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True Love

Sprache(n) der Liebe in Text und Gespräch

0429
2024
978-3-8233-9598-0
978-3-8233-8598-1
Gunter Narr Verlag 
Nina-Maria Klug
Sina Lautenschläger
10.24053/9783823395980

Dieser Band befasst sich mit einem alltäglichen, zugleich aber gesellschaftlich hochrelevanten Phänomen: der Liebe. In den Beiträgen werden unterschiedliche Beziehungskonstellationen in den Blick genommen, sei es die Beziehung zu geliebten Menschen, die Beziehung zu Tieren, aber auch die Beziehung zwischen Nationen. Die empirische Basis reicht von politischen Dokumenten, Kinderbüchern, Hochzeitsvideos und Opern über romantische Filmdramen, Zoo-Doku-Soaps, Dating-Ratgeber und Trauer-Foren bis hin zu kleinen Texten am Grab. Zentral sind dabei u.a. folgende Fragen: Wie wird Liebe sprachlich und multimodal hergestellt, verhandelt und gefestigt? Wie wird sie kommunikativ gepflegt - auch über den Tod hinaus? Gemeinsam ist allen Beiträgen das Anliegen, Muster der aktuellen wie historischen Liebes- bzw. Beziehungskommunikation herauszuarbeiten.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-8233-8598-1 Europäische Studien zur Textlinguistik 23 Europäische Studien zur Textlinguistik Dieser Band befasst sich mit einem alltäglichen, zugleich aber gesellschaftlich hochrelevanten Phänomen: der Liebe. In den Beiträgen werden unterschiedliche Beziehungskonstellationen in den Blick genommen, sei es die Beziehung zu geliebten Menschen, die Beziehung zu Tieren, aber auch die Beziehung zwischen Nationen. Die empirische Basis reicht von politischen Dokumenten, Kinderbüchern, Hochzeitsvideos und Opern über romantische Filmdramen, Zoo-Doku- Soaps, Dating-Ratgeber und Trauer-Foren bis hin zu kleinen Texten am Grab. Zentral sind dabei u.a. folgende Fragen: Wie wird Liebe sprachlich und multimodal hergestellt, verhandelt und gefestigt? Wie wird sie kommunikativ gep egt - auch über den Tod hinaus? Gemeinsam ist allen Beiträgen das Anliegen, Muster der aktuellen wie historischen Liebesbzw. Beziehungskommunikation herauszuarbeiten. Klug / Lautenschläger (Hrsg.) Nina-Maria Klug / Sina Lautenschläger (Hrsg.) True Love Sprache(n) der Liebe in Text und Gespräch True Love <?page no="1"?> True Love <?page no="2"?> Europäische Studien zur Textlinguistik herausgegeben von Steffen Pappert (Duisburg-Essen) Nina-Maria Klug (Duisburg-Essen) Georg Weidacher (Graz) Band 23 <?page no="3"?> Nina-Maria Klug / Sina Lautenschläger (Hrsg.) True Love Sprache(n) der Liebe in Text und Gespräch <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823395980 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1860-7373 ISBN 978-3-8233-8598-1 (Print) ISBN 978-3-8233-9598-0 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0523-1 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 15 43 73 97 127 157 195 215 239 Inhalt Nina-Maria Klug & Sina Lautenschläger True Love. Sprache(n) der Liebe in Text und Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Busch Zeitlichkeit und Online-Dating-Kommunikation: Metatemporale Diskurse über Rhythmen digitaler Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sina Lautenschläger Erkämpfte Liebe und programmierte Frauen. Geschlechtsspezifische Ratschläge zur Flirt- und Courtship-Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christina Margrit Siever Liebe über den Tod hinaus. Liebe im Kontext von Trauer um Sternenkinder auf Twitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nina-Maria Klug Vom Lieben im Leben nach dem Tod. Kommunikative Praktiken postmortaler Beziehungspflege am Baumgrab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lisa Rhein Die Liebe, der Tod und das Übernatürliche. Zur Versprachlichung intensiver Gefühle angesichts epistemischer Irritationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tanja Škerlavaj True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? Zum multimodalen Ausdruck der Liebe in Hochzeitsvideos von Influencer: innen auf YouTube Matthias Attig Voi che sapete che cosa è amor … Mozarts musikdramatische Imaginationen von Liebe aus sprachwissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothea Horst Redebruchstücke, Erinnerungsfetzen. Ein filmischer Diskurs der Liebe ohne Narrativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pamela Steen True Love? Inszenierte Tierliebe in Zoo-Doku-Soaps . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 265 295 Kristin Kuck Liebeserklärungen für Kinder. Die (Un-)Beschreibbarkeit der Liebe in Kinderbüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Waldemar Czachur & Steffen Pappert Praktiken der Vergemeinschaftung in der zwischenstaatlichen Beziehungsgestaltung als Freundschaftsbekundung. Aufgezeigt an den politischen Erklärungen um den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag 6 Inhalt <?page no="7"?> 1 Da in der linguistischen Forschung kein allgemeiner Konsens mit Blick auf die Definition von Emotion und Gefühl besteht (vgl. zum Überblick Ortner 2014), soll diese Diversität auch in diesem Band (re-)präsentiert werden, welcher der synonymen Verwendung von Emotion und Gefühl ebenso Raum bietet wie ihrer begrifflich scharfen Differenzierung. True Love Sprache(n) der Liebe in Text und Gespräch Nina-Maria Klug & Sina Lautenschläger Fragen nach der Gestaltung interpersonaler Beziehungen rückten spätestens mit der breit rezipierten und zugleich viel kritisierten psychologischen Arbeit von Watzlawick, Beavin und Jackson (1967) zunehmend in den Blick linguistischer Reflexion. Somit wurde - neben der sprachlichen Verfasstheit des zwischen‐ menschlichen Beziehungsmanagements (vgl. z. B. Holly 1979, 2001, Keller 1977, Sager 1981, Adamzik 1984, 1994, Buchmann/ Eisner 1997 u. v. m.) - der Zusammenhang von Sprache bzw. Sprachgebrauch und (spezifischer) Emotion bereits vor Dekaden zum relevanten Gegenstand linguistischer Theoriebildung, Methodenentwicklung und Analyse (vgl. z. B. Fiehler 1986, 1987, Spiegel 1995, Hermanns 1995, Schwitalla 1996 u. a.). Trotz des fortbestehenden linguistischen Forschungsinteresses an der sprachlichen bzw. kommunikativen Genese und Gestaltung von Beziehungen unterschiedlicher Art (vgl. z. B. Schwarz-Friesel 2007, Fiehler 2014, Ortner 2014, Linke/ Schröter 2017) wurde ein ganz alltäg‐ liches, zugleich aber gesellschaftlich hochrelevantes Phänomen bislang nur peripher berücksichtigt: die Liebe. Die vergleichsweise geringe Zahl von linguistischen Arbeiten, die sich spe‐ ziell Aspekten der Liebes(beziehungs)kommunikation zuwenden (vgl. u. a. Leisi 1983, Auer 1988, Döring 1999, Wyss 2000, 2005, 2014, Imo 2012, Mai/ Wilhelm 2015), erscheint umso verwunderlicher, als Liebe eine zentrale und besonders starke Beziehungsemotion  1 darstellt (vgl. Schwarz-Friesel 2013: 67), die für ganz verschiedene Beziehungskonstellationen - und damit mutmaßlich auch für <?page no="8"?> die beziehungsspezifische Kommunikation - grundlegend und bestimmend ist. Zu ihnen lassen sich zwischenmenschliche Beziehungen im erotischen oder platonischen Sinne (also Paarbeziehungen, familiäre oder freundschaftliche Beziehungen) ebenso zählen wie Beziehungen anderer Art, etwa die zu Gott, zu Tieren, zu Musikgruppen oder Sportvereinen, die Beziehung zur eigenen Nation, aber z. B. auch die Beziehung zwischen verschiedenen Staaten. Gemeinsam ist der liebenden Bezugnahme auf ein personales oder nicht-per‐ sonales Gegenüber, dass ihre Erwiderung zwar in aller Regel erwünscht oder sogar ersehnt ist, die Liebe jedoch nicht auf Reziprozität angewiesen ist. Viel‐ mehr ist die ,Gegenliebe‘ in bestimmten Konstellationen von Liebesbeziehung gerade nicht zu erwarten bzw. nicht einmal (mehr) möglich. Unter anderem des‐ halb kann Liebe einerseits als erfüllend, andererseits aber auch als schmerzhaft und quälend empfunden werden. Sie kann von denen, die lieben, in höchstem Maße positiv, aber auch stark negativ beurteilt werden. So vielfältig die Beziehungskonstellationen sind, in denen Liebe eine prägende Rolle spielt, so verschiedenartig können auch die sprachlichen bzw. kommuni‐ kativen Praktiken und Strategien des (versuchten) Aufbaus, der Intensivierung und der Pflege, aber auch des Abbruchs einer Liebesbeziehung sein. Mit diesen Strategien und Praktiken gehen je unterschiedliche Weisen des Ausdrucks bzw. der kommunikativen Darstellung von Liebe einher. Kurz gefasst heißt das: So different wie die Beziehungen selbst können damit potenziell auch die Sprachen der Liebe sein, die in Texten und Gesprächen kommunikativ realisiert werden. Sie sind eng geknüpft an einen kulturell normierten Lernprozess: Wie Men‐ schen im Laufe ihres Lebens Wissen darüber erwerben, bestimmte Körperzu‐ stände etwa als Angst oder Freude zu verstehen, so erfahren sie im Umgang mit sich selbst und mit anderen auch, was Zuneigung, Verliebtheit oder Liebe aus‐ macht. Sie lernen, woran man sie bei sich selbst und bei anderen erkennen kann, wovon sie sich typischerweise erschließen lassen. Somit wird Konventionelles und Musterhaftes angeeignet: Bestimmte Ausdrucks- und Verhaltensformen werden als Emotionsindikatoren (Fiehler 2014: 68; s. auch Benthien/ Feig/ Kasten 2000) wahrgenommen, ganz gleich, ob Liebe tatsächlich empfunden wird oder nicht. Menschen begegnen im Rahmen ihrer Sozialisation neben der Liebe selbst und ihren verschiedenartigen Formen und Ausprägungen (z. B. elterliche oder partnerschaftliche Liebe) daher auch verschiedenen Sprachen der Liebe und deren beziehungsbezogenem Potenzial. Dieses gibt einen Rahmen von Möglich‐ keiten vor, in dem sich zu bzw. mit einem Gegenüber in (wahrhaft gefühlter wie auch vorgetäuschter) Liebe, aber auch über Liebe kommunizieren lässt. 8 Nina-Maria Klug & Sina Lautenschläger <?page no="9"?> Kurzum: Die Mitglieder einer Kultur- und Sprachgemeinschaft erlernen im Hinblick auf die Sprache(n) der Liebe sowie ihren Gebrauch in Texten und Gesprächen die kulturellen Normen, Erwartungshaltungen und auch Regeln der Emotionalität (Hochschildt 1979, Fiehler 1986). Diese beziehen sich z. B. auf die Frage, welche Texte bzw. Textsorten, kommunikativen Gattungen und Kom‐ munikationsformen in spezifischen Situationen und Konstellationen überhaupt genutzt werden können und welche besser nicht genutzt werden sollten (vgl. z. B. Fiehler 2001, 2014). Sie betreffen zudem Aspekte, die auf die Möglichkeiten ihrer konkreten sprachlichen Ausgestaltung abzielen und sich sowohl direkt als auch indirekt manifestieren können. Das Spektrum reicht, je nach konkreter Situation und Beziehungskonstellation, von expliziten gefühlsbezeichnenden Äußerungen wie „Ich liebe dich“ und/ oder anderen direkten sprachlichen Ge‐ brauchsformen bis hin zu indirekten Formen des kommunikativen Ausdrucks. Zu ihnen zählen z. B. metaphorisierende oder ironisierende Bezeichnungen, Umschreibungen oder Andeutungen. Sie können sich sogar musterhaft anhand von (Ver-)Schweigen zeigen (vgl. Lautenschläger 2021, 2022). Damit werden also auch Phänomene tangiert, die sich an der Grenze von Sprache - Nicht-Sprache bewegen. Sie schließen auch Aspekte multimodaler Kommunikation mit ein (vgl. Klug/ Stöckl 2016), so z. B. die spezifische Stimm- oder Schriftgestaltung, aber auch den zumeist sprachergänzenden, mitunter sprachsubstituierenden Ein‐ bezug von Ausdrucksbzw. Darstellungsformen nicht-sprachlicher, etwa bildlicher oder musikalischer Art in die Liebeskommunikation (vgl. Klug 2021). Die Beiträge dieses Sammelbandes gehen solchen und weiteren Ausdrucks‐ formen der Sprache(n) der Liebe in Text und Gespräch auf den Grund. Florian Busch widmet sich anhand von Online-Diskursen in Lifestyle-Ma‐ gazinen, Online-Foren und YouTube-Videos von Dating-Coaches der Bedeu‐ tung von Zeitlichkeit in interpersonaler Kommunikation. Gerade bei sich anbahnenden romantischen Beziehungen spielt die Frage, innerhalb welcher Zeitspanne eine via Messenger versendete Nachricht nicht nur gelesen, sondern auch beantwortet wird, eine besondere Rolle. Zeitlichkeit wird dabei als ein äu‐ ßerst relevantes Metazeichen mit beziehungsprägender Wirkkraft verstanden, das in den analysierten Kommunikationsformen unterschiedlich valorisiert wird. Sina Lautenschläger befasst sich ebenfalls mit Online-Diskursen, bezieht sich aber auf Ratgeber-Websites, die sich mit der Beantwortung der Frage Wie erobere ich sein Herz? bzw. Wie erobere ich ihr Herz? beschäftigen. Neben der generellen Auseinandersetzung mit der Textsorte Ratgeber wird dabei unter text- und genderlinguistischer Perspektive betrachtet, welche Liebes- und Flirt-Normen in den Ratschlägen implizit wie explizit zum Vorschein kommen und welche True Love 9 <?page no="10"?> Manifestationen als geschlechtsspezifisch angemessen gelten, um das begehrte Gegenüber erfolgreich umwerben zu können. Wie sehr Liebe mit Tod und Trauer in Verbindung steht und dass interper‐ sonale Liebeskommunikation mit dem Tod eines Beziehungsgegenübers nicht zwangsläufig ihr Ende findet, veranschaulichen gleich drei Beiträge im Band. Christina Margrit Siever beschreibt, wie Eltern von sogenannten Sternenkin‐ dern, also von Kindern, die vor, während oder nach ihrer Geburt verstorben sind, ihrer auf Liebe basierenden Trauer in multimodalen Tweets Ausdruck verleihen. Dabei bezieht sie sich insbesondere auf die verwendeten Hashtags und deren Funktionen, die über eine bloße Verschlagwortung hinausgehen, sowie auf den musterhaften Gebrauch von Emojis im Rahmen einer Liebeskommunikation, die über den Tod des Kindes hinausreicht. Nina-Maria Klug betrachtet Texte, die von Hinterbliebenen erlaubter- und unerlaubterweise an den Gräbern ihrer Verstorbenen in einem Bestattungswald platziert wurden. Sie arbeitet heraus, wie Hinterbliebene ihre (bleibende) Liebe zu und gegenüber den Toten textbasiert, d. h. sprachlich wie auch multimodal, bekennen sowie versichern und in welcher Art und Weise sie die Beziehung zur verstorbenen Person auch nach deren Tod kommunikativ pflegen und aufrechterhalten. Lisa Rhein zeigt auf Basis von Briefen und E-Mails aus der Fallsammlung der Parapsychologischen Beratungsstelle in Freiburg (PPB), wie Menschen mit außergewöhnlichen Erfahrungen umgehen und wie sie ihre Gefühle als Reak‐ tionen auf diese Erlebnisse zum Ausdruck bringen. Die Erfahrungen beziehen sich entweder auf den befürchteten, oder aber bereits erlittenen Verlust einer geliebten Person und lassen sich in die Bereiche Nachtod-Kontakte, Zeichen aus dem Jenseits sowie Wahrträume und Hellsichtigkeit mit dem Fokus auf Tod(esfälle) unterteilen. Tanja Škerlavaj greift Fragen der authentischen Darstellung wie auch der Inszenierung von ‚wahrer Liebe‘ im Zusammenhang mit Eheschließungen auf, die deutsche Lifestyle-Influencerinnen in ihren YouTube-Hochzeitsvideos mit der Netz-Öffentlichkeit teilen. Sie beleuchtet aus textbezogener, multimodali‐ tätsorientierter Perspektive sprachliche und nicht-sprachliche Mittel, durch die Liebe in den analysierten Videos ausgedrückt wird. Dabei findet die Frage nach der Rolle von Liebesinszenierungen im Rahmen des Selbstmarketings von Influencerinnen Berücksichtigung. Matthias Attig wendet sich in seinem Beitrag gleichfalls multimodalen As‐ pekten der Darstellung und Deutung von Liebe zu, mit spezifischem Fokus auf Opern Mozarts. Ausgehend von einer semiotischen Musikkonzeption reflektiert er die Rolle und das symbiotische Zusammenspiel von Sprache, Stimme und 10 Nina-Maria Klug & Sina Lautenschläger <?page no="11"?> Musik, aber auch von (gestischer) Interaktion der Charaktere und zeigt so, wie Liebesbewusstsein und Liebeserfahrung in der musikdramatischen Insze‐ nierung erfahrbar, spürbar und so auch begreifbar werden. Dorothea Horst beleuchtet unter Berücksichtigung von Multimodalität und Multimedialität die Vielfalt und Uneindeutigkeit von Liebe bzw. von Liebes‐ konzeptionen im Diskurs. Die Grundlage ihrer Reflexion bilden der Holly‐ wood-Spielfilm „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ (Michel Gondry 2004) und Roland Barthes‘ philosophische Abhandlung „Fragments d’un discours amoureux“ (1977). In der Analyse stellt sie auch das Wechselspiel von rekur‐ renten Mustern und konkreten situativen Praktiken heraus, die den Liebesdis‐ kurs sinnlich erfahrbar machen - und zwar medienspezifisch. Pamela Steen geht medien- und gesprächslinguistisch der Frage nach, wie Tierliebe in Zoo-Doku-Soaps sprachlich und multimodal dargestellt wird. Mit Rekurs auf die Tierlinguistik erörtert sie, welches Mensch-Zootier-Verhältnis sich in den Soaps manifestiert und in welcher Art und Weise dies kommunikativ realisiert wird. Dabei kommt der sprachlichen Rahmung durch die Off-Kom‐ mentare eine besondere Bedeutung zu. In ihrer Analyse zeigt sie, wie Vorstel‐ lungen menschlicher, romantischer Liebe auf die Zootiere übertragen werden und dass dabei naturalisierte und anthropomorphisierende Gender-Aspekte eine übergeordnete Rolle spielen. Kristin Kuck entfaltet Eigenschaften der Liebeskommunikation ebenfalls unter Bezugnahme auf Tiere. Konkret betrachtet sie Kinderbücher, in denen anthropomorphisierten Tieren die Rolle von Mittler*innen des Konzepts Liebe für Kinder zugewiesen wird. Sie arbeitet der narrativen Themenentfaltung folgend die Ausdrucksformen, Manifestationen und Thematisierungen sprach‐ licher und bildlicher Art heraus, mit denen Kindern Liebe in den Texten nähergebracht und erklärt wird. Dabei wird auch die zentrale Rolle des Unbe‐ schreibbarkeits-Topos herausgestellt, vor dessen Hintergrund Liebe standardi‐ siert mystifiziert und auch sakralisiert wird. Waldemar Czachur und Steffen Pappert schließlich heben am Beispiel des deutsch-polnischen Verhältnisses die Rolle der Sprache für die zwischenstaat‐ liche Beziehungsgestaltung hervor. Auf Grundlage der politischen Erklärungen um den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag 1991 arbeiten sie nicht nur Praktiken der Inszenierung bilateraler Vergemeinschaftung und der Konstitu‐ tion zwischenstaatlicher Beziehungen heraus, sondern auch Vergemeinschaf‐ tungspraktiken, die der Konstitution von Wir-Gruppen dienen und denen in zwischenstaatlichen Relationen ein besonderes beziehungsgestalterisches Potenzial zukommt. True Love 11 <?page no="12"?> Wie die knappen Zusammenfassungen der Einzelbeiträge zeigen, weisen die Untersuchungsgegenstände, die in diesem Band behandelt werden, ein breites Spektrum auf. Ihre empirische Basis reicht von politischen Dokumenten, Kinderbüchern, Hochzeitsvideos und Opern über romantische Filmdramen, Zoo-Doku-Soaps, Dating-Ratgeber und Trauer-Foren bis hin zu kleinen Texten am Grab. Obwohl darüber hinaus auch die methodischen Zugriffe der Einzel‐ beiträge variieren, teilen sie sich eine Gemeinsamkeit: Alle Beiträge arbeiten Muster der Liebesbzw. Beziehungskommunikation heraus. Die Frage, wie Liebe sprachlich und multimodal hergestellt, beschrieben, verhandelt, gefestigt und (sogar über den Tod hinaus) gepflegt wird, steht beitragsübergreifend im Zentrum des jeweiligen Interesses. Wir danken Kersten Sven Roth (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg) sehr herzlich für die Unterstützung bei der Finanzierung dieses Bandes. Literatur Adamzik, Kirsten (1984). Sprachliches Handeln und sozialer Kontakt. Zur Integration der Kategorie „Beziehungsaspekt“ in eine sprechakttheoretische Beschreibung des Deutschen. Tübingen. Adamzik, Kirsten (1994). Beziehungsgestaltung in Dialogen. In: Fritz, Gerd/ Hundsnur‐ scher, Franz (Hrsg.) Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen, 357-374. Auer, Peter (1988). Liebeserklärungen. Oder: Über die Möglichkeiten, einen unmöglichen Handlungstyp zu realisieren. Sprache und Literatur 61, 11-31. Benthien, Claudia/ Fleid, Anne/ Kasten, Ingrid (Hrsg.) (2000). Emotionalität. Zur Ge‐ schichte der Gefühle. Köln. Buchmann, Marlis/ Eisner, Manuel (1997). Selbstbilder und Beziehungsideale im 20. Jahr‐ hundert. In: Hradil, Stefan (Hrsg.) Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Dresden 1996. Frankfurt a.-M., 343-357. Döring, Nicola (1999). Romantische Beziehungen im Netz. In: Thimm, Caja (Hrsg.) Soziales im Netz. Wiesbaden/ Opladen, 39-70. Fiehler, Reinhard (1986). Zur Konstitution und Prozessierung von Emotionen in der Interaktion. In: Kallmeyer, Werner (Hrsg.) Kommunikationstypologie. Handlungs‐ muster, Textsorten, Situationstypen. Jahrbuch 1985 des Instituts für Deutsche Sprache. Düsseldorf, 280-325. Fiehler, Reinhard (1987). Zur Thematisierung von Erleben und Emotion in der Interak‐ tion. Zeitschrift für Linguistik 8: 5, 559-572. 12 Nina-Maria Klug & Sina Lautenschläger <?page no="13"?> Fiehler, Reinhard (2001). Emotionalität im Gespräch. In: Brinker, Klaus et al. (Hrsg.) Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Bd. 2. Berlin/ New York, 1425-1438. Fiehler, Reinhard (2014). Wie man über Trauer sprechen kann. Manifestation, Deutung und Prozessierung von Trauer in der Interaktion. In: Plotke, Seraina/ Ziem, Alexander (Hrsg.) Sprache der Trauer. Verbalisierungen einer Emotion in historischer Perspek‐ tive. Heidelberg, 49-76. Hermanns, Fritz (1995). Kognition, Emotion, Intention. Dimensionen lexikalischer Se‐ mantik. In: Harras, Gisela (Hrsg.) Die Ordnung der Wörter. Kognitive und lexikalische Strukturen. Berlin/ New York, 138-178. Hochschild, Arlie Russell (1979). Emotion Work, Feeling Rules, and Social Structure. American Journal of Sociology 85: 3, 551-575. Holly, Werner (1979). Imagearbeit in Gesprächen. Zur linguistischen Beschreibung des Beziehungsaspekts. Tübingen. Holly, Werner (2001). Beziehungsmanagement und Imagearbeit. In: Brinker, Klaus et al. (Hrsg.) Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Bd. 2. Berlin/ New York, 1382-1393. Imo, Wolfang (2012). Fischzüge der Liebe: Liebeskommunikation in deutschen und chinesischen SMS-Sequenzen.-Linguistik Online-56: 6. Abrufbar unter: https: / / bop.un ibe.ch/ linguistik-online/ article/ view/ 6580/ 9165 (Stand: 30.09.2023) Keller, Rudi (1977). Kollokutionäre Akte. Germanistische Linguistik 1-2, 4-50. Keller, Rudi (1995). Zeichentheorie. Zu einer Theorie semiotischen Wissens. Tübingen/ Basel. Klug, Nina-Maria (2021). (Afro)Deutschsein. Eine linguistische Analyse der multimo‐ dalen Konstruktion von Identität. Berlin/ Boston. Klug, Nina-Maria/ Stöckl, Hartmut (Hrsg.) (2016). Handbuch Sprache im multimodalen Kontext. Berlin/ Boston. Lautenschläger, Sina (2021). Willst du gelten, mach dich selten: Tabu und Schweigen in interpersonalen Beziehungen. In: Kuck, Kristin (Hrsg.) Tabu-Diskurse. Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 2, 212-229. Lautenschläger, Sina (2022). Schweigen in einer digitalen Welt. Sprechen & Kommuni‐ kation - Zeitschrift für Sprechwissenschaft, 19-36. Abrufbar unter: https: / / www.spr echwissenschaft.org/ wissenschaft/ schweigen-digitale-welt (Stand: 30.09.2023) Leisi, Ernst (1983). Paar und Sprache. Heidelberg. Linke, Angelika/ Schröter, Juliane (Hrsg.) (2017). Sprache und Beziehung. Berlin/ Boston. Mai, Lisa/ Wilhelm, Judith (2015). Ich weiß, wann du online warst, Schatz. Die Bedeutung der WhatsApp-Statusanzeigen für die Paarkommunikation in Nah- und Fernbezie‐ hungen. Marburg. True Love 13 <?page no="14"?> Ortner, Heike (2014). Text und Emotion. Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele emotionslinguistischer Textanalyse. Tübingen. Sager, Sven Frederik (1981). Sprache und Beziehung. Linguistische Untersuchungen zum Zusammenhang von sprachlicher Kommunikation und zwischenmenschlicher Beziehung. Tübingen. Schwarz-Friesel, Monika (2007). Sprache und Emotion. Tübingen/ Basel. Spiegel, Carmen (1995). Streit. Eine linguistische Untersuchung verbaler Interaktionen in alltäglichen Zusammenhängen. Tübingen. Watzlawick, Paul/ Beavin, Janet H./ Jackson, Don D. (1967). Pragmatics of Human Comm‐ nication. A Study of Interactional Patterns, Pathologies, and Paradoxes. New York. Wyss, Eva L. (2000). Intimität und Geschlecht. Zur Syntax und Pragmatik der Anrede im Liebesbrief des 20. Jahrhunderts. In: Elmiger, Daniel/ Wyss, Eva L. (Hrsg.) Sprachliche Gleichstellung von Frau und Mann in der Schweiz. La féminisation de la langue en Suisse. La femminilizzazione della lingua in Svizzera. L’egualitad linguistica da dunna ed um en Svizra. (Bulletin VALS/ ASLA 72), 187-210. Wyss, Eva L. (2005). Leidenschaftlich eingeschrieben. Schweizer Liebesbriefe. Zürich. Wyss, Eva L. (2014). Communication of Love. Mediatized Intimacy from Love Letters to SMS. Interdisciplinary and Historical Studies. Bielefeld. 14 Nina-Maria Klug & Sina Lautenschläger <?page no="15"?> Zeitlichkeit und Online-Dating-Kommunikation: Metatemporale Diskurse über Rhythmen digitaler Interaktion Florian Busch Abstract: Der Beitrag widmet sich den metapragmatischen Diskursen rund um Zeitlichkeit und Rhythmus in der Online-Dating-Kommunikation. Wie viel Zeit vergeht, bis eine Nachricht nicht nur gelesen, sondern auch be‐ antwortet wird, wird gerade in Kontexten sich anbahnender romantischer Beziehungen als Metazeichen interpretiert. Vor diesem Hintergrund liefert der Beitrag eine Analyse chrononormativer Ideologien, auf deren Basis Ak‐ teur: innen Rhythmus als kommunikativ bedeutsam konstruieren. Der Beitrag zeichnet anhand der Diskurse in Lifestyle-Magazinen, Online-Foren und You- Tube-Videos nach, welche Diskurspositionen den Umgang mit Zeitlichkeit in der digitalen Liebeskommunikation sozial valorisieren, in welcher Weise temporale Normen verhandelt werden und wie Rhythmen soziale Indexika‐ lität zugeschrieben wird. Der Beitrag argumentiert für die Beschäftigung mit der Zeichenhaftigkeit von Zeit und weitet das diskurslinguistische Interesse an Kommunikationsideologien auf metatemporale Diskurse aus. Keywords: Zeitlichkeit, Rhythmus, digitale Interaktion, Online-Dating, Me‐ tapragmatik, Kommunikationsideologie, Korpuslinguistik, Diskurslinguistik 1 Einleitung Dass Aspekte der Zeitlichkeit von Online-Dating-Kommunikation für Nutzer: innen entsprechender Plattformen von zentralem Belang sind, zeigt ein Blick in die Online-Foren der zwei großen Dating-Portale Parship und <?page no="16"?> 1 https: / / community.elitepartner.ch/ forum/ und https: / / community.parship.ch/ forum/ (Stand: 21.12.2022). Elitepartner. 1 Dort finden sich Diskussionen, die wie folgt betitelt wurden und mit denen in den vergangenen zehn Jahren immer wieder zur expliziten Reflexion über die angemessene Wartezeit auf Antwortnachrichten eingeladen wurde: (1) Wie lange gebt ihr einen Mann Zeit um auf Whatsapp zu antworten? (Par‐ ship-Forum, 12.04.2021) (2) whatsapp-Kontakt - wie lange auf Antwort warten? (Parship-Forum, 28.10.2018) (3) Wie schnell sollte eine Antwort kommen? (Elitepartner-Forum, 07.05.2020) (4) Meine Bekanntschaft lässt sich viel Zeit mit Antworten (Elitepartner-Forum, 25.08.2014) Solche öffentlichen Zeitlichkeitsdiskurse über Online-Dating-Kommunikation im Speziellen und Liebeskommunikation im Allgemeinen, in denen der tem‐ poralen Struktur von digitalen Nachrichtenwechseln kommunikative Bedeu‐ tungen zugewiesen bzw. temporale Normen verhandelt werden, stehen im Zentrum dieses Beitrags. Grundsätzlicher wird es mir im Folgenden darum gehen, einer Zeichenhaftigkeit von Zeit in digitalen Interaktionen auf die Spur zu kommen, die im Kontext von Online-Dating-Praktiken zwar besonders häufig explizite Reflexion erfährt, aber auch in digitaler Kommunikation ab‐ seits romantischer Partner: innensuche eine wichtige semiotische Ressource darstellt. Denn wie viel Zeit vergeht, bis eine Textnachricht nicht nur gelesen, sondern auch beantwortet wird, hat auch in anderen kommunikativen Bezie‐ hungskonstellationen das Potenzial, als sozial und kommunikativ bedeutsamer Kontextualisierungshinweis interpretiert zu werden. Dass öffentliche Diskurse über Zeitlichkeit und digitale Interaktion dennoch häufig auf die soziale Praxis des Online-Dating abheben, mag verschiedene Gründe haben. Zuvorderst spielen hierbei sicher die für Online-Flirts konstitu‐ tive Vagheit, spielerische Ambivalenz und grundsätzliche semantische Offen‐ heit eine entscheidende Rolle: Neben der Unklarheit über die „wirkliche“ Identität des Kommunikationspartners soll auch vage bleiben, ob und wann der Brief [bzw. die Nachricht, FB] gelesen wird. Ebenso denkt man in diesem Szenario die Möglichkeit der ausbleibenden Antwort mit. So bleibt der Zustand unsicher und voller Spannung, offen, ob die Kommunikation um einen weiteren vieldeutigen Text ergänzt würde. (Wyss 2010: 112) 16 Florian Busch <?page no="17"?> Diese andauernde Vieldeutigkeit erregt so aber auch das gegenläufige Bedürfnis nach metakommunikativem Diskurs (sei dies im Freundeskreis oder eben in öffentlichen Online-Foren), in dem sich Akteur: innen metapragmatische Vereindeutigung erhoffen und ihre Flirt-Kommunikation auf den Prüfstand stellen. Im Zuge dessen stellt sich dann oft auch die Frage, wie viel Zeit sich das kommunikative Gegenüber zum Antworten nimmt und welche Schlüsse aus dieser Zeitspanne zu ziehen seien. Der vorliegende Beitrag wird dieser Aushandlung von Indexikalität der Zeitlichkeit in Online-Dating-Interaktionen auf den Grund gehen und glie‐ dert sich für diesen Zweck in sieben Abschnitte. Nachdem in Abschnitt 2 Online-Dating-Kommunikation zunächst als linguistischer Forschungsgegen‐ stand vorgestellt wird, ist Abschnitt 3 jener Forschungsliteratur gewidmet, die sich einerseits grundsätzlich mit der Rolle von Zeitlichkeit und Rhythmus in Interaktionen auseinandersetzt, sowie andererseits bereits Rhythmus als semio‐ tische Ressource in digital-vermittelten Interaktionen herausarbeiten konnte. In Abschnitt 4 verengt sich die Diskussion dann auf die Rolle metatemporaler Diskurse bei der Herstellung interaktional relevanten Vorwissens, Abschnitt 5 nimmt schließlich dezidiert metatemporale Diskurse über Online-Dating-In‐ teraktionen in den Blick und stellt zwei zentrale Diskurspositionen dar, die sich in öffentlichen Online-Beiträgen beobachten lassen. Abschnitt 6 fokussiert vor dieser Hintergrundfolie dann eine spezifische Akteur: innengruppe, deren Positionen im Metadiskurs besonders sichtbar sind: Online-Dating-Coaches auf YouTube. Anhand eines Korpus aus Transkriptionen von YouTube-Videos eben dieser ‚Coaches‘ legt der Beitrag die kommunikationsideologischen Annahmen offen, auf deren Basis hier metatemporale Handlungsempfehlungen für eine ‚erfolgreiche‘ Online-Dating-Kommunikation gegeben werden. Abschnitt 7 rekapituliert schließlich die zentralen Ergebnisse. 2 Linguistische Perspektiven auf Online-Dating Ein Drittel aller Internetnutzer: innen in Deutschland macht Gebrauch von On‐ line-Dating-Angeboten (vgl. Bitkom Research 2022: o.S.). Die Hoffnung, eine: n Partner: in im Netz zu finden, ist dabei in den verschiedenen Altersgruppen ähnlich ausgeprägt. Sowohl bei den 16bis 29-Jährigen als auch bei den 50bis 64-Jährigen nutzt jede: r Dritte entsprechende Anwendungen; bei 30bis 49-Jährigen liegt der Wert sogar bei 39 % (vgl. Bitkom Research 2022: o.S.). Seit dem Aufkommen von ersten Online-Dating-Websites in der Mitte der 1990er-Jahre hat sich die Suche nach romantischen Beziehungen im Netz als eine alltägliche Praxis in der Gesamtbevölkerung etabliert (vgl. Bergström 2022) und Zeitlichkeit und Online-Dating-Kommunikation 17 <?page no="18"?> kann als wesentlicher Ausdruck einer Mediatisierung intimer Kommunikation verstanden werden (vgl. Krotz 2014). Gleichzeitig ging diese weitreichende Entwicklung mit einer enormen Aus‐ differenzierung einher. Medientypologisch lässt sich mindestens unterscheiden zwischen Portalen mit Online-Kontaktanzeigen, die Nutzer: innen mittels einer Suchfunktion durchstöbern können, und Online-Partner: innenvermittlungen, bei denen durch sogenanntes ‚Matching‘ vom System potenzielle Partner: innen vorgeschlagen werden (vgl. Aretz et al. 2017: 9). Zudem differenzieren sich Online-Dating-Angebote hinsichtlich der sozialen Gruppen aus, die sie als Nutzer: innen adressieren (etwa in Bezug auf Alter, sexuelle Orientierung oder subkultureller Zugehörigkeit), sowie in Bezug zu den primären Nutzungsmo‐ tiven, die von der Suche nach einem temporären Online-Flirt oder unverbind‐ lichen Sexualkontakten bis hin zum Interesse an einer dauerhaften Beziehung reichen können. Bei allen Unterschieden, die es also gemeinhin verbieten, von dem On‐ line-Dating zu sprechen, gleichen sich die allermeisten Online-Dating-Angebote doch zumindest darin, dass die Kommunikation zwischen Nutzer: innen primär schrift-basiert vonstatten geht. Dies betrifft zum einen das Erstellen von Profil‐ seiten, auf denen sich die Nutzer: innen potenziellen Partner: innen vorstellen und auf denen neben der Präsentation von Fotos auch schriftlich Auskunft über die eigene Person und Absichten auf der Plattform gegeben wird. Zum anderen läuft auch die Kontaktaufnahme sowie die erste anbahnende Kommunikation in der Regel mittels geschriebener Textnachrichten ab. Viele Plattformen stellen ihren Nutzer: innen hierfür Messenger-Systeme zur Verfügung, in denen sich die versendeten Mitteilungen beider Beteiligten in einem chronologisch geordneten Bildschirmprotokoll nachvollziehen lassen, ähnlich wie dies auch von mobilen Messenger-Apps wie zum Beispiel WhatsApp oder Telegram dargestellt wird. Eine solche dyadische Online-Dating-Kommunikation lässt sich in An‐ schluss an Beißwenger (2020) als textformen-basierte Interaktion fassen. Zwar unterscheidet sich diese Kommunikation aufgrund der zeitlich und räumlich entkoppelten Produktions- und Rezeptionssituationen sowie der schriftlichen Medialität strukturell von synchronisierten Face-to-Face-Interaktionen. Mit Blick auf das kollaborative Handeln der Beteiligten, die sequenzielle Verkettung ihrer Beiträge in der Zeit (die untereinander durch konditionelle Relevanzen in Bezug stehen) sowie die Konstruktion eines geteilten Verweisraumes lässt sich aber durchaus von Interaktionalität im engeren Sinne sprechen (vgl. Imo 2015: 25). Wie es Menschen nun sowohl bei dem Erstellen ihrer monologischen Pro‐ filtexte als auch im Zuge solcher textformen-basierten Interaktionen gelingt 18 Florian Busch <?page no="19"?> (oder häufig auch nicht gelingt), romantische und/ oder sexuelle Beziehungen zu erschreiben, welche schrift-basierten Praktiken sie also zum Erreichen ihrer kommunikativen Ziele ausbilden, ist dabei eine gleichermaßen gesellschaftlich relevante wie auch sprachwissenschaftlich faszinierende Fragestellung. Dem‐ entsprechend hat sich in den vergangenen Jahren eine übersichtliche, aber vielfältige linguistische Forschungsliteratur akkumuliert, die sich mit Sprachge‐ brauch im Kontext des Online-Dating auseinandersetzt. So untersuchen Studien zum einen, welche sprachlichen Mittel als typisch für die von Nutzer: innen erstellten Profilseiten gelten können (vgl. Toma/ Hancock 2012, Dürscheid 2017, van der Zanden 2021, Bogetić 2021, Thompson 2022). Zum anderen nehmen Arbeiten den interaktionalen Austausch zwischen den Nutzer: innen in den Blick und zeichnen nach, mit welchen sprachlichen Strategien Beteiligte auf Online-Dating-Plattformen soziale Beziehungen eingehen, aufrechterhalten und transformieren (vgl. u. a. Jones 2005, 2013, Del-Teso-Craviotto 2008, King 2011, Schoendienst/ Dang-Xuan 2011, Marx 2012, Huang/ Hancock 2021, Licoppe 2021). Im vorliegenden Beitrag knüpfe ich nun eher an diesen interaktionsanalyti‐ schen Forschungsstrang an, indem auch mich die kommunikativen Praktiken in dyadischen Online-Dating-Interaktionen interessieren. Anders als in den angeführten Studien wird hierbei allerdings der öffentliche Metadiskurs, der diese Online-Praktiken betrifft, im Zentrum einer metapragmatischen Analyse stehen (vgl. Thurlow 2017, Droz-dit-Busset 2022). Es wird also aus einer kritisch-diskursanalytischen Perspektive rekonstruiert, in welcher Weise ver‐ schiedene Akteur: innen die kommunikationsideologische Frage verhandeln, wie Online-Dating-Interaktionen ablaufen sollten - und welche sozialen und kommunikativen Bedeutungen Abweichungen von diesen diskursiven Norm‐ setzungen zuzuschreiben seien. Metapragmatische Analysen dieser Art, die kommunikatives Handeln untersuchen, das seinerseits auf kommunikatives Handeln verweist (vgl. Spitzmüller 2013: 264), können dabei an interaktionsanalytische Ansätze rückgebunden werden, indem sie einen ethnographischen Zugang zu Wissensbeständen eröffnen, auf deren Basis Akteur: innen in On‐ line-Dating-Kontexten kommunikativ handeln. So werden in Metadiskursen nämlich solche Handlungserwartungen explizit, die die Produktion und Rezep‐ tion von Textnachrichten maßgeblich bedingen (können). Von besonderem Interesse wird dabei im Folgenden vor allem sein, welche temporalen Normen die Diskursbeteiligten für Interaktionen konstruieren und wie diese normativen Erwartungen dann eine Indexikalität temporaler Gestalten ermöglichen - wie also Zeitlichkeit und Rhythmus zur interaktionalen Ressource in der Online-Da‐ ting-Kommunikation werden. Zeitlichkeit und Online-Dating-Kommunikation 19 <?page no="20"?> 3 Zeitlichkeit und Rhythmus in (digitalen) Interaktionen Schon früh hat die Interaktionale Linguistik darauf aufmerksam gemacht, dass sich die strukturellen Merkmale sprachlicher Interaktionen vor allem auf deren Prozesshaftigkeit zurückführen lassen und Zeitlichkeit dementsprechend eine zentrale Dimension linguistischer Forschung sein sollte (vgl. Auer et al. 1999, Goodwin 2002, Hausendorf 2007, Hopper 2011; Deppermann/ Günthner 2015, Mondada 2018, Mushin/ Pekarek Doehler 2021). Sprachgebrauch - und in dieser Literatur vor allem: mündlicher Sprachgebrauch - wird dann als genuin zeitliches Phänomen ernst genommen und es wird gezeigt, wie sich sprachliche Formen und ihre Funktionen „in zeitgebundenen Praktiken im Prozess“ entfalten (Günthner/ Hopper 2010: 4, Herv. i. O.). Damit liegt der Fokus zum einen auf der inkrementellen Produktion von Äußerungen einzelner Sprecher: innen in der Zeit (vgl. Auer 2000, 2007), zum anderen aber auch auf der prozesshaften Ent‐ wicklung kollaborativer Handlungssequenzen durch mehrere Sprecher: innen in ihrer „sequence time“ (Goffman 1976: 257, vgl. auch Enfield 2013: 28-35). Diese Perspektive legte so auch den Grundstein dafür, in der zeitgebundenen Realisierung von sprachlichen Formen ein fundamentales Variationspotenzial zu erkennen, das der Funktionalisierung durch Interaktionsbeteiligte offensteht: Sprecher: innen können sich schnell oder langsam artikulieren, in einer gege‐ benen Zeit vergleichsweise wenige oder viele Akzentuierungen realisieren oder auch das Rederecht hastig und überlappend oder erst nach einer Pause übernehmen. Resultat dieser Platzierung von sprachlichen Formen im zeitli‐ chen Verlauf eines Gesprächs ist stets eine spezifische rhythmische Gestalt, ver‐ standen als ein „in der Zeit rekurrente[s] Ereignismuster“ (Auer/ Couper-Kuhlen 1994: 79, vgl. auch Zollna 1995), die entweder von nur eine: r Sprecher: in oder von mehreren Gesprächsteilnehmer: innen gemeinsam realisiert wird (vgl. Couper-Kuhlen/ Selting 2018: 77f.). Eine solche rhythmische Gestalt kann für Beteiligte grundsätzlich kommunikativ und/ oder sozial interpretierbar sein - ganz ähnlich wie auch andere Variationsdimensionen (etwa auf Ebene der Lau‐ tung, Morphologie oder Syntax) als bedeutsame Kontextualisierungshinweise einen Interpretationsrahmen für Äußerungen aufzeigen (vgl. Erickson 1992, Auer et al. 1999). So stellen etwa Auer et al. (1999: 29) dar, wie durch eine im Vergleich hohe Zahl von Akzenten und eine niedrige Zahl produzierter Silben in einer bestimmten Zeiteinheit die thematische Relevanz einer Intonationsphrase im Gespräch rhythmisch angezeigt wird, Rhythmus also der Intensivierung dient. Dabei wird deutlich, dass Beteiligte nicht an absoluten Zeitintervallen orientiert sind, sondern die erlebte, relationale Zeit, die sich aus der Relation zur etablierten rhythmischen Struktur eines Gesprächs ergibt, relevant ist: Während 20 Florian Busch <?page no="21"?