konnte ich laut meinen Eltern Russisch/ Polnisch sprechen, also verstehen, und dann kam ich in den Kindergarten und dann hat sich das so entwickelt. 11b 24 L 1 Und Jana auch mit zwei? - 25 Jana Auch um die zwei so. 11b 7 Mehrsprachiges Schreiben 153 <?page no="154"?> 65 Die Thematisierung mehrsprachiger und mehrkultureller Identitäten von Lernenden im Englisch‐ unterricht kann Englischlehrkräfte vor die Frage stellen, wie viel Raum sie dem Deutschen als Unterrichtssprache und als Reflexionssprache gewähren möchten. Auf diese veränderte Rolle des Deutschen in einem auf Mehrsprachigkeit ausgerichteten Fremdsprachenunterricht haben einige fachdidaktische Arbeiten bereits hingewiesen (vgl. z. B. Königs 2015; Reimann 2016: 21 f.; Reimann 2023). 26 L 1 Ja das ist so ein Alter, da kommt man gut rein. 27 L 1 And Alex at home which language do you speak? wechselt ins Engli‐ sche 28 Alex My parents are divorced so when I am with my father, I speak Russian and with his parents, my grandparents, and with my mother I speak Polish, but I can also speak to both of them in German, but to practice my other language I just speak with them in their language. 11a 29 Alex Gut gemacht, Jana. Wertschätzung 30 Lara Finde ich auch. Wertschätzung Tab. 5: Unterrichtsgespräch zum Gedicht „Familie“ Kennzeichnend für das Unterrichtsgespräch ist die Wertschätzung, die andere Mitschü‐ lerInnen Janas lebensweltlicher Mehrsprachigkeit (und der des Russisch-Polnisch spre‐ chenden Mitschülers) entgegenbringen, sowie ihr wiederholtes Interesse an der Sprach‐ biographie von Jana und Alex (Code 12). Insbesondere Lara möchte mehr über Janas Mehrsprachigkeit erfahren, was sich u. a. auch daran zeigt, dass sie die Lehrerin unterbricht, um Nachfragen bezüglich Janas Herkunftssprache zu stellen (vgl. Ab. 13). Die Lehrerin scheint zunächst primär daran interessiert zu sein, ob die Lernenden Janas Gedicht sprachlich verstehen können, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Lernertext regt nicht die Lehrerin, sondern Lara an. Im weiteren Verlauf des Gesprächs wechseln die SchülerInnen zunehmend ins Deutsche, möglicherweise weil sie sich selbst zum Thema des Gesprächs machen und diese sehr persönlichen Fragen in ihrer nächsten Sprache besprechen. Damit gehen sie über den Rahmen des Englischunterrichts hinaus und über‐ nehmen die Gesprächsführung. Das Verhalten der Lehrkraft zeigt eine gewisse Unsicherheit bezüglich der Frage, ob das Deutsche als Unterrichtssprache erlaubt werden soll. Einerseits positioniert sie sich selbst als Mehrsprachige, indem sie den Gebrauch des Deutschen ‚genehmigt‘, weil sie selbst weiß, wie schwer Sprachenwechsel sein kann („And so I had plenty of such experiences, that's why it's ok“). Andererseits versucht sie immer wieder, durch die zielsprachlichen Impulse das Gespräch im Englischen fortzuführen. Dies könnte als eine Unsicherheit der Lehrkraft gedeutet werden, die einerseits Wertschätzung für die Mehrsprachigkeit ihrer SchülerInnen aufbringen möchte, aber gleichzeitig unentschlossen ist, wie viel Reflexion über Mehrsprachigkeit in den Englischunterricht gehört und ob die Tendenz der Lernenden, ins Deutsche zu wechseln, unterbunden werden soll oder nicht. 65 Die Daten helfen auch zu verstehen, warum Jana durch die Aufgabe eine Selbstbestimmtheit erfährt, die sich in ihrer Sprachenwahl: „habe ich halt wieder die Gelegenheit 154 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="155"?> 66 Darth Vader - fiktive Figur aus den Star-Wars-Filmen. genutzt“ (siehe oben) widerspiegelt. Sie erlebt großes Interesse anderer MitschülerInnen an ihrer Mehrsprachigkeit und den Englischunterricht als einen Raum, in dem ihre Sprachen und ihre Identitäten zum Unterrichtsgegenstand werden. Diesen Raum schafft vor allem Lara mit ihren Rückfragen, aber auch die Lehrerin zeigt sich interessiert an Janas Mehrsprachigkeit. Durch ihr Gedicht regt sie also einen Austausch über Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität an und erleichtert auch anderen SchülerInnen die Teilhabe an dem Austausch, wie in diesem Fall Alex (vgl. Ab. 17, 23, 28). Interessant ist, dass sich Jana durch die Präsentation des Gedichtes und durch den Austausch mit anderen als Mehrsprachige erlebt. Jana thematisiert ihre Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in Bezug auf den Sprachlernprozess (Code 11b) und auf die Verwendung des Polnischen in der Familie (Code 11a). Wie aus ihrer Aussage aus dem Fragebogen B deutlich wird, reflektiert sie das mehrsprachige lyrische Schreiben als eine Möglichkeit, sich ihren MitschülerInnen als Mehrsprachige mitzuteilen (Code 14e). Es sei „eine einmalige Chance […], die polnische Sprache den [Mit]Schülern näher zu bringen“. Es ist also in der Abgrenzung zu anderen SchülerInnen, die nicht lebensweltlich mehrsprachig sind, und gleichzeitig in Interaktion mit ihnen, dass sich Jana als Mehrsprachige erfährt und auch lernt, die eigene Mehrspra‐ chigkeit wertzuschätzen (vgl. Ab. 8, 29, 30). 7.3 Das Gedicht „I want to tell you“ Im Unterschied zu den anderen beiden Gedichten ist „I want to tell you“ kein Gedicht, das die Mehrsprachigkeit der Autorin und die Frage nach unterschiedlichen Rollen von Sprachen thematisiert. Im Zentrum dieses deutsch-englischen Gedichtes steht der kreative und spielerische Umgang mit sprachlicher Form, insbesondere mit dem Reimschema (vor allem Paarreim), aber auch mit Rhythmus, dem unterschiedlichen Klang der beiden Sprachen und mit Wortwiederholungen (Code 10d). Das lyrische Ich wendet sich an ein Gegenüber und möchte ihm oder ihr etwas mitteilen (I want to tell you). Der/ die Adressat/ in wird als etwas unterkühlt und reserviert dargestellt und wird am Ende aufgefordert, die durch das Gedicht offenbarten Emotionen zu erwidern („Sei mal ehrlich diese Zeit hier/ bedeutet nicht nur mir viel“). Das Gedicht scheint emotional und witzig zugleich. In diesem Auszug wird das Gegenüber als „Darth Vader“ bezeichnet und die Nähe zu ihm/ ihr illustriert die Komparation: „we’re sticking together like Patafix glue“. Worte um zu sagen was ich fühle, zwischen uns ist kein Platz für Kühle. You are the imperator, the darkest of all Darth Vader. 66 There is nothing I couldn’t tell you, We’re sticking together like Patafix glue. Doch Du bist mehr als der Leim der mich zusammenhält, Du bist alles was ich will, alles was mir gefällt. 7 Mehrsprachiges Schreiben 155 <?page no="156"?> Das Gedicht wird im Rahmen des Unterrichtsgesprächs nicht reflektiert und auch im Interview äußert sich die Schülerin nicht weiter über diese Aufgabe, sodass der Schaffens‐ prozess nicht aus ihrer Perspektive verfolgt werden kann. Auch wenn das Gedicht das Verhältnis der Schülerin zu den beiden verwendeten Sprachen nicht explizit thematisiert, so könnte dennoch eine Reflexion der eigenen Identität stattgefunden haben. Sie zeigt sich dadurch, dass sich das lyrische Ich in einen Dialog mit dem Gegenüber begibt und versucht, seine Emotionen mitzuteilen und die Beziehung zum Gegenüber zu beschreiben - das Mitteilungsbedürfnis wird bereits im Titel des Gedichtes signalisiert: „I want to tell you“. Das Interessante ist, dass die Schülerin nicht versucht herauszufinden, was das Deutsche und das Englische für sie bedeuten (wie Maria zum Beispiel), sondern diese Aufgabe als Gelegenheit nutzt, um ein emotionales und zugleich unterhaltsames Gedicht zu verfassen, in dem ihre Aufmerksamkeit eher der Form gilt. Diese Aufmerksamkeit für die Form ist sicherlich dem Genre der Lyrik geschuldet, aber auch der Präsenz von zwei Sprachen, die die Schülerin geschickt zu einem Ganzen zusammenfügt. In vielen Studien wird die Fähigkeit zu language play, d. h. zu kreativem, ungewöhnlichem und spielerischem Umgang mit Sprache, mehrsprachigen Individuen zugeschrieben (vgl. Pomerantz & Bell 2007). So könnte man argumentieren, dass das vorgegebene Genre und der Auftrag, beim Schreiben zwei Sprachen zu verwenden, die Schülerin ermutigt haben, einen Text zu schreiben, der keinem bestimmten Unterrichtszweck dient, sondern eher für Unterhaltung sorgt und einen humorvollen Effekt hat. Dieses Gedicht steht für eine Sensibilität der Schülerin für ungewöhnliche Sprach- und Wortkombinationen und für ihre ganz subjektive Nutzung des symbolischen Gehalts von Wörtern. Erst die Präsenz zweier Sprachen, und dadurch eines höheren symbolischen Gehalts, macht dieses Sprachenspiel möglich. In dem Moment, in dem die SchülerInnen mit mehreren Sprachen kreativ und selbstbestimmt umgehen können, verwandeln sie Sprache in eine Ressource, die ihnen symbolic power verleiht: „Subjective use of language removes individuals from here-and-now responsibilities, allowing for play, irony, distance, and the integration of language into a freer realm of subjective perceptions and meanings - the realm of the trickster.“ (Kramsch 2009: 43) Die hier untersuchten Lernertexte suggerieren, dass die Aufgabe zum mehrsprachigen lyrischen Schreiben die SchülerInnen auf mehreren Ebenen herausgefordert hat: als Individuen, die ihre Sprachen emotional erleben und bestimmte Erinnerungen bzw. Erfahrungen mit ihnen verbinden, sich diese Verbundenheit mit ihren Sprachen beim Schreiben bewusst machen und durch den kreativen Umgang mit sprachlicher Form auch ästhetisch zum Ausdruck bringen. Schließlich bietet die Vorstellung des Gedichtes im Plenum den Lernenden die Möglichkeit, sich vor ihren MitschülerInnen und der Lehrerin neu zu definieren und sich als Mehrsprachige zu positionieren. Am Beispiel von Jana wurde deutlich, dass sie sich als Mehrsprachige erlebt, indem sie sich vor der Folie ihrer nicht lebensweltlich mehrsprachigen MitschülerInnen betrachtet und von ihnen Wertschätzung erfährt. Die Gespräche über Identität und Sprache, die sich im Anschluss an die Vorstellungen der Gedichte ergeben, sind für die Lernenden von höchster persönlicher Relevanz. Alle Lernertexte zeugen von einer Appropriationsleistung der Schülerinnen, die sich die schulbezogene (und damit zunächst einmal fremdgesteuerte) Aufgabe zum lyrischen Schreiben zu eigen machen und auf sich selbst beziehen. Sie durchdenken ihre 156 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="157"?> Subjektivität ausgehend von der Sprache (Was bedeuten diese Sprachen für mich? ) und sie tun es mittels Sprache, denn sie nutzen die sprachliche Form (das Polnische oder das Englische), um etwas über sich selbst zu sagen. Für Widdowson (1993: 384) ist die Fähigkeit der Lernenden, sich die Fremdsprache zu eigen zu machen, um etwas über sich mitzuteilen, von zentraler Bedeutung für das fremdsprachliche Lernen: „[Y]ou are proficient in a language to the extent that you possess it, make it your own, bend it to your will, assert yourself through it rather than simply submit to the dictates of its form“. 8 Retrospektive Betrachtung der Unterrichtseinheit aus Schüler- und Lehrersicht Dieser retrospektive Blick auf die Unterrichtseinheit stützt sich auf die Daten, die im Rahmen des nach der Einheit ausgeteilten Fragebogens B und im Rahmen der retrospek‐ tiven Interviews mit Lehrenden und Lernenden erhoben wurden. Strukturiert wird das Kapitel durch die Antworten auf dem Fragebogen, d. h. es werden die Themen bzw. Aufgaben der Unterrichtseinheit thematisiert, die von Lernenden selbst angesprochen wurden, weil sie ihnen besonders gefallen oder nicht gefallen haben (siehe Frage 1) oder weil sie ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind (Frage 2). Durch die Offenheit der Fragen ist davon auszugehen, dass Lernende hier Aspekte genannt haben, die für sie besonders relevant waren und an die sie sich auch nach der Unterrichtseinheit noch erinnern konnten. 8.1 Reaktionen auf den mehrsprachigen literarischen Text Da der mehrsprachige Roman Caramelo im Zentrum der Unterrichtseinheit stand, ist zunächst die Frage zu stellen, wie die Lernenden auf den Roman reagieren, ob und wie sie einen Zugang zu ihm finden und inwiefern sie seine Mehrsprachigkeit thematisieren. Dem literarischen Text kommt bei der Reflexion der Unterrichtseinheit eine zentrale Rolle zu. Er wird in 9 von 14 Schüleraussagen thematisiert (siehe Frage 1, Fragebogen B), von denen hier nur einige exemplarisch ausgewählte Schülerantworten zitiert werden sollen: Ich fand es interessant, einen mehrsprachigen Text zu lesen, wobei er nicht so viele unbekannte Wörter enthalten hat, wodurch er immer noch recht einfach war. (KACH08) (13a) Ich fand den Bezug zu Personen aus dem Roman interessant. (IRHE10) (13b) Die Arbeit am Roman hat mir gut gefallen. Allerdings gefällt mir die Arbeit mit Sprachen generell. (BADI07) (13c) Ich fand das Thema recht interessant, da ich solchen Unterricht noch nie zuvor so erlebt habe. Der Romanauszug war eine gute Idee, um sich in das Thema einzufinden und es war auch angenehm, sich weiter mit der spanischen Sprache auseinanderzusetzen. (GUFR09) (13c, 13d) Mir hat der Roman sehr gut gefallen, da man einiges über die Sprachen und ihren Gebrauch lernen konnte. Außerdem war es interessant, etwas über mehrsprachige Menschen zu erfahren. (PEEL01) (13c, 13b) 8 Retrospektive Betrachtung der Unterrichtseinheit aus Schüler- und Lehrersicht 157 <?page no="158"?> Die Lernenden der hier abgebildeten Aussagen stellen sehr unterschiedliche Aspekte des Romans in den Vordergrund. Für eine Schülerin, die kein Spanisch beherrscht (KACH08), ist die Verständlichkeit des Romans zentral - sie wird hier positiv bewertet. Für die Schülerin, die Spanisch auch in der Oberstufe als zweite Fremdsprache weiterlernt (GUFR09), ist die Präsenz des Spanischen „angenehm“. Auffällig ist, dass der Umgang mit Sprache und die Mehrsprachigkeit zentral zu sein scheinen - der Roman wird positiv bewertet, weil er etwas über Sprache(n) aussagt. Ein anderer interessanter Hinweis ist, dass die Lernenden einen Bezug zu Mehrsprachigkeit vor allem über die Romancharaktere entwickeln (vgl. IRHE10, PEEL01), was grundsätzlich dafürsprechen würde, dass mehrsprachige Literatur (im Gegensatz zu Sachtexten) das Potenzial besitzt, Lernenden die Anteilnahme am Leben mehrsprachiger Menschen zu ermöglichen. Dies ist offensichtlich ein Zugang, den SchülerInnen interessant finden, weil sie mehr über mehrsprachige Menschen „erfahren“ können. Besonders interessant erschien die von der Person mit dem Code GUFR09 vorgenom‐ mene Kontrastierung der Unterrichtseinheit zu Caramelo mit dem bisherigen Unterricht („da ich solchen Unterricht noch nie zuvor so erlebt habe“), sodass die Schülerin im Interview zu dieser Aussage nochmals befragt wurde: 1 I Ich verstehe nicht so ganz, warum es den Rahmen gesprengt hat. Sie haben über einen Roman geredet, den Sie gelesen haben. Was war so ungewöhnlich? - 2 Pauline Einmal dieses Bilinguale, das hatten wir noch nie behandelt, also im Spanischunterricht auch nicht, also generell nicht. Also ich habe auch geschrieben, ich fand das richtig interessant, so diese zwei Sprachen und auch in dem Roman. Ich fand den an sich auch richtig interessant… 13c 13d 3 I Was fanden Sie besonders interessant? - 4 Pauline Die Erzählweise. Das sind drei Abschnitte praktisch. Wie sie das zuerst erzählt als sie klein ist, dann als die Oma stirbt, dann ist es so ein bisschen ihre Story und dann, wenn sie noch mal ein Teenager ist. So diese Perspektiven, fand ich ziemlich interessant. Und dann natürlich mit den spanischen Wörtern finde ich cool. 13d Tab. 6: Interview mit den SchülerInnen zur Gesamtbewertung des Romans Caramelo Pauline bewertet den Unterricht als ungewöhnlich: zum einen, weil das Thema Mehrspra‐ chigkeit noch nie zuvor im Fremdsprachenunterricht behandelt wurde, und zum anderen, weil der Roman eine besondere Gestaltung aufweist, und zwar sowohl was seine Mehrspra‐ chigkeit angeht als auch seine narrative Gestaltung. Dies ist insofern bemerkenswert, als in diesem Kurs nur solche Ausschnitte aus Caramelo gelesen wurden, die Celayas Geschichte betreffen, sodass die Schülerin entweder freiwillig den Roman weitergelesen hat oder aber darüber selbstständig recherchiert hat. Die Aussage von Pauline ist als individuelle Reaktion auf den Roman zu interpretieren. Sie lässt dennoch die Vermutung zu, dass der mehrsprachige Roman möglicherweise insbesondere für die Lernenden interessant sein könnte, die, wie Pauline, sowohl Spanisch als auch Englisch gelernt haben oder lernen. Dies deckt sich mit der Einschätzung der Lehrerin, die im Abschlussinterview erhoben wurde: 158 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="159"?> Darüber hinaus ist mir aufgefallen, dass es für die Schüler, das ist jetzt unabhängig von Englisch, für die Schüler, die Spanisch hatten, durchaus ein Anreiz ist, nachzuschlagen, was bedeuten diese Wörter wirklich. Nicht einfach so zu raten, was denke ich den Schülern, die kein Spanisch haben, reicht und durchaus in dem Kontext ausreichend ist. Wir hatten einige Schüler, […] die dann eigentlich das Internet konsultiert haben, weil sie wissen wollten, was diese Wörter bedeuten und ich denke, das zeigt doch auch, dass dieses Buch durchaus ein Anreiz sein kann für Schüler mit Englisch und Spanisch, weiter zu lernen. (L 1, Interview nach der Einheit) Interessanterweise sieht die Lehrerin den Lerneffekt für diese Gruppe von Lernenden vor allem in der Wortschatzarbeit beim mehrsprachigen Lesen. Die sprachliche Arbeit scheint aber für die Lernenden selbst eine untergeordnete Rolle zu spielen, denn sie wird weder in den Aussagen auf dem Fragebogen B (siehe oben) noch im Abschlussinterview erwähnt. Auch wenn die Spanischlernenden in sprachlicher Hinsicht sicherlich mehr von der Arbeit mit Caramelo profitieren konnten, lässt sich aus den Aussagen auf dem Fragebogen B schließen, dass Spanischkenntnisse nicht ausschlaggebend für das Interesse am Roman sind, denn der Abgleich der Codes zeigt, dass sich sowohl Lernende mit als auch ohne Spanischkenntnisse positiv zur Unterrichtseinheit äußern. Die Lernenden sind primär an einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit interessiert, finden Zugang über die mehrsprachigen Charaktere oder reflektieren die mehrsprachige Gestaltung des Romans. Was die Aussagen auf dem Fragebogen B ebenfalls suggerieren, ist, dass Lernende bei der Frage, ob ihnen die Einheit gefallen hat oder nicht, eine zentrale Rolle dem mehrsprachigen literarischen Text zuweisen, der in 9 von 14 Schüleraussagen thematisiert wird. Inwieweit sich Lernende auf das Nachdenken über Sprachgebrauch und Mehrsprachigkeit einlassen, scheint in starkem Maße davon abhängig zu sein, ob sie sich durch die Inhalte bzw. die Texte, die die inhaltliche Grundlage dafür bieten, angesprochen fühlen. 8.2 Mehrsprachiges Schreiben Das zweite prominente Thema auf dem Abschlussfragebogen ist das Verfassen von mehr‐ sprachigen Gedichten. Auf die Frage „Welche Aufgaben oder Themen aus der Unterrichts‐ einheit sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben? “ thematisieren sechs von insgesamt zwölf Antworten die Aufgabe zum kreativen Schreiben, womit das lyrische Schreiben die am häufigsten als positiv bewertete Aufgabe darstellt: Die Werbeslogans (zweisprachig) zu bearbeiten. Auch mochte ich am Ende jetzt die Gedichte. (COST02) Mit Leuten arbeiten, die kein Spanisch können, fand ich besonders spannend und die Gedichte auf zwei Sprachen fand ich auch richtig gut. (SILU03) Die Aufgabe, wo wir ein eigenes Gedicht schreiben sollten, da das eine einmalige Chance war, die polnische Sprache den Schülern näher zu bringen. (NATO12) (14e) Das Verfassen eines bilingualen Gedichts, da das sehr lustig und interessant war. (REMA03) 8 Retrospektive Betrachtung der Unterrichtseinheit aus Schüler- und Lehrersicht 159 <?page no="160"?> Das Buch, was wir gelesen haben, die Bildbeschreibungen, wo es um Werbung ging, die mehrspra‐ chig ist und das Gedicht. (PEEL01) Besonders die letzte Aufgabe ist mir positiv in Erinnerung geblieben, da wir durch das Schreiben eines bilingualen poems dem Thema auf künstlerische Weise begegnen konnten. (CHHA11) (14b) Die Gründe, warum Lernende die Aufgabe zum lyrischen Schreiben „richtig gut“ finden, sind vielfältig: Für eine Schülerin ist dies die „einmalige“ Möglichkeit, ihre Herkunfts‐ sprache den MitschülerInnen „näher zu bringen“ (und damit auch sich selbst als Mehr‐ sprachige vor anderen zu erfahren), für andere ist ein mehrsprachiges Gedicht „lustig“ - vermutlich aufgrund der spezifischen Dynamik, die durch das code-switching entsteht. Für eine/ n andere/ n SchülerIn ist es die Möglichkeit, sich im Rahmen einer kreativ-ästhetischen Form auszudrücken, die diese Aufgabe so attraktiv macht. Die Aufgabe stößt aber nicht nur bei den Lernenden auf positive Reaktionen, sondern auch bei der Lehrerin. Auf die Frage hin „Welche Stunden/ Aufgaben/ Themen sind Ihnen positiv in Erinnerung geblieben? “ gibt die Lehrerin die folgende Antwort: Also positiv fand ich heute die Gedichte. Das hat mich gefreut, dass die Schüler, die darauf eingegangen sind, doch recht kreativ mit dem Thema umgegangen sind und dass wir auch eine Sprachvariation haben. Also Deutsch-Englisch lag natürlich auf der Hand, aber dass es auch Schüler gab, die ihre erste Sprache oder Muttersprache dann mit Deutsch abgewechselt haben. (L 1, Interview nach der Einheit) Besonders scheint sich die Lehrerin daran zu erfreuen, dass es auch Lernende gab, die ihre Herkunftssprache in die Gedichte miteinbezogen haben. Es bleibt allerdings offen, ob sie die Präsenz verschiedener Sprachen im Gedicht positiv bewertet oder die Tatsache, dass auch Herkunftssprachen - neben den an der Schule erlernten Fremdsprachen - Eingang in den Englischunterricht finden. Um die Gründe für die positiven Reaktionen auf das lyrische Schreiben genauer zu untersuchen, lohnt sich ein Blick in das Abschlussinterview, das nach dem Ende der Unterrichtseinheit mit den SchülerInnen des Leistungskurses geführt wurde. Zum besseren Verständnis soll angemerkt werden, dass dem Gespräch eine Passage vorausgeht, in welcher sich die SchülerInnen kritisch zum Englischunterricht äußern, ihn allgemein als unterfordernd empfinden, woraufhin die Frage nach ihrer Definition von ‚fordern‘ folgt: 1 I Und was heißt ‚fordern‘ für Sie? - 2 Matthias Na ja, dass man halt ein bisschen schwierigere Aufgaben und andererseits halt mehr Aufgaben halt kriegt. Zur‐ zeit machen wir immer … Ich muss sagen, ich finde den Unterricht ein bisschen langweilig im Endeffekt. Weil wir dann halt viel erstmal Gruppenarbeit und dann tragen wir vor, was wir gemacht haben… […] - 3 Marina Aber und das fand ich auch bei dem Gedicht ganz gut. Ich fand dieses Gedicht … Also für mich persönlich war das auch noch mal so ein Reflektieren über die Gedanken, die du dir selber zu diesem Thema Zweispra‐ chigkeit gemacht hast und ich finde das machen wir halt sehr selten. Bei uns ist immer so ein Nachreden von 14c 14f Marina erwähnt selbst das Gedicht als Kontrast zum „Nachreden“ im 160 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="161"?> 67 Die Fettmarkierung wurde bei den Textstellen vorgenommen, die für die Kodierung ausschlaggebend waren. dem, worüber wir gerade reden und dann sagt jeder das Gleiche noch mal, aber ich fand, das war… Da kam es wirklich zu neuen Ergebnissen und das macht den Unterricht auch spannend, wenn man zu neuen Ergebnissen kommt. 67 regulären Eng‐ lischunterricht 4 Lara - Das mit dem Nachreden finde ich auch extrem, also manchmal ist es man soll sagen, was im Text stand und versucht man es extra so mit den eigenen Wörtern wiederzugeben und dann sagt sie so: Ja, ok … Dann sagt es jemand anders, was im Text steht und dann schreibt sie das an. Dass man sich gar nicht selbst so … (SchülerInnen im Hintergrund: Ja, so ein plumpes Nachplappern) Gar nicht selbst irgendwie denkt, also nicht gar nicht, aber selten. Dass man denken muss und vielleicht auch irgendwie in eine andere Richtung denken kann. […] Wenig aktive Mit‐ gestaltung, eigen‐ ständiges Denken im Englischunter‐ richt 5 I- Das verstehe ich natürlich, aber ich kann Ihnen nicht so viel dazu sagen. (SchülerInnen: Ja klar…) Das sollten Sie mit L 1 besprechen. Ich möchte darauf zurückkommen, was Marina gesagt hat. Dieses Gedicht. Da wollte ich eigentlich später dazu kommen, aber wir machen es jetzt. Und da haben Sie was sehr Spannendes gesagt. Man hatte da die Gelegenheit, zu reflektieren, was Zwei‐ sprachigkeit oder Mehrsprachigkeit für einen selbst heißt. Stimmen da die anderen zu? Ich würde gerne wissen, wie haben Sie Ihr Thema und Ihre Sprachen ausgewählt? - 6 Maria - Ich finde allgemein, wenn man Gedichte schreibt, be‐ wegt man sich in einem weniger begrenzten Spektrum von Ausdrucksmöglichkeiten. Wenn uns Fragen gestellt werden und man muss bestimmte Antworten darauf geben, sage ich mal, oder man kann natürlich überlegen, was man sagen möchte, aber man muss immer in diesem begrenzten Raum bleiben. Wenn man sich auf künstlerische Weise ausdrückt, dann hat man die Möglichkeit, auch bezüglich dieses Themas … ja sich vielfältiger auszudrücken, abstrakter und vielleicht fällt einem dadurch auch, bekommt man dadurch auch Erkenntnisse über sich selbst, weil man es ja (unverständlich). Bei mir war das so, bevor ich das Gedicht geschrieben habe, also … Ich habe noch nie in der Hinsicht über meine, also die zwei Spra‐ chen, die ich jetzt am ehesten spreche (Deutsch und Englisch), nachgedacht und deswegen war es für mich schon … eine gute Erfahrung, die auf Dauer auch anderen Leuten Gutes bringen wird. Natürlich muss man dann gucken, wer einen Zugang hat zu dieser Ausdrucksweise. Kann ja sein, dass andere Leute sagen, also ich habe das schon gehört, dass die, die das nicht kennen, es vielleicht nicht so mögen. 14b 14c 14a 7 I- Hm… Und was haben Sie dabei über sich selbst und Ihre Sprachen gelernt? - 8 Retrospektive Betrachtung der Unterrichtseinheit aus Schüler- und Lehrersicht 161 <?page no="162"?> 8 Maria - Ich habe noch nie so differenziert zu: Wozu brauche ich meine Sprachen oder meine englische Sprache, jetzt nicht im ganz direkten Sinne, wie ich brauche Englisch, wenn ich in der Schule sitze oder wenn ich Interviews von den Schauspielern höre oder wenn ich Fernsehen gucke oder so… Also das sind diese direkten Situationen, die man im Alltag hat, aber es gibt ja auch, wenn man jetzt guckt … übergreifend… wo es da Unterschiede gibt …. habe ich jetzt differenzierter als vorher. Habe ich erst danach festgestellt, dass ich eben Deutsch und Englisch lerne seit ich klein bin und damit aufgewachsen bin und immer in diesem Prozess war durch mein Vokabular sage ich mal … Ja also …. Dadurch, dass es nicht meine Muttersprache ist, aber dadurch, dass ich eben lese, Literatur lese, dadurch es irgendwie erweitert wird, aber dadurch, dass es eben größer ist und irgendwie näher zu mir steht, es ei‐ gentlich eher meine Innersprache ist als Englisch, wie man es auch erwarten könnte. […] 14a 9 Lara Also bei mir war es ganz anders als bei Maria. Also ich wollte überhaupt nicht dieses Gedicht schreiben, weil ich… Eigentlich bin ich nicht so ein Freund vom kreativen Schreiben, was so ein bisschen komisch ist, aber ich mag Sprachen wirklich gerne, aber na ja … Es hat mir letztendlich doch Spaß gemacht, weil gerade so ein bisschen das Thema… Ich habe halt so darüber nachgedacht, wozu brauche ich also eigentlich Englisch und das ist halt eigentlich bei Reisen sehr hilfreich und ich finde… Es geht halt nicht nur so ums sich Verständigen, sondern vielmehr begreifen können, wenn man sich verständigen kann und das ist halt eine Sache, wo ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufen sollte, weshalb ich eigentlich Englisch lerne und warum ich es lernen möchte. Dass man irgendwie diese Möglichkeit hat und das ist auch der Grund, warum ich den Englisch-Leistungskurs gewählt habe. Fiel mir jetzt nicht schwer, aber ich wollte es echt eigentlich … so gut wie möglich lernen und weiterkommen, damit man richtig so klarkommen kann und (lacht) auf sich gestellt ist in der Welt. Natürlich ist das die Voraussetzung. Ich finde dadurch, dass ich dieses Thema gewählt habe, was mir ja sehr am Herzen liegt, Reisen und mit Menschen reden, dadurch hat es mir auch ziemlich Spaß gemacht, das Gedicht zu schreiben. 14a Tab. 7: Interview mit den SchülerInnen zur persönlichen Bewertung des mehrsprachigen Schreib‐ prozesses An den Kodierungen ist zu erkennen, dass sich die Lernenden einerseits darüber äußern, warum sie die Aufgabe zum lyrischen Schreiben im Gegensatz zum regulären Englisch‐ unterricht als positiv empfinden, und andererseits darüber Aussagen machen, wie sie ihre eigene Mehrsprachigkeit im Zuge der Aufgabe reflektieren. Das lyrische Schreiben scheint für die Lernenden eine wichtige Rolle bei der retrospektiven Reflexion der Un‐ terrichtseinheit zu spielen, denn die Aufgabe wird von Marina selbst in das Gespräch eingebracht und mit dem gewöhnlichen Englischunterricht, der auf die Reproduktion, 162 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="163"?> das „Nachreden“, ausgerichtet sei, kontrastiert (Ab. 3). Das lyrische Schreiben habe den Lernenden ermöglicht, selbstständig und auch bewusst anders zu denken und so zu „neuen Ergebnissen“ zu kommen. Wie bereits bei der Analyse des Gedichtes von Jana deutlich wurde, wird diese Aufgabe als eine Möglichkeit empfunden, die „Erfahrung von Fremdbestimmung“ (Legutke 2007: 133) aufzuheben und Selbstbestimmung zu erfahren. Insbesondere die lyrische Form bietet für Maria ein „weniger begrenzte[s] Spektrum von Ausdrucksmöglichkeiten“, sodass sich nicht nur durch das kreative Schreiben, sondern auch durch das gewählte Genre für die SchülerInnen die Möglichkeit bietet, über ihre Mehrsprachigkeit selbstständig nachzudenken und ihre Erkenntnisse in einer Form zum Ausdruck zu bringen, die ihren höchst individuellen Lern- und Reflexionsprozessen gerecht wird. Dass ein solcher Lernprozess stattgefunden hat, wird von den SchülerInnen explizit thematisiert. Das Schreiben führte zu „neuen Ergebnissen“ und die SchülerInnen erlangten neue „Erkenntnisse über sich selbst“ (vgl. Ab. 3, 6). Interessant ist außerdem Marinas Aussage, diese Aufgabe beinhalte „ein Reflektieren über die Gedanken, die du dir selber zu diesem Thema Zweisprachigkeit gemacht hast“ (Ab. 3). Das mehrsprachige lyrische Schreiben hat für die Schülerin möglicherweise die Gelegenheit geboten, eigene Gedanken, die sie im Verlaufe der Unterrichtseinheit mit Caramelo zum Thema Mehrsprachigkeit entwickelt hat, zum Ausdruck zu bringen und zu verarbeiten. Die Schülergedichte könnten daher die Lern- und Reflexionsprozesse widerspiegeln, die bei den SchülerInnen im Verlaufe der Unterrichtseinheit stattgefunden haben und die sie im Unterrichtsgespräch möglicherweise nicht angemessen zum Ausdruck bringen konnten. Wie aus Laras Aussage deutlich wird, ist das kreative lyrische Schreiben nicht für alle SchülerInnen gleich motivierend: „Eigentlich bin ich nicht so ein Freund vom kreativen Schreiben“ (Ab. 9). Die Schülerin habe aber die Aufgabe trotzdem mit Freude gemacht, weil ihr das Thema und ihre Sprachen „am Herz lieg[en]“. Was sie ansprechend findet, ist nicht so sehr das kreative Schreiben oder die lyrische Form, sondern der Gegenstand des Gedichtes - ihre Erfahrungen mit Englisch und Deutsch. Über diese Erfahrungen zu reflektieren mache nicht nur Spaß, es sei auch sinnvoll, sich daran zu erinnern, warum man eine Sprache lernt (Ab. 9). Bereits die Formulierung von Lara, man solle sich immer wieder „ins Gedächtnis rufen“, warum man Englisch lernen möchte, zeigt, dass die Schülerin nicht nur darüber reflektiert hat, was ihr Englisch und Deutsch als Sprachen bedeuten, sondern auch, warum es lernförderlich sein könnte, im Unterricht darüber nachzudenken. Auch bei anderen SchülerInnen finden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass sie sich im Rahmen dieser Aufgabe intensiv mit der Frage auseinandergesetzt haben, was ihre Sprachen für sie bedeuten und welche Erfahrungen sie damit verbinden. Die Reflexion der eigenen Mehrsprachigkeit betrifft die (unterschiedliche) emotionale Nähe zu den Sprachen (Maria, Ab. 8), den eigenen Lernprozess und den Spracherwerb (Literatur lesen, um Wortschatz zu erwerben), aber auch die eigene Motivation, die Sprache zu lernen (Sprachkenntnisse helfen, in der Welt selbstständig klarzukommen, Ab. 9). Das Ergebnis des Reflexionsprozesses ist bei Lara die Erkenntnis, dass ihr das Englischlernen wichtig ist, weil sie das Können dieser Sprache zum selbstbestimmten Handeln befähigt und ihr ermöglicht, den Aktivitäten nachzugehen, die ihr „am Herzen lieg[en]“ - Reisen und mit Menschen reden. Beim lyrischen Schreiben erhält Lara also die Möglichkeit, das Englische nicht mehr (nur) als Schulfach zu betrachten, sondern sich zu fragen, mit welchen neuen 8 Retrospektive Betrachtung der Unterrichtseinheit aus Schüler- und Lehrersicht 163 <?page no="164"?> Möglichkeiten und Erfahrungen sie diese Sprache ausstatten kann, welche „sources of personal fulfillment“ (Kramsch 2009: 18) somit der Lernprozess eröffnen kann. Sowohl Maria als auch Lara kommen am Ende zur Schlussfolgerung, dass der Sprachlern‐ prozess mit ihrer Identitätsentwicklung eng verknüpft ist und dass ihre Englischkenntnisse wichtige Ressourcen zur persönlichen Weiterentwicklung darstellen. Der Sprachlernpro‐ zess resultiert für Maria in einer sprachlichen und emotionalen Weiterentwicklung, für Lara in der Befähigung, am gesellschaftlichen Leben selbstständig in einer Fremdsprache teilzunehmen. Die Erkenntnis der SchülerInnen darüber, dass das Englischlernen dazu befähigen kann, an persönlich relevanten Mitteilungs- oder Aushandlungsprozessen zu partizipieren, ist ein wichtiger Schritt für die Sprachbildung (vgl. auch Schröder 2012: 39). Zu dieser Erkenntnis gelangen die SchülerInnen, weil sie die Aufgabe zum mehrsprachigen lyrischen Schreiben als persönlich relevant erleben und in ihr die Möglichkeit sehen, sich kreativ und selbstbestimmt auszudrücken und sich damit ihren beiden Sprachen gegenüber zu positionieren. Küster (2007: 55) argumentiert, dass gerade solche Aufgaben und Gegenstände, die „einerseits Komplexität erfahrbar werden lassen, zugleich aber zu einer subjektiven Posi‐ tionierung einladen“, dafür geeignet sind, Bildungsprozesse im Fremdsprachenunterricht zu fördern. Dies könnte auch auf die Aufgabe zum lyrischen Schreiben zutreffen, da sie einerseits die eigene Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität der Lernenden in der Fremdsprache erfahrbar macht und andererseits durch den ästhetischen Gebrauch der Sprachen dazu einlädt, über das eigene Verhältnis zu Sprachen und Kulturen zu reflektieren und dadurch „Erkenntnisse über sich selbst“ zu gewinnen. 9 Fazit Rückblickend auf die in der Einleitung formulierten Fragen kann festgehalten werden, dass sich Lernende in alle Phasen des mehrsprachigen Leseprozesses mit ihrem Wissen, Einstellungen und Erfahrungen über Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität aktiv einge‐ bracht haben, wobei diese vor dem Hintergrund der literarischen Texte vielfach erweitert und korrigiert wurden. Beim Entschlüsseln des mehrsprachigen Textes aktivierten die SchülerInnen ihr sprachliches Wissen, ihr Weltwissen sowie ihr literarisches Wissen und lernten, ihre verschiedenen Vorgehensweisen beim Entschlüsseln zu koordinieren und sich gegenseitig zu helfen. Die Auszüge aus dem Vorwort illustrieren außerdem, dass die in den Aussagen vertretenen SchülerInnen die dort zum Einsatz gekommenen Strategien auch bei der selbstständigen Lektüre angewandt und weiter ausdifferenziert haben. Bei der Begegnung mit den mehrsprachigen Charakteren wurde an mehreren Stellen deutlich, wie Lernende ihre Vorstellungen von Mehrsprachigkeit und ihre eigenen Erfahrungen als Mehrsprachige auf den Text übertragen und dadurch lernen, ihre eigene mehrsprachige Erziehung zu hinterfragen und ihr Vorverständnis über Mehrsprachigkeit neu zu denken. Sie begegneten Mehrsprachigkeit auf unterschiedlichen Ebenen: auf der sprachlichen Oberfläche beim Dekodierungsprozess, als literarisches Darstellungsverfahren, als indivi‐ duelle Erfahrung mehrkultureller Romanfiguren und als kollektives Merkmal bestimmter gesellschaftlicher Gruppierungen. Deutlich wurde aber auch, dass bei all diesen Begeg‐ 164 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="165"?> nungen mit der Mehrsprachigkeit des Chicano/ a-Romans die persönliche Relevanz von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität eine entscheidende Rolle für die SchülerInnen spielte. Insbesondere beim mehrsprachigen Schreiben berichteten die Lernenden, „zu neuen Ergebnissen“ über sich selbst gekommen zu sein. Wie aus dem retrospektiven Interview deutlich wurde, vermissen Lernende solche Lernsituationen im Englischunterricht und wünschen sich mehr Gelegenheiten, um ihre sprachlichen und kulturellen Identitäten zu thematisieren. Auch einige fremdsprachendidaktische Studien formulieren die Erkenntnis, die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der SchülerInnen und ihre sprachlich-kulturellen Identitäten spielen kaum eine Rolle im Fremdsprachenunterricht, obwohl sie für die Lernenden selbst „zentrale Kategorien“ darstellen (Hu 2010: 67, vgl. außerdem Budde 2015; Elsner 2015: 83-ff.; Hu 2003). Das Nachdenken über eigene Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit fand stets vor dem Hintergrund des mehrsprachigen Romans statt, sodass eine aufmerksame Auseinanderset‐ zung mit den mehrsprachigen Verfahren der literarischen Texte häufig die Voraussetzung war, um der eigenen Mehrsprachigkeit Ausdruck verleihen zu können. Beim Schreiben der mehrsprachigen Gedichte orientierten sich die Lernenden stark an der generischen Vorlage „She“ oder an den zuvor erarbeiteten Funktionen und Wirkungen des literarischen Sprachenwechsels, um zu entscheiden, wann sie welche Sprache beim mehrsprachigen Schreiben gebrauchen. Ob und inwieweit sich die Lernenden als Mehrsprachige wahr‐ nehmen oder hinterfragen, könnte u. a. auch davon abhängen, ob sie sich in den Figuren des Romans wiedererkennen. Dies wurde anhand des Beispiels von Gizem deutlich, die durch die Identifikation mit der Protagonistin von Caramelo ihre eigene mehrsprachige Er‐ ziehung hinterfragte. All diese Beobachtungen machen deutlich, welch wichtige Rolle dem mehrsprachigen literarischen Text bei der Sensibilisierung der Lernenden für die eigene Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität zukommt. Die Antworten auf dem Fragebogen B suggerieren, dass die SchülerInnen insbesondere über die mehrsprachigen Romancharak‐ tere einen Zugang zur (eigenen) Mehrsprachigkeit finden, indem sie darüber nachdenken, wie die Figuren ihre Mehrsprachigkeit in dem spezifischen sozio-politischen Kontext der 1960er Jahre in den USA erleben. Des Weiteren kommt es bei der Betrachtung des Romans darauf an, wie der Sprachenwechsel als literarisches Verfahren genutzt wird, d. h. wie Sprachen miteinander ästhetisch verwoben werden. Die mehrsprachigen Lernertexte zeigen, dass die SchülerInnen die Ästhetik der mehrsprachigen Texte imitieren bzw. erst durch die Aufgabe, ihren Gedichten eine mehrsprachige Ästhetik zu verleihen, darüber reflektieren, warum und wie die verschiedenen Sprachen für sie bedeutsam sind. Welche Art von Wissen, Erfahrungen oder Strategien die SchülerInnen im Umgang mit literarischer Mehrsprachigkeit aktivieren, scheint nicht nur vom literarischen Text selbst, sondern auch von den Aufgaben und methodischen Zugängen zum Roman abzu‐ hängen. Da im Rahmen dieser Studie die Lernenden zum formbezogenen und inhaltlich orientierten Umgang mit Mehrsprachigkeit gleichzeitig ermutigt werden sollten, stellte sich bei der Unterrichtsplanung häufig die Frage nach den passenden Aufgabenformaten, die einerseits die sprachliche und die ästhetische Dekodierung des Sprachenwechsels unterstützten und andererseits die inhaltliche Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit als individuelle und kollektive Erfahrung anregten. Ein solches Format bot die Aufgabe zum Verfassen des Vorwortes. Sie diente einerseits zur Wahrnehmung und Reflexion des 9 Fazit 165 <?page no="166"?> eigenen mehrsprachigen Dekodierungsprozesses und bot andererseits die Möglichkeit, die verschiedenen Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit zu diskutieren. Eine weitere methodische Erkenntnis betrifft die von den Lernenden intensiv diskutierte Aufgabe zum kreativen mehrsprachigen Schreiben. Die lyrische Form bewährte sich aufgrund der starken Verdichtung von Sprache und eines genau durchdachten ästhetischen Umgangs mit Mehrsprachigkeit als eine gute Möglichkeit für die SchülerInnen, „mit sich selbst ins Gespräch zu kommen“ (Elsner 2012: 410) und sich als Mehrsprachige zu reflektieren. 166 VII Fallstudie 1 - Eine Unterrichtseinheit zu Cisneros’ Caramelo <?page no="167"?> VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood 1 Der Roman Sammy & Juliana in Hollywood und sein Potenzial für das Mehrsprachigkeitslernen Der Jugendroman Sammy & Juliana in Hollywood (2004) des US-amerikanischen Schrift‐ stellers und Lyrikers Benjamin Alire Sáenz erzählt vom Erwachsenwerden einer Gruppe mexikanisch-amerikanischer Jugendlicher, die in den 1960er Jahren in einem verarmten Randbezirk namens „Hollywood“ in einer kleinen Grenzstadt in New Mexico aufwachsen. Auf dem Weg ins Erwachsensein sehen sich Sammy und seine Freunde mit einer Reihe von Ungerechtigkeiten konfrontiert: Sie begegnen Rassismus und Gewalt an der Schule und im Alltag, verlieren einen Freund im Vietnamkrieg und müssen mitansehen, wie ein anderer Mitschüler wegen seiner Homosexualität Gewalt erfährt. Sammy und seine Freunde trotzen diesen harten Umständen, indem sie als Freunde zusammenhalten, Liebe und Stärke zeigen und ihren Träumen für eine bessere Zukunft treu bleiben. Ein wichtiges Thema ist auch Sammys Liebe zu Juliana, die unter einem aggressiven Vater leidet und von ihm ermordet wird. Der Roman hat insofern Wiedererkennungspotenzial für Jugendliche, weil er schüler‐ nahe Themen wie die erste Liebe, Freundschaft, Konflikte in der Schule und in der Familie behandelt. Gleichzeitig sind die Geschichten der Jugendlichen nur dann nachvollziehbar, wenn man mit der sozio-politischen Situation der Chicanos/ as in den 1960er Jahren in den USA vertraut ist, sodass die historische Kontextualisierung des Romans im Unterricht unabdingbar erscheint. Deshalb wurde zu Beginn der Einheit eine kurze Videosequenz zu Ursprüngen der Chicano/ a-Proteste (walkouts) an US-amerikanischen Bildungseinrich‐ tungen thematisiert, die SchülerInnen für die Diskriminierung der Chicanos/ as und die daraus resultierenden politischen Unruhen sensibilisieren sollte (vgl. Kapitel VI). Blell (2012a) bezeichnet den Roman in vielerlei Hinsicht als „transkulturell“: Er zeichne sich zunächst durch eine „physische und psychische“ Transkulturalität aus (ebd.: 244), da er das Aufeinandertreffen zweier Kulturen, aber auch verschiedener Gemeinschaften in Las Cruces (New Mexico) beschreibt. Dabei wird thematisiert, wie Charaktere mit den daraus resultierenden Konflikten umgehen und wie dies ihre persönliche Entwicklung als junge Erwachsene beeinflusst. Die Hybridität als „psychologische[r] Raum“ (ebd.) wird am Beispiel von Sammys Umgang mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität dargestellt. Er fühlt sich einerseits der mexikanisch-amerikanischen Community zugehörig und ist in seinem barrio (Viertel) durch seinen Freundeskreis, durch die Familie und die Nachbarn sowie durch seinen Glauben fest verankert (ebd.). Andererseits möchte er aus dem barrio-Leben ausbrechen und eine bessere Zukunft für sich sichern, indem er auf das College geht. Das Aufeinandertreffen der beiden Kulturen erlebt Sammy in seiner Kindheit als einen Wechsel von dem spanischsprachigen barrio hin zur Institution Schule, in der lediglich Englisch erlaubt war: „I wasn’t afraid of school, even though my English wasn’t so great. <?page no="168"?> 68 A veces no te conozco. - Sometimes I don’t know you. (Alle Übersetzungen aus dem Spanischen stammen von der Forscherin). 69 Estás muy joven para pensar así. - You are too young to think like that. Not at first. My parents spoke it, but they liked Spanish more. I liked Spanish more, too. School, well, school was an all-English thing.“ (Sáenz 2004: 114) Er erlebt Spanisch und Englisch daher als zwei getrennte Sprachen, was vermutlich auch damit zu tun hat, dass die Nutzung des Spanischen in den 1960er Jahren an US-amerikanischen Schulen verboten war und streng bestraft wurde. Von „künstlerischer Transkulturalität“ spricht Blell (2012a: 245) im Zusammenhang mit der Erzählweise des Romans. Der Roman folge zwar einer zeitlichen Chronologie, die Abschnitte lassen sich aber eher, wie dies bereits bei Caramelo der Fall war, als Vignetten lesen, die einen fragmentarischen Einblick in einen Aspekt der Geschichte geben: Familie, Liebe, Diskriminierung an der Schule etc. Die sprachliche Transkulturalität (ebd.: 246) äußert sich in der literarischen Mehrsprachigkeit des Romans, wobei der Sprachenwechsel hier deutlich weniger intensiv als in Caramelo ist und graphisch nicht markiert wird. Die Charaktere wechseln ins Spanische, wenn sie mit Angehörigen älterer Generationen sprechen, so z. B. mit den Eltern oder den Nachbarn. Gleichzeitig wird Spanisch zur Betonung von Kolloquialität und Oralität, aber auch zur Markierung ethnischer Zugehö‐ rigkeit eingesetzt. So finden sich in der Sprache der Figuren die für das mexikanische Spanisch charakteristischen Ausdrücke oder umgangssprachliche Redewendungen, wie órale, pendejo, pinche, cabrón, gringo, vato, die hier als „ethnic markers“ (Martín-Rodríguez 1994: 114) eingesetzt werden. In einem Interview beschreibt Benjamin Alire Sáenz diesen Sprachenwechsel als ‚natürlich‘, Spanisch sei für ihn keine Fremdsprache, sodass er die spanischen Einschübe nicht kursiv setzen möchte: I do Spanish in Sammy and Juliana more naturally. If it were up to me, I’d just do it and tell my editor to get over it […]. It’s interesting because in Sammy and Juliana, which is taught a lot, this is really big in the teachers’ minds. Some of them have said, “So much Spanish.” But there’s not a lot of Spanish in that book, it’s simply not true. There’s some Spanish and it’s not italicized. I don’t italicize it if it’s left up to me. If editors ask me why, I say, “Well, because you italicize a foreign language, and for the author Spanish is not a foreign language” (Mermann-Jozwiak & Sullivan 2009: 57-f.). Ähnlich wie bei Cisneros ergibt sich auch bei diesem Autor der Sprachenwechsel als eine natürliche Konsequenz seiner eigenen Mehrsprachigkeit. Das Spanische ist für die Charaktere und für den Autor nicht fremd, es ist ein Bestandteil ihrer eigenen kulturellen Identität. Die spanischen Einschübe werden in diesem Roman noch seltener als in Caramelo übersetzt, die meisten von ihnen sind aber aus dem Kontext verständlich, wie diese Szene zwischen Sammy und seinem Vater verdeutlicht: My father looked at me and shook his head. “A veces no te conozco.“ 68 He‘d switched to Spanish. That meant he was mad. Not good. Sometimes, I disappointed him. “Estás muy joven para pensar así.“ 69 168 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="169"?> 70 Me estoy volviendo loco. - I am going crazy. 71 “Nada, nada,” he said, “no hay nada que hacer”. - “Nothing, nothing,” he said, “there is nothing to do”. He was right - I was too young to be so cynical. […] He laughed. “Me estoy volviendo loco.“ 70 “No dad, you‘re not crazy.“ I hated when he got down on himself (Sáenz 2004: 82-f.). Auch wenn die genaue Bedeutung der Einschübe ohne Spanischkenntnisse schwer zu erraten ist, so wird ihr Inhalt doch für die LeserInnen im weiteren Gesprächsverlauf verständlich. Beim ersten spanischen Satz wird deutlich, dass es sich um eine kritische Bemerkung des Vaters handelt, beim zweiten wird die Bedeutung der Aussage paraphrasiert (young-joven) und auch der dritte Satz ist durch die Antwort von Sammy verständlich (loco-crazy). Als LeserIn bekommt man den Eindruck, dass Sammys stärkere Sprache als Jugendlicher eher das Englische ist; das Spanische wird mit Freunden und Familie aus dem barrio genutzt, als Zeichen der Zugehörigkeit zur Community und zum Chicano/ a-Freundeskreis. Diese Schlussfolgerung erlaubt auch die Episode mit dem Amerikaner Eric Fry, der Sammy durch sein perfektes Spanisch verärgert. “Nada, nada,” he said, “no hay nada que hacer.” 71 I mean, his accent was perfect. Spoke like a native of Chihuahua. That’s what pissed me off. Here he was, this rich gringo, nice looking, sort of, if that was your type, had everything, was nice to everybody, the works, the whole package - and everybody thought he was so fucking far-out and groovy because he spoke Spanish. Nobody taught Mexicans were far-out and groovy because we spoke English. Nope. That’s not the way it worked. Nope, I didn’t like gringos who got to be more Mexican than the Mexicans. “Nope,” I said, “there’s nothing to do in this town.” I wasn’t gonna use one word of Spanish in that car. Hell no. Not me. Not Sammy Santos. American all the way (Sáenz 2004: 140). Sammy versteht Erics Sprachenwahl und seine guten Spanischkenntnisse als eine Art Provokation. Sein Versuch, „to be more Mexican than the Mexicans“ wirke eingebildet, denn MexikanerInnen würden umgekehrt für ihre Englischkenntnisse nie in dieser Weise gewürdigt werden. Sammy ist irritiert, weil Eric die Sprache seiner Community für ihn beansprucht und dadurch die soziale Ungerechtigkeit zwischen den beiden Gruppen noch verstärkt. Die Szene ist ein Beispiel dafür, wie der mehrsprachige Roman SchülerInnen dazu ermutigen kann, darüber nachzudenken, wie die Sprachenwahl oder ein bestimmtes Sprachverhalten die Sprechenden in einer bestimmten Weise im Gespräch positioniert und wie durch Sprache der soziale Status der SprecherInnen verhandelt wird. 2 Vorstellung der Unterrichtseinheit und der Lerngruppe 2.1 Lerngruppe und Institution Die folgende Unterrichtseinheit wurde im Leistungskurs Englisch eines Berliner Gymna‐ siums im Zeitraum vom März bis April 2016 durchgeführt und umfasste 19 Einzelstunden. Die Lerngruppe bestand aus 17 SchülerInnen (elf weibliche und sechs männliche Schüler- 2 Vorstellung der Unterrichtseinheit und der Lerngruppe 169 <?page no="170"?> 72 Vgl. die Übersicht über die Zusammensetzung der Lerngruppe im Anhang. Innen), die alle eine romanische Sprache als zweite oder dritte Fremdsprache gelernt haben oder weiter lernen. Dies war die Lerngruppe mit dem größten Anteil an SchülerInnen nicht deutscher Herkunftssprache; elf SchülerInnen gaben auf dem Kurzfragebogen an, neben dem Deutschen eine andere Sprache zu Hause zu sprechen. 72 Die Lehrerin (Fächer: Englisch und Spanisch) unterrichtete die Lerngruppe seit einem halben Jahr. 2.2 Vorstellung der Unterrichtseinheit Ähnlich wie in den vorherigen Lerngruppen begann auch diese Unterrichtseinheit mit einer Einstimmung auf das code-switching im US-Kontext. Im Unterschied zur vorherigen Fall‐ studie hat die Lehrerin dieses Kurses die Anfangsphase weniger dafür genutzt, Kenntnisse über die Situation der Chicanos/ as in den USA zu vermitteln, sondern eher dafür, Lernende ihre eigenen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität reflektieren zu lassen. Dies lag auch daran, dass die vorliegende Lerngruppe durch einen hohen Anteil an HerkunftssprecherInnen gekennzeichnet war. Nachdem die SchülerInnen die Spang‐ lish-Werbeplakate kontextualisiert haben, sollten sie kurze Alltagsdialoge in ihren Sprachen verfassen und individuelle Sprachporträts (vgl. Krumm 2001) anfertigen, in denen sie ihre Sprachen einzeichnen und den anderen vorstellen sollten. Mit dem Lesen wurde nach einer Einführung in den Chicano/ a-Kontext begonnen, wobei anhand des ersten Kapitels Strate‐ gien für den mehrsprachigen Leseprozess und die Vorstellung der Romanfiguren, Sammy und Juliana, besprochen wurden. Ausgehend von der Lektüre verschiedener Romanauszüge (Kapitel 1, 2, 5-7, 11, 14, 22-24) diskutierten die Lernenden anschließend, wie die literari‐ schen Figuren im durch Kriminalität und Armut gekennzeichneten Viertel Hollywood der 1960er Jahre ihr Erwachsenwerden zwischen verschiedenen Kulturen erleben, wie sie mit schulischer Diskriminierung umgehen und eine eigene Chicano/ a-Identität entwickeln. Verschiedene kognitiv-analytische und handlungsorientierte Verfahren wurden eingesetzt, um den SchülerInnen einen analytischen und affektiven Zugang zur Mehrsprachigkeit der Romanfiguren und zu eigenen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit zu ermöglichen. Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang die Aufgabe zur szenischen Lesung des Kapitels 7 (Sáenz 2004: 74-ff.), in der die SchülerInnen ein Gespräch zwischen Sammy und seinen Freunden in Englisch und Spanisch in Szene setzen sollten. Auch diese Einheit endete damit, dass die SchülerInnen ausgehend vom mehrsprachigen Gedicht „Legal Alien“ (Mora 1985) ihre eigenen mehrsprachigen Gedichte verfassen und diskutieren sollten. 3 Schwerpunkte der Analyse und Fragestellungen Ähnlich wie in der vorher besprochenen Fallanalyse, so lassen sich die Lern- und Lehr‐ prozesse in dieser Unterrichtseinheit folgenden Bereichen zuordnen: mehrsprachiges Entschlüsseln mit dem Ziel der Strategienaktivierung, Wahrnehmung und Interpretation mehrsprachiger Handlungsentwürfe der Romanfiguren und anschließend beim mehrspra‐ chigen lyrischen Schreiben die kreative Darstellung und die Reflexion eigener Erfahrungen 170 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="171"?> mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität. Aufgrund der spezifischen Zusammensetzung der Lerngruppe und der relativ einfachen mehrsprachigen Gestaltung des Romans Sammy & Juliana in Hollywood kommt es bei der Analyse zu einer Schwerpunktverschiebung. Da der literarische Sprachenwechsel weniger intensiv ausfällt und der Roman daher leichter zu verstehen ist, spielt die Frage nach den möglichen Herausforderungen beim sprachlichen Verständnis eine untergeordnete Rolle, wohl aber die Frage nach den Ressourcen, die Lernende aktivieren, um die spanischen Einschübe zu verstehen. Stand in der vorigen Fallanalyse die Frage im Vordergrund, inwieweit die Lernenden Mehrsprachigkeit als ästhetisches Gestaltungsmittel des Romans erfassen, so erscheint sie im Kontext dieses Romans aufgrund seiner einfacheren ästhetischen Gestaltung und des eher sporadischen code-switching nur sekundär. Das Potenzial des Romans ist eher in der Vielzahl der Identifikationsangebote begründet, die er durch seine jugendlichen ProtagonistInnen für die Lernenden bereitstellt. Besonders relevant erscheint daher die Frage, ob sich die Lernenden mit den mehrsprachigen Charakteren identifizieren können und inwieweit es ihnen gelingt, die Mehrsprachigkeit der Romanfiguren zu verstehen und vor diesem Hintergrund auch das Verhältnis zu eigenen Sprachen und Kulturen zu artikulieren. Da diese Lerngruppe den höchsten Anteil an lebensweltlich mehrsprachigen Schülern und Schülerinnen aufweist, erschien es ferner von zentraler Bedeutung, die Verknüp‐ fungen zwischen dem literarischen Verstehen und den lebensweltlichen Erfahrungen der Lernenden mit Mehrsprachigkeit anzustoßen und genau zu untersuchen, wann und wie die Lernenden diese Verknüpfungen aufbauen. Die Verbindungen zwischen literarischer und lebensweltlicher Mehrsprachigkeit können in unterschiedlichen Phasen des mehr‐ sprachigen Lesens und Schreibens entstehen: beim Entschlüsseln des Spanischen durch Rückgriff auf eigene mehrsprachige Ressourcen und Strategien (auch Kenntnisse der Her‐ kunftssprache), beim Erfassen und Bewerten des mehrsprachigen Sprachverhaltens der Ro‐ manfiguren durch die Aktivierung eigener Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit oder durch die kreative Darstellung eigener Vorstellungen von Herkunftssprachen und -kulturen vor dem Hintergrund der Chicano/ a-Vorlage. In all diesen Phasen ist die Frage zu stellen, wie sich Lernende als mehrsprachige Subjekte einbringen, welche Erfahrungen, Haltungen oder Gefühle sie dabei aktivieren, inwieweit sie durch die literarischen Interpretationspro‐ zesse dazu ermutigt werden, ihre eigene Mehrsprachigkeit bewusst wahrzunehmen, ihre Erfahrungen mit Sprachen und Kulturen zu hinterfragen und Neues über das eigene Ver‐ hältnis zu Sprache(n) und Mehrsprachigkeit zu lernen. Die zu diesem Zweck eingesetzten Aufgabentypen ähneln den bereits im Kapitel VII vorgestellten Unterrichtsdesigns zum mehrsprachigen Entschlüsseln, zur Analyse des mehrsprachigen Sprachverhaltens und zum mehrsprachigen Schreiben. Bei der Auswertung der vorliegenden Daten soll ein besonderes Augenmerk auf die Aufgabe zur szenischen Lesung gelegt werden, in welcher sich die Lernenden in die Rollen eines der mehrsprachigen Charaktere begeben und den Sprachenwechsel szenisch darstellen sollen. Hierbei ist insbesondere interessant, ob ein solches Verfahren einen affektiven Zugang zu literarischer und eigener Mehrsprachigkeit ermöglicht und Lernenden dabei helfen kann, diese beiden zu verknüpfen. 3 Schwerpunkte der Analyse und Fragestellungen 171 <?page no="172"?> 73 Das entsprechende Kapitel kann im Anhang eingesehen werden. 4 Schülerseitige Interaktionsprozesse beim mehrsprachigen Lesen Zu Beginn der Unterrichtseinheit wurden die SchülerInnen mittels einer an die Methodik der Interkomprehensionsdidaktik angelehnten Aufgabe an das mehrsprachige Lesen her‐ angeführt. Anders als bei der Aufgabenstellung zum mehrsprachigen Lesen von Caramelo ging es hier nicht so sehr darum, die Bedeutung einzelner spanischer Wörter oder Aus‐ drücke möglichst genau herauszufinden, sondern darum, sie richtig zu kontextualisieren. Dafür wurden die spanischen Einschübe aus dem Originaltext (vgl. Sáenz 2004: 12-15) entfernt und durcheinander präsentiert, wobei die SchülerInnen aufgefordert wurden, sie in die richtigen Lücken einzusetzen. 73 Ein solches Vorgehen erschien in diesem Falle sinnvoll, da Sáenz im Gegensatz zu Cisneros deutlich sporadischer zu spanischen Einschüben greift, diese aber fast immer unkommentiert in den Kontext einwebt (auch optisch heben sich diese Einschübe nicht ab), ohne Hinweise in Form von direkten Übersetzungen, Paraphra‐ sierungen oder Erläuterungen für die nicht Spanisch sprechenden LeserInnen anzubieten. So wird das Dekodieren den LeserInnen selbst überlassen, die beim Verstehen lediglich auf den Kontext angewiesen sind. Im Rahmen dieser Aufgabe sollten die Lernenden bei den spanischen Einschüben genau darauf achten, an wenn die Romancharaktere das Wort richten, auf welche Aussage sie sich dabei beziehen und welche Reaktion diese Aussage bei GesprächspartnerInnen auslöst. Die SchülerInnen stehen also vor einer doppelten Heraus‐ forderung: Sie müssen einerseits den englischsprachigen ‚Hauptteil‘ genau erfassen und andererseits all ihr verfügbares Wissen aktivieren, um die spanischen Anteile zumindest sinngemäß zu verstehen. Der Vorteil bei dieser Vorgehensweise ist, dass sich die Schüler- Innen weniger auf die genaue Bedeutung einzelner spanischer Einschübe fokussieren und sich stärker bemühen, Zusammenhänge zwischen den spanischen Elementen und der englischsprachigen Haupthandlung herzustellen. Um diese Verbindung zu ziehen, reicht es nicht aus, sich auf einzelne bekannte spanische Worte zu stützen. Es muss immer die Logik des Gesamtkontextes mitberücksichtigt werden. Anhand des folgenden Abschnitts soll untersucht werden, inwiefern die Interaktion und die Kooperation zwischen SchülerInnen mit unterschiedlichen sprachlichen Vorausset‐ zungen für den sprachlichen Entschlüsselungsprozess förderlich sein können. Diese Frage, die bereits im Rahmen der vorigen Fallanalyse aufgeworfen wurde, beschäftigt die Inter‐ komprehensionsforschung erst seit jüngster Zeit (vgl. Morkötter 2018: 338) und erscheint im Kontext dieser Arbeit besonders relevant, da die Heranführung an die mehrsprachige Lektüre und die ersten Entschlüsselungsversuche stets in einer Gruppenarbeitsphase in Zusammenarbeit mit anderen SchülerInnen erfolgten. Es ist daher zu fragen, wie sich schülerseitige Aushandlungsprozesse beim interkomprehensiven Arbeiten in der Gruppe darstellen, welche mehrsprachigen Ressourcen die SchülerInnen dabei aktivieren und wel‐ chen Einfluss diese Prozesse auf die sprachliche und die inhaltliche Entschlüsselungsarbeit haben. Der folgende Ausschnitt gibt den Beginn der Entschlüsselungsarbeit wieder und folgt den Verstehens- und Aushandlungsprozessen von vier Schülerinnen, die auf dem Fragebogen A nicht angeben, Spanisch als Fremdsprache erlernt oder erworben zu haben. Alle vier 172 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="173"?> 74 La muchacha tiene… - Das Mädchen hat… 75 Tú sabes cual muchacha, no te hagas tonto. - Du weißt, welches Mädchen, tu nicht so. Schülerinnen haben Englisch als erste und Französisch als zweite Fremdsprache gelernt. Sinem, Nuria und Erika geben an, zu Hause neben dem Deutschen das Türkische zu sprechen, Ana hingegen spricht mit der Familie die Herkunftssprache Serbisch. Bereits zu Beginn gestaltet sich die gemeinsame Entschlüsselungsarbeit als ein vielschichtiger Aus‐ handlungsprozess, bei dem die Schülerinnen nicht nur unterschiedliche Wissensbestände (Code 1), sondern auch unterschiedliche Vorgehensweisen bei der Dekodierung (Code 2) miteinander verhandeln: 1 Sinem Is „bueno” like good, because you know „bueno” the chocolate? 1a 2 Ana „Bonita“ ist doch Mädchen oder girl. 1b? 3 Sinem Wo steht „bonita“? - 4 Nuria Wir müssen hier anfangen. „The trick always worked for me”. Jetzt müssen wir was einsetzen. 2a 5 Ana Also auf jeden Fall „gut“ und „la muchacha tiene“ 74 . And „she is nice“. Das kommt so dazwischen. Ja, weil sie halt reden, dass sie so hübsch ist und so nett. Also ich glaube hier, wo sie über sie reden. 1d richtig ein‐ gesetzt vgl. Anhang 2b 6 Sinem Wo er halt sagt, dass sie gut ist. Hier, er sagt doch, sie ist ein gutes Mädchen, „she is nice“. Setz mal das ein. 1d 7 Nuria Ok also beim ersten erstmal „Everyone has been seeing you with that girl. What girl dad? I always pretended I didn’t know what the hell was going on. The trick always worked for me.” […] - 8 Sinem Erika, was sagst du? Bei dem ersten Dings… und er hat ja so getan als kennt er das Mädchen am Anfang nicht. 3a 9 Nuria Na dann würde ich sagen… Dann würde ich es so verbinden, aber ich weiß es nicht. - 10 Sinem „Tú sabes cual muchacha, no te hagas tonto”. 75 Vielleicht dieses: „Tú sabes cual muchacha“. Vielleicht mit einer Freundin gesehen, nicht mit einem … Ja, das ist doch sinnvoll. richtig ein‐ gesetzt vgl. Anhang Tab. 8: Mehrsprachiges Entschlüsseln eines Kapitels aus Sammy & Juliana in Hollywood, Auszug Nr. 1 Es wird deutlich, dass die Schülerinnen auf unterschiedliche Wissensbestände zurück‐ greifen, und zwar zum einen auf das Weltwissen (1a, Ab. 1) und zum Zweiten auf sprachstrukturelles Wissen (1b, Ab. 2). Durch das einzelwortgeleitete bottom-up-Vorgehen entschlüsseln Sinem und Ana die Bedeutung des Adjektivs (bueno-gut) und nähern sich der Bedeutung von bonita-hübsch, indem sie aufgrund der Endung -a erkennen, dass sich das Adjektiv auf ein Mädchen bezieht. Dies erlaubt ihnen, den Zusammenhang mit dem englischen „she is nice“ herzustellen und den Einschub „Bueno, la muchacha tiene una cara muy bonita, pero eso no quiere decir que she’s nice.“ der Stelle zuzuordnen, „wo sie über 4 Schülerseitige Interaktionsprozesse beim mehrsprachigen Lesen 173 <?page no="174"?> sie reden“ (1d). Ana gelingt es nicht nur, den spanischen Satz richtig zuzuordnen, sondern auch auf einer metakognitiven Ebene (2b) ihre Hypothese den anderen Mitschülerinnen gegenüber zu begründen („Ja, weil sie halt reden, dass sie so hübsch ist und so nett.“). Sinem und Ana sind bei der Entschlüsselung erfolgreich, weil sie sich sowohl auf die Dekodierung der sprachlichen Oberfläche (bueno, bonita) konzentrieren als auch den inhaltlichen Kontext des Romans berücksichtigen. Die beiden Schülerinnen schaffen es also, nicht nur datengeleitet vorzugehen und einzelne Wörter im Spanischen richtig zu dekodieren, sondern auch den Überblick über den Romanausschnitt zu behalten und die Einordnung dabei sowohl bottom-up als auch top-down vorzunehmen. Im Gegensatz zu Sinem und Ana, die sich auf ihnen bekannte spanische Lexeme konzentrieren, bevorzugt Nuria eine top-down-Vorgehensweise und schlägt vor, vom englischsprachigen Kontext auszugehen und die Einschübe chronologisch einzelnen Lücken zuzuordnen (Ab. 4). Sie ist die Einzige, die die Organisation des gemeinsamen Entschlüsselungsprozesses explizit thematisiert und eine bestimmte Vorgehensweise vorschlägt (2a), die die anderen beiden zunächst nicht annehmen. In ihrem Aufsatz zu schülerseitigen Aushandlungsprozessen stützt sich Morkötter (2018) auf ein Modell der kooperativen Kompetenz von Bonnet (2009: 5), in dem Bonnet neben der inhaltlichen und der fremdsprachlichen Dimension bei der Kooperation auch die interaktionale Dimension berücksichtigt, wobei er zwischen der sozialen und der metakognitiven Dimension unterscheidet. Die Aussage von Nuria (Ab. 4, 2a) betrifft den Organisationsaspekt der Interaktion und könnte daher der letzten Dimension zugewiesen werden. Es wird also deutlich, dass die Schülerinnen zu Beginn der Gruppenarbeit nicht nur die Bedeutungen der spanischen Einschübe verhandeln, sondern auch die Frage, wer sich wie an der Entschlüsselung beteiligen kann (sozial-affektive Dimension) und welche Vorgehensweise (top-down oder bottom-up) gewählt werden soll (metakognitive Dimension). Nurias erneuter Vorschlag, zur ersten Lücke zurückzukehren, wird von Sinem angenommen und fruchtet in der richtigen Zuordnung des zweiten spani‐ schen Satzes. Sinems Versuch, Erika in das Gespräch einzubinden (Ab. 8), möglicherweise um zusätzliche Hilfe beim Entschlüsseln einzuholen, ist der sozial-affektiven Dimension der kooperativen Kompetenz nach Bonnet zuzuordnen (3a), was dazu beiträgt, dass Erika häufiger am Gespräch teilnimmt. 174 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="175"?> 11 Nuria „Seguro“? 12 Ana Ich würde sagen vielleicht „sicher“, aber ich bin mir da nicht sicher. Das habe ich mir jetzt aus dem Serbischen abgeleitet. „Sigurno“, das bedeutet sicher. 1c richtig er‐ schlossen 13 Sinem Wo sind wir? Was hast du gerade übersetzt? - 14 Ana Das hier. - 15 Sinem Was bedeutet das? - 16 Ana Sicher. - 17 Sinem Heißt es auf Serbisch auch sicher? - 18 Ana Ja. […] - 19 Sinem Türk: Sen ne diyon? (zu Erika) Dt: Was meinst du? (Übersetzung NSt) Wechsel ins Türkische 3a 20 Erika Ich habe dieses „puta desgraciada sinvergüenza“ eingesetzt. - 21 Nuria Wo denn? - 22 Erika Bei Ms López. richtig einge‐ setzt vgl. Anhang 23 Nuria Ja, das ist sinnvoll. - 24 Ana Aber das ist zu schwer, weil ich verstehe wirklich richtig wenig. […] „Motivations‐ tief “ 25 Sinem Und das „tú sabes“ haben wir jetzt als Erstes, weil das hat irgendwie so gepasst mit „muchacha“, ist so Freundin. 2b 26 Ana Welche Zeile? - 27 Sinem Bei der ersten. - 28 Erika Ich glaube, dieses „bueno, la muchacha“ kommt hier „my father looked down at his plate” davor. richtig einge‐ setzt vgl. Anhang 29 Ana Ich glaube auch. - 30 Nuria Wo? - 31 Sinem Ja, „bueno“ kommt davor mit diesem, oder? Hier, das haben wir richtig eingesetzt. […] - 32 Ana Aber dieses „grandes“… Oh, es macht Spaß. Freude am Entschlüsseln 33 Sinem Ja. - Tab. 9: Mehrsprachiges Entschlüsseln eines Kapitels aus Sammy & Juliana in Hollywood, Auszug Nr. 2 4 Schülerseitige Interaktionsprozesse beim mehrsprachigen Lesen 175 <?page no="176"?> Die Schülerinnen verzeichnen weitere Erfolge beim Entschlüsseln, indem sie „seguro“ auf Grundlage der serbischen Transferbasis „sigurno“ (sicher) entschlüsseln (1c) und infolge der Intervention von Erika zwei weitere Aussagen richtig einordnen. Sinem ist es wichtig, die bereits zugeordneten spanischen Aussagen noch einmal mit den anderen auf Richtigkeit zu überprüfen (Ab. 25, 31), wobei sie Erikas Urteil vertraut. Erst als Erika die gleiche Vermutung äußert (Ab. 28), findet sie ihre Hypothese bestätigt (Ab. 31). Im Hinblick auf den Beziehungsaspekt der interaktiven Kompetenz ist daher zu sagen, dass Sinem Erika als eine wichtige Ressource für das gemeinsame Entschlüsseln betrachtet, worauf möglicherweise auch der Wechsel ins Türkische (Ab. 19, 3a) hinweist. Sowohl Erika als auch Nuria und Sinem haben einen türkischen Hintergrund, sodass der Wechsel ins Türkische auch als ein Annäherungsversuch an Erika gedeutet werden kann, die auf die erste Nachfrage von Sinem (Ab. 8) nicht reagiert. Dieser Abschnitt zeigt deutlich, dass sich die interaktionale Kompetenz der Schülerinnen positiv auf die Bewältigung der mehrsprachigen Herausforderung auf der sprachlichen und der inhaltlichen Ebene auswirkt. Anas Intervention bringt Klarheit über das Wort „seguro“; Sinems Nachfragen bei Erika führen zur stärkeren Beteiligung dieser Schülerin am Aushandlungsprozess und durch ihre Beiträge bei allen zu mehr Sicherheit im Umgang mit den spanischen Aussagen. Die ko-konstruktive Herangehensweise der Schülerinnen beim Entschlüsseln des mehr‐ sprachigen Romans legt die Schlussfolgerung nahe, dass Lernende beim interkomprehen‐ siven Arbeiten in Gruppen nicht nur ihr sprachstrukturelles Wissen aktivieren, sondern auch verschiedene Fähigkeiten auf der sozio-affektiven und der metakognitiven Ebene mobilisieren (Codes 2 und 3). Dies umfasst die Regulation der Redeanteile, die Herstellung einer positiven Beziehung zwischen den Schülerinnen, die Verhandlung unterschiedlicher Herangehensweisen und die Begründung eigener Hypothesen gegenüber anderen Mitschü‐ lerinnen. Indem sich die Schülerinnen gegenseitig zuhören, nach der Meinung der anderen fragen und ihre individuell aufgestellten Hypothesen mit denen ihrer Mitschülerinnen vergleichen, gewinnen sie Sicherheit beim Dekodieren und lernen so, von den Ressourcen der jeweils anderen zu profitieren. Die „interaktive Sprachverarbeitung“ (Morkötter 2018: 352), d. h. die Fähigkeit, top-down- und bottom-up-Prozesse zu kombinieren, wird in diesem Falle nicht nur durch die Sozialform der Gruppenarbeit gefördert, sondern auch durch die Art der Aufgabenstellung. Da die Sätze einer bestimmten Stelle im Roman zugeordnet werden sollen, wird von den SchülerInnen verlangt, in den spanischen Aussagen sowohl Unbekanntes zu entschlüsseln (bottom-up) als auch ausgehend vom Romankontext die Stelle einer entsprechenden Romanszene zuzuweisen (top-down). Auf der sozio-affektiven Ebene (Code 3) mobilisieren die Lernenden nicht nur ihre so‐ zialen und interaktionalen Kompetenzen, sondern auch ihre Einstellungen und Haltungen sowohl bezüglich der Interaktion mit den anderen Lernenden als auch bezüglich ihres Umgangs mit Nicht-Verstehen. Sie zeigen Flexibilität im Umgang mit verschiedenen Herangehensweisen und Bereitschaft, ihre eigenen Hypothesen zu hinterfragen oder den Hypothesen ihrer Mitschülerinnen zu vertrauen (Sinem). An vielen Stellen wird deutlich, dass die Schülerinnen große Unsicherheiten beim Entschlüsseln haben (Ab. 9, 12, 24), das Gefühl des Nicht-Verstehens aushalten müssen und dass dies zu einem Motivationstief führen kann (Ab. 24). Die Schülerinnen beweisen Frustrationstoleranz, indem sie die Ent‐ schlüsselungsarbeit nicht aufgeben, sondern mit Hilfe der Mitschülerinnen fortsetzen und 176 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="177"?> 76 Sigurna sam - Ich bin mir sicher (Übersetzung durch die Forscherin). am Ende durch die verzeichneten Erfolge auch Freude am Entschlüsselungsprozess erleben (Ab. 32). Dass Interkomprehensionsarbeit einen positiven Effekt auf die Motivation der SchülerInnen hat, sich weiter mit der Fremdsprache zu beschäftigen, zeigen verschiedene Studien, z.-B. Bär (2010) für den Kontext des Spanischunterrichts in der Sekundarstufe I. Auch wenn diese Aufgabe primär auf das sprachliche Verständnis des Kapitels abzielte, geht aus den Daten hervor, dass die gemeinsame Rekonstruktion des mehrsprachigen Romanabschnitts die Schülerinnen in vielfacher Weise als „mehrsprachige Subjekte“ herausfordert: Sie greifen auf ihr sprachliches und nicht-sprachliches Wissen zurück, be‐ rücksichtigen das inhaltliche Wissen über den literarischen Text und aktivieren eine Reihe an Fähigkeiten und Einstellungen auf der sozio-affektiven und der metakognitiven Ebene. Sie erleben die Kenntnisse ihrer Fremdsprachen und Herkunftssprachen als wirksame Ressourcen und erfahren, dass die Arbeit mit anderen und die Bereitschaft, verschiedene Ressourcen und Herangehensweisen auszuhandeln, zum Erfolg beim mehrsprachigen Entschlüsseln führt. So beteiligen sich Lernende im Rahmen dieser Aufgabe an einem Aushandlungsprozess, der durchaus Ähnlichkeiten mit lebensweltlichen mehrsprachigen und mehrkulturellen Situationen aufweist, da hierbei neben der Bedeutung der spanischen Einschübe auch soziale und affektive Strategien, mehrsprachige Identitäten und die Betei‐ ligung an der Interaktion verhandelt werden (vgl. Kramsch 2008: 390). Die anschließende Ergebnissicherung zeigt, dass die Schülerinnen außer zwei Ein‐ schüben die spanischen Aussagen richtig zugeordnet haben und dass diese Leistung sowohl von ihnen als auch von der Lehrkraft als Erfolg erlebt wird (Ab. 3-5): 1 L 2 Just check (Lösungen werden an die Wand projiziert) and just tell me did you manage to do the task? How did you do this task and how did you manage to solve it? - 2 Sinem First, we looked at the sentences and searched if we know one of those meanings. Then we tried to give them a sense with the part where we want to put them in and looked which one would make more sense. Because there were also sentences with “no” and there is like “no” and then we looked where it would make sense. 1f 3 L 2 Even though you didn't know the language, you were able to just - (wird unterbrochen) - 4 Sinem And I now see that the first two sentences were right. - 5 L 2 Succeeded. Great job! What was your strategy? - 6 Ana Also we watched for words like “bueno”, like “bon” in French from other languages. Or “seguro” from Serbian. 1f 7 L 2 Pretty close, isn't it? How do you pronounce “seguro” in Serbian? - 8 Ana Sigurna sam. 76 - Tab. 10: Unterrichtsgespräch zum mehrsprachigen Entschlüsseln in Gruppen 4 Schülerseitige Interaktionsprozesse beim mehrsprachigen Lesen 177 <?page no="178"?> Auffällig an dem Ausschnitt ist, dass die sozio-affektiven und die metakognitiven Strategien weder von Sinem und Ana noch von der Lehrerin als solche angeführt werden. Sinem beschreibt den Dekodierungsvorgang als eine Kombination der bottom-up- („First we looked at the sentences“) und top-down-Verfahren („we tried to give them a sense with the part where we want to put them“). Die Frage der Lehrerin, welche Strategien dabei zum Einsatz kamen, ist möglicherweise ein Hinweis darauf, dass die Lehrerin die von Sinem geschilderte Kombination der Herangehensweisen gar nicht als Strategie versteht. Auch Ana nennt in ihrer Antwort (Ab. 6) eher die kognitiven Strategien, möglicherweise, weil für sie insbesondere der Rückgriff auf die Herkunftssprache Serbisch von persönlicher Relevanz ist. Die sozio-affektiven und die metakognitiven Strategien werden als solche nicht thematisiert, sodass die Schülerinnen ihren souveränen Umgang mit Nicht-Verstehen bzw. ihre Fähigkeit, die Interaktion untereinander zu steuern, nicht als Erfolg bringende Strategien erleben und somit auch nicht bewusst in ihr Repertoire aufnehmen können. Dabei wäre es in einer solchen Phase der Ergebnissicherung von großer Bedeutung gewesen, „die individuellen und ko-konstruktiven Vorgehensweisen anzusprechen und zusammenzuführen, um sie für Schüler bewusst(er) und zugänglich(er) zu machen“ (Morkötter 2018: 352). 5 Mehrsprachigkeitserfahrungen der Lernenden bei der Interpretation des Romans Im Zentrum des folgenden Abschnitts steht die Frage, wie Lernende das mehrsprachige Verhalten der Charaktere begründen und welche Bedeutung sie dem code-switching aus der Perspektive der jeweiligen Figur zuschreiben. Daher soll anhand des folgenden Un‐ terrichtstranskriptes der Frage nachgegangen werden, welche Motive, Emotionen oder Erfahrungen die SchülerInnen als Erklärung für die Mehrsprachigkeit der Charaktere heranziehen und auf welches Vorwissen sie sich beim Verstehen stützen. Das Vorwissen kann dabei auf literarischen Aspekten (z. B. bestimmtes Sprachverhalten als Charakteris‐ ierungsmerkmal) oder auf lebensweltlichem Wissen bzw. Erfahrungen (Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit in der eigenen Alltagswelt) basieren. Es soll daher anhand des folgenden Unterrichtsgesprächs untersucht werden, wie sich die Interaktion zwischen dem Text und den Lernenden gestaltet und wie die SchülerInnen dabei selbst „tätig werden“, d. h. welche „kognitiven, affektiven und imaginativen Fähigkeiten“ sie dabei aktivieren, um das Verhältnis der Charaktere zu ihren Sprachen zu erklären und ihre Gedanken und Gefühle hinsichtlich ihrer mehrsprachigen Identitäten nachzuvollziehen (vgl. Bredella 2002: 46). Bredella (ebd.) betont, dass die Anteilnahme an den Handlungen und Erfahrungen anderer für die SchülerInnen auch eine lebensweltliche Bedeutung haben kann, denn sie helfe ihnen, eigene Erfahrungen und Handlungen zu verstehen und dadurch den eigenen Horizont zu erweitern. In diesem Zusammenhang ist daher zu fragen, worin für die Lernenden die lebensweltliche Bedeutung des mehrsprachigen Leseprozesses besteht und was sie dabei über ihre eigene Mehrsprachigkeit lernen können. Bevor sich die Lernenden der Frage widmen, wie der Sprachenwechsel der Romanfiguren interpretiert und bewertet werden kann, beschreiben sie in einem ersten Schritt, in welchen 178 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="179"?> Kontexten die Romanfiguren welche Sprache gebrauchen. Anbei werden einige ihrer Antworten zitiert: When they are with friends, so maybe Sammy, René, Gigi, Ángel and Pifas they mix the language, but when it's maybe serious, like the speech, when it's serious, she only speaks English like with the teacher. (5a, 5b) In the school they generally speak in English and the older persons like Sammy's father speak in his origin language and the little child or the sister of Sammy she didn’t grow up in Mexico so she speaks only in English because she is good at the English language. (5a, 5b) I think Sammy spoke a little bit of Spanish before Juliana died but after that he didn't at all. And maybe it's because it reminds him of her. (5c) Der Sprachenwechsel wird von den Lernenden bezüglich der Personen analysiert, mit denen die Sprache gesprochen wird (Freunde und Familie, Unterschiede zwischen den Generationen), bezüglich des Ortes und des Gesprächsanlasses (Schule vs. Familie, formelle und informelle Anlässe), aber auch bezüglich der emotionalen Bindung zur Sprache (vorletzte Aussage). Bereits anhand dieser kurzen Aussagen wird deutlich, dass die SchülerInnen eine Bewusstheit für die mehrsprachige Sprachverwendung der Romanfi‐ guren entwickeln, indem sie die Beziehung zwischen SprecherIn und HörerIn und den Zusammenhang zwischen Sprache und Emotion beleuchten sowie indem sie erkennen, dass Sprache(n) subjektive Bedeutungen zugeschrieben werden. Mit der anschließenden Frage der Lehrerin werden die SchülerInnen dazu ermutigt, sich in die Perspektive der Romancharaktere hineinzuversetzen und die Bedeutung der Sprachen für die jeweiligen Romanfiguren herauszuarbeiten: 1 L 2 Interesting… So, we are coming to the last point, what does it mean for them to use these languages? It's the very last point. What does it mean to all of them to use Spanish? What does it mean to Sammy? - 2 Helene I would say it's like a connection to their roots when they speak Spanish, so their parents speak Spanish. It's like in Germany some Turkish parents just speak Turkish with their kids at home, so it's family and their roots what they connect this language to. […] 5d 6 3 Sonja Some words you can express in one language better than in the other. So, Sammy uses some words in Spanish. 5c? 4 L 2 Maybe. - 5 Carlos I think Pifas, Rene and the others are proud of their origin but Sammy connects it with his past, with what happened and that's why he… 5c 6 L 2 Would be an argument. - 7 Frank I would say it's part of their identity and at least Sammy doesn't like it when gringos speak Spanish and that's some way of separating themselves from the others, from the white kids. 5d 8 L 2 Hm, ja. And Sina? - 5 Mehrsprachigkeitserfahrungen der Lernenden bei der Interpretation des Romans 179 <?page no="180"?> 9 Sina I would say that if you get emotional, so sad or angry about something, then you just like going back to your home language, to your… How do you say it? 6 10 L 2 They called it roots. - 11 Sina Yes, you are going back to your roots and when you are in a foreign country or foreign state or something like that you are just like … ignoring these facts and just try to express your emotion and this is mostly the best way if you do it in your mother tongue. 6 Tab. 11: Unterrichtsgespräch zur Mehrsprachigkeit der Figuren, Auszug Nr.-1 Anhand der Kodierungen wird deutlich, dass die meisten SchülerInnen bei ihren Erklä‐ rungsversuchen aus ihrem lebensweltlichen Wissen schöpfen, d. h., dass das Vorwissen, das hierbei aktiviert wird, zum großen Teil erfahrungsbasiert ist. Carlos und Frank versuchen, die Nutzung des Spanischen mit Bezug auf die Handlungslogik des Romans zu verstehen: Laut Carlos verbinde Sammy das Spanische mit Juliana und benutze es daher nach ihrem Tod seltener mit seinen Freunden. Frank greift ebenfalls auf das literarische Wissen zurück und bezieht sich bei seinem Argument auf Sammys Begegnung mit Eric Fry, bei welcher deutlich wird, dass Sammy das Spanische als eine Sprache der Chicano/ a-Community betrachtet und es ablehnt, Eric Fry trotz seiner guten Kenntnisse des Spanischen als einen Ebenbürtigen anzusehen. Die Relevanz der Episode mit Eric Fry für die Ausgangsfrage der Lehrerin nach der Bedeutung des Spanischen für Sammy erkennt Frank selbstständig, denn der entsprechende Romanausschnitt wurde zu Hause gelesen, aber zu diesem Zeitpunkt im Unterricht noch nicht besprochen. Frank erkennt die identitätsstiftende Funktion von Sprache, indem er sich in Sammys Perspektive hineinversetzt und das Spanische als einen bedeutsamen Teil der mehrkulturellen Identität dieser Romanfigur anerkennt. Möglicherweise spielt bei der Argumentation von Frank auch das Weltwissen eine Rolle, d. h. das Wissen über die Mehrsprachigkeit des sozio-geografischen Kontexts bzw. über die inferiore Stellung der Chicanos/ as und die alltägliche Diskriminierung, die sie aufgrund ihrer ethnischen Identität in den südwestlichen USA der 1960er Jahre erfahren. An den Kodierungen ist abzulesen, dass neben dem literarischen Wissen (Code 5) die Erklärungen der Lernenden vielfach auf lebensweltlichen Erfahrungen mit Mehrsprachig‐ keit beruhen (Code 6) bzw. dass diese beiden Kategorien auch zusammen auftreten können, wie bei Helene. Helene greift auf eine Alltagsbeobachtung bezüglich des Sprachverhaltens der türkischen Minderheit in Berlin zurück und nutzt diese, um die Mehrsprachigkeit der Romanfiguren zu verstehen. Für viele SchülerInnen sei die Wahl der Herkunftssprache ein Bekenntnis zur kulturellen Zugehörigkeit, zu den Wurzeln („roots“). Während Helene eine Verbindung zur Mehrsprachigkeit als gesellschaftlichem Phänomen ihrer Alltagswelt zieht, argumentieren Sonja und Sina auf einer affektiven Ebene und erklären den Rückgriff auf das Spanische ausgehend von der Erfahrung, dass man zu der eigenen Muttersprache ein besonderes Verhältnis habe und auf diese in emotionalen Situationen zurückgreife (Ab. 3, 9, 11). Dass die beiden Schülerinnen dabei die Ebene des textbasierten Verstehens verlassen und aus ihren lebensweltlichen Erfahrungen schöpfen, ist u. a. an der Nutzung des Personalpronomens „you“ zu erkennen („you can express“, „you get“, Ab. 9, 11). Das Vorwissen, das hier als Basis für das literarische Verstehen dient, beruht daher auf den 180 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="181"?