> eine Pause von einer Sekunde in Gesprächen mit schnellem Rhythmus schon als unangenehme Stille auffallen mag, bleibt eine Sekunde ohne Rede in gemäch‐ licheren Gesprächen möglicherweise gänzlich unbemerkt (vgl. Imo/ Lanwer 2019: 97). Die zur Interpretation rhythmischer Kontextualisierungsverfahren nötige Hintergrundfolie ist also immer der etablierte interaktionale Rhythmus, mit dem sich Sprecher: innen entweder unmarkiert synchronisieren oder der durchbrochen wird, um eine neue Kontextqualität zu indizieren. Eine solche Kontextualisierung kann im Fall einer gemeinsamen rhythmischen Modulation präferiert sein. Zum Beispiel vermittelt das synchronisierte Verschnellern des Rhythmus in der Schlussphase eines Gesprächs „ein gestei‐ gertes Erlebnis des ‚Miteinander‘, das vor dem Auseinanderbrechen dieses ‚Mit‐ einander‘ von ritueller wie auch emotionaler interaktiver Bedeutung ist“ (Auer 2020: 96). Andersherum kann die einseitige Verletzung einer rhythmischen Ge‐ stalt von Beteiligten als kommunikativ bedeutsames Problem wahrgenommen werden: „The destruction or breaking down of a shared rhythm within a sequence is a marked, often dispreferred option, producing a tacit understand that ,‘we have a problem’ or ,‘this needs notice’, depending on the situation“ (Couper-Kuhlen/ Selting 2018: 80, vgl. auch Tannen 1984: 192). Während rhythmische Kontextualisierungsverfahren in dieser Weise für direkte Interaktionen auf Basis gesprochener Sprache sowie gestischer Zeichen (vgl. Goodwin 2002, Mondada 2018) vergleichsweise gut erforscht sind, finden sich zur kontextualisierenden Funktion von Zeitlichkeit und Rhythmus in digitalen schriftbasierten Interaktionen bislang nur vereinzelte linguistische Überlegungen. Das mag mit Blick auf die germanistische Medienlinguistik mit‐ unter daran liegen, dass Zeitlichkeit von Medienkommunikation vornehmlich bezüglich der technisch inhärenten Zeitlichkeitsbedingungen von Kommunika‐ tionsmedien diskutiert wurde, um so etwa asynchrone von (quasi-)synchronen Kommunikationsformen zu unterscheiden (vgl. Dürscheid 2003: 49). Im me‐ dienlinguistischen Fokus stand bislang also vor allem, welchen temporalen Strukturen sich Kommunikationsbeteiligte unterwerfen müssen (insbesondere, weil Produktions- und Rezeptionszeit in schriftbasierten Interaktionen unhin‐ tergehbar entkoppelt sind, vgl. Beißwenger 2020: 302) und weniger, wie Medi‐ ennutzer: innen Zeitlichkeit als kommunikative Ressource heranziehen. Dennoch merken einzelne Arbeiten an, dass auch Beteiligte in schriftba‐ sierten digitalen Interaktionen daran orientiert sind, den Rhythmus ihrer Nach‐ richtenwechsel miteinander zu synchronisieren (vgl. Walther/ Tidwell 1995, Siqueira/ Herring 2009, Jones 2013). Einerseits stellt diese Forschung heraus, dass Rhythmus eine wesentliche Orientierungsdimension für Interagierende sein kann, um in quasi-synchronen Chats eine gemeinsame Sequenzzeit zu finden, Zeitlichkeit und Online-Dating-Kommunikation 21 <?page no="22"?> in der ohne die Hilfe von Sprecher: innenwechselverfahren, wie sie aus der di‐ rekten Interaktion bekannt sind, ein abwechselndes Nacheinander von Postings entsteht. Andererseits stellen die genannten Arbeiten heraus, dass Rhythmus in digitalen Interaktionen häufig auch die Funktion zukommt, soziale Beziehungen auszugestalten. Jones (2013: 491) argumentiert vor diesem Hintergrund sogar, dass Zeitlichkeit und Rhythmus in digital vermittelten Interaktionen gegenüber Face-to-Face-Interaktionen noch wichtiger seien, da dort das Spektrum semio‐ tischer Mittel des Paraverbalen vergleichsweise eingeschränkt sei: Die soziale Kontextualisierung, die in direkten Interaktionen etwa durch Prosodie und Gestik geleistet wird, müsse von Beteiligten in schriftbasierten Interaktionen zum einen mit den Mitteln der Graphie (vgl. Androutsopoulos/ Busch 2020), zum anderen eben durch Rhythmus kommuniziert werden. Rhythmus ist in dieser Weise ein zentraler Bestandteil kommunikativer Stile in digitalen Interaktionen und leistet einen wesentlichen Anteil bei der kollaborativen Hervorbringung bestimmter sozialer Praktiken (wie etwa dem Online-Flirt auf Dating-Plattformen). So stellt Jones (2013) am Beispiel einer Hongkonger Dating-Chat-Plattform für schwule Männer dar, wie durch das Timing von Nachrichten Interaktionsbeteiligung und -fokussierung sowie die diskursive Konstruktion von Begehren oder Desinteresse hergestellt werden. In Jones’ Daten werden (zu) lange Wartezeiten auf eine responsive Nachricht von den Beteiligten dergestalt interpretiert, dass der Kommunikationspartner ge‐ genwärtig wohl mit einem anderen Kontakt beschäftigt sei, man selbst also den Wettkampf um „interactional time“ verloren habe ( Jones 2013: 493). Während in direkten Interaktionen der geteilte Fokus der Beteiligten auf die gemeinsame kommunikative Aktivität auch durch nonverbale Mittel wie Körperhaltung und Blickrichtung kontinuierlich sichergestellt werden kann, drückt sich ein solcher Fokus in digitalen Interaktionen häufig nur in der rhythmisch präferierten Realisierung von Nachrichten aus: Therefore, the only way users have to be present to their interlocutors and communi‐ cate attention or involvement is by replying to them within a particular period of time. Similarly, through interpreting their timing (in particular the time between turns), users make judgements about their interlocutors’ social presence, social activity, and attentional state. ( Jones 2013: 493) Bleiben entsprechende Nachrichten im erwarteten Zeitrahmen aus, kann dies vom kommunikativen Gegenüber als „markiertes Schweigen“ (Lautenschläger 2021: 214) interpretiert werden, also als intentionale Verweigerung, eine kon‐ ditionelle Relevanz einzulösen. Dabei ist auch hier die relationale und nicht etwa die absolute Zeit entscheidend: Rhythmus wird jeweils in Relation zum 22 Florian Busch <?page no="23"?> etablierten bzw. zum erwarteten Rhythmus interpretiert. Eine entscheidende Frage ist dementsprechend, ob die Interaktionsbeteiligten Wissen über die unmarkierte temporale Struktur einer kommunikativen Praktik (wie dem On‐ line-Flirt) als Common Ground (Deppermann 2015) teilen. Dies ist nicht immer der Fall. In der Studie von Jones (2013) variieren die temporalen Erwartungen der Dating-Chat-Nutzer, bis wann eine Antwort einzutreffen habe, beispielsweise zwischen fünf Sekunden und drei Minuten (vgl. Jones 2013: 494) und auch Lautenschläger (2022: 21) präsentiert Beispiele aus dyadischen WhatsApp-Chats, in denen zwischen den Beteiligten jeweils ein Dissens vorliegt, in welcher Zeitspanne eine responsive Nachricht einzugehen habe bzw. ab welcher Dauer ein dispräferiertes Schweigen angenommen werde. Während die rhythmische Gestalt in Interaktionen also als indexikalisches Zeichen seine Bedeutung stets im Kontext entfaltet und dementsprechend eine kontextlose Semantik von interaktionalem Rhythmus zum Scheitern verurteilt ist, lässt sich doch feststellen, dass je nach kommunikativer Praktik bestimmte temporale Muster von Beteiligten normativ erwartet werden und dass auch die Abweichungen von solchen temporalen Normen auf Basis eines metapragma‐ tischen Wissens als bedeutsame Kontextualisierungshinweise inferiert werden können. 4 Metatemporale Diskurse Um diesem geteilten Wissen auf die Spur zu kommen, lassen sich in einer sprach‐ anthropologischen Tradition jene Kommunikationsideologien (Spitzmüller 2022) untersuchen, auf deren Basis aus wahrgenommenem Rhythmus sozialer Kon‐ text abgeleitet wird. Diese Forschungsperspektive geht also der Frage nach, wie Akteur: innen zunächst aus der Abfolge von einzelnen Ereignissen in der Zeit einen Rhythmus als temporale Gestalt erkennen (also wie die Dauer zwischen zwei Nachrichten-Postings überhaupt erst als Zeichen wahrgenommen wird) und wie sie dann Typen von rhythmischen Mustern mit bestimmten sozialen und kommunikativen Bedeutungspotenzialen aufladen - wie also Rhythmus sozial registriert wird (vgl. Agha 2007, Spitzmüller 2013: 267). Ein methodischer Zugang zu sozialen Registrierungen von Zeitlichkeit in digitaler Interaktion kann die Analyse von metatemporalen Diskursen sein, in denen sich Akteur: innen mit den Fragen auseinandersetzen, welche temporalen Muster für eine spezifische Kommunikationspraktik als ‚normal‘ gelten und in welcher Weise temporale Abweichungen von diesem Muster indexikalisch zu interpretieren sind. Die eingangs angeführten Beiträge aus Online-Foren haben genau dies zum Ziel: Das individuelle kommunikative Erleben wird mit den Zeitlichkeit und Online-Dating-Kommunikation 23 <?page no="24"?> Erfahrungen und Werthaltungen der anderen Nutzer: innen abgeglichen, um ein metapragmatisches Wissen darüber zu erlangen, ob sich die Online-Bekannt‐ schaft möglicherweise nicht nur „viel Zeit mit Antworten“ lässt, sondern zu viel Zeit (vgl. Beispiel 4). Dass solche metatemporalen Interpretationshilfen auffällig häufig in den Kontexten von Online-Dating eingefordert werden, liegt neben der weiter oben angesprochenen konstitutiven Vagheit dieser kommunikativen Arena wohl auch daran, dass Kommunikationspartner: innen hier in der Regel unbekannt sind und es dementsprechend gänzlich an einer gemeinsamen Inter‐ aktionsgeschichte fehlt, die einen bestimmten normalisierten und routinisierten Rhythmus hätte etablieren können. So kommt es dann zu den entsprechenden Nachfragen und den anschließenden metatemporalen Diskursen. Grundsätzlich sind solche Metadiskurse über Zeitlichkeit und digitale Interak‐ tionen aber wohl auch vor dem Hintergrund einzuordnen, dass neue Medien (zu‐ mindest mehr oder weniger neue Medien) einen Prozess der diskursiven Aneignung durchlaufen. Nutzer: innen weisen ihnen einen Platz im Gefüge ihres kommunika‐ tiven Haushaltes zu, bilden Nutzungsroutinen aus, schließlich habitualisierte soziale Praktiken des Mediengebrauchs, die immer auch mit geteilten medienideologischen Normen einhergehen, wie man ein Medium zu benutzen habe bzw. eben nicht zu benutzen habe (vgl. Gershon 2010; Busch 2018). Teil hiervon ist wesentlich auch die diskursive Konstruktion einer temporalen Struktur: Wie häufig wird ein Medium genutzt? Zu welchen Tageszeiten wird ein Medium genutzt oder nicht genutzt? Wird ein Medium gleichzeitig mit anderen Medien oder parallel zu anderen Aktivitäten genutzt oder nicht genutzt? Wie sind diese Nutzungszeiten moralisch zu bewerten? Und eben auch: Welchen interaktionalen Rhythmus verlangt ein Medium seinen Nutzer: innen normativ ab? Medienideologische Diskurse errichten in dieser Weise temporale Regime, wie sich in Anschluss an Freemans Konzept der „Chrononormativität“ formulieren ließe (vgl. Freeman 2010). Freeman entwickelt aus einer queer-feministischen Perspektive eine kritische Analyse der Verstrickung von temporalen Normen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen in kapitalistischen Gesellschaften. Dabei steht besonders im Fokus, wie normative Erwartungen an den zeitlichen Ablauf von Biographien als ‚Normalbiographien‘ geknüpft werden. Es geht also um die diskursive Konstruktion von Normalität hinsichtlich der Fragen, wann Menschen berufliche Stationen wie Ausbildung, Berufsleben und Ruhestand durchlaufen, wann sie Partnerschaften eingehen, wann sie Eltern werden, ob dies parallel zu einer beruflichen Tätigkeit geschieht und in welcher Weise diese zeitlichen Strukturierungen in gesellschaftlichen Institutionen verankert sind (insbesondere durch Gesetzgebungen). Im Zentrum der Überlegungen stehen die Rhythmen, in denen Individuen ihr Leben gestalten, und der moralische Wert, der diesen 24 Florian Busch <?page no="25"?> 2 https: / / www.grazia-magazin.de/ lifestyle/ antwortet-er-schnell-oder-langsam-das-sagtes-ueber-eure-beziehung-aus-32749.html (Stand: 01.03.2023). Rhythmen zugeschrieben wird. Chrononormativität konstruiert einen ‚normalen‘, einen ‚richtigen‘ Umgang mit Zeit und betrifft in dieser Weise nicht nur die großen zeitlichen Strukturen von Lebensläufen, sondern auch die Strukturierung von Jahren, Monaten, Wochen und Tagen, in denen Zeit einer protestantischen Ethik folgend produktiv zu nutzen sei. Eine Woche enthält dann mindestens 40 Arbeitsstunden, die wochentags ab spätestens 9 Uhr morgens abzuleisten seien. In diese chrononormativen Wahrnehmungsmuster einer Gesellschaft passt sich schließlich auch der Gebrauch und die Bewertung von Medien ein: Gewissermaßen bildet sich ein „socio-technical chrononomative framework“ (Hartmann 2019: 56) heraus, das die Zeitlichkeit von Mediengebrauch vor der Folie eines produktiven und sozial akzeptierten Zeitumgangs konturiert. Hart‐ mann stellt in dieser Argumentationslinie heraus, dass die Vorstellungen über Mediengebrauch in einer digitalisierten Gesellschaft als „always on“ (Baron 2008) bzw. „permanently connected“ (Vorderer 2015) zu holzschnittartig bleiben, indem sie insbesondere chrononormativ relevante Praktiken der Nicht-Nutzung verschleiern (vgl. Hartmann 2019: 53). Wenn wir uns auf Grundlage dieser Überlegungen mit dem Online-Metadis‐ kurs über Zeitlichkeit und Rhythmus von digitaler Dating-Kommunikation beschäftigen, dann lassen sich solche metakommunikativen Aushandlungen von temporalen Normen deutlich erkennen. So ist der Diskurs nicht nur chrononormativ geprägt, indem die eine richtige temporale Struktur etabliert wird, sondern kreist vor allem auch darum, wie Abweichung von diesem chrononormativen Default indexikalisch zu interpretieren seien. 5 Öffentliche Zeitlichkeitsdiskurse über Online-Dating-Kommunikation Im Internet lassen sich vielerlei und vielfältige Angebote finden, die genau dieses Bedürfnis von Nutzer: innen nach temporaler Metapragmatik adressieren. So veröffentlichen Online-Lifestyle-Magazine etwa Interpretationshilfen, wie sich aus dem Nachrichtenrhythmus auf das Gefühlsleben des kommunikativen Gegenübers zurückschließen lasse. Beispielsweise enthält die Online-Ausgabe der Frauenzeitschrift Grazia einen Artikel mit der Überschrift „Antwortet er schnell oder langsam? DAS sagt es über eure Beziehung aus! “ in der Rubrik ‚Life‐ style‘ (veröffentlicht am 04.02.2019) und grenzt dort drei typisierte Rhythmen voneinander ab: 2 Zeitlichkeit und Online-Dating-Kommunikation 25 <?page no="26"?> 3 https: / / de.wikihow.com (Stand: 01.03.2023). 4 https: / / de.wikihow.com/ Wie-schnell-sollte-man-auf-eine-Textnachricht-von-einem- Mädchen-antworten (Stand: 01.03.2023). (5) Er schreibt sofort […] Wenn er dir nämlich innerhalb von Minuten zurückschreibt, heißt das, du bist ihm wichtig und er findet euer Gespräch interessant. Im Klartext: Er steht auf dich! […] (6) Er schreibt nach wenigen Stunden. Schwierig. Denn wenn er dir erst nach ein paar Stunden antwortet, kann das einiges bedeuten: Dass er total busy auf der Arbeit oder in der Uni war, dass er sich genau überlegen will, was er dir schreibt, oder er weiß einfach selbst noch nicht, was er von dir will und spielt damit auf Zeit. […] (7) Er schreibt erst am nächsten Tag. Er lässt dich einen ganzen Tag warten? Die reinste Hölle! Und ehrlich gesagt auch nicht gerade ein gutes Zeichen. Wenn er dir so spät antwortet, bedeutet es meistens, dass er nicht an dir interessiert ist und eigentlich nur aus Höflichkeit schreibt. Doch es gibt natürlich auch die Ausnahme zur Regel und zwar in Form von Männern, die einfach Neandertaler im Hinblick auf Handy, Texten und Flirten sind und ihr Smartphone abends ausschalten oder morgens zu Hause vergessen. Während solche metatemporalen Texte Wissen konstruieren bzw. reprodu‐ zieren, welche rhythmischen Gestalten überhaupt voneinander abzugrenzen sind (minütliches Antworten vs. stündliches Antworten vs. tägliches Ant‐ worten) und welche sozialen Bedeutungen sich aus diesen Zeitgestalten inde‐ xikalisch inferieren ließen, zielen andere Texte des Diskurses darauf ab, zu beraten, wie Nutzer: innen selbst den Rhythmus einer Interaktion zu ihren Gunsten manipulieren könnten. Ein besonders eindrückliches Beispiel für solche Anleitungen zu strategischen temporalen Praktiken findet sich in einem Artikel der Website wikiHow, auf der sich in Form von relativ knappen Tutorials Lösungswege für die unterschiedlichsten Alltagsprobleme finden lassen. 3 Bei‐ spielsweise erfährt man auf der Website Tipps zur Bestimmung des Alters einer Schildkröte oder auch das korrekte Vorgehen, wenn man ein Garagentor ölen möchte. Zudem werden auf wikiHow kommunikative Probleme thematisiert - so etwa im Artikel „Wie schnell sollte man auf eine Textnachricht von einem Mädchen antworten“. 4 Das zu lösende Problem wird dabei im Lead-Text folgendermaßen beschrieben: Dein Handy klingelt und es ist eine SMS von dem Mädchen, das du magst. Sollst du sofort antworten oder noch warten, bis du antwortest? Einerseits solltest du nicht zu eifrig wirken. Aber du solltest das Gespräch auf jeden Fall am Laufen halten. Wenn du deine Antwort richtig anpasst, kannst du ihr zeigen, dass du interessiert bist und 26 Florian Busch <?page no="27"?> 5 Dem sprachlichen Stil dieses Artikels ist anzumerken, dass es sich um eine Übersetzung des englischsprachigen Originalartikels „How fast should you reply to a girl’s text“ des wikiHow-Autors und ‚Dating-Coaches‘ John Keegan handelt (https: / / www.wikiho w.com/ How-Fast-Should-You-Reply-to-a-Girl%27s-Text, Stand: 01.03.2023). Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die anachronistische Rede von der SMS (im englischen Original findet sich hierfür text und texting). 6 https: / / de.wikihow.com/ Wie-schnell-sollte-man-auf-eine-Textnachricht-von-einem- Mädchen-antworten (Stand: 01.03.2023). gleichzeitig dafür sorgen, dass du cool und selbstbewusst wirkst. Wir wissen, dass es leicht ist, nervös zu werden, wenn du deinem Schwarm eine SMS schreibst. Deshalb wollen wir dir das Rätselraten abnehmen, wie schnell du dem Mädchen, das du magst, antworten solltest. 5 Der Text präsupponiert die soziale Indexikalität temporaler Gestalten also zunächst. Dass ein bestimmter Rhythmus einen bestimmten Eindruck über die eigene Persönlichkeit erzeugt, steht hier gar nicht erst zur Debatte. Stattdessen zielt die metatemporale Reflexion darauf ab, wie ein richtig gewählter Rhythmus den Schreiber als „cool und selbstbewusst“ und nicht etwa als „zu eifrig“ 6 er‐ scheinen lassen könne. Verhandelt wird also die Frage, wie durch Rhythmus in‐ teraktionale Stance (vgl. Couper-Kuhlen/ Selting 2018) konstruiert wird. Ähnlich der rhythmischen Typisierung im Grazia-Artikel liefert diesbezüglich nun auch wikiHow zuerst eine Kategorisierung verschiedener bedeutsamer Zeitspannen, für die dann jeweils spezifische Bedeutungen rationalisiert werden: (8) Innerhalb von fünf Minuten antworten, wenn du deinem Schwarm eine SMS schreibst. Du könntest zu übereifrig wirken, wenn du sofort antwortest. Eine Antwortzeit von fünf Minuten ist ideal, denn so hast du Zeit, dir eine tolle Antwort auszudenken, die deine Persönlichkeit zeigt und ihre Aufmerksamkeit erregt. […] (9) Nach zehn bis fünfzehn Minuten auf ein Mädchen reagieren, um cool zu bleiben. Warte zehn bis fünfzehn Minuten, um ihr zu zeigen, dass du ein aufregendes eigenes Leben hast. Wenn du sofort antwortest, könnte sie denken, dass du neben deinem Handy auf eine SMS von ihr wartest. Wenn die nächste Benachrichtigung auf deinem Bildschirm aufleuchtet, atme tief durch und geh vom Handy weg. […] (10) Innerhalb von ein bis drei Stunden antworten, um höflich zu sein. Mehr als drei Stunden auf eine Antwort zu warten, ist die Text-Version von peinlichem Schweigen. Kennst du das Gefühl, wenn du etwas sagst und die andere Person ein bisschen zu lange braucht, um zu antworten? Wir alle wissen, dass das nicht lustig ist. Gespräche haben eine natürliche Dynamik und einen natürlichen Rhythmus, wenn sich zwei Menschen mögen. Wenn du innerhalb von ein paar Stunden antwortest, verhinderst du, dass das Gespräch völlig schal wird. Wenn du ein Zeitlichkeit und Online-Dating-Kommunikation 27 <?page no="28"?> 7 https: / / strategien-zum-leben.de/ wie-bringe-ich-ihn-dazu-mich-zu-vermissen/ (Stand: 01.03.2023). Mädchen länger als ein paar Stunden warten lässt, signalisiert das, dass du nicht interessiert bist. Es folgen noch acht weitere temporale Ratschläge, die den interessierten wikiHow-Nutzer: innen sehr konkrete Hinweise geben, wie man sich durch einen bestimmten Nachrichtenrhythmus im besten Lichte präsentieren könne. Ein zentrales Motiv, das sich in dieser Weise nicht nur bei wikiHow, sondern auch in anderen Diskursbelegen findet, ist die Inszenierung von Unverfügbar‐ keit durch die bewusste Verlangsamung des interaktionalen Rhythmus. So stellt auch Lautenschläger (2021: 216) fest, dass die „(künstliche) Verknappung kommunikativer Verfügbarkeit zu einem festen Bestandteil in Flirt- und Da‐ ting-Kontexten“ geworden zu sein scheint. Die semiotische Strategie hinter dieser Praxis zielt darauf ab, dass Interaktionspartner: innen aus einer kommu‐ nikativen Unverfügbarkeit bzw. einem langsamen Antwortrhythmus auf ein Beschäftigtsein abseits der Dating-Kommunikation schließen mögen. Ganz ähnlich findet sich dieser Gedanke beispielsweise auf der Website Strategien zum Leben des ‚Dating-Coaches‘ André - diesmal gerichtet an ein weibliches, heterosexuelles Publikum: Lass ihn warten, bis du antwortest. Wie die meisten Frauen antwortest du wahrschein‐ lich sofort zurück, wenn jemand Besonderes versucht, dich zu kontaktieren. Besonders dann, wenn du bereits sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen gewartet hast. Dabei denkst du dir sicherlich: “Besteht die Chance, dass er sein Interesse an mir verliert, wenn ich ihn zu lange warten lasse? ” Das ist mit Sicherheit nicht der Fall. Antwortest du sofort, zeigst du ihm damit, dass du wahrscheinlich förmlich an deinem Smartphone klebst und auf ihn wartest. Wenn du ihn dazu bringen willst, dass er dich vermisst, solltest du ihn warten lassen, bevor du antwortest. Auch wenn dir diese Herangehensweise kindisch erscheint, funktioniert sie in den allermeisten Fällen und sorgt dafür, dass er an dich denkt und dich vermisst. Beweise also Geduld, auch wenn es dir schwerfällt! 7 Den Leser: innen von wikiHow sowie der Strategien-zum-Leben-Website wird ein zu schnelles Antworten also in zweifacher Weise als indexikalisches Zeichen erklärt, das es zu vermeiden gelte. Einerseits hieße ein rasches Antworten, man ‚klebe am Smartphone‘, sei also ständig mit seinem Mobiltelefon beschäftigt und - so die gängige Implikation der verbreiteten Offline-Online-Ideologie - vernachlässige dabei sein analoges Leben. Ein schnelles Antworten verweise damit auf ein (in dieser Hinsicht) unattraktiven Menschen. Andererseits, und dies ist der im Diskurs dominierende Gedanke, signalisiere eine schnelle 28 Florian Busch <?page no="29"?> 8 https: / / strategien-zum-leben.de/ wie-bringe-ich-ihn-dazu-mich-zu-vermissen/ (Stand: 01.03.2023). 9 https: / / www.gutefrage.net/ frage/ soll-ich-meinen-crush-direkt-zurueckschreiben (Stand: 01.03.2023). 10 https: / / www.gutefrage.net/ frage/ soll-ich-meinen-crush-direkt-zurueckschreiben (Stand: 01.03.2023). 11 https: / / www.gutefrage.net/ frage/ wie-lange-warten-bis-man-zurueckschreibt (Stand: 01.03.2023). 12 https: / / community.elitepartner.ch/ forum/ frage/ spielchen-oder-desinteresse.32899/ (Stand: 01.03.2023). Antwort außerdem eine hierarchisch unterlegene interpersonale Stance. Eine schnelle Antwort sei ein Indiz für kommunikative Bedürftigkeit, die sich ten‐ denziell aus dem Mangel an anderer Kommunikation (mit anderen potenziellen Partner: innen) ergebe. Daher sei es also ratsam, sich beim Antworten Zeit zu lassen, um dementsprechend den eigenen Marktwert zu erhöhen. Nun antizipiert der zuletzt angeführte Beleg aber bemerkenswerter Weise auch, dass seiner imaginierten Leserin „diese Herangehensweise kindisch“ 8 erscheinen möge und zeigt damit ein Bewusstsein für gegenläufige Positionen im Diskurs. Diese lassen sich vor allem in Foren-Diskussionsbeiträgen finden. So fragt ein Nutzer auf gutefrage.net beispielsweise: „Soll ich meinem Crush direkt zurückschreiben? “ 9 Die ironische Antwort einer Nutzerin lautet: „Lass ihn warten. So lange bis Dein Crush entweder denkt, dass Du nicht an ihm interessiert bist oder von den Spielchen genervt ist. Beides führt dazu, dass er sich von Dir abwendet. Dann heulen gehen.“ 10 Gerade das metapragmatische Label Spielchen hat sich für diese diskursive Haltung als Schlagwort etabliert. In einem anderen gutefrage.net-Thread mit ähnlicher Thematik gibt ein Nutzer etwa folgenden Rat: „Verhalte Dich so natürlich wie bisher auch - und das bedeutet, dass es doch wirklich keinen Grund dafür gibt, um irgendwelche taktischen Spielchen zu veranstalten und mit künstlich eingelegten Pausen zu schreiben.“ 11 Und auch im Elitepartner-Forum wird in Betracht gezogen, es bei lang ausbleibenden Antworten mit einem Spielchen zu tun zu haben, das einem authentischen Auftreten entgegenstünde: Spielchen oder Desinteresse? [Überschrift des Forenthreads] Oft hört man den Spruch „Die Liebe ist ein Spiel“. Aus weiblicher Sicht weiß ich, dass Frauen, vor allem in der Kennenlernphase, gerne den Mann warten lassen, sich rar machen usw. Frau will ja auch interessant erscheinen. Diese Strategie wird schließlich auch in vielen Ratgebern propagiert. Ich selbst halte von authentischem Auftreten mehr und erwarte das natürlich auch von meinem Gegenüber. 12 Zeitlichkeit und Online-Dating-Kommunikation 29 <?page no="30"?> 13 Vgl. zur Authentizitätsforderung und der Auseinandersetzung mit ‚Spielchen‘ auch Lautenschläger (i.d.B.). Deutlich wird an Belegen wie diesen, dass Akteur: innen im Diskurs zwar unter‐ schiedliche Haltungen gegenüber dem diskutierten Phänomen einnehmen, dass aber durchaus zunächst die geteilte Überzeugung vorherrscht, interaktionaler Rhythmus sei ein relevanter Kontextualisierungshinweis in der Online-Da‐ ting-Kommunikation. Diese diskursive Lagerbildung zeigt sich dann vor allem anhand der Gegenüberstellung von einerseits redaktionellen Ratgebertexten, die rhythmische Gestalten typisieren, mit Bedeutung aufladen und damit einen chrononormativen Diskurs konstituieren, und andererseits diskursiven Gegenstimmen (gerade in nicht-professionellen Beiträgen in Online-Foren), die intentionale rhythmische Strategien als unauthentische Spielchen negativ evaluieren. 13 6 Online-Dating-Coaches auf YouTube Eine mögliche Erklärung für diese diskursive Diskrepanz zwischen nicht-pro‐ fessionellen und professionellen Texten scheint die kommerzielle Orientierung der angeführten Ratgebertexte. Mit der normativen Adressierung metapragma‐ tischer Unsicherheiten, die viele Menschen umtreiben, lässt sich Geld verdienen. So findet sich ganz grundsätzlich auch abseits der Frage nach interaktionalem Rhythmus eine Masse kommerzieller Angebote, die Menschen versprechen, ihr Online-Dating - und damit im Wesentlichen: ihre Online-Dating-Kommunika‐ tion - effizienter zu gestalten und sie so auf dem Weg zu einer Liebesbeziehung zu unterstützen. Medial ist hierbei insbesondere die Gruppe sogenannter ‚Da‐ ting-Coaches‘ präsent, die behauptet, Zugang zum wasserdichten Weg zum Erfolg zu ermöglichen. Dabei ist kaum zu übersehen, wie sehr diese Branche heterosexuelle Männer als Zielgruppe adressiert. Dating-Coaches (in der Regel selbst mittelalte Männer) dozieren dann über den richtigen Kommunikationsstil gegenüber Frauen bzw. ‚der Frau‘ als hochgradig stereotypiertes und damit eben auch sexualisiertes und misogynes Konzept. Insbesondere auf YouTube lassen sich solche Angebote finden - häufig verknüpft mit den Websites der Coaches, auf denen dann teure ‚Bootcamps‘, ‚Lehrgänge‘ und ‚individuelle Trainings‘ verkauft werden. 30 Florian Busch <?page no="31"?> 14 https: / / www.sketchengine.eu (Stand: 01.03.2023). 6.1 Explorative Fallstudie: Korpus und Methode Für eine explorative Untersuchung, welche Rolle Zeitlichkeit in den Diskursen solcher kommerziellen Anbieter spielt, wurden 72 Dating-Coach-Videos auf YouTube identifiziert (mit Suchanfragen wie Online-Dating Tipps, Tinder Tipps, Flirten Chatten, usw.). Insgesamt förderte die Suche Videos von 26 unterschied‐ lichen Kanälen zutage. Über die YouTube-API konnten für alle 72 Videos automatisch erzeugte Transkriptionen heruntergeladen und so ein Korpus von Dating-Coach-Texten mit insgesamt 146.514 Tokens kompiliert werden. Dieses Korpus wurde einerseits mittels Sketch Engine  14 korpuslinguistisch unter die Lupe genommen (Schlüsselwortanalyse und Trigramm-Analyse) und anderseits mit der Hilfe von MAXQDA qualitativ annotiert. 6.2 Ergebnisse Eine Schlüsselwortanalyse in Sketch Engine zeigt im Kontrast zum German-Web-Referenzkorpus die zentralen thematischen Bahnen auf, die in den Videos enthalten sind (vgl. Tab. 1). 1. ghosting 2. frau 3. mann 4. tinder 5. nachricht 6. video 7. matchen 8. chat 9. dating 10. nummer 11. interesse 12. tipp 13. typ 14. smiley 15. date 16. thema 17. mädel 18. bock 19. match 20. foto 21. bild 22. flirten 23. mensch 24. chatten 25. ding 26. hobby 27. anschreiben 28. beziehung 29. beispiel 30. indikator 31. gemeinsamkeit 32. screenshot 33. emotion 34. text 35. textnachricht 36. antworten 37. hey 38. anziehung 39. okay 40. coaching Tab. 1: Ergebnisse der Schlüsselwortanalyse Dating- Coach-Videos gegenüber German-Web-Referenzkorpus, lemmatisiert Viele Videos beschäftigen sich mit dem plötzlichen Kontaktabbruch, dem sogenannten Ghosting (Rang 1) (vgl. hierzu Lautenschläger 2021: 219f. sowie Licoppe 2021). Die Perspektive der Videos ist durchgängig heteronormativ und stellt dem stereotypisierten Verhalten ‚der Frauen‘ (Rang 2) das ‚der Männer‘ (Rang 3) entgegen. Weiterhin erkennen wir in den Keywords verschiedene andere Versatzstücke des Dating-Coach-Diskurses - beispielsweise die Jagd Zeitlichkeit und Online-Dating-Kommunikation 31 <?page no="32"?> nach Telefonnummern (Rang 10), die Frage nach geeigneten Gesprächsthemen (Rang 16) oder die wichtige Rolle graphischer Kontextualisierungsmittel in der Dating-Kommunikation (nämlich von Smileys, also Emojis und Emoticons - hier auf Rang 14). Unterzieht man das Korpus einer Trigramm-Analyse (vgl. Bubenhofer 2009: 118; Meier-Vieracker 2021: 303), dann zeichnet sich weiterhin die sprach‐ liche Spezifik der Coaching-Videos ab (vgl. Tab. 2). Trigramm n Trigramm n Trigramm n so ein bisschen und das ist auf jeden fall und wenn du das ist auch auch ein bisschen ein bisschen mehr und so weiter was auch immer wenn du jetzt 130 105 85 51 39 38 34 34 32 32 was machst du ich freue mich dann kannst du und es ist das ist das gar nicht so das ist so die ganze zeit aber er ist und ich habe 31 31 28 28 27 27 26 26 26 26 dann schreibe ich das ist einfach in die kommentare dann ist es art und weise ist es so habe ich auch nicht so viel dass du dich wir sehen uns 26 25 25 24 24 23 23 23 22 22 Trigramm n Trigramm n mal ein bisschen wenn du das das ist ja wenn du dich das heißt du dann habe ich also wenn du das was ich das ist ein dass die frau 22 22 22 22 22 22 21 21 21 21 da habe ich auch so ein das ist eine auch nicht so dass sie sich dann schreibt sie mein name ist so und dann ja das ist in diesem video 21 20 20 20 20 20 20 20 20 20 Tab. 2: Ergebnisse der Trigrammanalyse des YouTube-Dating-Coach-Korpus Hier fällt zunächst die Ansprache in der zweiten Person auf (und wenn du, wenn du jetzt, was machst du, dann kannst du usw.). Dieser direktive Modus baut dabei auf der begründenden Faktizität auf, die durch Kopula-Konstruktionen in assertiven Äußerungen konstruiert wird (und es ist, das ist das, das ist so, dann ist es, ist es so usw.). Schließlich werden in wenn-dann-Gefügen mögliche Online-Dating-Szenarien entworfen und Handlungsanweisungen gegeben (und wenn du, wenn du jetzt, wenn du das, wenn du dich - dann schreibe ich, dann ist 32 Florian Busch <?page no="33"?> 15 https: / / www.youtube.com/ watch? v=ZBivxv73WDY (Stand: 04.10.2023). 16 https: / / www.youtube.com/ watch? v=-1AQeyorRZA (Stand: 04.10.2023). 17 https: / / www.youtube.com/ watch? v=AuMvINhrHx8 (Stand: 04.10.2023). es, dann habe ich, dann schreibt sie). So empfiehlt etwa Dating-Coach Andreas Lorenz in einem seiner Videos: 15 Wenn ihr euch kennengelernt habt, dann versucht wirklich alle zwei Tage zu schreiben. Das ist meine Regel. (10: 16 bis 10: 18, Herv. FB) Und auf dem Kanal Alpha Connection Code  16 wird Folgendes ausgeführt: Generell kann man sagen, dass es drei wesentliche große Fehler gibt, generell bei der Konversation. Das erste ist, dass das Texten oder das Chatten viel zu lange oder zu kurz ist. Wenn es zu kurz ist und keine emotionale Verbindung da ist, dann wird sie wahrscheinlich kein Interesse dran haben, dich zu daten. Sie muss dich spüren. Umgekehrt, wenn‘s zu lange ist, dann kann es sein, dass du Gefahr läufst, so als bester Freund gesehen zu werden. (01: 02 bis 01: 30, Herv. FB) In diesen teils explizit als Regeln bezeichneten wenn-dann-Handlungsanwei‐ sungen spielen auch immer wieder solche chrononormative Vorstellungen eine Rolle, wie sie in Abschnitt 5 bereits skizziert wurden. Wie und wann man wem zu schreiben hat, darüber gibt es in den Videos selten zwei Meinungen. Stattdessen konstruieren die Coaches klare Fehler und Regeln, die ihre Kunden bloß beachten müssten, um ihr Ziel zu erreichen. DateDoktor Emanuel Albert führt dies beispielsweise im Video Online Dating Profiltipps für Männer. (Mehr Matches in 2021)  17 folgendermaßen aus: Viele Männer sagen, Online-Dating funktioniert nicht für sie. Dabei liegt es nur an einfachen Fehlern, die du vermeiden kannst, um heute noch mehr Matches zu kriegen. […]. Dann ist für mich ganz wichtig, dass du beim Schreiben Regeln beachtest. Da wissen viele die Regeln nicht, aber da habe ich auch extra einen Ratgeber zu, den findest du unten [verlinkt]. Wie texten Profis? Was sind so die zehn Regeln, die du wissen müsstest, damit du beim Schreiben durch die ersten Kurven kommst? Denn wenn du die Frau dann anschreibst und sie reagiert - idealerweise hast du ja mehrere, mit denen du schreibst -, dann ist für mich wichtig, dass du natürlich die Regeln kennst und dich nicht danebenbenimmst. Da haben wir die Regel zum Beispiel, wie lang sie schreibt, ist wichtig, auch so lange zu schreiben. Wie lange sie wartet, auch so lange zu warten. Es gibt lauter solche Regeln und auch noch solche Inspirationen. Was ist für mich immer der Kern beim Online-Dating? Zwei Sachen: Einerseits muss ich diese Regeln im Griff haben, mit der Länge und wie lange ich warten muss vom Text etc., damit ich nicht auffalle als der, der gierig ist oder der ganz verzweifelt zuhause Zeitlichkeit und Online-Dating-Kommunikation 33 <?page no="34"?> 18 https: / / datedoktoremanuel.de/ ratgeber-texten-wie-profis (Stand: 04.10.2023). schon seit Jahren keine mehr kennengelernt hat, - und zum anderen muss ich auch ein bisschen inspirieren. Und ich inspiriere eben, indem ich gerne gute Fragen stelle. (00: 01 bis 0: 08 und 06: 20 bis 07: 18) Die Regeln, auf die DateDoktor Emanuel Albert hier immer wieder verweist, werden von ihm als absolut essenziell für eine erfolgreiche Dating-Kommu‐ nikation beschrieben - und lassen sich in Form eines E-Books in seinem Online-Shop für 19,99 Euro erwerben. 18 Die diskursive Konstruktion kommu‐ nikativer Normen dient in dieser Weise einem kommerziellen Interesse. Chro‐ normative Vorstellungen über den ‚richtigen‘ bzw. strategischen Rhythmus di‐ gitaler Interaktionen fügen sich in umfassendere kommunikationsideologische Vorstellung einer ‚erfolgreichen Dating-Kommunikation‘, die sich verkaufen lässt. 7 Fazit Die Analyse der öffentlichen metatemporalen Diskurse über Online-Da‐ ting-Kommunikation offenbart also, wie Mediennutzer: innen bezüglich neuer Medienpraktiken vor der Aufgabe stehen, metapragmatische Handlungsmo‐ delle über die temporale Struktur digitaler Interaktionen zu konstruieren. Die Normen, wie schnell oder langsam auf digitale Nachrichten geantwortet werden sollte, sind bislang eher in lokalen Praxisgemeinschaften ausgebildet und gesellschaftlich noch nicht so weit diffundiert, dass entsprechende meta‐ pragmatische Reflexionen obsolet wären. Angesichts unterschiedlicher digitaler Lebensstile ist das Risiko von Missverständnissen aufgrund eines fehlenden metatemporalen Common Grounds von vielen Nutzer: innen antizipiert und es kommt zu chrononormativen Metadiskursen. Dies trifft im Besonderen auf Kontexte der Online-Dating-Kommunikation zu, in denen man sein kommunikatives Gegenüber nicht kennt und es dement‐ sprechend an einer gemeinsamen Interaktionsgeschichte fehlt, aus der sich ein Default-Rhythmus rekonstruieren ließe. Die Zeichenhaftigkeit von Zeit rückt hier besonders in den metapragmatischen Fokus. Wie jegliche Form kommunikativer Variation lässt sich auch die Dauer zwischen Nachrichten als sozial und kommunikativ bedeutsames indexikalisches Zeichen lesen. An‐ knüpfend an interaktional-linguistische Arbeiten zeichnet sich ab, dass Tempo und Rhythmus auch in digital-vermittelten Interaktionen zentrale semiotische 34 Florian Busch <?page no="35"?> 19 Eine entsprechende Forschungsperspektive nimmt das SNF-Forschungsprojekt „Texting in Time: Kommunikative Praktiken der Smartphone-Interaktion im Prozess“ (För‐ dernummer 100015_215094) an der Universität Bern ein (vgl. www.germanistik.unibe. ch/ textingintime, Stand: 11.01.2024). Ressourcen sind. Hier bedarf es weiterer Forschung, um temporalen Praktiken im Gebrauch auf die Spur zu kommen. 