> „Erfahrungen und der Imagination“ (Bredella 2002: 65), die den eigenen Umgang der Lernenden mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität betreffen. Die Wahrnehmungs- und Interpretationsprozesse beim Lesen des mehrsprachigen literarischen Textes wirken somit als Ausgangspunkt für die Evokation eigener Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit, was von der Lehrerin erkannt und explizit bestärkt wird: 12 L 2 Überlegen Sie mal, haben Sie das aus dem Text oder hat Ihnen die Erfahrung auch geholfen, was Sie zu Hause noch so tun. Andere Leute könnten vielleicht davon profitieren, dass Sie es zu Hause schon ewig machen. (Pause) - 13 L 2 If you go back to the very beginning before school, well Jan and Helene can only remind things in German, but we are lucky because everybody … Maybe you have got already a … maybe some memory of how it was like. Did you undergo a change like that? In the beginning, one language was better than the other and then it changed over time. How about your experience? It's just perfect. We have so many people here who have got more languages. Do you remember anything about that? Or your attitude towards language and how it is today? […] - 14 Helene English… I had really hard time with English when I was here in Germany learning English and then when I went to America, I was pretty afraid of using the language, but I had to and then I got used to it. And then there was a moment when it was easier for me to speak English and I had a hard time speaking German to my family here and I thought in English and I had dreams in English and now my English is away again because I don't practice English a lot but I think when I have to speak it then it's easier for me. 7b - 15 Franziska When I was little, before I went to the kindergarten, my parents only spoke Italian with me. My mother tried to speak a little bit in German with me because then after I should go to school and the kindergarten but my dad don't speak any German, doesn't speak any German. But now I speak German better than Italian but when I am with my Italian friends or my Italian cousins, then I mix the language to express myself better. 7a, 7b, 7c -- 16 L 2 So, they speak both German and Italian? - 17 Franziska Yes. - 18 L 2 You just do it for fun or? - 19 Franziska It's maybe because sometimes we don't want that others understand us or we mix the language so that it is easier for us to express ourselves. 7a, 7c 20 Sinem When I was in kindergarten, I also spoke in Kurdish… I don't know, it's Zaza, it's a dialect of Kurdish. But nowadays, I only can understand a little bit but I cannot speak it anymore. So yes, I lost the language. 7b 21 Ana When I was little, I didn't spoke much Serbian (L 2: speak) because it was important to my parents to speak more in German because of school and education but now I can speak both languages, Serbian and German. I learn it from friends and family. Now it's easier to speak it for me. 7a, 7b 5 Mehrsprachigkeitserfahrungen der Lernenden bei der Interpretation des Romans 181 <?page no="182"?> 22 L 2 Do you mix those languages or is there …? 23 Ana When I speak with my mother, I mix the languages. 7a, 7c 24 L 2 With your friends one language only? - 25 Ana With my Serbian friends which live also here in Germany I mix the language. 7a, 7c 26 Carlos My father always spoke Spanish to me but until I was five, I refused to talk Spanish to him (L 2: Interesting) because German was easier, but then I had my second trip to Colombia and I had to speak Spanish with my family there because they can't understand German. 7a, 7b Tab. 12: Unterrichtsgespräch zur Mehrsprachigkeit der Figuren, Auszug Nr.-2 Diese beiden Gesprächsausschnitte sind bemerkenswert, da sie zum einen zeigen, dass die SchülerInnen durch die Thematisierung der mehrsprachigen Erfahrungen literarischer Figuren nicht nur die Mehrsprachigkeit des fremdkulturellen Raums erfassen, sondern dass sie vor der Folie des ‚Anderen‘ - auch ohne die explizite Aufforderung der Lehrerin - die eigenen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität zum zentralen Unterrichtsgegenstand machen. Zum Zweiten wird anhand des Umfangs der Redebeiträge deutlich, welche Relevanz dieses Thema (nicht nur) für die lebensweltlich mehrsprachigen SchülerInnen hat. Die hier thematisierten Herkunftssprachen oder Fremdsprachen haben eine große emotionale Bedeutung für die SchülerInnen: Sie werden geistig und körperlich erfahren (I thought in Englisch/ I had dreams in English), die fehlenden Kenntnisse der Herkunfts- oder der Fremdsprache werden als Verlust erlebt (English is away again/ I lost the language). Die Sprachlernerfahrungen werden nicht nur beschrieben, sondern auch reflektiert, und zwar in Bezug auf die Personen, mit denen die Sprache gesprochen wird (7a), den Sprachlernprozess (7b) und auf die unterschiedliche Verwendung bzw. Mischung der Sprachen (7c). Helene erinnert sich daran, wie sie durch den Auslandsaufenthalt einen Bezug und eine Nähe zum Englischen entwickelt hat; Carlos, Ana, Franziska und Sinem beschreiben, wie sich ihr Verhältnis zur Herkunftssprache ihrer Familie geändert hat und was diese Sprachen heute für sie bedeuten. Auffällig ist, dass sich die Lernenden in ähnlicher Weise mit ihrer eigenen Mehrsprachigkeit auseinandersetzen, wie sie dies zuvor mit der Mehrsprachigkeit der Romanfiguren getan haben. Ein Blick in den Kodierungskatalog zeigt, dass die Auswertungskategorien für die lebensweltlichen Erfahrungen der Lernenden Ähnlichkeiten mit den Kategorien für die Auswertung der Interpretation literarischer Mehrsprachigkeit aufweisen (vgl. Codes 7 und 5). Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass sie die Reflexionskategorien aus der literarischen Analyse auf die Analyse ihrer eigenen Erfahrungen übertragen haben: Sie unterscheiden, mit welchen Personen aus ihrer Umgebung sie welche Sprache sprechen, ob sie ihre Sprachen mischen und warum sie dies tun (Franziska). Die Daten lassen daher die Schlussfolgerung zu, dass das Verstehen des eigenen mehrsprachigen Selbst vor dem Hintergrund des mehrsprachigen Anderen geschieht, dass also die SchülerInnen ein Bewusstsein über die eigene Mehrsprachigkeit entwickeln, indem sie andere als Mehrsprachige zu verstehen versuchen (vgl. Bredella 2010: XIX). An dieser Stelle zeigt sich auch, wie zentral die Rolle der mehrsprachigen literarischen 182 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="183"?> Texte bei der Initiierung solcher Reflexionsprozesse über die eigene Mehrsprachigkeit ist. Die mehrsprachigen literarischen Texte erinnern die Lernenden nicht nur an ihre eigenen Erfahrungen, sondern sie machen diese Erfahrungen auch interpretierbar, weil sie ihnen Bedeutung zuweisen (vgl. Bredella 2002: 46). Indem sie also am Beispiel von Sammy und seinen Freunden erfahren, dass Sprachen unterschiedliche Wirkungen haben können, dass ihre Verwendung von den Personen, der Gesprächssituation und dem Kommunikations‐ anlass abhängig ist, lernen die SchülerInnen, auch ihr eigenes Sprachverhalten vor dem Hintergrund dieser Kategorien zu hinterfragen. Aus den Daten geht also hervor, dass die mehrsprachigen literarischen Texte als „Modelle […] für das Verstehen unserer Erfahrungen“ fungieren können (Bredella 2007a: 59). Indem sie Erklärungsmuster für die mehrsprachigen sprachlichen Handlungen der Charaktere anbieten, ermöglichen sie den SchülerInnen einen Zugang zu ihren eigenen Erfahrungen mit Sprache(n). Die Thematisierung der lebensweltlichen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit ist für die SchülerInnen insofern bildungsrelevant, als sie ermöglicht, „die Welt, die uns sonst hinter unserem Rücken bestimmt“ (Bredella 2007b: 72), hervorzubringen und damit die Lernenden bewusst darüber nachdenken zu lassen, wie sie in dieser Welt Sprache(n) gebrauchen und was diese für sie bedeuten. Die Entwicklung einer solchen Bereitschaft zur Reflexion über den eigenen Sprach‐ gebrauch stellt für die Lehrerin eine zentrale Aufgabe des Englischunterrichts dar. Im retrospektiven Interview hebt sie hervor, dass in ihrem Unterricht auch „solche Sachen“ wichtig seien, die mit dem lebenslangen Lernen zu tun haben, z. B. eben was wir gemacht haben: Welche Sprachen benutze ich eigentlich? Ein bisschen was über sich herausfinden, da so ein bisschen über den eigenen Tellerrand gucken oder sich Sachen bewusst machen, die jetzt uns durchaus selbstverständlich vorkommen, aber den Schülern, selbst wenn sie zweisprachig sind, eben nicht, nämlich wann benutze ich welche Sprache, wie und warum oder zu welchem Maße kann ich die überhaupt… (L 2, Interview nach der Einheit) Die Ziele des Englischunterrichts sehe sie also in der Persönlichkeitsentwicklung und der Horizonterweiterung der Lernenden, die durch die Bewusstmachung des eigenen Sprachgebrauchs erreicht werden können. Diese Auffassung vom Englischunterricht er‐ klärt auch, warum die Lehrerin die SchülerInnen explizit dazu einlädt, ihre Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit zu thematisieren. Anhand der Intervention der Lehrkraft (Ab. 12, 13) wird deutlich, dass zwar die mehrsprachigen Chicano/ a-Texte an die Erfahrungen der Lernenden anknüpfen und daher das Potenzial bergen, sie zur Reflexion ihrer eigenen Mehrsprachigkeit zu ermutigen, dass aber die Verbalisierung und die Bewusstmachung dieses Reflexionsprozesses einer expliziten Aufforderung durch die Lehrkraft bedarf. Erst durch die Impulsgebung der Lehrerin wird den Lernenden signalisiert, dass ihre Erfah‐ rungen mit Mehrsprachigkeit nicht nur für sie selbst, sondern auch für die MitschülerInnen relevant sein können („Andere Leute könnten vielleicht davon profitieren, dass Sie es zu Hause schon ewig machen.“). Die obige Analyse hat gezeigt, dass die Lernenden ihre Erfahrungen nicht nur verbalisieren, sondern mit Hilfe der durch die Texte zur Verfügung gestellten Reflexionskategorien auch lernen, zu interpretieren und zu bewerten. Genau diese Interpretations- und Wertungsleistungen sind laut Bredella (2010: 6) Fähigkeiten, 5 Mehrsprachigkeitserfahrungen der Lernenden bei der Interpretation des Romans 183 <?page no="184"?> 77 Nach Vázquez & Meyer (2013: 217) waren rund 22 % aller in Vietnam gefallenen Zivilisten Mexican Americans. die SchülerInnen helfen, sich (und andere) kennenzulernen, und sind damit von zentraler Bedeutung für einen bildenden Fremdsprachenunterricht. Mehrsprachigkeit in einer szenischen Lesung erleben Im Unterschied zu dem vorherigen Abschnitt, in dem die Frage nach dem Vorwissen und den Erfahrungen, die die SchülerInnen in den Leseprozess einbringen, im Zentrum stand, wird in diesem Kapitel der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Kognitionen und Emotionen beim mehrsprachigen Lesen nachgegangen. Dies betrifft zwei Formen von Emo‐ tionen (vgl. Bredella 2012: 26), d. h. einmal die Frage, inwiefern die SchülerInnen die Emo‐ tionen der Romanfiguren in mehrsprachigen kommunikativen Situationen nachvollziehen können, und zum Zweiten die Frage, welche Emotionen der Perspektivwechsel in ihnen selbst auslöst. Ferner ist zu fragen, inwiefern die Lernenden eine emotionale Nähe zu den Romanfiguren entwickeln und welche Bedeutungen sie ihrer Mehrsprachigkeit zuweisen, wie sie den Sprachenwechsel im Roman nicht nur kognitiv begründen, sondern auch körperlich wahrnehmen, indem sie selbst in die Rolle eines/ r Mehrsprachigen schlüpfen und zwischen unterschiedlichen Formen bzw. Klängen der Sprachen wechseln. Es geht also in diesem Abschnitt weniger um das kognitive Erfassen der literarischen Mehrsprachigkeit als um die Frage, wie SchülerInnen den Wechsel zwischen Spanisch und Englisch als eine neue sprachliche Erfahrung wahrnehmen, wie sie sich als SprecherInnen dabei neu definieren sowie wie sie die Sprachen durch diese Verfremdung anders wahrnehmen. Diese subjektive Dimension des sprachlichen Lernens, der bisher kaum Berücksichtigung im schulischen Fremdsprachenunterricht geschenkt wurde, ist von zentraler Bedeutung, denn laut Kramsch (2009: 27 ff.) ist das Sprachenlernen häufig eine sinnliche Erfahrung, die sowohl geistig als auch körperlich von Lernenden verarbeitet wird. Um diesen Fragen nachzugehen, werden im Folgenden Ausschnitte aus Unterrichtsge‐ sprächen analysiert, die Einblicke in die Vorbzw. die Nachbereitung der szenischen Lesung einer Romanszene gewähren, in welcher Sammy und seine Freunde: Gigi, Ángel, René und Pifas, am Fluss sitzen und beim Trinken und Rauchen über ihre Zukunft nachdenken: „Let’s play a game. Let’s play. What-are-we-going-to-do-when-we-leave-Hollywood? “ (Sáenz 2004: 74) Anhand der Szene wird deutlich, dass ihre Pläne, nach dem Abschluss der high-school das arme Hollywood zu verlassen, aussichtslos sind. Pifas’ Mitteilung, in die Armee eingetreten zu sein, stößt auf großes Erstaunen bei seinen Freunden, die die verhee‐ renden Konsequenzen seiner Entscheidung erahnen. Pifas erleidet das tragische Schicksal vieler junger Chicanos, die Ende der 1960er Jahre in den Vietnamkrieg eingezogen wurden, und stirbt am Ende des Romans. 77 Bei der nachfolgenden Analyse des Sprachverhaltens konzentrieren sich die SchülerInnen auf diese Szene: 184 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="185"?> 78 Die revolutionäre Gruppierung Brown Berets entstand in den späten 1960er Jahren als Antwort auf den Rassismus und die Polizeigewalt gegen die Angehörigen der Chicano/ a-Minderheit (vgl. Espinoza 2008: 208 f.): „The Brown Berets emerged in the late 1960s as an organization that reflected the politicization of Chicano youth and their frustration with reformist politics. The Brown Berets incorporated a militant practice of community empowerment as Chicanos, members of a racial and ethnic minority.” (ebd.: 208) “You’re drunk, Pifas.“ “Fuckin‘ A, René,“ he said. “¿Y qué? But I’m goin’ in the pinche Army.” René had this sick look on his face, like he just couldn’t believe it. “Órale, Pifas, don’t be a pendejo. What are you gonna do in the army? There’s a war goin’ on, ese. Don’t you pay attention? Hollywood isn’t enough for you? Shit, ese, you’re joining the system instead of fucking fighting it. You should join the Brown Berets 78 , not the fucking Army.” “Órale, I’m not a pendejo. What the shit am I supposed to do? It’s either enlist or get drafted. Brown Berets, my ass. When they draft me, what are the fuckin’ Brown Berets gonna do? What are they gonna do for Pifas Espinosa? Fight the system, shit! Shit! That’s what I say.” […] He threw himself on the ground and just lay there, “Rise up! Fucking rise up! ” Then he laughed. I thought he would laugh forever. And then right there, the laughing sounded like crying. And maybe he was crying. Then, he stopped. Just stopped. Got up and sat back on the hood of his car. “I enlisted,” he said, his voice completely normal again. (ebd.: 75-f.) Angesichts der Armut und der alltäglichen Diskriminierung, der die Jugendlichen in Hollywood ausgesetzt sind, sucht Pifas einen Ausweg und entscheidet sich, in die Armee einzutreten, bevor er selbst eingezogen wird. Pifas fühlt sich im ‚System‘ gefangen und setzt keine Hoffnungen auf die politische Gruppierung Brown Berets. Pifas’ Verzweiflung und Wut angesichts seiner hoffnungslosen Lage spiegeln sich auch in seiner Sprache wider, so z.-B. in den vulgären Ausdrücken und Beschimpfungen (fuckin’ A, my ass, shit), aber auch im häufigen Wechsel ins Spanische (y qué, pinche, pendejo, órale). Da es beim szenischen Lesen vor allem darum geht, „eine Sprechhaltung für eine Figur zu entwickeln“ (Freitag-Hild 2015: 211) und dabei mit Stimme, Intonation, Lautstärke und Sprache zu experimentieren, sollten die SchülerInnen als Vorbereitung auf das szenische Lesen zunächst die Sprache der Romancharaktere näher betrachten. Dabei entwickeln sie erste Vorstellungen von den Charakteren, überlegen, welche Emotionen, Handlungs‐ absichten und Motive zum Ausdruck kommen und wie sie diese verbal und nicht-verbal artikulieren können. Im Folgenden soll illustriert werden, wie die SchülerInnen das Sprachverhalten von Pifas analysieren, um später bei der Lesung in seine Rolle schlüpfen zu können. 1 Sina I would say sometimes when he is silent, he has a quite relaxed voice and when he is laughing and everything, then he is quite powerful. 4 2 Frank In what way powerful? - 3 Sina Like very loud and yeah. - 4 Frank So, switching that's a common quality… they are very loud. 6 5 Mehrsprachigkeitserfahrungen der Lernenden bei der Interpretation des Romans 185 <?page no="186"?> 5 Baris Está muy loca einfach. 6 6 Sina I know Spanish people and Latino people. 6 7 Frank How is his way of speaking different or similar to other characters? - 8 Baris I think it's very special. Because of his style. Because of his vulgar style, because of his aggressive words that he uses. What does his particular way of speaking tell you about his character? 4 9 Sina I would say it's special because of the switching in it. - 10 Baris That he uses very a lot of Ausdrücke. - 11 Frank In that way he talks like the other characters. - 12 Sina I would say he is a quite … well… He is not really patient. So, he is quite an impatient person and he is easy to reizen, schnell reizbar. (How do you say reizbar? ) […] I would say I am totally into Pifas. I can feel his way of living and being. Nähe zur Figur 13 Baris No, I don’t like him. Betrunkener Spast. Distanz zur Figur Tab. 13: Gruppenarbeit als Vorbereitung auf das szenische Lesen Zunächst stellt sich die Frage, wie es den Lernenden gelingt, Pifas’ Emotionen in dieser Szene nachzuvollziehen und den Zusammenhang zwischen seiner Verzweiflung und Wut und seinem Sprachverhalten zu interpretieren. Es fällt auf, dass die Lernenden, ähnlich wie im vorherigen Abschnitt, weniger das literarische Wissen oder das Wissen über den sozio-geografischen Kontext (Vietnamkrieg, Diskriminierung der Chicanos/ as in den 1960er Jahren) bei der Analyse der Sprache berücksichtigen, sondern dass ihr Blick auf die Charaktere und ihr Sprachverhalten sehr subjektiv geprägt ist. Pifas’ Sprache wird als aggressiv, laut und vulgär wahrgenommen - Eigenschaften, die ihm aufgrund seines hispanoamerikanischen Ursprungs zugewiesen werden. Die Erklärungen der SchülerInnen basieren also auf stereotypischen Vorstellungen von Spanischsprechenden als lauten Men‐ schen und teilweise möglicherweise auch auf eigenen Erfahrungen, die hier verallgemeinert werden (Ab. 4-6, Code 6). Auch Kramsch zeigt, dass Lernende ihre Sprachen häufig vor dem Hintergrund kultureller Mythen oder konventionalisierter Ideologien betrachten, die Aufschluss darüber geben, welche persönlichen Assoziationen oder Einstellungen Lernende mit den Sprachen verbinden (vgl. Kramsch 2009: 59 ff.). Für die SchülerInnen dieser Lerngruppe steht also hier ihr eigener Bezug zum Spanischen im Vordergrund, ihre Wahrnehmung des Spanischen projizieren sie gewissermaßen auf Pifas. Der Ausschnitt lässt vermuten, dass nicht alle SchülerInnen die emotionale Lage von Pifas und die Ernsthaftigkeit der Situation in diesem Moment nachvollziehen können. Die Erklärung für sein Verhalten wird auch hier aus lebensweltlicher Erfahrung geschöpft, denn die Aussage „Betrunkener Spast.“ lässt vermuten, dass Baris den Alkoholkonsum für Pifas’ beleidigende Sprache verantwortlich macht. Sinas Aussage (Ab. 12) deutet darauf hin, dass sie die Emotionen von Pifas nachvollziehen kann, es bleibt allerdings unklar, was dieses Identifikationspotenzial ausgelöst hat. Dieser kurze Einblick in die analytische Arbeit der SchülerInnen zeigt zum einen, dass sie sich bei der Analyse der Sprache nicht so 186 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="187"?> sehr auf die Mehrsprachigkeit von Pifas fokussieren und dass es ihnen schwerfällt, die Hoffnungslosigkeit seiner Lage und die Angst vor den Konsequenzen seiner Entscheidung nachzuvollziehen. Wie im Folgenden gezeigt wird, bietet erst die szenische Lesung für die Lernenden eine Möglichkeit, sowohl Pifas als auch sich selbst als mehrsprachige Personen zu erleben und über dieses Erlebnis zu reflektieren. Die Szene am Fluss (Sáenz 2004: 74 ff.) wurde anschließend mit verteilten Rollen (Gigi, Pifas, Sammy und René) szenisch gelesen. Das Lesen fand in verschiedenen Räumlichkeiten der Schule statt, so z. B. im Flur oder im Treppenhaus. Vor der Durchführung probten die SchülerInnen das Lesen, überlegten sich, wie sie sich im Raum positionieren möchten, wie sie die entsprechenden Charaktere in Beziehung zueinander setzen wollen und wie diese Beziehungen durch räumliche Nähe oder Distanz dargestellt werden können. Nach der Präsentation der Szenen fand ein Reflexionsgespräch im Plenum statt, in dem Lernende berichteten, wie sie die szenische Arbeit sowie die eigene Darstellung der Romanfigur (hier Pifas) und seine Mehrsprachigkeit erlebt haben. Die folgenden exemplarisch ausgewählten Aussagen der Lernenden sollen einen Einblick in die Interpretations- und Reflexionspro‐ zesse der SchülerInnen geben: 1 L 2 Those who presented a scene… How did you feel in your role? How did it feel to speak English and Spanish at the same time? - 2 Baris I feel really like a Pifas because of the accent and because of the Spanish words that I use. I think it's interesting to speak two different languages at the same time. And everybody understood me. It was only some words like “órale” and yes… So it's like me when I speak German with Arabic, it's the same mix. 8 3 L 2 You even had a Spanish accent somewhere somehow. - 4 Baris Yes, from the Arabic maybe. 8 5 L 2 Maybe from speaking English and Spanish at the same time. - 6 Sina I am really into Spanish because I speak Spanish in private so that wasn't really a problem for me, but it was quite hard because they have different ways of pronouncing and to speak like “pendejo” is something sharp and almost the whole English language is more like… You use more the "r", you know what I mean? […] And it was quite hard to like switching between it. Because if you are really into the English flow and you have like smashing a Spanish word into it and that was quite different to me. 8, 6 Tab. 14: Unterrichtsgespräch zur Reflexion der szenischen Lesung Die Aufgabe ermöglicht eine affektive Teilhabe der SchülerInnen an der Mehrsprachigkeit der Charaktere, die sich bei Baris und Sina jeweils unterschiedlich manifestiert. Baris entwickelt eine emotionale Nähe zur Romanfigur, die er in der Stunde davor noch distanziert „[b]etrunkener Spast“ genannt hat, und identifiziert sich mit ihm („I feel really like a Pifas“). Die Mehrsprachigkeit, die die beiden gemeinsam haben, fungiert hier als eine Brücke zwischen dem für Baris fremden kulturellen Kontext der USA der 1960er Jahre und dem lebensweltlichen mehrsprachigen Kontext, in dem der Schüler aufwächst. Die bei der Sprachanalyse vernachlässigte Mehrsprachigkeit von Pifas scheint Baris erst im 5 Mehrsprachigkeitserfahrungen der Lernenden bei der Interpretation des Romans 187 <?page no="188"?> Rahmen dieser kreativ-handlungsorientierten Aufgabe als ein wesentliches Merkmal von Pifas’ Persönlichkeit zu erkennen und als eine Erfahrung wahrzunehmen, die er mit der Romanfigur teilt. Dies ist ein Hinweis darauf, dass gerade handlungsorientierte Verfahren die Mehrsprachigkeit als Merkmal fremder und eigener Identitäten für die Lernenden sichtbar und erfahrbar machen können. Anders als in vorigen Abschnitten, in denen die Lernenden ihr Vorwissen und ihre lebensweltlichen Erfahrungen aktivierten, um die Mehrsprachigkeit der Charaktere zu begründen, nehmen sie die Romanfiguren bei dieser Aufgabe emotional wahr und erfahren ihre Mehrsprachigkeit mit allen Sinnen. Indem sie sich in die Rolle von Pifas hineinversetzen und den Sprachenwechsel artikulieren, können sie einerseits nachvollziehen, wie es ist, zwischen zwei Sprachen zu wechseln. Sie erleben sich andererseits vor dem Hintergrund der Romanfigur als mehrsprachige Personen, nicht nur, weil sie sich an die eigene Mehrsprachigkeit erinnert fühlen (Baris), sondern auch, weil sie sich in zwei Fremdsprachen handlungsfähig erleben. Diese neue Erfahrung wird nicht nur kognitiv verarbeitet, sondern wird von Sina in erster Linie körperlich erfahren. Das Spanische erlebt sie als „hard“ und „sharp“ und als eine Sprache, die einschlägt („smash“) und dadurch den „flow“ des Englischen stört. Ähnlich wie im obigen Beispiel spielen bei der Wahrnehmung der beiden Sprachen auch hier die stereotypischen Vorstellungen vom Spanischen als einer ‚harten‘ und dem Englischen als einer ,weichen‘ Sprache eine wichtige Rolle. Dieser affektive Zugang zur sprachlichen Form ist, wie Kramsch hervorhebt (2009: 13), typisch für SprachanfängerInnen und hat eine wichtige emotionale Funktion, weil es Lernenden erlaubt, eine subjektive Beziehung zur Zielsprache aufzubauen. Auch wenn Baris und Sina unterschiedliche Aspekte der mehrsprachigen Leseerfahrung thematisieren, haben ihre Reflexionsprozesse gemeinsam, dass sie nicht nur ihre eigene Erfahrung bei der szenischen Lesung beschreiben, sondern sich auch fragen, wie sie als Mehrsprachige auf andere wirken. Baris ist besonders stolz darauf, dass ihn die anderen trotz der fehlenden Spanischkenntnisse verstanden haben und dass ihm seine Arabischkenntnisse geholfen haben, einen „spanischen Akzent zu haben“, Sina überlegt sich, wie ihre „harte“ Aussprache bei anderen „rüberkommt“ und wie der Inhalt der Aussage zu der gewählten Sprache passt, wie dieser Ausschnitt aus dem Interview deutlich macht: „Es war eine Verarbeitungsphase, wie bringe ich das rüber, dass es trotz der harten Aussprache nicht hart rüberkommt oder anders rum. Also ich denke, das ist nochmal eine Arbeit, die man in sich selbst durchführt.“ Den Lernenden gelingt es nicht nur, die Emotionen der Romanfiguren nachzuvollziehen, sondern sich auch in die Perspektive einer mehrsprachigen Figur zu versetzen und diese Mehrsprachigkeit auch selbst sprachlich zu realisieren und sich somit als Mehrsprachige in zwei Fremdsprachen ‚auszuprobieren‘. Diese Erfahrung ermöglicht bei Lernenden einen Reflexionsprozess („eine Arbeit, die man in sich selbst durchführt“) darüber, wie sie sich selbst beim Sprachenwechsel wahrnehmen, wie unterschiedlich sie die beiden Sprachen (hier Englisch und Spanisch) erleben und welche Parallelen sie zu ihrem mehrsprachigen Sprachverhalten im häuslichen Umfeld ziehen. Beim Ausagieren von mehrsprachigen Situationen aus dem Roman werden die Lernenden also angehalten, ihre subjektive Haltung zu bestimmten Sprachen zu reflektieren, neue Erfahrungen mit diesen Sprachen(n) zu machen und diese mit früheren Erlebnissen der Mehrsprachigkeit zu verknüpfen, wodurch 188 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="189"?> 79 Me’stan volviendo loca - Sie machen mich verrückt. ein Raum für Identitätsbildungsprozesse geschaffen werden kann (vgl. Freitag-Hild 2015: 204-ff.). 6 Mehrsprachiges Schreiben Anhand exemplarisch ausgewählter Schülergedichte soll im Folgenden untersucht werden, welche Erfahrungen, Gedanken und Gefühle Lernende beim mehrsprachigen lyrischen Schreiben thematisieren. Da es in dieser Lerngruppe besonders viele Lernende mit lebens‐ weltlich mehrsprachigem Hintergrund gibt, gilt es darzustellen, wie sie in den Gedichten ihre individuellen Vorstellungen von der Herkunftskultur und ihre Einstellungen zur Herkunftssprache zum Ausdruck bringen. Des Weiteren ist danach zu fragen, inwieweit Lernende das Englische als Fremdsprache zum Gegenstand ihrer Gedichte machen bzw. inwieweit sie diese Sprache als einen Teil ihrer mehrsprachigen Identitäten betrachten. Als Ausgangspunkt für das lyrische Schreiben wurde in dieser Unterrichtseinheit das englisch-spanische Gedicht „Legal Alien“ von Pat Mora (1985) verwendet: Bi-lingual, Bi-cultural, able to slip from “How’s life? ” to “Me’stan volviendo loca,” 79 able to sit in a paneled office drafting memos in smooth English, able to order in fluent Spanish at a Mexican restaurant, American but hyphenated, viewed by Anglos as perhaps exotic, perhaps inferior, definitely different, viewed by Mexicans as alien, (their eyes say, “You may speak Spanish but you’re not like me”) an American to Mexicans a Mexican to Americans a handy token sliding back and forth between the fringes of both worlds by smiling by masking the discomfort of being pre-judged Bi-laterally. Wie bereits beim Gedicht „She“, geht es auch hier um die Darstellung einer hybriden Identität („American but hyphenated“). Die Protagonistin erfährt sich in doppelter Hinsicht als fremd - zu „exotisch“ (exotic) für „Anglos“ und zu „fremd“ (alien) für „Mexicans“. Das 6 Mehrsprachiges Schreiben 189 <?page no="190"?> Leben zwischen den beiden Kulturen und Identitäten wird mit dem Gefühl der sozialen Ausgrenzung und Inferiorität verbunden. Mehrsprachig zu sein heißt für sie, zu keinem der Kulturkreise zu gehören und sich stets (auch sprachlich) zwischen den Grenzen dieser Welten zu bewegen: „able to slip from ‚How’s life? ‘ to ‚Me’stan volviendo loca‘“. Die SchülerInnen dieser Lerngruppe hatten im Vergleich zum an der ersten Fallstudie beteiligten Kurs weniger Zeit für das Schreiben des eigenen Gedichtes und sollten dieses im Unterricht verfassen. Die hier präsentierten Lernertexte sind daher deutlich kürzer sowie weniger elaboriert und werden lediglich im retrospektiven Interview reflektiert, da in der Stunde die Zeit für die anschließende Besprechung fehlte. Es handelt sich daher um spontan entstandene Schülerprodukte, die sich durch eine hohe Authentizität auszeichnen, da sie im Unterricht in einer relativ kurzen Zeit entstanden und keine Nachjustierung erfahren konnten. Die Lehrkraft legte fest, dass eine der genutzten Sprachen Englisch sein sollte. 6.1 Verlust der Herkunftssprache Da in dieser Lerngruppe besonders viele Lernende einen lebensweltlich mehrsprachigen Hintergrund aufweisen, thematisieren ihre Gedichte häufig das Verhältnis zur Herkunfts‐ sprache, die mit Deutsch oder den schulischen Fremdsprachen kontrastiert wurde. Im Folgenden soll das englisch-deutsche Gedicht von Ana analysiert werden, in dem sie das Deutsche und das Serbische gegenüberstellt. Ana thematisiert in vielen ihrer Äußerungen im Unterrichtsgespräch das Serbische als Teil der eigenen Mehrsprachigkeit. Zunächst erweist sich das Serbische als wertvolle sprachliche Ressource bei der Entschlüsselung des mehrsprachigen Romans, anschließend wird der Serbischerwerb als eine Lernerfahrung vor dem Hintergrund mehrsprachiger Romanfiguren thematisiert. Der Verlust bzw. die Vernachlässigung des Serbischen spielt bereits in der Phase der Textrezeption eine wichtige Rolle für Ana, wie durch diese Aussage deutlich wird (siehe Abschnitt 5): When I was little, I didn’t speak much Serbian because it was important to my parents to speak more in German because of school and education but now I can speak both languages, Serbian and German. I learnt it from friends and family. Now it’s easier to speak it for me. An einer anderen Stelle zeigt sich, dass Ana die Überzeugung ihrer Eltern, das Serbische solle zunächst zugunsten des Deutschen als Bildungssprache zurückgestellt werden, selbst internalisiert hat und ebenfalls als Argument anführt, um die Sprachwahl ihrer Geschwister zu begründen: „I talk to my siblings only German and my brother is in the first class and I think it’s important to speak rather German than Serbian.“ Serbisch ist zwar die Familiensprache für Ana, sie wird aber mit dem deutschen Bildungssystem als nicht vereinbar betrachtet bzw. wird für Bildungszwecke als nicht relevant erachtet. Vor diesem Hintergrund kann das folgende Gedicht als Ergebnis eines längeren Reflexionsprozesses betrachtet werden, der im Zuge der literarischen Arbeit mit dem mehrsprachigen Roman bei der Schülerin angestoßen wurde: 190 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="191"?> You ask me what I mean By saying I lost my mother tongue Doch ich frage dich, was würdest du tun, if you lived in a place you had to speak a foreign tongue. You could not use them together. […] When I speak Serbian, it comes from my heart because it’s my mother tongue. Nevertheless, I feel safer, wenn ich Deutsch rede. Durch das Gedicht tritt ein neuer Aspekt in den Vordergrund, der bisher so von Ana im Unterricht nicht thematisiert wurde und daher auf eine Weiterentwicklung ihres mehrsprachigen Selbst im Rahmen dieser kreativen Aufgabe hindeutet: der Verlust des Serbischen als Familiensprache und damit möglicherweise auch der Verlust der Verbindung zum Herkunftsland der Familie (Code 10e). Diesen „Verlust“, den sie in einer Art Dialog mit einem fiktiven Gegenüber zu rechtfertigen versucht, erlebt sie als ein Handicap, das andere verurteilen könnten und das daher einer Erklärung bedarf. Das Deutsche und das Serbische werden als inkompatibel und kompetitiv wahrgenommen („You could not use them together“): Das Serbische komme aus dem Herzen, dagegen wird das Deutsche mit Fremdheit („foreign tongue“) und gleichzeitig mit einem Gefühl von Sicherheit assoziiert („I feel safer“). Die Unvereinbarkeit des Deutschen und des Serbischen spiegelt sich auch in der Sprachenwahl des Gedichtes wider, denn das Serbische kommt in dem Gedicht nicht vor. Möglicherweise ist dies darauf zurückzuführen, dass das Serbische für Ana nicht zur Welt der Schule gehört (was der Meinung ihrer Eltern entsprechen würde) oder dass sich Ana im Gebrauch des Serbischen noch sehr unsicher fühlt. Anas Verhältnis zu ihrer Herkunftssprache Serbisch ist ambivalent: Es besteht eine enge Bindung zum Serbischen; Serbisch wird aber gleichzeitig als mit der (deutschsprachigen) Öffentlichkeit unvereinbar wahrgenommen, was wiederum dazu führt, dass die Kenntnisse in dieser Sprache geringer ausfallen und ihr Gebrauch Unsicherheiten hervorruft. Das Gedicht zeigt, dass Ana im Rahmen dieser Unterrichtseinheit Gelegenheiten hatte, das Serbische als Teil ihres mehrsprachigen Selbst wahrzunehmen und damit auch den Fremdsprachenunterricht als einen Ort zu erleben, der Raum für ein Nachdenken über die Herkunftssprache bietet und Gelegenheiten schafft, sie als wertvolle sprachliche und kulturelle Ressource einzusetzen. 6.2 Die Herkunftssprache als Teil der eigenen Persönlichkeit Im Gegensatz zu Ana, die ihre Mehrsprachigkeit mit dem Verlust der Herkunftssprache und dem Nicht-Dazugehören aufgrund von sprachlichen Barrieren assoziiert, interpretiert Sinem in ihrem Gedicht „Bi-lingual“ die Fremdsprache Englisch und die Herkunftssprache Türkisch als miteinander vereinbar und als Teil eines gemeinsamen mehrsprachigen Selbst (Code 10e, 10 f): 6 Mehrsprachiges Schreiben 191 <?page no="192"?> 80 Die Übersetzung aus dem Türkischen erfolgte durch eine Muttersprachlerin aus dem Umfeld der Forscherin, die darauf hinwies, dass das Gedicht einige Fehler im Türkischen aufweist. iki dil, iki dünya, Zwei Sprachen, zwei Welten 80 talking in two languages […] Is it only the language? Kültür farki? Kulturunterschied? Sinem stellt das Türkische und das Englische in einem Dialog als zwei Sprachen („dil“) und zwei Welten („dünya“) gegenüber. Der Wechsel zwischen dem Englischen und dem Türkischen ist nicht nur als ein Wechsel zwischen Sprachen, sondern auch als ein Wechsel zwischen unterschiedlichen Kulturen zu verstehen („Kültür farki“). iki dül, iki dünya […] zwei Sprachen, zwei Welten eine language international, bir dil se auch wenn es eine Sprache ist de sadece kalbin de in deinem Herzen two cultures? two languages? Yoksa bir dil, bir dünya? oder eine Sprache, eine Welt? turklish me? ist es turklish? Die Protagonistin fragt am Ende des Gedichtes, ob Türkisch und Englisch zwei unter‐ schiedliche Sprachen und Welten seien oder im Herzen („kalbin“) doch nur eine („bir dil, bir dünya“). Sinem nutzt also hier die Dialogform des ursprünglichen Gedichtes von Pat Mora, deutet das Gedicht aber insofern um, als sie, anders als in der literarischen Vorlage, nicht die Ausgrenzung und das Nicht-Zugehören ins Zentrum stellt, sondern die kulturelle Hybridität positiv interpretiert. In der Zusammenführung des Englischen und des Türkischen im erfundenen Nomen „turklish“ (Turkish/ English) wird der Wunsch der Schülerin deutlich, ihre Herkunftssprache und die Fremdsprache Englisch als gleichwertige Teile ihrer mehrsprachigen Persönlichkeit zu betrachten. Diese Schreiberfahrung ist aber nicht nur mit einer Aufwertung des Türkischen ver‐ bunden, sondern auch mit der Realisierung, dass das Türkische in der Schriftsprache deutlich schlechter beherrscht wird als das Deutsche, wie im anschließenden Interview deutlich wird: Ich habe halt gemerkt, immer wenn ich Türkisch geschrieben habe, habe ich gemerkt, dass ich die türkische Rechtschreibung nicht so gut beherrsche, noch schlechter als die deutsche. Dann musste ich immer Nuria fragen oder im Internet nachschauen, weil ja Türkisch ist immer noch ein bisschen anders. Die Gedichte von Ana und Sinem deuten darauf hin, dass die Schülerinnen ihre Beziehung zu den beiden Herkunftssprachen als widersprüchlich erleben: Das Türkische und das Serbische stehen ihnen als Sprachen ihrer Familie nahe, doch sie werden gleichzeitig als fremd empfunden, weil sich einerseits beim mehrsprachigen Schreiben die unzureichenden sprachlichen Kenntnisse manifestieren und andererseits die Herkunftssprache einen an‐ deren gesellschaftlichen Status einnimmt und, wie im Fall von Ana, als schulextern erlebt wird. Eine ähnliche Erfahrung durchlebt auch Jana aus der vorigen Fallanalyse, die beim 192 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="193"?> 81 „Hayati“ ist eine im Arabischen verbreitete Form und bedeutet „lebenswichtig“ oder „mein Leben“. „Hayati“ wird auch als Kosename verwendet. Schreiben ihres deutsch-polnischen Gedichtes realisiert, wie unsicher sie sich im polnischen Sprachgebrauch fühlt, und ihre Familie um Hilfe bitten muss, um das Gedicht schreiben zu können. 6.3 Darstellungen von (Herkunfts-)Kulturen Die Darstellungen der Herkunftskultur ähneln den Darstellungen der Herkunftssprachen in den Gedichten insofern, als sie einerseits die emotionale Nähe zum Herkunftsland thema‐ tisieren und gleichzeitig deutlich machen, dass eine gewisse Distanz gegenüber dem Land der Eltern bzw. der Großeltern herrscht. Diese spiegelt sich u. a. darin wider, dass Lernende in ihren Gedichten keine persönlichen Erfahrungen mit der Herkunftskultur thematisieren, sondern eine Vorstellung vom Herkunftsland entwickeln, die möglicherweise eher auf Stereotypen basiert, wie hier im Falle von Baris (Code 10 f). Er assoziiert sein Heimatland mit landestypischen Gerichten: Du bist und bleibst mein Hayati 81 ! Lass was essen gehen oder koch mir was! Mach mir doch ein paar Schawarmas Leg dich träumen und zwar von Syria Morgen gibt’s Essen und zwar Fasulia Interessanterweise benutzt Baris in seinem Gedicht außer dem Nomen „hayati“ (mein Leben) kein anderes Wort auf Arabisch oder nur in ‚verdeutschter‘ Version (Großschreibung von Fasulia - Bohnen, Hayati, Schawarma). Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass Baris das Arabische (zumindest in schriftlicher Form) nicht sicher beherrscht bzw. dass er seine persönlichen Erfahrungen mit dem Herkunftsland nicht zum Gegenstand von Un‐ terricht machen möchte und deshalb bei der Darstellung seines Herkunftslandes lieber auf allseits bekannte syrische Gerichte zurückgreift. Aus seiner Reflexion des mehrsprachigen Schreibens im retrospektiven Interview kann geschlossen werden, dass das mehrsprachige Schreiben zwar eine Reflexion über die eigene Mehrsprachigkeit bei Baris initiiert hat, dass es ihm allerdings schwerfällt, diesen Reflexionsprozess in Worte zu fassen und zu bewerten. Das Schreiben der Gedichte habe für Baris „eine lustige Wirkung, aber auch eine schöne Wirkung, weil man halt sich dann wirklich bewusst ist, so dass man eine andere Kultur hat, eine andere Familie, einen anderen Ort hat, wo noch Leute leben, die einen kennen“. Auch Frank kreiert in seinem englisch-deutschen Gedicht eine Vorstellung von ‚Kultur‘ (Code 10 f), die stereotypisierend und vereinheitlichend wirkt („German culture“ und „English culture“): Bi-lingual, one-cultural Mother tongue and foreign language Since day 1, since grade 3 But English culture is not for me Born and raised in Berlin, Deutschland 6 Mehrsprachiges Schreiben 193 <?page no="194"?