19 Im vorliegenden Beitrag wurde hingegen aufgezeigt, welche indexikalischen Schlussfolgerungen verschiedene Akteur: innen im Metadiskurs artikulieren und so rhythmische Gestalten sozial registrieren. So konnten für den Kontext Online-Dating zwei diskursive Positionen herausgearbeitet werden: Während in Kommentarspalten und Online-Foren ein authentisches Kommunikations‐ verhalten verlangt wird, das frei von temporalen Spielchen sei, finden sich in den Medientexten von Lifestyle-Magazinen und Dating-Coaches vielfach Anlei‐ tungen zur strategischen rhythmischen Kontextualisierung. Hier werden chro‐ nonormative Regeln formuliert, die sich in ein kommunikationsideologisches Bündel einreihen. Zeitlichkeitsideologien stehen so an der Seite von Sprachide‐ ologien (achte auf deine Rechtschreibung) sowie Bildlichkeitsideologien (bloß keine Schwarz-Weiß-Bilder verwenden) und bilden ein metapragmatisches Re‐ gelwerk, das kommerziell vermarktet wird. Ähnlich wie es für sprachideologi‐ sche Diskurse gezeigt wurde, in denen eine prestige-besetzte Standardvarietät konstruiert wird, um sie letztlich beispielsweise in Form von Sprachkursen zu verkaufen (vgl. Heller 2010), lässt sich in den Zeitlichkeitsdiskursen der Online-Dating-Coaches eine Kommodifizierung chrononormativer Ideologien beobachten. Diese Schaffung von Waren geht dabei stets mit Stereotypisie‐ rungen und unterkomplexen, häufig auch diskriminierend misogynen Katego‐ risierungen einher. Überspitzt paraphrasiert: Wer ‚die Frau‘ verführen möchte, sollte zehn Minuten warten, bevor er antwortet. (Wenngleich selbstverständlich nicht alle Medienmacher: innen, die sich als ‚Dating-Coach‘ bezeichnen, eine solche Position vertreten). Zeitlichkeit und Rhythmus in digitalen Interaktionen können in diesem Sinne also nicht nur Forschungsgegenstände der Interakti‐ onalen Linguistik sowie der Medienlinguistik sein - die kommunikationsideo‐ logischen Annahmen, die den Indexikalitäten von rhythmischen Gestalten im digitalen Schreiben zugrunde liegen, bedürfen auch einer umfassenden kritisch-soziolinguistischen Analyse. Zu dieser haben die vorliegenden Überle‐ gungen einen ersten Beitrag geliefert. Zeitlichkeit und Online-Dating-Kommunikation 35 <?page no="36"?> Bibliografie Quellen (YouTube-Videos, Online-Foren, Lifestyle-Magazine) ALPHA CONNECTION CODE: YouTube-Video „DIE PERFEKTE ERSTE NACHRICHT 😉 (TINDER MATCHES ANSCHREIBEN)“. https: / / www.youtube.com/ watch? v=-1A QeyorRZA (Stand: 04.10.2023) Andreas Lorenz: YouTube-Video „Online-Dating: "Wie oft soll ich ihr schreiben? " | An‐ dreas Lorenz“. https: / / www.youtube.com/ watch? v=ZBivxv73WDY (Stand: 04.10.2023) Datedokor Emanuel Albert-Website: Ratgeber Texten wie Profis https: / / datedoktorema nuel.de/ ratgeber-texten-wie-profis (Stand: 04.10.2023) DateDoktor Emanuel Albert Beziehungscoach: YouTube-Video „Online Dating Profil‐ tipps für Männer. 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Dabei zeigt sich, dass die erteilten Ratschläge auf Basis von biologisierten Genderstereotypen ein So-Sein der Geschlechter postulieren, das argumentativ fruchtbar gemacht wird, um vom Erfolg und der Wirkkraft der angeratenen Strategien zu überzeugen und den Ratsuchenden ein Gefühl der Kontrolle und Selbstwirksamkeit zu vermitteln. Keywords: Gender, Stereotype, Flirt, Courtship, Persuasion, Ratgeber, Schweigen, Verortung 1 Einleitung Die Sprachen der Liebe können so vielfältig sein wie die Liebesarten selbst: Auf interpersonaler Ebene findet sich neben der familiären Liebe etwa die Liebe zu Freund*innen oder aber die erotisch-romantische Liebe, die prototypisch <?page no="44"?> 1 Polyamouröse Beziehungen werden hier nicht betrachtet, da in den analysierten Ratschlägen lediglich (heterosexuelle) Zweierbeziehungen thematisiert werden. Die Ausdrücke Paarbeziehung und Zweierbeziehung werden im Folgenden synonym ver‐ wendet. 2 (Illegale) Praktiken wie Zwangsehen oder arrangierte Ehen finden in diesem Beitrag keine Berücksichtigung. als Zweierbzw. Paarbeziehung gelebt wird. 1 Was erstere Liebesart von den anderen grundlegend unterscheidet, ist, dass man in einen Familienverbund hineingeboren wird und ihn (zunächst) unhinterfragt als gegeben hinnimmt. Diese (Vor-)Gegebenheit einer Beziehungswelt steht in Kontrast zu den anderen Beziehungsarten, denn Freund*innen, Beziehungspartner*innen, Dates und Flirts wählt man freiwillig aus 2 und durchlebt daher eine andere Art des Beziehungsaufbaus und der Beziehungspflege, wobei hier vor dem Hintergrund des sozialen Beziehungstyps der Zweierbeziehung die Courtship- und Flirtkom‐ munikation betrachtet wird, bzw. konkreter: Ratschläge zum erfolgreichen Flirten und Umwerben. Entscheidend für jede interpersonale Kommunikation ist, dass es keine Trennung von Inhalts- und Beziehungsaspekt gibt; jede Kommunikation ist also in diesem Sinne auch Beziehungskommunikation (vgl. z. B. Keller 1977). Grundlegend relevant ist daher nicht nur das Was des Geäußerten, das wir als Sprechende oder Schreibende propositional vermitteln wollen, sondern in gleicher Weise auch das Wie. Doch nicht nur tatsächlich Geäußertes ist im zwischenmenschlichen Mit‐ einander beziehungsrelevant, sondern auch dessen Fehlen, also Schweigen (vgl. Lautenschläger 2021, 2022). Somit sind die benannten Aspekte des Was und des Wie grundlegend zu ergänzen um das Ob. Eine wichtige Rolle dabei spielen stets gesellschaftliche Konventionen und Normen, die Fiehler (2001) mit Blick auf Emotionen als „Regeln der Emotionalität“ beschreibt und von denen insbesondere die Manifestationsregel geschlechtsspezifisch kodiert ist (s. u.). Diese (Norm-)Vorstellungen wirken sich auf die Art und Weise aus, wie sich die Geschlechter gegenseitig umwerben dürfen, sollen und müssen - und das wiederum wird explizit in den Ratschlägen thematisiert. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden zunächst der Zusammenhang von Sprache (inkl. Schweigen), Beziehung und Emotion dargelegt werden, wobei auch auf Flirt- und Courtshipkommunikation eingegangen wird (Kapitel 2). Daran anschließend werden kurz Geschlechterstereotype und das soziologische Konzept des doing gender erörtert (Kapitel 3), bevor in Kapitel 4 die Ergebnisse diskutiert werden, denen ein Fazit folgt. 44 Sina Lautenschläger <?page no="45"?> 3 Das Korpus weist dabei zwei Besonderheiten auf: Erstens sind lediglich drei der acht Texte von einer Frau verfasst (T4, T7, T8); dies ist ein Befund, der sich bereits für eine ähnliche Analyse mit einem Verhältnis von 6: 2 bei Lautenschläger 2021 ergeben hat. Flirt- und Dating-Ratschläge zu erteilen, so lautet die vorsichtige Hypothese, scheint ein männlich dominiertes Feld zu sein (vgl. dazu auch Busch i.d.B.). Zweitens handelt es sich bei T1 und T2 um Texte auf solchen Ratgeber-Websites, deren Ziel es ist, kostenpflichtige Produkte wie EBooks zu verkaufen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine konkreten Ratschläge erteilen, aber eine stark persuasive und die Emotionen ansprechende Lexik aufweisen (vgl. Kapitel 4.2). Die Untersuchung basiert dabei auf einem Korpus, das aus acht Rat‐ geber-Texten besteht, die im Folgenden abgekürzt werden mit T1, T2 usw. Generiert wurde es mit der Google-Suchanfrage Wie erobere ich sein Herz? und Wie erobere ich ihr Herz? , wobei jeweils die obersten vier Treffer ausgewählt wurden. Audiovisuelles Material wie YouTube-Videos wurden ausgeschlossen; zudem sind nur Texte im Korpus, die von den Verfasser*innen namentlich gekennzeichnet sind. 3 2 Beziehungsaspekte: der Zusammenhang von Sprache und Emotion Das Geflecht von Sprechen/ Schreiben, Schweigen und Emotion lässt sich mithilfe des Hyperonyms Beziehungsaspekt greifen und beschreiben, wobei im Folgenden vor dem Hintergrund des Analysematerials der Beziehungsaspekt 1 von Beziehungsaspekt 2 unterschieden werden muss (s. u.). Um sich dem anzu‐ nähern, seien einige Definitionen von Beziehung vorangestellt. Soziologisch betrachtet ist die hier im Zentrum stehende Paarbzw. Zwei‐ erbeziehung zu definieren als eine Beziehung zwischen zwei Personen, die „sich durch einen hohen Grad an Verbindlichkeit (Exklusivität) auszeichnet, ein gesteigertes Maß an Zuwendung aufweist und die Praxis sexueller Interaktion - oder zumindest deren Möglichkeit - einschließt.“ (Lenz 2009: 48) Weiterhin kennzeichnend ist eine gegenseitige Bindung und Verpflichtung, mit der ein‐ hergeht, „daß der andere bei Abwesenheit vermißt und das Ende der Beziehung als schmerzlich und belastend erlebt wird.“ (Argyle/ Henderson 1986: 12) Innerhalb der Paarbeziehung gibt es vier (mögliche) Phasen - die Aufbau-, Bestands-, Krisen- und Auflösungsphase (vgl. Lenz 2009: 68-69) -, von denen hier mit Blick auf die in Kapitel 4 analysierten Ratschläge die Aufbauphase im Zentrum steht, da in dieser „eine Beziehung neu etabliert oder eine bestehende intensiviert werden soll“ (Adamzik 1994: 370). Für Paarbeziehungen gilt in besonderem Maße, dass sie durch Rituale gestützt sind, d. h., dass es zahlreiche subsistente Normen gibt, die auch das sprachliche Erkämpfte Liebe und programmierte Frauen 45 <?page no="46"?> 4 Sofern nicht anders gekennzeichnet, handelt es sich bei Hervorhebungen um solche, die im Original vorliegen, wobei sie der Einheitlichkeit halber unabhängig von ihrer ursprünglichen Form (Fettdruck, Kursivdruck, Unterstreichung) allesamt kursiv gesetzt werden. Verhalten regeln und „deren Einhaltung die Mitglieder einer Kultur für not‐ wendig erachten. Die Verletzung mancher dieser Regeln führt zum Zerbrechen oder zum Abbruch der Beziehung. Einige dieser Regeln sind jedem geläufig, andere sind weniger auffällig.“ (Argyle/ Henderson 1986: 15) Bevor Individuen miteinander in persönlichen Kontakt kommen - und mit persönlich ist sowohl der Face-to-Face-Kontakt als auch der digitale Kontakt via Messenger und Dating-Apps gemeint -, ist ihr wechselseitiges (kommunikatives) Verhalten also bereits in bestimmter Weise normativ gerahmt. Die (subsistenten) kulturellen Normen stellen nämlich eine Art des sozialen (und sprachlich-kommunikativen) Fahrplans dar, an den wir uns mehr oder weniger strikt halten; er leitet uns z. B. dabei an, wie wir ‚richtig‘ flirten (s. Kapitel 2.2) und umfasst dabei auch Ge‐ schlechterstereotype (s. Kapitel 3). Letztlich bedeutet das für zwischenmensch‐ liche Interaktionen, dass auf Basis gesellschaftlicher Konventionen bereits bei einer Erstbegegnung, d. h. vor aller Erfahrung des kommunikativen Verhaltens des konkreten Gegenübers, eine Situationsdefinition vor[liegt], die eine Beziehungs‐ definition impliziert und damit eine Vorstellung darüber, welche Verhaltensweisen möglich, zulässig, ‚normal‘ wären. (Adamzik 1994: 361) Passend dazu versteht Holly (2001: 1384) Beziehungen als „vielschichtige, unter‐ schiedlich stabile, dauerhafte und unterschiedlich dynamische Elemente in der Kommunikation.“ Auch er berücksichtigt, dass Beziehungen „in vielen Fällen durch bestimmte Gegebenheiten schon vorstrukturiert [sind]“, gibt aber zu bedenken, dass sie trotzdem immer wieder neu in der konkreten Situation hergestellt werden müssen. Das hängt u. a. auch damit zusammen, dass die an einer Kommunikation Beteiligten stets unterschiedlichen sozialen Kategorien gleichzeitig zuzuordnen sind (z. B. Geschlecht, Alter, Beruf, Status etc.), die aber die Kommunikation nur insofern (beobachtbar) beeinflussen, „wie sie - auch durch Kontextualisierungen - situativ relevant (gemacht) werden.“ (Holly 2001: 1384, s. auch Kapitel 3) Inhalts- und Beziehungsaspekt sind, wie einleitend erwähnt, nicht vonein‐ ander zu trennen, denn alles, was gesagt wird, wird irgendwie gesagt (vgl. Keller 1977: 7); interpersonale Kommunikation ist somit „immer als Austausch von Informationen und Bewertungen aufzufassen“, denn diese „Sachverhalte [sind] immer bewertete Sachverhalte.“ (Fiehler 1987: 561) 4 46 Sina Lautenschläger <?page no="47"?> Du Bois (2007) diskutiert dies im Zusammenhang mit sozialer Positionierung als Stancetaking und bringt seine Überlegungen letztlich auf die Kurzformel: „I evaluate something, and thereby position myself, and thereby align with you.“ (Du Bois 2007: 163) Bewertungen führen somit zwangsläufig zu (sozialen) Positionierungen und sind damit Teil des Beziehungsmanagements, für dessen Analyse Holly (2001: 1384-1385) mindestens vier Dimensionen mit wechsel‐ seitigen Überlagerungen vorschlägt, von denen ich nur zwei benennen und anschließend mit der Verortung (nach Roth 2018) verbinden möchte: • die horizontale Dimension. Damit ist das Nähe-Distanz-Verhältnis gemeint, das sich auf den kommunikativen Abstand der Beteiligten bezieht und z. B. mittels der pronominalen Honorifika (Siezen vs. Duzen) und stilistischer Mittel (z. B. (Nicht-)Verwendung von alltagssprachlichen Lexemen oder Partikeln) gestaltet wird. • die vertikale Dimension. Hier wird der Status von bzw. die Machtverteilung zwischen den Beteiligten betrachtet, die asymmetrisch oder symmetrisch sein kann. Diese beiden Dimensionen sind insbesondere für das relevant, was ich Bezie‐ hungsaspekt 1 nenne. Gemeint ist damit der Adressat*innenzuschnitt, also das recipient design. Diese Form der Beziehungskommunikation lässt sich als „elementar und potentiell ubiquitär“ auffassen, denn „jede Äußerung [kann] auf ihre hintergründige Bedeutung für die Beziehung hin interpretiert werden.“ (Holly 2001: 1386) In der Analyse der Ratgeber findet Beziehungsaspekt 1 dadurch Berücksichtigung, dass beleuchtet wird, wie sich die Ratgebenden an die anti‐ zipierten Ratsuchenden wenden und wie sie diese Beziehung auf Basis der Verortung (s. u.) hinsichtlich der Dimensionen sprachlich gestalten (s. Kapitel 4.1, 4.2). In den Korpus-Texten kommt aber zudem etwas zum Tragen, was ich Bezie‐ hungsaspekt 2 nenne und was sich auf die explizit verbalisierte und empfohlene Beziehungsgestaltung bezieht. Unter diesem Aspekt ist von Bedeutung, welche konkreten Ratschläge den Ratsuchenden mit Bezug auf (non-)verbale Hand‐ lungen erteilt werden, um ihr begehrtes Gegenüber erfolgreich zu umwerben, wobei deutlich Geschlechterstereotype zum Vorschein kommen (s. Kapitel 4). Der Fokus dieses Beitrages liegt nun weniger auf dem größtenteils routinisiert und tendenziell hintergründig ablaufenden Beziehungsmanagement (=Bezie‐ hungsaspekt 1 ), sondern mehr auf den explizit in den Ratschlägen thematisierten (sprachlichen) Strategien, die das jeweilige Geschlecht anwenden soll, um erfolgreich eine Beziehung anzubahnen oder zu verfestigen (=Beziehungsas‐ pekt 2 ). Was jedoch bei beiden Beziehungsaspekten eine Rolle spielt, ist die Ver‐ Erkämpfte Liebe und programmierte Frauen 47 <?page no="48"?> 5 Im Anschluss an Fiehler (1987: 560) unterscheide ich im Folgenden begrifflich nicht zwischen Emotion und Gefühl, sondern verwende beides synonym. ortung. Damit meint Roth (2018: 303) die Selbst-Verortung der Sprecher*innen, verstanden als „Verweis auf den spezifischen sozialen Ort, von dem aus sie ihre […] Urteile fällen“. In den analysierten Texten zeigt sich dies auf Seiten der Ratgebenden etwa durch die Selbst-Verortung als kompetente epistemische Autorität mit Erfahrung im Bereich des Flirtbzw. Beziehungs-Coachings (z. B. „ich arbeite seit 9 Jahren als Beziehungscoach in Düsseldorf und habe über 230 Frauen in allen denkbaren Beziehungs- und Männer-Problemen beraten“, T1; Herv. SL). Damit wird eine kommunikative Konstellation geschaffen, in der die Ratgebenden sich als wissend darstellen und in dieser Hinsicht eine asymmetrische Beziehung etablieren, die die Rollenverteilung ‚Expert*in - Nicht-Expert*in‘ legitimiert (s. Kapitel 4.1). Verortungen werden aber nicht nur als Selbst-, sondern auch als Fremd-Ver‐ ortungen realisiert, d. h. im konkreten Fall, dass die Ratgebenden die Ratsu‐ chenden geschlechtsspezifisch als Männer oder als Frauen verorten, d. h. sie als Frauen und Männer sichtbar machen und adressieren (z. B. „Hey mein Lieber“, T5), um darauf aufbauend Hilfestellungen anzubieten. Ausgehend von dieser doppelten Basis - die Selbstverortung als kompetente und wissende Person und die geschlechtliche Fremdverortung der Ratsuchenden als Frauen oder Männer - werden dann Bewertungen hinsichtlich des Beziehungsaspekts 2 vorgenommen: Die gegebenen Tipps explizieren (un-)erwünschtes Verhalten und formulieren Ge- und Verbote (s. Kapitel 4.3.1). Emotionen bzw. Gefühle 5 sind nun elementarer Bestandteil dieser Beziehungs‐ aspekte. Sie sind zu verstehen als „spezielle Formen des Erlebens [meiner selbst, anderer und der Umwelt]“, die sich „als bewertende Stellungnahme“ (Fiehler 1987: 560) begreifen lassen und sich in der (sprachlichen) Interaktion auf unterschiedlichste Arten manifestieren, wobei sie als tendenziell hintergründige Basis ablaufen (=Beziehungsaspekt 1 ) oder expliziert und metakommunikativ verhandelt werden können (=Beziehungsaspekt 2 ). Die ausgedrückten Gefühle können wahrhaft empfunden oder (z. B. aus Gründen der konventionellen Höflichkeit) nur vorgegeben werden; diese Opposition spielt aber im Folgenden keine Rolle, denn von Interesse sind die Emotionsmanifestationen „unabhängig davon, ob die Beteiligten die manifestierten Emotionen auch empfinden bzw. ‚wirklich‘ haben.“ (Fiehler 2001: 1427) Nicht also das tatsächliche Haben einer Emotion ist von Relevanz, sondern dass und wie sie gezeigt wird. Dieses Wie ist angeleitet von vier zusammenhängenden Regeln der Emotionalität, nämlich 48 Sina Lautenschläger <?page no="49"?> der 1. Emotions-, 2. Manifestations-, 3. Korrespondenz- und 4. Kodierungsregel (Fiehler 2001). Die Emotionsregel besagt: „Wenn eine Situation gedeutet wird als Typ X, ist es angemessen und wird sozial erwartet, ein emotionales Erleben vom Typ Y zu haben“, wobei qua Manifestationsregel kodifiziert ist, „in welcher Situation welches Gefühl (wie intensiv) zum Ausdruck gebracht werden darf oder muß.“ (Fiehler 2001: 1428) Dies bezieht sich auch auf geschlechtsspezifische Erwartungen im Umgang mit Emotionen, wenn also z. B. „männliche Personen traurig sind, ist es angemessen und wird erwartet, daß sie dies nicht oder auf andere Weise als durch Weinen manifestieren“ (Fiehler 2001: 1428). Neben diesen zwei Regeln nennt Fiehler zudem die Korrespondenzregel; sie gibt vor welche korrespondierenden Emotionen bzw. welche korrespondierenden Manifesta‐ tionen angemessen und sozial erwartbar sind, wenn ich in einer Situation meinen Interaktionspartner als spezifisch emotional deute (z. B. verzweifelt, wütend, fröh‐ lich). (Fiehler 2001: 1428) Ganz grundlegend greift zudem die Kodierungsregel. Sie umfasst diejenigen Konventionen, die beschreiben und festlegen, welche Verhaltensweisen als Manifestation einer Emotion gelten. Sie betreffen also einerseits die Verhaltensweisen, mit denen ein Gefühl manifestiert werden kann, und andererseits die Indikatoren im Verhalten, an denen ein Gefühl beim Interaktionspartner erkannt wird. (Fiehler 2001: 1428) Nachdem bisher das Was und insbesondere das Wie beleuchtet wurden, gilt es jetzt, sich dem Ob zuzuwenden. 2.1 Schweigen Schweigen ist ein komplexes und ambivalentes Phänomen, denn die Frage, was Schweigen eigentlich ist, führt früher oder später zu der Antwort: Es ist nichts und zugleich nicht nichts. Es hat keine materielle Substanz, doch das Fehlen von Rede (und Schrift), also von lautlich (oder graphisch) realisierten sprachlichen Zeichen, bedeutet nicht auch das Fehlen von Bedeutung. Die Relevanz von Schweigen für die zwischenmenschliche Interaktion macht sich nicht zuletzt durch die Verbreitung des Smartphones und die (ausbleibende) Messenger-Kom‐ munikation auch im Alltag deutlich bemerkbar (vgl. dazu Lautenschläger 2021, 2022). Konkret heißt das: Durch das Smartphone und die darauf installierten Erkämpfte Liebe und programmierte Frauen 49 <?page no="50"?> 6 Reden steht hier als Hyperonym für verbalisierte Äußerungen, die sowohl mündlich als auch schriftlich realisiert werden können. 7 Ein Beispiel dafür ist das innige Schweigen, das eine so tiefe Verbindung zweier Personen indiziert, dass Worte überflüssig werden. 8 Das ist eine zugespitzte Aussage, die bzgl. der unterschiedlichen Ko- und Kontexte sowie der unterschiedlichen Schweige-Grade relativiert werden muss (vgl. Lauten‐ schläger 2022). Messenger (z. B. WhatsApp) ist mehr Reden 6 möglich geworden - und wo mehr Reden (möglich) ist, ist automatisch auch mehr Schweigen (möglich). Das Problematische daran ist, dass Schweigen soziokulturell unerwünscht ist, zumindest gilt dies für sogenannte Redekulturen (wie z. B. Deutschland, Frank‐ reich, USA, vgl. Oksaar 1988: 56ff.), weshalb es schnell beendet oder möglichst ganz vermieden werden sollte. Auch wenn Schweigen durchaus positive Kon‐ notationen haben kann 7 , gilt es in zwischenmenschlicher Interaktion prinzipiell als dispräferiert, sodass beim Ausbleiben einer Reaktion sofort geschlussfolgert wird: „‚[K]eine Reaktion bedeutet ein Problem‘.“ (Levinson 1990: 318) Reden ist somit der erwünschte Normalfall und Schweigen die markierte und problema‐ tische Abweichung. 8 Allerdings nimmt gerade der spielerische bzw. strategische Umgang mit Zuwendung und Abwendung, d. h. mit Reden und Schweigen, in Dating-Kontexten und der erwähnten Aufbauphase von Paarbeziehungen eine besondere Rolle ein (vgl. ausführlicher dazu Lautenschläger 2021; s. Kapitel 4.3.3). Dabei kommen zwei konträre Problemfälle zum Tragen: In Problemfall a) antwortet das Gegenüber nicht oder nicht schnell genug, was primär als Zeichen von Desinteresse und Unaufmerksamkeit interpretiert wird. In Problemfall b) (re-)agiert das Gegenüber zu schnell, zu wortreich und zu enthusiastisch, was diese Person uninteressant, bedürftig, abhängig und infolgedessen unattraktiv wirken lässt (vgl. Lautenschläger 2021). Während a) in vielerlei Beziehungs‐ konstellationen auftreten kann, scheint b) insbesondere in Dating-Kontexten und besonders der Aufbauphase problematisch zu sein. Daher empfiehlt es sich speziell dort, Schweigen gerade wegen seiner ablehnenden Wirkung wohl‐ dosiert dazu zu nutzen, die eigene Attraktivität herzustellen, zu wahren oder zu steigern, was sich auch in der Maxime Willst du gelten, mach dich selten niederschlägt (vgl. Lautenschläger 2021; s. Kapitel 4.3.3). Bevor dies im Folgenden thematisiert wird, sei in gebotener Kürze auf Flirt- und Courtshipkommunikation eingegangen. 50 Sina Lautenschläger <?page no="51"?> 2.2 Flirt- und Courtship-Kommunikation Sowohl bei Flirtals auch bei Courtship-Kommunikation handelt es sich um eine kommunikative Gattung, d. h. um „routinisierte, im Wissensvorrat der Mitglieder einer Gemeinschaft abgespeicherte, komplexe Handlungsmuster“, die „erhebliche interaktive und kognitive Vorteile für die Produktion, Prozes‐ sierung und Interpretation kommunikativer Vorgänge [bieten]“, weil sie die Kommunikation „in einigermaßen verlässliche und gewohnte Bahnen lenken“ (Günthner/ König 2016: 180). Sie geben den Interagierenden Sicherheit, weil sie sich der wechselseitigen Erwartungen bewusst sind und wissen, wie sie sich zu verhalten haben, wobei sie auf kommunikative Praktiken zurückgreifen. Dabei handelt es sich um „nicht notwendig identische, aber wiedererkennbare Handlungen und sie sind aufgrund ihrer Repetitivität sowohl den sie Ausfüh‐ renden wie auch den sie Beobachtenden vertraut.“ (Linke 2016: 357) Es sind also sprachliche Routinen, die musterhaft durch die Wahl bestimmter sprachlicher Mittel realisiert werden, wobei sie in ein reflexives Verhältnis zur kommunika‐ tiven Gattung treten. So macht etwa die kommunikative Gattung des Flirtens das liebevolle „Necken des Gegenübers und höflichkeitsbedingte Komplimente“ (Becker 2016: 158) erwartbar, während gleichzeitig der Einsatz dieser Mittel die Interaktion erst als Flirt charakterisiert und identifizierbar macht. Hinsichtlich der Zielsetzung und Motivation einer interpersonalen Da‐ ting-Kommunikation lässt sich zwischen Flirt und Courtship unterscheiden: Obwohl beides der persuasiven Kommunikation zuzuordnen ist - es geht prinzipiell darum, das begehrte Gegenüber von der eigenen Attraktivität zu überzeugen und (kurzzeitig) für sich einzunehmen - ist Flirten durch seine Un‐ verbindlichkeit und spielerische Vagheit gekennzeichnet (vgl. Becker 2009: 67). Das Flirten signalisiert die Bereitschaft, näher in Kontakt zu treten und ist erotisch motiviert, wobei aber die sexuellen Absichten nicht unmissverständlich und klar kommuniziert werden; das grenzt es von der sexuellen ‚Anmache‘ ab (vgl. Becker 2009: 67). Courtship-Kommunikation hingegen wird definiert als „ernst gemeinte Bemühungen um einen potentiellen Partner“ zum Zwecke der Paarbildung (Becker 2016: 150). Kurzgefasst heißt das: Der Flirt hat kein über die spielerische Kontaktaufnahme hinausgehendes vordefiniertes Ziel, die Courtship-Kommunikation schon. Das bedeutet, dass letztere zwar „pha‐ senweise spielerisches Flirt-Verhalten einschließen [kann], umgekehrt aber geht ein Flirt nicht unbedingt mit echten Partnerwerbungsabsichten einher.“ Erkämpfte Liebe und programmierte Frauen 51 <?page no="52"?> 9 So werden bei der Courtship-Kommunikation rhetorische Strategien der Emotionali‐ sierung identifiziert (Erzeugung von Sympathie, Erzeugung von Euphorie, Forcierung des Intimisierungsprozesses), die hier aber nicht vertieft werden können (vgl. Becker 2016: 166ff.). 10 Mit Selbstpflege sind z. B. Verhaltensweisen gemeint wie das Glätten bzw. Ordnen der Haare, das Hervorstrecken der Brust oder das Lecken der Lippen (vgl. Becker 2009: 68). (Becker 2016: 150) 9 Auch wenn sich also Differenzierungen zwischen Flirt- und Courtship-Kommunikation feststellen lassen, werden sie hier vereinfacht und mit Blick auf die Aufbauphase, die in den Ratschlägen behandelt wird, unter der Bezeichnung Flirt zusammengefasst. Für das Flirten lassen sich typische Praktiken benennen, auf verbaler Ebene z. B. „[s]cherzhaftes Flunkern, Necken des Gegenübers und höflichkeitsbedingte Komplimente“ (Becker 2016: 158) und „die Suche nach gemeinsamen Interessen“, „Witze sowie das Sprechen über intimere Themen (z. B. sexuelle Einstellungen)“ (Becker 2009: 68). Nonverbal zeigt es sich durch „die Verringerung körperlicher Distanz, Berührungen, die Aufnahme intensiven Blickkontakts, das Vorbeugen des Körpers in Richtung der Zielperson und die Intensivierung des Lächelns“ (Becker 2009: 68). Hier werden allerdings geschlechtsspezifische Unterschiede festgestellt: Generell wird Männern attestiert, verbal dominanter zu sein, wo‐ hingegen Frauen „beim Erwecken der Aufmerksamkeit durch sexuelle Signale die Oberhand haben“ (Spitzer 2011: 858). Sie schauten ihre Partner häufiger an, zeigten häufiger positive Gesichtsausdrücke, machten mehr flüchtige Berührungen und engagierten sich mehr in der Selbstpflege 10 […]. Männer machten dagegen mehr intimere Berührungen als Frauen. Weiterhin stellten McCormick/ Jones (1989) fest, dass Frauen in früheren Phasen mehr Kontrolle auf die Interaktion ausübten, während Männer erst in späteren, d. h. intimeren Phasen die Initiative […] übernahmen. (Becker 2009: 69) Flirten folgt somit den Regeln der Emotionalität (s. Kapitel 2) und äußert sich in geschlechtsspezifisch kodierten Manifestationen (s. Kapitel 3). Wird eine Situation als Flirt-Situation gedeutet, bestehen wechselseitig bestimmte soziale Erwartungen bzgl. des Zeigens spezifischen emotionalen Erlebens (=Emotionsregel). Dieses Zeigen folgt dabei insofern der Manifestationsregel, als die Geschlechter ihre Flirt-Avancen jeweils anders zum Ausdruck bringen sollen/ dürfen/ können (s. Kapitel 4). Soll Flirten gelingen, ist es gemäß der Korrespondenzregel notwendig, korrespondierende Manifestationen zu zeigen: Lächelt mein Gegenüber mich an, sollte ich zurücklächeln, berührt es meine Hand, sollte ich diese nicht hektisch wegziehen, wenn ich mein Interesse bekunden möchte. Dass z. B. Lächeln und Berührungen wiederum Indikatoren 52 Sina Lautenschläger <?page no="53"?> 11 Da die analysierten Ratgeber von einem Geschlechtsbinarismus ausgehen, beziehe ich mich hier ebenfalls nur auf Männer und Frauen, behaupte damit aber nicht, dass es nur diese zwei Geschlechter gäbe. für eine Flirt-Situation sind, ist über die Kodierungsregel normiert und führt zurück zu den in der Emotionsregel beschriebenen sozialen Erwartungen, die mit geschlechterstereotypem Wissen einhergehen. 3 doing gender und Geschlechterstereotype Wie in Kapitel 4 gezeigt wird, unterscheiden sich die Ratschläge maßgeblich, je nachdem, ob die antizipierten Leser*innen als Männer oder Frauen verortet werden. Getragen werden die Ratschläge daher von Geschlechterstereotypen, die die komplexe Heterogenität der Lebenswirklichkeit herunterbrechen, wobei stets heteronormativ ein heterosexuelles Begehren präsupponiert wird. Geschlechterstereotype sind Zuschreibungen, die nach einer vorangehenden Kategorisierung (als Mann/ Frau 11 ) erfolgen und sich auf positiv und/ oder ne‐ gativ bewertete Eigenschaften, Verhaltensweisen, Vorlieben, Fähigkeiten etc. dieser Kategorie beziehen. Sie sind Hilfsmittel zur Vereinfachung der Eindrücke und Informationen, die von unserer Umwelt auf uns einwirken - sie leiten unsere Wahrnehmung selektiv an und sind kognitiv ökonomisch, was nicht immer von Vorteil ist. Denn sie sind in einer Sprachgemeinschaft kollektiv und konsensuell geteilte einstellungsbezogene Wahrnehmungen, sie erfassen also nicht ein wie auch immer geartetes So-Sein eines X, sondern ein So-Wahrnehmen. Stereotype veranlassen uns daher dazu, „weitere Erfahrungen unter dem Einfluß der zur Verfügung stehenden Kategorien wahrzunehmen. Bin ich einmal mit dem passenden Stereotyp versehen, so bin ich besonders empfänglich für Anzeichen“ (Allport 1971: 199). Das erklärt auch, warum Stereotype trotz gesell‐ schaftlichen Wandels als weitgehend änderungsresistent gelten: Als tradierte Deutungsfolie vermitteln sie Sicherheit und geben uns das Gefühl, dass ein X tatsächlich so ist, wie wir auf Basis des kollektiv-konsensuellen Wissens annehmen. So gilt seit Jahrhunderten, dass Frauen emotional, abhängig, passiv sowie hingebungs- und liebevoll sind, weshalb ihnen der häuslich-familiäre Wirkungsbereich zugesprochen wird, wohingegen Männer mit Merkmalsasso‐ ziationen wie Selbstständigkeit, Aktivität, Durchsetzungsfähigkeit und Ratio‐ nalität verbunden sind und ihnen deswegen der öffentliche Bereich zugeordnet wird (vgl. z. B. Bilden 1980). Zudem sind Genderstereotype zweiteilig, denn sie umfassen deskriptive und präskriptive Anteile (vgl. Eckes 2008: 171), die reziprok sind: Aus einer Beschreibung der Norm im Sinne des Durchschnitts (=wie Männer und Frauen Erkämpfte Liebe und programmierte Frauen 53 <?page no="54"?> 12 Gender ist dabei nur eine Master-Kategorie neben anderen (wie Status, Rolle, Alter, Beruf etc.), die aber in den Ratgebern ganz explizit relevant gesetzt wird. Das Alter hingegen spielt nur implizit eine Rolle: Sowohl durch die Sprachstilistik (z. B. durch Anglizismen wie Player, Playboy, Friendzone, emotionale Connection, aber auch durch Personenbezeichnungen wie Mädchen und Jungs, vgl. T5) als auch durch die beschrie‐ benen fiktionalen Szenarien (Flirten im Club, vgl. T7) kann stereotyp erschlossen werden, dass z. B. die antizipierten männlichen Adressaten nicht jenseits der 50 Jahre sind. ‚sind‘ und sich ‚normalerweise‘ verhalten) folgt die Ableitung einer gültigen Norm im Sinne einer normativen Erwartung (=wie Männer und Frauen sein sollen). Geschlechterstereotype lassen sich somit klassifizieren als eine Form des verstehensrelevanten Wissens. Damit sind alle kontextabhängigen sprachlichen und außersprachlichen Faktoren gemeint, „die in irgendeiner Weise notwen‐ dige oder wesentliche Voraussetzung für das Verstehen einer sprachlichen Äußerung sind.“ (Busse 1997: 16) Dieses Wissen kann expliziert werden, um eine Verständigungsbasis erst herzustellen, oder aber es kann - und hier sind Genderstereotype anzusiedeln - stillschweigend als bereits vorhandenes Wissen präsupponiert werden. Es leitet unser Handeln in vielerlei Hinsicht an und wird mit dem Terminus doing gender (West/ Zimmerman 1987) beschrieben: Geschlecht (Gender) ist nicht etwas, das wir einfach haben, sondern das wir aktiv tun; die kulturell-soziale Konstruktionsleistung steht im Fokus und Gender wird als ein (mehr oder weniger bewusstes) Merkmal situationalen Handelns 12 auf Basis des Stereotypwissens verstanden. In den Ratgeber-Texten finden sich nun ganz konkrete Vorstellungen davon, was doing being a man bzw. doing being a woman bedeutet, wobei dies mit einem biologischen So-Sein explizit wie implizit begründet und plausibilisiert wird (s. besonders Kapitel 4.3.4.). Dabei kommen bestimmte, geschlechtsspezifisch kodierte Manifestationen des ‚richtigen‘ Flirtens zum Tragen, die sich dem traditionellen Flirtstil (vgl. Spitzer 2011: 857) zuordnen lassen, der in den analy‐ sierten Texten als Ideal proklamiert wird: „Wer traditionell flirtet, entspricht den überkommenen und weithin bekannten Geschlechterrollen: Männer sind aktiv, Frauen passiv“ (Spitzer 2011: 857-858). 4 Erkämpfte Liebe und programmierte Frauen: geschlechtsspezifische Ratschläge Bevor in Kapitel 4.3 der Fokus auf die (re-)produzierten geschlechtsspezifischen Stereotype gelegt wird, sollen zuvor andere Auffälligkeiten thematisiert werden, 54 Sina Lautenschläger <?page no="55"?> die sich als textsortenspezifische Muster der Textsorte Ratgeber verstehen lassen (s. Kapitel 4.1, 4.2). Neben der Betrachtung der (zum Zwecke der Emotionalisierung) verwen‐ deten Lexik ist insbesondere für die Analyse der mehr oder weniger subtil zu Tage tretenden Geschlechterverortungen und -stereotypen die Argumen‐ tationsanalyse methodisch hilfreich. Denn nicht nur legitimieren sich die Ratgebenden selbst argumentativ als epistemische Autoritäten (s. Kapitel 4.2), sondern sie führen daneben Argumente an, die ihre geschlechtsstereotypen Ratschläge plausibilisieren sollen (s. Kapitel 4.3). Im Zentrum einer Argumentationsanalyse steht das dreiteilige Enthymem, das aus einer strittigen These besteht, die mittels eines stützenden Arguments zu einer anerkannten Konklusion werden soll, wobei die Schlussregel (=Topos) beides miteinander verbindet. Der jeweilige Topos basiert auf Meinungs- und Erfahrungswissen und zielt daher „auf Plausibilität und nicht auf letzte Gewiss‐ heit“, ist also abhängig vom „kollektive[n] Wissen einer Kulturgemeinschaft“ (Ottmers 2007: 75,69). Er muss bei der konkreten Argumentation nicht expliziert werden, kann es aber, wobei gilt: Je unstrittiger eine These ist, desto impliziter kann das gesamte Enthymem ausfallen; je strittiger etwas ist, desto eher wird verstehensrelevantes Wissen verbalisiert. Dies lässt sich beispielhaft am für die Textsorte Ratgeber konstitutiven Autoritäts-Topos demonstrieren, der sich aus der in Kapitel 2 dargestellten Selbst-Verortungen als Expert*in speist (vgl. auch Kapitel 4.2). Abb. 1: Enthymem ohne und mit Beispiel Erkämpfte Liebe und programmierte Frauen 55 <?page no="56"?> 4.1 Prototypische Charakteristika von Ratgebern Die Textsorte Ratgeber zeichnet sich grundlegend durch ihre appellative Instruk‐ tionsfunktion aus: Die erteilten Ratschläge bieten den antizipierten Leser*innen einen nicht-bindenden Handlungsvorschlag an, der sie befähigen soll, sich aus einer als problematisch wahrgenommenen Situationen zu befreien. Das RATGEBEN ist dabei zu verstehen als eine komplexe sprachliche Praktik mit verschiedenen Teilpraktiken, bei der der explizite Ratschlag den „Knotenpunkt“ (Helmstetter 2014: 108) darstellt. Im Zuge der unidirektionalen textuellen Kom‐ munikation wird eine asymmetrische Rollenverteilung etabliert, bei denen sich die Ratgebenden als epistemische Autoritäten mit entsprechendem Wissen und Erfahrungswerten selbstverortend darstellen (s. Kapitel 4.2). Somit sind vier sprachliche Praktiken konstitutiv für die Textsorte Ratgeber: Es wird 1. ein Problem erörtert, das 2. von einer epistemischen Autorität (=den Ratgebenden) 3. durch den gegebenen Ratschlag in eine Problemlösung überführt wird (=Kno‐ tenpunkt), wobei 4. Argumente gegeben werden, die diesen Ratschlag plausibi‐ lisieren sollen. All diese Aspekte verweisen auf verstehensrelevantes Wissen, das mal mehr, mal weniger implizit vorausgesetzt wird. Das ist nicht nur, aber besonders mit Blick auf die von den Ratgebenden antizipierte und entworfene Problemstellung interessant, da sich daran erschließen lässt, welche ‚typischen‘ Probleme Männer und Frauen ‚normalerweise‘ haben - sie verweisen somit direkt auf stereotype Annahmen (s. Kapitel 4.3.1). Bei den vorliegenden Ratschlägen handelt es sich sprechakttheoretisch um solche, die sich als TIPP konkretisieren lassen: Als TIPP soll ein RATSCHLAG verstanden werden, bei dem Sp2’s Problem darin besteht, einen bestimmten Ergebniszustand p zu erzielen. Der Ratgeber Sp1 kennt aufgrund seiner Erfahrung auf dem entsprechenden Gebiet eine Reihe von Lösungs‐ wegen für Sp2’s Problem und nennt ihm die Handlung, bei der seines Erachtens die größte Aussicht auf Erfolg besteht. (Hindelang 2010: 60) Die gegebenen Tipps sollen letztlich zu Selbstermächtigung bzw. Selbstwirk‐ samkeit führen und ein Gefühl der Kontrollierbarkeit suggerieren. Denn den Ratsuchenden wird an keiner Stelle der Eindruck vermittelt, das Problem nicht lösen zu können oder der Situation passiv ausgeliefert zu sein, sondern aktiv selbst etwas für das eigene (Liebes-)Glück tun zu können (zu den Einschrän‐ kungen s. Kapitel 4.2). Prototypisch für diese Art der Ratgeber ist zudem, dass sie Emotionali‐ sierungsstrategien erkennen lassen. Beim Emotionalisieren handelt es sich „um ein komplexes stilistisches Handlungsmuster, das durch verschiedene 56 Sina Lautenschläger <?page no="57"?> Unterhandlungsmuster und Textmerkmale konstituiert werden kann (z. B. KONTRASTIEREN, VERDICHTEN, HERVORHEBEN […])“ (Ortner 2014: 286). Einige Emotionalisierungsstrategien wie z. B. die unmittelbare Anrede, das Schaffen eines Wir-Gefühls und das Stützen von Behauptungen durch Au‐ toritäten (vgl. Ortner 2014: 286-287) lassen sich unmittelbar verbinden mit der von Holly (2001) erwähnten horizontalen und vertikalen Dimension des Beziehungsaspektes 1 (s. Kapitel 4.2). Was ebenfalls die emotionale Nähe und Vertraulichkeit unterstützt, dabei die asymmetrische Konstellation aber weiter ausbaut, ist das Einweihen der Ratsuchenden in Geheim- und Spezialwissen. Häufig tritt dies auf in Kombination mit Lexemen, die dem Wortfeld Magie/ Zau‐ berei zuzuordnen sind, die wiederum mit psychologischer und/ oder biologischer Manipulation in Verbindung stehen (s. Kapitel 4.2, 4.3.4). Dabei zeigt sich in den analysierten Texten ganz grundlegend die geschlechtsspezifische Verortung und damit einhergehend die Orientierung an Geschlechterstereotypen, die das Grundgerüst der Ratschläge bilden. Stereotype (Wert-)Vorstellungen werden sowohl explizit als auch implizit herangezogen, um vermeintlich natürliche Kausalitäten herzustellen und damit argumentativ die Wirkkraft der erteilten Ratschläge zu plausibilieren (s. Kapitel 4.3.4). Bevor in den Abschnitten von Kapitel 4.3 der Fokus auf jene (re-)produ‐ zierten geschlechtsspezifischen Stereotype gelegt wird, sollen zunächst die eta‐ blierte asymmetrische Rollenverteilung und die Emotionalisierungsstrategien beleuchtet werden. 