> […] German culture and American sports Hell of a mixture, bits of all sorts. Englisch scheint für Frank eine Fremdsprache zu sein, die er mit Schule verbindet und die mit seiner eigenen Lebenswelt (außer „American sports“) wenig zu tun hat. Er spreche zwar Englisch, aber mit der ‚Kultur‘ könne er sich nicht identifizieren. Die vorliegenden Gedichte zeigen einmal, dass Lernende mit ihren Gedanken zu eigener Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität noch ganz am Anfang stehen und vielen von ihnen erst im Rahmen dieser Aufgabe die eigene Mehrsprachigkeit bewusst wird. Sie lernen zwar viele Sprachen, aber sie stellen sich nicht die Frage, was nun diese anderen Kulturen und Sprachen für sie persönlich bedeuten. Dies gilt ebenfalls für lebensweltlich mehrsprachige SchülerInnen, die zwar eher dazu neigen, eine emotionale Verbindung zu ihrem Herkunftsland zu artikulieren, aber häufig bei der Repräsentation auf stereotypische Vorstellungen zurückgreifen und sich im Gebrauch dieser Sprache unsicher fühlen. Auch die Lehrerin beschreibt im retrospektiven Interview die Bewusstmachung der eigenen Mehrsprachigkeit als eine neue Erfahrung für viele SchülerInnen der Lerngruppe: L 2: Also diese Bewusstmachung, sie sind ja erst 17, ist für viele das erste Mal, dass sie sich bewusst damit auseinandersetzen oder sich darüber Gedanken machen oder gezwungen werden, das in Worte zu fassen, was denen zu Hause, in der Schule […] dass ich doch code-switching mache. Das finde ich wichtig, dass das in den Englischunterricht gehört, weil das, weil klar es soll ihnen Englisch nähergebracht werden, aber auch Sprachen im Allgemeinen. (Interview nach der Einheit) Der Englischunterricht habe also die wichtige Funktion, einen Raum zu schaffen, in dem le‐ bensweltliche Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit artikuliert und dadurch bewusst gemacht werden sollen. Daraus lässt sich schließen, dass die Lehrerin diesen Alltagserfahrungen der Lernenden eine große Relevanz im Englischunterricht zuspricht. Am Ende ihrer Aussage klingt allerdings die Frage an, wie sich dieses Nachdenken über die Herkunftssprachen und -kulturen mit den Zielen eines Unterrichts vereinbaren lässt, der auf die Ausbildung von Englischkompetenzen fokussiert ist. Der Vergleich mehrsprachiger Schülergedichte mit den Texten aus der vorigen Fallana‐ lyse lässt die Vermutung zu, dass die SchülerInnen dieser Lerngruppe zwar das Englische in ihren Gedichten verwenden, aber im Unterschied zu den SchülerInnen des anderen Leistungskurses ihr Verhältnis zum Englischen weniger ausführlich thematisieren. Dies kann verschiedene Erklärungen haben: Es ist möglich, dass sie das Englische nicht als Teil ihrer mehrsprachigen Persönlichkeit wahrnehmen oder ihnen ihre Herkunftssprachen, das Türkische oder das Arabische, für die Darstellung eigener Mehrsprachigkeit wichtiger erscheinen. Wie nah oder fern sich die Lernenden dem Englischen gegenüber fühlen, hängt möglicherweise davon ab, wie gut sie diese Sprache beherrschen und ob Englisch als Teil der eigenen Lebenswelt wahrgenommen wird. Die SchülerInnen aus der vorherigen Fallanalyse konnten sich sprachlich deutlich differenzierter und elaborierter ausdrücken als die SchülerInnen dieser Lerngruppe. Daher stellt sich die Frage, wie das Englische gezielt in die Reflexion der eigenen Identität miteinbezogen werden kann, sowohl als die Sprache, in der das Nachdenken über die eigene Mehrsprachigkeit vollzogen wird, als auch als Gegenstand der Reflexion: Worin 194 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="195"?> 82 In der Abschlussstunde wurden die SchülerInnen gebeten, schriftlich festzuhalten, wie ihnen die Einheit zum mehrsprachigen Roman gefallen hat. Die Aussagen wurden an der Tafel gesammelt und präsentiert. besteht also der spezifische Beitrag des Englischunterrichts zur mehrsprachigen Identitäts‐ bildung? Sollen und können SchülerInnen dazu aufgefordert werden, beim mehrsprachigen Schreiben im Englischunterricht darüber nachzudenken, was das Englische für sie bedeutet, auch wenn ihre Herkunftssprachen für sie wichtiger erscheinen? Wenn das mehrsprachige Schreiben im Englischunterricht stärker auf das Englische ausgerichtet werden soll, erscheint es sinnvoll, den Schreibprozess stärker anzuleiten. Dies würde bedeuten, dass die Lernenden Gelegenheit erhalten sollen, über ihren Bezug zum Englischen und die Relevanz, die diese Sprache in ihrem außerschulischen Alltag hat, eingehender nachzudenken, um so das Englische nicht mehr nur als Unterrichtsfach wahrzunehmen, sondern um eine subjektive Beziehung zu dieser Sprache aufbauen zu können. 7 Retrospektive Betrachtung der Unterrichtseinheit aus Schüler- und Lehrersicht Im folgenden Abschnitt soll die Analyse der oben dargestellten Unterrichtssituationen anhand von Kategorien zusammengefasst und durch die retrospektiv erhobenen Daten um die Sicht der Lehrerin und der Lernenden ergänzt werden. Wie bereits in der vorigen Fallanalyse werden auch hier zunächst die Reaktionen der Lernenden auf den literarischen Text präsentiert, die aus einem abschließenden Unterrichtsgespräch hervorgehen. 7.1 Reaktionen auf den mehrsprachigen Roman Ausgehend von den folgenden Aussagen soll untersucht werden, was die Lernenden besonders interessant an dem literarischen Text fanden, inwiefern sie eine Verbindung zu seinem Inhalt bzw. Sprache aufbauen konnten und welche ersten Hinweise sich hinsichtlich der Wahrnehmungs- und Interpretationsprozesse von Lernenden in diesen Aussagen finden lassen. Die Lernenden finden den Zugang zum Roman zunächst über seine Thematik, wie die folgenden Aussagen aus einem Unterrichtsgespräch in der Abschlussstunde zeigen: 82 I personally liked the book because of its great story-telling by a juvenile narrator who goes into detail on how young Mexican-Americans felt during the late 60’s in the US. It depicts fittingly what minorities had and still have to go through - in that way its message is timeless and resembles every society today. (13c) During my exchange year I felt the tension between Mexicans and White Americans. (13e) There are typical situations in this book which are common in lives of teenagers who grow up bi-culturally. (13c) 7 Retrospektive Betrachtung der Unterrichtseinheit aus Schüler- und Lehrersicht 195 <?page no="196"?> The novel has left a strong impression on me because things like that happen all over the world and it is a very actual topic. (13c) Einerseits interessieren sie sich für den spezifischen fremdkulturellen Kontext, d. h. für die Situation der Chicanos/ as in den USA, andererseits scheint für sie besonders die Übertragbarkeit dieses Themas auf den eigenen lebensweltlichen Kontext relevant zu sein. Es gehe aber nicht nur um die Diskriminierung von Minoritäten, sondern auch um andere Themen, die mehrkulturell aufwachsende Jugendliche interessieren. Eine Schülerin kann diesbezüglich auch direkt an ihre Auslandserfahrung anknüpfen. Nicht nur die thematischen Aspekte, sondern auch die mehrsprachige Gestaltung des Romans scheint für die Lernenden in der retrospektiven Betrachtung eine besondere Relevanz zu haben: The use of Spanish and English let me identify more with the character Sammy. (13d, 13e) The book has a special vibe because of the Spanish and English mix. Because like you can see the differences between the two cultures when they speak and when they choose to speak Spanish and when they choose to speak English. (13d) Die Erwähnung der mehrsprachigen Gestaltung zeigt, dass Lernende über die Funktion und die Wirkung der Sprachmischung als ästhetisches Merkmal des Romans nachgedacht haben, auch wenn diese in den Unterrichtsgesprächen kaum thematisiert wurden und, wie anfangs erläutert, keinen Schwerpunkt dieser Unterrichtseinheit bildeten. Über diese ‚Mischsprache‘ des literarischen Textes haben sie einen Zugang zu den ProtagonistInnen des Romans gefunden und sie habe ihnen geholfen, die unterschiedlichen Haltungen der Figuren gegenüber ihren Kulturen zu erfassen. Neben der inhaltlichen Verarbeitung von Mehrsprachigkeit und ihrer sprachlichen Realisierung durch die mehrsprachige Gestaltung scheinen für die Lehrkraft weitere As‐ pekte der mehrsprachigen literarischen Texte bedeutsam, wenn es darum geht, Lernenden einen Zugang zu fremder und eigener Mehrsprachigkeit zu ermöglichen, wie aus dieser Interviewpassage hervorgeht: 1 I Das finde ich jetzt gerade interessant. Also denken Sie, dass die gleichen Lernprozesse, die Bewusstmachungsprozesse stattgefunden hätten, auch ohne den literarischen Text? 2 L 2 Ich denke, man kann das auf allen möglichen Ebenen machen. So ein literarischer Text gibt dem aber ein bisschen mehr … für die Schüler mehr, ein bisschen Ernsthaftigkeit, weil das für sie ein Unterrichtsthema ist. Das andere läuft bei denen eher so unter, das ist jetzt so ein Spielchen, hat jetzt mit dem Unterrichtsstoff nichts zu tun. Wenn ich das an einem Roman festmache, dann hat das Relevanz, dann wird das gleich auf eine andere Ebene gehoben. Es wurde gefragt, das, was wir hier machen, steht das im Lehrplan und dann konnte ich den Verweis bringen, ja Immigration, Zeiten, USA-Migration-Verhältnis und das ist eben ein Aspekt davon. Und dann war es für sie auch noch einmal, ja Teil einer wichtigen Sache, die jetzt auch Relevanz hat für die Klausuren oder es ist ihnen glaube ich jetzt nicht sooo … Es hat nicht die Ernsthaftigkeit … Sprache hat da für sie keine Ernsthaftigkeit, solange es nicht in irgendeiner Form in dem Curriculum steht oder abprüfbar ist oder sie nachher nochmal dazu befragt werden. […] Also insofern, nur um auf Ihre Frage zurückzukommen, wenn man es jetzt mit so einem Roman unterlegt, hebt man das gleich auf eine andere 196 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="197"?> Ebene. Dass es das auch in Wirklichkeit gibt und dass das auch wirklich wichtig ist, dass man sich darüber Gedanken macht. Dass das Thema jetzt auch nicht nur für sie…, dass es ein relevantes Thema ist, auch in der Literatur. […] 3 I Und… Jetzt wiederhole ich meine Frage von vorhin, aber in einem anderen Zusammenhang. Sie hätten ja diese Bewusstmachung, die Transferprozesse zwischen den Sprachen, auch mit Sachtexten erarbeiten können. Dann hätte man den literarischen Text, der zwei Sprachen benutzt, nicht nehmen müssen. Was ist sozusagen der Mehrwert dieses literarischen Textes, der selbst in zwei Sprachen geschrieben ist, für die Förderung der Mehrsprachigkeit? 4 L 2 Rein menschlich ist es, das Geschichtenerzählen oder sich gegenseitig erzählen oder das Lesen oder dass Sprache auch immer was Emotionales ist, kommt man denke ich eher an den Kern der Sache eher, wenn man … sich das … dieses Phänomen der Mehrsprachigkeit erstmal durch einen literarischen Text, der (lacht) bestenfalls Emotionen anspricht. Wenn man sich das auf dieser Weise erarbeitet… Natürlich würde nichts dagegensprechen, dass noch ergänzend durch einen Sachtext sich die nötigen Fakten zu besorgen, wäre auch eine Möglichkeit, nur bleibt eine Geschichte noch im Kindergarten eher hängen, als wenn ich reine Information rausgebe. Das ist … ja. Tab. 15: Interview mit der Lehrerin zur Gesamtbewertung der Unterrichtseinheit Die Lehrerin betont, dass die Arbeit mit dem Roman dem Thema Mehrsprachigkeit „Ernsthaftigkeit“ verleihe. Zum einen liege das daran, dass der Roman durch seine Thematik einen Bezug zum Lehrplan ermögliche („Immigration, USA-Mexiko-Verhältnis und Migration“ stehe im Curriculum), und zum anderen daran, dass die SchülerInnen durch die Lektüre Mehrsprachigkeit als ein allen Gesellschaften inhärentes Phänomen kennenlernen. Der mehrsprachige Text schaffe eine Verbindung zwischen Mehrsprachig‐ keit als einem weltweit präsenten und relevanten Phänomen (was seine Thematisierung im Englischunterricht legitimiert) und Mehrsprachigkeit als einem für die Lernenden persönlich relevanten Thema: Die Lernenden sollen Einsicht darin gewinnen, „dass es das auch in Wirklichkeit gibt und dass das auch wirklich wichtig ist, dass man sich darüber Gedanken macht, dass das Thema jetzt auch nicht nur für sie… dass es ein relevantes Thema ist, auch in der Literatur.“ Ferner schaffe der literarische Text vor allem über Emotionen Raum zum Nachdenken über Sprache(n), weil die Texte zeigen, „dass Sprache auch immer was Emotionales ist“. Dadurch komme man „dem Kern der Sache näher, wenn man sich dieses Phänomen der Mehrsprachigkeit erstmal durch einen literarischen Text erschließt, der bestenfalls Emotionen anspricht.“ Die Arbeit mit dem literarischen Text ermögliche also eine emotionale Beteiligung der Lernenden an der Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität. Wie die oben angeführten Schüleraussagen zeigen, geschieht diese emotionale Beteiligung sowohl über die thematische als auch über die sprachliche Ebene der Texte, denn häufig wird die Mehrsprachigkeit der Romanfiguren anhand des Sprachenwechsels für die SchülerInnen nachvollziehbar. 7.2 Mehrsprachige Leseerfahrungen Im Folgenden soll dargestellt werden, wie die Lernenden den mehrsprachigen Lesepro‐ zess retrospektiv beschreiben und beurteilen, darunter insbesondere das sprachliche Ver‐ 7 Retrospektive Betrachtung der Unterrichtseinheit aus Schüler- und Lehrersicht 197 <?page no="198"?> ständnis des Textes, die Wahrnehmung seiner mehrsprachigen Gestaltung und die Wahr‐ nehmungs- und Interpretationsprozesse rund um die Mehrsprachigkeit der Romanfiguren. Das sprachliche Verständnis des Romans scheint den Lernenden keine Schwierigkeiten zu bereiten. Für Baris „war das ja wirklich kein spanisch-englisches Buch, sondern ein Buch, was von spanischen Jugendlichen handelt, und halt nur, um sich besser in die Lage zu versetzen ein paar spanische Wörter […] benutzt wurden, aber sonst war das eher sehr gut verständlich“. Die Aussage macht deutlich, dass der Schüler die Mehrsprachigkeit des Romans nicht als Hindernis empfindet, sondern das ‚Wozu‘ der mehrsprachigen Gestaltung hinterfragt. Der Einsatz des Sprachenwechsels wird als literarisches Gestaltungsmittel reflektiert, wie die folgenden Äußerungen der Lernenden aus dem retrospektiven Interview zeigen: Baris: Wenn man halt diese Probleme mitbekommt und dann selber spanische Wörter liest, dann fühlt man sich wirklich in dieser Geschichte eingebunden und man versteht den Kontext und die Probleme und die Problematik. (13d) Sina: Ich denke, das hat etwas damit zu tun, dass Leute, wenn sie Emotionen ausdrücken, dazu neigen, in ihrer Muttersprache zu reden. […] Dann fallen sie in ihre Muttersprache zurück und man hat halt dadurch auch die Emotionen der beteiligten Charaktere besser mitbekommen. (13d) Zum einen wird deutlich, dass Lernende die Verbindung zu den Charakteren nicht nur durch den Inhalt des Romans herstellen, sondern auch „durch die spanischen Wörter“ (Code 13d), die einen am Teil der mehrsprachigen und mehrkulturellen Realität der Chicanos/ as teilhaben lassen. Zum Zweiten geht aus den exemplarisch zitierten Äußerungen hervor, dass die SchülerInnen Bewusstheit für die Gründe einer bestimmten Sprachenwahl entwi‐ ckelt haben - sowohl im Hinblick auf die literarische als auch auf die lebensweltliche Mehrsprachigkeit. Diese sind wichtige Hinweise darauf, dass literarische Mischtexte ein besonderes Potenzial im Hinblick auf die Wahrnehmung und die Interpretation von Mehrsprachigkeit und mehrsprachigen Handlungsentwürfen haben, da sie diese nicht nur thematisieren, sondern auch auf einer sprachlichen Ebene sichtbar machen. Für einige Lernende ist es insbesondere die mehrsprachige Gestaltung der literarischen Texte, die den Zugang zu mehrsprachigen Romancharakteren ermöglicht. Die Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität von Romanfiguren sei für die Lernenden laut ihren Aussagen im Interview am ehesten im Rahmen der Aufgabe zum szenischen Lesen nachzuvollziehen. Die Interviewfrage „Welche Aufgabe hat ihnen besonders geholfen, diese Mehrsprachigkeit [der Figuren] zu verstehen oder zu reflektieren? “ beantworteten zwei SchülerInnen folgendermaßen: Baris: Das mit dem Vorspiel, also die schauspielerische Arbeit war am besten. Weil wir mussten eine Szene spielen, wo wir alle am Fluss, am See, saßen und betrunken waren. Und ja, wenn man es halt so liest und so … Ich glaube, da habe ich erst richtig verstanden, was dieses „pendejo“ […] was das bedeutet, oder was für eine Wirkung das hat und das hat geholfen. […] Es war ernster als ich gedacht habe, der eine zieht in den Krieg. Und als ich dann gespielt habe, dass ich in den Krieg ziehe, war das schon so … ich habs ernster genommen. (13b) Sina: Es war Arbeit mit dem Text, weil man sich hineinversetzen musste, aber ich fand, das war eine sehr produktive Arbeit, weil man sich halt mit dieser Szene und mit dem Charakter vor allem 198 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="199"?> auseinandersetzen musste und man hat dann im Nachhinein und im Vorher die Szene einfach ein bisschen anders verstanden. (13b) Die Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit findet auf einer kognitiven Ebene statt, indem die Lernenden überlegen, welche Wirkung Wörter haben können (in diesem Falle das derogative „pendejo“), oder im Sinne des close-reading („Arbeit mit dem Text“) die Sprache der Charaktere analysieren. Die Aufgabe ermöglicht den SchülerInnen aber auch eine emotionale Teilhabe an der Szene und fördert die Perspektivenübernahme („weil man sich hineinversetzen musste“). Auffällig ist, dass diese Aufgabe von den SchülerInnen sehr positiv bewertet wird, weil die Arbeit sehr „produktiv“ war und zu einem besseren Verständnis geführt hat. Mit Verständnis ist hier nicht nur das sprachliche Verständnis gemeint, sondern auch eine Bewusstheit für die Ernsthaftigkeit der Szene (Pifas zieht in den Krieg), aber auch für die Mehrsprachigkeit der Romanfigur, die Assoziationen zu eigener Mehrsprachigkeit der Lernenden geweckt hat (siehe die Aussage von Baris: „I felt really like a Pifas“, Abschnitt 5 in diesem Kapitel). Die SchülerInnen finden also über die Wahrnehmung und die Erfahrung der mehrsprachigen Gestaltung des Romans sowohl einen Zugang zum Roman als auch zu ihrer eigenen Mehrsprachigkeit. Diese Erkenntnis spricht dafür, dass - im Gegensatz zu einsprachigen Romanen, die Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität auf inhaltlicher Ebene thematisieren - die Chicano/ a-Mischtexte durch die Besonderheiten ihrer Gestaltung die Identifikation mit der Mehrsprachigkeit der Charaktere begünstigen und somit auch die eigene Mehrsprachigkeit der SchülerInnen erfahrbar machen. 7.3 Mehrsprachiges Schreiben Die Reflexion des mehrsprachigen kreativen Schreibens nimmt, wie auch in der zuvor dargestellten Unterrichtseinheit, eine sehr prominente Rolle in den retrospektiv erhobenen Daten ein. Als Antwort auf die zweite Frage: „Welche Aufgaben oder Themen aus der Unterrichtseinheit sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben? “ weist der Fragebogen B eine Vielzahl an positiven Aussagen zum lyrischen Schreiben auf: Das Gedichte-Schreiben förderte vor allem Kreativität. (GAUD02) (14b) Als wir zweisprachige poems im Unterricht vorgelesen haben, fand ich es interessant, die poems der anderen zu hören. (AYNU09) (14d) Die Aufgaben, wo ich auch meine eigene Sprache mit einbeziehen durfte, also die Gedichte und das Comment. (AYAY05) (14 f) Die zweisprachigen Dialoge und Gedichte, da man viele neue Sprachen kennen lernen durfte. (GÜAH07) (14d) Den Lernenden gefällt an der Aufgabe die Möglichkeit, sich und die eigenen Sprachen einzubringen, aber auch die Sprachen der anderen kennenzulernen (Code 14d). Auch im Interview wird das Kennenlernen der anderen sprachlichen Hintergründe in den Vordergrund gerückt, wie die folgende Aussage verdeutlicht: „Es war halt ein bisschen anders als man Unterricht kennt und es war lustig, weil man halt viele neue Sprachen, viele 7 Retrospektive Betrachtung der Unterrichtseinheit aus Schüler- und Lehrersicht 199 <?page no="200"?> neue Begriffe kennen gelernt hat“. Das Schreiben des Gedichtes habe „Kreativität“ gefördert (Code 14b), „Erinnerungen hochgebracht“ und eine „lustige“ und „schöne Wirkung“ gehabt. Die Aussagen lassen die Schlussfolgerung zu, dass das Schreiben des Gedichtes für viele Lernende persönlich relevant war und positive Emotionen ausgelöst hat: Freude, Spaß, Neugierde an den Sprachen der MitschülerInnen, Erinnerungen an das Heimatland etc. Im Gegensatz zur vorherigen Fallanalyse, in welcher das mehrsprachige Schreiben im Abschlussinterview explizit als Lernerfahrung thematisiert wurde, kommentieren die Lernenden dieser Lerngruppe den Ertrag der Aufgabe eher auf einer emotionalen Ebene und treffen nur wenig konkrete Aussagen darüber, was sie dabei gelernt haben. Die Lernenden, die sich mit dem Gedicht „She“ beschäftigt haben, thematisierten das mehrsprachige Schreiben als eine Möglichkeit, „sich vielfältiger auszudrücken“, auf diese Weise zu „neuen Ergebnissen“ zu kommen und somit „Erkenntnisse über sich selbst“ zu erlangen (vgl. Kapitel VII, 7). Die SchülerInnen dieser Einheit gehen eher darauf ein, wie sie das Schreiben erlebt haben, woran sie dabei gedacht haben und was ihnen die unterschiedlichen Sprachen bedeuten. Aus den Aussagen der SchülerInnen lässt sich jedoch ableiten, dass sie die Aufgabe zum Nachdenken über die eigenen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität angeregt hat: Helene: Ich fand das ziemlich interessant, wie unterschiedlich sich die Leute zu verschiedenen Sprachen und Kulturen hingezogen fühlen, weil ich habe jetzt nur deutsche Wurzeln, aber ich habe durch meinen Amerika-Aufenthalt eine andere Erfahrung. Aber Menschen so wie Sinem, die halt Türkisch spricht und auch die türkische Kultur hat, wie sie das halt verbindet. Weil ich habe keine andere Kultur so wirklich zu Hause außer die deutsche. Ja ich finde in Berlin ist es halt auch einfach anders. Ich wohne in Kreuzberg und da ist es ziemlich viel an Kulturen, deswegen. (14d) Sinem: Ich habe halt gemerkt, immer wenn ich Türkisch geschrieben habe, habe ich gemerkt, dass ich die türkische Rechtschreibung nicht so gut beherrsche, noch schlechter als die deutsche. Dann musste ich immer Nuria fragen, die das besser kann, oder im Internet nachschauen, weil ja Türkisch ist immer noch ein bisschen anders… (14a) Zum einen wird aus den Aussagen deutlich, dass die Lernenden darüber nachdenken, wie sie zu ihren Sprachen stehen (Englisch und Türkisch) (14a), zum anderen betrachten sie sich als mehrsprachige Individuen in Relation zu anderen Lernenden ihrer Lerngruppe. Helene stellt fest, dass sie sich, anders als ihre lebensweltlich mehrsprachigen MitschülerInnen, erst während ihres Aufenthaltes an einer US-amerikanischen Schule als Mehrsprachige erfahren hat. Sinem bemerkt beim Schreiben, dass sie die türkische Rechtschreibung im Vergleich zu ihrer Mitschülerin deutlich schlechter beherrscht und sie daher auf fremde Hilfe angewiesen ist. Diese beiden Aussagen illustrieren auch, dass Lernende ihr Verhältnis zu Sprachen und Kulturen häufig dann hinterfragen, wenn sie sich mit anderen Schüler- Innen vergleichen: Welche Erfahrungen habe ich schon mit Mehrsprachigkeit gemacht (auch wenn ich einsprachig aufgewachsen bin)? Wie gut sind meine Türkischkenntnisse im Vergleich zu denen meiner Mitschülerin? Die Daten legen daher nahe, dass die Reflexion der eigenen Mehrsprachigkeit nicht nur beim mehrsprachigen Schreiben geschieht, sondern dass die Frage nach dem eigenen mehrsprachigen ‚Ich‘ häufig im Austausch mit anderen, also beim Vorlesen, Diskutieren und Vergleichen der eigenen und der fremden Gedichte in Zusammenarbeit mit anderen MitschülerInnen ausgehandelt wird. 200 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="201"?> 8 Fazit Ob beim Entschlüsseln des Spanischen, bei der Interpretation des Sprachenwechsels der Romanfiguren und seiner szenischen Darstellung oder beim Schreiben von mehrsprachigen Gedichten - die Lernenden beteiligten sich im Rahmen der Unterrichtseinheit an vielfäl‐ tigen literarischen Aushandlungsprozessen, die sie als Mehrsprachige herausforderten. Dabei wurden die bewusste Wahrnehmung der eigenen Mehrsprachigkeit, der Einsatz von mehrsprachigen Ressourcen und die Aktivierung von eigenen Erfahrungen mit Mehr‐ sprachigkeit und Mehrkulturalität zur zentralen Voraussetzung für die Bewältigung dieser Herausforderungen. Um den literarischen Text sprachlich und inhaltlich zu verstehen, die Mehrsprachigkeit seiner Figuren zu durchdringen und darauf zu reagieren, mussten die Lernenden auf das Wissen und die Erfahrungen zurückgreifen, die sie selbst mit Mehrsprachigkeit gemacht haben, und hinterfragen diese wiederum vor dem Hintergrund der in den literarischen Texten dargestellten mehrsprachigen Identitätsentwürfe. Die Lernenden aktivierten nicht nur ihr Wissen, ihre Erfahrungen und Strategien, sondern veränderten und erweiterten sie auch beim Lesen des mehrsprachigen Romans. Die Daten zum Entschlüsselungsprozess zeigen, dass sie sich nicht nur ihrer sprachlichen Ressourcen bewusst geworden sind, sondern dass sie auch gelernt haben, bei mehrspra‐ chigen Bedeutungsaushandlungen ko-konstruktiv vorzugehen, d. h. Interaktionsprozesse zu regulieren und verschiedene Vorgehensweisen beim Entschlüsseln zu koordinieren. Besonders die metakognitiven und die sozio-affektiven Strategien haben sich in diesem Prozess als erfolgsbringende Strategien erwiesen - eine Erkenntnis, die eindeutig für die kooperative Gestaltung von Interkomprehensionsprozessen spricht (vgl. Morkötter 2018). Dies bedeutet auch, dass beim sprachenübergreifenden Lernen neben der Vernetzung von sprachlichen Wissensbeständen auch unbedingt die Strategien zur Regulation von Interaktionen und von bottom-up- und top-down-Entschlüsselungsprozessen sowie die dazu notwendigen Einstellungen (Frustrationstoleranz, Umgang mit Nicht-Verstehen) zu fördern sind. In diesem Zusammenhang gewinnt insbesondere die Gruppenarbeit als Sozialform eine wichtige Rolle. Die Forderung von Königs (2000: 12), die Gruppenarbeit solle beim mehrsprachigen Lernen „einerseits die Zusammenarbeit zwischen Lernenden mit vergleichbaren Wissensbeständen fördern“ und andererseits „die Möglichkeit eröffnen, den Mitlernenden über eigenes Vorwissen und Lernen zu informieren“, behält im Kon‐ text der hier präsentierten Daten ihre Gültigkeit. Da alle beteiligten SchülerInnen in der hier besprochenen Gruppenarbeitsphase nicht über Spanischkenntnisse verfügten und Französisch als zweite oder dritte Fremdsprache gelernt haben, entstanden keine gravierenden Unterschiede in kognitiven Wissensbeständen. Gleichzeitig ergibt sich durch diese Sozialform gerade die Möglichkeit, unterschiedliches Wissen, z. B. die Kenntnisse verschiedener Herkunftssprachen, an MitschülerInnen zu kommunizieren und gemeinsam von verschiedenen Vorlieben in den Vorgehensweisen (top-down- und bottom-up-Vorgehen) zu profitieren. Bei der Wahrnehmung und der Interpretation des mehrsprachigen Verhaltens von Romanfiguren zogen Lernende vielfach Verbindungen zu eigenen Erfahrungen mit Mehr‐ sprachigkeit. Die Aktivierung der lebensweltlichen Erfahrungen geschah zunächst beim Versuch, das Sprachverhalten der Romanfiguren zu verstehen. Die Verknüpfung zwischen 8 Fazit 201 <?page no="202"?> eigener Mehrsprachigkeit und der Mehrsprachigkeit der Romanfiguren („I really felt like a Pifas. It’s like me when I speak Arabic and German“) fand aber erst im Rahmen der szenischen Lesung statt. Es war also erst die performative Leistung, im Rahmen derer der Sprachenwechsel ausagiert werden sollte, die diese Verknüpfung ermöglichte und damit Identitätsbildungsprozesse anstoßen konnte (vgl. Hallet & Hebel 2007: 7 ff.). Szenische Interpretationsverfahren sind für die Reflexion der eigenen Mehrsprachigkeit im Literaturunterricht auch deshalb so wertvoll, weil sie einen Erfahrungsraum eröffnen, in dem neue mehrsprachige Erfahrungen (hier in Englisch und Spanisch) möglich werden und somit nicht nur vergangene Erfahrungen aktiviert, sondern auch mögliche mehrsprachige Szenarien erprobt werden können - von „remembering how“ zu „imagining what if“ (Kramsch 2009: 74, H.-i.-O.). Ferner wurde aus den Daten, und hier insbesondere aus den mehrsprachigen Gedichten, deutlich, dass die Reflexion der eigenen Mehrsprachigkeit vor allem emotional erlebt wurde, dies gilt in besonderem Maße für das Nachdenken über die Herkunfts- oder die Familiensprache. Lernende schilderten häufig den Verlust der Herkunftssprache, zeigten aber auch eine tiefe emotionale Verbundenheit mit der Kultur oder empfanden ihre Her‐ kunftssprachen als unvereinbar mit der deutschsprachigen Schule. Ein englisch-spanisches Gedicht fungierte auch im Rahmen dieser Unterrichtseinheit als generisches Beispiel und stattete die Lernenden mit Mustern aus, um diese Emotionen auszudrücken. Dabei wurde deutlich, dass die meisten Lernenden im Rahmen dieser Unterrichtseinheit und insbesondere beim lyrischen Schreiben zum ersten Mal den Versuch unternahmen, ihr Verhältnis zu Sprachen und Kulturen darzustellen und zu beschreiben sowie ihre häufig widersprüchlichen Emotionen gegenüber Sprachen miteinander zu vereinbaren. 202 VIII Fallstudie 2 - Eine Unterrichtseinheit zu Sáenz’ Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="203"?> IX Fallstudie 3 - Eine Unterrichtseinheit zu Cardosos Real Women Have Curves 1 Der Film Real Women Have Curves und sein Potenzial für das Mehrsprachigkeitslernen Der Film Real Women Have Curves (RWHC, Cardoso 2002) erzählt die Geschichte der achtzehnjährigen Ana, die mit ihrer aus Mexiko stammenden Familie in Los Angeles lebt. Nach einem sehr erfolgreichen Schulabschluss möchte sich Ana für ein Studium bewerben. Anas Mutter, Carmen, widersetzt sich jedoch Anas Plänen und möchte, dass Ana in der Schneiderei ihrer Schwester arbeitet, um die Familie zu unterstützen. Anas Erwachsenwerden ist durch vielfältige kulturelle und sprachliche Grenzüberschreitungen geprägt. Sie bewegt sich stets zwischen ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit und Emanzi‐ pation und der Verantwortung gegenüber ihren Eltern und der Schwester, die tagtäglich hart daran arbeiten, die Existenz der Familie in den USA zu sichern. Die Darstellung von Anas Charakter entspricht nicht den Stereotypen, die weiblichen Latina-Figuren in US-amerikanischen Filmen häufig zugeschrieben werden: Sie besucht eine Schule im wohlsituierten Beverly Hills, sie ist intelligent und zielstrebig, entspricht nicht dem gängigen Schönheitsideal und hat „Kurven“. Ana hilft nur widerwillig in der Fabrik ihrer Schwester aus, begreift sich aber dadurch zunehmend als Mitglied der Latina-Community und übernimmt Verantwortung für ihre Familie. Mit der Unterstützung ihres Vaters und Großvaters entscheidet sich Ana am Ende des Films dafür, Los Angeles zu verlassen und ein Studium an der Columbia University in New York zu beginnen. Die Hybridität und Komplexität von Identitäten und Kulturen im Film werden nicht nur inhaltlich thematisiert, sondern auch auf der sprachlichen Ebene realisiert, denn die meisten Figuren sprechen überwiegend Englisch, wechseln aber häufig ins Spanische. Das Spanische ist außerdem in der Filmmusik präsent, aber auch auf den Plakaten oder Straßenschildern zu sehen. Spanisch wird überwiegend von den männlichen Mitgliedern der Familie gesprochen, von Anas Vater und Großvater, zu denen Ana ein enges Verhältnis hat und denen sie sich anvertraut (vgl. Surkamp 2012: 260 f.). Ana und die restlichen weiblichen Figuren sprechen eher Englisch, wobei Carmen am ehesten zwischen den beiden Sprachen wechselt, wodurch möglicherweise ihr Ringen mit zwei unterschiedlichen kulturellen Gemeinschaften dargestellt wird. Diese Art von Sprachenwechsel wird auch „asymmetrical code-switching“ (Fuller 2013: 73) genannt, wodurch die unterschiedlichen sprachlichen Vorlieben der verschiedenen Generationen bezeichnet werden: Die ältere Generation spricht eher Spanisch (außer Anas Mutter), die jüngere eher Englisch (Ana und ihre Schwester Estela). Der Wechsel zwischen den Sprachen geschieht meistens zwischen den Sätzen (intersentential switches), nicht innerhalb eines Satzes (intrasentential switches), wie dies in authentischen Sprachenwechselsituationen üblich ist, möglicherweise weil die Regisseurin, Patricia Cardoso, den Film auch für ein nicht Spanisch sprechendes Publikum zugänglich machen wollte (vgl. Draemel 2011: 50). Spanisch wird in den Situationen <?page no="204"?> 83 Die Übersetzung aus dem Spanischen stammt von der Forscherin. verwendet, in denen Emotionen versprachlicht werden (z. B. als Ana und Carmen streiten oder Carmen davon erzählt, dass sie als junges Mädchen hart arbeiten musste, um die Familie zu unterstützen), aber auch, wenn es um Familientraditionen geht (z. B. beim Geschichtenerzählen durch den Großvater) (vgl. Surkamp 2012: 261). Laut Surkamp (ebd.) inszeniert der Film dadurch „die Bedeutung von Sprache als Identifikationsaber auch als Abgrenzungsmöglichkeit“. Durch diese spezifische sprachliche Realisierung werden die ZuschauerInnen für die Komplexität der sprachlichen und kulturellen Kontaktsituationen sensibilisiert, die mehrsprachige Menschen tagtäglich erfahren, und erleben den Sprachen‐ wechsel als ein Kommunikationsmuster, das aus diesen Situationen unmittelbar hervorgeht und daher nicht als sprachlicher Mangel, sondern als sprachliche Kompetenz begriffen werden soll (ebd.). Der folgende Abschnitt gibt eine der ersten Szenen des Films wieder - eine Geburtstagsfeier für Ana im Garten ihrer Eltern - und stellt die einzelnen Figuren zum ersten Mal vor (RWHC 06: 05-08: 20): Alle: ¡Felicidades! Herzlichen Glückwunsch! 83 Tante: Felicidades, Anita. Herzlichen Glückwunsch, Anita. (die Cousins spielen ein spanischsprachiges Geburtstagslied) Ana: Gracias primos. Danke Cousins. Großvater: Muchas felicidades, Anita. Por muchos años. (Ana: Ay abuelito, umarmt ihn) Mira tu pastelote. Viele Glückwünsche. Lang sollst du leben. Schau dir den großen Kuchen an. Carmen: ¡Pastel! ¡Ay señor! Pero que la ve que está más grandota que el pastel. Der Kuchen! Mein Gott, sehen Sie nicht, dass sie größer als der Kuchen ist! Carmen: Why did you quit your job? (zu Ana) Ana: What do you know about this? Carmen: I just know. Ana: Ok, mum. I quit my job. Carmen: Why? Ana: Because I didn’t get along with the manager. Carmen: So what? Raúl: Ana, you just have to find another job. Ana: I know, papa, but it’s just something I had to do. Carmen: Tomorrow you come to work with us in the factory. […] Carmen: End of discussion, señor. Who wants cake? Raúl: Yo quiero y uno grande. Ich will und ein großes Stück. Ana: Mr Guzmán, what are you doing here? Guzmán: Are your parents here? Ana: Yes, but I told you… 204 IX Fallstudie 3 - Eine Unterrichtseinheit zu Cardosos Real Women Have Curves <?page no="205"?> Raúl: Ana, ¿quién es? Ana, wer ist da? Guzmán: Buenas tardes señor, señora. Soy Elias Guzmán. Fue el maestro de inglés de Ana. Guten Tag, der Herr, die Dame. Ich bin Elias Guzmán. Ich war Anas Englischlehrer. Raúl: I speak English. Guzmán: Sorry… Ana is an excellent student. I would like to see her continue her education. Wie anhand dieses Abschnitts erkennbar wird, werden im Film im Unterschied zu den beiden Chicano/ a-Romanen längere spanische Passagen integriert, innerhalb eines Satzes wird jedoch selten gewechselt, was das Verständnis der Einschübe erleichtert. Spanisch ist die Sprache der Familienintimität und der Familientraditionen: Gefühle werden auf Spanisch ausgedrückt (Glückwünsche an Ana, Zuneigung des Großvaters) und auch das Geburtstagslied wird auf Spanisch gesungen. Englisch scheint dagegen die Sprache des Alltags zu sein, in der Probleme besprochen werden, die die Existenz der Familie betreffen (Anas Kündigung und die Notwendigkeit, einen neuen Job zu suchen). Sobald wieder zur familiären Atmosphäre der Geburtstagsfeier gewechselt wird, wird auch das Spanische wieder aufgenommen (Yo quiero y uno grande). Als Mr Guzmán die Eltern auf Spanisch anspricht, entgegnet Anas Vater, dass er Englisch spreche. Durch den Wechsel ins Englische signalisiert er, dass er über die notwendigen sprachlichen Kenntnisse verfügt, um gleichberechtigt mit anderen Mitgliedern der US-Gesellschaft auf Englisch angesprochen zu werden. Es zeigt sich außerdem in diesem Abschnitt, dass Anas dominante Sprache das Englische ist. Spanisch spricht sie lediglich mit ihrem Großvater oder ihren Cousins. Diese Tendenz zeigt sich im gesamten Film, möglicherweise ist das Beharren auf dem Englischen auch als ein Zeichen der Emanzipation zu verstehen - als ihr Versuch, Unabhängigkeit von der Familie zu gewinnen und ihren eigenen Weg zu finden. Der Eigenwille und das Selbstbewusstsein Anas zeigen sich in diesem Abschnitt auch in ihrer Entscheidung, ihren alten Job zu kündigen. Der Film birgt sowohl im Hinblick auf das kulturelle Lernen als auch im Hinblick auf die Sprachbewusstheit vielfaches Potenzial für den Fremdsprachenunterricht. Die Schüler- Innen lernen Figuren mit komplexen, hybriden Identitäten kennen, die sich sprachlich und inhaltlich zwischen Kulturen, Wertvorstellungen und Generationen bewegen. Durch die verschiedenen Generationen werden unterschiedliche Perspektiven auf das migrantische ‚Dazwischen-Sein‘ präsentiert: die von Anas Mutter, die keine gute Bildung genießen konnte, aber hart dafür arbeitet, ihrer Tochter diese Möglichkeit zu bieten; die von Ana, die ihren eigenen Weg zwischen Familienloyalität und ihrer Unabhängigkeit durch Bildung sucht und sich auch sexuell emanzipiert, und schließlich auch die von Anas Schwester Es‐ tella, die sich selbstständig gemacht hat und durch ihre Schneiderei die finanzielle Existenz der Familie sichern kann. Die Übernahme und die Differenzierung dieser Perspektiven, aber auch ihre Koordinierung sind ein wesentlicher Teil des interkulturellen Verstehens (vgl. Surkamp 2012: 262). Allein schon die Erkenntnis, dass Kulturkontakt unterschiedlich erlebt werden kann und in einem Wechsel zwischen Identifikations- und Abgrenzungser‐ fahrungen geschieht, sensibilisiert die SchülerInnen für die Bedeutung von Multiperspek‐ tivität bei der Erfassung von kulturellen Hybridisierungsprozessen (ebd.). Gerade bei der Behandlung eines Themas wie ‚Mexican-Americans‘ ist Multiperspektivität sehr wichtig, denn der Film ermöglicht sowohl die spanischsprachige als auch die angloamerikanische 1 Der Film Real Women Have Curves und sein Potenzial für das Mehrsprachigkeitslernen 205 <?page no="206"?> 84 Vgl. die Übersicht über die Zusammensetzung der Lerngruppe im Anhang. Perspektive auf die komplexe Wirklichkeit der Migrantenfamilie. Im Englischunterricht würden die Mexican-Americans als kulturelle Gemeinschaft im Südwesten der USA im Zentrum der unterrichtlichen Behandlung stehen (ebd.: 265). Die Präsenz der spanischen Sprache (und damit die sprachliche Realisierung des hispano-amerikanischen Ursprungs der Figuren) legt aber gleichzeitig den Fokus auf die Integrationsleistung dieser Personen sowie die damit verbundenen Probleme und macht dadurch einen multiperspektivischen Zugang zur Thematik möglich. Dies wird in der oben zitierten Szene deutlich, in der Anas Vater, Raúl, etwas verärgert auf die in der spanischen Sprache formulierte Begrü‐ ßung des Lehrers mit „I speak English“ antwortet. Durch den hier gezielt eingebauten Sprachenwechsel wird einerseits auf das häufig vorherrschende Stereotyp hingewiesen, dass die älteren Familienmitglieder der Migrantenfamilien kein Englisch beherrschen - ein Stereotyp, das möglicherweise durch den Film selbst verstärkt wird. Andererseits wird die Aufmerksamkeit auf die Integrationsleistung des Vaters gelenkt: Er signalisiert dem Lehrer seiner Tochter gegenüber, dass er die dominante Sprache der Gesellschaft, Englisch, beherrscht. Ein solch vielschichtiger Zugriff auf das komplexe Migrantendasein wird hier durch die Mehrsprachigkeit des Films ermöglicht und wäre in einem einsprachigen Film nicht gegeben, sodass die Präsenz zweier Sprachen die Komplexität der im Film konstruierten Situationen des Kulturkontakts erhält. Daher ist es äußerst wichtig, die Aufmerksamkeit der SchülerInnen gezielt auf die spanischen Aussagen der Figuren zu lenken und sie überlegen zu lassen - auch im Sinne der Förderung einer Sprachbewusstheit -, wann welche Figur und warum die Sprache wechselt. Gerade die audio-visuelle Ebene des Films bietet für solche Überlegungen andere Anhaltspunkte als die narrativen Texte, denn die Körpersprache der Personen, die Mimik, die Gestik oder die Intonation können wertvolle Hinweise zum Gemütszustand der Figuren oder zur Atmosphäre zwischen den Charakteren liefern. 2 Vorstellung der Unterrichtseinheit und der Lerngruppe 2.1 Lerngruppe und Institution Die folgende Unterrichtseinheit wurde im Grundkurs Englisch eines Berliner Gymnasiums im Zeitraum vom September bis Oktober 2015 durchgeführt und umfasste 14 Einzelstunden. Der Lehrer (Fächer: Englisch und Spanisch) unterrichtete die Lerngruppe seit einem halben Jahr. Die Lerngruppe setzte sich aus 12 SchülerInnen (acht weibliche und vier männliche SchülerInnen) zusammen, die alle über basale Spanischkenntnisse verfügten. 