4.2 Asymmetrische Rollenverteilung und Emotionalisierungsstrategien (Beziehungsaspekt 1 ) Wie bereits angesprochen und in Abb. 1 verdeutlicht, verorten sich die Ratgeb‐ enden selbst als Expert*innen und bedienen dadurch den Autoritäts-Topos, der gestützt wird durch den Erfahrungs- und den Daten-Topos. Konkret zeigt sich in den Selbstverortungs-Texten, die auf den jeweiligen Websites zu finden sind, dass die Erfahrung zum einen mit der Angabe der jahrelangen Praxis belegt werden soll und zum anderen die Menge an Männern und Frauen benannt wird, denen bereits geholfen wurde. Wenn nicht mit Numeralen argumentiert wird, kommt die Expertise der Ratgebenden z. B. durch eine universitäre Ausbildung („Dan ist ein Psychologie-Absolvent“, T3) oder die berufliche Selbstbezeichnung („Beziehungsberaterin Sofia Müller“, T6) zum Ausdruck. Diese Selbst-Verortung ist maßgeblich für die asymmetrische Rollenkonstellation, die beim Ratschlagbzw. Tipp-Geben konstitutiv ist (vgl. Hindelang 2010: 60; s. Kapitel 4.1), wobei sie Erkämpfte Liebe und programmierte Frauen 57 <?page no="58"?> 13 Während ein Tipp ein „nützlicher Hinweis, guter Rat, der jemandem bei etwas hilft“ ist, handelt es sich bei einem Trick auch um ein „listig ausgedachtes, geschicktes Vorgehen“, um ein „Manöver, mit dem jemand getäuscht, betrogen wird“ (duden.de). noch durch andere sprachliche Praktiken, z. B. das Verraten von Geheimnissen, untermauert wird (s.-u.). Der Knotenpunkt von Ratgebern ist der Ratschlag, dessen Ziel die Über‐ führung eines Problems in eine Lösung ist. Insofern sind einschränkende Äußerungen, wie sie in T3, T4, T6 und T8 getätigt werden, ebenso überraschend wie der Hinweis auf die Möglichkeit des Scheiterns, die in T4, T5, T6 und T8 angesprochen wird. Die Deutlichkeit dieser Einschränkungen reicht dabei von subtilen Hinweisen („Du wirst versuchen, das Herz dieser Frau zu erobern, egal wie es ausgehen mag“, T8, Herv. SL) bis hin zur Verweigerung einer Erfolgsga‐ rantie („Natürlich können wir nicht garantieren, dass du damit Erfolg hast, aber deine Chancen steigen enorm an“, T3). Dabei ist jedoch festzustellen, dass die Propositionen eine konzessive satzsemantische Relation aufweisen - es wird ein Zugeständnis gemacht, dem im direkten Anschluss etwas entgegengesetzt wird -, weshalb der Fokus auf der Beeinflussbarkeit der Situation liegt. Auch die Verweise auf ein mögliches Scheitern zentrieren durch ihre konzessive Relation die positiven Aspekte und zielen auf die Stärkung des Selbstbewusstseins der Ratsuchenden („Vielleicht hat die Angesprochene kein Interesse an dir. Aber ganz ehrlich: […] Auch mit Korb bist du der Mann, der sich getraut hat, den ersten Schritt zu machen. Darauf kannst du stolz sein! Das kriegen die meisten Jungs nicht hin.“ T5, Herv. SL). Zudem ist die Lexik auffällig, die der Emotionalisierung und Intensivierung dient. Besonders die produktbewerbenden Texte T1 und T2 fallen durch solche intensivierenden Adjektive, Verben und Hyperbeln auf, z. B. „Das geheime Ver‐ langen ist etwas, wonach er LECHZT…“ (T1); „Sein Herz gehört dir und nur DIR für immer und ewig“ (T2, Herv. jeweils SL). Kombiniert wird dies mit Lexemen, die sich dem Wortfeld Magie/ Zauberei zuordnen lassen und auf das spezielle Geheimwissen der Ratgebenden referieren: Es wird nicht nur von „Tipps“, sondern auch von „Tricks“ 13 gesprochen, denen das begehrte Gegenüber „völlig schutzlos ausgeliefert ist.“ (T2) Die Rede ist von einem „geheimen Lern-Hack“ (T5), von „magischen Sätze[n]“ (T2) oder von „psychologischen Tricks“ (T6), mit deren Hilfe man z. B. den „Gehirnbereich eines Mannes umgehen [kann], der für das logische Denken zuständig ist“, um direkt und unmittelbar „sein Herz [zu, SL] erreichen“ (T2). Dieser (für andere geheime) „Schatz an Wissen und Erfahrung“ (T7) wird also vertraulich an die Ratsuchenden verraten, wodurch gleichzeitig die asymmetrische Rollenkonstellation untermauert wird: Die Wissenden teilen sich in selbstbestimmtem Umfang den Unwissenden mit. 58 Sina Lautenschläger <?page no="59"?> Daneben fallen weitere Emotionalisierungsstrategien auf: Durch die unmit‐ telbare Adressierung der Leser*innen mit „Du“ wird auf horizontaler Ebene eine nähesprachliche Beziehung etabliert, die verstärkt wird durch alltags- und umgangssprachliche Ausdrücke (z. B. „Hey mein Lieber“, „Playboy“, „Friend‐ zone“, „Kumpel“, T5). Stilistisch sind die Texte einfach gehalten: Es handelt sich um tendenziell parataktische und kurze Sätze; häufig finden sich auch dialogische Inszenierungen („[…] also fragst du dich jetzt: Wie verliebt sie sich in mich? “ T6), die gleichzeitig dazu dienen (können), in der vertikalen Dimension die asymmetrische Rollenverteilung zu stabilisieren. Durch die Inszenierung als Leidensgenoss*in wird nicht nur eine Stärkung des Wir-Gefühls und eine Solidarisierung bewirkt (z. B. „lass dir das von einer Frau gesagt sein, die gefühlt 100 Mal auf die Nase gefallen ist“, T4), sondern gleichzeitig die Expertise und Autorität der Ratgebenden herausgestellt: „Ich weiß genau, wovon ich spreche! Ich habe das gleiche über viele Jahre gemacht und konnte einen Lern-Hack entwickeln, der es mir ermöglichte, genau die Frauen zu treffen, auf die ich stand“ (T5). Als ultimative Argumente, die die gegebenen Ratschläge in ihrer Wirkkraft belegen sollen, werden zudem Geschlechterstereotype herangezogen wie „Der Mann will seine Beute jagen“ (T4), „Tendenziell mögen Männer Frauen, die ein wenig Häuslichkeit zeigen“ (T3) oder „Frauen stehen auf selbstbewusste Männer“ (T5) - diesen und weiteren Argumenten widmen sich die folgenden Kapitel. 4.3 Geschlechtsspezifische Stereotype: Beziehungsaspekt 2 Die stereotypen Vorstellungen davon, wie Männer und Frauen vermeintlich sind, was sie mögen und nicht mögen und wie sie sich typischerweise verhalten, sind in den Texten omnipräsent, schlagen sich aber in ihrer Deutlichkeit unterschiedlich nieder. Im Folgenden werden der besseren Übersichtlichkeit halber drei Aspekte voneinander getrennt betrachtet, die aber allesamt miteinander verwoben sind: die antizipierte Problemstellung und Zielsetzung, deretwegen der Rat gesucht wird, das empfohlene Spiel aus Nähe und Distanz und die Naturalisierung von Stereotypen. 4.3.1 Antizipierte Problemstellung und Zielsetzung Schon in Kapitel 4.1 wurde erwähnt, dass u. a. die Problemerörterung ein konstitutives Element von Ratgebern ist, das jeweils unterschiedlich realisiert Erkämpfte Liebe und programmierte Frauen 59 <?page no="60"?> 14 Tipps, die zwar beiden Geschlechtern gegeben werden, aber dennoch eine geschlechts‐ spezifische Unterscheidung erkennen lassen, werden in Kapitel 4.3.2 aufgegriffen. wird: Während in T3 und T4 direkt Ratschläge in Form von Gebzw. Verboten erteilt werden, erfolgen in allen anderen Texten explizite Auflistungen mögli‐ cher Problemfälle, denen bestimmte Zielsetzungen gegenübergestellt werden, die geschlechtsdifferent kodiert sind. Kurzum: Männer ‚sind‘ zumindest stel‐ lenweise von anderen Problemen 14 betroffen als Frauen und verfolgen andere Ziele. So fokussieren T1 und T2 primär das als problematisch angesehene Verhalten eines Mannes, der sich als schweigend-undurchsichtig skizzieren lässt (z. B. „Er [meldet] sich ohne klaren Grund nicht mehr oder seltener“, T1; „er [ignoriert] deine Anrufe und Nachrichten völlig“, T2). Schweigen und kommunikativer Rückzug werden aber nicht nur als von Männern verursachtes Problem thematisiert, sondern ganz gegenteilig auch als erfolgversprechende Strategie insbesondere für Frauen vorgeschlagen (s. Kapitel 4.3.3). Die Ratgebenden gehen bei ihren Tipps für Frauen unisono davon aus, dass eine Beziehung das Ziel ist - dies wird mal mehr, mal weniger deutlich verbalisiert, z. B. „Wir sagen dir, was helfen kann, damit er sich in dich verliebt“ (T4), „Wenn du willst, dass er ganz von selbst eine Beziehung mit dir eingehen möchte“ (T2, Herv. jeweils SL). Dass das Ziel eine romantische Beziehung ist, liegt bei der formulierten Suchanfrage Wie erobere ich sein Herz? zwar nahe, zeigt aber Unterschiede zu den Zielen, die Männern unterstellt werden. Zwar wird auch hier darauf eingegangen, dass der Mann sich „nach einer Partnerschaft“ sehnt (T5), aber im Gegensatz zu den Tipps für Frauen wird hier zusätzlich dazu deutlich die sexuelle Motivation herausgestellt, sei es durch das Erwähnen optionaler Zielsetzungen („Egal, was du dir wünschst, eine heiße Affäre, einen One-Night-Stand oder eine Liebesbeziehung“, T5) oder durch konkrete Tipps („Du [musst] auch eine romantische Atmosphäre erzeugen, damit Deine Angebetete sich […] Dir hingeben kann fürs Liebesspiel“, T7, Herv. jeweils SL). Diese (unerfüllten) sexuellen Wünsche werden bereits in der Problemstellung fokussiert, wobei die Friendzone eine besondere Gefahr für Männer darstellt. Eine Möglichkeit, dieses Problem zu umgehen, ist das Forcieren von körperlicher Nähe (s. u.) und generell Aktivität: Wenn „du nach dem Date nicht mit ihr in der Kiste [landest]“, dann liegt das daran, dass die Frau „wahrscheinlich darauf gewartet [hat], dass du den nächsten Schritt machst“ (T5) (s. Kapitel 4.3.4). Was mögliches männliches Fehlverhalten betrifft, wird insbesondere in T7 eine ganze Reihe benannt, die sich letztlich herunterbrechen lässt auf die Forderung: Sei nicht zu offen, zu kommunikativ und zu nett. Generell führe 60 Sina Lautenschläger <?page no="61"?> dieses „unterwürfige[ ] Auftreten“ dazu, „dass die Frau sich entweder von Dir bedrängt fühlt oder Dich als bedürftigen, ‚zu netten‘ Mann ohne Selbstbewusst‐ sein wahrnimmt.“ (T7) Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit, dies zeigt sich geschlechtsunabhängig in den Texten, werden als Ideale entworfen, an denen es sich zu orientieren gilt - wie dies jedoch gemäß der Manifestationsregel realisiert werden soll, ist wiederum geschlechtsspezifisch kodiert und wird in den folgenden Kapiteln aufgezeigt. 4.3.2 Authentizität, Humor, Komplimente und Körpersprache Für Männer wie für Frauen gilt als oberste Prämisse: Sei immer du selbst. Dies wird mit einem ‚So-Sein des Begehrens‘ begründet, wie z. B. „Frauen lieben Männer, die sich wohlfühlen und von Anfang an ihr wahres Gesicht zeigen“ (T8) oder „Natürlichkeit kommt bei Männern mehr an als gekünsteltes Getue“ (T3). Die Authentizitätsforderung wird jedoch eingeschränkt: So soll sich eine Frau etwa nicht empören, wenn er auf dem Date „einer anderen Frau hinterherschaut“ (T4), und Männer sollen witzig und humorvoll sein, es jedoch „nicht übertreiben. Sonst bist Du […] nur noch ein Clown“ (T7). Die Prämisse muss entsprechend umformuliert werden zu: Sei immer du selbst, es sei denn, du bist/ machst (nicht) X. Dieses X kann dabei in den Ratschlägen variieren, musterhaft zeigen sich jedoch Bezugnahmen auf Manifestationsregeln bzgl. Humor, Komplimenten und Aufmerksamkeit sowie die Beachtung der (eigenen) Körpersprache. Wichtig im Zusammenhang mit ‚richtigem‘ Flirten ist das spielerische Ne‐ cken des Gegenübers (vgl. auch Kapitel 2.2), wobei dies in den Ratschlägen an Männer in allen Texten, bei denen an Frauen jedoch nur in einem Text erwähnt wird („Lache auch mal über dich und necke ihn“, T4, Herv. SL). Dass Männer (über sich selbst) lachen sollen, wird hingegen an keiner Stelle erwähnt, stattdessen geht es darum, die Frau zum Lachen zu bringen, da dies als erfolgversprechende Flirt-Strategie konzipiert wird, denn „[m]an sagt, wenn du sie zum Lachen bringen kannst, kannst du alles tun.“ (T6) Auch das Zeigen von Aufmerksamkeit und das Aussprechen von Kompli‐ menten ist geschlechtsspezifisch kodiert und kommt in den Texten 1 bis 4 kaum vor. Will die Frau aber ihre Aufmerksamkeit zeigen, sollte sie dies in Kombination mit der Signalisierung von Häuslichkeit tun: (1) Überrasche ihn doch mal mit einem selbst gebackenem [sic! ] Kuchen, einem Salat, bei einem Treffen im Park, oder [sic! ] Tendenziell mögen Männer Frauen, die ein wenig Häuslichkeit zeigen. Du signalisierst ihm dadurch, dass du den Haushalt meistern kannst und ihn sowie seinen späteren Nachwuchs versorgen könntest. (T3) Erkämpfte Liebe und programmierte Frauen 61 <?page no="62"?> 15 Vgl. zur Authentizitätsforderung und der Auseinandersetzung mit ‚Spielchen‘ Busch (i.d.B.). Männern hingegen wird geraten, der Frau kaum oder keine Komplimente zu ihrem Äußeren zu machen, denn als ‚schönes Geschlecht‘ bekommt sie die „von jedem dahergelaufenen Dödel, der sie nachts um 3 Uhr besoffen in der Disco anquatscht“ (T7). Stattdessen werden charakter-bezogene Komplimente empfohlen, „die nur auf SIE zutreffen! “ (T7) und so indizieren, „dass sie in deinen Augen etwas Besonderes ist“ (T6). Was die Körpersprache und die Initiierung von Körperkontakt betrifft, finden sich ebenfalls mehr Tipps für Männer als für Frauen. Der Augenkontakt, begleitet von Lächeln, wird dabei stets erwähnt, ebenso der Körperkontakt, denn die unaufdringliche Suche nach „körperliche[r] Nähe“ ist die „beste Methode, um die Friendzone zu vermeiden! “ (T7) Geeignet sind dafür Umarmungen sowie Berührungen an Hand, Arm, Schulter oder Rücken. Dabei wird auch darauf verwiesen, die Körpersprache der Frau einzubeziehen, denn ihre Flirtsignale werden in einer bestimmten Weise manifest (vgl. Kapitel 2.2): (2) Lacht sie zum Beispiel ständig über Deine (albernen) Witze, legt den Kopf schief und fährt sich nervös durchs Haar, ist das ein klares Zeichen für Interesse. Und kommt sie Dir beim Date körperlich nahe und schaut Dir gleichzeitig tief in die Augen, heißt das wahrscheinlich: Sie will Dich küssen! (T7) Neben Authentizität, Humor bzw. dem Bereitwilligen Lachen über Witze und dem Zeigen flirtspezifischer Signale ist auch das Spiel mit Nähe und Distanz, also Reden und Schweigen, ein relevanter Punkt in den Ratgebern. 4.3.3 Spiel (k)ein Spielchen: Reden und Schweigen In fast allen der acht Ratgeber-Texte spielt der Umgang mit Schweigen eine Rolle: In T1 und T2 wird das Schweigen des begehrten Mannes in der Problem‐ schilderung aufgeführt (s. Kapitel 4.3.1); in T3, T4, und T7 wird es als empfohlene Strategie der Aufmerksamkeitserregung thematisiert. T6 ist der einzige Text, in dem explizit von strategischem Schweigen abgeraten wird, wobei dies mit dem Unreife-Topos („Vielleicht ist es zu Schulzeiten interessant“) argumentiert wird, der mit der Forderung nach Authentizität (s. o.) verbunden wird („Frauen mögen ehrliche und direkte Männer“) 15 : (3) Willst du sie für dich gewinnen, dann spiele keine Spielchen mit ihr. So interessant es auch klingen mag, warm-kalt-Spielchen zu spielen, sich rarmachen [sic! ] und unnahbar zu sein, ist dies in den meisten Fällen unerwünscht und kann sie 62 Sina Lautenschläger <?page no="63"?> leicht vertreiben. Vielleicht ist es zu Schulzeiten interessant, wenn wir noch nicht wissen, was eine echte Beziehung bedeutet, aber wenn wir etwas Ernsthafteres wollen, gibt es keinen Platz für Spiele. […] Frauen mögen ehrliche und direkte Männer, die wissen, was sie wollen. (T6) Die anderen Texte hingegen verweisen auf die Relevanz von sprachlicher Zu‐ rückhaltung bis hin zu Schweigen. So wird Frauen ein modifiziertes Redeverbot erteilt („Rede nicht zu viel“; „lass ihn auch mal zu Wort kommen“, T3), das argumentativ an das komplementäre und biologisierte Geschlechterstereotyp Männer sind aktive Jäger - Frauen sind passive Beute rückgebunden wird: (4) Rede nicht zu viel. […] Denke immer daran, dass Männer grundsätzlich gern selbst erobern möchten. Also gib ihm das Gefühl, dass er derjenige ist, der die Fäden zieht. Gebe niemals anfänglich zu viel von dir preis. Rede auch nicht unentwegt, sondern lass ihn auch mal zu Wort kommen. […] Was du nicht tun darfst, ist, stets nach einem neuen Date zu fragen. Lass ihn der aktive Part sein und nach Dates fragen. So siehst du auch gleich, ob er überhaupt Interesse an dir hat. (T3, Herv. SL) Ähnlich verfährt T4 und entwirft dabei zusätzlich ein stereotypisch weibliches Szenario der Nicht-Autarkie („Ich kenne das Phänomen [des Wartens] von Single-Freundinnen“) und der potenziellen Gefahr, den begehrten Mann mit der eigenen Bindungsfreudigkeit zu verschrecken: (5) Bleib autark - und warte nicht. Ich kenne das Phänomen von Single-Freundinnen […]. […] Du hast dein eigenes Leben. Also, treffe dich mit deinen Mädels, sei nicht immer direkt verfügbar, wenn er anklopft. Leg das Smartphone auch mal stundenweise weg (yes, das schaffst du! ). Deine Unabhängigkeit wird ihm im besten Fall gefallen. […] Sich rar machen - zumindest ein bisschen. Ja, auch im 21. Jahrhundert gilt anscheinend noch, was schon zur Steinzeit praktiziert wurde: Der Mann will seine Beute jagen. „Willst du gelten, mach dich selten“ - blöder Spruch, aber leider in den meisten Fällen wahr. Denn liegt die Beute schon fertig auf einem Teller, verliert sie an Reiz für ihn. Sprich: Sein Interesse an dir sinkt. Also gibst du ihm nur Häppchenweise, was er will. Antworte nicht sofort auf seine Nachrichten. Gib dich auch mal etwas geheimnisvoll. Und platz nicht beim dritten Date mit deinen Gefühlen raus: „Wollen wir ein Paar sein? “ Keine gute Idee. […] Den Jagdinstinkt zu wecken, in dem [sic! ] du dich rar machst, ist natürlich ziemlich schwer, wenn die Hormone verrückt spielen und du gedanklich schon mit ihm zusammen gezogen, eine Hochzeit gefeiert und eine Familie gegründet hast. Aber es kann wirken. (T4, Herv. SL) Erkämpfte Liebe und programmierte Frauen 63 <?page no="64"?> So wird basierend auf dem Genderstereotyp der weiblichen Emotionalität, nämlich dem unkontrollierten Herausplatzen der Gefühle, und dem ‚übertrie‐ benen‘ Bindungswillen - Frauen haben zu früh („beim dritten Date“) bereits Pläne geschmiedet, was die gemeinsame Zukunft betrifft (zusammenziehen, Hochzeit feiern, Familie gründen) - ein Gegenpol zu männlichen Stereotypen entworfen, die u. a. das freie Ausleben von Sexualität und Beziehungs-Scheu beinhalten. Diesen stereotyp unterstellten Eigenschaften des Mannes kann strategisch entsprochen werden, indem die Frau durch gezieltes Schweigen („Antworte nicht sofort auf seine Nachrichten“; „Leg das Smartphone auch mal stundenweise weg“) nicht nur Unabhängigkeit demonstriert, sondern sie kann damit zugleich den ‚natürlichen‘ Jagd- und Beutetrieb des Mannes wecken (s. Kapitel 4.3.4). Doch nicht nur Frauen, sondern auch Männern wird zu strategischem Schweigen und somit zu einem „Spiel aus Nähe und Distanz“ (T7) geraten. Auch hier gilt (kommunikative) Verfügbarkeit als „nicht sexy“, was aber nicht stereotyp auf ein Geschlecht zurückgeführt, sondern generalisiert als ‚typisch menschlich‘ charakterisiert wird: (6) Bekommt sie außerdem das Gefühl, dass Du leicht zu haben bist als (potenzieller) Partner, verliert sie schnell das Interesse. Denn die Wahrheit bei der Eroberung einer Frau ist: Psychologisch gesehen begehren wir Menschen immer das am meisten, was wir NICHT so leicht haben können. […] Deshalb solltest Du der Frau zwischendurch die Aufmerksamkeit entziehen und Dich rar machen wie der Weihnachtsmann im Hochsommer. Also auf Tauchstation gehen… Das heißt konkret: Melde Dich ruhig mal einen Tag lang nicht bei ihr und lass sie im Ungewissen darüber, was Du für sie empfindest. Auch mit Komplimenten hältst Du Dich besser zurück. Dadurch wirkst Du interessant. Diese Unberechenbarkeit wird sie ganz verrückt machen - und dafür sorgen, dass sie anfängt, Dich richtig zu vermissen! (T7) Prinzipiell wird in den Ratgebern mehrheitlich ein Spiel mit Reden (=Zuwen‐ dung) und Schweigen (=Abwendung) empfohlen, um das Interesse des Gegen‐ übers zu erwecken oder aufrechtzuerhalten. Wie schon andernorts gezeigt (vgl. Lautenschläger 2021) und in Bsp. 5 explizit benannt, gilt für Dating im 21. Jahrhundert nach wie vor - wenn nicht sogar: in besonderem Maße - die Devise Willst du gelten, mach dich selten. Dabei finden argumentative Rückbindungen an Genderstereotype statt, die naturalisiert werden: Männer und Frauen sind qua Natur so, wie die Texte es konstatieren, und wegen dieser biologischen Berechenbarkeit können beide Geschlechter in gewissem Maße beeinflusst, wenn nicht sogar manipuliert werden. 64 Sina Lautenschläger <?page no="65"?> 4.3.4 „Das ist Biologie“: naturalisierte Stereotype Wie bereits gezeigt, basieren die Ratgeber allesamt auf geschlechtsspezifischen Stereotypen, die die argumentative Grundlage der Tipps bilden. Um die Wirk‐ samkeit der erteilten Ratschläge zu untermauern, werden diese Stereotype nicht als ein So-Wahrnehmen, sondern als ein biologisch-natürliches So-Sein präsentiert, das entweder implizit als unstrittiges, verstehensrelevantes Wissen präsupponiert oder explizit etabliert wird. Besonders in T1 wird von einem „tiefe[n] Urverlangen“ und einem „biologische[n] Urtrieb“ gesprochen, den der Verfasser auf den „Helden Instinkt“ zurückführt. Wenn die Frau es schafft, diesen „Helden Instinkt“ zu erwecken und den „geheimen ‚Schalter‘ im Kopf eines Mannes umleg[t] […], wird er von einem überwältigenden Begehren nach Dir überflutet werden“ (T1). In T2 ist die Rede von „bewährten psychologischen Techniken“ resp. „Trigger-‚Knöpfen‘, die Frauen drücken müssen, um wertge‐ schätzt und mit Liebe umsorgt zu werden“ und um letztlich unbemerkt „direkt in die Gefühlswelt eines Mannes einzudringen, wo er deinen verführerischen Kräften völlig schutzlos ausgeliefert ist.“ (T2, Herv. SL) Während in T1 und T2 aus kommerziellen Zwecken geradezu eine auf Psychologie und Biologie basierende Beherrsch- und Kontrollierbarkeit des begehrten Gegenübers mit zu drückenden Knöpfen und umzulegenden Schaltern suggeriert wird, kommt in den anderen Texten zumindest eine Beeinflussung des Gegenübers zum Tragen, die ebenfalls psychologisch begründet wird. So ist z. B. die Rede von „psychologischen Tricks“, mit denen „wir einfach das Gehirn eines Menschen [stimulieren], den wir mögen und den wir verführen wollen“ (T6). Daneben offenbart sich auch eine biologische Argumentation: Sie zeigt sich zum einen durch die Bezugnahme auf biochemische Prozesse (die Produktion von Oxytocin, Bsp. 7), oder aber durch den Verweis auf eine natürliche, also biologische Programmierung (Bsp. 8). (7) Wenn wir viel Zeit mit einer Person verbringen, entwickelt sich eine Verbindung und diese Person wird sehr schnell zu einem Teil unseres Lebens und Alltags. Das Bindungshormon Oxytocin wird in unserem Körper produziert und gibt uns ein Ge‐ fühl der Zusammengehörigkeit. Wir gewöhnen uns so sehr an ihre Anwesenheit, dass wir sie vermissen, wenn sie nicht da ist. Das ist genau die Karte, die du spielen wirst. (T6, Herv. SL) (8) Genauso wie du dich von bestimmten Frauen oder gewissen weiblichen Merk‐ malen angezogen fühlst, geht es auch den Mädels. Es handelt sich nur um andere Dinge. Das ist Biologie. Sie sind darauf programmiert, einen selbstsicheren Mann auszuwählen. […] Frauen stehen auf selbstbewusste Männer. Sie wählen die Jungs, die das meiste Selbstvertrauen ausstrahlen. Darauf sind sie programmiert. Das entscheiden sie Erkämpfte Liebe und programmierte Frauen 65 <?page no="66"?> nicht bewusst. Es ist einfach ihre Biologie. Wie sie die Spreu vom Weizen trennen? Ganz einfach: Sie warten ab, ob du genug Mut hast, auf sie zuzukommen. (T5, Herv. SL) Aber auch ohne derart explizite Benennung vermeintlicher biologischer Gege‐ benheiten wird in allen Texten auf ein naturgegebenes So-Sein von Männern und Frauen Bezug genommen, was anhand der folgenden, exemplarischen Belegsammlung demonstriert sei, in denen sich (abgesehen von „in der Regel“, „[t]endenziell“, 9b) keine sprachlichen Relativierungen finden lassen, sondern ein sehr hoher Grad an Sicherheit vermittelt wird: (9) a) Es geht darum ihm Möglichkeiten & Wege zu geben, DICH zufriedenzu‐ stellen. Das gibt ihm das Gefühl, dass er Dich erobert. Und das ist absolut notwendig, weil es für einen Mann nahezu unmöglich ist sich zu verlieben, wenn er nicht das Gefühl hat, er hätte Deine Liebe erkämpft. (T1, Herv. SL) - b) Männer meiden in der Regel solche Frauen, da sie nur Stress und Geldaus‐ gaben mit sich bringen. Männer lieben hingegen unkomplizierte Frauen, die wissen, was wichtig im Leben ist. […] Du kannst ihn geschickt nahekommen, indem du ab und an bei passenden Situationen seinen Arm berührst. Er wird es zu 100 % merken. Übertreibe es aber nicht. Immerhin soll er glauben, dass er „der Eroberer“ ist. […] Tendenziell mögen Männer Frauen, die ein wenig Häuslichkeit zeigen. Du signalisierst ihm dadurch, dass du den Haushalt meistern kannst und ihn sowie seinen späteren Nachwuchs versorgen könntest. (T3, Herv. SL) - c) Vergiss die Regel mit dem Blickkontakt! […] Immer wieder lese ich in schwachsinnigen Ratgeber-Artikeln für Singles, dass Männer nicht „einfach so“ auf Frauen zugehen können oder dürfen. […] Oft nehmen sie gar nicht wahr, dass Du überhaupt da bist. Und selbst wenn sie Dich registrieren, wären viele Mädels viel zu schüchtern, um Dir in die Augen zu schauen und Dich so offensiv anzulächeln. […] Wenn die Frau [bei adrenalin-geladenen Situationen beim Date, SL] zwischen‐ durch ein bisschen Angst oder Unsicherheit verspürt, wird sie sich ganz intuitiv an Dir festhalten…die ideale Chance für Dich als Beschützer, um beim Treffen direkt Körperkontakt herzustellen! (T7, Herv. SL) - d) Frauen lieben Männer, die wissen, was sie wollen. […] Sorg dafür, dass sie sich in deiner Gesellschaft sicher und beschützt fühlt! Einer Frau das Gefühl zu geben, von dir beschützt zu werden, ist eine großartige Möglichkeit, ihr Herz zu gewinnen. Sie muss emotionalen Schutz und Sicher‐ heit spüren, wenn sie bei dir ist. Du musst keine Kämpfe mit anderen Typen starten; wir sprechen nicht über diese Art von Schutz. Du musst dafür sorgen, dass sie sich in deiner Gesellschaft sicher fühlt. (T8, Herv. SL) 66 Sina Lautenschläger <?page no="67"?> In ontologisch wirkenden Aussagen wie „Frauen lieben X“, „Männer mögen Y“ oder „das ist absolut notwendig“ (9a) etc. findet eine Generalisierung von Vor‐ lieben und Verhaltensweisen statt, die auf Basis von Geschlechterstereotypen nur benannt, nicht aber weiter begründet werden, da sie als gesellschaftlich vorhandenes, verstehensrelevantes Wissen vorausgesetzt werden können. Letztlich ergeben sich in allen betrachteten acht Texten geschlechtsspezifi‐ sche Rollenbilder, die auf althergebrachten Stereotypen beruhen, hier aber nicht als solche reflektiert, sondern als biologische Naturgegebenheiten und somit geradezu als unumstößliche Tatsachen dargestellt werden: Männer ‚sind von Natur aus‘ Jäger und Eroberer, die den aktiven Part beim Flirten übernehmen wollen bzw. qua Instinkt/ Trieb übernehmen müssen. Ihnen wird (implizit) eine höhere sexuelle Triebsteuerung unterstellt, was sich in Aussagen wie „Das geheime Verlangen ist etwas, wonach er LECHZT… mehr als Liebe, mehr als Geld und sogar mehr als Sex“ (T1) anhand der Überraschung indizierenden Fokuspartikel sogar explizit manifestiert, oder aber durch typische Verhaltens‐ weisen wie dem ‚Hinterherschauen anderer Frauen‘ (vgl. T4 in Kapitel 4.3.2, Kapitel 4.3.1). Frauen hingegen ‚wollen‘ beschützt werden und sich sicher fühlen; sie ‚sind von Natur aus‘ an selbstsicheren und selbstbewussten Männern interessiert, die diesen Schutz versprechen. Gleichzeitig ‚sind‘ sie passiv und schüchtern, weshalb es die Aufgabe des Mannes ist, Kontakt herzustellen und aufrecht‐ zuerhalten. Während Männern, so die Texte, einer sexuellen Triebsteuerung unterliegen, wird Frauen eine höhere emotionale Steuerung attestiert, die zu Problemen beim Flirten bzw. der Partnergewinnung führen könnten (sie platzen mit ihren Gefühlen heraus und/ oder reden zu viel, vgl. Bsp. 5 und 4). Da zudem die Gefahr besteht, dass es wegen ihrer emotionalen Belange zu einer zu deutlichen Lenkung der (Flirt-)Situation kommen könnte, finden sich explizierte Manifestationsregeln, die das unterbinden sollen (z. B. „Übertreibe es aber nicht. Immerhin soll er glauben, dass er ‚der Eroberer‘ ist“, Bsp. 9b). Aber auch Männer könnten Gefahr laufen, von ihrer stereotyp erwarteten Rolle abzuweichen, weshalb sich auch für sie konkrete Manifestationsregeln finden, die ein Scheitern im geführten Kampf um die Liebe verhindern sollen: Sie sollen aktiv sein, Schutz bieten und Selbstbewusstsein ausstrahlen. 5 Fazit Will man das begehrte Gegenüber erfolgreich umwerben, stehen die Ge‐ schlechter vor unterschiedlichen Herausforderungen, die nicht immer ohne weitere Hilfestellung überwunden werden können. Kommt es zu problemhaften Erkämpfte Liebe und programmierte Frauen 67 <?page no="68"?> Situationen - hat man z. B. am Ende des Dates keinen Sex oder zieht sich das Gegenüber kommunikativ zurück -, können Ratgeber aus dem Internet konsultiert werden. Die Textsorte Ratgeber ist zum einen durch ihre Instruktionsfunktion, zum anderen aber auch ihren musterhaften Aufbau mit den Konstituenten ‚Erörtern des Problems‘ und ‚Tipps zum Lösen des Problems‘ gekennzeichnet. Maßgeblich kommt dabei der Autoritäts-Topos zum Tragen, aus dem die Ratgebenden schöpfen: Sie verorten sich selbst als erfahrene und wissende Personen, die wegen dieser epistemischen Autorität das Recht und die Kompetenz besitzen, Ratschläge zu erteilen. Im Zuge dessen kommen zwei Beziehungsaspekte zum Vorschein: Während Beziehungsaspekt 1 die horizontale und vertikale Dimension und damit das Verhältnis der Ratgebenden zu den antizipierten Ratsuchenden umfasst, bezieht sich Beziehungsaspekt 2 auf die in den Tipps vorhandenen Vorstellungen darüber, wie Männer und Frauen jeweils umworben werden wollen und sollen. Erfolgreiches Flirten wird dabei auf Basis heteronor‐ mativer Geschlechterstereotype komplementär in instruktiven Manifestations‐ regeln zusammengefasst: Frauen sollen über sich selbst und den Mann lachen, Männer sollen witzig sein sowie aktiv auf die Frau zugehen, Frauen sollen sich passiv verhalten und dem Mann die Möglichkeit geben, sich ihre Zuneigung zu erkämpfen. Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein gelten geschlechtsunabhängig als Ideale, die durch ein ausgewogenes Spiel aus Reden und Schweigen demons‐ triert werden können. Als oberste Prämisse gilt es jedoch, authentisch zu sein - allerdings nur, wenn das bedeutet, dass man sich authentisch-geschlechtsste‐ reotyp verhält. Sind Frauen (zu) emotional oder (zu) kommunikativ, wird dies als Problem skizziert; sind Männer (zu) nett und gehen (zu sehr) auf die Frau ein, gilt auch das als problematisch. Letztlich kommen in den Ratgeber-Texten jahrhundertealte Stereotype zum Tragen: Frauen ‚sind‘ passiv, emotional und auf Liebe, Bindung und Familiengründung fokussiert; Männer ‚sind‘ aktive, triebgesteuerte Eroberer und Kämpfer, die zwar ebenfalls eine Beziehung ein‐ gehen, jedoch der Promiskuität auch sehr viel abgewinnen können. Dass es sich dabei lediglich um ein soziokulturelles So-Wahrnehmen handelt, findet keine Berücksichtigung, stattdessen wird implizit und explizit mit einem bio‐ logisch-natürlichen So-Sein der Geschlechter argumentiert, das diese jeweils kontrollierbar oder zumindest beeinflussbar macht und dadurch den Erfolg der gegebenen Tipps argumentativ plausibilisiert. Denn letztlich ist dies das Ziel der Ratschläge: Sie sollen den Ratsuchenden das Gefühl geben, selbstermächtigt und selbstwirksam ihre missliche Lage kontrollieren und letztlich beseitigen zu können. 68 Sina Lautenschläger <?page no="69"?> Bibliografie Quellen (Ratgeber) T1: „Sein Geheimes Verlangen“, https: / / sein-geheimes-verlangen.de/ ? gclid=EAIaIQoCh MImb237Obx_AIV0e93Ch0aeQoDEAAYASAAEgIfyPD_BwE T2: „Bringe sein Herz zum Schmelzen“, https: / / liebeserfolg.de/ bringe-sein-herz-zum-sc hmelzen-g/ ? gc_id=19388448845&dyn_ T3: „10 Tipps, um das Herz eines Mannes zu gewinnen“, https: / / 21kollektiv.de/ 10-tipps -um-sein-herz-zu-gewinnen/ ; https: / / 21kollektiv.de/ author/ al-viral/ T4: „Wie bekomme ich ihn: So eroberst du sein Herz“, https: / / www.cosmopolitan.de/ wi e-bekomme-ich-ihn-90251.html; https: / / www.cosmopolitan.de/ bonnie-kruse T5: „Wie erobere ich ihr Herz? 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Getrauert wird um diejenigen, die man geliebt hat, die beiden Emotionen sind also eng gekoppelt. Dies zeigt sich beispielsweise in abwandelbaren Floskeln in Traueranzeigen, die „In Liebe nehmen wir Abschied …“ oder „In Trauer nehmen wir Abschied …“ lauten können. Im Beitrag wird dargelegt, wie sich die Emotion Liebe im Kontext der Emotion Trauer in der Kommunikation über die Verstorbenen verbal bzw. bildlich und multimodal - insbesondere durch Hashtags und Emojis - zum Ausdruck gebracht wird. Datenbasis für die Analyse bilden Twitter-Daten im Kontext von Online-Trauer um sogenannte Sternenkinder, die vor, während oder nach der Geburt versterben. Keywords: Sternenkinder, Kindstod, Fehlgeburt, Trauer, Liebe, Tod, Emo‐ tion, Emojis, Hashtags, Twitter 1 Einleitung Im vorliegenden Beitrag steht die Liebe von Eltern für ihre verstorbenen Kinder im Mittelpunkt. Die Liebe ist eine der intensivsten und tiefsten Formen der menschlichen Bindung, entsprechend ist der Tod des eigenen Kindes eine der schmerzlichsten und tragischsten Erfahrungen, die ein Elternteil durchma‐ chen kann. Ungefähr jede dritte Schwangerschaft endet in Deutschland mit dem (oftmals frühen) Verlust des Kindes; obwohl also vergleichsweise viele Menschen von der Thematik direkt betroffen sind, kann ein Kindsverlust vor, <?page no="74"?> 1 Die Belege werden in Originalschreibweise und anonymisiert zitiert. während oder nach der Geburt „als eines der letzten Tabus in der postmodernen Gesellschaft angesehen werden“ (Tienken 2015: 129). Nach dem Tod des Kindes empfinden die verwaisten Eltern aufgrund des Verlusts einerseits das Gefühl der Trauer, gleichzeitig aber bleibt andererseits das Gefühl der Liebe über den Tod hinaus bestehen, wie dies auch jemand in einem Tweet ausdrückt: „Frag eine Mutter nach ihrem Sternenkind und du wirst trotz der Trauer, das Leuchten der Liebe in ihren Augen sehen! “ 1 Es treffen hier zwei Arten von Emotionen auf‐ einander; nach Schwarz-Friesels (2013: 67) funktionsorientierter Klassifikation gibt es Emotionen, „mit denen Menschen ihr Verhältnis zu ihren Mitmenschen definieren“, in diesem Fall also die Liebe, sowie Emotionen, „die durch bestimmte situative Faktoren ausgelöst werden“, in diesem Fall die Trauer als Reaktion auf den Todesfall. Im Beitrag wird der Frage nachgegangen, wie diese Liebe zu verstorbenen Kindern, genauer gesagt zu sogenannten Sternenkindern, in Tweets verbal bzw. bildlich und auch multimodal ausgedrückt wird. In einer Korpusanalyse werden hierfür Hashtags und Emojis in Bezug auf die Emotion Liebe analysiert. Zunächst einmal wird auf den Neologismus Sternenkinder eingegangen, genauer gesagt auf die Etablierung des Ausdrucks im Deutschen sowie seine Semantik bzw. Konnotation. Im Anschluss daran finden sich Ausführungen zum verwen‐ deten Korpus und zur Häufigkeitszunahme des Ausdrucks Sternenkinder in den letzten Jahren vor dem Hintergrund der allgemeinen Twitternutzung in Deutschland. In Abschnitt 4 kommen Überlegungen zum Tragen, inwiefern Twitter als Trauer-Kommunikationsplattform fungiert und wie diese Kommu‐ nikation charakterisiert werden kann. In der Folge geht es um Hashtags in der Trauer-Kommunikation und zwar einerseits um deren Funktionen, andererseits um die konkrete Hashtag-Verwendung im Korpus, wobei der Fokus auf Hash‐ tags im Kontext von Liebe und Trauer liegt. Im letzten Abschnitt schließlich wird analysiert, inwiefern die beiden genannten Emotionen mittels Emojis ausgedrückt werden. 2 Der Neologismus Sternenkinder Stirbt ein Kind kurz vor, während oder kurz nach der Geburt, spricht man seit ungefähr 30 Jahren von sogenannten Sternenkindern. Tienken (2015: 135) fand einen Internetbeleg des Ausdrucks auf einer Gedenkseite im Internet aus dem Jahr 1991, im Deutschen Referenzkorpus taucht Sternenkind erstmals 2001 auf. Im Jahr 2008 wurde ein deutschsprachiger Wikipedia-Artikel zu Sternenkind 74 Christina Margrit Siever <?page no="75"?> 2 https: / / de.wikipedia.org/ w/ index.php? title=Sternenkind&action=history&dir=prev (Stand: 04.08.2023). angelegt. 2 In ihrem Beitrag konstatiert Tienken, der Neologismus Sternenkind sei noch „kein alltägliches Wort für diejenigen, die nicht von Kindstod oder Schwangerschaftsverlust betroffen sind“ (Tienken 2015: 135). So war denn auch in der 26. Auflage des Rechtschreibdudens von 2013 das Lemma Sternenkind noch nicht verzeichnet, in der 27. Auflage von 2017 ist das Wort erstmals aufgeführt: „verhüllend für vor oder kurz nach der Geburt gestorbenes Kind“ (Herv. i.-O.). Neologismen entstehen dann, wenn es einen Benennungsnotstand gibt, und zwar nicht nur zur Benennung neuer Gegenstände oder Sachverhalte, „sondern (auch) aus einer empfundenen Unzulänglichkeit vorhandener Ausdrücke für Dinge und Sachverhalte in der Welt“ (Tienken 2015: 135, Herv. i. O.). Bis Ende des 20. Jahrhunderts sprach man von Fehlgeburt und Totgeburt, wenn ein Kind vor oder während der Geburt verstorben ist. Laut Tienken können Sternenkind und Fehlgeburt als Synonyme betrachtet werden, da sie auf den gleichen Sach‐ verhalt Bezug nehmen, doch sie weisen unterschiedliche Bedeutungsaspekte auf: „Während Geburt einen körperlichen Vorgang bezeichnet, den Abschluss einer Schwangerschaft, der medizinisch betreut wird, so dient die Bezeichnung Kind der Konstruktion eines menschliches [sic! ] Lebewesens, egal in welcher Schwangerschaftswoche es verloren geht.“ (Tienken 2015: 140, Herv. i. O.). Der Neologismus Sternenkind steht „für eine neue Trauerkultur und einen verän‐ derten Umgang mit Schwangerschaftsverlust und Kindstod“ (Tienken 2015: 146). In Bezug auf die beiden Neologismentypen Neulexem und Neubedeutung (vgl. Ludwig 2010: 1587) können wir feststellen, dass das Wort Sternenkind zwar bereits existierte, allerdings als Eigenname eines 1891 erschienenen Märchens von Oscar Wilde. Entsprechend kann das Kompositum als Neulexem gewertet werden. Online-Foren haben bei der Etablierung des Ausdrucks eine bedeutende Rolle gespielt (vgl. Tienken 2016: 168). In solchen Foren bewegen sich natürlich überwiegend betroffene Personen, doch mittlerweile findet man den Ausdruck auch immer öfter in Zeitungsartikeln. Schaut man sich die Twitter-Daten an, so kann festgestellt werden, dass Tweets (und vermutlich auch andere Social-Web-Plattformen wie Instagram) zur Verbreitung und Bekanntmachung des Terminus beigetragen haben und beitragen (vgl. hierzu Abschnitt 3). So findet man in Tweets Aussagen wie „Muss zugeben, kenne den Begriff erst seit ich hier mehr zum Thema mitlesen.“ oder „Bevor ich dich hier kennen lernte, wusste ich nicht, was ein Sternenkind ist. Weil ich selber keine Kinder habe Liebe über den Tod hinaus 75 <?page no="76"?> und niemand in meinem Umfeld das erleiden musste, was ihr erleiden musstet.