84 Die Besonderheiten der Lerngruppe liegen zum einen darin, dass alle SchülerInnen drei Jahre lang das Spanische gelernt und alle nach der Sekundarstufe I abgewählt haben. Zum Zweiten zeichnet sich die Lerngruppe durch eine relative sprachliche (und kulturelle) Homogenität aus, da sich die sprachlichen Voraussetzungen sehr ähnelten und mit Aus‐ nahme der Schülerinnen S3 und S12 keine weiteren Erstsprachen neben dem Deutschen gelernt oder erworben wurden. Damit unterscheidet sich diese Lerngruppe stark von den 206 IX Fallstudie 3 - Eine Unterrichtseinheit zu Cardosos Real Women Have Curves <?page no="207"?> 85 Die Daten sind dem Schulverzeichnis der Berliner Schulen entnommen (https: / / www.bildung.berlin. de/ Schulverzeichnis/ , 15.04.2023). Der genaue Name der Schule kann aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht genannt werden. vorausgehenden zwei Leistungskursen Englisch, in denen die Variation hinsichtlich der Spanischkenntnisse und der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit deutlich größer war. Der geringe Anteil an SchülerInnen mit anderen Herkunftssprachen in dieser Lerngruppe einspricht damit dem durchschnittlichen Wert der NdH-Schülerschaft der gesamten Schule (7,1 % im Schuljahr 2015/ 16, 3,0 % im Schuljahr 21/ 22 85 ). Es kann also davon ausgegangen werden, dass die SchülerInnen - im Gegensatz zu den anderen beiden Lerngruppen - über relativ wenig Erfahrung im Umgang mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität verfügen, sowohl was die Herkunftssprachen als auch was die schulischen Fremdsprachen betrifft, denn nur ein Schüler hat eine dritte Fremdsprache erlernt (S 5, Latein). Ein weiterer Unterschied besteht auch darin, dass es sich hier um einen Grundkurs und nicht, wie in den zuvor analysierten Lerngruppen, um einen Leistungskurs handelt, womit möglicherweise mit nicht ganz so fortgeschrittenen Englischkenntnissen gerechnet werden konnte. Die An‐ nahme wird allerdings z. T. dadurch relativiert, dass es drei SchülerInnen in der Klasse gibt, die Englisch seit der ersten Klasse lernen und damit sehr gute Kenntnisse des Englischen aufweisen. Die fortgeschrittenen Englischkenntnisse könnten wiederum zur Folge haben, dass die Unterschiede zwischen den Spanisch- und den Englischkenntnissen aufgrund der längeren Lernzeit im Falle des Englischen als sehr groß wahrgenommen werden. Insbesondere in dieser Lerngruppe ist es daher von Interesse, zu untersuchen, wie sich diese besonderen sprachlichen Voraussetzungen, das offensichtlich nicht mehr existierende Interesse am Spanischen (keine/ r der SchülerInnen lernt Spanisch in der Oberstufe) und die wenigen Berührungspunkte mit Mehrsprachigkeit auf die Rezeption des mehrsprachigen Films auswirken. Da in den zuvor diskutierten Fällen deutlich wurde, dass SchülerInnen bei der Analyse mehrsprachiger Charaktere vor allem erfahrungsbasiert vorgehen und das mehrsprachige Verhalten der Figuren auf ihre persönlichen Vorstellungen und Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit zurückführen, scheint in diesem Kontext besonders relevant, ob und inwieweit es den SchülerInnen ohne diese Erfahrungen gelingt, eine Verbindung zu den Charakteren des Films und zu ihrer Mehrsprachigkeit aufzubauen. 2.2 Film als Gegenstand der Reihe Neben den sprachlichen und kulturellen Voraussetzungen der SchülerInnen unterscheidet sich diese Einheit auch deshalb von den anderen, weil hier kein Roman, sondern ein mehr‐ sprachiger Film im Mittelpunkt steht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Rezeption des Films (auch wenn er nur sehr wenige rein spanischsprachige Szenen enthält) eine größere sprachliche Herausforderung an die SchülerInnen stellt als der mehrsprachige Roman. In den wenigen fremdsprachendidaktischen Beiträgen zu mehrsprachigen Filmen im Englisch‐ unterricht spricht Blell (2015b: 35) von einer „angestrengte[n] Rezeptionsarbeit“, die „ein verändertes und äußerst aktives Rezeptionsverhalten“ der SchülerInnen voraussetze (Blell 2016: 314). Das heißt, dass das ohnehin mehrkanalige Dekodieren von Filmen durch die Präsenz einer weiteren Fremdsprache eine zusätzliche Dekodierungsdimension erhält, die es 2 Vorstellung der Unterrichtseinheit und der Lerngruppe 207 <?page no="208"?> zu bewältigen gilt: Als Strategien, um das Verstehen der spanischen Passagen zu erleichtern, gelten hier der Fokus auf visuelle Elemente, die Wahrnehmung von Mimik und Gestik, aber auch die Bewusstmachung von Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Sprachen (vgl. Blell et al. 2016: 25). Sprachvergleiche sind bei Audiotexten selbstverständlich schwieriger vorzunehmen, sodass an dieser Stelle mit Transkripten gearbeitet werden musste. Der Lehrer hat sich in der folgenden Gruppe entschieden, den Film ohne Untertitel für Spanisch zu zeigen, da alle SchülerInnen über Spanischkenntnisse verfügten. Der Film enthält zwei kurze spanischlastige Szenen, in denen vor allem Anas Mutter konsequent Spanisch spricht. Sie betreffen das Gespräch zwischen Anas Eltern, das sich unmittelbar an die zuvor besprochene Geburtstagsparty von Ana anschließt (RWHC 09: 14-10: 16), und den Streit zwischen Carmen und Ana nach ihrem ersten Tag in der Näherei ihrer Schwester Estela (RWHC 19: 08-20: 23). Da diese beiden Szenen ohne gute Spanischkenntnisse relativ schwer zu verstehen sind, wurden den SchülerInnen hier die verschriftlichten Versionen der Dialoge (Transkripte) ausgehändigt und die Verständnisschwierigkeiten mit dem Lehrer geklärt. 2.3 Vorstellung der Unterrichtseinheit Ähnlich wie in den Einheiten zu den Chicano/ a-Romanen wurden die Lernenden anhand der Werbeplakate für Sprachmischung als ästhetisches Mittel und als sprachliche Varietät der hispanoamerikanischen Minderheit sensibilisiert. Anhand der ersten beiden Szenen (Anas Nachhauseweg aus der Schule in Beverly Hills und die Geburtstagsfeier im Haus ihrer Eltern) wurde anschließend eine erste Charakterisierung der Figuren vorgenommen, wobei besondere Aufmerksamkeit ihrer Sprachenwahl geschenkt wurde. Die SchülerInnen sollten diskutieren, welche Figur welche Sprache nutzt und in welchem Kontext der Wechsel geschieht. Dafür eignete sich besonders die Szene mit der Geburtstagsfeier. Nachdem die SchülerInnen im Rahmen eines Rollenspiels den Dialog zwischen Carmen und Raúl und ihre unterschiedlichen Positionen hinsichtlich Anas College-Besuch antizipieren sollten, wurden die Lernenden mit‐ tels einer spezifisch gegenstandsbezogenen Spracharbeit - im Sinne einer focus-on-form-Phase (vgl. Blell 2015b: 36) - an den eigentlichen spanischsprachigen Dialog zwischen den Eltern herangeführt (RWHC 09: 14-10: 16). Da es sich bei dieser Aktivität um die erste Konfrontation der Lernenden mit einer rein spanischsprachigen Szene handelte, sollte weiter unten thema‐ tisiert werden, wie Lernende auf das Spanische und auf die mehrsprachigkeitsdidaktischen Verfahren reagiert haben. In den nachfolgenden Stunden erarbeiteten die Lernenden vor allem die verschiedenen Wert- und Lebensvorstellungen von Ana und Carmen und versuchten, diese u. a. vor dem Hintergrund der Migrationserfahrungen der beiden Protagonistinnen nachzuvollziehen, wobei auch ihr unterschiedliches Sprachverhalten reflektiert wurde. Auch Anas Emanzipationsweg bis hin zu ihrer Entscheidung, sich dem Willen ihrer Mutter zu widersetzen und an der Columbia University in New York zu studieren, wurde mit den Lernenden besprochen und vor dem Hintergrund ihrer eigenen Familienkonflikte diskutiert. Die letzte Aktivität bestand darin, das alternative Ende des Films, das auf der DVD als ein Extra zur Verfügung gestellt wurde, mit dem tatsächlichen Ende zu vergleichen und im Rahmen eines Rollenspiels aus verschiedenen Perspektiven heraus zu diskutieren, welches Ende geeigneter wäre und ob beim nochmaligen Drehen des Films seine Mehrsprachigkeit beibehalten werden sollte oder nicht. 208 IX Fallstudie 3 - Eine Unterrichtseinheit zu Cardosos Real Women Have Curves <?page no="209"?> 86 Auch die Studie von Fritz (2020) belegt die negativen Einstellungen gegenüber den romanischen Sprachen Französisch und Spanisch, die häufig als zweite Fremdsprachen gelernt werden. 87 Das Serbische hatte zum einen den Vorteil, dass das Transkript von der Forscherin selbst übersetzt werden konnte, und zum Zweiten, weil es eine indogermanische Sprache ist, die zwar einige 3 Schwerpunkte der Analyse und Fragestellungen Wie bereits der Titel der Fallstudie suggeriert, stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Analyse nicht nur die Unterrichtsaktivitäten rund um den mehrsprachigen Film, sondern auch die sich daraus ergebende Reflexion der Lernenden hinsichtlich der Frage, ob und wie andere Sprachen überhaupt in den Englischunterricht integriert werden sollen. Diese Frage wurde von den SchülerInnen vor allem im Abschlussinterview gestellt, deutete sich aber bereits in den ersten Stunden der Einheit an, als zwei Schülerinnen Bedenken hinsichtlich der Sprachvergleiche mit dem Spanischen zeigten. Dies bestätigte die Annahme des Lehrers, die einzige Schwierigkeit bei der Durchführung der Unterrichtseinheit könne darin bestehen, „dass erfahrungsgemäß für viele Schüler die zweite Fremdsprache dann doch irgendwann äh… negativ besetzt ist, weil es nicht so einfach ist mit dem geringen Input“ (L 3, Interview vor der Einheit). 86 Vor dem Hintergrund dieser Aussage und ausgehend von der Tatsache, dass alle SchülerInnen das Spanische abgewählt haben, ist die Frage zu stellen, welche Einstellungen sie gegenüber dem Spanischen haben, wie sie diese erklären und inwiefern diese die Rezeption des mehrsprachigen Films beeinflussen. Angesichts der vermutlich mangelnden Erfahrungen der Lernenden mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit ist ebenfalls danach zu fragen, wie sie Zugang zum Film und den Figuren finden und ob sich Unterschiede bzw. Ähnlichkeiten zu den Rezeptionsprozessen anderer Lerngruppen feststellen lassen. 4 Reaktionen und Zugänge zum Spanischen Im Folgenden wird ein Unterrichtsgespräch zitiert, das in der dritten Stunde der Unter‐ richtseinheit stattgefunden hat und die einzige rein spanischsprachige Szene des Films thematisiert, die sich unmittelbar an die im Abschnitt 1 (siehe oben) besprochene Geburts‐ tagsfeier von Ana anschließt (RWHC 09: 14-10: 16). Die Szene endet mit dem Besuch ihres Lehrers, Herrn Guzmán, der Anas Eltern davon überzeugen möchte, ihre Tochter auf das College zu schicken. Die einminütige Szene zeigt ein Gespräch zwischen Anas Eltern am gleichen Abend, in dem Carmen darauf besteht, Ana zunächst ihre häuslichen Pflichten als Mutter und Ehefrau beizubringen, so wie sie es aus ihrer eigenen Jugend kennt. Da die Szene in der Intimität des Schlafzimmers stattfindet und kein weiteres Familienmitglied anwesend ist, sprechen Raúl und Carmen untereinander ihre Erstsprache Spanisch. 4.1 Erste Begegnung mit dem mehrsprachigen Film Um die Lernenden an die Fremdheit der Szene heranzuführen, entschied sich der Lehrer für eine zusätzliche ‚Verfremdung‘ der Szene und teilte zunächst eine Übersetzung des Transkriptes auf Serbisch aus. 87 Damit wollte er die SchülerInnen dafür sensibilisieren, 3 Schwerpunkte der Analyse und Fragestellungen 209 <?page no="210"?> lexikalische Gemeinsamkeiten mit dem Englischen, Deutschen und Spanischen aufweist, aber den SchülerInnen deutlich fremder erscheinen müsste als eine weitere germanische oder romanische Sprache. dass sie auch in einem Text in einer gänzlich fremden Sprache durch den Rückgriff auf bereits vertraute Sprachen Bekanntes erkennen können. Bevor die Szene vorgespielt wurde, sollten die Lernenden in dem Transkript unten nach Wörtern suchen, die sie entschlüsseln können. Die meisten dieser Wörter (fett markiert) waren Internationalismen. Anbei findet sich die serbische Version des Transkriptes, die den Lernenden ausgeteilt wurde, sowie der Originalwortlaut auf Spanisch und die deutsche Übersetzung, die sie erst danach erhielten. Carmen: Ne čisti svoju sobu, ne pere veš, ne kuva… Toliki problemi zbog nje. Carmen: No limpia su cuarto, no lava la ropa, no hace de comer … Puros problemas me da. Carmen: Sie putzt ihr Zimmer nicht, sie wäscht keine Wäsche, sie kocht nicht… So viele Probleme wegen ihr. Raúl: Carmencita, ti nemaš toliko problema zbog nje. Njen profesor je vrlo zadovoljan sa njom. Ako se potrudimo, ja mislim da možemo da joj pomognemo da se edukuje na univerzitetu. Raúl: Carmencita, Ana no te da tantos problemas. Mira, su maestro está bien contento con ella. Si hacemos un esfuerzo, yo creo que podemos ayudarla a ir a la universidad para que se eduque. Raúl: Carmencita, du hast nicht so viele Probleme wegen ihr. Ihr Lehrer ist sehr zufrieden mit ihr. Wenn wir uns Mühe geben, können wir ihr helfen, sich an der Universität weiterzubilden. Carmen: Ja mogu da je edukujem… Ja ću da je naučim da šije. Ja ću da je naučim kako da podiže decu, da se brine o svom mužu. Te stvari neće da nauči tamo na univerzitetu. Carmen: Yo la puedo educar… Yo la enseño a coser. Le enseño a criar a sus hijos, atender a su marido. Esas cosas no le van a enseñar allí en el colegio. Carmen: Ich kann sie unterrichten. Ich bringe ihr bei, wie man näht. Ich bringe ihr bei, wie man Kinder großzieht und wie sie sich um ihren Ehemann kümmert. Diese Dinge lernt sie nicht an der Universität. Raúl: U redu je, vidi… Ana može kasnije da se uda. Raúl: Está bien… Mira, se puede casar después. Raúl: In Ordnung, schau mal… Ana kann später heiraten. Carmen: Da li me ti slušaš, Raule? Radi se o principima. To nije pravedno. Ja radim od moje trinaeste godine. Ana ima osamnaest godina. Došao je red na nju. Neka ona sada radi! Carmen: ¿Qué no me estás oyendo, Raúl? Es cuestión de principios. No es justo. Yo trabajo desde la edad de trece años. Ana tiene dieciocho años. Ahora le toca a ella. ¡Qué trabaje ella! Carmen: Hörst du mir nicht zu, Raúl? Es geht um Prinzipien. Es ist nicht gerecht. Ich arbeite seit ich dreizehn bin. Ana ist achtzehn. Jetzt ist sie dran. Sie soll jetzt arbeiten. Die SchülerInnen entschlüsselten alle oben fett markierten Wörter richtig (problemi, profesor, univerzitet, edukuje, principima) und stellten Vermutungen über folgende Partikel an: „da“ wird richtigerweise als „ja“ übersetzt, allerdings erfüllt es hier die Funktion von „zu“; „ja“ wird korrekt als „ich“ oder „mein“ übersetzt, „me“ wird mit „mich“ gleichgesetzt, „ti“ wiederum mit „dich“ (hier wäre „mir“ und „du“ richtig, aber die Zuordnung zur ersten 210 IX Fallstudie 3 - Eine Unterrichtseinheit zu Cardosos Real Women Have Curves <?page no="211"?> und zweiten Person Singular ist richtig). Beeindruckend ist, dass die Lernenden nicht nur die offensichtlichen Ähnlichkeiten der fünf serbischen Wörter mit ihren Entsprechungen im Deutschen oder in den Fremdsprachen entdeckten, sondern dass sie auch Pronomen aufgrund ihrer grammatischen Eigenschaften als solche identifizierten. Auffällig ist auch, dass sich die meisten SchülerInnen dem Serbischen - einer Sprache, die keine Berührungs‐ punkte mit dem Film hat - nicht verweigerten und Vermutungen darüber anstellten, woher die Ähnlichkeiten zwischen dem Serbischen und den ihnen bereits bekannten Sprachen stammen, wie z.-B. Florian: Florian: Maybe the language goes back to Latin […] Maybe the Roman Empire also influenced countries that aren’t in there. So they also traded with other countries and so they also speak with each other and that means that both influence each other. Das Interesse an Sprachvergleichen und sprachvernetzendem Denken schien allerdings nicht bei allen SchülerInnen gleich ausgeprägt zu sein, da sie sich nicht alle gleichermaßen an der Dekodierung beteiligten. Anschließend wurde die Szene zwischen Raúl und Carmen im spanischsprachigen Original abgespielt und die SchülerInnen sollten die von ihnen entschlüsselten Wörter aus der obigen serbischen Übersetzung wiedererkennen. Die Aufgabe bestand also darin, den Inhalt der spanischsprachigen Szene grob zu verstehen, wobei der Verstehensprozess bereits „durch angeleitete interkomprehensive Verfahren am mehrsprachigen Filmtranskript“ (Blell et al. 2016: 45) vorbereitet wurde: 1 L 3 All right. Now we are going to see the next scene, the conversation between father and mother and you try to focus on words… We don’t have subtitles. For some people it will be more tricky than for others, but we will have a look ai it in written form as well. So, if you don’t get it, no reason to commit suicide right away. So, try to focus on what they are saying and how many words you recognize. It’s only a minute or so. […] Today, as I said, we are doing something like linguistics. We are trying to find out what is similar in the languages. Therefore, now you will have the text in Spanish and in English and you compare all the words. So, you write into the table, just the Spanish and the English words that go together. - 2 Susanne Oh, ich habe Spanisch abgewählt und jetzt muss ich immer noch… 15a 3 L 3 (Der Arbeitsauftrag wird besprochen, da er einigen SchülerInnen unklar ist) One second. We are speaking about words that… If this was in another language that you would… If I read them to you, you will recognize them immediately. As I said “no” for instance… - 4 Carolin I hate Spanish so I… 15a Tab. 16: Aufgabenstellung zum Film Real Women Have Curves Die Kommentare von Susanne und Carolin führten nicht dazu, dass die Aufgabe abge‐ brochen wurde, ganz im Gegenteil, die Lernenden stellten weiterhin Hypothesen über verschiedene Sprachenfamilien auf. Dennoch sind ihre Aussagen für die Studie interessant, weil sie die ersten kritischen Stimmen gegenüber dem Spanischen darstellen und daher näher analysiert werden sollten. Durch den Impuls („So if you don’t get it, no reason to commit suicide right away.“) zeigt der Lehrer, dass er von den Lernenden nicht verlangt, 4 Reaktionen und Zugänge zum Spanischen 211 <?page no="212"?> 88 Die alternative Schlussszene zeigt Ana, wie sie einige Jahre später nach Los Angeles zurückkommt, um ihre Familie zu besuchen. Sie organisieren zusammen mit den anderen Frauen aus der Schneiderei eine Modenschau, für welche die mittlerweile erfolgreiche Estela (Anas Schwester) Kleider anfertigt. Carmen und Ana versöhnen sich. Das eigentliche Ende des Films zeigt Ana, die durch die Straßen New Yorks selbstbewusst und zufrieden spaziert, und lässt dadurch offen, welche Beziehung Ana und ihre Mutter haben und ob sie sich versöhnen konnten. Vor der Abreise nach New York weigert sich Carmen, sich von Ana zu verabschieden und ihr den Segen zu geben. dass sie die Szene sofort verstehen und sie damit beruhigen möchte, wenn er sagt, dass der Inhalt der Szene später der verschriftlichten Form entnommen werden kann (siehe Ab. 1). Trotz der intendierten Entlastung, der Kürze der Szene, des langsamen Sprechtempos der Figuren, der Grundkenntnisse im Spanischen sowie der Kontextualisierung durch die vorausgehende Szene der Geburtstagsfeier waren Susanne und Carolin erstmal nicht bereit, sich auf das Nicht-Verstehen einzulassen. Die Kommentare der beiden Schülerinnen sind weniger auf den Umstand zurückzuführen, dass sie die Szene nicht verstanden haben und daher die gestellte Aufgabe nicht erfüllen konnten. Sie unterbrachen die Lehrkraft, bevor sie die Aufgabenstellung erklären konnte, und teilten damit mit, dass sie mit der Aufgabe nicht einverstanden waren. Auch wenn sie sich im Anschluss der Aufgabe nicht verweigerten und sie erledigten, ist dennoch klar, dass sie dem Lehrer und den MitschülerInnen signalisieren wollten, dass sie gegen die Präsenz des Spanischen im Englischunterricht waren: Sie haben Spanisch abgewählt und möchten mit der Sprache in der Oberstufe nichts mehr zu tun haben (Ab. 2 und 4, 15a). Dies bestätigt die anfängliche Vermutung der Lehrkraft hinsichtlich einer potenziellen negativen Einstellung gegenüber dem Spanischen und lässt die Frage aufkommen, was die beiden Schülerinnen genau daran hinderte, sich auf das Spanische einzulassen, denn schließlich ist die Bereitschaft, Offenheit gegenüber anderen Sprachen zu entwickeln, eine wichtige Voraussetzung für die Förderung von Mehrsprachigkeit im Englischunterricht (vgl. Vollmer 2000: 82). 4.2 Mehrsprachigkeit als Gestaltungsmittel des Films Da die meisten Lernenden dieser Lerngruppe nicht über lebensweltliche Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit verfügten, ist danach zu fragen, welche Vorstellungen sie vom Sprachlernen und von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität im Allgemeinen hatten, aber auch, inwiefern sie den Einsatz des Sprachenwechsels im Film trotz ihrer Sicht auf das Spanische durchdringen und verstehen konnten. Zunächst soll auf die zweite Frage eingegangen werden, indem die Ergebnisse der letzten Aktivität der Unterrichtseinheit vorgestellt werden. Es handelt sich hierbei um ein Rollenspiel, in dem die Lernenden aus drei unterschiedlichen Perspektiven (LehrerInnen, KünstlerInnen, FinanzexpertInnen) diskutieren sollten, für welche der zwei Schlussszenen (alternative Schlussszene auf der DVD vorhanden 88 ) sie sich entscheiden würden und ob sie den Film einsprachig oder zwei‐ sprachig gestalten würden. Die Frage sollte zunächst in Expertengruppen (Lernende mit der gleichen Rolle) besprochen und danach in Stammgruppen (Lernende mit unterschiedlichen Rollen) diskutiert werden. Im Folgenden wird lediglich auf die zweite Frage eingegangen, die die Lernenden ermutigt, die Mehrsprachigkeit des Films als ein Gestaltungsmittel zu 212 IX Fallstudie 3 - Eine Unterrichtseinheit zu Cardosos Real Women Have Curves <?page no="213"?> begreifen, das durch ästhetische, politische oder auch ökonomische Interessen motiviert sein kann. Um die Entscheidung über die ein- oder mehrsprachige Gestaltung des Films zu fällen, sollten die Lernenden darüber reflektieren, wie die sprachliche Gestaltung des Films die Aussagen des Films über den spezifischen kulturellen und sozio-geografischen Kontext verändern würde. Dies erforderte eine sprachbewusste Auseinandersetzung mit Fragen von Macht und Sprache, Diskriminierung von hispanoamerikanischen Migranten in den USA und dem Sprachenwechsel als einem wichtigen Kennzeichen der Chicano/ a-Varietät (vgl. dazu auch Blell 2012a: 12 f.). Daher verbindet die Aufgabe sprachbewusstes und interbzw. transkulturelles Lernen. Im Gegensatz zu den Aufgaben, in denen die SchülerInnen das mehrsprachige Sprachverhalten der Charaktere im Kontext einer bestimmten Szene analysieren sollten, war dieser Arbeitsauftrag anspruchsvoller, denn die Mehrsprachigkeit wurde nicht als individuelle Eigenschaft einer Figur betrachtet, sondern sollte als Gestal‐ tungsmittel und Diskursphänomen im fremdkulturellen Kontext aus verschiedenen Per‐ spektiven kritisch reflektiert werden. Im Folgenden werden anhand kurzer exemplarisch ausgewählter Auszüge aus den Unterrichtsmitschnitten die Aushandlungsprozesse in vier Gruppen analysiert: -1. Gruppe - 1 Jan So, they could make a second film (…) The second question would be: Do it in Spanish or in English only or …? - 2 Katharina I think both is good. - 3 Mark Yes. - 4 Sandra Yes, because we have like a lot of Latino Americans who could relate to that movie cause they are at exactly that place. So, I think we have a good amount of people who would watch it just because it is in both languages. So, that is cleverly invested. 9c -2. Gruppe - 1 Carolin Mixing of Spanish and English…. - 2 Lena Hm, I am not sure. Because if someone doesn’t speak Spanish, he won’t understand. - 3 Carolin I think English is good (lacht). - 4 Florian For the film or? - 5 Carolin Yes, for the film. - 6 Florian But in real life, they speak Spanish and English too. So maybe subtitled… When the Spanish speakers come… 9c 7 Carolin I think it’s also a good idea, because all the people that speak Spanish and want to see the film, they don’t understand the English part … And all the people who are speaking English but 9c? 4 Reaktionen und Zugänge zum Spanischen 213 <?page no="214"?> 89 Beide spanischsprachigen Szenen dauerten ca. eine Minute. not Spanish don’t understand the Spanish part and … I think - like I don’t know like 10-% or 20-% was Spanish and it was so much, like you don’t understand some connections. 8 Lena So, it’s not good for the film. - 9 Carolin No and it is really complicated to understand…. And it’s also complicated to switch (lacht) I don’t know, like every time they were speaking Spanish I was like … the first three minutes 89 I was like: What are you talking about? Is this English? (lacht) kein Per‐ spek‐ tivenwechsel 10 Lena Oh no, it’s Spanish (lacht) - -3. Gruppe - 1 Nora The language … The mixed language… - 2 Alina We think it's good. - 3 Julia It shows that no matter if you speak the mother language or in another language, it doesn't matter that you are less clever or something, because Ana is really clever too. And she speaks two languages. Somebody said that if you speak two languages - that they are not so clever and that they can't handle this, like language like … 9d 4 Laura Because they don't know some words … - 5 Julia Yeah, but I think she is clever as well so it shows this, the movie, and I think that's why the two languages are good. 9d 6 Alina And as well for the children. They can listen to both languages, so they will have at least both of them. - 7 Julia/ Laura Yeah, yeah. - 8 Laura Yes and I think it makes the film more realistic. 9c? 9 Alina Yes, of course. - -4. Gruppe - 1 Jan And the languages: We thought about that for the … There are a lot of guys in America or some other regions that are from España or Mexico, or some Spanish speaking countries. So from the financial side, you have these groups that will understand this part and maybe some of them see themselves in the conversation and they know they speak just like them with a mix between both languages. 9c 2 Susanne So, that's their reality. So they might like the movie, then tell their friends to watch the movie, who are also Hispanic. So that could 9c 214 IX Fallstudie 3 - Eine Unterrichtseinheit zu Cardosos Real Women Have Curves <?page no="215"?> be really good side and a huge boom of customers, just by putting this mix of cultures in there. Tab. 17: Auszüge aus der Gruppenarbeit zum Rollenspiel Alle Gruppen entscheiden sich dafür, die mehrsprachige Gestaltung des Films beizube‐ halten, allerdings aus verschiedenen Gründen. Das Spanische biete Identifikationspotenzial für die hispanoamerikanische Gemeinschaft in den USA und fungiere daher sozusagen als ein ‚Publikumsmagnet‘, was sich finanziell als lukrativ erweisen könnte (Gr. 4, Ab. 2). Eine sehr interessante Begründung ist auch das Argument, dass Ana als eine erfolgreiche und intelligente Schülerin zwischen Spanisch und Englisch wechselt, baue Vorurteile gegenüber code-switching ab, das häufig mit mangelnder Sprachkompetenz assoziiert werde (Gr. 3, Ab. 3). Auffällig ist, dass den meisten Lernenden die Perspektivenübernahme gut gelingt: Sie argumentieren nicht ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen mit dem Film, sondern im Rahmen des spezifischen fremdkulturellen Kontextes, indem sie sich fragen, wie dieser Film von den spanischsprachigen Gemeinschaften rezipiert werden könnte bzw. welche Aussagen er über sie trifft. Einzig in der zweiten Gruppe argumentiert Carolin - eine der Schülerinnen, die zu Anfang ihren Unmut über das Spanische geäußert hat - aus ihren eigenen Erfahrungen heraus: Es sei für sie sehr kompliziert, das Spanische zu verstehen, und die Mischung wirke irritierend (Gr. 2, Ab. 7, 9). Den Hinweis von Florian, es gehe hier um einen spezifischen kulturellen Kontext und seine filmische Darstellung (Gr. 2, Ab. 6), ignoriert sie und spricht weiterhin über die eigene Rezeptionserfahrung (Gr. 2, Ab. 9). Daran zeigt sich, dass Carolin im Gegensatz zu Florian die Dezentrierung nicht gut gelingt, denn sie reflektiert über die mehrsprachige Gestaltung des Films nicht aus der Perspektive der zielsprachlichen Community heraus, sondern thematisiert weiterhin die eigenen Verständnisschwierigkeiten bei der Rezeption des Films. Dennoch einigt sich die Gruppe darauf, das Spanische im Film beizubehalten, aber diese Passagen mit Untertitel zu versehen. Die meisten Lernenden (inkl. Susanne, die sich am Anfang kritisch über das Spanische äußert) schafften es durch den Perspektivenwechsel, den Rahmen des eigenen Rezeption‐ sprozesses zu verlassen und die Mehrsprachigkeit als ein Gestaltungsmittel zu reflektieren, das eine bestimmte Sicht auf die sprachliche und die kulturelle Hybridität der hispanoame‐ rikanischen Gemeinschaft kreiert (vgl. Gr. 1., Ab. 4/ Gr. 4, Ab. 2.), aber auch subversives Potenzial besitzt und damit auch gegen Stereotype wirken kann (vgl. Gr. 3, Ab. 3, 5). Damit benennen die Lernenden einige wichtige Funktionen, die eine mehrsprachige Gestaltung von Filmen haben kann. So erläutert Bleichenbacher in seiner Studie Multilingualism in the Movies. Hollywood Characters and their Language Choices (2008), dass die mehrsprachige Gestaltung von Filmen häufig auf den Wunsch der FilmemacherInnen zurückgeht, einen spezifischen geografischen oder sozialen Kontext möglichst wahrheitsgetreu abzubilden (vgl. Bleichenbacher 2008: 26 f., Code 9c), dass sie aber auch eine sozialkritische Funktion erfüllen kann (vgl. ebd.: 27 f., Code 9d). Die Verfremdung der dominanten Sprache (hier Englisch) bedeute ein Widersetzen gegen die dominante sprachliche Norm und könne zu einer Legitimierung der Nichtstandardvarietät beitragen und somit einen empowerment- Effekt für ihre SprecherInnen als Folge haben. Auch führe eine mehrsprachige Gestaltung 4 Reaktionen und Zugänge zum Spanischen 215 <?page no="216"?> des Films dazu, beim Publikum Empathie mit den Personen zu wecken, die die fremde Sprache (hier das Spanische) sprechen (vgl. ebd.: 28). Dieser Effekt zeigt sich auch bei den SchülerInnen der Gruppe 3, die sich in die Rolle der mexikanischen MigrantInnen hineinversetzen und nachvollziehen können, welche Wirkung ein Film haben kann, der ihre häufig mit Stereotypen behaftete Varietät nutzt und dadurch legitimiert. Den Lernenden gelingt es also, die gängige Vorstellung von code-switching als mangelnder Sprachkompetenz als Stereotyp zu entlarven und umgekehrt zu erkennen, dass Sprache die Macht besitzt, die dominanten gesellschaftlichen Verhältnisse umzukehren und Bewusstsein für unterprivilegierte Varietäten zu schaffen. Damit zeigen die Lernenden, dass sie die Beziehungen zwischen Sprache und Macht ausloten und damit die Wirkung der sprachlichen Gestaltung des Films bewusst reflektieren können. Durch den mehrsprachigen Film erhalten sie Zugang zur kulturellen und sprachlichen Hybridität der Chicano/ a-Gemeinschaft aus verschiedenen Perspektiven. Die Präsenz des Spanischen als Nichtstandardvarietät in den Chicano/ a-Texten ermöglicht den SchülerInnen, einerseits die Probleme und die Konflikte des Migrantendaseins besser nachvollziehen zu können und andererseits eine Bewusstheit dafür zu erlangen, wie durch die ästhetische Nutzung von Sprache(n) sprachliche Ungleichheiten dargestellt und umgekehrt werden können. Die Lernenden setzen also in dieser Aufgabe die Mehrsprachigkeit des Films in Bezug zu seinem kulturellen Kontext und erfassen, welche Wirkung der sprachlich so gestaltete Film auf die ZuschauerInnen haben kann. Diese Leistung der SchülerInnen reflektiert auch der Lehrer im Abschlussinterview und schätzt den Ertrag der Aufgabe als hoch ein: [I]n diesen Diskussionen konnte man sehr deutlich feststellen, dass die verschiedenen Aspekte der Mehrsprachigkeit, also zum einen auch des Publikums… Es wurde mehrfach auch argumentiert, diesen Film könnten ja viele gucken mit dem ähnlichen Hintergrund und die würden sich viel stärker darin wiederfinden, wenn es in Englisch und Spanisch gezeigt würde. War eins der Argumente. Das fand ich sehr interessant, also auch ein ökonomisches Interesse sogar. […] Also das fand ich eigentlich die Aufgabenstellung, die am meisten gezeigt hat, wie tief das gehen kann. (L 3, Interview nach der Einheit) Die inhaltliche Tiefe der Schüleraussagen wird dadurch erzeugt, dass die verschiedenen Perspektiven auf Mehrsprachigkeit beim Rollenspiel koordiniert werden: Die Mehrspra‐ chigkeit des Films wird einerseits mit Bezug auf das Sprachverhalten der mehrkulturell aufwachsenden Ana reflektiert, andererseits wird Sprachmischung auch in ihrer Wirkung als Gestaltungsmittel im Hinblick auf bildungsrelevante, ästhetische und ökonomische Aspekte diskutiert. Mehrsprachigkeit erfassen, wenn man selbst gar nicht mehrsprachig ist? Die retrospektiv erhobenen Daten zeigen, dass der Perspektivenwechsel vor allem kognitiv erfolgt. Anders als in den anderen beiden Fallstudien finden sich in den Unterrichtsge‐ sprächen der vorliegenden Fallstudie keine expliziten Hinweise darauf, dass die Schüler- Innen die Situation von Ana emotional nachempfinden oder sich in ihrer Zerrissenheit zwischen Elternhaus und Schule bzw. zwischen den unterschiedlichen Kulturen wieder‐ finden können. Dies bestätigen auch die Schüleraussagen auf dem Fragebogen B, die als Antwort auf die Frage: „Inwieweit können Sie sich mit der Lebenssituation von Ana, der 216 IX Fallstudie 3 - Eine Unterrichtseinheit zu Cardosos Real Women Have Curves <?page no="217"?> 90 Diese Frage war Teil einer früheren Version des Fragebogens B, die in der Pilotstudie eingesetzt und für die Hauptstudie überarbeitet und gekürzt wurde. Im Anhang befindet sich die Version des Fragebogens B, die in der Hauptstudie zum Einsatz kam (Fallstudie 1 und 2). Protagonistin des Films Real Women Have Curves, identifizieren? “ 90 gegeben wurden. Von insgesamt 13 Lernenden verneinten neun SchülerInnen die Frage. Als Begründung gaben sie mehrheitlich an, dass ihre Eltern andere Vorstellungen über Erziehung und Bildung haben als Anas sowie dass ihre Familie keine ausländischen Wurzeln habe und sie sich deswegen mit Anas Mehrsprachigkeit nicht identifizieren können. Die vier SchülerInnen, die eine Verbindung zu Anas Lebenssituation herstellten und sich in einigen ihrer Probleme wiedererkennen konnten, begründeten diese folgendermaßen: Ich kann mich insofern mit ihr identifizieren als ich verstehe, wie wichtig es ihr war, etwas zu lernen, um später ein gutes Leben zu führen. (INPE12) (13b) Ich kann mich identifizieren. Bin selbst oft genervt von meiner Familie und bin selbst eher ein „Papa-Kind“. (KAFR05) (13b) Ein wenig insofern, dass ich auch zweisprachig aufgewachsen bin. Ich glaube, die familiären Probleme kann ich nicht komplett nachvollziehen. (AURO07) (13b) Ein bisschen schon, da sie von ihren Eltern (Mutter) eingeengt wird und zu Sachen gezwungen wird, die ich nicht machen möchte (Textilfabrik statt College). (KAHO02) (13b) Es identifizieren sich mit Ana also auch SchülerInnen, die selbst keine Erfahrung mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität haben, weil sie Anas Konflikte mit der Familie und ihre Bildungsaspirationen aus eigener Erfahrung nachvollziehen können. Die SchülerInnen finden einen Bezug zu Ana über die Aspekte, die sie aus ihrer eigenen Lebenswelt kennen. Nur eine Schülerin (AURO07) kann aufgrund ihrer lebensweltlichen Erfahrung eine Verbin‐ dung zu Anas Mehrsprachigkeit ziehen. Es kann also davon ausgegangen werden, dass es den meisten Lernenden schwerfällt, Anas Erfahrungen mit den beiden Kulturen emotional und empathisch zu erfassen. Auch der unterrichtende Lehrer weist auf die Diskrepanz zwischen Anas Erlebnissen und den begrenzten Erfahrungen seiner SchülerInnen mit Mehrsprachigkeit hin. Die Lernenden können „die Verbundenheit zwischen Sprache und Identität“ erst dann erleben, „wenn sie im Ausland [sind] und sich dann zum ersten Mal im Deutschen anders wahrnehmen“ (L 3, Interview nach der Einheit). Auch wenn dem Lehrer zuzustimmen ist, dass man sich als ‚Fremde/ r‘ oder ‚Andere/ r‘ nur dann erlebt, wenn die eigene Muttersprache plötzlich bei Auslandsaufhalten zur Fremdsprache wird, so ist durch die Ergebnisse des Rollenspiels weiter oben deutlich geworden, dass die Lernenden im Kontext des Films verstehen können, wie Fremdheit durch Sprache erzeugt wird bzw. wie die Nutzung des Sprachenwechsels im Film das Verhältnis zwischen Eigen und Fremd umkehren kann. Den Lernzuwachs seiner SchülerInnen bewertet der Lehrer insgesamt als „sehr hoch“ und beschreibt ihn folgendermaßen: Also überhaupt sich ein erstes Bild davon zu verschaffen, was es eigentlich bedeutet, zwischen zwei Kulturen groß zu werden. Ich glaube, da ist auch sehr viel passiert, gerade für die Schüler hier 4 Reaktionen und Zugänge zum Spanischen 217 <?page no="218"?> ist es sogar mehr passiert, als wären es Schüler gewesen, die selber einen ähnlichen Hintergrund gehabt hätten. (L 3, Interview nach der Einheit) Zwar wurde deutlich, dass sich die meisten Lernenden nicht mit Anas Situation identifi‐ zieren können, aber sie können ihre Mehrsprachigkeit und die Mehrsprachigkeit des Films erfassen und im fremdkulturellen Kontext der US-Gesellschaft einordnen. Wie Schinschke (1995: 39) schreibt, kann eine Perspektivenübernahme durch das „Nachvollziehen und Erfassen von emotionalen Zuständen“ erfolgen, die aber nicht zwingend miterlebt oder mit‐ gefühlt werden müssen. Möglicherweise erlebten die Lernenden also den Sprachenwechsel als fremd und konnten sich damit nicht identifizieren. Sie waren aber dennoch in der Lage, das code-switching im Kontext von individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit einzuordnen und die Wirkung des Sprachenwechsels im Film in seiner ästhetischen und politischen Funktion zu erfassen. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass der Mangel an lebensweltlicher Erfahrung mit Mehrsprachigkeit nicht entscheidend dafür ist, dass die SchülerInnen die Mehrsprachigkeit der Charaktere und des Films nachvollziehen können. In diesem Fall bleibt ihr Zugang stärker kognitiv basiert. Bestand bei anderen Lerngruppen der Lernzuwachs in der Reflexion ihrer eigenen Erfahrungen mit Mehrspra‐ chigkeit, ist er bei den Lernenden dieser Einheit darin zu sehen, dass sie erkennen, dass es einen Zusammenhang zwischen Sprachgebrauch und kultureller Zugehörigkeit gibt und dass Sprache der Repräsentation, aber auch der Legitimierung von kulturellen Identitäten dienen kann. 5 Englisch als Gateway to Languages? - Retrospektives Interview mit den SchülerInnen Um näher zu ergründen, wie die SchülerInnen selbst die Unterrichtseinheit erlebt haben, ob sich die Abneigung gegen das Spanische im Laufe der Einheit verändert hat und welche Vorstellungen sie über Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität äußerten, wird im Folgenden das Schülerinterview detailliert wiedergegeben und diskutiert. Zum Interview wurden SchülerInnen eingeladen, die möglichst unterschiedliche Reaktionen auf die Un‐ terrichtseinheit gezeigt haben, d. h. auch Susanne und Carolin, die sich am Anfang negativ gegenüber dem Spanischen geäußert haben. Zunächst sollten die SchülerInnen ihre erste Reaktion auf den Film erläutern: 1 I Herr X hat vorgestellt, was Sie machen werden und hat gesagt, Sie werden eine Einheit machen mit einem englisch-spanischen Film. Was war so Ihre erste Reaktion darauf ? - 2 Carolin Oh scheiße, ich habe Spanisch abgewählt und war so glücklich darüber und jetzt gucke ich einen spanischen Film- (wird unterbrochen) 15a 3 Susanne Dito. Spricht mir aus dem Herzen. 15a 4 Carolin Dieses: Hilfe, ich habe keine Lust auf Spanisch. 15a 5 Susanne Hilfe, das ist mein Englischunterricht und nicht mein Spanischunter‐ richt. 15a 218 IX Fallstudie 3 - Eine Unterrichtseinheit zu Cardosos Real Women Have Curves <?page no="219"?> 6 Julia Mir war es eigentlich ziemlich egal. (MitschülerInnen lachen) 7 Alina Da schließe ich mich an. - 8 Florian Also mir hat es Spaß gemacht. (SchülerInnen durcheinander, es wird laut) - 9 Jan Ich fand das eigentlich auch gar nicht so schlecht. (eher leise) […] - 10 I Warum hat es Ihnen Spaß gemacht? (zu Florian) - 11 Florian Ja, fand ich interessant mal, also Sprachmix zu erleben. 13d 12 Jan Man hat halt gar nicht so die Möglichkeit, so einen Sprachmixfilm zu sehen, weil ich kenne einfach nicht so eine Filme, wo so was existiert, so ein konsequenter Sprachmix und ja - halt mal was Neues. […] 13d 13 I Wie ist es jetzt, Sie haben gesagt, das war ja mal ganz spannend, so einen Film in Sprachmischung zu sehen, sieht man nicht so häufig. Wie war das für die anderen, finden Sie das auch so? - 14 Julia Also ich fand das auch ziemlich erfrischend, um ehrlich zu sein. Es war mal, es war was anderes, man hat nicht immer nur Englisch, nicht immer nur Spanisch, man konnte beides verstehen. Also gut Englisch mehr verstehen als Spanisch, aber aus dem Kontext heraus konnte man auch das Spanische relativ gut verstehen und ja, also ich fand das auch ziemlich gut. 13d 13a Tab. 18: Interview mit den SchülerInnen zum mehrsprachigen Film, Auszug Nr.