“ Andere wiederum kennen zwar Sternenkind, sind jedoch nicht mit weiteren dem Thema zugehörigen Ausdrücken vertraut: „Oh… das tut mir sehr leid… 😔 ich kenne den Begriff ‚Sternenkind‘, aber verwaister Elternteil noch nicht… ((💗))“. Tienken (2015: 145, Herv. i. O.) erläutert in ihrem Aufsatz, „dass Fehlgeburt die Betroffenen zu passiven Patient(inn)en macht, Sternenkinder die Betroffenen dahingegen zu Eltern, die aktiv um ihre Kinder trauern“. Die Soziologin Julia Böcker (2022: 30) weist darauf hin, dass die Begriffe Fehlgeburt und Totgeburt „die negative Konnotation eines Misserfolgs tragen.“ Sternenkind dahingegen ist ein liebevoller Ausdruck und in der Verwendung für ein verstorbenes Kind auch euphemistisch. Sie weist auf die religiöse Konnotation des Ausdrucks Sternenkind hin, „die sich aus der metaphorischen Nähe zum christlichen Himmel ergibt“ (Böcker 2022: 32). Sie verweist dabei auf die traditionelle Lehre der katholischen Kirche, die besagt, dass ungetauft verstorbene Kinder für den Limbus (die Vorhölle) bestimmt sind. Böcker vermutet, dass die Auseinan‐ dersetzung betroffener Eltern mit dieser Lehre eine Rolle gespielt habe bei der Durchsetzung des Begriffs, da die gewählte Metapher den Glauben zum Ausdruck bringe, dass früh verstorbene Kinder direkt in den Himmel kommen oder von dort stammen (vgl. Böcker 2022: 32). Darüber hinaus erläutert sie, dass teilweise auch von Himmelskindern und Engelskindern die Rede sei und dass das englischsprachige Pendant zu Sternenkind angel oder angel baby sei (vgl. Böcker 2022: 32). Ob der religiöse Einfluss der „Kirche als historische Deutungsmacht der Lebensgrenzen“ (Böcker 2022: 38) Ende des 20. Jahrhunderts bzw. zu Beginn des 21. Jahrhunderts tatsächlich noch so groß war, sei dahingestellt. Tienken (2015: 144, Herv. i. O.) weist darauf hin, dass der Ausdruck Sternenkind eine „transzendente Bedeutungsdimension [habe], ohne jedoch religiösen Anspruch zu erheben. Ein Sternenkind erhält seinen Status durch die angenommene Exis‐ tenz an einem unerreichbaren Ort, eine Fehlgeburt führt dahingegen geradewegs ins Nichts.“ Zur Semantik des Determinativkompositums sei erwähnt, dass das Determi‐ nans Sternen für eine semantische Unschärfe sorgt, denn es kann sich um ein Kind handeln, „das bei den Sternen ist“, „das wie ein Stern ist/ leuchtet“ oder „das wie ein Stern aussieht“ (Tienken 2015: 135). In der Tat finden sich in den Tweets entsprechende Erläuterungen, beispielsweise „sternenkinder sind meines wissens die toten. die jetzt bei den sternen sind.“ oder „Ein Ster‐ nenkind ist ein Kind das leider nicht bei seinen Eltern, Geschwistern und all seinen Verwandten aufwachsen darf sondern ein Sternen am Himmel ist 🌟“ (Herv. CMS). Die genannte Unschärfe lässt entsprechend unterschiedliche 76 Christina Margrit Siever <?page no="77"?> 3 In der Astrologie nennen sich Personen, die eine besondere Verbindung zu den Sternen und dem Kosmos haben, Sternenkinder. Auch in der Kunst wird der Ausdruck ver‐ wendet, beispielsweise dann, wenn auf das bereits erwähnte Märchen von Oscar Wilde mit dem Titel „Das Sternenkind“ referiert wird. Zudem gibt es einen indischen Film mit dem Titel „Sternenkind - Koi Mil Gaya“ und es finden sich einige (Manga-)Zeichnungen auf Twitter, die Sternenkinder darstellen. Weiter gibt es Computerspiele, in denen Sternenkinder vorkommen (z. B. „Sternenkind-Saga“, ein RPG-Maker-Spiel). Darüber hinaus werden teilweise auch Kinder, die als Sternsinger unterwegs sind oder in Kitas einer Sternengruppe angehören, Sternenkinder genannt. Links zu Musikstücken, die nichts mit verstorbenen Kindern zu tun haben wie „Sternenkind“ von Klangkarussell, wurden ebenfalls aus dem Korpus entfernt (über 500 Tweets fanden sich im ursprüng‐ lichen Korpus zu diesem Stück). Deutungsmöglichkeiten poetischer Art zu, wobei poetische Sprache eine Form der Trauerbewältigung darstellen kann (vgl. Tienken 2015: 135-136). 3 Korpus Das für den vorliegenden Artikel verwendete Korpus besteht aus Tweets, welche die Zeichenfolge „sternenkind“ beinhalten, wobei die Groß- und Kleinschrei‐ bung nicht beachtet wurde. Die Daten umfassen entsprechend auch Tweets, die den Hashtag #sternenkind aufweisen oder Links, die die Zeichenfolge „ster‐ nenkind“ enthalten. Über die API wurden sämtliche Tweets gespeichert, die von Twitter als Deutsch gekennzeichnet waren, unabhängig davon, ob es sich um in‐ itiale Tweets oder Replys handelte; Retweets dahingegen wurden nicht gecrawlt. Das Korpus umfasst Tweets von Twitterbeginn am 22.03.2006 bis zum 19.12.2021 (22: 33 Uhr). Auf diese Weise wurden 32741 Tweets gesammelt. Dieses Korpus wurde bereinigt, indem zunächst maschinell nach (Beinahe-)Duplikaten gesucht wurde, im Anschluss wurden diese Duplikate nach Durchsicht entfernt. Auch Tweets mit Adressierungen von Twitter-Nutzenden, deren Twitter-Handles die Zeichenfolge „sternenkind“ enthielt, wurden gelöscht. So entstand ein Subkorpus von 10042 Tweets, das anschließend manuell gesichtet wurde. Es wurden hierbei alle Tweets aussortiert, die nichts mit der hier interessierenden Thematik zu tun haben, z. B. Tweets mit Bezug zur Astrologie oder zur Kunst, insbesondere zu Literatur, Mangas, Filmen oder Musiktiteln.) 3 Links auf Lieder dahingegen, in denen es tatsächlich um Sternenkinder geht, wurden im Korpus belassen. Das bereinigte Subkorpus, das Datengrundlage für den vorliegenden Beitrag ist, umfasst insgesamt 8351 Tweets. Twitter wurde im Jahr 2006 gegründet und der älteste Tweet im Korpus stammt aus dem Jahr 2008. In Tabelle 1 ist ersichtlich, in welchen Jahren die Tweets im Korpus verfasst wurden. Liebe über den Tod hinaus 77 <?page no="78"?> 4 Im Weiteren wird die Mediennutzung in Deutschland näher betrachtet, da der Großteil der Tweets auch aus Deutschland stammen dürfte. Denn während in Deutschland im Jahr 2021 83,2 Millionen Menschen lebten, waren es in Österreich lediglich 8,96 Millionen und in der Schweiz 8,7 Millionen (vgl. https: / / de.statista.com/ statistik/ da ten/ studie/ 1117261/ umfrage/ bevoelkerung-in-den-dach-laendern/ , Stand: 04.08.2023). Von der Schweizer Bevölkerung ist für 62 % Deutsch die Hauptsprache, was also 5,4 Millionen deutschsprachigen Menschen entspricht (vgl. https: / / www.bfs.admin .ch/ bfs/ de/ home/ statistiken/ bevoelkerung/ sprachen-religionen/ sprachen.html, Stand: 04.08.2023). 1 29 86 115 209 401 381 380 528 574 654 1396 1670 1927 0 500 1000 1500 2000 2500 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 Abb. 1: Tweets im Korpus nach Jahr gruppiert Es lässt sich feststellen, dass von 2008 bis 2018 die Zahl der Tweets moderat an‐ steigt, ab 2019 jedoch finden sich deutlich mehr Tweets. Die absoluten Zahlen in Tab. 1 müssen natürlich vor dem Hintergrund der allgemeinen Twitternutzung im deutschsprachigen Raum gesehen werden. 4 In der ARD/ ZDF-Onlinestudie wurde die Twitternutzung erstmals 2010 erhoben (vgl. Tab. 1 bis 3). 2010 2011 2012 2013 2014 2015 3 % 3 % 4 % 7 % 9 % 7 % 2016 2017 2018 2019 2020 2021 k. A. 7 % 7 % 7 % 10 % k. A. Tab. 1: Gelegentliche (zumindest seltene) Nutzung von Twitter (vgl. Beisch/ Schäfer 2020: 467, Busemann 2013: 398, Tippelt/ Kupferschmitt 2015: 443) 78 Christina Margrit Siever <?page no="79"?> Im Jahr 2010 wurde konstatiert, dass 3 % der deutschen Bevölkerung den Kurznachrichtendienst schon einmal genutzt haben, wobei vor allem junge Männer Twitter nutzten. Zwei Drittel aller Nutzenden verwendeten den Dienst jedoch nur passiv als Lesende (vgl. Busemann, Gscheidle 2010: 362). Bei der gelegentlichen Nutzung lässt sich ab 2013 eine leichte Zunahme beobachten, wobei ab dann die Nutzung bei rund 7 % stagniert. Die etwas höhere Zahl von 9 % im Jahr 2014 ist darauf zurückzuführen, dass in der Studie die Nutzung der Mikrobloggingdienste Twitter und Tumblr zusammengefasst wurden (vgl. Tippelt/ Kupferschmitt 2015: 443). 2010 2011 2012 2013 2014 2015 1 % -0 % 2 % 2 % 5 % 4 % 2016 2017 2018 2019 2020 2021 5 % 3 % 4 % 4 % 5 % 4% Tab. 2: Wöchentliche Nutzung von Twitter (vgl. Beisch/ Koch 2021: 500, Beisch/ Schäfer 2020: 467, Koch/ Frees 2017: 444, Tippelt/ Kupferschmitt 2015: 443) Die wöchentliche Nutzung lag von 2010 bis 2013 zwischen 0 und 2 % , ab 2014 stagniert die wöchentliche Nutzung leicht höher zwischen 3 und 5 % (vgl. Tab. 2). Bei der Zahl von 2014 ist wieder die Nutzung vom Tumblr eingeschlossen (vgl. Tippelt/ Kupferschmitt 2015: 443). 2010 2011 2012 2013 2014 2015 0 % 1 % k. A. k. A. 2 % 1 % 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2 % 1 % 1 % 2 % 2 % 2 % Tab. 3: Tägliche Nutzung von Twitter (vgl. Beisch/ Koch 2021: 498, Beisch/ Schäfer 2020: 466, Busemann/ Gscheidle 2010: 362, Koch/ Frees 2017: 444, Tippelt/ Kupferschmitt 2015: 443) Betrachtet man schließlich die tägliche Twitternutzung, so lässt sich feststellen, dass diese über die ganzen Jahre hinweg auf sehr niedrigem Niveau geblieben ist. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass sowohl die tägliche als auch wöchentliche Nutzung seit 2014 stagniert, zudem war davor die Nutzung nur minimal geringer. Bei der gelegentlichen Nutzung, was seltener als monatlich Liebe über den Tod hinaus 79 <?page no="80"?> 5 Über die IP-Adresse oder Accounts eindeutig identifizierbare Internetnutzende. bedeutet, ist die Nutzung ab 2013 etwas höher. Auf alle Fälle kann die leichte Zunahme an Tweets im Korpus zu Beginn sicherlich teilweise auf die leicht höhere Nutzung von Twitter zurückgeführt werden. Der massive Anstieg an Tweets ab 2019 jedoch kann nicht mit den allgemeinen Nutzungsdaten im deutschsprachigen Raum erklärt werden. Entsprechend kann davon ausge‐ gangen, dass die Verwendung des Ausdrucks Sternenkind auf Twitter in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Wie in Abb. 2 zu sehen ist, entspricht die Anzahl der Tweets pro nutzender Person einer typischen Long-Tail-Verteilung. Das Korpus enthält insgesamt Tweets von 3986 Unique Usern  5 . Nicht auf der Grafik zu sehen sind 2865 Tweets von Personen, von denen nur ein einzelner Tweet im Korpus zu finden ist, was 34 % aller Tweets entspricht und 72 % der Nutzenden. 561 Nutzende im Korpus haben jeweils 2 Tweets verfasst, was knapp 7 % entspricht. Von lediglich 85 Nutzenden befinden sich mehr als 10 Tweets im Korpus, das sind 1 % aller Nutzenden. Diese Nutzenden haben zusammen 2367 Tweets verfasst, die sich im Korpus befinden, was 28 % der Tweets entspricht. 0 20 40 60 80 100 Abb. 2: Long-Tail-Verteilung der Tweets nach Nutzenden (ohne die drei Nutzenden mit den meisten Tweets (jeweils 313, 96 und 89 Tweets) und ohne die Nutzenden, von denen sich nur ein einzelner Tweet im Korpus befindet) Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass sehr wenige Nutzende (1 %) fast ein Drittel aller Tweets verfasst hat, umgekehrt wurde ein Drittel der Tweets von Personen verfasst, von denen lediglich ein Tweet zum Thema gefunden werden konnte. 80 Christina Margrit Siever <?page no="81"?> 4 Twitter als Trauer-Kommunikationsplattform Anders als Gedenkseiten, die explizit dazu gedacht sind, Verstorbenen zu gedenken, oder Foren, in denen sich Eltern von Sternenkindern austauschen können, ist Twitter als Kommunikationsplattform thematisch offen. Trauer über Verstorbene wird aber in vielen Social-Web-Communitys geäußert, denn auch dort kann „Kon‐ takt zu Menschen in ähnlichen Lebensumständen hergestellt“ (Tienken 2015: 132) werden, was insbesondere auch über Hashtags geschieht mittels sogenanntem Social Tagging (vgl. Siever 2015: 141-214; s. auch Abschnitt 5). Während also die einen Menschen mittels Hashtags bewusst nach diesen Themen suchen, möchten andere Nutzende auf potenziell belastende Inhalte hingewiesen werden, weil sie dadurch getriggert werden. So schildert eine Nutzerin in einem Initialtweet das Schicksal einer Mutter, die am Tag vor dem Entbindungstermin ihr Kind verloren hat. Eine andere Person reagiert darauf mit „Toll, dass du das teilst, weil das Feedback sicher für viele wichtig ist. CN wäre beim nächsten Mal ganz toll.“, woraufhin die Verfasserin des Initialtweets nachfragt, was denn CN bedeute. Der Antwort-Tweet darauf lautet: „Content Note - Triggerwarnung. Letzteres kann man aber auch schreiben (oder TW), CN hat sich aber mehr durchgesetzt, da so der Begriff Trigger vermieden wird (glaub ich). Z. Bsp. CN Sternenkind oder Verlust oder… Was halt passt.“ Entsprechend finden sich im Korpus 303 Tweets, denen ein „CN“ vorangesetzt wurde, 7 Tweets enthalten ein „TW“ und in weiteren 7 Tweets ist „Triggerwarnung“ ausgeschrieben, was insgesamt immerhin 4 % aller Tweets im Korpus entspricht. Die Meinungen zu Triggerwarnungen sind dabei unterschiedlich, wie die Me‐ takommunikation dazu zeigt. So schreibt jemand: „Als ich bei Twitter begann, schrieb ich zwanglos über mein Sternenkind. Ganz ohne Triggerwarnung. Lange fragte ich mich: Ist diese Warnung wirklich nötig? Schließlich entschied ich mich für die Warnung, denn viele von euch baten mich darum.“ Diese Bitte äußert eine weitere Person sehr zugespitzt im folgenden Tweet: „Übrigens: Wenn ihr als Elter einen Tweet über euer Sternenkind schreibt und KEINE Content-Warnung davor setzt, habt ihr natürlich mein tiefstes Mitgefühl… trotzdem wünsche ich euch, dass euer Autoschlüssel in einen Hundehaufen fällt! (Was ich hier schon geheult hab wegen euch)“. Umgekehrt wird jedoch auch argumentiert, dass Betroffene selbst auch nicht gewarnt werden: „Deswegen gibt es bei mir auch bei dem Thema Sternenkind/ Sterneneltern nie eine Triggerwarnung, denn die Sterneneltern werden im realen Leben auch nie gewarnt, wenn sie mit Worten verletzt werden.“ Liebe über den Tod hinaus 81 <?page no="82"?> 6 So wird teilweise auch konkret dazu aufgefordert, sich per Direktnachricht (dm) zu melden statt öffentlich auf die Nachricht zu reagieren: „In Berlin wird eine queere Trauergruppe für verwaiste Eltern gestartet. Bei Interesse, gerne dm. #Sternenkind“. Wenn auf Twitter über Sternenkinder geschrieben wird, handelt es sich oftmals um „small stories […]: social media environments afford opportunities for sharing life in miniaturized form at the same time as constraining the ability of users to plunge into full autobiographical mode“ (Georgakopoulou 2015: 266). Tweets sind bekanntlich bis 2017 auf 140 Zeichen beschränkt gewesen, aktuell liegt die Beschränkung bei 280 Zeichen. Manche möchten sich vielleicht be‐ wusst kurzfassen und sich gegebenenfalls über Direktnachrichten mit anderen Nutzenden austauschen 6 , andere nutzen Threads für längere Beiträge oder die Möglichkeit, mittels Links auf andere Seiten mit mehr Inhalten zu verweisen; häufig finden sich Verweise auf Facebook, Instagram sowie Blogs und Websites. Was nun den digitalen Trauerausdruck in Social-Web-Communitys von anderen Arten des Trauerausdrucks (vgl. dazu auch Rhein i.d.B., Klug i.d.B.) unterscheidet, ist die Verwendung von Hashtags und Emojis: „The language used in digital mourning features digital writing features, such as emoji and hashtags, and also draws on platform-specific vernaculars, for example images in photo-sharing websites.“ (Giaxoglou 2021: 33). Im vorliegenden Beitrag wird entsprechend auch untersucht, inwiefern die Emotionen Liebe und Trauer mittels Hashtags und Emojis ausgedrückt werden. Die Kommunikation findet folglich „with various semiotic (multi‐modal) resources“ (Georgakopoulou 2015: 266) statt, sodass exemplarisch auch auf die Multimodalität der Kommu‐ nikate eingegangen wird. 5 Hashtags In diesem Abschnitt werden zunächst die Funktionen von Hashtags im Kon‐ text der Trauerkommunikation erörtert, im Anschluss wird die konkrete Hashtag-Verwendung im Korpus anhand der häufigsten Hashtags sowie insbe‐ sondere Hashtags im Kontext von Liebe und Trauer diskutiert. Hashtags bieten Trauernden die Möglichkeit zur Identifikation und Commu‐ nitybildung innerhalb einer Kommunikationsplattform (vgl. Stage/ Hougaard 2018: 57). So findet sich beispielsweise der folgende Tweet, in dem explizit nach einer speziellen Community für Austausch gefragt wird: Liebe #Elternbubble, falls irgendwer Kontakte zu einer Gruppe/ einem Forum/ o.ä. hat, in dem sich Frühcheneltern, die einen Zwilling verloren haben, austauschen können, wäre ich über Hinweise dankbar. #frühchen #sternenkind #zwillinge 82 Christina Margrit Siever <?page no="83"?> 7 Die Emojis werden im vorliegenden Beitrag mit der offiziellen Unicode-Bezeichnung zi‐ tiert, die englischsprachig ist: https: / / www.unicode.org/ charts/ PDF/ U1F600.pdf (Stand: 04.08.2023). Giaxoglou (2021: 145) beschreibt das Social Tagging „as a form of discourse and shared storying“ und konstatiert: „hashtags serve as resources for narrative and affective positioning.“ Eine solche emotionale Positionierung findet sich im folgenden Tweet: Wollt ihr denn nicht langsam mal ein 2.? (Nein, denn 1. wäre es nicht Nummer zwei sondern 5 😭 und 2. hab ich nicht den Mut es nochmal zu versuchen und 3. geht es dich einen verdammten Scheiß an! ! ) Mal sehen, wir wissen es noch nicht. #sternenkind #traurig #übergriffigeneugier In diesem Tweet wird ein kurzer Dialog zitiert, den ein Elternteil eines Ster‐ nenkindes verfasst hat. In die Frage-Antwort-Sequenz eingeschoben mittels Klammer ist die relevante Information, die sich die gefragte Person im zitierten Gespräch lediglich gedacht hat, im Tweet jedoch hat sie den Gedankengang verbalisiert, nämlich dass die Eltern drei Kinder verloren haben. Der Hashtag #sternenkind verortet den Tweet inhaltlich im Diskurs, wohingegen die Hash‐ tags #traurig und #übergriffigeneugier die emotionale Positionierung der schrei‐ benden Person zur Frage und zum Sachverhalt beschreiben. Neben der Trauer werden weitere Emotionen zum Ausdruck gebracht, beispielsweise die Mutlo‐ sigkeit, die durch die bisherigen Verluste eingetreten ist, aber auch die Wut, die in der emotionalen Reaktion „verdammten Scheiß“ sowie „#übergriffigeneugier“ zum Ausdruck kommt. Direkt nach der indirekten Beschreibung des Verlusts steht zudem das 😭-Emoji (Loudly Crying Face 7 ), durch das ebenfalls eine emotionale Positionierung wie in #traurig erfolgt. Giaxoglou (2021: 168) nennt solche „affective reactions“ in Hashtags „hashtag mourning“ und definiert diese als „a discourse and narrative practice, which can shed light on the narrative and participation modes of sharing death as a social-mediatized event via hashtags, a form of digital mourning activity“ (Giaxoglou 2021: 148). Als Beispiel für eine narrative Funktion nennt Giaxoglou (2021: 158) das An‐ hängen von mehreren Hashtags am Ende von Tweets, die von der eigentlichen Nachricht getrennt sind und gegen die Twitterempfehlung verstößt, mehr als zwei Hashtags zu nutzen: „The sequential ordering of hash tagged key words can result (more or less consciously) in a mini-narrative, which is searchable and retrievable as part of a bigger shared story online.“ Im folgenden Tweet findet sich eine affektive Positionierung im Haupttext; die Person schreibt, dass sie sich nicht über die Schwangerschaft der Schwägerin freuen kann. Erst die Liebe über den Tod hinaus 83 <?page no="84"?> Hashtags am Ende erzählen dann die Geschichte, weshalb sich die Person nicht freuen kann: Obwohl ich schon lange von der Schwangerschaft von meiner Schwägerin weiss, heute das erste US Bild zu sehen, war noch einmal eine ganz andere Nummer. Es ist nicht fair. Ich will mich freuen, kann mich aber nicht freuen. #eug #Sternenkind #verlust. Während #verlust und inzwischen auch #Sternenkind mehr oder weniger allge‐ mein verständlich sind, kennt man die Abkürzung #eug für Extrauteringravidität vermutlich nur, wenn man einmal damit zu tun hatte. Während #Sternenkind einen Verlust impliziert, wird mit dem Hashtag #eug der Grund für den Verlust explizit angegeben. Eine weitere Form des Taggens ist das Verschlagworten von bestimmten Ausdrücken mitten im Fließtext, wie dies im folgenden Beispiel der Fall ist: Wir #gedenken jeden Tag all euren #Sternen . Leider mussten schon viel zu viele #Kinder über die #regenbogenbrücke. Habt eine gute #reise und passt gut auf eure #Familien auf! #sternenkinderbleibenunvergessen #sternenkind #stillgeboren #frühchen Nachdem nun an einigen Beispielen bestimmte Funktionen von Hashtags im Kontext von Trauer erörtert wurden, soll es im Folgenden um die konkrete Verwendung von Hashtags im Korpus aus quantitativer Sicht gehen. Zunächst einmal können wir feststellen, dass 65 % aller Tweets gar keine Hashtags enthalten. Die 2941 Tweets im Korpus mit Hashtags enthalten wiederum in 65 % der Fälle nur ein einziges Hashtag (vgl. Abb. 6). 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 19 0 200 400 600 800 1000 1200 1400 1600 Abb. 3: Anzahl Hashtags pro Tweet 84 Christina Margrit Siever <?page no="85"?> 8 Die Groß- und Kleinschreibung wurde hier zusammengefasst. Der Hashtag #Sternen‐ kind wurde 741-mal groß und 607-mal klein geschrieben, #Sternenkinder 683-mal groß und 358-mal klein. Auch bei der Anzahl der Hashtags pro Tweet finden wir wieder eine Long-Tail-Verteilung; dass viele Hashtags in einem Tweet verwendet werden, kommt äußerst selten vor. Interessant ist nun aber natürlich, welche Hashtags im Kontext von Sternen‐ kindern überhaupt genutzt werden. Zunächst einmal findet sich der Hashtag #sternenkind 1356 Mal im Korpus, #sternenkinder insgesamt 1048 Mal. 8 Diese hohe Anzahl ist natürlich der Datenerhebung geschuldet. Bei einer Gesamt‐ anzahl von 6645 Hashtags im Korpus entsprechen #sternenkind und #sternen‐ kinder folglich 36 % aller Hashtags. In Abb. 4 finden sich 20 weitere der im Korpus am häufigsten genannten Hashtags. Abb. 4: Top 20 Hashtags im Korpus Die häufigsten Hashtags spiegeln deutlich die Thematik, um die es geht. Sie können den in Tab. 4 aufgeführten Kategorien zugeordnet werden, die im Folgenden näher erläutert werden. Beteiligte Personen #frühchen, #kinder, #baby #sterneneltern, #verwaisteeltern, #sternenmama, #eltern Ereignis #fehlgeburt, #tod, #stillegeburt, #totgeburt #kinderwunsch, #schwangerschaft Emotionen #trauer, #liebe Liebe über den Tod hinaus 85 <?page no="86"?> 9 In einem Daten-Crawling im selben Zeitraum konnten 2134 Tweets mit diesem Hashtag gefunden werden, im vorliegenden Korpus finden sich für den Hashtag 52 Belege. Bewertung #dufehlst, #unvergessen, #sternenkinderbleibe‐ nunvergessen (Gedenk-)Anlässe und -Orte #worldwidecandlelighting, #friedhof Tab. 4: Kategorien der häufigsten Hashtags Der häufigste Hashtag bezeichnet die Emotion Trauer, an 11. Stelle findet sich allerdings auch #liebe (vgl. Abb. 4). Sieben Hashtags können der Kategorie Betei‐ ligte Personen zugeordnet werden, das Sternenkind wird auch als Frühchen, Baby oder Kind bezeichnet. Die Eltern bezeichnen sich als Sterneneltern und verwaiste Eltern, von Sternenmama finden sich im Korpus 28 Belege, der Sternenpapa taucht nur drei Mal auf. Beim Ereignis finden sich die allgemeineren Hashtags #kinderwunsch und #schwangerschaft, wobei letztere mit dem Tod endet und die Geburt entsprechend als Fehlgeburt, stille Geburt oder Totgeburt bezeichnet wird. Weiter finden sich mehrere Hashtags, in denen eine bewertende Position zu finden ist. Im Korpus finden sich jeweils 26 Belege für #sternenkinderblei‐ benunvergessen sowie #unvergessen. Zudem kann festgestellt werden, dass sich im Online-Trauerdiskurs der Hashtag #dufehlst etabliert hat. 9 Es wird also nicht nur über Verstorbene, sondern auch mit ihnen gesprochen (vgl. dazu auch Klug i.d.B.). Daneben finden sich im Trauerdiskurs auch weitere Hashtags mit direkter Adressierung, die vor allem Verben im Präsens wie lieben, vermissen und das bereits erwähnte fehlen enthalten (vgl. Bodenmann et al. 2023). Schließlich finden sich im Korpus in den Top 20 je ein Hashtag zu einem Gedenkanlass und einem Gedenkort. Die Initiative Worldwide Candle Lighting hat den jährlichen Weltgedenktag für alle verstorbenen Kinder ins Leben gerufen, der am zweiten Sonntag im Dezember stattfindet und bei dem um 19 Uhr brennende Kerzen zum Gedenken in die Fenster gestellt werden. Mit #friedhof wird auf eine analoge und somit physische Gedenkstätte verwiesen; dies ist häufig in Zeitungsartikeln der Fall, die von neuen Grabanlagen speziell für Sternenkinder berichten. Neben #liebe gibt es im Korpus 24 weitere Hashtags, die in irgendeiner Form das Substantiv Liebe oder auch das Verb lieben enthalten, wobei die meisten Hashtags im Korpus nur einmal vorkommen (vgl. Abb. 5). Die beiden Hash‐ tags #inliebegehuellt und #liebeendetnicht wurden jeweils nur von einer ein‐ zigen Person verwendet, #unendlicheLiebe mit Binnengroßschreibung wurde zweimal von einer Person verwendet, die Variante nur mit Kleinbuchstaben 86 Christina Margrit Siever <?page no="87"?> zweimal von einer anderen Person. #ichliebedich haben ebenfalls zwei Personen genutzt. Die drei Hashtags, die jeweils zweimal verwendet wurden (#inewiger‐ liebe, #mutterliebe, #muttertochterliebe), stammen jeweils von einer Person. Der Hashtag #liebe wurde insgesamt 27 Mal verwendet, wobei zwei Per‐ sonen je zwei Tweets mit dem Hashtag verfasst haben, die anderen 21 Tweets stammen von unterschiedlichen Accounts. Das Verhältnis zwischen Groß- und Kleinschreibung ist ausgeglichen, der Hashtag wurde 14-mal klein- und 13-mal großgeschrieben. In 25 Tweets steht er, gemeinsam mit weiteren Hashtags, am Ende des Tweets. Lediglich in zwei Fällen ist er in den Text integriert: „Die #Liebe zum #Sternenkind ♥ […]“ und „[…] Alles #Liebe! […]“. Beim ersten Tweet handelt es sich um den Text eines Elternteils über das eigene Sternenkind, beim zweiten Text schickt jemand am Weltgedenktag für verstorbene Kinder gute Wünsche an Menschen mit Sternenkind(ern). Abb. 5: Hashtags rund um die Thematik Liebe 16 Tweets haben neben dem Hashtag #liebe weitere Erwähnungen dieser Emotion, sei dies im Fließtext (z. B. „[…] Ich liebe euch beide❣🐞🦋 […]“, in Form von Emojis oder in Kombination mit dem Hashtag #MutterLiebe sowie dem englischen Hashtag #love. In 13 Tweets wird neben der Liebe auch die Trauer erwähnt, teilweise sogar mehrfach. Der folgende Tweet - allerdings mit dem Hashtag #unendlicheliebe - verdeutlicht diese Gleichzeitigkeit beider Emotionen: Liebe über den Tod hinaus 87 <?page no="88"?> Vor einem Monat um diese Zeit war ich in den Wehen. Surreal voller Vorfreude darauf unser kleines #Sternenkind endlich im Arm zu halten. Das schönste und gleichzeitig traurigste Erlebnis meines Lebens. So viel Liebe und Trauer gleichzeitig. Unbeschreiblich. #unendlicheliebe Wie eingangs des Abschnitts erläutert und in Abb. 4 zu sehen, dominiert der Hashtag #trauer deutlich, doch in vielen Fällen ist die Emotion der Liebe verbal oder auch in Emojis sehr präsent. Im folgenden Kapitel geht es entsprechend um die Verwendung von Emojis, die unter anderem Liebe, aber auch Trauer ausdrücken. 6 Emojis Emojis können nicht als typisches Merkmal im hier untersuchten Korpus gelten; lediglich 18 % aller Tweets enthalten welche. Von jenen 1538 Tweets mit Emojis enthalten 868 Tweets nur eins, was 56 % der Tweets mit Emojis entspricht. Auch zwei bis vier Emojis pro Tweet kommen noch vergleichsweise häufig vor; mehr als sechs hingegen findet man in den seltensten Fällen (vgl. Abb. 6). 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 16 23 24 25 120 0 100 200 300 400 500 600 700 800 900 1000 Abb. 6: Anzahl Emojis pro Tweet Im Folgenden werden die 20 am häufigsten verwendeten Emojis im Korpus ge‐ nauer untersucht. Wie in Abb. 7 ersichtlich, zeigt sich erneut eine Long-Tail-Ver‐ teilung. Zunächst sei angemerkt, dass die Rangfolge der Emojis auf den Positionen 12 und 13 sowie 14 und 15 hinsichtlich der Häufigkeit gleich ist, das bedeutet, dass die Positionen austauschbar sind. Des Weiteren wurde 88 Christina Margrit Siever <?page no="89"?> 10 Variantenselektoren werden verwendet, um verschiedene Versionen von Zeichen anzuzeigen. Bei Emojis kann mittels Variantenselektoren beispielsweise eine Hautfarbe oder ein Geschlecht ausgewählt werden, und Bildzeichen, die bereits im Jahr 1993 in den Unicodeblock Dingbats (U+2700 bis U+27BF) aufgenommen wurden, können mit dem Variantenselektor 16 im Emojistil statt im Textstil angezeigt werden. bei der Rangfolge keine Berücksichtigung des Unicode-Variantenselektors 16 (Textstil vs. Emoji-Stil) 10 vorgenommen, wodurch diese Varianten von Emojis zusammengefasst wurden. 0 100 200 300 400 500 600 700 Abb. 7: Top 20 Emojis Hier interessieren insbesondere Emojis, die dem Ausdruck bzw. der Darstellung der Emotionen Liebe und Trauer dienen. Beißwenger und Pappert (2022: 120) weisen darauf hin, dass die bildliche Darstellung von Abstrakta oder Kollektiva zwar schwierig sei, dass aber in denjenigen Fällen, „in denen kollektiv verfestigte Symbole zur Verfügung stehen (beispielsweise Herz für Liebe)“, diese auch benutzt werden. In Bezug auf Trauer gibt es einerseits die Möglichkeit, traurige Gesichtsemojis zu verwenden. Andererseits kann Trauer auch mittels Farbsym‐ bolik dargestellt werden. Nöth (2000: 492) konstatiert in Bezug auf Comics, dass „kulturell bedingte Farbsymbolik als Mittel zur Darstellung von Emotionen oder atmosphärischen Stimmungen“ genutzt werden kann. Zu beachten ist hierbei, dass die Farbsymbolik kulturspezifisch ist. Während in Europa und in den USA schwarz die Farbe der Trauer und des Todes ist, ist es in Japan und vielen anderen Liebe über den Tod hinaus 89 <?page no="90"?> 11 Dieses Emoji kommt im Korpus in verschiedenen Varianten vor, nämlich mit und ohne Variantenselektor 16 (U+FE0F) für den Emoji-Stil sowie als Heavy Black Heart (U+2764U) und Heart Suit (U+2665U), die hier zusammengefasst wurden. Im Korpus dominiert das Heavy Black Heart mit Variantenselektor mit 290 Belegen, gefolgt vom selben Emoji ohne Variantenselektor mit 181 Einträgen. Das Heart-Suit-Emoji kommt 63 Mal mit einem Variantenselektor und 50 Mal ohne selbigen vor. asiatischen Ländern weiß und in der Elfenbeinküste dunkelrot (vgl. Göpferich 1998: 333). Darüber hinaus gibt es das Symbol des gebrochenen Herzens, das für den Schmerz steht, den man empfindet, wenn man eine Person vermisst, die man liebt. Im Folgenden werden nun die häufigsten im Korpus vorkommenden Emojis genauer betrachtet, insbesondere in Bezug auf die beiden genannten Emotionen. Das rote ❤-Emoji (Red Heart) 11 ist mit 584 Vorkommnissen und somit mehr als doppelt so vielen Belegen wie das Emoji auf dem zweiten Platz zweifellos das dominierende im Korpus. Abgesehen vom roten Herz gibt es im Korpus noch einige weitere Herz-Emojis. An vierter Stelle befindet sich das schwarze 🖤 (Black Heart), das zugleich Trauer und Liebe symbolisiert. Ebenso symbolisiert das gebrochene rote 💔 (Broken Heart) das gleichzeitige Vorhandensein von Schmerz und Liebe. Die Positionen 12 und 16 werden von Emojis eingenommen, die ein grünes 💚 (Green Heart) und blaues 💙 (Blue Heart) darstellen, während das 😍-Emoji (Smiling Face with Heart-Shaped Eyes) den 18. Platz belegt. Die Ränge 19 und 20 in der Rangliste werden durch die jeweils pinkfarbigen Emojis 💕 (Two Hearts) und 💖 (Sparkling Heart) belegt. Zusammenfassend können wir festhalten, dass innerhalb der Top 20 Emojis insgesamt acht Symbole enthalten sind, die verschiedene Formen von Herzen repräsentieren, wobei zwei dieser Herz-Emojis sowohl Liebe als auch Trauer symbolisieren. Ein Emoji ist zudem ein Gesichts-Emoji mit herzförmigen Augen. An dieser Stelle ist allerdings anzumerken, dass sich das rote Herz-Emoji (❤) in der digitalen Kommunikation allgemein großer Beliebtheit erfreut. In einer umfangreichen Studie zur WhatsApp-Kommunikation in der Schweiz wurde das rote Herz-Emoji (❤) ebenfalls als das am häufigsten verwendete Emoji identifiziert (vgl. Dürscheid/ Siever 2017: 276). In einer Studie zur deutschspra‐ chigen Instagram-Kommunikation ist zwar das 😍-Emoji das häufigste, doch das rote ❤-Emoji belegt den zweiten Platz (vgl. Siever/ Siever 2020: 187). Li et al. (2019: 1757) schließlich analysierten Twitter-Daten aus dem Jahr 2016, wobei sie ein thematisch neutrales Korpus erstellten. In ihren Daten rangiert das 😂-Emoji (Face with Tears of Joy) mit großem Abstand an erster Stelle, jedoch gefolgt vom roten ❤ an zweiter Stelle und vom 😍-Emoji auf dem dritten Rang. In allen drei genannten Studien zur Verwendung von Emojis (auf WhatsApp, 90 Christina Margrit Siever <?page no="91"?> 12 https: / / www.dwds.de/ wb/ %C3%BCber%20die%20Regenbogenbr%C3%BCcke%20gehen (Stand: 04.08.2023). Instagram, Twitter), rangierte das rote Herz stets auf dem ersten oder zweiten Platz. Dennoch ist bemerkenswert, dass im Kontext von Sternenkindern das rote Herz mehr als dreimal so häufig vorkommt wie das schwarze Herz auf Rang 4 oder und mehr als siebenmal so häufig wie das gebrochene Herz auf Rang 9. Neben Liebe wird mittels Emojis wie bereits erwähnt auch Trauer ausge‐ drückt. Bereits genannt wurden die Emojis schwarzes 🖤 und gebrochenes 💔 Herz an 4. und 9. Stelle, doch finden sich auch einige traurige Gesichtsemojis. Auf Rang 6 ist das Emoji 😢 (Crying Face) angesiedelt, auf Platz 7 das 😭-Emoji (Loudly Crying Face), gefolgt vom 😔-Emoji (Pensive Face) auf dem 8. Rang und schließlich das 😥-Emoji (Sad but Relieved Face) an 17. Stelle. Vergleicht man nun die Symbole, die Liebe und Trauer repräsentieren, einschließlich der Emojis schwarzes 🖤 und gebrochenes 💔 Herz, die zu beiden Kategorien gezählt werden, wird deutlich, dass sich in den Top 20 insgesamt 990 Emojis befinden, die Liebe symbolisieren, während 576 Emojis Trauer symbolisch darstellen. Das Symbol für Liebe dominiert somit auf visueller Ebene vor dem Gefühl der Trauer. Dies ist ein interessantes Ergebnis, da sich das Verhältnis bei den Hashtags, wie bereits erwähnt, umkehrt verhält: Der Hashtag #trauer führt die Top 20 mit 183 Vorkommnissen an, während sich der Hashtag #love mit nur 29 Belegen auf Rang 11 befindet. Zu den weiteren Emojis sei an dieser Stelle lediglich kurz erwähnt, dass Sternsymbole aufgrund der Thematik stark präsent sind und etwa ein Viertel aller Top-20-Emojis ausmachen. Weitere Emojis wie das 🕯-Emoji (Candle) und das 🙏-Emoji (Person with Folded Hands) können als religiöse oder spirituelle Symbole im Kontext von Trauer betrachtet werden. Der Regenbogen schließlich wird häufig im Kontext von sogenannten Regenbogenkindern verwendet, also Kindern, die in einer Familie nach einem verstorbenen Kind geboren werden. Das Symbol des Regenbogens bedeutet laut Böcker (2022: 32) das Zusammen‐ treffen des schmerzlichen Verlustes eines Kindes (Regen) mit dem anschlie‐ ßenden freudigen Ereignis der Geburt (Sonne) und symbolisiert darüber hinaus die Verbundenheit mit dem verstorbenen Geschwisterkind. Außerdem wird „über die Regenbogenbrücke gehen“ euphemistisch für „sterben“ verwendet, laut dem Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache jedoch „in Bezug auf Tiere“ 12 . Studien zeigen jedoch, dass es starke Ähnlichkeiten im Sprachgebrauch bei Verlusten von Haustieren und nahestehenden Menschen gibt (vgl. z. B. Lyons et al. 2022). Im Korpus finden sich dann auch acht Tweets, in denen von der Regenbogenbrücke die Rede ist; das Regenbogenemoji wurde dort allerdings Liebe über den Tod hinaus 91 <?page no="92"?> 13 In einem Tweet geht es um die Bezeichnungen „Sternenkind“ und „Regenbogenbrücke“, die beide kritisiert werden, wobei allerdings die Regenbogenbrücke explizit auf Haus‐ tiere bezogen wird: „Mein Neffe hat es auch nicht geschafft, er verstarb noch vor der Geburt. Schlimm fand ich die albernen Verharmlosungen wie ,Sternenkind‘ (Leute, die Haustiere für Kinder halten, haben dafür ,über die Regenbogenbrücke gehen‘) um das Wort ,Tod‘ zu vermeiden. Viel Kraft wünsche ich! “ nie verwendet. In sieben Tweets 13 wird auf Sternenkinder Bezug genommen wie beispielsweise in diesem Text: Ich werkel ehrenamtlich für Sternenkinder und weis daher, das Sternenkinder keine Lobby haben. Das ist traurig, denn sie sind kleine Menschen, die einfach zu früh über die Regenbogenbrücke gegangen sind Abschließend soll beispielhaft ein Tweet analysiert werden, der 10 verschiedene Emojis enthält, die allesamt in den Top 20 vertreten sind: Am [Geburtsdatum] wurde [Vorname] still geboren ❤💔😭 Meine liebe Frau war da in der 19. SSW. Engelsflügel hat [Vorname] aber bereits in der 17. SSW bekommen. 😢😭 #Sternenkind #Sternenkinder 🕯🙏⭐🌟🌠🌈 Von der Wahl der Emojis her haben wir hier also eine prototypische Verwen‐ dung, doch sei an dieser Stelle nochmals daran erinnert, dass 82 % aller Tweets im Korpus gar keine Emojis enthalten. Und wenn überhaupt Emojis vorhanden sind, dann meist nur eins pro Tweet. In Bezug auf die Anzahl der Emojis handelt es sich folglich um ein gänzlich untypisches Beispiel. Im Tweet haben die ersten beiden Emoji-Folgen unter anderem eine segmen‐ tierende Funktion, im ersten Fall wird ein Interpunktionszeichen ersetzt, im zweiten Fall ergänzen die Emojis den Punkt. Insbesondere die ersten beiden Emoji-Folgen können zudem dem Funktionsbereich des Lesbarmachens zuge‐ ordnet werden, denn mit den Emojis wird auch die Einstellung zum „geäußerten Sachverhalt rekonstruierbar gemacht“ (Beißwenger/ Pappert 2020: 101). In der Sequenz ❤💔😭 (Red Heart, Broken Heart, Loudly Crying Face) wird sowohl Liebe als auch Trauer ausgedrückt, was verbal im Tweet nicht der Fall ist. Die zweite Sequenz besteht aus zwei traurigen Gesichtsemojis, die ebenfalls Trauer ausdrücken. Die letzte Emoji-Folge kann der Funktion des Sichtbarmachens zugerechnet werden, und zwar der Praktik der „alternative[n] (bildhafte[n]) Rea‐ lisierungsformen von Propositionen oder Teilpropositionen“ (Beißwenger/ Pap‐ pert (2020: 102, Herv. i. O.). So könnten beispielswiese die beiden aus dem Bereich der spirituell-religiösen Symbole stammenden Emojis 🕯🙏 zusammen mit den Sternsymbolen als „wir gedenken unseres Sternenkindes und beten für es“ gelesen werden. Ganz am Ende steht ein Regenbogenemoji, das in diesem Fall 92 Christina Margrit Siever <?page no="93"?> nicht für ein Geschwisterkind steht. Vielmehr könnte es in der zuvor genannten Bedeutung der Regenbogenbrücke stehen, zumal verbal auch „hat Engelsflügel bekommen“ als euphemistische Ausdrucksweise für „sterben“ genutzt wird. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Kommunikat aus se‐ mantischer Sicht über eine komplementäre Text-Bild-Beziehung (vgl. Nöth 2000: 484) verfügt, d. h. die Gesamtbedeutung ist nur zu verstehen, wenn die Text-Bild-Kombination als Gesamtes rezipiert wird. Verbal wird vom Ereignis der stillen Geburt des Kindes bzw. dessen Tod berichtet, die diesbezüglich empfundenen Emotionen dahingegen werden ausschließlich mittels Emojis ausgedrückt. 7 Fazit Der Verlust eines Kindes ist noch heute ein Tabuthema. Betroffene Menschen haben jedoch das Bedürfnis, sich darüber auszutauschen, und nutzen dazu auch Social-Web-Communitys. Neben der Trauer um die Sternenkinder spielt die Liebe eine zentrale Rolle in der Kommunikation. Im vorliegenden Beitrag wurde gezeigt, wie in Hashtags und Emojis die Emotionen Liebe und Trauer ausgedrückt werden. Was Giaxoglou (2021: 33) in Bezug auf „social media mourning“ festgestellt hat, nämlich dass Emojis und Hashtags in digitaler Trauerkommunikation verwendet werden, trifft auch auf die hier untersuchte Kommunikation um Sternenkinder zu, doch sind diese Merkmale nicht typisch für die hier analysierten Tweets. Lediglich 35 % von ihnen enthalten Hashtags und nur 18 % Emojis. In zukünftigen Untersuchungen wäre zu untersuchen, ob die relativ niedrige Emoji-Häufigkeit der Kommunikationsplattform Twitter oder der Trauerkommunikation geschuldet ist. Die häufigsten 20 Hashtags und Emojis spiegeln deutlich die Thematik der Sternenkinder wider. Während bei den Hashtags #trauer mit Abstand der häufigste Hashtag ist, dominieren bei den Emojis Symbole der Liebe vor Symbolen der Trauer. Grund für die Verwendung vieler Herz-Emojis kann einerseits sein, dass sich das rote Herz generell in der digitalen Kommunikation großer Beliebtheit erfreut, darüber hinaus kann Trauer allenfalls auch schlechter bildlich dargestellt werden als Liebe. Neben den traurigen Gesichtsemojis kann dafür die schwarze Farbe beim Herzen sowie das gebrochene Herz genutzt werden. Nicht zuletzt konnte im vorliegenden Beitrag bezüglich des Ausdrucks Ster‐ nenkind gezeigt werden, dass die Verwendung auf Twitter in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat, was aber nicht auf die allgemeine Twitternutzung zurückgeführt werden kann. Es ist entsprechend davon auszugehen, dass So‐ cial-Web-Communitys - gewissermaßen in der Nachfolge von Online-Foren - Liebe über den Tod hinaus 93 <?page no="94"?> maßgeblich zur Etablierung und Bekanntmachung des Ausdrucks beigetragen haben. Übrigens findet sich die Emotion Liebe auch im Ausdruck Sternenkind selbst, denn die Bezeichnung ist eindeutig liebevoller (und damit euphemis‐ tischer) als die früher einzig für den Sachverhalt verwendeten Synonyme Fehlgeburt oder Totgeburt. Die poetische Interpretation des Ausdrucks kann allenfalls eine Form der Trauerbewältigung darstellen, darüber hinaus macht ein Sternenkind die Eltern zu Sterneneltern; der Ausdruck dient folglich auch der sozialen Positionierung, d. h. der Betonung der familiären Komponente, also der Eltern-Kind-Beziehung. In der Ausdrucksweise spiegelt sich zudem eine neue Trauerkultur sowie ein veränderter Umgang mit Schwangerschaftsverlust und Kindstod. Die Online-Trauerkommunikation in Social-Web-Communitys trägt möglicherweise dadurch, dass es sich nicht um spezifische Trauer-Communitys handelt, auch zu einer Enttabuisierung der Thematik bei, da nicht betroffene Menschen damit (ungewollt) in Berührung kommen (können). 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Nina-Maria Klug Abstract: In diesem linguistischen Beitrag werden sprachliche und multi‐ modale Praktiken herausgearbeitet, die nicht nur davon zeugen, dass Men‐ schen (Liebes-)Beziehungen unterschiedlicher Art auch dann textbasiert (weiter-)pflegen, wenn das Beziehungsgegenüber bereits verstorben ist, son‐ dern auch einen Blick darauf gewähren, wie Menschen dies tun. Als Grund‐ lage der qualitativ-quantitativen Analyse dient ein im Jahr 2022 erhobenes Korpus von Texten, die im Umfeld von öffentlich zugänglichen Gräbern in einem deutschen Bestattungswald erlaubter- und verbotenerweise platziert wurden. Interessant erscheint die Beschreibung der textbasierten Praktiken am Baumgrab auch deshalb, weil sie sich in relativ kurzer Zeit herausgebildet und verfestigt haben: an einem Bestattungsort, der in Deutschland erst seit den 2000er Jahren eine legale Option der religions- und wohnortunabhän‐ gigen Urnenbestattung außerhalb des ,traditionellen‘ Friedhofs darstellt und von sehr speziellen kommunikativen Rahmenbedingungen geprägt ist. Keywords: Trauer(arbeit), Continuing Bonds, Beziehungspflege, Bezie‐ hungsverortung, Intimität, offene Liebesbriefe, Liebesbekenntnis, Liebesver‐ sicherung <?page no="98"?> 1 Vgl. zu verschiedenen (historischen/ aktuellen), zumeist religiösen bzw. spirituellen Konzeptionen eines solchen Lebens im knappen Überblick z. B. Mickan (2019). 2 Erstens sei hiermit auf den körperlichen Zustand eines medizinisch und juristisch mit der Ausfertigung des Totenscheins als (hirn-)tot attestierten Menschen referiert, der es Hinterbliebenen schwer machen kann, ihr Wissen um Tod und Leben als Seins-Zustände aufrecht zu erhalten, die sich kontradiktorisch ausschließen. Denn in diesem Zustand schlägt das Herz des bereits als tot bescheinigten Menschen noch über einen längeren Zeitraum selbstständig weiter. Auch andere Körper- und Organfunktionen werden - im Vorfeld einer möglichen Organspende - weiterhin überwacht und müssen nach wie vor als stabil beurteilt werden können. Dieser Zustand, der sich als Form eines körperlichen (Weiter-)Lebens nach dem bereits deklarierten Tod begreifen lässt, findet erst mit dem Herz-Kreislauf-Stillstand und den daran anschließenden körperlichen Todeszeichen sein nicht mehr diskutierbares Ende. Zweitens kann der physische Tod eines (organspendenden) Menschen zugleich als Beginn eines leiblichen Lebens nach dem Tod begriffen werden, das mit der geglückten Organtransplantation beginnt und als partikularisiertes (Weiter-)Leben des verstorbenen Menschen nach seinem Tod konzeptualisierbar ist (vgl. Benkel 2019: 17). Dieses postmortale Leben kann für Hinter‐ bliebene zum Beispiel im Weiterschlagen und somit im buchstäblichen Weiterleben des Herzens der verstorbenen Person in und mit derjenigen Person bestehen, die das gespendete Organ empfangen hat. 1 Das Leben nach dem Tod Was ist mit diesem Leben nach dem Tod gemeint, das den zentralen Aus‐ gangspunkt dieses Beitrags bildet und dessen Existenz bereits in seinem Titel präsupponiert wurde? Die Klärung dieser Frage direkt zu Beginn erscheint bereits deshalb angebracht, weil sich ganz unterschiedliche Konzeptionen einer postmortalen Existenz beschreiben lassen, die zum Teil sehr kontrovers disku‐ tiert und überzeugt dementiert werden. Hierzu zählen nicht nur Vorstellungen, die sich auf ein geistiges Leben beziehen, zu dem Menschen mit ihrem leiblichen Tod Zugang erhalten (können) 1 , sondern u. a. auch solche, die von einem leiblichen Leben nach dem Tod einer Person ausgehen, der bereits offiziell, mit der Ausstellung des Totenscheins, deklariert wurde. 2 Obwohl Entwürfe des nachtodlichen (Weiter-)Lebens einer verstorbenen Person im weiteren Verlauf dieses Beitrags noch eine Rolle spielen werden, geht er zunächst von einem Leben nach dem Tod aus, das sich anders als die vorbenannten Formen kaum diskutieren und in seiner Faktizität bestreiten lässt: Es handelt sich um dasjenige Leben, das für eine lebendige Person just in dem Augenblick beginnt, in dem sie mit dem Tod als „objektive[m] Faktum des Daseins“ ( Jaspers 1948: 483) und dem damit einhergehenden signifikanten Verlust „der lebendigen, sozial wirksamen Gegenwart [eines] subjektiv als bedeutungsvoll angesehenen Men‐ 98 Nina-Maria Klug <?page no="99"?> 3 Die hier vertretene Konzeption des Menschseins schließt auch (Sternen-)Kinder mit ein, die bereits als Naszituri, d. h. als gezeugte, jedoch nicht geborene Kinder (gleich welcher pränatalen Entwicklungsstufe) gestorben sind. Vgl. zur näheren Beschäftigung mit dieser Thematik z. B. Siever (i.d.B.). 4 Vgl. zur Vielfalt der möglichen Konzeptionen von Emotion (und Gefühl) Ortner (2014: 13-44). schen“ 3 (Seibel 2019: 168) konfrontiert wird. Dieses Leben findet seinen Ursprung also dort, wo ein im Leben zurückgebliebener - man sagt auch hinterbliebener - Mensch seine Machtlosigkeit bzw. Ohnmacht im Angesicht des Todes einsehen, diesen als unwiderrufliche Tatsache erkennen und anerkennen muss: Die für tot erklärte Person und das mit ihr bislang gepflegte und/ oder geplante familiäre, partnerschaftliche oder freundschaftliche (Beziehungs-)Leben ist un‐ wiederbringlich. Ungeachtet jeder Bemühung lässt sich ihr körperlicher Tod - spätestens nach dem Eintritt des Herz-Kreislauf-Stillstands und den auf ihn folgenden Todeszeichen (vgl. Anm. 2) - nicht (mehr) leugnen, verhandeln und umkehren. Es gibt kein Zurück in das gemeinsame Leben vor dem Tod. 1.1 Trauer im Leben nach dem Tod Der Beginn dieses Lebens nach dem Tod ist für den im Leben zurückgebliebenen Part der Beziehung zugleich der Geburtsmoment seiner Trauer. Sie wird in diesem Beitrag als eine Emotion im Verständnis eines mehrdimensionalen Syndromkomplexes gefasst (Schwarz-Friesel 2013: 55, Frick 2022: 110, Klug 2023: 322). 4 Dieser lässt sich von Trauernden durch ganz unterschiedliche, mit‐ unter sogar widersprüchliche Gefühle bestimmen, die als Formen des bewussten bzw. bewusstgemachten Selbsterlebens begriffen werden (vgl. Schwarz-Friesel 2013: 55). Als Ergebnis introspektiver Reflexion stellen die Gefühle, so wie sie hier gefasst werden, immer eine emotionale Kategorisierung des subjektiv Erlebten dar, die grundsätzlich mit einer positiven oder negativen Bewertung einhergeht. Diese (wertende) Reflexion, die Bewusstmachung des Gefühlten bildet zugleich die Grundlage für die Möglichkeit des kommunikativen Aus‐ drucks, so z. B. für die zielgerichtete Versprachlichung oder Verbildlichung, die Beschreibung bzw. Bezeichnung von Trauer als Traurigkeit über den unwider‐ ruflichen Verlust (Klug 2023: 322, Ortner 2014: 18). Trauer wird subjektiv aller‐ dings nicht nur als Traurigkeit erfahren, sondern z. B. auch als Verzweiflung, Entsetzen oder Fassungslosigkeit, als Niedergeschlagenheit und Freudlosigkeit. Sie lässt sich als Hoffnungslosigkeit, Mutlosigkeit oder Hilfslosigkeit katego‐ risieren, subjektiv durch Gefühle der inneren Leere, Einsamkeit, Sehnsucht, Schwäche und Zukunftsangst beschreiben. Trauer kann für die Menschen, die Vom Lieben im Leben nach dem Tod 99 <?page no="100"?> 5 Intimität wird in diesem Beitrag ganz allgemein als Zustand großer Nähe bzw. tiefer Vertrautheit innerhalb einer Beziehung begriffen, der nicht auf den speziellen Aspekt sexueller Nähe bzw. Vertrautheit beschränkt wird. sie empfinden, auch von Gefühlen wie Scham oder Schuld geprägt sein. Sie wird mitunter als Wut oder Neid auf und Missgunst gegenüber Menschen empfunden, die noch all das haben, was die betrauerte Person, aber auch man selbst durch deren Tod unumkehrbar verloren hat (Klug 2023: 322 im Anschluss an Wikan 1990, Jungbauer 2013: 50-51, Hitzler 2021: 312). Gemeinsam ist den Gefühlen bzw. Gefühlskombinationen, durch die Trauer subjektiv erfahren, kategorisiert und näher bezeichnet wird, Folgendes: Sie gehen konventionell mit einer starken bis sehr starken negativen Bewertung einher (vgl. Schwarz-Friesel 2013: 55, Fiehler 2014: 51). Mit Blick auf die Intensität der Negativ-Bewertung kann zudem angenommen werden: „Wenn die Beziehung zum Verstorbenen positiv und emotional war, wird der Verlust stärker betrauert als bei einer dis‐ tanzierten, ambivalenten oder konfliktreichen Beziehung.“ ( Jungbauer 2013: 53) Liebesbeziehungen (unterschiedlicher Art) können als besonders positive und emotionale Formen von Beziehung gefasst werden. Sie finden ihr Fundament in der Emotion, die in diesem Beitrag als diejenige der größtmöglichen Po‐ sitiv-Wertung bzw. Hochwertung eines Gegenübers und der engsten, innigsten Bindung an dieses betrachtet wird: die Liebe. Als „die stärkste Form der Hinwendung“ (Schwarz-Friesel 2013: 290) ist sie üblicherweise verbunden mit dem Drang nach Fürsorge für das und dem Wunsch nach einem Zusammensein mit dem geliebten Gegenüber, das (oft) mit starken bis stärksten positiven Gefühlen wie Geborgenheit, Sicherheit, Dankbarkeit oder Glück assoziiert wird (vgl. u. a. Bauers 2016, Schüßler/ Röber 2019). Daraus lässt sich schließen: Je stärker die emotionale Zuneigung bis hin zur Liebe, je größer die Intimität 5 und je positiver die (Liebes-)Beziehung beurteilt wird, die einen Menschen an einen anderen bindet bzw. zwei Menschen miteinander verbindet, umso schwerer und negativer wird üblicherweise auch der Verlust des Beziehungsgegenübers erfahren, umso intensiver wird die Trauer empfunden. Denn insbesondere unter Menschen, die geliebt wurden und lieben können, denen also beider Art Liebe geschenkt ist, gibt es eine tiefe Erfahrung: nämlich dass der geliebte Mensch so geliebt wird, dass sein Dasein unbedingt ersehnt und erwünscht ist. Wer liebt, will, dass der geliebte Mensch ist, dass er da ist, dass er lebt, dass er vorhanden ist. (Fuchs 2013: 111) Aus dieser engen Korrelation von Liebe und Trauer folgt zugleich, dass sich eine scharfe konzeptionelle Grenze, wie sie von Schwarz-Friesel (2013: 67) zwi‐ schen „beziehungsbezogenen Emotionen“ (z. B. Liebe) und „situativ ausgelösten 100 Nina-Maria Klug <?page no="101"?> Emotionen“ (z. B. Trauer) gezogen wird, kaum aufrechterhalten lässt. Um dies mit Kachler (2021: 5) auf den Punkt zu bringen: Warum trauern wir? Es gibt nur eine Antwort: weil wir lieben. Die Liebe ist der innerste Kern der Trauer. Sie ist ihr Wärmezentrum. Warum trauern wir? Es gibt nur eine Antwort: weil wir einen geliebten Menschen verloren haben und nicht mehr lieben können, jedenfalls nicht mehr leibhaftig. Das macht uns so unendlich traurig. Trauern wir, weil wir lieben oder weil wir jemanden verloren haben? Es gibt nur eine Antwort, die beides miteinander verbindet: Wir lieben im Verlust, weil wir nicht mehr lieben dürfen und doch weiter lieben wollen. Trauer wird in diesem Beitrag daher nicht ,bloß‘ als eine Emotion gefasst, die durch ein situatives Ereignis (hier einen Todesfall) ausgelöst wird und die sich damit klar von beziehungsorientierten Emotionen abgrenzen lässt. Schließlich wird sie bei bzw. in einer Person erst durch den Tod einer anderen ausgelöst, an die sie emotional gebunden ist. Diese Bindung manifestiert sich in einer Nähe-Beziehung, die sich in ihrer engsten Form als Liebes-Beziehung - z. B. partnerschaftlicher oder (wahl-)familiärer Art - charakterisieren lässt. Aus diesem Grund wird auch die Trauer um einen sehr nahestehenden/ geliebten Menschen und um das mit ihm gelebte, gepflegte und/ oder geplante (Bezie‐ hungs-)Leben in diesem Beitrag vorrangig als eine Beziehungsemotion bzw. als eine Bindungsemotion begriffen - und zwar als eine, die sich dadurch spezifizieren lässt, dass sie ihren Ursprung in einem situativen Ereignis, nämlich dem Tod des Beziehungsgegenübers findet. Das bedeutet: In der Trauer drücken wir den Schmerz darüber aus, dass der geliebte Mensch nicht mehr leiblich da ist. Die Liebe, die ich diesem Menschen geschenkt habe, lässt sich mit ihm nicht mehr leben, jedenfalls nicht mehr in konkreter Form. Und umgekehrt werde ich von ihm auf diese Weise auch nicht mehr geliebt. (Kachler 2017: 18) 1.2 Trauerarbeit im Leben nach dem Tod Die Herausforderung für Hinterbliebene im Rahmen ihrer selbstreflexiven Aus‐ einandersetzung mit der eigenen Trauer, die auch als Trauerarbeit bezeichnet wird, besteht darin, mit dem durch den Tod verursachten Verlust und dem daraus resultierenden, stark negativ bewerteten emotionalen Zustand umzugehen (vgl. Seibel 2019: 168). Dabei geht es im Kern darum, den emotionalen Ausnahmezu‐ stand Trauer in eine Wirklichkeit des eigenen (Weiter-)Lebens nach dem Tod Vom Lieben im Leben nach dem Tod 101 <?page no="102"?> 6 Das bewusste Ertragen und aktive Durchleben der Verlusterfahrung bzw. die aktive Verlustreflexion wird hier als die notwendige Grundlage der Trauerarbeit gefasst, die sich mit einer (z.T. pathologischen) Trauerbzw. Verlustverdrängung nicht vereinbaren (nur zeitlich aufschieben) lässt. zu überführen, die von der trauernden Person trotz des bleibend-bewussten 6 Verlusts (zunehmend wieder) positiv und somit als lebenswert beurteilt werden kann (vgl. Kachler 2017, Klug 2023: 322). Für diesen Prozess der Trauerarbeit wurde im 20.-Jahrhundert im Anschluss an die vielrezipierten Arbeiten von Freud (1917) und Kast (1977) das ,Durchar‐ beiten‘ verschiedener Trauerstufen bzw. -phasen als konstitutiv angesehen. Da die Liebe mit dem Tod ihren Referenzpunkt, ihr notwendiges Gegenüber ver‐ loren habe und somit ins Leere liefe, so die Ausgangsannahme dieser trauerpsy‐ chologischen Ansätze, stand hierbei das Loslassen der verstorbenen Person und die Überwindung der emotionalen Bindung an diese im Fokus. Breaking Bonds wurde zum zentralen Appell der Trauerarbeit, der im kollektiven Alltagswissen sedimentierte. Es galt als notwendige Voraussetzung für einen erfolgreichen, als ,gesund‘ und ,normal‘ konzeptualisierten Trauerprozess, an dessen Ende ein Leben stand, das nicht nur die Möglichkeit für das (Wieder-)Empfinden positiver Gefühle wie Zuversicht und Hoffnung bot, sondern auch offen war für neue Beziehungen, ein ,neues‘ Lieben nach dem Tod. Die nicht losgelassene Liebe zur und die fortdauernde Bindung an die verstorbene Person erfuhren in diesem Zuge eine Pathologisierung. Sie wurden als deutliche Zeichen einer Trauerstörung begriffen, in deren Rahmen Hinterbliebene unfähig bleiben, den Tod der Bezugsperson anzuerkennen und sich wieder in ein nachtodliches Sozialleben ohne diese einzufinden, das (auch) positive Gefühle zulässt (vgl. z. B. Rosner et al. 2014). Neuere trauerpsychologische Konzeptionen, wie sie seit der Jahrtausend‐ wende zunehmend vertreten werden (vgl. z. B. Silverman/ Klass 1996: 37), ver‐ folgen einen anderen Ansatz. Für ihn ist die Normalisierung von Bemühungen um ein „Lieben gegen den Tod und über den Tod hinaus“ (Kachler 2021: 6) kenn‐ zeichnend. Es wird davon ausgegangen, dass die Trauer-Vorgabe Breaking Bonds (zumindest im Falle sehr enger Bindungen, wie sie für Partnerschaften und El‐ tern-Kind-Beziehungen typisch sind) eine für Hinterbliebene kaum umsetzbare Aufgabe darstellt. Sie wird von ihnen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher „feeling rules“ (Hochschildt 1979, Fiehler 2001, Lautenschläger i.d.B.) - in den Normen und Erwartungen setzenden kulturellen Raum hinein - zwar oft als umgesetzt suggeriert, innerlich jedoch nur selten auch ,gelebt‘ bzw. ,gefühlt‘. 102 Nina-Maria Klug <?page no="103"?> 7 Vgl. zu weiteren frühen (Verlaufs-)Studien, die zum Überdenken klassischer Empfeh‐ lungen für die Trauerarbeit führten, die Übersichtsdarstellung in Stroebe et al. (1996). [S]urvivors hold the deceased in loving memory for long periods, often forever, and […] maintaining an inner representation of the deceased is normal rather than abnormal. It also is more central to survivors’ experience than commonly has been recognized. (Silverman/ Nickman 1996b: 605) Nachgewiesen wurde dies bereits in den 1990er Jahren durch empirische Longitudinalstudien. Im Zuge der v. a. trauerpsychologischen und thanatoso‐ ziologischen Forschungsprojekte wurden Hinterbliebene über einen längeren Zeitraum in ihrer Trauer(-arbeit) begleitet. Dabei lag der Fokus vor allem auf Hinterbliebenen, die wie Witwen (vgl. Shuchter/ Zisook 1993), (halb-)verwaiste Kinder (vgl. Silverman/ Worden 1992, Silverman/ Nickman 1996a) oder verwaiste Eltern (vgl. Klass 1996) den Verlust einer besonders nahestehenden bzw. ge‐ liebten Person zu betrauern hatten. 7 Kohortenintern und -übergreifend wurde dabei das Aufrechterhalten von Liebe und intimer Bindung zur verstorbenen Person - auch noch viele Jahre nach deren Tod - als überindividuelles Cha‐ rakteristikum belegt (vgl. u. a. Klass et al. 1996, Kachler 2017, 2021). Dieses andauernde Bedürfnis, „that reach[es] beyond the obvious end of one’s physical life“ (Quartier 2018: 267), ging jedoch nur in seltenen Fällen mit einem patho‐ logischen Verleugnen von Tod und Verlust sowie einer daraus resultierenden Unfähigkeit zum Wiedereinfinden in einen Alltag ohne die verstorbene Person und zum Eingehen neuer sozialer Bindungen einher. The empirical reality is that people do not relinquish their ties to the deceased, withdraw their cathexis, or ,let them go‘. What occurs for the survivors is a transfor‐ mation from what had been a relationship operating on several levels of actual, symbolic, internalized and imagined relatedness to one in which the actual (,living and breathing‘) relationship has been lost, but the other forms remain or may even develop in more elaborate forms. (Shuchter/ Zisook 1993: 14) Ein ,normaler‘ Trauerprozess, so die Schlussfolgerung, ist demnach weniger von einem Loslassen der Liebe zur bzw. der Bindung an die verstorbene Person bestimmt als davon, dass Hinterbliebene mit der Zeit lernen, wie und wodurch sie mit dem Paradoxon des Todes (weiter-)leben können. Dieses ist davon gekennzeichnet, dass „[t]he deceased are both present and not present at the same time“ (Silverman/ Nickman 1996b: 605, vgl. Kachler 2021: 5). Vor seinem Hintergrund erscheint es möglich, Vom Lieben im Leben nach dem Tod 103 <?page no="104"?> to be bereft and not bereft simoultaneously, to have a sense of continuity and yet to know that nothing will ever be the same. The reality is that there is an inner system that continues to be centered on the person who is no longer physically present. This inner reality may encourage the mourner to carry on. (Silverman/ Nickman 1996b: 606) 2 Continuing Bonds im linguistischen Forschungsinteresse: Praktiken am Baumgrab In dem in Kapitel 1 umrissenen Continuing Bonds-Bedürfnis von Hinterblie‐ benen in ihrem Leben nach dem Tod einer nahestehenden bzw. geliebten Person findet das linguistische Forschungsinteresse meines Beitrags seine Basis. Wenn mit Schwarz-Friesel (2013: 295) davon ausgegangen wird, dass „[d]ie Liebe […] auf eine besondere Art das Bedürfnis [weckt], dem anderen die Gefühle mitzu‐ teilen und der/ dem Geliebten die gefühlte Liebe zu beteuern“, dann sollte sich ebendies auch in der kommunikativen Praxis von Menschen niederschlagen, deren Liebe sich auf ein Beziehungsgegenüber richtet, das bereits verstorben ist. Betrachtet werden sollen im Folgenden deshalb kommunikative, genauer: sprachliche und sprachübergreifende multimodale Praktiken, die als kollektive Standardisierungen des kommunikativen Verhaltens bzw. Handelns (vgl. u. a. Hörning 2004: 33) auf ein solches Bedürfnis von Hinterbliebenen nach der Pflege postmortaler (Liebes-)Beziehungen (unterschiedlicher Art) hinweisen. Dabei ist von Interesse herausfinden, • ob und wie sich Hinterbliebene kommunikativ an ihre Verstorbenen wenden und diese explizit als Referenz der kommunikativen Bezugnahme zu er‐ kennen geben, • ob und wie Hinterbliebene „indizieren, aus welcher Rollenperspektive heraus eine Äußerung erfolgt“ (Lautenschläger et al. i.Dr.), d. h. hier: an welchem „spe‐ zifischen sozialen Ort“ (Roth 2018: 303) sie sich selbst, aber auch ihr verstorbenes Gegenüber (weiterhin) in spezifischen Beziehungsstrukturen verorten (vgl. zur Praktik des Verortens auch Lautenschläger i.d.B.), • ob und wie Hinterbliebene eine für die Kommunikation in Beziehungen typische Intimität bzw. soziale Vertrautheit nachtodlich herstellen (vgl. Wyss 2000) - selbst wenn die Beziehungspflege an einem Ort ausgeübt wird, der es vor dem Hintergrund seines öffentlichen Charakters fordert, 104 Nina-Maria Klug <?page no="105"?> 8 Vgl. zum öffentlichen Versichern von Liebe auch Škerlavaj (i.d.B.), zur kommunikativen Veräußerung von Trauer in öffentlichen (massen-)medialen Kontexten s. u. a. Linke (2001), speziell mit Blick auf das Social Web: Tienken (2016), Frick (demn.), Siever (i.d.B.). 9 Bei FriedWald (https: / / www.friedwald.de) handelt es sich um einen geschützten Mar‐ kennamen, was durch ® gekennzeichnet wird. Im Verlauf des Beitrags wird vor dem Hintergrund des Anliegens, die Zahl von Sonderzeichen möglichst gering zu halten, auf die Kennzeichnung des wiederholt verwendeten Markennamens durch ® verzichtet. Hervorgehoben wird der Markenname stattdessen durch Kursivierung. 10 Neben FriedWald bieten in Deutschland auch andere Unternehmen (teilweise unter an‐ deren Bedingungen und Vorgaben) Baumbestattungen in speziell dafür vorgesehenen Wäldern bzw. Waldabschnitten an. Zu diesen zählen v. a. die Unternehmen RuheForst die Beziehung zum verstorbenen Gegenüber (potenziell) vor anderen  8 zu pflegen, die kein Teil der Beziehung sind, • ob und wie Hinterbliebene ihrem verstorbenen Beziehungsgegenüber schließlich ihre Zuneigung bzw. eine Liebe bekennen und versichern, die sich „gegen den Tod und gegen die Abwesenheit […] durchsetzen will und muss“ (Kachler 2021: 6). Dazu werden in diesem Beitrag öffentliche Praktiken der Beziehungspflege im Leben nach dem Tod fokussiert (vgl. Kapitel 1), welche sich in Texten nieder‐ schlagen, die mindestens ein zweckgerichtetes sprachliches Zeichen umfassen und am Ort der größtmöglichen physischen Nähe zu einer verstorbenen Person nach ihrem Tod platziert wurden: an ihrem öffentlich zugänglichen Grab. Dieses wird hier gleichsam als ein, wenn nicht der Ort begriffen, an dem ein Leugnen des Todes denkbar schwer möglich ist, weil er die Hinterbliebenen in besonderer Weise mit der Realität des physischen Todes sowie seiner Endgültigkeit kon‐ frontiert. Genauer wendet sich der Beitrag Praktiken der postmortalen Beziehungs‐ pflege an Gräbern zu, die sich am Fuße von Bäumen in einem Bestattungswald befinden. Im Fokus stehen damit Praktiken, die sich im Kontext einer noch sehr jungen religions- und wohnortunabhängigen Bestattungsalternative her‐ ausgebildet haben. Denn die Baumbzw. Waldbestattung wurde in Deutschland erst in den frühen 2000er Jahren, also etwa zeitgleich mit der zunehmenden Normalisierung des Continuing Bonds-Bedürfnisses legalisiert. Durch die Um‐ widmung bestehender Wälder bzw. Waldareale als offizielle Friedhofsgelände ermöglicht, werden die Bestattungswälder seitdem in Zusammenarbeit von der öffentlichen Trägerschaft des jeweiligen Waldes, dem für ihn zuständigen Forstamt und Unternehmen für Naturbestattung geführt, gepflegt und gesichert. Zu diesen Unternehmen gehört auch die FriedWald®-GmbH, 9 die mittlerweile (Stand: 30.09.2023) 85 FriedWald-Standorte in ganz Deutschland betreibt. 10 Als Orte der sogenannten Naturbestattung unterstehen sie dem konzeptionellen Vom Lieben im Leben nach dem Tod 105 <?page no="106"?> (vgl. https: / / www.ruheforst-deutschland.de) oder RestInTrees (https: / / www.restintrees. de). Vgl. zu aktuellen Formen der Baumbestattung auch Kaiser (2021) oder Klug (2023). 11 Dies ist über ein auf Antrag einsehbares Register möglich, das die Gräber aller im FriedWald bestatteten Personen über die Baumnummern identifizier- und somit auffindbar macht. Anliegen, den Wald - trotz Umwidmung - in seiner Natürlichkeit zu bewahren, den Lebensraum der im Wald lebenden Tiere zu erhalten und das Nutzungsrecht für die Allgemeinheit (z. B. für Freizeitaktivitäten) zu sichern. Daraus resultieren an allen FriedWald-Standorten strikte Gebote und Verbote, die insbesondere auch die Möglichkeiten der hier fokussierten textbasierten Praktiken einer Beziehungspflege am Grab betreffen: Für die Grabpflege sorgt im Wald ganz allein die Natur: Gestecke, Kerzen und Grabsteine passen nicht in die natürliche Umgebung. Auch das Dekorieren der Grabstellen mit Blättern, Ästen, Zapfen und Ähnlichem aus dem Wald stört das natürliche Bild. Grabschmuck jeder Art ist im FriedWald deswegen nicht erlaubt. An ihre Stelle treten Moose, Farne, Wildblumen, buntes Laub und Schnee, die die Baumgräber je nach Jahreszeit schmücken und zu individuellen Orten des Erinnerns und Gedenkens machen. (https: / / www.friedwald.de/ konzept, Stand: 01.05.2023) Die persönliche bzw. individuelle Ausgestaltung der Grabstätte mitsamt der von kommunalen und kirchlichen Friedhöfen bekannten Grabzeichen (z. B. Grabeinfassungen, Grabsteine, Grabschmuck etc.) ist im FriedWald demnach verboten. Da Gräber nach deutschem Bestattungsrecht jedoch personalisiert identifizierbar und öffentlich zugänglich sein müssen, ist jeder Grabbaum mit einer Nummer versehen, die als rechtlicher Index dazu dient, diese Vorgaben zu gewähren 11 und die Bestattungsbäume zugleich von den übrigen Bäumen im öffentlichen Wald zu differenzieren. Über diese obligatorische Grabbaumnum‐ merierung hinaus ist im FriedWald eine einzige Form der fakultativen Grabstät‐ tenpersonalisierung erlaubt, die in Anspruch genommen werden kann, aber nicht muss: die Gestaltung einer Tafel. Sie wird durch das Unternehmen her‐ gestellt, vom zuständigen Forstpersonal am Baum angebracht und besteht ein‐ heitlich aus witterungsfestem, eloxiertem schwarzem Aluminium im genormten Maß von 12x10 cm (Hoch- oder Querformat, vgl. Abb. 2 und Abb. 3 links). Die von der starken räumlichen Begrenzung der Tafel und den spezifischen Gestaltungsvorgaben bereits stark reglementierten Möglichkeiten individueller Textgestaltung werden je nach Art des erworbenen Grabes weiter beschränkt. Im Falle von Baumgräbern, die einzeln erworben werden und sich unter einem zugewiesenen oder frei gewählten Gemeinschaftsbaum (mit durchschnittlich 6-10 Grabplätzen) befinden, gilt: Auf der Tafel können für die Dauer der 106 Nina-Maria Klug <?page no="107"?> Ruhezeit von 15 bis 30 Jahren der Personenname (Vor- und Nachnamen, ggf. ergänzt von Titeln) sowie das Geburts- und Sterbedatum (nach dem Muster *TT.MM.JJJJ †TT.MM.JJJJ oder *JJJJ †JJJJ) der Personen eingraviert werden, die unter dem Baum den Ort ihrer letzten Ruhestätte finden. Der Erwerb eines vollständigen Grabbaums (im Folgenden bezeichnet als Privatbaum) mitsamt aller darunter verfügbaren Grabplätze für die Nutzungsdauer von 99 Jahren ab Standorteröffnung ermöglicht den Hinterbliebenen hingegen mehr Freiheit mit Blick auf die Tafelgestaltung. Im Rahmen der formalen Vorgabe von maximal 500 Zeichen in 10 Zeilen (inklusive aller Leer-, Sonder- und Satzzeichen), die grundsätzlich in der Schrift Arial Narrow 16 Pt. in der Farbe Weiß graviert werden, können sie den Tafel-Text inhaltlich frei gestalten. Dies schließt auch die Angabe von Namen oder Daten ein, die - anders als bei den Tafel-Texten an Gemeinschaftsbäumen - keinem vorgegebenen Muster zu folgen hat. Zudem können Hinterbliebene sich entscheiden, ob sie eine rein schriftsprachliche Textgravur in Auftrag geben (vgl. Abb. 1: „Modell Text“, vgl. Abb. 2 links) oder die (kostenpflichtige) Möglichkeit zur multimodalen Textgestaltung nutzen. Die multimodalen Möglichkeiten bestehen entweder in der Integration eines von acht Standard-Bildmotiven (Efeu, Ginkgo, Baum, Kreuz, Rose, Taube, Engel oder Schmetterling, vgl. Abb. 1: „Modell Motiv“, s. auch Abb. 2 rechts) oder in der Einbindung eines eigenen Bildmotivs (vgl. Abb. 1: „Sonderanfertigung“, vgl. Abb. 3 links). Abb. 1: Wahlmöglichkeiten bei der Tafelbeschriftung im Falle eines erworbenen Grab‐ baums (Privatbaum). Detailausschnitt aus der Printversion des Bestellformulars (Fried‐ Wald 2022). Foto: NMK Vom Lieben im Leben nach dem Tod 107 <?page no="108"?> 12 Obzwar der FriedWald und die sich in ihm befindlichen Gräber mitsamt den an ihnen vorfindlichen kommunikativen Praktiken öffentlich zugänglich sind, erfordert „[d]ie Analyse sprachlicher Daten im Kontext von Tod und Trauer […] generell einige Vorsicht, da intime Gefühle von Privatpersonen in der Öffentlichkeit präsentiert werden“ (Schütte 2021: 383). Aus diesem Grund sollen in diesem Beitrag Strategien der (Teil-)Anonymisierung Anwendung finden. Es werden weder genauere Angaben zum FriedWald-Standort gemacht, an dem die Erhebung vorgenommen wurde, noch werden Hinweise auf spezifische Baumnummern gegeben, die die Auffindbarkeit der Gräber im Wald sowie die namentliche Identifikation der Bestatteten erleichtern würden. Bei der Bild-Zitation von Tafel-Texten werden - mit einer autorisierten Ausnahme - zudem die Vor- und Nachnamen von Verstorbenen auf ihren Anfangsbuchstaben verkürzt, womit erkennbar bleiben soll, in welcher Form Namen in den Originaltexten veröffentlicht wurden. In Tafel-Text-Transkripten im Fließtext wird vollständig auf die Angabe von Namenskürzeln der Verstorbenen verzichtet. Lediglich bei der Zitation von Texten, die (in diesem Beitrag) selbst im Originalzitat keine Rückführung auf spezifische Verstorbene zulassen (oder deren Publikation von den Textverfassenden selbst autorisiert wurde), werden die (Vor-)Namen in ihrer Originalform erhalten. 3 Analysekorpus Das Basiskorpus des vorliegenden Beitrags konstituiert sich aus 100 dieser sprachlich und/ oder multimodal betexteten Baumtafeln (vgl. Kapitel 2). Sie wurden im Zeitraum von Oktober 2022 bis Januar 2023 an einem bereits in den 2000er Jahren - und somit sehr früh - eröffneten deutschen FriedWald-Standort erhoben. Der Einbezug von Tafel-Texten in das Korpus erfolgte nach einem einfachen Prinzip: Es wurden die ersten 100 Tafeln berücksichtigt, die von der Verfasserin in einem spezifischen Waldareal ausfindig gemacht werden konnten - und zwar zunächst ganz unabhängig von der Grabart und den an sie gebundenen textuellen Beschränkungen. 12 108 Nina-Maria Klug <?page no="109"?> 13 Auch in diesen Texten lassen sich jedoch nicht-sprachliche Zeichen ausmachen, zu denen vor allem die bildbasierten Stern- und Kreuzzeichen (*,†) gehören, die Geburts- und Sterbedaten multimodal hervorheben. Abb. 2: Tafel-Texte an Privatbäumen (links: „Modell Text“, rechts: „Modell Motiv“). Fotos: NMK Im Resultat umfasst das Basiskorpus 24 Tafeln, die Gemeinschaftsbaum-Gräber kennzeichnen und 76 Tafeln, die Gräber am Fuße von Privatbäumen indi‐ zieren. Von letztgenannten lassen sich 37 dem sprachbasierten „Modell Text“ zuordnen (48,68%, vgl. Abb.1 und Abb. 2 links). 13 39 können als multimodale Sprache-Bild-Texte bestimmt werden (51,32%), wobei 24 neben Schriftsprache eines der Standardbilder integrieren („Modell Motiv“: 31,58%, s. Abb. 1 und Abb. 2 rechts). 15 Texte bestehen in einem schriftlichen Text, der durch ein eigenes Bildmotiv ergänzt wurde („Sonderanfertigung“: 19,74%, vgl. Abb. 1 und Abb. 3 links). Insgesamt verweisen die dem Basiskorpus subsumierten Tafel-Texte mit der Angabe von Personennamen und Sterbedaten auf 240 unter den Bäumen bestattete Personen. Von ihnen sind 205 (85,42%) in den Jahren zwischen 2014 und 2022 verstorben (vgl. exemplarisch: Abb. 2 links: 2015, Abb. 2 rechts: 2021, Abb. 3 links: 2022). Vom Lieben im Leben nach dem Tod 109 <?page no="110"?> Abb. 3: Texte am Privatbaum (links: „Sonderanfertigung“, rechts: verbotener Text auf Holz). Fotos: NMK Obschon es vor dem Hintergrund der in Kapitel 2 dargelegten Beschränkungen bei der Betextung von Gemeinschaftsbäumen naheliegt anzunehmen, dass textbasierte Praktiken postmortaler Beziehungspflege an diesen Gräbern kaum realisierbar sind, wurde schon bei der Erstsichtung der Grabbäume im Wald deutlich: An 17 der 24 Gemeinschaftsbäume (70,83%) und an 32 der 76 Pri‐ vatbäume (42,11%) lassen sich über die in unterschiedlichem Maße erlaubte Textgestaltung auf Baumtafeln hinaus 112 weitere Texte von Hinterbliebenen ausmachen (vgl. Abb. 3 rechts, Abb. 4, Abb. 5). 110 Nina-Maria Klug <?page no="111"?> 14 Grabschmuck, der durch das Forstpersonal von den Bäumen entfernt wird, wird zunächst in einer öffentlich zugänglichen Kiste gesammelt, bevor er nach einer kurzen Zeit der Aufbewahrung entsorgt wird. Mit einer Ausnahme von sechs Texten konnten alle ,verschwundenen‘ Texte des erweiterten Korpus bei regelmäßiger Durchsicht dieser Kiste in ihr ausfindig gemacht und somit eindeutig als vom Forstpersonal entfernt kategorisiert werden. Abb. 4: Verbotene Texte am Privatbaum. Fotos: NMK Diese Texte, von denen 96 (85,71%) einen multimodalen Charakter haben, bilden das erweiterte Korpus dieser Untersuchung (vgl. Abb. 3 rechts bis Abb. 6). Sie lassen sich einerseits als verbotene Texte fassen, weil sie gegen die Anweisung zur Unterlassung jeglicher - über die erlaubten (Tafel-)Texte hinausreichender - ,kultürlicher‘, d. h. menschengemachter Gestaltung des ,natürlichen‘ Bestat‐ tungsorts verstoßen. Andererseits können sie als flüchtige Texte bezeichnet werden: Am Ende des 3-monatigen Erhebungszeitraums hatte das den Wald pflegende Forstpersonal schon 91 der 112 verbotenen Texte (81,25%), die in das Korpus aufgenommen wurden, wieder aus dem Wald entfernt. 14 Weil die Texte aufgrund ihres verbotenen Charakters so zeitnah beseitigt werden, lassen sie sich zugleich als aktuelle Texte erkennen, die erst jüngstvergangen verfasst und ausgelegt wurden - und zwar selbst dann, wenn sie anders als der explizit auf den November 2022 datierte Text in Abb. 5 (rechts) nicht mit einem aktuellen Datum versehen wurden. Im Vergleich zu den z. T. mehrere Jahre alten Tafeltexten zeugen die verbotenen Texte am Grab somit in besonderer Weise von gegenwärtigen Praktiken textbasierter Beziehungspflege. Vom Lieben im Leben nach dem Tod 111 <?page no="112"?> 15 Dieses Wissen lässt sich nicht nur bei den Hinterbliebenen voraussetzen, die als Bestattungsfürsorgende bei der FriedWald-Vertragsunterzeichnung den Verzicht auf jegliche Form von Grabschmuck bestätigt haben, sondern prinzipiell bei allen lesefä‐ higen Waldbesuchenden: Im FriedWald stehen an verschiedenen Wegpunkten Tafeln, die explizit auf das Verbot hinweisen. Abb. 5: Verbotene Texte am Grabbaum. Fotos: NMK 4 Analyseergebnisse Die in Kapitel 3 umrissene, quantitativ hohe Präsenz verbotener Texte im Be‐ stattungswald deutet bereits auf das selbst den Regelbruch tolerierende, starke überindividuelle Bedürfnis von Hinterbliebenen nach einer weiterführenden textbasierten Kommunikation am Grab hin. Darüber hinaus nähren die Texte die Vermutung, dass ihren Textinhalten von Seiten der Agierenden langfristige Gültigkeit zugewiesen wird. Diese Vermutung soll erstens damit begründet werden, dass schriftlicher, textbasierter Kommunikation - im Vergleich zur mündlichen (die am Grab grundsätzlich nicht verboten ist) - prinzipiell ein höherer Grad an Persistenz zugewiesen wird. Zweitens deutet die Art der verwendeten Textmedien darauf hin, dass nicht nur die erlaubten, fest am Baum angebrachten Tafel-Texte (vgl. Abb. 2 und Abb. 3 links), sondern auch die verbotenen Texte als besonders dauerhafte bzw. bleibende Texte angelegt sind. Trotz des voraussetzbaren Wissens um deren (wahrscheinliche) zeitnahe Entfernung durch das Forstpersonal 15 wurden sie zumeist in witterungsbzw. wasserfester Art und Weise verfasst, z. B. durch (Löt-)Gravur in Stein, Holz oder Metall (statt auf Papier o. ä.). 112 Nina-Maria Klug <?page no="113"?> 16 Insbesondere die verbotenen Texte, die von Praktiken des ,Versteckens‘ vor den Augen anderer zeugen, legen die Annahme nahe, dass sich die Texte trotz ihrer Positionie‐ rungen an einem öffentlich zugänglichen Ort sogar ausschließlich an die verstorbene Person richten. 