-1 Zum einen zeigen Susanne und Carolin die gleiche Reaktion wie zu Beginn der Einheit, die darauf zurückzuführen ist, dass sie Spanisch abgewählt haben und „keine Lust“ darauf haben (Code 15a). Zum anderen wird aber auch deutlich, dass es drei weitere SchülerInnen gibt ( Julia, Jan und Florian), die die Einheit zum mehrsprachigen Film als interessant und erfrischend erleben. Diese eher positiven Reaktionen scheinen zögerlich geäußert zu werden, wahrscheinlich weil sie den vorigen Rednerinnen widersprechen. Hier wird bereits eine Grunddynamik des Gesprächs deutlich, die für das gesamte Interview charakteristisch ist: Susanne und Carolin sind der Meinung, dass andere Sprachen nicht in den Englischunterricht gehören; Florian, Jan und Julia haben ein anderes Verständnis vom Englischunterricht und sind dadurch auch offener für mehrsprachige Arrangements. Die Sprachmischung wird als neu, erfrischend und als eine Abwechslung zum gewöhnlichen Unterricht erlebt. Als positiv wird die Erfahrung hervorgehoben, dass man beide Sprachen verstehen konnte und auch erfolgreich darin war, sich das Spanische aus dem Kontext abzuleiten (vgl. Ab. 14). Entscheidend für die Bewertung des Films scheint also die Frage zu sein, inwiefern die Lernenden bereit sind, sich auf das Spanische einzulassen und sich der Präsenz einer weiteren Fremdsprache im Englischunterricht zu öffnen. Die Thematik des Films, aber auch die mangelnden lebensweltlichen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität scheinen bei der Bewertung des Films zunächst keine Rolle zu spielen - Jan äußert sogar Interesse an einem Phänomen, was ihm zunächst unbekannt ist. Die folgenden Ausführungen machen deutlich, dass die unterschiedlichen Reaktionen der SchülerInnen auf die Unterrichtseinheit maßgeblich darauf zurückzuführen sind, 5 Englisch als Gateway to Languages? - Retrospektives Interview mit den SchülerInnen 219 <?page no="220"?> dass sie unterschiedliche Erwartungen an den Englischunterricht stellen und ein anderes Verständnis vom gesellschaftlichen Status des Englischen haben. Dem Auszug geht eine kurze Debatte über die Verständlichkeit des Films voraus. 1 Florian Ich wollte nur mal sagen, dass ich das gar nicht … Also klar war es irgendwie ein bisschen blöd, dass man bestimmte spanische längere Szenen nicht wirklich verstanden hat, nicht zu 100-% verstanden hat, somit halt ein bisschen Inhalt verloren gegangen ist. Aber ich finde das gerade im Hinblick auf diesen Sinn, was Schule vermitteln möchte, auch mal mit Situationen konfrontiert zu werden, womit man halt erstmal nicht mit klarkommt. Ich glaube, das ist sehr zielführend gewesen. 13d 15b -- 2 I Was meinen Sie mit zielführend? - 3 Florian Na ja, wir werden ja später auch damit konfrontiert werden, dass wir irgendwann mit Leuten sprechen, die nicht wirklich Englisch sprechen, aber vielleicht Spanisch sprechen, dann mixen sie auch ihre Sprachen. Und wir werden unsere Sprachen auch irgendwann mixen. - 4 Susanne Na ja, es kommt darauf an. In die Situation bringst du dich ja meistens selbst, weil wann passiert so was… Es sei denn, du fährst sozusagen ins Ausland und bist dann- (wird unterbrochen) - 5 Florian Ja, ja vorausgesetzt, wir machen mal was- (wird unterbrochen) - 6 Susanne Ja, vorausgesetzt… Es ist halt immer nur so eine Sache vorausgesetzt. Du bist halt dann im Ausland, in dem Moment und in den meisten Touristenregionen sprechen sie Englisch, einfach weil es deren Leben ist und wenn man geschäftlich mit Leuten zu tun hat, die dann vielleicht Spanier sind oder so was. Im Geschäftsleben müssen wir ja auch Englisch können. Die müssen ja auch Englisch können. Das ist ja in Europa so. 15c 7 Carolin Beziehungsweise wenn du jetzt nicht unbedingt in der Touristenge‐ gend Ferien hast oder so, kannst du dich ja auch anders verständigen. Also, keine Ahnung, ich glaube, das wird jetzt nicht so das Problem. Aber du hast dann natürlich Vorteile, wenn du dann die Sprache beherrschst. 15c 8 Jan Wobei ich muss sagen… (zu Florian) Ich finde deine Idee gar nicht schlecht, aber was bringt es dir jetzt? Du hast eine Sprache gehört, die du nicht verstehst. Du hast Latein gelernt, na? (Florian: Ja) Also du hast gar nichts verstanden auf Spanisch, oder? 15b 9 Florian Ich habe auch Spanisch gelernt. Auch vier Jahre lang. - 10 Julia Also hast du was verstanden? - 11 Florian Ich habs verstanden, ja. - 12 Julia Ok, dann trifft das nicht unbedingt auf dich zu, aber in dem Fall wäre es jetzt so, dass wenn du nichts verstanden hättest, dann hätte es dir auch nicht viel gebracht, jetzt diesen Mix zu haben, weil du hättest es ja einfach nicht verstanden. - 13 Florian Ja, das hätte mir nichts gebracht, aber ich hätte wenigstens mal die Situation gehabt und wenn ich dann später die Situation erfahren hätte, und ich glaube, das ist durchaus realistisch, dass es passiert, wäre 15b 220 IX Fallstudie 3 - Eine Unterrichtseinheit zu Cardosos Real Women Have Curves <?page no="221"?> ich da nicht einfach so blöd dagestanden und man wüsste wo- (wird unterbrochen) 14 Carolin Sondern hättest du an den Film gedacht und hättest gedacht, so ok, jetzt kann ich Spanisch. (lacht ironisch) - Tab. 19: Interview mit den SchülerInnen zum mehrsprachigen Film, Auszug Nr.-2 Vor dem Hintergrund der Unterrichtseinheit zum mehrsprachigen Film reflektieren die Lernenden über die personelle Dimension des Sprachenlernens: Für Florian ist das Spra‐ chenlernen wichtig, weil es ihn auf die Herausforderungen der mehrsprachigen Welt vorbereitet (vgl. Ab. 3), für Susanne ermöglicht das Englischlernen den Zugang zur Ge‐ schäfts- und Arbeitswelt, in der Englisch die Hauptverständigungssprache sei. Susanne und Florian vertreten grundsätzlich unterschiedliche Sichten auf die Schule, das Englischlernen und die internationale Kommunikation, auf die die Schule vorbereiten soll. Wie entschieden die beiden SchülerInnen ihre gegensätzlichen Positionen vertreten und wie intensiv der Wortwechsel verläuft, ist u. a. an den häufigen Sprecherwechseln und den gegenseitigen Unterbrechungen zu erkennen. Für Florian haben Schule und der Englischunterricht einen wichtigen Bildungsauftrag (15b): Sie sollen SchülerInnen auf Situationen vorbereiten, die sie sprachlich und kulturell herausfordern und die sie nicht nur mit Hilfe ihrer Englischkenntnisse meistern können (vgl. Ab. 1, 3). Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass die Welt durch sprachliche und kulturelle Hybridität gekennzeichnet ist: „Und wir werden unsere Sprachen auch irgendwann mixen“. Susanne dagegen betrachtet die Welt in erster Linie als englischsprachig. In der Tourismusbranche sowie in der Geschäftswelt müsse vor allem Englisch beherrscht werden (vgl. Ab. 6). Interessanterweise ist ihre Sicht auf die internationale Geschäftswelt auf Europa beschränkt („Das ist ja in Europa so“). Die Erkenntnis aus der vorliegenden Einheit, dass viele Menschen hispanoamerikanischen Hintergrunds im Südwesten der USA neben dem Englischen auch das Spanische sprechen, spielt bei ihren Überlegungen in diesem Interview keine Rolle. Englisch ist für Susanne ein klarer Referenzpunkt für beruflichen Erfolg. Den SprecherInnen anderer Sprachen wird der Status der ‚Anderen‘ zugewiesen: „Die müssen ja auch Englisch können“. Carolin relativiert diese Ansicht, indem sie daran erinnert, dass es auch nützlich sein könnte, eine andere Sprache zu sprechen (Ab. 7). Im letzten Teil des Interviews wird noch ein anderer Unterschied zwischen Florians Verständnis vom Englischunterricht und dem seiner MitschülerInnen deutlich: Sie zweifeln daran, dass die Erfahrung des Nicht-Verstehens beim Anschauen des Films Florian etwas „gebracht hätte“ (Ab. 8, 12). Florian scheint es aber weniger um die „Nützlichkeit“ des Hörverstehensprozesses für das Sprachenlernen, sondern mehr um die Erfahrung selbst zu gehen (Ab. 13). Auch hier liegt ein großer Unterschied zwischen Susannes und Florians Wahrnehmung des Englischunterrichts. Während andere SchülerInnen der Meinung sind, Englischunterricht solle ihnen berufliche Vorteile verschaffen, solle also „nützlich“ sein, betrachtet Florian den Beitrag des Englischunterrichts eher in der Persönlichkeitsentwick‐ lung: Er wolle erleben, wie es ist, mit Nicht-Verstehen konfrontiert zu werden, damit er eine solche reale Herausforderung besser meistern kann. 5 Englisch als Gateway to Languages? - Retrospektives Interview mit den SchülerInnen 221 <?page no="222"?> Diese beiden sehr unterschiedlichen Verständnisse vom Englischlernen erklären, warum Florian und Susanne so unterschiedlich auf die Einheit reagieren. Während Susanne das Spanische grundsätzlich ablehnt, zeigt sich Florian an Sprachvergleichen interessiert und ist offen für das mehrsprachige Filmerlebnis. Die Aussagen im Interview suggerieren, dass diese unterschiedlichen Reaktionen weniger mit den divergierenden Spanischkenntnissen zu tun haben (beide haben gleich lange Spanisch gelernt), sondern dass sie eher auf die unterschiedlichen Zielsetzungen zurückzuführen sind, die beide SchülerInnen dem Eng‐ lischunterricht zuschreiben. Das gemeinsame Auftreten der Codes 15b und 15c impliziert, dass das jeweilige Verständnis vom Beitrag des Englischunterrichts zur Sprachbildung sehr stark davon abhängig ist, welche Rolle (und welches Prestige) die Lernenden dem Englischen als Weltsprache beimessen. Florian ist der Meinung, dass Englischunterricht auf die Mehrsprachigkeit und Mehr‐ kulturalität vorbereiten sollte, Susanne dagegen betrachtet die Welt (oder Europa) nicht als mehrsprachig, denn die Kommunikation in dem für sie relevanten Bereich fände einzig und allein in Englisch statt. Jede Bezugnahme auf eine andere Sprache empfindet sie daher als Zeitverlust (siehe weiter unten, Ab. 18). Ein solches Verständnis von Englisch und seiner Rolle in der Welt negiert die Existenz von Mehrsprachigkeit und setzt den Stellenwert von Sprach- und Kulturvernetzung für das Englischlernen stark herab. Solche Einstellungen sind insofern gefährlich, als sie dazu führen können, dass Englisch zu einer „Killersprache“ für die europäische Mehrsprachigkeit wird (vgl. Schröder 2009: 71). Florian andererseits geht von einer inhärent mehrsprachigen Gesellschaft aus und sieht die Funktion des Englischunterrichts darin, die Lernenden auf den Umgang mit mehreren Sprachen gleichzeitig vorzubereiten. In dem konkreten Interview steht dabei die affektive Seite einer solchen Ausrichtung des Englischunterrichts im Zentrum: Schule solle den Umgang mit Nicht-Verstehen fördern und Frustrationstoleranz aufbauen (ebd.: 75-f.): 1 I Können wir ganz kurz bei dieser Aufgabe bleiben? Sie haben sich gefragt, was soll denn dieser serbische Text im Englischunterricht. Habe ich Sie richtig verstanden? - 2 Jan Ja, ist doch aber logisch, was der serbische Text zu tun hatte. Es geht um Sprachmischung, es geht um Sprachstämme. Es geht darum, welche Sprachen, welche Gemeinsamkeiten haben und dann haben wir festgestellt, welche Wörter wir aus unserem Deutsch und Englisch… Na ja gut, aus Spanisch bei einem großen Teil von uns vielleicht nicht so, zumindest kann man ein paar Wörter davon auch noch aus dem Russischen ableiten und es ging, glaube ich, auch noch so ein bisschen ums Ableiten. 15d 3 Julia Und wir haben halt gelernt oder es hat uns gezeigt, dass wir, wenn wir einen Text haben, den wir nicht verstehen, aber genau die Übersetzung, die wir verstehen, dass man halt daraus eine andere Sprache lernen kann. 15d 4 Susanne Ja, verstehe ich schon, aber es waren nur wenige Wörter. - 5 Carolin Ich glaube, Susanne ging es nicht so wirklich darum, dass sie die Aufgabe nicht verstanden hat oder den Sinn dahinter nicht, sondern dass sie einfach diesen Sinn nicht so- (wird unterbrochen) - 6 Susanne Dass man jetzt noch eine Sprache reinbringt… Ich meine, hätten wir es jetzt auf Spanisch bekommen hm. ok ja, Spanisch-Englisch, das ist unser 15d 222 IX Fallstudie 3 - Eine Unterrichtseinheit zu Cardosos Real Women Have Curves <?page no="223"?> Thema und dann nochmal auf Serbisch und dann nochmal, das war so ein bisschen. […] 7 Alina Na, das Argument ist insofern darauf zu beziehen, dass sich, denke ich, Susanne nicht so damit… Sie war nicht so damit einverstanden, weil es im Englischunterricht war. Die Aufgabe mit Spanisch-Englisch hatte noch was mit Englisch zu tun, aber die mit dem einfach nur aus dem Serbischen was übersetzen- (wird unterbrochen) 15d 8 Jan Du hast dein Englischvokabular benutzt, um im Serbischen die Wörter abzuleiten. Also ich verstehe da schon den Sinn, muss ich jetzt mal so sagen. 15d 9 Florian Wir sind ja nicht dabei, Englisch zu lernen, sondern dieses Bewusstsein für die Sprache zu entwickeln- (wird unterbrochen) 15b 10 Carolin Wir sind im Englischunterricht (wird laut) (Susanne: Richtig! ) nicht dazu da, um Englisch zu lernen. Ich glaube, die Aussage widerspricht sich aber ganz schön. - 11 Jan Warum? Moment mal! (wird lauter) Wann hast du…? Also so richtig Englisch lernen wir mittlerweile nicht mehr, sondern nur noch Konver‐ sation und Sachtexte zu formulieren, nämlich das Englischlernen haben wir im Normalfall bereits schon abgeschlossen. Und versuchen das jetzt nur noch zu festigen, damit ist sein Argument schon viel triftiger. 15b 12 I Darf ich mal fragen, was für Sie Englischlernen bedeutet? - 13 Carolin Na ja - einfach so grammatisch- (wird unterbrochen) - 14 Susanne Na ja, es gibt da so ein generelles Problem. - 15 Florian Unterricht und Grammatik und jede Stunde dasitzen. (schmunzelt) - 16 Carolin Nein, aber wie du… Ja gut, Grammatik vielleicht jetzt etwas weniger, aber so was, wie du Texte in Englisch verfasst, wie du was auch immer machst. 15b 17 Florian Ja, aber das hatten wir in der 8. Klasse beendet. Ab der 9., 10. hat man doch- (wird unterbrochen) […] 15b 18 Susanne Ja, aber generell, auch so was, wenn man mal später ins Ausland gehen möchte. Man braucht halt dann dieses Oxford English, das ja sehr bekannt ist mittlerweile, diesen Status, dass man wirklich perfekt Englisch sprechen kann. Da dürfen auch einfache Fehler, auch in Schriftbild oder so nicht mehr möglich sein und generell, wenn du mit irgendwelchen ausländischen Firmen sprichst oder so was und du dann noch grammatische Fehler hast, weil du zu wenig Grammatikunterricht hattest und wenn es zum 1000 Mal ist, es ist immer noch festigend. Dann ist es, dann ist es halt sehr sehr schade um die verlorene Zeit, die man da hat. 15c 15b Tab. 20: Interview mit den SchülerInnen zur mehrsprachigen Gestaltung des Unterrichts, Auszug Nr.-1 Auch hier spiegeln sich zwei unterschiedliche Vorstellungen von den Zielen des Englisch‐ unterrichts für die (fremd-)sprachliche Bildung wider. Florian, Jan und Julia sind der Überzeugung, dass der Englischunterricht Zugang zu anderen Sprachen schaffen sollte (Codes 15d, 15b): Die Englischkenntnisse können auf andere Sprachen übertragen und 5 Englisch als Gateway to Languages? - Retrospektives Interview mit den SchülerInnen 223 <?page no="224"?> somit dafür genutzt werden, andere Sprachen zu erschließen (vgl. Ab. 2, 3, 8). Eine der Aufgaben des Englischunterrichts sei es also, das Bewusstsein für andere Sprachen zu ent‐ wickeln (Ab. 9), und damit gehe seine Aufgabe über die bloße Vermittlung grammatischer Kenntnisse im Englischen hinaus (Ab. 11, 17). Die SchülerInnen argumentieren - durchaus im Sinne einer gateway-Funktion des Englischunterrichts (vgl. Schröder 2009) -, dass der Unterricht auch für andere (nicht schulische Fremdsprachen) offenbleiben sollte, denn Englischkenntnisse können helfen, andere Sprachen zu lernen. Diese Erkenntnis könnte das Resultat eines durch diese Einheit angestoßenen Lernprozesses sein (vgl. Ab. 3). Andererseits vertritt Susanne (mit Unterstützung von Alina und Carolin) die Ansicht, der Englischunterricht solle in erster Linie grammatische Kenntnisse vermitteln, denn nur so ließe sich das prestigeträchtige Oxford Englisch fehlerfrei erlernen und damit auch der erwünschte gesellschaftliche Status erreichen (vgl. Ab. 18). In der Aussage von Susanne wird wiederholt deutlich, wie eng ihr Verständnis vom Englischunterricht als ‚sprachlich reinem‘ Grammatikunterricht und ihre Vorstellung vom Englischen als der prestigereichen Sprache der internationalen Kommunikation zusammenhängen (Codes 15b und 15c). Susanne geht davon aus, dass Kommunikation unter Menschen aus verschie‐ denen Ländern dann erfolgreich verläuft, wenn keine sprachlichen Fehler auftreten. Die interkulturellen oder pragmalinguistischen Aspekte der Kommunikation werden dabei ausgeblendet. Während für die anderen SchülerInnen der Erwerb sprachlicher Strukturen nur einen Teil des Englischunterrichts ausmacht (der in der Regel nach der Sekundarstufe I abgeschlossen ist, vgl. Ab. 11, 17), ist er für Susanne auch in der Oberstufe von zentraler Bedeutung. Folglich ist für sie jede Bezugnahme auf andere Sprachen eine „verlorene Zeit“, denn beruflichen Erfolg, zu dem der Englischunterricht verhelfen solle, könne man lediglich durch ein fehlerfreies Englisch erreichen. Möglicherweise haben Susannes Einstellungen damit zu tun, dass sie wenig Erfahrung mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität im Lebensumfeld hat und die voranschreitende Internationalisierung und Globalisierung von Gesellschaften nicht ausreichend reflektiert. Ihre Überzeugungen beruhen vor allem auf der Annahme, dass das Englische eine prestigereiche Sprache ist und alle anderen Sprachen weniger nützlich bzw. für die internationale Kommunikation unnötig seien. Ferner fällt in diesem Interview auf, dass Carolin und Susanne das Englischlernen in erster Linie als Erwerb sprachlicher Mittel und insbesondere der Grammatik verstehen. Dies ist eindeutig an der spontanen Antwort von Carolin erkennbar (Ab. 13), die sie erst nach dem Einspruch der MitschülerInnen relativiert. Auch diese Auffassung vom Englischunterricht und vom Stellenwert der Fehler widerspricht den Ansätzen der Mehr‐ sprachigkeitsdidaktik. Grammatikfehler seien nach Schröder (2009: 76) „leichte Fehler“, weil sie „kognitive Reaktionen (Richtigstellungen und Erklärungsversuche)“ im Gegenüber hervorrufen. Die „schweren Fehler“ betreffen dagegen die pragmalinguistischen Aspekte der Kommunikation bzw. den kulturellen Gehalt von Aussagen (ebd.). Zum Abschluss des Interviews benennen Carolin und Susanne einen weiteren Grund, warum sie sprachenübergreifendes Lernen im Englischunterricht als nicht sinnvoll er‐ achten: 224 IX Fallstudie 3 - Eine Unterrichtseinheit zu Cardosos Real Women Have Curves <?page no="225"?> 1 Carolin Also, na ja, ich weiß ja nicht. Ich glaube, jeder kennt so die Situation, wenn man, keine Ahnung, so Deutsch-, Englisch-, Spanischunterricht hatte, so nacheinander, und dann im Spanischunterricht dachte man sich einfach: Ja ok, jetzt fallen mir nur noch englische Wörter ein und bei mir ist es einfach nur noch Englisch. Und in einer Klausur oder jetzt auch so für das Abitur ist es einfach gar nicht vorteilhaft, wenn du entweder diesen spanischen Satzbau hast im Kopf oder den englischen oder das einfach mal so irgendwie vermischst oder so. Klar, vielleicht im Alltag kann das sehr lustig sein oder sich auch einfach mit anderen Leuten zu unterhalten, aber gerade ist mein Fokus auch auf das Abitur gerichtet und da ist es einfach sehr unpraktisch. 15d 2 Susanne Richtig, ich sehe das genauso wie sie. Im Alltag ok, in der Schule nicht, weil in der Schule ist es definitiv nicht in Ordnung. 15d Tab. 21: Interview mit den SchülerInnen zur mehrsprachigen Gestaltung des Unterrichts, Auszug Nr.-2 In der Aussage von Carolin spiegelt sich die Befürchtung vieler Mehrsprachigkeitsskepti‐ kerInnen wider, die Vernetzung zwischen Sprachen könne zu Interferenzen führen bzw. Verwirrung stiften und sich so negativ auf das Sprachenlernen auswirken. Die Befürchtung scheint für die Schülerin von großer Relevanz zu sein, denn sie steht gerade kurz vor dem Abitur und befürchtet, sprachvernetzendes Denken könne sich negativ auf ihre Leistungen auswirken. Möglicherweise ist dies auch der Grund, warum Carolin Spanisch am Ende der Sekundarstufe I abgewählt hat, denn ihre Bedenken richten sich nicht nur gegen sprachvernetzende Aktivitäten im Englischunterricht, sondern scheinbar fürchtet sie, dass der gleichzeitige Erwerb einer weiteren Fremdsprache als separates Fach das Englischlernen negativ beeinflussen könnte. Aus gängigen Theorien zur sprachlichen Informationsverarbeitung lässt sich allerdings schließen, dass „der Aufbau einer fremd‐ sprachlichen Kompetenz grundsätzlich unter mentalem Bezug zu vorhandenen sprachli‐ chen Wissensbeständen erfolgt“ (Königs 2000: 7). Sprachvergleiche und Reaktivierung von Vorwissen in anderen Sprachen finden also auch ohne mehrsprachigkeitsdidaktische Interventionen statt, es handelt sich hierbei um „einen prinzipiellen Vorgang“ (ebd.). Im weiteren Verlauf des Interviews berichtet Carolin aus ihrer eigenen Erfahrung mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit und widerspricht damit ihrer eigenen Annahme, wenn sie sagt: Ich habe ja auch zwei Sprachen, bin sozusagen zweisprachig aufgewaschen. Aber Denken, Schreiben, Sprechen tue ich dann immer in der Sprache, in der ich mich gerade befinde. Egal, ob das gerade Englisch ist, oder Holländisch oder Deutsch ist. Also, keine Ahnung, ob das wirklich so ist. Vielleicht habe ich auch alles gleichzeitig gelernt und ich weiß einfach nicht mehr, welches Wort ich zuerst gelernt habe, aber ja. Die Schülerin vermutet, dass sie ihre beiden Erstsprachen, Holländisch und Deutsch, gleichzeitig erworben hat, und gibt an, dass sie diese beiden Sprachen und die Fremdsprache Englisch trotzdem auseinanderhalten kann, dass also keine Interferenzen stattfinden. Auch wenn sich der Erwerb von Erstsprachen nicht ohne Weiteres auf das Erlernen von Fremdsprachen im institutionellen Kontext übertragen lässt, so könnte die persönliche Erfahrung, dass trotz des gleichzeitigen Erwerbs von Sprachen beim kommunikativen 5 Englisch als Gateway to Languages? - Retrospektives Interview mit den SchülerInnen 225 <?page no="226"?> Handeln keine Interferenzen geschehen, die Schülerin dazu bringen, ihre Skepsis gegenüber sprachenvernetzenden Verfahren zu hinterfragen, wofür sich aber im Interview keine Hinweise finden. Die Skepsis der beiden Schülerinnen ist auch darauf zurückzuführen, dass sie das code-switching als eine sprachliche Praktik betrachten, die „lustig“ und unterhaltsam sein kann, aber keinesfalls in den Unterricht gehört. Zum einen zeigt sich hier, dass Carolin und Susanne die Erkenntnis aus dem Film, dass das code-switching zum Alltag mehrspra‐ chiger Personen gehört, die sie selbst beim Rollenspiel formulieren (siehe oben), nicht auf die eigene Lebenswelt übertragen haben und dadurch der Sprachmischung lediglich einen humorvollen Effekt zuschreiben. Code-switching wird hier also als mangelhaftes defektes Sprechen dargestellt und habe daher keinen Platz in der Schule. Entgegen der Argumentation von Florian, der den Bildungsauftrag der Schule darin sieht, Lernende auf alltagsrelevante Situationen vorzubereiten, sind Carolin und Susanne der Meinung, dass sich der Englischunterricht dem Gebot der sprachlichen ‚Reinheit‘ verschreiben sollte. 6 Fazit Die Auswertung des Interviews zeigt, dass verschiedene Vorstellungen von den Aufgaben des Englischunterrichts die Bereitschaft der Lernenden beeinflussen können, sich auf den mehrsprachigen Film und auf das sprachvernetzende Denken einzulassen. Susanne und Carolin stehen der Unterrichtseinheit bis zum Schluss skeptisch gegenüber, denn sie gehen davon aus, dass die internationale Kommunikation, auf die der Englischunterricht vorbereiten soll, durch die Dominanz des Englischen geprägt ist und durch Rückgriff auf Englisch als lingua franca hauptsächlich einsprachig verläuft. Dass solche Ansichten unter den SchülerInnen, die Spanisch nach der Sekundarstufe I abwählen, weit verbreitet sind, zeigt auch die Studie von Fritz (2020: 262): „Sprachlicher Vielfalt zu begegnen impliziert für viele SchülerInnen nicht Kenntnisse in möglichst mehreren Sprachen, sondern mache im Gegenteil den Rückgriff auf die englische Sprache als lingua franca notwendig.“ Susanne und Carolin wägen die Nützlichkeit des Spanischen und Englischen ab und kommen zum Schluss, Spanischunterricht könne sich negativ auf die Englischkompetenz auswirken, „so als sei es nicht möglich, die verschiedenen Schulfremdsprachen gleichermaßen erfolgreich zu lernen, und als gehe das Erlernen jeder weiteren Fremdsprache neben dem Englischen zulasten dieser“ (ebd.). Jegliche Beschäftigung mit anderen Sprachen sei daher überflüssig, denn auch die anderen müssen Englisch beherrschen, dies sei in Europa so - wie es in der Aussage von Susanne heißt. Die Position der beiden Schülerinnen greift auf die unreflektierte Annahme zurück, dass sich die Kommunikation über Sprachen und Kulturen hinweg in der Verwendung des Englischen als lingua franca erschöpft und auf die korrekte Verwendung von grammatischen Strukturen angewiesen ist. Obwohl die beiden Schüler- Innen bereits fortgeschrittene und erfahrene Sprachenlernerinnen sind und im Falle von Carolin bereits selbst mehrkulturelle Erfahrungen gemacht haben, reflektieren sie kaum die interkulturellen Aspekte zwischenmenschlicher Kommunikation. Auch das mehrsprachige Filmerlebnis führt nicht zu einer stärkeren Berücksichtigung der stetig zunehmenden Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität von Gesellschaften. Die Erkenntnisse im Hinblick 226 IX Fallstudie 3 - Eine Unterrichtseinheit zu Cardosos Real Women Have Curves <?page no="227"?> auf den Sprachenwechsel als häufige Sprachpraktik in mehrkulturellen Gesellschaften werden lediglich auf den fremdkulturellen Kontext und nicht auf die eigene Lebensumwelt bezogen. Das code-switching wird weiterhin als fehlerhaftes und unerwünschtes Sprachver‐ halten charakterisiert. Es wird immer wieder deutlich, dass Carolin und Susanne Englisch und Spanisch hinsichtlich ihres Prestiges und ihrer Nützlichkeit bewerten: Englisch ist für sie die prestigereiche Sprache der internationalen Geschäftswelt, Spanisch dagegen wird nicht nur als unnötig, sondern für den Englischerwerb auch als schädlich empfunden. Ein anderes Verständnis vom Englischunterricht liegt den Aussagen von Florian und Jan (manchmal auch Julia) zugrunde. Sie zeigen sich dem mehrsprachigen Filmerlebnis und den sprachenvernetzenden Aufgaben aufgeschlossen gegenüber und betrachten ihren Lernprozess in dieser Einheit als gewinnbringend. Dies liegt zum einen daran, dass sie den Beitrag des Englischunterrichts (insbesondere Florian) in einer Sensibilisierung für die Herausforderungen der mehrsprachigen Kommunikation und in der Förderung eines allgemeinen Sprachbewusstseins sehen. Zum Zweiten gehen sie grundsätzlich davon aus, dass die Welt durch internationalen Austausch und eine zunehmende Mehrsprachigkeit gekennzeichnet ist („wir werden unsere Sprachen auch irgendwann mixen“), und sehen den Auftrag der Schule darin, die SchülerInnen auf diese durch Globalisierung geprägte Welt vorzubereiten. Diese Erkenntnisse entstehen möglicherweise auch durch die Arbeit mit dem mehrsprachigen Film. Jan und Julia thematisieren explizit, dass sie im Rahmen sprachenvernetzender Aufgaben gelernt haben, dass Englischkenntnisse hilfreich für den Erwerb und das Verstehen weiterer Sprachen sein können. Florian ist der Meinung, das mehrsprachige Filmerlebnis habe ihn auf die Erfahrung des Nicht-Verstehens eingestimmt. Julia wiederum erkennt durch die Beschäftigung mit der sprachlichen Gestaltung des Films, dass das code-switching mit Vorurteilen behaftet ist und häufig als mangelhaft dargestellt wird. Die Leistungen der SchülerInnen lassen sich einigen der in Vollmer (2000: 82) formulierten Zielsetzungen des mehrsprachig ausgerichteten Englischunterrichts zuordnen: der affektiv-attitudinalen Komponente (Offenheit gegenüber Sprachenvielfalt, Interesse an anderen Sprachen), der kognitiven Komponente (Aktivierung von kognitiven Grundlagen wie Sprachenvergleichen und Sprachreflexion), aber auch der kulturellen Komponente (Wissen über die kulturelle und sprachliche Hybridität der USA, Fähigkeit zum Perspektivenwechsel). Der Einblick in die Denk- und Argumentationsweise der an diesem Interview beteiligten SchülerInnen impliziert, dass die Bereitschaft der Lernenden, sich auf mehrsprachige Texte und auf mehrsprachigkeitsdidaktische Verfahren einzulassen, weniger von ihren Spanischkenntnissen oder ihren lebensweltlichen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität abhängt, wie ursprünglich - auch durch die Lehrkraft - vermutet. Alle Lernenden dieser Lerngruppe haben vier Jahre lang Spanisch gelernt und auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass der wenig reflektierte Umgang mit Sprachenvielfalt darauf zurückzuführen ist, dass die SchülerInnen Mehrsprachigkeit und Sprachenkontakt nicht unmittelbar erfahren haben, so ist dies nicht der entscheidende Grund für ihre (Nicht-) Offenheit gegenüber dem mehrsprachigen Film und den sprachenvernetzenden Aktivi‐ täten. Carolin ist eine der wenigen SchülerInnen der Klasse, die zweisprachig aufgewachsen ist und die der Einheit trotzdem mit einer gewissen Skepsis begegnet. Entscheidend scheinen in diesem Zusammenhang die Auffassungen der SchülerInnen zu sein, die das 6 Fazit 227 <?page no="228"?> Prestige des Englischen und die daraus resultierenden Erwartungen an den Englischunter‐ richt betreffen (Codes 15c und 15b). Die Auffassung von Schröder (2009) und Vollmer (2000, 2001), eine Dominanz des Englischen als lingua franca könne die Mehrsprachigkeitsförde‐ rung im Fremdsprachenunterricht gefährden, scheint sich bezüglich dieser Lerngruppe zu bestätigen. Die Daten bekräftigen also die Forderung von Kurtz, im Englischunterricht müsse das Fundament für die gesamte schulische Entwicklung von Mehrsprachigkeit und interkultureller Kompetenz gelegt werden. Dieses Fundament, mit dessen Errichtung in der Grundschule […] zu beginnen ist, muss im Hinblick auf das Erlernen weiterer Fremdsprachen vor allem affektiv nachhaltig tragfähig, aber auch sprachlich-kognitiv anschlussfähig und für mehrkulturelle Per‐ spektivenwechsel offen sein. (Kurtz 2011: 75, vgl. auch Hallet 2011: 220) Die Aussagen von Susanne und Carolin zeigen eindeutig, wie wichtig es ist, die Rolle des Englischunterrichts als Wegbereiter der Mehrsprachigkeitsförderung von Anfang an ernst zu nehmen, um eine reflektierte Haltung gegenüber der sprachlichen und kulturellen Vielfalt in der Welt und in der Schule zu ermöglichen. Sie machen auch deutlich, dass ein unreflektierter Umgang mit der Rolle des Englischen als lingua franca der internationalen Kommunikation die Relevanz von Mehrsprachigkeit sowie das Interesse der SchülerInnen an mehrsprachigkeitsfördernden Aktivitäten stark in den Hintergrund rücken lassen kann. Dem kann nur dann entschieden entgegengewirkt werden, wenn die Förderung des Mehrsprachigkeitslernens nicht erst in der Oberstufe, sondern bereits in der Sekundarstufe I systematisch in den Englischunterricht integriert wird. 228 IX Fallstudie 3 - Eine Unterrichtseinheit zu Cardosos Real Women Have Curves <?page no="229"?> X Schlussfolgerungen für die Förderung des Mehrsprachigkeitslernens im Fremdsprachenunterricht Die drei Fallstudien gewährten einen Einblick in die Rezeptions- und Interaktionsprozesse der Lernenden mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten im Englischunterricht der Sekundar‐ stufe II und stellten dar, wie sich Lernende an solchen Prozessen beteiligen, was sie dabei über Mehrsprachigkeit als individuelles und gesellschaftliches Phänomen lernen und wie sie diese Erkenntnisse auf sich selbst zurückführen. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei der Frage, wie und in welchen Unterrichtsphasen sich die SchülerInnen als „mehrsprachige Subjekte“ (Kramsch 2009) in die Bedeutungsaushandlungsprozesse einbringen, d. h. welche sprachlichen und kulturellen Ressourcen sie aktivieren, um die Texte zu dekodieren, aber auch, um die Identitäts- und Handlungsentwürfe der Figuren nachzuvollziehen und zu diskutieren. Schließlich stellte sich die Frage, inwiefern der literarische Rezeptionsprozess zu einer Weiterentwicklung mehrsprachiger Identitäten der Lernenden führen kann und welche Bedingungsfaktoren hinsichtlich der didaktisch-methodischen Unterrichtsgestal‐ tung und der individuellen Voraussetzungen der Lernenden darauf Einfluss nehmen können. Die Triangulation der Unterrichtsmitschnitte mit den Aussagen der Lehrenden und Lernenden sowie die detaillierte Analyse mehrsprachiger Lernertexte sollte die Lehr- und Lernprozesse aus der Sicht der Beteiligten darstellen und genau aufzeigen, wie LehrerInnen und SchülerInnen verschiedene Unterrichtsaktivitäten erlebt haben, wie sie den Lernerfolg einschätzten und wie sie die Stärken und Schwächen der eingesetzten Texte, Verfahren oder Aufgabenarrangements beurteilten. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Studie in Bezug auf die drei Forschungsfragen zusammengefasst, um anschließend im Ausblick die Konsequenzen für die zukünftige Forschung, die Lehrerausbildung sowie für die Gestaltung eines auf mehrsprachige Bildung ausgerichteten Englischunterrichts abzuleiten. 1 Zusammenfassung der Erkenntnisse Forschungsfrage 1: Lernprozesse im Umgang mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten Die Daten geben Einblicke in vielschichtige Lernprozesse, die sowohl literarische, kulturelle als auch allgemeinpädagogische Zielsetzungen betreffen. Hier gilt es nun, die Unterrichts‐ aktivitäten und -situationen zusammenfassend in den Blick zu nehmen, die Rückschlüsse auf Lernziele zulassen, die spezifisch die Mehrsprachigkeitsförderung der Lernenden bei der Arbeit mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten betreffen. Der Ausgangspunkt dieser Untersuchung war die Annahme, dass die Arbeit mit diesen Texten Gelegenheiten schaffen könnte, Lernende ganzheitlich als mehrsprachige Subjekte anzusprechen, also als „sinnstif‐ tende, reflektierende und sich erinnernde Wesen“ (Hu 2019: 18) herauszufordern. In diesem Zusammenhang stellte sich also die Frage, welche Möglichkeiten sich vor dem Hintergrund der mehrsprachigen Texte eröffnen, um eine Aktivierung, Bewusstmachung und Erweite‐ rung verschiedener mehrsprachiger Ressourcen der Lernenden zu ermöglichen. Die Daten wurden folglich dahingehend untersucht, welches Wissen, welche Einstellungen, Erfah‐ <?page no="230"?> rungen und Strategien Lernende in der Interaktion mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten einsetzen sowie ob und wie sie diese erweitern können. Die Analyse der drei Fallstudien zeigt, dass sich die Lernenden in allen Phasen des Unterrichtsgeschehens als Mehrsprachige in den Lernprozess einbringen - sei dies beim Entschlüsseln der Texte, bei der Rezeption der literarischen Charaktere oder beim Schreiben eigener mehrsprachiger Gedichte. Am Anfang der Studie stand die von einigen Lehrenden im Eingangsinterview formu‐ lierte Befürchtung, die Lernenden könnten sich der doppelten Fremdheit dieser literari‐ schen Mischtexte verweigern, vor allem dann, wenn sie über keine Spanischkenntnisse verfügen und/ oder sich für die Sprache nicht interessieren. Es lässt sich zum einen festhalten, dass sich alle Lernenden auf die Chicano/ a-Texte eingelassen haben und sehr unterschiedliche Zugänge zu den literarischen Texten gefunden haben. Manche Schüler- Innen, die Spanisch als zweite Fremdsprache in der Oberstufe weiterlernten, empfanden die Auseinandersetzung mit den spanischen Einschüben als bereichernd, andere fanden einen Zugang zum literarischen Text eher über das Interesse am fremdkulturellen Kontext USA-Mexiko oder aber über die literarischen Figuren, die sie als lebensweltnah empfanden und deren Konflikte und Krisen sie nachvollziehen konnten. Grundsätzlich verlangten die Aufgaben allen SchülerInnen die Bereitschaft ab, sich auf das Nicht-Verstehen einzulassen und eine Frustrationstoleranz aufzubauen. Gerade die Ergebnisse der letzten Fallstudie zeigten, dass diese Bereitschaft unterschiedlich ausfallen kann, dies allerdings weniger von den Spanischkenntnissen der Lernenden abhängt, sondern vielmehr von der Rolle, die sie dem Englischen in internationaler Kommunikation zuweisen. Wenn die Lernenden das Hauptziel des Englischunterrichts in der Vermittlung eines formal korrekten Sprachgebrauchs sehen und dem Englischen eine Art ‚Monopol-Funk‐ tion‘ unter den Sprachen zuweisen, wie dies in der zuletzt analysierten Fallstudie der Fall war (vgl. Kapitel IX), dann ist dies keine besonders förderliche Einstellung für das Mehrsprachigkeitslernen. Was diese Fallstudie allerdings auch gezeigt hat, ist, dass die SchülerInnen auch bereit waren, solche Einstellungen zu überwinden, wenn ihnen die Relevanz von Mehrsprachigkeit für bestimmte gesellschaftliche Kontexte aufgezeigt wurde. Die Gruppengespräche, die im Rahmen des Rollenspiels zur mehrsprachigen Gestaltung des Films Real Women Have Curves geführt wurden, haben gezeigt, dass auch die Schülerinnen, die sich anfangs skeptisch gegenüber dem mehrsprachigen Film positioniert hatten, am Ende zahlreiche Gründe nennen konnten, die für die Beibehaltung der mehrsprachigen Gestaltung des Films sprechen (vgl. Kapitel IX, 4.2). Auch wenn also die Mehrsprachigkeit von manchen Lernenden nicht als Teil der eigenen Lebenswelt erlebt wurde, konnte ein kognitiv basierter und auf die Kontextualisierung des literarischen Textes ausgerichteter didaktisch-methodischer Zugang zu diesen Texten das Bewusstsein für die Relevanz von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität (zumindest) für bestimmte kulturelle Gemein‐ schaften schaffen. Beim Entschlüsseln der sprachlichen Oberfläche lernten die SchülerInnen, ihr gesamtes mehrsprachiges Repertoire zu aktivieren, und nahmen ihr Wissen und ihre Strategien als Ressourcen wahr. Die Aufgabe bot insbesondere den HerkunftssprecherInnen die Möglichkeit, das ansonsten im Englischunterricht wenig beachtete Wissen aus ihren Familiensprachen einzubringen. Eine wichtige Erkenntnis aus dieser Phase ist, dass das von Lernenden aktivierte Repertoire niemals rein sprachlich war. Sie aktivierten das 230 X Schlussfolgerungen für die Förderung des Mehrsprachigkeitslernens im Fremdsprachenunterricht <?page no="231"?> Weltwissen, das Wissen über den geografischen Kontext oder auch das literarische Wissen, um die spanischen Einschübe zu dekodieren. Oft musste zunächst die Erzählstruktur des Romans erschlossen werden, damit die texteigenen Übersetzungsstrategien als solche erkannt werden konnten. Deutlich wurde, dass die Dekodierungsprozesse bei Gruppen‐ arbeiten als ko-konstruktive Sinnkonstitutionsprozesse von allen beteiligten Lernenden mitgestaltet wurden, wobei die Bedeutung der affektiven und der sozialen Strategien hervorgehoben werden sollte. Die SchülerInnen lernten dabei, ihre unterschiedlichen Vorgehensweisen (top-down und bottom-up) aufeinander abzustimmen, und fanden Wege, alle Gruppenmitglieder in den Aushandlungsprozess einzubeziehen und sich gegenseitig zu helfen (siehe Kapitel VII, 4 und VIII, 4). Bei der Auswertung der Aufgabe, die darin bestand, ein Vorwort für die LeserInnen von Caramelo zu schreiben (siehe Kapitel VII, 5), wurde außerdem deutlich, dass die Lernenden in der Lage waren, das Wissen und die Strategien nicht nur kurz zu aktivieren, sondern auch selbstständig bei häuslicher Lektüre anzuwenden und sogar zu erweitern. Die erste Begegnung mit Mehrsprachigkeit als thematischem Schwerpunkt der Reihe erfolgte über die literarischen Figuren sowie über die Wahrnehmung und die Interpretation ihrer mehrsprachigen und mehrkulturellen Identitäts- und Handlungsentwürfe. Es stellte sich mehrfach heraus, dass der Zugang zu den ProtagonistInnen der Romane bzw. des Films für die Aktivierung eigener Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit eine entscheidende Rolle spielte. Bei der szenischen Lesung einer Passage aus Sammy & Juliana in Hollywood konnten einige SchülerInnen eine Nähe zum Charakter von Pifas aufbauen, fühlten sich bei der Inszenierung seines Sprachenwechsels an ihre eigene Mehrsprachigkeit erinnert und tauschten sich anschließend darüber aus, wie sie ihre Sprachen und Kulturen erlebten (siehe Kapitel VIII, 5). Die Daten lassen die Schlussfolgerung zu, dass sich das Verstehen der eigenen Mehrsprachigkeit stets vor der Folie der anderen (hier der literarischen Figuren) vollzieht. Das Nachdenken über die eigene Mehrsprachigkeit wird erst durch den Vergleich mit den Identitäts- und Handlungsentwürfen der mehrsprachigen Figuren ausgelöst, was die enorme Wichtigkeit der mehrsprachigen Literatur für die Initiierung solcher Reflexionsprozesse deutlich werden lässt. Die Verknüpfung zwischen lebensweltlicher und literarischer Mehrsprachigkeit ist ein genuiner Bestandteil des literarischen Rezeptionsprozesses und findet auch ohne entsprechende didaktisch-methodische Interven‐ tionen statt. Dies ist daran zu beobachten, dass die Lernenden im Unterrichtsgespräch, ohne von der Lehrkraft direkt darauf angesprochen zu werden, Parallelen zwischen den literarischen Figuren und ihrer eigenen Wahrnehmung der Mehrsprachigkeit zogen oder an ihre eigenen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit anknüpften, um den Sprachgebrauch der Charaktere zu erklären (siehe Kapitel VII, 6). Aus den Unterrichtsmitschnitten wird ersichtlich, dass dies nicht nur auf Lernende zutrifft, die lebensweltlich mehrsprachig sind bzw. im Alltag verschiedene Sprachen verwenden. Auch Lernende ohne einen solchen Hintergrund fanden Zugang zu den Konflikten der Figuren, indem sie ihre vielfältigen und individuell höchst unterschiedlichen Erfahrungen mit kultureller und sprachlicher Diversität aktivierten, so z. B. die Erlebnisse während eines Auslandsaufenthaltes oder die Wahrnehmung der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität als Teil des gesellschaftlichen Lebens im eigenen Viertel. 1 Zusammenfassung der Erkenntnisse 231 <?page no="232"?> Es zeigt sich also immer wieder, dass die Lernenden - je nach ihren eigenen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und ihren fremdsprachlichen Vorkenntnissen - höchst individuelle Zugänge zu dem jeweiligen Chicano/ a-Text, zu seinen Figuren und letztlich auch zu eigener Mehrsprachigkeit fanden. Lebensweltlich mehrsprachige SchülerInnen brachten das Wissen ihrer Herkunftssprachen oder eigene Erfahrungen mit Sprachenwechsel ein, sie hinterfragten ihre Sprachlernbiographien vor dem Hintergrund der Figuren, verfassten Texte in ihren Herkunftssprachen und reflektierten ihr Verhältnis zu diesen Sprachen. Die SchülerInnen ohne lebensweltlich mehrsprachigen Hintergrund knüpften an ihr fremdsprachliches Wissen an, verglichen die Erfahrungen der Charaktere mit der Wahr‐ nehmung ihrer mehrsprachigen Umwelt und entdeckten sich selbst als Mehrsprachige beim kreativen Schreiben. Für viele der einsprachig aufgewachsenen Lernenden war das Verfassen eines mehrsprachigen Gedichtes nach literarischer Vorlage eine einmalige Gelegenheit, ihre Fremdsprachen (Englisch, Französisch oder Spanisch) als Teil ihrer Per‐ sönlichkeit, die sie möglicherweise nicht als mehrsprachig charakterisiert hätten, zu erleben (siehe Kapitel VII-IX, 6). Das Schreiben, Vortragen und Reflektieren der Gedichte setzte Identitätsbildungsprozesse in Gang, die einerseits durch die kreative Auseinandersetzung mit der Chicano/ a-Vorlage und andererseits durch die Interaktion mit anderen Lernenden und Lehrenden ermöglicht wurden. Dadurch, dass die Lernenden ihre Sprachenwahl begründeten, Gedichte vortrugen, Interesse und Würdigung für ihre Mehrsprachigkeit erfuhren, stieg nicht nur das Bewusstsein, dass sie selbst und die anderen mehrsprachig waren, sondern diese Mehrsprachigkeit wurde dabei als ein höchst individuelles Merkmal des eigenen Selbst wahrgenommen und vor dem anderen konstituiert. Forschungsfrage 2: Unterrichtsdesigns und Unterrichtsaktivitäten zur Förderung der mehrsprachigen Bildung und der Persönlichkeitsentwicklung In allen Phasen der Auseinandersetzung mit mehrsprachigen Texten lassen sich Lernak‐ tivitäten erfassen, die zur Persönlichkeitsentwicklung der Lernenden als mehrsprachige Subjekte beitrugen; es lassen sich aber einige Unterrichtsdesigns identifizieren, die dies in besonderer Weise beförderten. Diese gilt es hier zu beschreiben und ihren Beitrag zur mehrsprachigen Bildung genau herauszuarbeiten. Ein wichtiges Merkmal der hier entwickelten Unterrichtsdesigns war die Einbeziehung von Aktivitäten, die bei den SchülerInnen die Reflexion des eigenen Umgangs mit Nicht-Verstehen und der dabei entwickelten Strategien förderten. Insbesondere die Aufgabe zum Verfassen eines Vorworts für den Roman Caramelo erwies sich als eine Möglichkeit, Lernende zur Reflexion der eingesetzten Strategien anzuregen und ihnen Raum zu geben, bereits aktivierte Strategien in neuen Kontexten anzuwenden und neue Strategien zu entwickeln. Als ExpertInnen, die im Vorwort potenziellen LeserInnen in ihrem Alter Hinweise für mögliche Lesestrategien gaben, machten Lernende die Erfahrung, dass ihr sprachliches und inhaltliches Wissen, aber auch ihre affektiven und sozialen Strategien sie dazu befähigen, Texte in gleich zwei Fremdsprachen zu lesen. Diese Fähigkeit gewährte ihnen Zugang zur fiktionalen Welt des mehrsprachigen Romans, konfrontierte sie aber auch durch die doppelte Verfremdung der Textsprache mit einer neuen Art des Nicht-Verstehens, die sie aus ihrem bisherigen Englischunterricht nicht kannten. Solche Unterrichtssituationen können insofern bildend wirken, als sie Lernende mit neuen 232 X Schlussfolgerungen für die Förderung des Mehrsprachigkeitslernens im Fremdsprachenunterricht <?page no="233"?> Problemlagen konfrontieren, die sie mit ihrem bisherigen Wissen und Erfahrungen nicht bewältigen können (vgl. Küster 2013: 54). Die Daten legen nahe, dass die Wahrnehmung der eigenen Mehrsprachigkeit bei vielen Lernenden zum ersten Mal vor dem Hintergrund der literarischen Figuren geschah und dabei vor allem dann, wenn die literarische Mehrsprachigkeit unmittelbar erfahrbar gemacht wurde. Dies geschah vor allem in Stunden, in denen die Lernenden im Rahmen kreativ-produktiver und handlungsorientierter Unterrichtsverfahren die Perspektive literarischer ProtagonistInnen einnehmen sollten. Deutlich wurde dies bei der szenischen Lesung einer Passage aus Sammy & Juliana in Hollywood, die SchülerInnen mit verteilten Rollen in Szene setzen sollten (siehe Kapitel VIII, 5). Die Aufgabe ermöglichte den SchülerInnen, sich aus der Perspektive der literarischen Figur heraus als Mehrsprachige zu erleben und gleichzeitig in einen Dialog mit sich selbst zu treten und darüber nachzudenken, wie sich die Mehrsprachigkeit der literarischen Figur auf das eigene Selbst beziehen lässt. Dieser Prozess wurde dadurch angestoßen, dass das an die Dramapädagogik angelehnte Verfahren die Aufmerksamkeit auf das subjektive Erleben der SchülerInnen lenkte und ihnen ermöglichte, die eigenen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit in Relation zu dem literarischen Text zu setzen. Um eine Reflexion des eigenen Verhältnisses zu Sprachen und Kulturen bei Lernenden anzustoßen, scheint es daher einerseits wichtig, Identifikationsmöglichkeiten mit der Mehrsprachigkeit literarischer Figuren zu schaffen und andererseits Gelegenheiten für die SchülerInnen zu schaffen, diese Mehrsprachigkeit aus ‚fremden‘ Perspektiven zu betrachten, d. h. aus Positionen heraus, die für sie außerhalb des Bezugsrahmens der eigenen Lebenswelt liegen. Eine solche Aktivität ist in der dritten Fallstudie zu finden, in welcher die Lernenden am Ende der Einheit in ihren Rollen als Lehrkräfte, KünstlerInnen und InvestorInnen der Frage nachgingen, ob sie den Film Real Women Have Curves mehrsprachig, in englischer und spanischer Sprache, oder einsprachig gestalten würden (siehe Kapitel IX, 4.2). Bemerkenswert ist, dass sich alle SchülerInnen trotz ihrer eigenen Vorbehalte gegen Mehrsprachigkeit für eine englisch-spanische Gestaltung des Films entschieden. Der Sprachenwechsel im Film, so ein Schüler, könne dem Stereotyp entgegenwirken, demzufolge code-switching ein Merkmal mangelhafter sprachlicher Bil‐ dung bei MigrantInnen sei. Die Erkenntnis, Sprachgebrauch offenbare die soziale Stellung und die Rolle des Individuums in der Gesellschaft, könne aber auch in ästhetischer Weise dazu genutzt werden, diese Rolle herauszufordern und Stereotype zu entkräften, zeugt von einem reflexiven Prozess, bei welchem der Film, seine Mehrsprachigkeit und der gesellschaftliche Kontext im Wechselverhältnis betrachtet wurden. Diese Reflexion wurde u. a. dadurch möglich, dass die Lernenden eine Dezentrierung von der eigenen, eventuell auch zurückhaltenden Position gegenüber Mehrsprachigkeit erfuhren. Es gelang ihnen, die soziale und politische Wirkung des Sprachenwechsels, die sich in dem spezifischen USA-Mexiko-Kontext entfalten kann, zu dekodieren. Solche Lernprozesse stehen in engem Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Dimension der Sprachbewusstheit, deren Ziele laut Küster (2013: 58) eine unmittelbare Verbindung zum Bildungsgedanken des Fremdsprachenunterrichts aufweisen. Es ist aber nicht nur diese kritische Dimension von Sprachbewusstheit, die einen entscheidenden Beitrag zur Bildung leistet (vgl. Byram 2015: 9). Es geht auch darum, den 1 Zusammenfassung der Erkenntnisse 233 <?page no="234"?> SchülerInnen zu ermöglichen, ihr persönliches Verhältnis zu Sprachen und Kulturen zu reflektieren und damit dem subjektiven Erleben des Sprachlernprozesses einen größeren Stellenwert im Englischunterricht einzuräumen (ebd., Kramsch 2009). In diesem Zusam‐ menhang hat sich das mehrsprachige lyrische Schreiben als Teil des Unterrichtsdesigns (siehe Kapitel VII-IX, Abschnitt 6 bzw. 7) bewährt. In den abschließenden Interviews wurde dieser Aufgabe sowohl von Lernenden als auch von Lehrenden das größte Potenzial zur Persönlichkeitsbildung beigemessen. Die SchülerInnen machten bei dieser Aufgabe die Erfahrung, dass sie die Kenntnisse verschiedener Sprachen dazu befähigten, ihrer Mehr‐ sprachigkeit Ausdruck zu verleihen und sie im Austausch mit anderen in der Fremdsprache Englisch zu gestalten. Das individuelle mehrsprachige und mehrkulturelle Repertoire war daher für die Lernenden nicht nur der Gegenstand der Reflexion, sondern auch das Instrument, um eigene Identitäten zu artikulieren, zu entwerfen und weiterzuentwickeln. Die Aufgabe trug in entscheidender Weise zur mehrsprachigen Bildung bei, denn sie akti‐ vierte Lernende als mehrsprachige Subjekte, „who can use language not so much to build his/ her own individual mind but to change both himself/ herself and his/ her environment“ (Kramsch & Wellmon 2008: 221). Der Englischunterricht wirkte hier in zweifacher Sicht als bildend: zum einen, weil die Lernenden die Bedeutung des Englischen für die eigene Persönlichkeitsentwicklung zum Gegenstand des Unterrichts machten, und zum Zweiten, weil sie dieses Thema in der Fremdsprache Englisch verhandelten. Die Aufgabe zum mehrsprachigen Schreiben entfaltete ihr Bildungspotenzial auch deshalb, weil sie auf die poetische Form des Gedichtes zurückgriff. Elsners (2012: 410) Annahme, Lyrik biete „wie kaum eine andere Textform die Möglichkeit, mit sich selbst ins Gespräch zu kommen“, bewährte sich im Rahmen dieser Studie. Die mehrsprachigen Chicano/ a-Gedichte dienten den Lernenden als generische Modelle für das Schreiben eigener lyrischer Texte und zeigten exemplarisch, wie Emotionen, Erinnerungen und Erfahrungen mit Sprachen und Kulturen in verschlüsselter Form ausgedrückt werden können. Die Lernenden machten sich diese lyrische Form zu eigen und nutzten sprachliche Ressourcen und ihre symbolischen Bedeutungen, um ihren eigenen Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit Kohärenz zu verleihen. Die Daten suggerieren, dass die Reflexion über die eigene Mehrsprachigkeit nicht nur während des eigentlichen Schreibprozesses stattgefunden hat, sondern dass es die an das Vortragen der mehrsprachigen Gedichte anschließenden Unterrichtsgespräche mit der Lehrkraft und den MitschülerInnen waren, die diese Reflexion zusätzlich ange‐ stoßen haben. Die Lernenden begründeten einerseits ihre eigene Sprachenwahl für das Gedicht und das Verhältnis zu den Sprachen, das dort zum Ausdruck kam, und waren andererseits stets darum bemüht, mehr über die Sprachen und die Schreibprozesse ihrer MitschülerInnen zu erfahren. Dabei kam es häufig zu Vergleichen zwischen den Sprach‐ lernbiographien („Ich weiß nicht, wie es ist, mit zwei Sprachen aufzuwachsen“), aber auch zwischen den verschiedenen Bedeutungen, die die Lernenden einer gleichen Sprache zuwiesen (Englisch als Sprache der Dichtung, der Reisen, als Schulfremdsprache etc.). Es lässt sich also auch anhand der Daten dieser Studie beobachten, dass die Phasen der Anschlusskommunikation (vgl. auch Bracker 2015; Decke-Cornill et al. 2007) ein besonderes Potenzial haben, Bildungsprozesse in Gang zu setzen, da die Reflexion über eigene mehrsprachige Identitäten keinesfalls eine individuelle, in Einzelarbeit zu verrich‐ tende Tätigkeit ist, sondern stets eines Austauschs mit anderen bedarf. Das Nachdenken 234 X Schlussfolgerungen für die Förderung des Mehrsprachigkeitslernens im Fremdsprachenunterricht <?page no="235"?> über die eigene Mehrsprachigkeit ist daher nur im Vergleich bzw. in Abgrenzung zu den Erfahrungen anderer Lernenden möglich - „We only learn who we are through the mirrors of others, and in turn, we only understand others by understanding ourselves as Other“ (Kramsch 2009: 18). Das Entdecken der mehrsprachigen Subjektivität geschieht also stets in einer Interaktion mit anderen, indem der Fremdsprachenunterricht zu einem „bildenden Erfahrungsraum“ (Bracker 2015) wird. Solche Ergebnisse legen nahe, dass die Aufgaben zur mehrsprachigen Bildung mit einer Meta- und Reflexionsphase abgeschlossen werden sollten, in der Lernende über ihre Lern- und Reflexionsprozesse zu fremder oder eigener Mehrsprachigkeit mit anderen diskutieren, sie untereinander vergleichen und sie hinterfragen können. Forschungsfrage 3: Gelingensbedingungen und Problemfelder für die Förderung des Mehrsprachigkeitslernens mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten Ob und wie die Arbeit mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten zur mehrsprachigen Bildung beitragen kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab, die im Folgenden beschrieben werden. Die Darstellung orientiert sich vor allem an den Antworten der Lehrenden und Lernenden, die im Rahmen der retrospektiven Interviews und im Fragebogen B die Unterrichtseinheit mit ihren unterschiedlichen Lern- und Unterrichtsaktivitäten beurteilen sollten. Sowohl die individuellen Lernvoraussetzungen der SchülerInnen als auch spezifi‐ sche didaktisch-methodische Entscheidungen der Lehrkräfte haben die Beteiligung der Lernenden am Unterricht entscheidend beeinflusst. Die folgenden Ausführungen liefern einen Beitrag zur Gestaltung der Unterrichtspraxis, weil sie wichtige Hinweise zu Text‐ auswahl, zu geeigneten methodischen Verfahren und zum Umgang mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der SchülerInnen geben. Sie zeigen aber auch auf, welche Handlungs- und Problemfelder sich für eine auf die Mehrsprachigkeitsförderung ausgerichtete Eng‐ lischdidaktik ergeben, damit mehrsprachige Bildung im Englischunterricht gelingen kann. Einstellungen gegenüber dem Englischen als Gateway to Languages Die Ergebnisse der dritten Fallstudie legen die Schlussfolgerung nahe, dass die Offenheit und das Interesse der Lernenden an mehrsprachigkeitsfördernden Ansätzen im Englisch‐ unterricht stark davon beeinflusst werden, welche Rolle die SchülerInnen dem Englischen als globale Weltsprache zuweisen. Gehen sie von einer absoluten Dominanz des Englischen und damit von einer mehr oder weniger einsprachigen Prägung der internationalen Kommunikation aus, verschließen sie sich gegenüber der Vorstellung, dass der Englischun‐ terricht auch Bezüge zu anderen Sprachen herstellen soll. Die Auswertung der Fallstudien suggeriert, dass die Mehrsprachigkeitsförderung im Englischunterricht erst dann gelingen kann, wenn die SchülerInnen dafür sensibilisiert werden, dass die Englischkenntnisse für die Bewältigung interkultureller Kommunikation nicht ausreichen, sondern dass diese den Beteiligten eine sprachliche und kulturelle Aushandlungsfähigkeit abverlangt, die über die Grenzen einer einzelnen Sprache hinausgeht. Neben der Sensibilisierung für die Mehr‐ sprachigkeit der internationalen Kommunikation muss auch eine Sensibilisierung für die Pluralität des Begriffs ‚Englisch‘ erfolgen, mit welcher eher eine Reihe von „Englishes“ ge‐ meint ist, also eine „Abstraktion der diversen nationalen, regionalen, sozialen, funktionalen wie auch weltweit verwendeten Erscheinungsformen der englischen Sprache“ (Gnutzmann 1 Zusammenfassung der Erkenntnisse 235 <?page no="236"?> 2019: 451). Daher besteht eine wichtige Aufgabe des Englischunterrichts darin, aufzuzeigen, dass die Mehrsprachigkeit sowohl der englischen Sprache als auch den englischsprachigen Ländern (z. B. USA, Kanada) inhärent ist. Die Arbeit mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten trägt dazu bei, weil sie den großen Einfluss der hispanoamerikanischen Community auf das gesellschaftliche Leben in den USA und auf die englische Sprache thematisiert. Doch es kommt nicht nur darauf an, auf die Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität zielsprachlicher kultureller Gemeinschaften hinzuweisen, vielmehr muss der Englischun‐ terricht für SchülerInnen Gelegenheit zum Nachdenken über eigene Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit schaffen. Die Aufgabe zum mehrsprachigen lyrischen Schreiben ist gerade für solche SchülerInnen, die kaum Erfahrung mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit haben und selbst in einer kulturell und sprachlich eher homogenen Umgebung leben, eine Möglichkeit, sich selbst, aber auch den MitschülerInnen als Mehrsprachigen zu begegnen. Dabei geht es auch darum, dass Lernende das Englische als Teil ihrer Persönlichkeit wahrnehmen und auch die Erfahrung machen, dass sie persönlich relevante Erfahrungen mit Sprachen und Kulturen auf Englisch artikulieren können. Des Weiteren ist es wichtig, den SchülerInnen aufzuzeigen, wie ihnen die Englischkenntnisse für das Lernen weiterer Sprachen nützlich sein können, also wie sie im Sinne der Förderung einer Sprachlernkom‐ petenz von Gemeinsamkeiten des Englischen mit anderen (romanischen) Fremdsprachen profitieren können. Ein Englischunterricht, der auf die Mehrsprachigkeitsförderung abzielt, muss also die Funktion des Englischen als Brückensprache ernst nehmen und darf nicht die Illusion erwecken, Englischkenntnisse seien ausreichend, um den Erfolg interkultureller Kommunikation zu gewährleisten (vgl. Reissner 2019: 455). Aus den Ergebnissen der Studie geht hervor, dass die Lektüre mehrsprachiger Chicano/ a-Texte zum einen Einblick in die Mehrsprachigkeit der englischsprachigen Länder (hier konkret der USA) gewähren kann und dass sie zum Zweiten das Englische als Teil eines Gesamtsprachenrepertoires der SchülerInnen (vgl. Hufeisen 2011) in den Vordergrund rückt und sie damit ermutigt, Bezüge zwischen den unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Ressourcen herzustellen. Textauswahl Die Frage, welche mehrsprachigkeitsrelevanten Lernprozesse im Umgang mit mehrspra‐ chigen Chicano/ a-Texten stattfinden, steht im engen Zusammenhang mit der Auswahl der Texte. Wie aus den Antworten des Fragebogens B hervorgeht, schreiben die Lernenden dem mehrsprachigen Text eine entscheidende Rolle bei der retrospektiven Reflexion und der Beurteilung der Unterrichtseinheit zu. Sie interessieren sich vor allem für die Themen der mehrsprachigen Texte, so wie z. B. für die Herausforderungen des Erwachsenwerdens, denen sich jugendliche ProtagonistInnen zwischen verschiedenen Kulturen und Sprachen stellen. Dazu gehören all jene Themen, die sie aus ihrer eigenen Lebenswelt kennen: Freundschaften, die erste Liebe, Konflikte mit den Eltern, Schulzeit, Zukunftspläne etc. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die in den Studien eingesetzten Texte ein Identifikati‐ onspotenzial für die jungen Lernenden bergen. Dies gilt in besonderer Weise auch für Lernende, die selbst eine andere Sprache in der Familie sprechen und die Identitätskonflikte der Chicano/ a-Figuren, die zwischen und mit unterschiedlichen Kulturen und Sprachen leben, gut nachvollziehen können. Allerdings wird immer wieder deutlich, dass trotz der Nähe, die diese Charaktere zu den Jugendlichen aufweisen, ihre Geschichten in einem 236 X Schlussfolgerungen für die Förderung des Mehrsprachigkeitslernens im Fremdsprachenunterricht <?page no="237"?> fremden historischen und kulturellen Kontext situiert sind. Für die Chicano/ a-Community der 1960er Jahre, die im Roman Sammy & Juliana in Hollywood im Vordergrund steht, ist der Gebrauch des Spanischen nicht bloß eine Familienentscheidung. Es hat eine politische Wirkung, die sich für die Lernenden nur im Kontext der Chicano/ a-Bürgerrechtsbewegung erschließt. Es hat sich daher bei der Gestaltung der Unterrichtseinheiten als unentbehrlich erwiesen, die in den Werken thematisierte individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachig‐ keit der Chicanos/ as durch den Einsatz von nicht-fiktionalen Texten und Videomaterial zu kontextualisieren und dabei insbesondere auf den politischen und gesellschaftlichen Status von Chicanos/ as in den südwestlichen USA einzugehen. Alle hier eingesetzten literarischen Texte wurden bereits in vereinzelten fachdidaktischen Publikationen vor allem im Hinblick auf ihr Potenzial zur Förderung von kulturellem und literarischem Lernen thematisiert (vgl. Blell 2015a; Delanoy 2014; Mayr-Huber 2016; Surkamp 2012). Die Ergebnisse dieser Studie suggerieren ein weitaus breiteres didaktisches Potenzial. Der Unterschied zu literarischen Texten, die Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität ausschließlich auf einer inhaltlichen Ebene thematisieren, besteht in der Aufmerksamkeit, die die Chicano/ a-Mischtexte für die sprachliche Form schaffen. Durch die Analyse der Chicano/ a-Texte lernen die SchülerInnen im Sinne der Sprachbewusstheit, dass Sprache ein Gestaltungsmittel mit ästhetischer, aber auch sozial-kritischer Funktion sein kann, und sie nutzen anschließend die verschiedenen sprachlichen Formen, um die Bedeutungen, die sie ihren Sprachen zuweisen, zu vermitteln, aber auch zu gestalten und sich somit als mehrsprachige Subjekte zu artikulieren. Damit die Lektüre mehrsprachiger Chicano/ a-Texte für die Lernenden als Ausgangs‐ punkt für die Reflexion eigener Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität dienen kann, sollten neben der Frage nach den methodischen Zugängen auch die folgenden Kriterien für die Textauswahl berücksichtigt werden: a.) Vielfalt der Genres: Es hat sich gezeigt, dass insbesondere eine Kombination aus mehrsprachigen lyrischen und narrativen Texten den Lernenden Möglichkeiten bietet, Einblicke in die Mehrsprachigkeit der literarischen Figuren mit den Erkenntnissen über die eigene Mehrsprachigkeit zu verknüpfen. Bei der Lektüre englisch-spanischer Chicano/ a-Romane lernten die SchülerInnen Mehrsprachigkeit als gesellschaftliche Rea‐ lität der Chicanos/ as kennen, konnten den Herausforderungen begegnen, die diese kultu‐ relle Gemeinschaft erfährt, und durch die emotionale Verbindung zu den jugendlichen Charakteren auch ihre Konflikte und ihr Leben zwischen zwei Sprachen und Kulturen nachvollziehen. Mehrsprachige lyrische Texte andererseits eigneten sich aufgrund der starken sprachlichen Verdichtung und ihrer besonderen Mischästhetik besser dafür, für das code-switching als Gestaltungsmittel zu sensibilisieren und die Lernenden subjektiv zu involvieren. Auch bietet sich Lyrik in besonderer Weise dazu an, zum Schreiben eigener mehrsprachiger Gedichte einzuladen, und bietet ein generisches Modell, an dem sich die SchülerInnen orientieren können. Besonders aufgrund der starken Verdichtung der Sprachen müssen Lernende bei Gedichten ganz genau überlegen, wann sie welche Sprache nutzen und warum. Das Gedicht „She“ bewährte sich als eine geeignete Grundlage zum mehrsprachigen Schreiben eigener Gedichte, möglicherweise auch deshalb, weil es dem von Belke (2012, zit. in Delanoy 2014) formulierten Kriterium für Ausgangstexte zum mehrsprachigen Schreiben entspricht: Solche Texte sollen „ein hohes Maß an Verschlüs‐ selung aufweisen und sich etwa aufgrund ihres iterativen Charakters für Ergänzungen 1 Zusammenfassung der Erkenntnisse 237 <?page no="238"?> und Substitutionen anbieten“ (Delanoy 2014: 68). Es wurde mehrfach aus den zitierten Interviews deutlich, dass die SchülerInnen das Schreiben eigener Gedichte ausgehend von der Chicano/ a-Vorlage zu den erkenntnisreichsten und interessantesten Stunden der Einheit zählten und diese Aufgabe als besonders relevant für ihre eigene Persönlichkeits‐ entwicklung empfanden. Daher kann der Meinung von Elsner (2012), Delanoy (2014) und Mayr-Huber (2016), die das besondere Potenzial der mehrsprachigen Lyrik für die eigene Identitätsentwicklung der Lernenden hervorheben, mit Nachdruck zugestimmt werden. Auch der mehrsprachige Film eignete sich gut zur Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit auf individueller und gesellschaftlicher Ebene und bot Möglichkeiten an, über die verschiedenen Funktionen des code-switching als Gestaltungsmittel zu reflektieren. Allerdings muss hierbei eingeräumt werden, dass es sich empfiehlt, mehrsprachige Filme mit Untertiteln zu projizieren, da offenbar der sprachliche Rezeptionsprozess (auch bei vorhandenen Spanischkenntnissen) durch das audiovisuelle Medium deutlich erschwert wird. b.) Mehrsprachige Gestaltung: Die Rückmeldungen der Lernenden suggerieren, dass die hier vorgestellten mehrsprachigen Texte so konzipiert waren, dass der spanische Anteil die Lernenden nicht überfordert hat bzw. sie am Verstehen der Texte trotz fehlender Spanischkenntnisse nicht gescheitert sind. Werden also mehrsprachige Chicano/ a-Texte im Englischunterricht eingesetzt, sollte darauf geachtet werden, dass der Haupthandlung auch ausschließlich auf Englisch gefolgt werden kann. Chicano/ a-Romane, die eigene Kontextu‐ alisierungs- und Übersetzungsstrategien verwenden (z. B. nachgestellte Paraphrasierungen oder ergänzende Erklärungen in der Fußnote), wie etwa der Roman Caramelo der Autorin Sandra Cisneros, regen zur Dekodierung an und erleichtern das Verstehen des Spanischen. Von der Gestaltung der sprachlichen Oberfläche hängt nicht nur das Verständnis des Textes ab, sondern auch sein Potenzial für die Förderung von Sprachbewusstheit. Dafür sind solche Texte geeignet, die das code-switching nicht nur zur Darstellung eines ‚Lokalkolorits‘ nutzen, sondern in denen Sprachmischung als literarisches Gestaltungsmittel bestimmte literarische, ästhetische oder sozial-kritische Funktionen erfüllt. Alle in dieser Studie eingesetzten Texten ermöglichen eine Analyse und Reflexion der symbolischen Dimension von Sprache (vgl. Kramsch 2009), weil sie durch den Einsatz des Spanischen gezielt ver‐ schiedene Funktionen des Sprachgebrauchs realisieren: die ästhetische (Darstellung einer bestimmten Atmosphäre, der Charaktermerkmale), die soziale (Markierung der sozialen Stellung und der sozialen Rolle von Gemeinschaften) und die sozial-kritische (Darstellung und Herausforderung von Machtverhältnissen). Einige AutorInnen, wie z. B. Sáenz und Cisneros, äußern sich in Interviews explizit zu ihrer Sprachenwahl und weisen dem Sprachenwechsel als Gestaltungsmittel eine Legitimierungsfunktion zu (vgl. Jussawalla & Dasenbrock 1992; Mermann-Jozwiak & Sullivan 2009). Die mehrsprachige Gestaltung ihrer Romane könne literarisch eine Umkehrung der Machtverhältnisse bewirken, denn sie erzeuge eine Fremdheit, auf die sich die nicht Spanisch sprechenden LeserInnen einlassen und die sie aushalten müssen. Um also Lernende für die Zusammenhänge zwischen Sprache und Macht, Sprache und sozialer bzw. kultureller Zugehörigkeit sowie Sprache und Emotion zu sensibilisieren, sollten diese in mehrsprachigen Texten auch sprachlich realisiert sein. 238 X Schlussfolgerungen für die Förderung des Mehrsprachigkeitslernens im Fremdsprachenunterricht <?page no="239"?> c.) Multiperspektivität und Komplexität mehrsprachiger Identitätsentwürfe: Die drei mehrsprachigen Chicano/ a-Texte haben sich außerdem deshalb bewährt, weil sie jugendliche ProtagonistInnen zeigen, die einerseits ein Identifikationspotenzial wecken und damit eine emotionale Teilhabe am literarischen Rezeptionsprozess ermöglichen und andererseits die SchülerInnen dazu einladen, sich zur Mehrsprachigkeit und Mehrkultu‐ ralität der Figuren zu positionieren. Letzteres wird dadurch erreicht, dass die Identitäts‐ entwürfe der mehrsprachigen ProtagonistInnen (Lala, Sammy und Ana) als komplex, hybrid und widersprüchlich dargestellt werden. Wichtig bei der Auswahl der literarischen Texte ist es, darauf zu achten, dass die Widersprüchlichkeiten und Unterschiede, die die mehrkulturellen Identitäten der Charaktere prägen, durch den Wechsel zwischen Englisch und Spanisch auch sprachlich realisiert werden. Das code-switching lenkt die Aufmerksamkeit auf die sprachliche Gestaltung der Texte und lädt somit zu einer Reflexion des mehrsprachigen Sprachgebrauchs an. Wie in der Studie mehrfach deutlich wurde, ist es die Komplexität der präsentierten Identitäts- und Handlungsentwürfe und ihre sprachliche Realisierung in Form des code-switching, die die Lernenden dazu bewegt, sich zu Identitäten der literarischen Figuren zu positionieren und sie mit der eigenen zu vergleichen. d.) Historische/ landeskundliche Aspekte: Ein anderer Faktor, welcher bei der Aus‐ wahl mehrsprachiger Texte berücksichtigt werden sollte, ist der historische bzw. der geografische Kontext, der nicht nur für die Kontextualisierung des code-switching wichtig ist, sondern auch einen Einfluss auf die Lesemotivation der Lernenden haben kann. Die Aussagen der Lernenden auf dem Fragebogen B legen die Schlussfolgerung nahe, die Ler‐ nenden finden die mehrsprachigen Chicano/ a-Texte deshalb interessant, weil sie dadurch etwas über die kulturelle Gemeinschaft der Hispanos in den USA lernen und auch erfahren, welchen Diskriminierungen diese ausgesetzt waren und immer noch sind. Ein fremder historischer Kontext, wie in den Romanen Caramelo und Sammy & Juliana in Hollywood, kann hilfreich sein, um den Lernenden vor Augen zu führen, dass Sprachen je nach politischen Machtverhältnissen unterschiedliches Prestige in Gesellschaften haben und dass somit auch die individuelle Mehrsprachigkeit unterschiedlich bewertet werden kann. Es ist daher wichtig, vor dem Hintergrund des sehr spezifischen historischen Kontextes Lernende für die Begrenztheit ihrer eigenen Perspektive auf individuelle Mehrsprachigkeit und für den Zusammenhang zwischen Sprachgebrauch und Macht zu sensibilisieren. Ausblick: Andere mehrsprachige Texte und Sprachenkombinationen? Zum Faktor der Textauswahl gehört auch die Frage, inwieweit auch andere mehrsprachige Texte zum Ziel des Mehrsprachigkeitslernens im Englischunterricht eingesetzt werden können. Die mehrsprachigen Chicano/ a-Texte wurden für diese Studie ausgewählt, weil das Werk der Chicano/ a-AutorInnen eine lange Tradition hat, viele prämierte Texte für Jugendliche hervorgebracht hat und in einem für den Englischunterricht relevanten und oft behandelten geografischen Kontext (USA-Mexiko) situiert ist. Neuere fachdidaktische Publikationen (vgl. z. B. Fäcke 2020) thematisieren den Einsatz französisch-englischer oder auch deutsch-englischer (überwiegend lyrischer) Texte im Fremdsprachenunterricht. Der Vorteil der Sprachenkombination Deutsch-Englisch könnte zum einen in der weniger anspruchsvollen sprachlichen Rezeption liegen und zum Zweiten in der Möglichkeit, indi‐ viduelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit vor dem Hintergrund des deutschen Kon‐ 1 Zusammenfassung der Erkenntnisse 239 <?page no="240"?> textes zu behandeln. Denkbar ist auch die Sprachenkombination Französisch-Englisch(-Ita‐ lienisch) im kanadischen Kontext, hier sind etwa die Gedichte des italo-kanadischen Schriftstellers Antonio D’Alfonso zu nennen (vgl. Fäcke 2020: 111 f.). Die Erkenntnisse der vorliegenden Studie suggerieren, dass bei der Darstellung von Mehrsprachigkeit als individuelles, aber auch als gesellschaftliches Phänomen eines bestimmten kulturellen Kontextes das Prinzip der Multiperspektivität eingehalten werden sollte. Konkret heißt dies, dass sich auch bei anderen Sprachkombinationen ein Textarrangement aus Texten unterschiedlicher Genres, die einem bestimmten sozio-geografischen Kontext zuzuordnen sind (z. B. Kanada), am besten dazu eignet, die in den Texten dargestellten Identitäts- und Handlungsentwürfe zu kontextualisieren und in ihrer Komplexität zu erfassen. Es hat sich außerdem bewährt, einen geografischen Kontext zu wählen, der curricular relevant erscheint und sich auch für einen fächerverbindenden Fremdsprachenunterricht eignet, wie dies hier mit dem Kontext USA-Mexiko der Fall war. Die Vereinbarkeit mit dem Lehrplan und den Lehrmaterialien könnte sich positiv auf die Bereitschaft der Lehrenden auswirken, die mehrsprachigen Texte im Englischunterricht zu behandeln. Die LehrerInnen, die an dieser Studie teilgenommen haben, entschieden sich zur Teilnahme, weil das Thema ‚Hispanics in den USA‘ ohnehin im Englisch- und Spanischunterricht der Oberstufe behandelt wird und sie mit den Fragestellungen rund um den gesellschaftlichen Status der Chicano/ a-Community in den USA aus gängigen Lehrwerken oder anderen didaktischen Materialien vertraut waren. Bei der Frage, welche andere Sprache neben dem Englischen die Mischtexte aufweisen können, ist ebenfalls zu berücksichtigen, wie vertraut die SchülerInnen mit der jeweils anderen Sprache sind. Die Vorteile einer Kombination mit den gängigen zweiten Schul‐ fremdsprachen (Französisch, Spanisch oder Italienisch) sind die sprachlichen Kenntnisse, die Oberstufen-SchülerInnen in diesen Sprachen in der Sekundarstufe I erworben haben, aber auch die Relevanz und das Prestige, die den romanischen Sprachen seitens des deut‐ schen Bildungssystems zugeschrieben werden, und die relative Vertrautheit der Lernenden mit den geografischen Kontexten, in denen diese Sprachen gesprochen werden. Denkbar wäre auch der Einsatz mehrsprachiger literarischer Texte in den Herkunftssprachen der SchülerInnen, die hierbei als ExpertInnen für ihre jeweilige Sprache fungieren könnten, wobei nicht unberücksichtigt bleiben sollte, dass viele Lehrkräfte eine große Unsicherheit gegenüber Sprachen empfinden, die sie selbst nicht beherrschen (vgl. z. B. Heyder & Schädlich 2014: 188). Aufgabenkonstruktion und methodische Zugänge Es wurde im Laufe der Studie immer wieder deutlich, dass die Arbeit mit mehrspra‐ chigen Texten ein neues Aufgabeninventar benötigt, das es ermöglicht, Lernende als Mehrsprachige herauszufordern und eine inhaltsbezogene Reflexion über Sprache und Mehrsprachigkeit zu initiieren. Das Ziel der Studie war es auch, die Aufgabentypologien aus literaturdidaktischen Studien zum inter- und transkulturellen Lernen (vgl. z. B. Burwitz-Melzer 2003a; Freitag-Hild 2010), die im Vorfeld bei der Unterrichtsplanung als Ausgangspunkt dienten, für die Arbeit mit mehrsprachigen Texten anzupassen und durch mehrsprachigkeitsdidaktische Verfahren zu ergänzen. Bereits zu Beginn der Studie zeigte sich, dass solche sprachenvernetzenden Verfahren der Mehrsprachigkeitsdidaktik, 240 X Schlussfolgerungen für die Förderung des Mehrsprachigkeitslernens im Fremdsprachenunterricht <?page no="241"?> die primär auf die Dekodierung von sprachlichen Strukturen ausgerichtet sind, nicht ausreichen, um eine inhaltsbezogene Auseinandersetzung mit der Mehrsprachigkeit der literarischen Figuren und mit der eigenen Mehrsprachigkeit der Lernenden zu ermögli‐ chen. Der Forschungsprozess war maßgeblich von der Frage geprägt, wie die an die Interkomprehensionsdidaktik angelehnten Verfahren erweitert werden können, um diese formbezogene sprachliche Arbeit mit der primär inhaltsbezogenen Arbeit am mehrspra‐ chigen literarischen Text zu verbinden. Wie eine solche Verbindung methodisch realisiert werden kann, lässt sich anhand der in der ersten Fallstudie entwickelten Aufgabe zum Verfassen eines Vorwortes für den Roman Caramelo illustrieren. Diese Aufgabe ist ein Beispiel, wie formbezogene Dekodierungsprozesse inhaltlich anschlussfähig ausgestaltet werden können, sodass sie nicht nur einem punktuellen Bewusstmachen der sprachlichen Gemeinsamkeiten dienen, sondern auch die Grundlage für eine längerfristige Reflexion des mehrsprachigen Leseprozesses bilden. Soll bei den Lernenden die Wahrnehmung und Interpretation der Mehrsprachigkeit literarischer Figuren angestrebt werden, hat sich eine Kombination aus kognitiv-analyti‐ schen und kreativ-produktiven Verfahren bewährt, um einerseits das Sprachverhalten der Figuren zu erfassen und andererseits eine Perspektivenübernahme und einen affektiven Zugang zu ihrer Mehrsprachigkeit zu ermöglichen. Aus den Ergebnissen der Studie lässt sich die Erkenntnis ableiten, dass der Einsatz handlungsorientierter (und hier insbesondere szenischer) Verfahren sinnvoll sein kann, wenn es darum geht, die Mehrsprachigkeit der Figuren erfahrbar zu machen und die Aushandlungsprozesse rund um die literarische Mehrsprachigkeit mit den eigenen mehrsprachigen und mehrkulturellen Erfahrungen der Lernenden zu verknüpfen. Die handlungsorientierten Verfahren, die auf die (Selbst-)In‐ szenierung von Mehrsprachigkeit abzielen, ermöglichten eine leibliche Erfahrung von Mehrsprachigkeit: Die Sprachen wurden mit allen Sinnen erfahren, es wurden Unterschiede im Klang und Rhythmus der beiden Sprachen wahrgenommen und Erinnerungen im Zusammenhang mit Englisch und Spanisch aktiviert. Will man also vor dem Hintergrund mehrsprachiger Texte eine Reflexion der eigenen Mehrsprachigkeit der SchülerInnen an‐ stoßen, spielen szenische Interpretationen und handlungsorientierte Zugänge zu Literatur eine herausragende Rolle. Des Weiteren hat sich erwiesen, dass ein spielerischer, dem Prinzip des ganzheitlichen Lernens verpflichteter Umgang mit der Mehrsprachigkeit der literarischen Texte, der das Vortragen, Vorsprechen und Vorlesen von Mischtexten bein‐ halten kann, Freude an der Ästhetik der sprachlichen Form weckt, Neugierde für fremde Sprachen und für die unterschiedlichen Sprachmelodien schafft und bei den SchülerInnen wiederum ein analytisches Interesse an der sprachlichen Form wecken kann. Dies zeigte sich besonders in den Unterrichtssituationen, in denen Lernende darüber reflektierten, warum die Sprachen unterschiedlich klingen, worauf die spezifischen Unterschiede bei der Aussprache von Englisch und Spanisch zurückzuführen sind oder worin die Gründe für die vielen lexikalischen Gemeinsamkeiten der Sprachen liegen. Erfahrungen mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass der Rezeptionsprozess bei Lernenden individuell äußerst unterschiedlich verläuft und auch davon beeinflusst wird, wie viel Erfahrung sie mit kultureller und sprachlicher Diversität haben. Damit sind nicht ausschließlich 1 Zusammenfassung der Erkenntnisse 241 <?page no="242"?> Migrationserfahrungen der eigenen Familie gemeint, sondern unterschiedlichste Begeg‐ nungen mit Menschen anderer Kulturen und Sprachen - ob an der Schule, im eigenen Viertel, auf Auslandsreisen oder durch Kontakte im virtuellen Raum. Es zeigt sich, dass die SchülerInnen ihre Lebenswelt in unterschiedlichem Maße als divers wahrnehmen und sich dies auf ihre Offenheit bezüglich der mehrsprachigen Gestaltung des Englischunter‐ richts auswirken kann, wie bei den beiden eher kritischen Schülerinnen in der dritten Fallstudie deutlich wurde. Die Studie berücksichtigte die Frage nach dem lebensweltlichen Mehrsprachigkeitshintergrund der SchülerInnen, indem sie die Auswahl der Schulen auch an der Anzahl der SchülerInnen nicht-deutscher Herkunftssprache ausrichtete. Sowohl Kurse mit einem sehr niedrigen als auch mit einem hohen Anteil an SchülerInnen mit lebensweltlich mehrsprachigem Hintergrund nahmen an der Studie teil, sodass zumindest punktuell die Rezeptionsprozesse von SchülerInnen mit unterschiedlichem sprachlichem Hintergrund beobachtet werden konnten. Es wurde wiederholt deutlich, dass sich alle Lernenden in die Entschlüsselungs- und Rezeptionsprozesse als mehrsprachige Individuen einbringen konnten, sei dies durch fremdsprachliches Wissen, thematisches Wissen oder ihre Erfahrungen aus der Familie, den Auslandsaufenthalten oder von Freunden oder Bekannten, die mehrsprachig aufgewachsen sind. Auffällig war auch, dass sich die Lernenden, die sich im Alltag mehrerer Sprachen bedienten, immer wieder in den Lebensentwürfen der literarischen Figuren wiederer‐ kannten und sowohl im Unterrichtsgespräch als auch im retrospektiven Interview ihre eigene Mehrsprachigkeit vor dem Hintergrund der literarischen Texte thematisierten. Sie hinterfragten den eigenen Sprachgebrauch, reflektierten die eigene Sprachlernbiographie und verglichen sich und ihre Angehörigen mit den literarischen Figuren. Die Ähnlichkeit ihrer eigenen Erfahrungen verschaffte ihnen also einen emotionalen Zugang zu den Texten und ermöglichte eine Teilhabe an den Schicksalen der Chicano/ a-ProtagonistInnen. Auch die Lehrkräfte beurteilten den Lernerfolg der Lernenden oder auch ihre eigene Motivation, die mehrsprachigen Texte einzusetzen, häufig vor dem Hintergrund der Erfahrungen der SchülerInnen mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit oder dem Mangel dieser, wie in der dritten Fallstudie, die in einer sprachlich eher homogenen Lerngruppe durchgeführt wurde. Die LehrerInnen schienen also anzunehmen, dass die persönlich erlebte Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität das Erfassen der literarischen Mehrsprachigkeit erleichtern würde. Insbesondere in der letzten Studie wurde deutlich, dass die Bereitschaft der Lernenden, sich auf die mehrsprachigen literarischen Texte einzulassen, nicht nur mit der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit zusammenhängt, sondern eher mit ihrem Interesse an anderen Kulturen und Sprachen und mit ihrer Wahrnehmung der kulturellen und sprachlichen Diversität. Das Bewusstsein darüber, dass unsere Welt von einer sprachlichen und kulturellen Vielfalt gekennzeichnet ist (und dass Englischkenntnisse nicht ausreichend sind, um sich in dieser Welt zurechtzufinden), ist also nicht Lernenden vorbehalten, die selbst mit einer anderen als der deutschen Sprache aufgewachsen sind. Sie kann bei mehrsprachigen Begegnungen jeglicher Art erworben werden, sei dies bei einem Schüleraustausch im Ausland, in Kontakt mit mehrsprachigen Freunden oder Bekannten oder in Chatforen im Internet. Gerade für Lernende, die der Mehrsprachigkeit in ihrem Alltag nicht häufig begegnen oder sie nicht wahrnehmen, kann die Arbeit mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten eine Möglichkeit bieten, für hybride und mehrkulturelle Identitätsentwürfe zu sensibilisieren und davon 242 X Schlussfolgerungen für die Förderung des Mehrsprachigkeitslernens im Fremdsprachenunterricht <?page no="243"?