17 Im Falle von 9 der 76 erhobenen Tafel-Texte an Privatbäumen lässt sich nicht erschließen, ob sich die Du-Ansprache tatsächlich ,nur‘ an eine oder auf mehrere Personen richtet, die bereits unter dem Privatbaum bestattet wurden. Es zeigt sich drittens, dass von Seiten der Hinterbliebenen überindividuell Versuche unternommen werden, die Texte trotz oder wegen ihrer verbo‐ tenen ,Kultürlichkeit‘ möglichst so zu gestalten und/ oder zu platzieren, dass sie im Wald als ,natürlich‘ akzeptiert bzw. aufgrund ihrer ,Unsichtbarkeit‘ nicht wahrgenommen werden und somit lang- oder längerfristig für diejenigen am Grab erhalten bleiben, an die sie gerichtet sind. Dies lässt sich u. a. daran erkennen, dass in mehr als 60 % der Fälle Trägermedien aus Naturmaterialien gewählt wurden (v. a. Stein und Holz, vgl. exemplarisch Abb. 3 rechts, Abb. 4 und Abb. 5). Annähernd ein Viertel der verbotenen Texte wurde zudem hinter Baumtafeln, Baumnummern, Steinen, Wurzeln etc. ,versteckt‘ oder mit der beschrifteten Seite nach unten/ hinten positioniert (vgl. Abb. 3 rechts, Abb. 4 links). Da die verbotenen Texte trotz allem in über 80 % der Fälle bereits innerhalb einer Dreimonatsfrist entfernt werden (vgl. Kapitel 3), zeigen diese flüchtigen und damit i. d. R. aktuellen Texte an den z. T. schon über 15 Jahre alten Gräbern an, dass die orts- und textgebundene Kommunikation am Grab für Hinterbliebene auch noch Jahre nach Todesfall und Bestattung ein Bedürfnis darstellt. 4.1 Postmortale Adressierung und Intimitätskonstitution Die offiziellen Tafel-Texte am Baum dienen mit der Angabe von Namen, Daten und ggf. weiterführenden Informationen als ortsgebundene Texte dazu, öffentlich auf Grabstellen hinzuweisen und personalisiert über die verstorbenen und unter den Bäumen bestatteten Personen zu informieren, sie so auch nach ihrem Tod für andere als Menschen erfahrbar werden zu lassen, denen spezifi‐ sche Eigenschaften zukamen und zukommen. Mit Blick auf die oben bereits angesprochene Adressierung der Texte fällt jedoch auf: Ihre absolute Mehrheit richtet sich auch, um nicht zu sagen: vor allem 16 an die jeweils verstorbene Person. 17 Sowohl die von inhaltlicher Gestaltungsfreiheit gekennzeichneten Tafel-Texte an Privatbäumen wie auch die verbotenen Texte an Privat- und Gemeinschaftsbäumen werden als persönliche Textnachrichten, als „offene Briefe“ (Linke 2001: 207) am Grab gerahmt, die sich trotz ihres öffentlichen Vom Lieben im Leben nach dem Tod 113 <?page no="114"?> 18 Vgl. zu ähnlichen Ergebnissen mit Blick auf die kommunikative Relevanz sozialdeikti‐ scher Ansprache von Verstorbenen, die jedoch mit Blick auf kommunikative Zusam‐ menhänge in (massen-)medialen Kontexten (Tageszeitung/ Webforen) erhoben wurden: Linke (2001), Frick (demn.), Siever (i.d.B.). 19 Der Tafel-Text in Abb. 3 (links) stellt mit der ausschließlichen Angabe von Vornamen bzw. Kurznamen („Basti“ und „Nina“) ein Beispiel für die wenigen Ausnahmen von dieser Regel dar (6 von 7). Charakters an ein nahestehendes Beziehungsgegenüber richten. Dies lässt sich u. a. aus der textuellen Integration von Praktiken erschließen, die standardi‐ siert zur „Codierung von Intimität“ in der schriftlichen, beziehungsinternen Kommunikation dienen (Wyss 2000: 183ff., vgl. auch Schwitalla 1996: 287). So werden in 41 von 76 erlaubten und in 64 von 112 verbotenen Texten Anrede‐ pronomen in der 2. Person Singular genutzt (vgl. Abb. 2 bis Abb. 5, s. zur besseren Lesbarkeit in Auswahl die Transkriptionen in den Belegen 1-4). Der Gebrauch des spezifischen Sozialdeiktikons weist die Nähebeziehung zwischen der adressierenden und der mit ,Du‘ adressierten Person aus. Es findet seine - für andere nachvollziehbare - Referenz in dem auf der Baumtafel angeführten Namen und darüber in der Person, deren sterbliche Überreste sich unter dem Baum im Grab befinden. 18 (1) BASTI * TOLLSTER MANN AUF DER GANZEN WELT UND IM GANZEN UNIVERSUM DRINNE. | ICH LIEBE DICH - FÜR IMMER! | *NINA* (Verbotener Text an einem Privatbaum, zur Originaldarstellung des Textes s. Abb. 4 links) (2) Immer wenn wir von Dir | erzählen, fallen Sonnenstrahlen | in unsere Seelen. | Unsere Herzen halten dich | gefangen, so als wärst du nie | gegangen | In ewiger Liebe | Deine Frau, Kinder, Enkelkinder | und Urenkel. | Für immer in unseren Herzen. (Verbotener Text an einem Gemeinschaftsbaum, zur Originaldarstellung des Textes s. Abb. 4 mittig) (3) Peter | Du fehlst (Verbotener Text an einem Gemeinschaftsbaum, s. Abb. 4 rechts) (4) Opa, wir lieben Dich. | Dein Marvin. (Verbotener Text an einem Gemeinschafts‐ baum, s. Abb. 5 mittig) Während die an die Öffentlichkeit gerichteten personen- und grabindizierenden Namensangaben auf den offiziellen Tafel-Texten zumeist nach dem distanz‐ sprachlichen Muster Vorname(n) und Nachname(n) realisiert werden (65 von 76), 19 weisen die verbotenen Texte im räumlichen Kontext des Baumgrabs auf ein anderes Muster hin: Von 112 verbotenen Texten nennen 26 explizit den Eigennamen der mit ,Du‘ adressierten Person. Ausnahmslos handelt es sich dabei um die intimitätskonstituierende Nennung von Vornamen (z. B. „Peter“, „Albert“) oder sogar Kurznamen („Basti“) der verstorbenen Person (vgl. Abb. 3 rechts/ Beleg 1, Abb. 4 rechts/ Beleg 3 und Abb. 5 rechts). Anstelle von der oder 114 Nina-Maria Klug <?page no="115"?> 20 Diese Deutung erscheint vor dem Hintergrund popkulturellen Wissens um die stark symbolifizierte Verwendungspraxis des Zeichens naheliegend. Sie ist auf den US-ame‐ rikanischen Skateboarder Bam Margera zurückzuführen, der ebendieses Bildzeichen der Three Hearts in den MTV-Serien Camp Kill Yourself (CKY), Viva la Bam und Jackass standardisiert zur Kennzeichnung eines unlösbaren Familienzusammenhalts nutzte. ergänzend zu der direkten Anrede mit dem Vor-/ Kurznamen werden in 39 von 112 verbotenen Texten zudem verwandtschaftsbzw. beziehungsbezeichnende Appellativa wie „Opa“ (Abb. 5 mittig), „Uropa“ (Abb. 5 rechts) oder „Onkel“ (Abb. 6) verwendet, mittels derer die Verstorbenen am Grab in einem ganz konkreten Beziehungsverhältnis zur hinterbliebenen textverfassenden Person verortet werden (vgl. zur Praktik des Verortens Lautenschläger i.d.B.). Abb. 6: Verbotener Text am Privatbaum. Foto: NMK Die Verortung in konkreten Beziehungsstrukturen bleibt nicht auf den sprach‐ lichen Ausdruck beschränkt. Von den 15 Tafel-Texten der Art „Sonderanferti‐ gung“ integrieren sechs ein Bildmotiv, aus dem Hinweise auf ein spezifisches Verwandtschaftsbzw. Beziehungsverhältnis von verstorbener und textverfas‐ sender hinterbliebener Person erschlossen werden können. In diesem Sinne nutzt etwa der Tafel-Text in Abb. 3 (links) die Darstellung dreier ineinanderge‐ schlungener Herzen zur Kennzeichnung einer familiären Beziehung, in der die auf der Grabtafel namentlich benannten Personen verortet werden. 20 Auch in elf von 112 verbotenen Texten wird die verstorbene Person wie‐ derholt auf multimodale Weise in Beziehungsstrukturen verortet. Zu diesem Zweck werden in den verbotenen Texten zumeist fotografische Bilder genutzt. Vom Lieben im Leben nach dem Tod 115 <?page no="116"?> 21 S. dazu neben dem grabindizierenden Tafel-Text in Abb. 3 links auch die bildlich betextete Vorderseite des verbotenen Holzscheibentexts in Abb. 3 rechts und seine sprachlich betextete Rückseite in Abb. 4 links/ in Transkription (Beleg 1). 22 Vgl. jedoch zu Konzeptionen von Nachtodkontakten bzw. einer spontanen Nachtod‐ kommunikation (NTK), in deren Rahmen verstorbene Menschen mit ihren noch Im fotografischen Detail zeigen sie Personen in Nähe-Beziehung zueinander, die - sichtbar gemacht durch die bildliche Darstellung räumlicher Nähe und visualisierter Taktil- oder Blickkontakte - sprachlich konkretisiert wird. So wird z. B. die fotografische Darstellung in Abb. 3 (rechts) sprachlich als eine Paarbe‐ ziehung zwischen dem sozialdeiktisch adressierten, unter dem Baum bestatteten „Basti“ und einer „Nina“ spezifiziert, die sich zugleich als Textverfasserin auszeichnet. 21 Die fotobasierten Texte werden auf diese Weise zu verstetigten Dokumenten einer prämortal ,gelebten‘ zwischenmenschlichen Beziehung, die mittels des fotografischen „Präsenzvehikels“ (Hitzler 2017) sichtbar in die postmortale Gegenwart am Baumgrab überführt wird. Das zuletzt diskutierte Beispiel verdeutlicht zugleich: Intimitätskonstituie‐ rende Formen der Referenznahme (durch Sozialdeiktika, Vor-/ Kurznamen oder beziehungsbezeichnende Appellativa) werden nicht nur zur Adressierung und Sozialverortung der verstorbenen Person gebraucht, sondern auch zur Selbstre‐ ferenz und -verortung der Hinterbliebenen selbst. Im Rahmen dieser Selbstver‐ ortung sticht vor allem die Ergänzung der Namen und/ oder Appellativa durch Possessiva in der Abschlusssequenz bzw. Grußformel der Texte hervor, die auf diese Weise umso mehr den Charakter von Briefen erhalten. Unter Anwendung der Possessiva bestimmen sich die textverfassenden Hinterbliebenen in für einen Briefschluss etablierter Art und Weise explizit als Teil einer intimen bzw. vertrauten Beziehung mit der adressierten, verstorbenen Person: „Deine Sabine und Dein Max“ (Abb. 2 links), „Deine Frau, Kinder, Enkelkinder und Urenkel“ (Abb. 4 mittig/ Beleg 2), „Dein Marvin“ (Abb. 5 mittig, Beleg 4) oder „Deine Sabine“ (Beleg 6, s.-u.). Die in diesem Kapitel exemplarisch beschriebenen Praktiken haben gemeinsam, dass sie konventionell auch in anderen Kontexten der beziehungsbezogenen Kommunikation zur Konstitution bzw. Präsentation eines von Intimität ge‐ prägten, andauernden Kontakts bemüht werden. Nichtsdestotrotz sind sie im vorliegenden Kontext der nachtodlichen Beziehungspflege am Grab von einer relevanten Besonderheit gekennzeichnet: Es handelt sich bei dieser als intim gerahmten Beziehungskommunikation grundsätzlich um eine einseitige Kom‐ munikation, der jede Möglichkeit zur dialogischen Entwicklung durch den Tod des angesprochenen Gegenübers verwehrt bleibt. 22 Die Hinterbliebenen haben 116 Nina-Maria Klug <?page no="117"?> lebenden Hinterbliebenen kommunikativ Kontakt aufnehmen, ihnen ,Zeichen aus dem Jenseits‘ senden, exemplarisch Rhein (i.d.B.). mit dem Grab der adressierten Person zwar „einen materiellen Fixpunkt“ (Dürr 2019: 153), auf den sie sich mit ihren Texten kommunikativ beziehen können; sie haben jedoch selbst im Falle des uneingeschränkten Fürwahrhaltens eines wie auch immer gearteten (Weiter-)Lebens von Verstorbenen nach ihrem leiblichen Tod (vgl. Kapitel 1) keinerlei Sicherheit, ob sie das von ihnen angesprochene Gegenüber mit ihren Texten auch erreichen können. Die hier umrissenen Prak‐ tiken postmortaler Beziehungspflege sind aus diesem Grund als grundsätzlich parasozial zu fassen (vgl. dazu auch Benkel 2021, Frick demn.). 4.2 Postmortales Lokalisieren des Beziehungsgegenübers Die vorausgehenden Kapitel haben gezeigt: Dem Grabplatz als dem Ort der größtmöglichen physischen Nähe zur bestatteten Person wird von Hinterblie‐ benen offensichtlich der Status eines wichtigen kommunikativen Ankerpunkts zugewiesen, an dem ihnen die textbasierte Beziehungspflege zum verstorbenen Beziehungsgegenüber selbst dann wichtig erscheint, wenn sie verboten und kaum zu erwarten ist, dass sie das angesprochene Gegenüber überhaupt erreicht. Auf personalisierten Baumtafeln indizieren Hinterbliebene mit der Angabe des Namens und des Sterbedatums einen spezifischen Baum - auch für andere erkennbar - als Grabbaum, womit deutlich wird, dass das angesprochene Gegenüber tot und etwa anderthalb Meter entfernt von der Tafel zwischen den Wurzeln des Baums im Waldboden bestattet ist. Trotzdem verorten 43 von 76 Tafel-Texten an Privatbäumen und 35 von 112 verbotenen Texten an Privat- und Gemeinschaftsbäumen das tote und bestattete ,Du‘ zugleich nicht in seinem Grab. (5) Ich denk an Dich | Wo auch immer Du gerade bist. (Tafel-Text an einem Privatbaum, zur Originaldarstellung des Textes s. Abb. 3 links) Vielmehr wird das adressierte Gegenüber in 29 dieser insgesamt 78 Texte erlaubter und verbotener Art an einem ,unbekannten‘, ,unbestimmbaren‘ Ort lokalisiert, zu dem es mit dem Eintritt seines leiblichen Todes fortbzw. voraus‐ gegangen ist (vgl. hier die Belege 5-7). An diesem Ort, so wie er textübergrei‐ fend bestimmt wird, erscheint die verstorbene Person für die Hinterbliebenen nicht ,greifbar‘, ohne an diesem Ort dem Zugriff der Hinterbliebenen für alle Zeit ,verloren‘ zu sein. Denn mehr als die Hälfte der 29 Texte, die die verstorbene Person an einem solch unbestimmten Ort lokalisieren (17 von 29) weist explizit Vom Lieben im Leben nach dem Tod 117 <?page no="118"?> 23 Dieser Fokus auf die Wiedervereinigung im Tod macht deutlich, dass mit dem ,unbe‐ stimmten‘ Ort, auf den sich z. B. die Gedanken der Hinterbliebenen richten, kein diesseitiger Ort gemeint ist, an dem z. B. das partikularisierte leibliche Weiterleben der geliebten Person in einer unbekannten Person nach geglückter Organspende stattfindet (vgl. erneut Anm. 2). darauf hin (vgl. exemplarisch Beleg 6 und 7): Die nachtodliche Beziehungspflege läuft nicht dauerhaft ins Unerreichbare bzw. Leere. In der Zukunft, wenn auch die hinterbliebene Person gestorben ist, wird es ein ,Wiedersehen‘ der Beziehungsbeteiligten, ihre Wiedervereinigung an diesem noch unbestimmten, jedoch ganz offensichtlich jenseitigen Ort geben. 23 (6) Trennung ist wohl Tod zu nennen, | Denn wer weiß wohin wir gehn. | Tod ist nur ein kurzes Trennen | Auf ein baldiges Wiedersehen. | Für immer Deine Sabine (Tafel-Text an einem Privatbaum) (7) Du bist nicht endgültig fort | - nur vorausgegangen zu einem Ort, an dem wir uns bald wiedersehen (Tafel-Text an einem Privatbaum) Die absolute Mehrheit der Texte, die die verstorbene Person (auch) außerhalb ihres Grabes - und somit außerhalb des toten und eingeäscherten Körpers - verorten (49 von 78), unterscheiden sich von den zuvor reflektierten Texten in einem zentralen Punkt: Sie lokalisieren die verstorbene Person nicht außerhalb (der Reichweite) ihrer noch lebenden Hinterbliebenen, sondern in gegenteiliger Weise in ihnen (vgl. Belege 8-11). (8) Niemand ist fort, den man liebt. | Denn Liebe ist ewige Gegenwart. | Du bist für immer in unseren Herzen. (Tafel-Text an einem Privatbaum) (9) Manchmal bist du in unseren Träumen. | Oft bist du in unseren Gedanken. | Für immer bist du in unseren Herzen. (Tafel-Text an einem Privatbaum) (10) Weißt du, warum wir dich nie vergessen werden? | Wir haben deine Stimme im Ohr, | dein Bild im Kopf | und dich für immer in unseren Herzen. (Tafel-Text an einem Privatbaum) (11) Du bist immer im ♡ (Verbotener Text an einem Gemeinschaftsbaum, s. Abb. 5 links) Trotz der verschiedenartigen Antworten auf die Frage, wo das verstorbene Gegenüber von den es adressierenden Hinterbliebenen lokalisiert wird, zeigen die Texte gemeinsam, dass das verstorbene Gegenüber für seine Hinterbliebenen nach seinem Tod offensichtlich mehr ist, als ,nur‘ der tote Körper im Grab (vgl. ähnlich Benkel 2019: 8). Die Texte weisen auf Konzeptionen eines (Weiter-)Seins der verstorbenen Person trotz ihres faktischen leiblichen Todes hin, die im Rahmen der postmortalen Kommunikation am Grab eine wichtige Rolle spielen. 118 Nina-Maria Klug <?page no="119"?> 24 Nur in 3 von 112 verbotenen Texten und in 4 von 76 erlaubten Tafel-Texten werden derartige Ruhe-Wünsche am Baumgrab realisiert. In ihnen kommt nicht nur das Paradoxon des Todes zum Ausdruck, das in Kapitel 1 bereits angesprochen wurde, sondern auch seine Relevanz. Durch Entwürfe einer postmortalen Fortexistenz der Bezugsperson markiert „der Weltabschied kein unerbittliches Ende“ (Benkel 2021: 53) eines jeden Zugriffs auf die verstorbene Person und des von Liebenden üblicherweise erwünschten bzw. ersehnten Zusammenseins mit dieser (vgl. Kapitel 1.1): Denn die verstorbene Bezugsperson ist weiterhin. 4.3 Postmortales Bekennen und Versichern von Liebe Die zuletzt diskutierten, unter den Nummern 8-11 zitierten Belege deuten zugleich die zentrale Funktion der erlaubten und verbotenen Texte am Grab an. Hierbei handelt es sich nicht etwa um Ruhe-Wünsche, wie sie sich standardisiert auf Grabsteinen traditioneller Friedhöfe ausmachen lassen („Ruhe in Frieden“) und z. B. in Form von „R.I.P.“ auch als Charakteristikum der Trauerpraxis in Online-Foren beschrieben wurden (vgl. Frick 2022) - sie spielen in den Texten am Baumgrab nur vereinzelt eine Rolle. 24 Dominant erweisen sich in den unter‐ suchten Texten vielmehr Praktiken des Bekennens von starker Zuneigung/ Liebe und des zukunftsorientierten Versicherns derselben. Sie verleihen den Texten den spezifischen Charakter ,offener Liebesbriefe‘ und finden ihren Niederschlag in der absoluten Mehrheit der Texte, konkret: in 46 von 76 Tafel-Texten und in 97 von 112 verbotenen Texten am Grab. Kommt Liebe nach Schwarz-Friesel (2013: 290, vgl. Kapitel 1.1) u. a. in der starken Hochwertung eines Gegenübers kommunikativ zum Ausdruck, können dem indirekten Bekennen von Zuneigung bzw. Liebe bereits prädikative Formulierungen wie „TOLLSTER MANN AUF DER GANZEN WELT UND IM GANZEN UNIVERSUM DRINNE“ (vgl. Abb. 4 links/ Beleg 1) subsumiert werden. Auch die konventionell zum Ausdruck persönlicher Wertschätzung in Liebesbriefen gebrauchte Handschrift, die zur multimodalen Materialisierung von Sprache in 91 von 112 verbotenen Texten am Grab dient (vgl. Abb. 4-6), lässt sich einem solchen Veräußern von Hochachtung zurechnen. In symbolifizierter Art und Weise zeugt der hochfrequente Verweis auf das Herz von einem indirekten, dabei jedoch stark konventionalisierten Bekennen großer Zuneigung bzw. Liebe. Nicht nur lässt sich die sprachliche Verortung von Verstorbenen „im Herzen“ ihrer Hinterbliebenen hier einordnen, die ihren Niederschlag in 17 von 76 Tafel-Texten (vgl. dazu die Belege 8-11) und in 15 von Vom Lieben im Leben nach dem Tod 119 <?page no="120"?> 112 verbotenen Texten am Baumgrab findet (vgl. Abb. 4 mittig/ Beleg 2). Zentral erscheint bei der kommunikativen Veräußerung von Zuneigung/ Liebe vor allem der bildbasierte Rückgriff auf das Herz-Symbol. Während dieser jedoch in den Tafel-Texten nur im Rahmen von Sonderanfertigungen realisierbar ist (und in lediglich zwei dieser Texte realisiert wird, vgl. Abb. 3 links), stellt er mit Blick auf die verbotenen Texte am Baumgrab das zentrale Darstellungsmuster von Zuneigung bzw. Liebe dar. Von 112 verbotenen Texten im Korpus greifen 84 das Herz-Zeichen auf. Realisiert wird das Herz sowohl in multimodaler Ergänzung zu den Inhalten der sprachlichen Textteile (vgl. z. B. Abb. 4 rechts/ Beleg 3, Abb. 5 rechts) als auch sprachsubstituierend (vgl. etwa Abb. 5 links/ Beleg 11). Mitunter - in 35 von 84 Texten, die das Zuneigung/ Liebe symbolisierende Herz bildlich realisieren - wird das Textmedium selbst in Herzform gestaltet (vgl. Abb. 5 mittig und Abb. 5 rechts). In gefühlsbezeichnender Formulierung bekennen die textverfassenden Hin‐ terbliebenen in 28 von 76 erlaubten Tafeltexten und in 35 von 112 verbotenen Grabtexten explizit ihre Liebe zur verstorbenen Person. Hier bleibt, anders als bei den vorbenannten Ausdrucksformen, kein Deutungsspielraum mehr bei der Frage, ob ,nur‘ (große) Zuneigung oder explizit Liebe kommunikativ zum Ausdruck gebracht werden soll. So wird im Falle der Texte, die medial bereits in Herzform gestaltet sind, der Deutungsspielraum (Zuneigung oder Liebe) vor allem durch elliptisch verkürzte, formelhafte Formulierungen wie „in Liebe“ oder kurze, konkret adressierte Liebesbekenntnisse wie „Opa, wir lieben Dich“ enggeführt (vgl. Abb. 5 mittig/ Beleg 4). Im Kontext umfangreicherer Texte, die nicht ausschließlich aus der Formulierung eines Liebesbekenntnisses bestehen, finden sich die Bekenntnisse zumeist in der Abschlusssequenz (vgl. Abb. 2, hier in Transkription die Belege 12 und 13): (12) Liebe, es ist die Liebe [sic! ] die einen stärkt, | es ist die Liebe seiner Liebsten [sic! ] die einen immer umgibt, | es ist die Liebe, die einem in jeder Lebenssituation Kraft gibt. | Wir lieben Dich! Deine Sabine und Dein Max. (Tafel-Text an einem Privatbaum, zur Originaldarstellung des Textes s. Abb. 2 links) (13) Kein Fuß ist zu klein, als dass er nicht einen | Abdruck auf dieser Welt hinter‐ lassen würde. Du wirst unendlich geliebt (Tafel-Text an einem Privatbaum, zur Originaldarstellung des Textes s. Abb. 2 rechts) Über direkte und indirekte, sprachlich und bildlich bzw. multimodal realisierte Liebesbekenntnisse wie die zuvor umrissenen hinaus lässt sich zudem eine weitere einschlägige Praktik am Grab feststellen: das Versichern dieser Liebe. Sie ergänzt das Bekennen von Liebe in den Texten erlaubter oder verbotener Art. Die zukunftsorientierte Funktion des Versicherns besteht darin, dem Gegenüber 120 Nina-Maria Klug <?page no="121"?> die Gewissheit zu vermitteln, dass das Liebesbekenntnis nicht nur in der Gegenwart Gültigkeit besitzt, sondern für alle Zeit. Ein Beleg für ein solches, das Bekenntnis ergänzende Versichern von Liebe findet sich in Abb. 4 (mittig/ Beleg 4), wo „Frau, Kinder, Enkelkinder und Urenkel“ ihre Liebe explizit als „ewige Liebe“ auszeichnen und betonen, dass die verstorbene Person „[f]ür immer“ in deren Herzen bleibt. Ein anderer Beleg schlägt sich im Text in Abb. 4 nieder (links/ Beleg 1), in dem „NINA“ ihr Liebesbekenntnis „ICH LIEBE DICH“ mit dem Zusatz „- FÜR IMMER! “ versieht. Das in beiden Fällen in der Schlusssequenz des jeweiligen Textes positionierte Bekenntnis, das um die Liebesversicherung ergänzt wird, wird u. a. durch Großbuchstaben und Exklamationszeichen oder farbig hinterlegte Heraus- und Alleinstellung des betreffenden bekenntnisfor‐ mulierenden und -versichernden Textabschnitts besonders hervorgehoben. Als indirekte Form der Versicherung bleibender Bindung bzw. Beziehung über den Tod hinaus kann schließlich ein weiteres Muster beschrieben werden, das für die untersuchten Texte kennzeichnend erscheint und zurückführt zur Körperlichkeit und zum Grab: Die 100 in das Korpus einbezogenen Baumtafeln von Privat- und Gemeinschaftsbäumen indizieren, so wurde es bereits in Kapitel 3 dargestellt, 240 Gräber, in denen seit Eröffnung des FriedWald-Standorts in den 2000er Jahren Verstorbene bestattet wurden. Über diese Gräber hinaus weisen die Tafeln allerdings noch 123 weitere Gräber aus. Sie werden explizit Personen zugewiesen, die - erkennbar an der Angabe eines Geburts-, nicht aber Sterbedatums - noch lebendig sind. Dass die Namen der noch Lebenden bereits im Zuge der Bestattung der Bezugsperson mit eingraviert wurden, ist nicht auf eine Notwendigkeit zurückführen. Der prämortale Tafel-Verweis auf die eigene, bereits zu Lebzeiten erworbene Grabstätte unter dem Baum, an dem das bereits verstorbene Beziehungsgegenüber bestattet wurde, obliegt der freien Entscheidung derjenigen, die den Tafel-Text nach Graberwerb in Auftrag geben. Dementsprechend kann nicht nur der prämortale Graberwerb an und für sich, sondern auch die offizielle und öffentliche Verstetigung des eigenen Namens unter dem Namen des verstorbenen Beziehungsgegenübers auf der Grabtafel als indirektes Bekenntnis zur und Versicherung von bleibender Beziehung verstanden werden - und zwar einer Beziehung, die selbst über den eigenen Tod hinaus noch Gültigkeit besitzt. Dies gibt zugleich einen (weiteren) zukunftsorientierten Ausblick auf ein Zusammensein, der die in Kapitel 4.2 umrissenen Optionen ergänzt: Denn im Grab wird schließlich (auch) das körperliche Zusammensein wieder möglich (vgl. exemplarisch zu dieser Praktik: Abb. 3 links). Vom Lieben im Leben nach dem Tod 121 <?page no="122"?> 25 Das ist z. B. dann der Fall, wenn Bewohner: innen von Pflegeeinrichtungen oder Patient: innen auf der Intensivstation, denen kein (vollständiges) Bewusstsein zugespro‐ chen wird, selbst nicht mehr sozial adressiert werden, also dauerhaft nicht mehr zu ihnen, sondern (selbst in ihrer Gegenwart) nur noch über sie gesprochen wird, als wären sie als adressierbare Person bereits nicht mehr existent. 5 Am Ende - über das Ende hinaus In diesem Beitrag wurde an einem exemplarischen Korpus von Texten aus einem FriedWald schlaglichtartig nachgezeichnet, ob und inwiefern sich das von der neueren trauerpsychologischen bzw. thanatosoziologischen Forschung konstatierte Continuing Bonds-Bedürfnis von Hinterbliebenen kommunikativ im Kontext eines spezifischen Bestattungsorts niederschlägt. Die Textanalyse machte deutlich, dass das verstorbene Beziehungsgegenüber für seine Hin‐ terbliebenen (auch noch Jahre nach seinem Tod) „als soziale Adresse eine unveränderte Position beibehält“ (Benkel 2019: 8). Es wird von ihnen auch nach seinem Tod (weiterhin) adressiert, als (bleibender) Teil einer intimen sozialen Nähebzw. Liebesbeziehung (unterschiedlicher Art) konkretisiert, in der ihm textbasiert (vor anderen) Zuneigung bzw. Liebe bekannt und versichert wird. Dies gilt selbst dann, wenn es offiziell verboten ist. Dabei wird das adressierte Gegenüber im Rahmen der parasozialen Kommunikation am Grab nicht vollständig identisch gedacht mit seinem toten Körper bzw. seiner Asche, die in einem Grab im Waldboden unter einem Baum ihre letzte Ruhestätte gefunden hat. Es ließ sich feststellen, dass Konzeptionen einer postmortalen Fortexistenz des verstorbenen Beziehungsgegenübers auch dann musterhaft thematisiert werden, wenn in den Texten nichts auf einen Glauben an ein spirituelles bzw. geistiges Weiterleben nach dem leiblichen Tod hindeutet (vgl. Kapitel 4.2). Dies zeigt: Die Verstorbenen sind für ihre Hinterbliebenen „zwar im physisch-biologischen Sinne tot […], [sind] aber eben noch keinen sozialen Tod gestorben“ (Dürr 2019: 153). So wie Lebende sozial sterben, wenn sie von anderen behandelt werden, als wären sie bereits tot (exogener sozialer Tod) 25 (Seibel 2019: 163), werden Verstorbene von ihren Hinterbliebenen am Leben erhalten (exogenes Leben) - selbst an ihrem Grab. Ihnen nimmt der Tod zwar jedwede Möglichkeit einer lebendigen Gegenwart der in den ,offenen Liebes‐ briefen‘ am Grab adressierten Person, nicht aber ihre soziale Gegenwart als Beziehungsgegenüber, das weiterhin existiert und mit dem ein von Liebenden typischerweise ersehntes Zusammensein im Inneren (z. B. im liebevollen Erin‐ nern bzw. Gedenken) noch ebenso möglich erscheint wie eine körperliche (und ggf. geistige) Wiedervereinigung im Tod und über den Tod hinaus. 122 Nina-Maria Klug <?page no="123"?> Bibliografie Bauers, Nadine (2016).-Psychologische Aspekte der Liebe. Neuere Befunde. Hannover. Benkel, Thorsten (2019). Fragwürdig eindeutig. Eine Exkursion in die Schattenzone des Wissens. In: Benkel/ Meitzler (Hrsg.), 1-32. Benkel, Thorsten (2021). Die Möglichkeit des Wissens - am Beispiel des Todes. In: Benkel/ Meitzler (Hrsg.), 38-66. Benkel, Thorsten/ Meitzler, Matthias (Hrsg.) (2019). Zwischen Leben und Tod. Sozialwis‐ senschaftliche Grenzgänge. Wiesbaden. 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Wie die Fallsammlung der Parapsychologische Beratungsstelle in Freiburg (PPB) zeigt, berichten zahl‐ reiche Betroffene von verschiedenen außergewöhnlichen Erfahrungen; diese umfassen Zeichen aus dem Jenseits, Wahrträume und Nachtod-Kontakte. Kennzeichnend für die Berichte ist, dass die Interpretation der Ereignisse stark von den eigenen Gefühlen geprägt ist - die Ereignisse werden nicht rational zu erklären versucht. Im Beitrag wird anhand eines Brief- und E-Mail-Korpus den Fragen nachgegangen, wie Betroffene ihre Gefühle als Reaktionen auf die Erlebnisse zum Ausdruck bringen, welches Spektrum an Gefühlen im Zusammenhang mit a) der außergewöhnlichen Erfahrung und b) mit den geliebten Personen wie verbalisiert wird. Keywords: Liebe, Tod, Anomalie, epistemische Krise, Parapsychologie, Tabu, Erscheinung, Zeichen, Wahrtraum 1 Einleitung: Die Liebe und das Übernatürliche Dass Liebe keine Grenzen kennt, ist eine viel beschworene Formel in der Liebeskommunikation. Diese Grenzenlosigkeit wird im Beitrag auf den Bereich des Körpers und des Todes ausgedehnt. Der Tod eines (geliebten) Menschen ist ein einschneidendes Erlebnis, das Beziehungen und Verbindungen jäh enden lässt. Wie einschlägige sozialpsychologische Forschungsarbeiten (z. B. Elsaesser et al. 2022, Schmied-Knittel 2008: 113, Guggenheim/ Guggenheim 1999) und <?page no="128"?> 1 Im Beitrag werden ausschließlich NTK untersucht, die spontan und ohne Vorwarnung auftreten, die von den Betroffenen nicht selbst initiiert werden (initiiert wären sie z. B. durch spiritistische Sitzungen mit einem Medium). 2 Ich danke dem Leiter der PPB, Dr. Dr. Walter von Lucadou, sowie den Mitarbeitenden der PPB für die Bereitstellung der Daten und vorbereitenden Gespräche. die Fallsammlung der Parapsychologische Beratungsstelle in Freiburg (PPB) zeigen, machen zahlreiche Betroffene bzw. Hinterbliebene verschiedene außer‐ gewöhnliche Erfahrungen mit besonderer Erlebnisqualität in Bezug auf geliebte, verstorbene Menschen. Sie berichten vor allem von Erscheinungen Verstorbener im Wach- und Traumzustand, anhaltenden Uhren zum Todeszeitpunkt und Nachtod-Kontakten, auch wenn die Betroffenen die Phänomene und Ereignisse nicht klar benennen, sondern nur beschreiben können. Im Fokus der Analyse stehen Todesfälle und dadurch zerrissene Bindungen zwischen Menschen. Im Beitrag soll den Fragen nachgegangen werden, a) welches Spektrum an Gefühlen gegenüber den anomalen Phänomenen im Zusammenhang mit geliebten Personen wie verbalisiert wird und b) welches Spektrum an Gefühlen den Verstorbenen gegenüber ausgedrückt wird. Diese Fragen sollen anhand eines kleinen Korpus von Briefen und E-Mails, in denen Betroffene den Mitarbeitenden der PPB von Nachtod-Kontakten 1 (NTK) und anomalen Phänomenen im Zusammenhang mit Todesfällen berichten, beant‐ wortet werden 2 . Da der Beitrag auf die Emotion ‚Liebe‘ fokussiert, wird diese zunächst in Kapitel 2 erläutert und theoretisch gerahmt. In Kapitel 3 wird auf das Thema Tod in der wissenschaftlichen Anomalistik-Forschung eingegangen, um die im Korpus erfassten Texte kategorisieren und analysieren zu können. Korpus und Methoden werden in Kapitel 4 dargelegt. Darauf folgt die Erörterung der Probleme und Hürden, mit denen Menschen sich konfrontiert sehen, wenn sie über anomale Phänomene ebenso wie über intensive Gefühle schreiben und sprechen (wollen) (Kapitel 5). Dies kann deshalb in Kombination geschehen, da sowohl Anomalien als auch das Thema Tod weitgehend aus dem gesellschaft‐ lichen Diskurs ausgeschlossen, Gefühle sowie Erlebnisse stark subjektiv und schwer formulierbar sind. In Kapitel 6 wird schließlich ausführlich auf die in den Briefen und E-Mails thematisierten Gefühle im Hinblick auf das Auftreten der Anomalien und die Verstorbenen eingegangen. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit (Kapitel 7). 128 Lisa Rhein <?page no="129"?> 2 Liebe ist-… … Emotion, Gefühl, Konzept und Medium, sie ist ein Universalphänomen, gesellschaftlich codiert und doch hoch individuell, zuweilen unaussprechlich, tief und erschütternd. Aus einer soziologischen Perspektive stellt sich die Frage nach dem „Konzept von Liebe“ (Thiedeke 2020: 14), nach den Normen und Erwartungen, innerhalb derer wir Menschen Liebe zeigen und angezeigt bekommen. Unter Rückgriff auf Luhmann (1982: 24f.) umfasst das Konzept Liebe bestimmte „Verhaltens- und Handlungserwartungen“, „Bedingungen und Konsequenzen“ (Luhmann 1982: 30). Liebende sind zuweilen obsessiv, Wünsche und Bedürfnisse des Part‐ ners oder der Partnerin sind anzuerkennen; gegenseitige Intimität ist Vorausset‐ zung und Folge (vgl. Luhmann 1982: 30,40). In dieser soziologischen Perspektive und auch in der linguistischen Literatur wird vordergründig die romantische, erotische Liebe thematisiert, die mit sexuellem Begehren einhergeht (z. B. Hülshoff 2012, Schwarz-Friesel 2013, Thiedeke 2020). Für den Beitrag wird das Konzept der Liebe so modifiziert, dass es sich nicht nur auf romantische Liebe zwischen zwei nicht verwandten Personen bezieht, sondern auch auf Liebe innerhalb der Familie, zwischen Eltern und Kindern, Geschwistern etc.; sexuelles Verlangen spielt hierbei keine Rolle. Analytisch zentral ist die Unterscheidung zwischen Emotion und Gefühl: Emotionen sind mehrdimensionale, intern repräsentierte und subjektiv erfahrbare Syndromkategorien, die sich vom Individuum ich-bezogen introspektiv geistig sowie körperlich registrieren lassen, deren Erfahrenswerte an eine positive oder negative Bewertung gekoppelt sind und die für andere in wahrnehmbaren Ausdrucksvarianten realisiert werden (können). (Schwarz-Friesel 2013: 55) Emotionen sind Repräsentationen, Konzeptualisierungen von Emotionszu‐ ständen. Gefühle sind demgegenüber „subjektive Bewertungen introspektiv erfasster Emotionszustände“ (Schwarz-Friesel 2013: 55). Auf dieser Unterschei‐ dung von Emotion und Gefühl basiert die Definition des Konzepts LIEBE: „[D]ie Emotion LIEBE [ist] ein Universalphänomen […]. Davon zu unterscheiden sind jeweils kulturspezifische, gesellschaftliche Konzeptualisierungen von ,Liebe‘ als Gefühl, die eine kognitive Beurteilung und Klassifikation beinhalten“ (Schwarz-Friesel 2013: 292). Liebe umfasst dabei „emotionale Zuneigung“ im Allgemeinen, im Speziellen aber auch „sinnliche Begierde“ (Schwarz-Friesel 2013: 292), die - wie gesagt - für diesen Beitrag als nicht vorausgesetzt angesehen wird. Denn obwohl Hüls‐ hoff (2012) nur in Bezug auf erotische Bindungen von damit einhergehenden Die Liebe, der Tod und das Übernatürliche 129 <?page no="130"?> 3 Auf diese einzelnen Studien kann hier nicht eingegangen werden, für eine detaillierte Auseinandersetzung und Auswertung in Bezug auf das Verhältnis Text und Emotion sei auf die Arbeit Ortners (2014) verwiesen. Gefühlen der Angst und Trauer spricht, sind diese für meine Betrachtungen auch für nicht-erotische Liebesbeziehungen konstitutiv. Betrachtet man Emotionen aus einer linguistischen Perspektive und mit Blick auf die zu analysierenden Kommunikate, stellt sich die Frage, wie Emotionen in Texten repräsentiert sind und wie sie von Rezipierenden rekonstruiert werden (können). Die für diese Betrachtungsweise umfassendste Arbeit hat Heike Ortner (2014) vorgelegt, in der sie sich kritisch mit Studien aus verschiedenen Disziplinen zum Verhältnis von Sprache und Emotion auseinandersetzt. 3 Sie hält fest: Der eigentliche Untersuchungsgegenstand der Linguistik und jeder Auseinanderset‐ zung mit Emotionen in Texten sind nicht Emotionen, sondern die Konzeptualisie‐ rungen von Emotionen, wie sie in verbalen Manifestationen mehr oder weniger greifbar werden (Ortner 2014: 46). Für die Analyse der von ihr gewählten Texte entwickelt sie ein Analysemodell, in dem sie sprachliche Mittel auf allen Ebenen aus verschiedenen Ansätzen kompiliert, kategorisiert und letztlich in ein methodisch reichhaltiges Modell gießt. Hierbei unterscheidet sie, wie Schwarz-Friesel (2013), grundlegend zwi‐ schen Emotionsthematisierung und Emotionsausdruck. Werden Emotionen in Texten thematisiert, „reflektiert und konstruiert Sprache Emotionen, verleiht ihnen Sinn“ (Ortner 2014: 67); in diese Kategorie fällt jede „Thematisierung von subjektivem emotionalem Erleben, physiologischen Reaktionen oder Verhalten“ (Ortner 2014: 345). Beim Emotionsausdruck (Externalisierung der aktuellen Emotion; „expressives Element“; Ortner 2014: 346) wird Sprache „emotional aus‐ geführt, indem Emotionen einerseits mit nicht- und parasprachlichen Mitteln, andererseits mit sprachlichen Mitteln im engeren Sinn (z. B. Lexik) ausgedrückt werden“ (Ortner 2014: 67). Sowohl Emotionsthematisierung als auch -ausdruck manifestieren sich in sprachlichen Mitteln auf allen Ebenen, wie Ortner nach ihrer Durchsicht der Literatur zeigen kann (vgl. Ortner 2014: 345,248,354 f.). Schwarz-Friesel (2013: 167) konzeptualisiert nun Liebe als Basisemotion mit grundsätzlich positiver Bewertung, wobei diese personenabhängig „ganz un‐ terschiedliche (positive oder negative) Assoziationen evozieren“ kann. Ihr zufolge führt Liebe zu einem umfassenden Mitteilungsbedürfnis, was sich in Liebesbeteuerungen niederschlägt (vgl. Schwarz-Friesel 2013: 295). In der Kom‐ munikation wird „das Exzeptionelle, das Unikale in den Vordergrund gerückt“, „Liebe wird als die wertvollste, dauerhafteste und die intensivste Emotion 130 Lisa Rhein <?page no="131"?> 4 Hier lässt sich eine vorsichtige Verbindung zum von Schwarz-Friesel (2013: 295) ge‐ nannten Mitteilungsbedürfnis der Liebenden ziehen. dargestellt“ (Schwarz-Friesel 2013: 296). Im vorliegenden Beitrag spielt dieses Mitteilungsbedürfnis gegenüber der geliebten Person nur eine vermittelte Rolle, da das Korpus Berichte über und nicht an eine geliebte Person enthält. Die Liebe zur thematisierten Person ist Motivation für das Schreiben, aber nicht Gegenstand des Textes; im Fokus stehen stattdessen Gefühle der Angst, Sorge und Trauer um einen Menschen, die ihren Ursprung in der Liebe für ebendiesen und ihren Verlust haben. 3 Sterben und Tod als Gegenstand wissenschaftlicher Anomalistik Im interdisziplinär beforschten Feld der Anomalistik wird der Tod, basierend auf unterschiedlichen Fallberichten, in verschiedenen Kontexten thematisiert: Nachtod-Kontakte, Präkognitionen, Wahrträume und Versuche der Lebenden, mit den Toten mittels Rituale oder Medien Kontakt aufzunehmen (vgl. dazu auch Klug i.d.B.). Personen, die einen geliebten und ihnen nahestehenden Menschen verloren haben, berichten vielfach davon, dass ihnen die verstorbene Person im Wach-, Halbschlaf- oder Schlafzustand erschienen ist, dass sie eine Botschaft übermit‐ telt hat, man sie berühren, umarmen oder aber hören und riechen konnte (vgl. Elsaesser et al. 2022: 38). Solche in der Fachliteratur als Nachtod-Kontakte (NTK) bezeichnete Phänomene treten in der überwiegenden Zahl der Fälle im Zusam‐ menhang mit einer „starke[n] emotionale[n] Bindung - eine[r] Beziehung, die auf Liebe gründet“ (Elsaesser et al. 2022: 61, vgl. auch 67) auf und werden fast ausschließlich als „bedeutungsvolle und positive Lebenserfahrung empfunden“ (Elsaesser et al. 2022: 67). NTK sind „ein Hinweis auf das Vorhandensein einer starken und dauerhaften inneren Verbindung zwischen den Lebenden und den Verstorbenen“ (Elsaesser et al. 2022: 63). Voraussetzung für einen NTK ist dabei nicht zwingend Trauer; Studien zeigen, dass NTK nicht nur bei Trauernden und zudem im Lauf des Lebens mehrfach auftreten können (vgl. Elsaesser et al. 2022: 39). Während der NTK wird den Betroffenen in vielen Fällen von den Verstorbenen eine Botschaft vermittelt, die sich auf die Lebenden auswirkt: Die Empfänger betonen, dass sie zusätzlich die Absicht der Verstorbenen verstanden haben, d. h. ihren Wunsch, ihnen mitzuteilen, dass sie weiter existieren und dass es ihnen gut geht, sowie ihren Willen, sie die Liebe, die sie für sie empfinden, und den Trost, den sie ihnen spenden möchten, spüren zu lassen. (Elsaesser et al. 2022: 47) 4 Die Liebe, der Tod und das Übernatürliche 131 <?page no="132"?