> ausgehend nach anderssprachlichen und anderskulturellen Erfahrungen als Teilen der eigenen Persönlichkeit zu suchen. 2 Ausblick, weiterführende Fragen und Desiderata Für viele SchülerInnen der drei untersuchten Lerngruppen war das Nachdenken über ihre eigenen Erfahrungen mit Sprachen und Kulturen eine neue Erfahrung im Englischun‐ terricht. Diese Beobachtung wirft zunächst die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt der Mehrsprachigkeitsförderung im Fremdsprachenunterricht auf. Versteht man die Förderung des Mehrsprachigkeitslernens als eine gesamtschulische Bildungsaufgabe, ergibt sich dringend die Notwendigkeit, das Bewusstsein für individuelle und gesellschaftliche Mehr‐ sprachigkeit nicht erst in der Sekundarstufe II, sondern bereits in den ersten Lernjahren des Fremdsprachenunterrichts zu schulen. Bislang wurde noch nicht untersucht, inwieweit mehrsprachige literarische Texte auch bei jüngeren Lernenden in der Sekundarstufe I eingesetzt werden können. Denkbar ist hier der Einsatz weniger komplexer mehrspra‐ chiger Literatur, beispielsweise der (digitalen) Bilderbücher in der Primarstufe und in der Sekundarstufe I (vgl. Delanoy 2012; Kräling & Stamenković 2018; Lohe 2018), aber auch von mehrsprachiger Musik (vgl. z. B. Blutner 2019) oder von kürzeren lyrischen Texten. Es wäre daher interessant zu erforschen, inwiefern jüngere Lernende ausgehend von mehrsprachigen (auch multimodalen) Texten zur Reflexion der eigenen Mehrsprachigkeit angeregt werden können. In diesem Zusammenhang stellt sich die oben besprochene Frage nach Studien, die den Einsatz literarischer Mischtexte thematisieren, die nicht zum Werk der Chicano/ a-AutorInnen gehören und andere Sprachenkombinationen aufweisen. Auch wurde bei der Vorbereitung der Unterrichtseinheiten wiederholt deutlich, dass bis‐ lang keine Aufgabenformate oder Unterrichtsdesigns vorliegen, die ein primär inhaltliches sowie handlungsorientiertes Lernen mit mehrsprachigen Texten ermöglichen. Wie solche Lernaufgaben konzipiert werden können, hat diese Studie an einzelnen Unterrichtsphasen für mehrsprachige Chicano/ a-Texte im Englischunterricht der Oberstufe aufgezeigt. So‐ lange aber solche Vorschläge in Lehrwerken oder anderen didaktisch-methodischen Mate‐ rialsammlungen fehlen, werden die Ziele einer mehrsprachigen Bildung kaum konsequent umzusetzen sein. Diese Studie hat verdeutlicht, welches Potenzial insbesondere die Phasen des mehrsprachigen literarischen Schreibens für einen kreativ-produktiven Umgang mit den eigenen Sprachen und für die Reflexion der eigenen Mehrsprachigkeit der SchülerInnen haben. Daher empfiehlt es sich, besonders in diesem Bereich geeignete Aufgabenformate zu entwickeln und möglicherweise auch mündliche Formate (mehrsprachiges Erzählen) oder Darstellungsformen wie poetry slam oder Rap einzubeziehen. Auch andere Studien verweisen auf die Wichtigkeit solcher mehrsprachiger Schreibphasen (vgl. Mayr 2020), weil insbesondere im Rahmen schriftlicher Aufgaben bewusster über die Sprachenwahl und ihre symbolische Dimension nachgedacht werden kann. Die Vorteile des mehrsprachigen literarischen Schreibens liegen aber nicht nur in der Bewusstmachung einer solchen symbolischen Dimension von Sprache, sondern auch in der Möglichkeit, sich dieser sym‐ bolischen Dimension kreativ zu bedienen, um neue Bedeutungen zu schaffen und sich selbst als mehrsprachiges Subjekt zu artikulieren. Im Rahmen weiterführender Forschungen 2 Ausblick, weiterführende Fragen und Desiderata 243 <?page no="244"?> könnte man genauer der Frage nachgehen, welche Lern- und Reflexionsprozesse beim mehrsprachigen Schreiben stattfinden, und untersuchen, inwieweit Lernende dabei Bezug auf die zuvor gelesene mehrsprachige Literatur nehmen. Insbesondere die Ergebnisse aus der dritten Fallstudie machen unmissverständlich deutlich, dass dem Englischunterricht in seiner Funktion als Wegbereiter für andere Fremdsprachen eine entscheidende Rolle bei der Förderung von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität zukommt. Daher stellt sich auch die Frage nach der curricularen Veranke‐ rung von Mehrsprachigkeit, zu der in der Fremdsprachendidaktik bereits einige Vorschläge vorliegen (vgl. Hufeisen 2016; Mayr 2020; Reich & Krumm 2013). Die Ergebnisse der Studie suggerieren zum einen, dass sprachenvernetzendes Denken und Handeln nicht erst in der Oberstufe zum Gegenstand des Englischunterrichts gemacht werden sollen, sondern auf allen Ebenen schulischer Sprachbildung zu implementieren sind. Zum Zweiten ist aber während der Durchführung der Unterrichtseinheiten immer wieder klar geworden, dass die Realisierung spezifisch mehrsprachigkeitsorientierter Lernziele gerade angesichts des höheren Leistungsdrucks in der Oberstufe häufig mit dem Ausbau der einzelsprachli‐ chen Sprachkompetenz konkurriert. Daher erscheint die alleinige Fokussierung auf die Ziele des Mehrsprachigkeitslernens schwierig. Vielmehr zeigt die Studie auf, wie das Mehrsprachigkeitslernen in Unterrichtsdesigns realisiert werden kann, die das sprachliche, das literarische und das kulturelle Lernen integrieren und von Lehrkräften auch im einzelsprachlichen Englischunterricht flexibel eingesetzt werden können. Die Entwicklung solcher mehrsprachigen Unterrichtsdesigns, die sprachliches und inhaltliches Lernen kom‐ binieren und sich ohne große Umstrukturierungen in den alltäglichen Englischunterricht integrieren lassen, bleibt daher eine wichtige Aufgabe für die fremdsprachendidaktische Forschung. Eine Orientierung für die Konzeption solcher Unterrichtsdesigns liefert der Kodierungskatalog im Anhang. Er zeigt auf, welche Arbeitsschritte und Aktivitäten die im Rahmen dieser Studie beobachteten Unterrichtseinheiten mit den mehrsprachigen Chicano/ a-Texten umfassten und welche Lernprozesse innerhalb dieser Phasen angebahnt werden konnten. Wenn der Englischunterricht von Anfang an einen Weg für die mehrsprachige Bildung als gesamtschulische Aufgabe ebnen soll, dann sind dafür nicht nur geeignete Texte, Inhalte oder didaktisch-methodische Verfahren nötig, sondern es bedarf auch der Bereitschaft von Lehrenden, den Englischunterricht für andere Sprachen zu öffnen. Daraus resultiert die Notwendigkeit einer Kooperation mit den KollegInnen anderer sprachlicher Fächer, aber auch der grundsätzlichen Offenheit gegenüber allen Sprachen der Schülerschaft, u. a. auch den weniger prestigereichen Herkunfts- und Familiensprachen. Diese Forderung hat entsprechende Folgen für die Lehrerausbildung. Es bedeutet einerseits, dass Lehrende Kenntnisse über die Ziele und die Methoden der Mehrsprachigkeitsförderung erlangen sollten, inklusive einer stärkeren Gewichtung der Kompetenzen „Sprachbewusstheit“ und „Sprachlernkompetenz“ (vgl. KMK 2012: 21 f.). Andererseits bedeutet dies, dass in allen Phasen der Lehrerbildung der schulische Englischunterricht als eine wichtige Station im Prozess des lebenslangen Sprachenlernens zu betrachten ist und daher sowohl Sprachen berücksichtigen sollte, die die Lernenden bereits aus ihren Familien mitbringen (einschließ‐ lich der Erstsprache Deutsch), als auch diejenigen, die sie möglicherweise als zweite oder dritte Fremdsprachen lernen werden. Nur ein solches verändertes Selbstverständnis 244 X Schlussfolgerungen für die Förderung des Mehrsprachigkeitslernens im Fremdsprachenunterricht <?page no="245"?> von Englischlehrkräften als WegbereiterInnen für lebenslanges Sprachenlernen kann eine systematische Umsetzung von mehrsprachigen Bildungszielen im Englischunterricht möglich machen. Die im Rahmen der vorliegenden Studie erfassten Unterrichtsaktivitäten und ihre Reflexion seitens der Lehrenden und Lernenden suggerieren, dass der Einsatz mehrspra‐ chiger Chicano/ a-Texte im Kontext des Englischunterrichts einen entscheidenden Beitrag zu mehrsprachiger Bildung leisten kann. Die Mischtexte lassen sich in den Englischun‐ terricht integrieren, ohne dass dabei die Priorität des Englischen als Unterrichts- und Arbeitssprache aufgegeben werden muss. Aus den zahlreichen Schüleraussagen wurde immer wieder deutlich, dass Spanischkenntnisse und lebensweltliche Mehrsprachigkeit keine Voraussetzungen für die Arbeit mit englisch-spanischen Chicano/ a-Texten darstellen und die hier vorgestellten Texte daher unabhängig von sprachlichen Voraussetzungen der Lerngruppe eingesetzt werden können. Mit mehrsprachigen Texten können vielfältige kulturelle, literarische oder sprachlich-kommunikative Zielsetzungen verfolgt werden. Für die mehrsprachige Bildung sind sie vor allem deshalb von unabdingbarer Wichtigkeit, weil der Englischunterricht durch ihren Einsatz zu einem Raum werden kann, in dem sich die SchülerInnen als Mehrsprachige wahrnehmen, artikulieren und ihre sprachlichen und kulturellen Ressourcen als identitätsstiftend erfahren können. Beim Lesen und Verstehen dieser Texte machen sie die Erfahrung, dass nicht nur indi‐ viduelle (fremd-)sprachliche Kenntnisse dazu beitragen, eine fremde Sprache zu verstehen, sondern dass auch soziale und interaktionale Strategien (z. B. im Rahmen der ko-kon‐ struktiven Arbeit in der Gruppe) bei der Bewältigung mehrsprachiger kommunikativer Herausforderungen helfen. Die SchülerInnen entfalten sich als mehrsprachige und mehr‐ kulturelle AkteurInnen, indem sie einerseits auf ihre Erfahrungen mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit rekurrieren, um literarische Identitäts- und Handlungsentwürfe in ihrer Hybridität zu erfassen, und andererseits indem sie mit den zur Verfügung stehenden Res‐ sourcen ihre eigene Mehrsprachigkeit aktiv mitgestalten. Besonders die Erkenntnis, dass die eigene Persönlichkeit von Sprach(lern)erfahrungen geprägt ist und dass es wiederum Sprachen sind, die es uns ermöglichen, uns als Individuen zu artikulieren und unserer Persönlichkeit Kohärenz und Sinn zu verleihen, kann in diesem Zusammenhang bildend sein. Der Einsatz mehrsprachiger Chicano/ a-Texte kann dazu einen entscheidenden Beitrag leisten, weil diese Texte einerseits Sprache(n) als Mittel zur Bedeutungsstiftung offenlegen und Lernende dazu einladen, Sprachgebrauch in seiner ästhetischen und sozial-kritischen Funktion kognitiv zu durchdringen, und weil sie andererseits eine Folie bieten, vor der die eigene Mehrsprachigkeit der Lernenden erlebbar und erfahrbar gemacht werden kann. Es bleibt daher zu hoffen, dass sowohl die mehrsprachigen Chicano/ a-Texte und die hier vorgestellten Unterrichtsdesigns als auch die Erkenntnisse aus den Fallstudien in fremdsprachendidaktischer Forschung und in der Unterrichtspraxis aufgegriffen und zum Gegenstand weiterer Studien gemacht werden. 2 Ausblick, weiterführende Fragen und Desiderata 245 <?page no="247"?> XI Literaturverzeichnis Primärliteratur Alurista (1976). address. In Alurista Florícanto en Aztlán (2. Aufl., S. 25). Los Angeles: Chicano Studies Center Publications. 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Diese Befra‐ gung ist natürlich anonym und hat keinen Einfluss auf Ihre Note, denn die Ergebnisse des Fragebogens sind ausschließlich mir zugänglich. --Damit die Fragebögen A und B verglichen werden können, ist es wichtig, dass sie mit einem Code versehen werden. -Schreiben Sie bitte in die unteren 6 Kästchen: 1. die ersten beiden Buchstaben des Vornamens Ihrer Mutter (Groß‐ buchstaben) 2. die ersten beiden Buchstaben des Vornamens Ihres Vaters (Groß‐ buchstaben) 3. die Zahl Ihres Geburtsmonats (z.-B. September = 09) Beispiel: Der Vorname der Mutter ist Juliane. Man trägt in die ersten beiden Kästchen JU ein. Der Vorname des Vaters ist Heinz. In die folgenden beiden Kästchen trägt man also HE ein. Ihr Geburtsmonat ist der Juli, also trägt man in die letzten beiden Kästchen 07 ein. Bei diesem Beispiel heißt der Code: JUHE07. --Mein Code: ______ -Bitte füllen Sie den Fragebogen ehrlich und gewissenhaft aus und fragen Sie nach, wenn es Unklarheiten gibt. -Vielen Dank für Ihre Mitarbeit! Fragebogen B -Liebe Schülerin, lieber Schüler, -Sie haben in den letzten Wochen mit einem mehrsprachigen Roman/ Film gearbeitet. Dieser Fragebogen soll Aufschluss darüber geben, wie Ihnen die Unterrichtseinheit gefallen hat und welche Aufgaben Sie besonders interessant fanden. Die Antworten auf den Fragebögen dienen als Grund‐ lage für die Auswahl der InterviewpartnerInnen, die nach der Beendigung der Unterrichtseinheit in einem Gruppeninterview befragt werden sollen. -Damit die Fragebögen A und B verglichen werden können, ist es wichtig, dass sie mit einem Code versehen werden. -Schreiben Sie bitte in die unteren 6 Kästchen: 1. die ersten beiden Buchstaben des Vornamens Ihrer Mutter (Groß‐ buchstaben) 2. die ersten beiden Buchstaben des Vornamens Ihres Vaters (Groß‐ buchstaben) 3. die Zahl Ihres Geburtsmonats (z.-B. September = 09) Beispiel: Der Vorname der Mutter ist Juliane. Man trägt in die ersten beiden Kästchen JU ein. Der Vorname des Vaters ist Heinz. In die folgenden beiden Kästchen trägt man also HE ein. Ihr Geburtsmonat ist der Juli, also trägt man in die letzten beiden Kästchen 07 ein. Bei diesem Beispiel heißt der Code: JUHE07. -Mein Code: ______ -Bitte füllen Sie den Fragebogen ehrlich und gewissenhaft aus und fragen Sie nach, wenn es Unklarheiten gibt. -Vielen Dank für Ihre Mitarbeit! ✄ ----------------------------------------------------- -Bitte tragen Sie den gleichen Code hier noch einmal ein. Reißen Sie bitte diesen Abschnitt ab und behalten Sie ihn bis zur nächsten Stunde. Danke! -Mein Code: ______ 268 Fragebögen A und B <?page no="269"?> Fragebogen A 1. Ich bin… □ männlich □ weiblich 2. Ich bin … □ im Grundkurs Englisch □ im Leistungskurs Englisch 3. Welche Fremdsprachen haben Sie in der Schule gelernt? Wie lange haben Sie sie gelernt und welche war Ihre letzte Zeugnisnote? Fremdsprache Ja Nein Wie lange? (z.B. 7. bis 12. Klasse) Letzte Zeugnis‐ note Englisch - - - 1 -2 - 3 - 4 - 5 - 6 Französisch - - - 1 -2 - 3 - 4 - 5 - 6 Spanisch - - - 1 -2 - 3 - 4 - 5 - 6 Latein - - - 1 -2 - 3 - 4 - 5 - 6 Sonstige: - - - 1 -2 - 3 - 4 - 5 - 6 4. Welche Sprachen haben Sie außerhalb des schulischen Fremdsprachenunter‐ richts (z. B. durch Ihre Familie, den Zusatzunterricht in der Herkunftssprache) gelernt? Sie können mehrere Sprachen ankreuzen. □ Türkisch □ Arabisch □ Bosnisch/ Kroatisch/ Serbisch □ Russisch □ Polnisch □ ____________ 5. Zu Hause spreche ich hauptsächlich… (Bitte jeweils nur ein Kreuz machen.) □ Deutsch □ Deutsch und eine andere Sprache □ eine andere Sprache 6. Im Freundeskreis spreche ich hauptsächlich … (Bitte jeweils nur ein Kreuz machen.) □ Deutsch □ Deutsch und eine andere Sprache □ eine andere Sprache Fragebogen B 1. Wie hat Ihnen die Unterrichtseinheit zum mehrsprachigen Roman/ Film gefallen? -------- 2. Welche Aufgaben oder Themen aus der Unterrichtseinheit sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben? -------- 3. Haben Sie sonstige Kommentare zur Unterrichtseinheit? Schreiben Sie sie bitte auf. ---- Fragebögen A und B 269 <?page no="270"?> Interviewleitfaden I. Interviews mit Lehrenden Vor der Durchführung der Unterrichtseinheit ● Was fanden Sie bei Ihrer ersten Lektüre an dem mehrsprachigen Chicano/ a-Text interessant? Welches didaktische Potenzial könnte dieser Text Ihrer Meinung nach für den Englischunterricht haben? ● Was verstehen Sie unter Mehrsprachigkeitslernen bzw. Mehrsprachigkeitsförderung im Englischunterricht? ● Welche Aspekte des Mehrsprachigkeitslernens könnten Ihrer Meinung nach mit diesen Texten gefördert werden? ● Welche Herausforderungen könnten für Ihre SchülerInnen (und für Sie selbst) im Umgang mit dem Chicano/ a-Text im Englischunterricht entstehen? Nach der Durchführung der Unterrichtseinheit ● Könnten Sie kurz beschreiben, was Sie in den letzten Stunden in Ihrem Englischunter‐ richt gemacht haben? ● Welchen Gesamteindruck haben Sie von der durchgeführten Unterrichtseinheit? ● Wie schätzen Sie den Lernzuwachs Ihrer SchülerInnen im Hinblick auf das Mehrspra‐ chigkeitslernen ein? ● Welche Stunden/ Aufgaben/ Themen aus der Unterrichtseinheit sind Ihnen positiv oder negativ in Erinnerung geblieben? Warum? ● Könnten Sie sich vorstellen, noch einmal mehrsprachige literarische Texte/ Filme im Englischunterricht einzusetzen? Warum (nicht)? Würden Sie etwas an der Unterrichts‐ einheit verändern und wenn ja, was? ● Welche weiteren Kommentare haben Sie zu der Unterrichtseinheit? II. Interviews mit Lernenden (Gruppeninterviews, 7-8 SchülerInnen) ● Könnten Sie kurz beschreiben, was Sie in den letzten Stunden in Ihrem Englischunter‐ richt gemacht haben? ● Wie würden Sie Ihre erste Reaktion auf den englisch-spanischen Text/ Film be‐ schreiben? ● Welche Aktivitäten oder Aufgaben aus der Unterrichtseinheit sind Ihnen positiv oder negativ in Erinnerung geblieben? Warum? ● Was haben Sie aus der Unterrichtseinheit gelernt? 270 Interviewleitfaden <?page no="271"?> ● Was haben Sie über Ihren eigenen Umgang mit Sprachen und Kulturen in dieser Unterrichtseinheit gelernt? Welche Aktivität oder Aufgabe hat am meisten dazu beigetragen und warum? Fokussiertes Interview Fragen zu bestimmten Angaben/ Antworten auf dem Fragebogen B Interviewleitfaden 271 <?page no="272"?> Kodierungskatalog SchülerInnen und der mehrsprachige Text Dekodierung des mehrsprachigen Textes SchülerInnen entschlüsseln den mehrsprachigen Text, indem sie… 1. kognitive Strategien anwenden und dabei… a. auf nicht-sprachliches Wissen (Weltwissen) zurückgreifen b. auf (fremd-)sprachliches Wissen zurückgreifen c. auf Herkunftssprachen zurückgreifen d. den situativen Kontext des Textes berücksichtigen e. texteigene Übersetzungsstrategien berücksichtigen f. und sie anschließend verbalisieren 2. metakognitive Strategien anwenden und dabei… a. unterschiedliche Vorgehensweisen verhandeln b. eigene Hypothesen erklären und ggf. korrigieren c. den Dekodierungsprozess schrittweise organisieren 3. sozio-affektive Strategien anwenden und dabei… a. andere SchülerInnen in den Entschlüsselungsprozess einbeziehen b. zum positiven Umgang mit Nicht-Verstehen ermutigen Wahrnehmung und Interpretation der Mehrsprachigkeit literarischer Figuren SchülerInnen… 4. identifizieren und beschreiben das (mehrsprachige) Sprachverhalten der Figuren 5. erklären/ interpretieren den Sprachenwechsel der Figuren in Bezug auf… a. bestimmte Personen, mit denen die Figur die Sprache(n) spricht b. den situativen Kontext des Sprachgebrauchs c. die emotionale Bindung der Figur zur Sprache d. die kulturelle(n) Zugehörigkeit(en) der Figuren 6. aktivieren dabei lebensweltliche Erfahrungen bzw. Vorstellungen von Mehrsprachigkeit und mehrsprachigen Menschen 7. thematisieren ihre Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in Bezug auf… a. bestimmte Personen aus dem Umfeld (z.-B. Familie, Freunde) b. den eigenen Sprachlernprozess (Sprachlernbiographie) c. das Sprachverhalten im Alltag 8. verknüpfen eigene Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität mit denen der literarischen Figuren Wahrnehmung und Interpretation der Mehrsprachigkeit als literarisches Gestaltungsver‐ fahren 9. interpretieren Mehrsprachigkeit als literarisches Verfahren… a. zur Darstellung mehrsprachiger Identitäten der literarischen Figuren b. zur Erzeugung von Emotionalität/ Intimität c. zur Darstellung einer gesellschaftlichen Realität d. zur Herausforderung gesellschaftlicher Normen und Vorurteile 272 Kodierungskatalog <?page no="273"?> SchülerInnen und der mehrsprachige Schülertext - -Mehrsprachiges Schreiben 10. gestalten einen mehrsprachigen Text und nutzen/ thematisieren dabei… a. Sprache(n) als Zugang zu eigenen Gefühlen/ Gedanken b. Sprache(n) als Chance zur persönlichen Weiterentwicklung c. Sprache(n) als Verbindung zu anderen Menschen d. Sprache(n) als Ressourcen zur ästhetischen Gestaltung e. Sprache(n) als Zugang zu Herkunftskultur(en) f. das Verhältnis zu Herkunftskultur(en) 11. thematisieren vor dem Hintergrund der mehrsprachigen Gedichte a. ihren Sprachgebrauch im Alltag b. den eigenen Sprachlernprozess 12. äußern Interesse an mehrsprachigen Erfahrungen der MitschülerInnen -Mehrsprachigkeit als Gegenstand der Reflexion - 13. reflektieren die Rezeption des mehrsprachigen Textes bezüglich … a. seiner Verständlichkeit b. der mehrsprachigen und mehrkulturellen Charaktere c. der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität als Themen des Textes d. seiner mehrsprachigen Gestaltung e. ihrer eigenen Verbindung zum Thema des Textes 14. reflektieren die mehrsprachige Schreiberfahrung als Möglichkeit, … a. über die persönliche Bedeutung ihrer Sprachen nachzudenken b. sich in ihren Sprachen kreativ auszudrücken c. neue Erkenntnisse über sich selbst zu gewinnen d. die Sprachen und Kulturen der MitschülerInnen kennen zu lernen e. anderen SchülerInnen die eigene(n) Sprache(n) näherzubringen f. den Unterricht aktiv mitzugestalten 15. kommentieren die mehrsprachige Gestaltung des Unterrichts und… a. reagieren auf die Präsenz des Spanischen im Englischunterricht b. diskutieren den Beitrag des Englischunterrichts zur (fremd-)sprachlichen Bildung c. diskutieren die Rolle des Englischen in internationaler Kommunikation d. diskutieren die Rolle anderer Sprachen im Englischunterricht Kodierungskatalog 273 <?page no="274"?> Fallstudie 1 Übersicht über die Lerngruppe - Zu Hause spreche ich … In der Schule lerne ich/ habe ich folgende Fremdspra‐ chen gelernt … S1 - Deutsch - Englisch (3.-11. Kl.), Latein (7.-11. Kl.) S2 - Deutsch, Russisch, Polnisch - Englisch (3.-11. Kl.), Französisch (ab 11. Kl.), Russisch (7.-9. Kl.) S3 - Deutsch, Polnisch - Englisch (3.-11. Kl.), Latein (7.-10. Kl.) S4 - Deutsch - Englisch (7.-11. Kl.), Chinesisch (7.-10. Kl.) S5 - Deutsch - Englisch (3.-11. Kl.), Französisch (ab 11. Kl.) S6 - Deutsch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (9.-10. Kl.), Chinesisch (7.-10. Kl.) S7 - Deutsch, Türkisch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (9.-11. Kl.), Latein (7.-10. Kl.) S8 - Vietnamesisch - Englisch (3.-11. Kl.), Französisch (7.-10. Kl.) S9 - Deutsch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (9.-11. Kl.) S10 - Deutsch - Englisch (3.-11. Kl.), Latein (7.-10. Kl.) S11 - Polnisch - Englisch (3.-11. Kl.), Französisch (7.-10. Kl.) S12 - Deutsch - Englisch (3.-11. Kl.), Chinesisch (7.-11. Kl.) S13 - Deutsch - Englisch (3.-11. Kl.), Französisch (7.-11. Kl.) S14 - Deutsch - Englisch (3.-11. Kl.), Französisch (7.-10. Kl.) S15 - Deutsch - Englisch (1.-11. Kl.), Spanisch (9.-11. Kl.), Latein (8.-9. Kl.), Italienisch (7.-9. Kl.), Russisch (1.-6. Kl.) S16 - Deutsch, Türkisch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (9.-11. Kl.) S17 - Kroatisch - Englisch (3.-11. Kl.), Französisch (ab 11. Kl.) 274 Fallstudie 1 Übersicht über die Lerngruppe <?page no="275"?> Fallstudie 2 Übersicht über die Lerngruppe - Zu Hause spreche ich … In der Schule lerne ich/ habe ich folgende Fremdspra‐ chen gelernt … S1 - Deutsch, Türkisch - Englisch (3.-11 Kl.), Spanisch (7.-11. Kl.), Latein (8.-11. Kl.) S2 - Deutsch Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (7.-11. Kl.) S3 - Deutsch Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (6.-10. Kl.), Latein (7.-11. Kl.) S4 - Deutsch, Serbisch Englisch (4.-11. Kl.), Französisch (7.-10. Kl.) S5 - Deutsch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (7.-10. Kl.) S6 - Deutsch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (ohne Angabe) S7 - Deutsch, Türkisch, Russisch, Aserbeidschanisch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (ohne Angabe), Latein (ohne Angabe) S8 - Deutsch, Spanisch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (10.-11. Kl., Mutter‐ sprache), Französisch (7.-10. Kl.) S9 - Deutsch, Türkisch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (7.-10. Kl.) - S10 - Deutsch - Englisch (1.-11. Kl.), Französisch (1.-3. Kl.), Spanisch (5.-10. Kl.) S11 Deutsch, Türkisch - Englisch (3.-11. Kl.), Französisch (7.-10. Kl.), Spanisch (8.-9. Kl.) S12 - Deutsch, Türkisch, Kurdisch - Englisch (3.-11. Kl.), Französisch (7.-11. Kl.) S13 - Deutsch, Italienisch - Englisch (7.-11. Kl.), Französisch (8.-9. Kl.), Spanisch (7.-10. Kl.) S14 - Arabisch Englisch (7.-11. Kl.), Französisch (3.-11. Kl.) S15 Deutsch, Polnisch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (7.-11. Kl.) - S16 - Deutsch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (7.-10. Kl.) - S17 Türkisch - Englisch (3.-11. Kl.), Französisch (7.-10. Kl.), Latein (ohne Angabe) Fallstudie 2 Übersicht über die Lerngruppe 275 <?page no="276"?> Fallstudie 3 Übersicht über die Lerngruppe - Zu Hause spreche ich … In der Schule lerne ich/ habe ich folgende Fremdspra‐ chen gelernt … S1 - Deutsch Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (7.-10. Kl.) S2 - Deutsch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (7.-10. Kl.) - S3 - Deutsch, Türkisch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (7.-10. Kl.) - S4 - Deutsch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (7.-10. Kl.) - S5 - Deutsch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (7.-10. Kl.), Latein (7.-11. Kl.) - S6 - Deutsch - Englisch (1.-11. Kl.), Spanisch (7.-10. Kl.) - S7 - Deutsch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (7.-10. Kl.) - S8 - Deutsch - Englisch (1.-11. Kl.), Spanisch (7.-10. Kl.) - S9 - Deutsch - Englisch (1.-11. Kl.), Spanisch (7.-10. Kl.) - S10 - Deutsch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (7.-10. Kl.) - S11 Deutsch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (7.-10. Kl.) - S12 - Deutsch, Niederländisch - Englisch (3.-11. Kl.), Spanisch (7.-10. Kl.) - 276 Fallstudie 3 Übersicht über die Lerngruppe <?page no="277"?> Reflexion zum Gedicht „Two-headed“ Titel von Maria: Reflexionen zum lyrischen, mehrsprachlichen Schreiben anhand eines selbstverfassten Gedichts (Auszüge) - - - - 5 Wagt man es tatsächlich, sich ganz offen und frei in die lyrische Welt des Schreibens zu begeben, was einigen Mut und den Willen zur seelischen Entkrampfung, zur Loslösung vom Gewöhnlichen benötigt, so stellt man schnell fest, dass man hier innerhalb seines eigenen, kreativen Kopfes, seiner eigenen, kleinen, schöpferischen Welt, die sich ja faszinierenderweise von jeglicher anderen unterscheidet, an fast keine Grenzen stößt. […] Man zieht sich als Lyriker sein Material von hier und von dort, mal von dem einen Herzenswinkel, mal von dem anderen, und beobachtet freudig, was passiert. […] - - 10 - - - - 15 - - - - 20 - - - - 25 Besonders an eben diesem Prozess war wohl, dass ich mich nicht nur in meinem deutschen Schreiberkopf, sondern auch in meinem englischen bewegt habe - und überhaupt erst einmal festgestellt habe, dass Letzterer tatsächlich existiert. Ich schreibe zwar schon seit einiger Zeit sehr gerne Gedichte, doch grundsätzlich in der deut‐ schen Sprache. Gründe dafür finden sich sicher auch in der Hauptaussage meines Gedichts, und zwar dem Gefühl, dass Deutsch als meine Muttersprache die Sprache meines gänzlichen Vertrauens ist, in der ich mich freier und flexibler und sicher auch losgelöster bewegen kann. Mein Englisch dagegen befindet sich noch in einem gewissen Stadium der Ungewissheit oder Unsicherheit, bedingt durch die Tatsache, dass sie mich schlichtweg noch nicht so lang begleitet. Die gesamte Schreibsituation reflektiert also bereits das Hauptthema und seine Metapher, die ich in meinem Gedicht verarbeite, meine sogenannte „Zweiköpfigkeit“, hier zunächst also nur auf kreativer, künstlerischer Ebene. Das Interessante daran ist, dass mir dadurch sowohl mehr Freiraum, als auch mehr Anlass zur Hemmung und zum Zweifel gegeben wurde, zumindest zu Beginn des Schreibens. Ich war einerseits mit der Freiheit eines größeren Vokabulars, das Vokabular zweier Sprachen, sowie zweier Denkmuster konfrontiert, da jede Sprache schließlich auch eine Denkweise ist und ein ganz eigenes Feld möglicher Perspektiven beinhaltet, die einem sonst kaum gewährt werden. Nimmt man sie ein, erlangt man neue Sichtweisen und kommt zu aufschlussreichen Erkenntnissen, nicht zuletzt über sich selbst, was auch ich erlebt habe (doch dazu komme ich im Anschluss). Gleichzeitig war es aber auch ein seltsames Erlebnis, das durch das Heranziehen der zweiten, eher schwankenden Sprache mehr Zeit erforderte. […] Reflexion zum Gedicht „Two-headed“ 277 <?page no="278"?> 30 - - - - 35 - - - - 40 Ich denke, dadurch, dass ich stets versuche, meinen (deutschen) Wortschatz zu erwei‐ tern, etwa durch Literatur oder durch andere Menschen, die bestimmte, interessante oder nützliche Worte verwenden, erlange ich mit der Zeit auch die Fähigkeit zur Präzision oder Differenzierung, Dinge, die erstmal sehr banal erscheinen. Doch haben sie für mich einen sehr großen, persönlichen Wert, denn durch den präzisen Ausdruck kann ich auch präziser meine Gefühle und Gedanken begreifen und sie aufschreiben, wenn ich möchte. Ist das meiste, was an innerlicher Bewegung in einem vor sich geht, eine unfassbare, ferne Masse, die nur unbewusst wahrgenommen, aber nie in Worte transportiert werden kann, so kann dies sehr ernüchternd und einschränkend sein. Manchmal führt es auch zu großem, geistigem „Chaos“, und hat man dann die nötigen Begriffe, dieses Chaos zu ordnen oder wenigstens in ein fassbares Muster zu bringen, kann ein gewisser „Sinn“ wiederhergestellt werden. - - - 45 Das Resultat dieser sprachlichen Funktionen, die meine Muttersprache für mich erfüllt, ist damit in gewisser Weise ein Zuhause, ein begriffliches, sprachliches und damit auch denkerisches und mentales Heim, das ich wohl am Meisten verstehe und wodurch ich auch in gewisser Weise am meisten verstanden werde. Es „schenkt mir warmes Land“, gibt mir Wärme, Sicherheit und so manche Klarheit. - - - 50 Ich glaube nicht, dass man hier die Bedeutung beider Sprachen wirklich abwägen und vergleichen kann. Beide sind sie kommunikative Werkzeuge, und ich denke, es ist sehr gewiss, dass man sowohl mit seiner eigenen Seele als auch mit den Seelen der Menschen um einen herum, ob nah oder fern, ständig im Dialog bleiben sollte. - - - - 55 - - - - 60 - - - - 65 Abschließend kann ich sagen, dass diese lyrische Erfahrung mir definitiv dabei geholfen hat, meine persönliche Beziehung zu meinen beiden meistverwendeten Sprachen zu begreifen und dies verständlich, zugleich aber auch verschlüsselt auszu‐ drücken. Das ist wohl das Schöne am Dichten - man codiert komplexe Sachverhalte und wartet dann darauf, bis sie decodiert werden, und wenn es gelingt, wird viel mehr über einen offenbart, als ein sachlicher, analytischer Text je offenbaren könnte. Ich habe mir beim Schreibprozess, wie schon in der Einleitung angedeutet, kaum etwas dabei gedacht, sondern habe einfach geschrieben, bis es eben „richtig“ war. Dieses Urteil über „richtig“ und „falsch“ ist sehr von jeglicher Logik getrennt, was es vielleicht umso interessanter macht, im Rückblick darüber zu sprechen. Für mich ist die Lyrik damit immer ein verlockendes Angebot, in mich selbst hineinzusehen, und zu beobachten, was dabei entsteht, ganz jenseits von aller Berechenbarkeit. Dieses mehrsprachliche Experiment war somit für mich ebenso unvorhersehbar. Erst jetzt lässt sich sagen: ich bin ein zweiköpfiger Mensch und stehe zwischen zwei Sprachen, und mein Weg der Erforschung ist noch lang nicht vorbei, ich werde immer weitergehen, immer weiter der Spur nach - der „lettered trace of tongue“. 278 Reflexion zum Gedicht „Two-headed“ <?page no="279"?> 1 „Tú sabes cual muchacha,” my father said, “no te hagas tonto.” - Du weißt, welches Mädchen […] tu nicht so. (Übersetzungen aus dem Spanischen durch die Forscherin). 2 „Seguro“ - Sicher. 3 „Bueno, la muchacha tiene una cara muy bonita, pero eso no quiere decir que she’s nice.” - Gut, das Mädchen hat ein hübsches Gesicht, aber das bedeutet nicht, dass sie nett ist. Auszug aus Kapitel 1, Sammy & Juliana in Hollywood Sáenz 2004: 12-16 “Everyone’s been seeing you with that girl.” “What girl, Dad? ” I always pretended I didn’t know what the hell was going on. That trick always worked for me. 5 “Tú sabes cual muchacha,” my father said, “no te hagas tonto.” 1 “You should see all the girls that are after me,” I said. “Really? ” my little sister said, completely astonished. She was half my age and was addicted to other people’s conversations. “Lots of girls are after you, Sammy? ” “Seguro,” 2 I said. 10 “I don’t know about that,” my father said, “but I know how many girls you’re after. Ya te conozco. You’re only after one. And her name’s Juliana Rios.” “Really? ” Elena asked. “Her sister, Mariana, goes to my school.” I didn’t say anything. My father’s analysis of the situation sounded like an accusation - like I was committing a crime. “She’s nice, Dad.” 15 “Bueno, la muchacha tiene una cara muy bonita, pero eso no quiere decir que she’s nice.” 3 My father looked down at his plate of food. He was an easy read. Any time he wanted to tell me something, he’d look at his food as if the sopa or the beans on his plate were feeding him words. “You and Juliana aren’t doing things, are you? ” “Like what things, Dad? ” 20 “You know what I mean.” “I don’t know what you mean,” my little sister said. “No, tell me,” I said. “Yeah,” Elena said, “tell us.” -25 “Never mind,” my father said. But he couldn’t quite give up on the subject, even though Elena was at the table. “What’s she like? ” he asked. “She’s good and she’s pretty.” I looked at Elena. “Isn’t she pretty, Elena? ” Elena nodded. She was crazy, crazy for me and always ready to be my accomplice. “Beautiful,” Elena said. “And she’s smart,” I said. Auszug aus Kapitel 1, Sammy & Juliana in Hollywood 279 <?page no="280"?> 4 “No tiene nada que ver conmigo.” - Das hat nichts mit mir zu tun. 30 “Does she study? ” my dad asked. “No. She doesn’t have to. She just knows things, I guess. I don’t know. She doesn’t ever take her books home. But I saw her report card. All A’s except two B’s and one C.” “Not as good as yours,” my father said. “Yeah, but I have to study, Dad.” 35 “Can she teach me how not to study? ” Elena asked. “No.” my father told Elena. “It’s better to study.” He was very literal about earning things. He looked at me. “You don’t give her the answers, do you? ” --40 “No, Dad, I don’t give her the answers.” I wanted to tell him that she sure as hell didn’t rely on me for the answers to anything. She found all the answers on her own. He didn’t know her, my dad, didn’t trust her. He thought she wasn’t good enough for me. Nobody thought she was good enough. I wondered what that was like. If people looked at me like they looked at her, I’d be permanently pissed off. “Look, Dad,” I said. “We’re all the same. We’re all from Hollywood.” -45 “No. We’re not all the same. Some of us are good, and some of us aren’t. You’re not like Pifas Espinosa or Joaquin Mesa or René Montoya. Or like Reyes Espinoza. You’re not like any of them.” “You won’t let me be like them.” “No tiene nada que ver conmigo. 4 You have that wrong, mijo. If you were like those boys, then nothing I would do or say could tame you. You’re not like them. You’re just not.” 50 I wanted to tell him that sometimes I wanted to be as wild as them. I hated myself sometimes for being so tame, like some docile cat who’d been declawed - good for nothing but sitting on the windowsill. What good was I? In Hollywood, I was useless. “I’m not better than them, Dad.” “Okay,” he said. 55 And then I said, “She’s a sweet girl, Dad.” “Sweet? ” “She is, Dad.” He looked at me and shook his head. “I know her family.” “No,” I said, “you don’t know her, Dad.” 60 “Didn’t she tell Mrs. López to -” he stopped and smiled at Elena. “She disrespected Mrs. López in front of the whole neighborhood.” “Mrs. López likes men, Dad.” “What’s wrong with liking men? ” Elena asked. -65 “Nothing,” I said. I looked at my father. “Mrs. López disrespected Mrs. Rios by inviting Mr. Rios into her house. At night.” I stopped, nodded at my father, and winked at Elena. “People aren’t supposed to visit each other at night, are they? ” Elena asked. “No.” I said, “they’re not. They’re supposed to stay at home. Right, Dad? ” 280 Auszug aus Kapitel 1, Sammy & Juliana in Hollywood <?page no="281"?> 5 „‘puta desgraciada sinvergüenza’”- beleidigende Bezeichnung für die Nachbarin, Mrs. López. 6 „No se porque fuman. Ya se creen muy grandes.” - Ich weiß nicht, warum ihr raucht. Ihr glaubt, ihr seid schon erwachsen. 7 „¡Pinches, cabrones, todos! ¡Todos! ” - Ihr seid alle Idioten! Alle! (freie Übersetzung). --70 “Right,” my father said, though I knew he thought it was wrong of Juliana to call Mrs. López a ‘puta desgraciada sinvergüenza’ 5 in front of everbody who was buying vegetables at Safeway. My father looked down at his plate again. “Well, I don’t want you and Juliana smoking in my car anymore. No se porque fuman. Ya se creen muy grandes 6 . You’re just kids.” […] ---75 I left them there, in the kitchen that evening. The two of them. As if they were always going to be there. I went to my room and called Juliana. Her father answered and when I asked for her, all he said was: “Don’t call here. That puta’s not home. Just don’t call here anymore. ¡Pinches, cabrones, todos! ¡Todos! ” 7 I wanted to run out of the house, run down the block, break down his goddamned door and shove my fist down his throat. I pictured me beating on him. It made me feel better. Auszug aus Kapitel 1, Sammy & Juliana in Hollywood 281 <?page no="283"?> Tabellenverzeichnis Tab. 1: Mehrsprachiges Entschlüsseln eines Kapitels aus Caramelo . . . . . . . . . . . 126 Tab. 2: Unterrichtsgespräch zur Verständlichkeit des Romans Caramelo . . . . . . . 130 Tab. 3: Gruppenarbeit zum Kapitel 13 des Romans Caramelo . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Tab. 4: Unterrichtsgespräch zur Mehrsprachigkeit der Figuren . . . . . . . . . . . . . . . 140 Tab. 5: Unterrichtsgespräch zum Gedicht „Familie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Tab. 6: Interview mit den SchülerInnen zur Gesamtbewertung des Romans Caramelo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Tab. 7: Interview mit den SchülerInnen zur persönlichen Bewertung des mehrsprachigen Schreibprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Tab. 8: Mehrsprachiges Entschlüsseln eines Kapitels aus Sammy & Juliana in Hollywood, Auszug Nr.-1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Tab. 9: Mehrsprachiges Entschlüsseln eines Kapitels aus Sammy & Juliana in Hollywood, Auszug Nr.-2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Tab. 10: Unterrichtsgespräch zum mehrsprachigen Entschlüsseln in Gruppen . . . 177 Tab. 11: Unterrichtsgespräch zur Mehrsprachigkeit der Figuren, Auszug Nr.-1 . . . 179 Tab. 12: Unterrichtsgespräch zur Mehrsprachigkeit der Figuren, Auszug Nr.-2 . . . 181 Tab. 13: Gruppenarbeit als Vorbereitung auf das szenische Lesen . . . . . . . . . . . . . . 185 Tab. 14: Unterrichtsgespräch zur Reflexion der szenischen Lesung . . . . . . . . . . . . 187 Tab. 15: Interview mit der Lehrerin zur Gesamtbewertung der Unterrichtseinheit 196 Tab. 16: Aufgabenstellung zum Film Real Women Have Curves . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Tab. 17: Auszüge aus der Gruppenarbeit zum Rollenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Tab. 18: Interview mit den SchülerInnen zum mehrsprachigen Film, Auszug Nr.-1 218 Tab. 19: Interview mit den SchülerInnen zum mehrsprachigen Film, Auszug Nr.-2 220 Tab. 20: Interview mit den SchülerInnen zur mehrsprachigen Gestaltung des Unterrichts, Auszug Nr.-1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Tab. 21: Interview mit den SchülerInnen zur mehrsprachigen Gestaltung des Unterrichts, Auszug Nr.-2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 <?page no="284"?> Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidak�k Giessener Beiträge Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidak�k Diese im Bereich der Mehrsprachigkeits- und der Literaturdidak�k situierte Studie untersucht, welche Erfahrungen Schüler: innen im Umgang mit mehrsprachigen Chicano/ a-Texten machen. Im Zentrum stehen Unterrichtseinheiten zu zwei Jugendromanen und einem Film, die von US-Autor: innen mexikanischer Abstammung in Englisch und Spanisch verfasst wurden. Die Studie stellt dar, wie Schüler: innen die Texte dekodieren und welche Erfahrungen mit (eigener) Mehrsprachigkeit ihnen helfen, die mehrsprachigen Iden- �täten der Figuren nachzuvollziehen. Im Fokus stehen jene Unterrichtsdesigns, die zur mehrsprachigen Bildung der Lernenden beitragen, wie z.B. das Schreiben eigener mehrsprachiger Gedichte. Durch die Analyse von Unterrichtsvideos, Fragebögen, Interviews und Lernendentexten werden die Potenziale und die Grenzen des Mehrsprachigkeitslernens im Fremdsprachenunterricht aufgezeigt. Stamenković Mehrsprachigkeitslernen im fremdsprachlichen Literaturunterricht Nevena Stamenković Mehrsprachigkeitslernen im fremdsprachlichen Literaturunterricht Eine empirische Studie zum Einsatz englisch-spanischer Chicano/ a-Texte im Englischunterricht der Sekundarstufe II ISBN 978-3-8233-8596-7 18596_Umschlag_17x24cm.indd 3 18596_Umschlag_17x24cm.indd 3 31.10.2023 11: 27: 51 31.10.2023 11: 27: 51