> Durch den Kontakt wird zudem die Information übermittelt, „dass ihr geliebter Mensch den Tod des Körpers überlebt hat, da er noch in der Lage ist, sich ihnen zu offenbaren“ (Elsaesser et al. 2022: 47). Auch wenn die Botschaften individuell sind und an die jeweilige Lebensgeschichte anknüpfen, lassen sie sich hinsichtlich ihrer Funktion in vier Gruppen gliedern: a) die Hinterbliebenen beruhigen (z. B. Nehmen von Sorgen), b) die Beziehung bereinigen (z. B. Lösen von Konflikten, Vergeben, Ungesagtes aussprechen), c) Verbindung bekräftigen und aufrechterhalten, d) befreien (z. B. Linderung des Schmerzes; vgl. Elsaesser et al. 2022: 47-49). Die Wirkung dieser NTK wird entsprechend als heilend empfunden (vgl. Nowatzki/ Kalischuk 2009, Elsaesser et al. 2022). Neben Nachtod-Kontakten haben Betroffene auch Präkognitionen, Wahr‐ träume oder Visionen davon, wie und wann ein geliebter Mensch stirbt. Oder Betroffene erleben, dass Uhren zum Zeitpunkt des Todes einer geliebten Person stehenbleiben, dass sie plötzlich eine warnende Stimme hören etc. Als Wahrträume werden diejenigen Träume bezeichnet, die eine andere Qualität haben als ‚normale‘ Träume und die die Betroffenen zumeist stark verunsichern, weil sie sich in den folgenden Stunden, Tagen oder Wochen detailgetreu bewahrheiten. Damit können solche anomalistischen Träume präkognitiven Charakter haben (vgl. Roe 2015: 143 unter Rückgriff auf Rhine 1981). In vielen Fällen beziehen sich Wahrträume, aber auch Visionen und Präkognitionen im Wachzustand, die an die PPB berichtet werden, auf Unfälle, Krankheits- oder Todesfälle von geliebten Menschen, die die Betroffenen in Angst oder große Unruhe versetzen (vgl. Roe 2015: 143). Aus linguistischer, semiotischer Perspektive muss ergänzt und eingewendet werden, dass die als Botschaften bezeichneten Phänomene als Zeichen mit einem spezifischen Inhalt bzw. Sinn, also als Symbole interpretiert werden. Rudi Keller formuliert für die Interpretation von Zeichen Folgendes: „Zeichen sind, unter ihrem kommunikativen Aspekt betrachtet, Hilfsmittel, um von un‐ mittelbar Wahrnehmbarem auf nicht unmittelbar Wahrnehmbares zu schließen. Dies ist aus der Perspektive des Interpreten gesehen“ (Keller 1995: 181). Zeichen ermöglichen also Schlüsse, diese können aber im betrachteten Kontext nicht regelbasiert (Symbol nach Keller), und auch nur schwierig kausal (Symptom nach Keller) oder assoziativ (Ikon nach Keller) gezogen werden - wenngleich, wie das Korpus zeigen wird, den Zeichen konkrete Inhalte zugesprochen werden. Phänomene wie die geschilderten zählen zu den „ungewöhnlichen mensch‐ lichen Erfahrungen“ (Lucadou 2000: 1), die bislang nur wenig erforscht sind (vgl. Schellinger 2011). Sie gelten dann als Anomalien, wenn sie „sich länger‐ fristig der Einordnung in die herrschenden wissenschaftlichen Paradigmen wider‐ 132 Lisa Rhein <?page no="133"?> 5 Die Dokumente, die in das Korpus aufgenommen werden, stammen aus der Sammlung der Parapsychologischen Beratungsstelle in Freiburg (i.Br.). Aufgabe der Beratungs‐ stelle ist nach eigener Auskunft „a) Beratung Betroffener, b) Information anderer Bera‐ tungsstellen, c) Öffentlichkeitsarbeit, d) Feldforschung“ (Lucadou/ Zahradnik 2005: 2). setzen“ (Lucadou/ Mayer 2015: 302; Herv. i. O.). Da sie nicht zum szientistischen Welt- und Wirklichkeitsverständnis passen, stören sie die Ordnung, indem sie „grundlegende Gewissheiten hinsichtlich der Beschaffenheit der natürlichen Welt“ (Schetsche et al. 2016: 3; Herv. i. O.) in Frage stellen. Solche Gewissheiten werden diskursiv konstituiert; sie bestimmen, was als wirklich und real gelten kann (vgl. Biebert/ Schetsche 2016: 104). Tritt ein Ereignis auf, das nicht in diese wirklichkeitskonstituierenden Wissensbestände integriert werden kann, spricht man von Außergewöhnlichen Erfahrungen (AgE; Schmied-Knittel 2008: 99; Lu‐ cadou/ Zahradnik o.J.: 3). In der Regel versuchen Betroffene, solche Erfahrungen als Sinnestäuschungen abzutun und rationale, plausible Erklärungen zu finden. Ist dies nicht möglich, werden die unerklärlichen Phänomene in der Regel als Unmöglichkeit verdrängt, um die geltende Wirklichkeitsordnung wiederherzu‐ stellen (vgl. Schetsche et al. 2016: 3). Dennoch kann das Auftreten einer unge‐ wöhnlichen Erfahrung zu epistemischen Irritationen führen, denen in der Regel mit Exklusion und Tabuisierung begegnet wird. Die Psychologin Julia Kristeva (1982) erklärt das Phänomen der Tabuisierung, des Ausschlusses von Nicht-er‐ wünschtem Wissen, mit dem tiefenpsychologischen Konzept der Abjektion. Ausgelöst durch Horror, Ekel und Abscheu kommt es nach Kristeva (1982) zu einer vordiskursiven Verdrängung und Aussonderung dieser Wissensbestände zum Schutz der Gesellschaft und der Wirklichkeitsordnung. Symptomatisch hierfür sind die sich in der westeuropäischen Kultur herausgebildeten Strategien im Umgang mit Anomalien und der daraus entstehenden epistemischer Überfor‐ derung: „Totschweigen, Vergessen“ (Moser 1950: 333f.), Verdrängen (vgl. Bauer 2010: 324), Nihilierung (das Für-nichtig-Erklären; Biebert/ Schetsche 2016: 100), Pathologisierung (als Ergebnis einer Krankheit einstufen; vgl. Schetsche et al. 2016: 5), Fiktionalisierung (als Erfindung, Geschichte, Narration abtun; vgl. Schetsche et al. 2016: 5), Ridikülisierung (das Lächerlichmachen einerseits des Phänomens, andererseits der berichtenden Person; vgl. Schetsche et al. 2016: 5), Therapie (vgl. Biebert/ Schetsche 2016: 100). 4 Daten und Datenanalyse Das Korpus umfasst 32 Briefe und E-Mails aus der Fallsammlung PPB, in denen Betroffene von geliebten Personen und deren (möglichen) Verlust im Zusammenhang mit außergewöhnlichen Erfahrungen berichtet haben. 5 Diese Die Liebe, der Tod und das Übernatürliche 133 <?page no="134"?> Auf Anfrage wurden mir alle eingegangenen Briefe und E-Mails seit der Gründung 1989 der PPB zur Verfügung gestellt. Eine solche Fallsammlung zeichnet sich dadurch aus, dass sie zufällig entsteht und nicht auf repräsentativen Erhebungen basiert (vgl. Schmied-Knittel 2008: 100). 6 Diese Einteilung erfolgt vor dem Hintergrund der parapsychologisch identifizierten Themenfelder, wird aber von mir und nicht von der PPB oder gar von den Betroffenen selbst vorgenommen. Erfahrungen lassen sich den drei folgenden Bereichen zuordnen: Nachtod-Kon‐ takte inklusive post-mortem-Erscheinungen (Mayer/ Bauer 2015: 189,190) (23 Texte), Wahrträume und Hellsichtigkeit mit dem Fokus auf Tod(esfälle) (sieben Texte) und Zeichen aus dem Jenseits (zwei Texte) 6 . Die PPB hat keinen Einfluss darauf, welche Themen wann und in welcher Form von den Betroffenen berichtet werden; es gibt also Phasen, in denen Betroffene eher telefonisch oder eher schriftlich Kontakt aufnehmen; und es gibt Phasen, in denen einzelne Themen eher nachgefragt werden als andere. Dies kann zum Teil darauf zurückgeführt werden, dass der Leiter der PPB medial vertreten ist (z. B. in Talkshows, Magazinen) und auch auf die Adresse der PPB in Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen verwiesen wird. Oftmals melden sich dann Menschen, die ähnliche Phänomene beobachtet haben wie die, von denen in den Beiträgen berichtet wird (vgl. Zahradnik 2007: 31). Das heißt, das Korpus weist keine Ho‐ mogenität auf, sondern ist gekennzeichnet von Themenclustern und zeitlichen Verdichtungen bzw. Entzerrungen. Die in den Texten geschilderten Erlebnisse können nicht nur epistemische Krisen auslösen, sie sind auch aufgrund der Betroffenheit weiterer Personen hochgradig emotionalisiert. Die erste relevante Einsendung findet sich 1991, die letzte im Jahr 2012. 29 Texte liegen in Briefform (handschriftlich oder getippt, von 1991 bis 2010), drei in Form von E-Mails (allesamt aus dem Jahr 2012) vor. Die Texte wurden von mir anonymisiert, sodass sie in Teilen gedruckt werden können. Relevante Sozialdaten wurden, falls vorhanden, gesondert dokumentiert. Von den 32 Betroffenen sind vier männlich, alle anderen weiblich. In einigen Fällen wurde das Erlebte zeitnah verschriftlicht, in anderen Fällen erst viele Jahre später oder nach Aufforderung der Mitarbeitenden der PPB während einer telefonischen Beratung. Kennzeichnend für die Texte ist, dass die Interpretation der Ereignisse stark von den jeweiligen Gefühlen geprägt ist - die Ereignisse werden in vielen Fällen nicht rational zu erklären versucht, wie es bei anderen Phänomenen (z. B. Spuk) der Fall ist. Hier kommt die Vielschichtigkeit im Alltagsverständnis von Wirklichkeit zum Tragen, wobei es doch Präferenzen gibt: 134 Lisa Rhein <?page no="135"?> 7 Diese Unbeschreibbarkeit wird auch von Kuck (i.d.B.) und Škerlavaj (i.d.B.) aufgegriffen. Unser normales Alltagsverständnis von Wirklichkeit ist keineswegs einseitig und ex‐ klusiv wissenschaftlich aufgeklärt. Dominanz aber hat das wissenschaftliche Weltbild, das sich gegenüber der Traum- und Phantasiewelt als Abstraktions- und Reprodukti‐ onsprodukt wie als Rationalitätsprogramm erweist. (Gloy 2016: 124) In der Darstellung des Erlebten vermischen sich Gefühle in Bezug auf das in Frage gestellte Wirklichkeitsverständnis durch das Auftreten der Anomalie (z. B. Angst, Unsicherheit) mit Gefühlen gegenüber der geliebten, verstorbenen Person (z. B. Trauer, Einsamkeit). Zur Analyse der Textzeugnisse ist ein Methodenmix nötig, um die Vielschich‐ tigkeit der Texte angemessen erfassen zu können. Daher wird deduktiv-in‐ duktiv, qualitativ-hermeneutisch, textlinguistisch und unter Einbezug der noch darzulegenden Herausforderungen des Aufschreibens außergewöhnlicher Er‐ fahrungen gearbeitet. In aller Kürze sind das: Überwindung des Tabus, (Un)Be‐ schreibbarkeit des Fühlens und Erlebens 7 , Schwierigkeiten der Wiedergabe und Darstellung von Träumen und Erfahrungen, das Ringen mit Sprache angesichts einer epistemischen Krise (siehe hierzu im Detail Kapitel 5). Da es bisher nur punktuell linguistische Forschung gibt, die für den Themenkomplex konkret herangezogen werden kann, ist die Studie explorativ. Es werden Analysekate‐ gorien aus der Sekundärliteratur herangezogen, zusätzlich wird aber induktiv gearbeitet. Um das Gefühlsspektrum erfassen und beschreiben zu können, wird auf Ortners (2014) ausführliche Auseinandersetzung mit Emotionen in Texten und die darin sorgfältig und detailliert aus der Forschungsliteratur zusammenge‐ tragenen verbalen, paraverbalen und nonverbalen Mittel sowie ihren methodi‐ schen Ansatz (Ortner 2014: 354) zurückgegriffen. Ihre Tabellen dienen als Such‐ anweisung für die Analyse der Daten (Ortner 2014: 345-348). Relevant für die Analyse sind, grob gefasst, Kriterien für die Analyse von Emotionsthematisie‐ rung („Thematisierung von subjektivem emotionalem Erleben, physiologischen Reaktionen oder Verhalten“; Ortner 2014: 345), von Emotionsausdruck (Externa‐ lisierung der aktuellen Emotion; „expressives Element“; Ortner 2014: 346) und Bewertung, die sich in sprachlichen Mitteln auf allen Ebenen (Syntax, Lexik, pragmatischen Funktion) fassen lassen. In meiner Vorgehensweise treffe ich keine Entscheidung darüber, ob die geschilderten Ereignisse ‚real‘ sind oder nicht - entscheidend ist, was die Betroffenen empfinden, welche Gefühle die Ereignisse auslösen und wie sie diese deuten. Die Betroffenen bitten die Mitarbeitenden der Beratungsstelle nicht um eine Realitätsbewertung der Erfahrungen, sondern bitten um Hilfe Die Liebe, der Tod und das Übernatürliche 135 <?page no="136"?> im Umgang mit dieser, schreiben sich die Last von der Seele. Letztlich ist aus linguistischer Sicht jedes der geschilderten Phänomene eingebettet in einen In‐ terpretationsraum, wobei die Interpretation dazu dient, den Phänomenen einen individuellen Sinn beizumessen, um mit ihnen und den darin eingebundenen geliebten Personen Frieden zu schließen. 5 Unsagbarkeit, Unaussprechlichkeit, Unbeschreibbarkeit: Schreiben als Krise Im kommunikativen Umgang mit subjektiven Erfahrungen und Gefühlen, vor allem auch mit außergewöhnlichen, übernatürlichen Erfahrungen, sehen sich Betroffene mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert. Daher widmet sich dieses Kapitel den Problemen der Verbalisierung des Erlebten. Dass dieses Niederschreiben schwierig sein kann, zeigt sich auf verschiedenen Ebenen, auf die im Folgenden jeweils kurz eingegangen wird. Gemeinsam ist den Problemen, dass sie offenbar aus der Subjektivität der Erfahrung resultieren, sich das Aufschreiben des Erlebten quasi als ‚Übersetzungsproblem‘ darstellt, wenn das innere Erleben und Empfinden nach außen gebracht und damit intersubjektiv nachvollziehbar geschildert werden muss. Grundsätzlich sind Schreibende mit verschiedenen Herausforderungen beim Verfassen von Texten konfrontiert. Schreiben erfordert eine Vielfalt von Prob‐ lemlöseprozessen, insbesondere bezogen auf gewählte Formulierungen (Antos 2008). Antos nennt sieben Barrieren beim dialektischen Problemlösen (zurück‐ gehend auf Dörner 1976), die allesamt auch für die Korpustexte gelten; hervor‐ heben möchte ich aber die beiden von ihm genannten Vor- und Nachprobleme, die in Bezug auf die hier relevanten Briefe und E-Mails zentraler erscheinen: Zum Vorproblem bzw. zur „Unsicherheit der Anfangssituation“ (Antos 2008: 252; Herv. entfernt, LR) zählen „a) unklare Kenntnis der Wirkung bestimmter sprachlicher Formen […], b) ungenaue Kenntnis von Formulierungskriterien, Standards und Normen und c) unklare Situationsdefinition“ (Antos 2008: 252). Als Nachprobleme identifiziert er a) Unsicherheit über die zutreffende Antizipation der Rezeption bzw. der Interpreta‐ tion des hergestellten Textes, b) Unsicherheit über die unbeabsichtigten/ unvorherseh‐ baren Nebenfolgen des Textes, einschließlich der Rückschlüsse von Rezipienten auf die Fähigkeiten, Wertsysteme, Präferenzen etc. des Textherstellers, und c) Unsicher‐ heit über die Verantwortbarkeit des Textes (Antos 2008: 253) Zu diesen Vor- und Nachproblemen lassen sich verschiedene Aspekte zuordnen. Wie bereits erwähnt, gibt es keine konventionalisierte Textsorte oder akzep‐ 136 Lisa Rhein <?page no="137"?> tierten Formulierungen für die Schilderung solcher Erfahrungen (Vorproblem (a) und (b)); die Schreibenden können sich nie der Interpretation ihrer Texte und den darin geschilderten Phänomenen sicher sein (Nachproblem (a)), sie haben aufgrund der Tabuisierung des Themas Angst vor negativen Zuschrei‐ bungen/ Stigmatisierung (Nachproblem (b)), was sich auch darin zeigt, dass die Texte in vielen Fällen mit einer Art Selbstversicherung („ich bin nicht verrückt, habe nicht getrunken, war wach“) eröffnet oder geschlossen werden (Nachproblem (c)). Zudem lassen sich weitere Herausforderungen skizzieren, die in den folgenden Kapiteln 5.1 bis 5.5 knapp umrissen werden. 5.1 Tabu und Tabubruch Wenn Personen außergewöhnliche Erfahrungen machen und diese nicht in ihre Wirklichkeitsordnung integrieren können, resultiert dies oftmals in großer Verunsicherung. Viele Betroffene hegen in der Folge starke Selbstzweifel und trauen sich nicht, offen über das Geschehene zu sprechen (vgl. Zahradnik 2007: 57). In der Konsequenz kann dies zu Traumata führen, denn „Verdrängung hinterlässt nach der psychoanalytischen Interpretation traumatische Spuren“ (Wehling 2006: 128), und/ oder psychische Probleme auslösen, da die eigene Identität als rationale, gesunde und ‚normale‘ Menschen durch die epistemische Irritation infrage gestellt wird. Zudem haben die meisten Betroffenen Angst vor negativen Zuschreibungen (wie krank oder verrückt) (vgl. Schetsche et al. 2016: 5, Schmied-Knittel 2008: 115). Eine Verdrängung des Erlebten resultiert in einem gesellschaftlichen Tabu, das dazu dient, potenziell verstörende Wissensbestände aus der Wirklichkeits‐ ordnung auszusondern. „Tabus bilden einen Teil der Verhaltensmuster einer Kultur“ (Schröder 2003: 307), sie regeln das soziale Miteinander und festigen die soziale Ordnung (vgl. z. B. Reimann 1989: 421). Durch Tabuisierung wird den Menschen aber in der Konsequenz die Möglichkeit genommen, sich über außergewöhnliche, anomale Erfahrungen unbefangen auszutauschen. Da sich hierdurch kein Vokabular entwickeln kann, mit dem nicht anerkanntes Wissen handhabbar gemacht werden könnte, wird aus einer Sprachlosigkeit unter Umständen die Unfähigkeit, sich zu äußern. Teilweise werden von den Betroffenen sehr ausführliche Selbstbeschrei‐ bungen eingefügt, die die eigene Identität stärken und gegen negative Zuschrei‐ bungen seitens der Gesellschaft absichern. Diese sind Ausdruck des Selbstbildes, der Selbstversicherung über die eigene Identität, die durch die Anomalie er‐ schüttert wurde. Auffällig sind Selbst-Zuschreibungen wie rational-denkend, nicht mystisch oder religiös veranlagt, bin nicht verrückt, habe studiert sowie Die Liebe, der Tod und das Übernatürliche 137 <?page no="138"?> 8 Schmied-Knittel bezieht sich zwar auf mündliche Berichte, doch gilt dieser Befund auch für die hier analysierten schriftlichen Texte - zumal diese zum Teil einen hohen Grad an konzeptioneller Mündlichkeit aufweisen (Koch/ Oesterreicher 1985). 9 Gülich bezieht sich hier auf mündliche, interaktive narrative Kontexte. Auch hier kann der Befund schlüssig auf schriftliche Texte übertragen werden. das Anführen weiterer Zeug: innen (vgl. Zahradnik 2007: 137, Schmied-Knittel 2008: 113 8 ). Die Betroffenen beschreiben und charakterisieren sich selbst und konstituieren damit ihr Selbstbild (vgl. Gülich 2004: 6 9 ). Aus Sicht der möglichen Kommunikationspartner: innen stellt sich das Problem quasi gegenläufig dar: Aufgrund der Unerträglichkeit des Zuhörens (Kraus 2015: 116) und einer mangelnden Bereitschaft, Schilderungen traumatischer Ereignisse anzu‐ hören (oder auch: diese zu lesen), erscheint das Ausschließen der Betroffenen aus der Diskursgemeinschaft als naheliegendste Lösung (vgl. Busch/ McNamara 2020: 330). Das Aufschreiben solcher Erzählungen entbindet die Kommunikationspartner: innen zwar von der Verpflichtung zu lesen (im Mündlichen ist das kaum möglich), aus Sicht des Betroffenen entsteht die Entlastung dann aber nur aus dem Akt des monologischen Sich-Mitteilens, nicht aber aus dem Gespräch und dem Erhalten von Rückmeldung bzw. Unterstützung. 5.2 Die Unbeschreibbarkeit des Fühlens und Erlebens Gefühle in Worte zu fassen, stellt sich mitunter als unmögliches Unterfangen heraus, da diese den Menschen zuweilen als unausdrückbar, als unbeschreibbar erscheinen (vgl. Gülich 2005). Die Beschreibung von Gefühlen gegenüber einer anderen Person setzt eine doppelte Übersetzung voraus: Gefühle sind Bewertungen bewusst wahrgenommener Emotionszustände. Damit diese Zustände subjektiv überhaupt erfasst werden können, müssen sie bewusst als Repräsentationen erlebbar sein. Die bewusste Repräsentation setzt wiederum voraus, dass eine Form der Konzeptualisierung stattgefunden hat, und damit handelt es sich bei Gefühlen zwangsläufig um kognitiv beeinflusste Zustände. Wenn wir über spezifische Gefühle wie Angst, Freude, Liebe oder Sehnsucht sprechen, kodieren wir bewusst empfundene Gefühlszustände mittels verbaler Ausdrucksrepräsentationen und vermitteln somit das intern Gefühlte als extern wahrnehmbar für Andere. (Schwarz-Friesel 2008: 287) Emotionszustände müssen zunächst bewusst wahrgenommen werden, bevor sie kodiert werden können, was eine Konzeptualisierung der Zustände voraussetzt. Verbalisieren wir Gefühle und machen diese für andere sicht- und hörbar, 138 Lisa Rhein <?page no="139"?> sind die genannten Prozesse bereits durchlaufen, sodass nun jene verbalen Ausdrucksrepräsentationen für die Kodierung gewählt werden. 5.3 Zur Schwierigkeit der Wiedergabe und Darstellung von Erfahrungen und Träumen Was für die Beschreibung von Gefühlen gilt, gilt ebenso für Gattungen, „die die Rekonstruktion von Transzendenzerfahrungen umfass[en]“ (Gülich 2005: 230). Problematisch an diesen Erfahrungen sowie Träumen ist, dass diese subjektiv und anderen Personen damit nicht zugänglich sind, es sei denn, sie werden vom Erlebenden verbal geteilt, was allerdings sehr schwierig ist: „Wer träumt, tut dies notwendigerweise allein und steht damit vor der Frage, wie dieses Er‐ eignis aus dem inneren Erlebnisraum kommunikativ übermittelt werden kann“ (Bergmann/ Peräkylä 2021: 40). Die Frage des Vermittelns mündet oftmals in der Feststellung der Unbeschreibbarkeit des subjektiven Erlebens, wobei dies „nicht nur ein Formulierungsproblem, sondern auch ein Kommunikationshindernis“ (Gülich 2005: 231) bedeutet. Bergmann/ Peräkylä (2021: 52) stellen für Traumerzählungen fest, dass für diese - wie auch für die Kommunikation von außergewöhnlichen Erfahrungen (vgl. Zahradnik 2007: 46) - keine kommunikative Gattung etabliert ist: Zwar wird die Wiedergabe eines Traums häufig durch eine narrative Exposition […] eingeleitet, und in der Rekonstruktion des Traums selbst finden sich zumeist erzählerische Episoden. Doch in der Gesamtheit folgt die Darstellung eines Traums keiner narrativen Logik, es kommt zu einer Aneinanderreihung von Szenen, Erin‐ nerungsfragmenten und Ereignissplittern, die in der Regel ohne Gestaltschließung endet. (Bergmann/ Peräkylä 2021: 52) Ähnlich wie bei den im Korpus enthaltenen Texten lässt sich eine „nachträg‐ liche[ ] Narrativierung“ (Bergmann/ Peräkylä 2021: 52) vermuten, bei der der Trauminhalt wie auch die Inhalte der außergewöhnlichen Erfahrung nicht nur geschildert, sondern gleichzeitig durch bereits erfolgte Interpretationen und Integrationsversuchen neu und damit sinnhaft wiedergegeben werden. Dies deutet bereits den nächsten Punkt an. 5.4 Erlebnisse sind kognitive Geschichten und Re-Konstruktionen Berichte über paranormale Phänomene sind, ähnlich wie Traumdarstellungen, kognitive Geschichten und sich im Erzähl- und Schreibprozess manifestierende Die Liebe, der Tod und das Übernatürliche 139 <?page no="140"?> 10 Der Gründer der Beratungsstelle hat mir in einem Gespräch erklärt, dass die Mitar‐ beitenden der Beratungsstelle den Betroffenen Fachausdrücke zur Bezeichnung der Phänomene anbieten, dass diese aber von den Betroffenen nicht angenommen werden. Ein Beispiel für Fachlexik wäre „embodiment-Störung“, also eine Störung des eigenen Eingebettetseins in die Umwelt. Ich führe das auf die fehlende Passung von emotio‐ nalem Empfinden, den subjektiv als unsagbar bewerteten, extremen Erfahrungen und epistemischer Erschütterung auf der einen Seite und der Sachlichkeit von wissenschaft‐ lichen Ausdrücken auf der anderen Seite zurück. Re-Konstruktionen, denn Erlebnisse werden aufgerufen und erzählt, berichtet und niedergeschrieben (Gülich 2004: 1): „In Aura-Darstellungen, Traumerzäh‐ lungen, Berichten von Nahtod-Erfahrungen und Visionen wird eine subjektive Wirklichkeit sprachlich rekonstruiert (bzw. konstruiert), die dem Gesprächs‐ partner schwer zu vermitteln ist“ (Gülich 2005: 239). Dabei kann es auch zu Re-Interpretationen kommen, die letztlich auch vom eigenen Selbstbild und von den Adressat: innen abhängig sind (vgl. Gülich 2004: 2,6): Solche kognitiven Geschichten sind eng verknüpft mit Empfindungen, also auch mit den Gefühlen, die die Personen a) zum Zeitpunkt des Erlebens hatten und/ oder b) die sie in der Rückschau während des Erzählprozesses haben. 5.5 Betroffene erleben eine epistemische Krise, die sie mit der Sprache ringen lässt In den Briefen und E-Mails lässt sich unschwer erkennen, dass die Betroffenen nicht nur mit ihrer epistemischen Irritation, sondern auch mit der Sprache ringen: Angemessene Wörter zu finden, fällt schwer, weil die Frage noch offen ist, wie die Wirklichkeit neu geordnet werden kann, wie das Erlebte interpretiert werden soll und wie die Ereignisse in die bestehende Wirklichkeitsordnung integriert werden können. Daher ist die Analyse der Textzeugnisse im hier skizzierten Rahmen linguistisch und methodisch komplex. Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass das, was als ‚wirklich‘ gilt, diskursiv verhandelt wird und dass damit einhergehend auch die Grenzen des Wirklichen festgelegt werden. In vielen Fällen erscheint die Adäquatheit der Begriffe beim Niederschreiben des Erlebten als Problem 10 . Eine ‚angemessene‘ Sprache lässt sich mit der von Gardt beschriebenen „Sehnsucht nach Eigentlichkeit“ fassen: Wo sich diese Eigentlichkeit auf Sprache bezieht, ist dies die Sehnsucht nach dem Zustand eines idealen, ursprünglich richtigen Verhältnisses von Sprache, Sprecher und Welt. In diesem Zustand sind die Worte ganz nahe bei den Dingen und der Sprecher ist ganz nahe bei seinen Worten. Wörter, Aussagen und Texte bezeichnen 140 Lisa Rhein <?page no="141"?> die Dinge so, wie sie tatsächlich sind, und der Sprecher meint genau das, was er sagt. (Gardt 2018: 89) Gardt beschreibt also das „Entsprechungsverhältnis zwischen Sprache und Referenzobjekt und kommunikativer Intention der Sprecher“ (Gardt 2018: 98). Das Problematische bei Anomalien ist aber nun, dass sich für Betroffene bereits die Frage stellt, wie die Dinge denn „tatsächlich sind“, dass die Wirklichkeit selbst in Frage steht. Das heißt, das Referenzobjekt ist ein eigentlich unmög‐ liches Phänomen, was eine sprachliche Bezugnahme problematisch macht. Möglicherweise dient die Thematisierung von Gefühlen als Übersetzungsstütze, da Gefühle auch subjektiv und schwer beschreibbar, aber von allen geteilt und nachvollziehbar sind. Die in diesem Kapitel zusammengetragenen Aspekte, die das Niederschreiben von völlig subjektiven Erfahrungen und Träumen erschweren, bilden in Kom‐ bination der vorgestellten Analysekriterien in Kapitel 4 die Basis für die Analyse der Korpusdaten. Die Analyseergebnisse werden im folgenden Kapitel im Detail vorgestellt. 6 Ein froher Schrecken durchfuhr mich-… Das Spektrum der Gefühle zwischen Angst und Dankbarkeit Über die gesamten Texte hinweg lassen sich verschiedene Gemeinsamkeiten feststellen, die im Folgenden skizziert werden. Im Anschluss daran werden die Befunde im Detail besprochen. Die Briefe und E-Mails werden originalgetreu wiedergegeben und enthalten alle von den Verfasser: innen verursachten Orthografie-, Syntax- und Interpunk‐ tionsfehler. Der Übersichtlichkeit halber werden folgende Siglen vergeben: B für Brief, M für E-Mail, w für weibliche Verfasserin, m für männlichen Verfasser. Als Gemeinsamkeiten zwischen den Texten, unabhängig davon, welchem Bereich sie zugeordnet werden können (Wahrträume, Zeichen aus dem Jenseits, Nachtod-Kontakte), lassen sich die Folgenden identifizieren: 1. Liebe als Motiv, aber nicht als Thema Liebe an sich bzw. eine Liebesbeziehung wird in den Texten kaum thematisiert. Dies mag daran liegen, dass in den Texten die Verbalisierung von Angst und Sorge dominiert und Liebe Voraussetzung dafür ist, dass die Texte überhaupt in dieser Form verfasst werden. Die genannten Bezugspersonen/ Verstorbenen sind in den überwiegenden Fällen sehr nahestehende Personen, zu denen eine Liebes‐ beziehung bestand: z. B. Mutter, Vater, Großmutter, Großvater, Sohn, Tochter, Partner: innen, ehemalige Geliebte. Betroffene berichten aber auch davon, dass Die Liebe, der Tod und das Übernatürliche 141 <?page no="142"?> sie Wahrträume von ihnen unbekannten Personen, von Menschen, die ihnen nicht besonders nahestehen, oder von ungeliebten (aber verwandten) Menschen haben (dies entspricht dem Befund von Elsaesser et al. 2022: 53). Liebe wird dabei als enge Verbindung zwischen zwei Menschen, verstorben oder lebendig, konzeptualisiert, bei der es um tiefe Gefühle, nicht aber um sexuelle Aspekte geht (vgl. dazu auch Klug i.d.B., Siever i.d.B.). Die emotionsbezeichnenden Lexeme „Liebe/ lieben/ geliebt“ finden sich, abgesehen von den Begrüßungs- und Abschiedsformeln „Lieber X“, „Liebe X“ und „Liebe Grüße“, nur drei Mal, wenn von „wahre Liebe“, „Liebe und Dankbarkeit“, „ich liebe meinen Mann abgöttisch“ die Rede ist; zur Charakterisierung der Beziehung wird es lediglich vier Mal verwendet: „meine liebe Tochter“, „eine sehr liebe Bekanntschaft“, „geliebter Ehemann“, „geliebte Mutter“. 2. Sinn der Ereignisse Den Nachtod-Kontakten, Wahrträumen und Präkognitionen wird von den Betroffenen ein Sinn beigemessen, beispielsweise eine Warnung (vgl. hierzu besonders Kapitel 6.1), Verabschiedung oder Trost (vgl. hierzu besonders Ka‐ pitel 6.3). Auch dies deutet auf eine tiefe Bindung zwischen den Personen hin. Bei den Nachtod-Kontakten kommt hinzu, dass dieser die durch den Tod einer Person abrupt zerrissenen Bindungen nach Empfindung der Betroffenen wiederherstellt (im Detail hierzu Kapitel 6.3). Auch dieser Befund, dass Betrof‐ fene dem Kontakt mit Verstorbenen einen Sinn bzw. eine Funktion beimessen, entspricht dem von Elsaesser et al. (2022: 47-49). 3. Ambivalenz der Gefühle Die auftretenden Phänomene lösen ambivalente Gefühle bei den Betroffenen aus. In allen Schilderungen werden Gefühle gegenüber den geliebten Personen auf vielfache Weise zum Ausdruck gebracht: Unbehagen, Angst und Sorge, Zweifel, Panik, aber auch das Gefühl, einen Schutzengel zu haben sowie die Dankbarkeit für das Fortleben einer seelischen Verbindung nach dem Tod. Die Ambivalenz entsteht aus dem komplexen Zusammenspiel der Gefühle a) gegenüber der geliebten Person, b) den Gefühlen gegenüber den auftretenden anomalen Phänomenen sowie c) den Gefühlen, die sich in der individuellen Nachbearbeitung der Erfahrungen ergeben (z. B. Angst vor der Anomalie bei gleichzeitigem Trost und Angst über die Phänomene zu sprechen). 4. Mitteilungsbedürfnis vs. Tabu Die Kommunikation über außergewöhnliche Erfahrungen erhält einen beson‐ deren Stellenwert bezogen auf die Hürde, die ein Mensch nehmen muss, um 142 Lisa Rhein <?page no="143"?> über diese zu sprechen. Die Texte stehen in einem einzigartigen Spannungsfeld zwischen dem Wissen um das Tabu (inklusive eigener negativer Erfahrungen bei erfolgten Mitteilungsversuchen) einerseits und dem Bedürfnis, sich mitzuteilen, also dem Tabubruch andererseits. Dass der innere Drang, über die Ereignisse sprechen und schreiben zu müssen, mit dem gesellschaftlichen Tabu konfligiert, zeigt sich in den Briefen und E-Mails sehr deutlich: Ich habe dieses Erlebnis gehabt! Ich möchte es am liebsten hinausschreien, allen Menschen sagen, aber ich weiß genau, es hat keinen Zweck, man würde es mir nicht glauben. Aber es beweist doch, daß es ein Leben nach dem leiblichen Tod gibt! ! Ich getraue mich nicht über dieses Erlebnis zu sprechen, nicht mit meinem Mann, nicht mit meiner Tochter, nur meinem Sohn habe ich mich anvertraut. […] Er sagte: „Ja Mama ich glaub es dir, aber das war nur für dich bestimmt, sprich nicht darüber.“ (Bw, 25.11.1997) Wie ich schon sagte, darf dieses Thema bei uns nicht auf den Tisch. Somit rede ich schon mal mit meiner Freundin darüber, die der Sache aber auch sehr skeptisch gegenüber steht, weil sie teils an solche Sachen nicht glaubt, jedoch sagt, daß es sicherlich das Eine oder Andere Unerklärliche gibt. Jedenfalls verunsichern mich solche Begebenheiten und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich hoffe auf einen Rat von Ihnen. Leider getraue ich mich nicht, meinem Mann zu sagen, daß ich Sie angeschrieben habe. (Bw, 14.01.1994) Beide Beispielbriefe zeugen von dem angesprochenen Mitteilungsdrang, der auch daher rührt, dass die Betroffenen zu einer neuen Erkenntnis über das Leben nach dem Tod gelangt sind. Dieses Mitteilungsbedürfnis wird extern blockiert („sprich nicht darüber“, „darf dieses Thema bei uns nicht auf den Tisch“), was aus Angst vor gesellschaftlichen Konsequenzen zu einer Hemmung der Betroffenen führt („Ich getraue mich nicht“). Die eigenen negativen Emotionen sowie die Ängste/ Sorgen um eine ge‐ liebte Person sind wohl der größte Antrieb dafür, das Schweigen zu brechen. Die Hürde, über solche Phänomene zu sprechen, wird offenbar durch Zeit‐ schriften-/ TV-Beiträge der Mitarbeitenden der PPB gemildert. Denn auf diese Berichte wird in den Texten oftmals einleitend Bezug genommen (und ist häufigster genannter Schreibanlass; vgl. Zahradnik 2007: 58), z. B. in Formulie‐ rungen wie: „ich habe Ihre Adresse im RTL-Fernsetext durch Zufall gelesen und hoffe, daß Sie mir weiterhelfen können.“ (Bw, 18.07.1997), „Ich habe Ihre Anschrift in der Illustrierte „Mädchen“ entdeckt. Ich weiß nicht, ob Sie mir helfen können, aber ich hoffe es sehr.“ (Bw, 23.05.1991). Die Liebe, der Tod und das Übernatürliche 143 <?page no="144"?> 5. Angst vor Stigmatisierung Die zuvor in Punkt 4 genannten Erfahrungen und die Spannung zwischen Mitteilungsdrang und Tabu werden intensiviert durch eine Angst vor gesell‐ schaftlicher Stigmatisierung, ausgelöst durch das existierende Tabu. Diese Angst wird in den Briefen und E-Mails vielfach angesprochen, oft auch nur implizit, z. B. in der Bitte, das Geschilderte ernst zu nehmen. Appelle wie „bitte halten sie mich nicht für verrückt“ (Mw, 20.12.2012) finden sich häufig einleitend oder ausleitend in den Briefen, ebenso Versicherungen darüber, dass man als Verfasser: in „normal“ sei: „ich erwarte mir keine Antwort, aber es hat mir gutgetan, dass ich das jemanden erzählen konnte, denn man wird für verrückt und ‚spinnert‘ gehalten und nicht ganz dicht im Oberstübchen“ (Bw, 14.10.2005). Diese Angst vor Stigmatisierung bzw. bereits erfahrener Ausgrenzung auf‐ grund erster Kommunikationsversuche im Familien-, Freundes- oder Bekann‐ tenkreis führen dazu, dass Betroffene ihre Kommunikationspartner: innen sorg‐ fältig(er) auswählen und vorsichtig(er) formulieren. Daher nehmen sie das Beratungs- und Gesprächsangebot der PPB dankend an: Gott sei Dank gibe es Menschen [hier sind die Mitarbeitenden der PPB gemeint, LR], die einem Glauben schenken wenn man über seltsame Phänomene berichtet, die einem widerfahren. Auch mir passieren seit dem Tode meines Mannes seltsame Sachen. Wenn ich davon erzähle, sehe ich oft mitleidiges Lächeln. (Bw, 14.06.2001) Es ist schwe jemand all das mitzuteilen und man zögert natürlich auch, aber ich hoffe Sie können es verstehen. In der Zeitung las ich einen Bericht und bemühte mich so um Ihre Anschrift und war erfreut, mich so Ihnen mitteilen zu können. (Bw, 20.06.1999) Das bloße Sich-Mitteilen verringert offenbar den seelischen Druck und befreit die Betroffenen. Um nun das Gefühlsspektrum um die Basisemotion LIEBE wieder in den Fokus zu rücken, wird im Folgenden im Detail auf die Gefühle, wie sie in den Briefen und E-Mails ausgedrückt und formuliert werden, eingegangen. Hierzu werden die Themenbereiche einzeln betrachtet, da die darin geschilderten Phänomene unterschiedliche Gefühle hervorrufen. 6.1 Wahrträume und Hellsichtigkeit mit dem Fokus auf Tod(esfälle) Präkognitionen und Wahrträume betreffen - soweit in den Texten geschildert - sehr nahestehende, geliebte Personen. Die Verfasser: innen der Briefe und E-Mails charakterisieren die Beziehung zur vom Traum oder der Präkognition beeinflussten Person als von Liebe geprägt und eng: 144 Lisa Rhein <?page no="145"?> Es gab ein starkes Band zwischen mir und meiner Großvater (Bw, 07.01.1992) Meine Oma, zu der ich eine sehr starke emotionale Bindung hatte und immer noch habe ist vor 3 Monaten gestorben. […] Zu Lebzeiten meiner Oma bestand zwischen uns eine Art Telepathie (gedanklich und in ähnlichen Träumen) und natürlich wahre Liebe. (Bw, 12.06.1993) Hier werden die Besonderheit der Beziehung, die Tiefe und Bedingungslosigkeit der Liebe hervorgehoben (vgl. Schwarz-Friesel 2013: 296), und zwar in Form der Metapher (VER)BINDEN, hier mit der Bedeutung ‚emotional miteinander verknüpfen‘ (OWID: verbinden). Aufgrund der Tatsache, dass die Betroffenen bereits Träume hatten, die sich in den nächsten Tagen oder Wochen bis ins kleinste Detail bewahrheitet haben, lösen die Präkognitionen und Wahrträume intensive Ängste um betroffene Personen aus. Dies wird in dieser Form vielfach in den Texten thematisiert: In Krisenzeiten wenn etwas auf meine Oma ein zustürmen drohte, wovon äußerlich nichts zuerkennen war träumte ich von Situationen (ca. ½ Jahr vorher) die so realistisch waren daß sie wenig später auch genauso eintrafen. So war ich immer vorbereitet wenn etwas mit ihr passierte. (Bw, 12.06.1993) Ich (24) habe jetzt solche Angst, daß mein Traum, genau wie bei [Vorname] Wirklich‐ keit werden könnte. (Bw, 23.05.1991). Aufgrund der Vorerfahrungen werden die Träume und Präkognitionen beson‐ ders ernst genommen und lassen das tatsächliche Eintreten des Geträumten erwarten, was zu großen Ängsten, vor allem aber auch Verzweiflung führt. Betroffene äußern oft, plötzlich ein „komisches“ oder „seltsames“ Gefühl in Verbindung mit einer ihnen nahestehenden Person zu haben. Dieses Gefühl stellt sich dann als Vorahnung/ Präkognition heraus, wenn diese Person tatsäch‐ lich krank wird oder einen Unfall hat: Im letzten Jahr waren wir übers Wochenende auf dem Campingplatz, wo wir einen Wohnwagen stehen haben. Mein Ältester ist 19 Jahre und hatte keine Lust mitzufahren, blieb deshalb zu Hause. Es war Samstag und eigentlich wollten wir erst Sonntagabend nach Hause fahren. Den ganzen Morgen über war ich unruhig, hatte ein komisches Gefühl. Nachmittags hielt ich es nicht mehr aus, packte alle Sachen zusammen und erklärte meinem Mann, daß bestimmt ein Unfall passiert wäre. Ich hatte plötzlich große Angst um meinen Sohn. Wir fuhren auch sofort nach Hause, obwohl mein mann es wiedermal für ‚Spinnerei‘ hielt. Zu Hause angekommen, erfuhren wir von meinem Sohn, daß er einen Unfall mit dem Auto hatte. Zum Glück ist ihm nichts geschehen, aber der Wagen hatte großen Blechschaden erlitten. (Bw, 14.01.1994) Die Liebe, der Tod und das Übernatürliche 145 <?page no="146"?> Da dieses „Gefühl“ richtig gedeutet wurde und die Betroffene davon ausgeht, hellsichtig zu sein, führt ein späterer Traum zu großen Ängsten, da es darin um das Verschwinden ihrer Tochter geht. Im Traum wurde die Tochter entführt und verletzt: Vor ca. 2 ½ Jahren träumte ich, daß unsere Jüngste Tochter, heute 12 Jahre, ver‐ schwand. Sie kam nicht nach Hause und wir suchten sie überall. […] Seitdem habe ich Angst meine Tochter irgendwohin zu lassen. Die Angst, es könnte wahr werden, so wie einige andere Träume, schnürt mir bald die Kehle zu. (Bw, 14.01.1994) Die Betroffene beschreibt ihre Angst-Gefühle, indem sie ihre körperlichen Empfindungen verbalisiert. Der Ausdruck des Kehle-Zuschnürens als typisches Angstsymptom verweist auf ein drohendes Ersticken, ist ein Kinegramm für die körperliche und seelische Qual, die durch Angst um die Tochter ausgelöst wird. Personen, die bereits (häufiger) Wahrträume hatten, wenden sich verzweifelt und hilfesuchend an die PPB, wenn ihre Warnungen von der geliebten Person nicht gehört werden, sodass sie befürchten, dass sich auch dieser Traum bewahrheitet und so unweigerlich zum Tod des geliebten Menschen führt, weil die Personen ihr Verhalten aufgrund der Warnungen nicht verändern: Jetzt habe ich aber schon dreimal geträumt, daß ein Junge, den ich sehr gern habe von einem Auto angefahren wird und stirbt. […] Ich habe jetzt solche Angst, daß es wirklich passiert. Was soll ich jetzt machen? Bitte helfen sie mir! (Bw, 16.05.1991) Seit dem [Datum] bin ich jetzt mit [Vorname] befreundet. Letztes Jahr träumte ich er hätte einen Motorradunfall und sah ihn auf der Straße liegen. Jetzt hat er sich ein Motorrad gekauft. Er hört nicht auf mein Bitten und Flehen, die Maschine zu verkaufen. Ich (24) habe jetzt solche Angst, daß mein Traum, genau wie bei [Vorname] Wirklichkeit werden könnte. Ich hoffe Sie nehmen meinen Brief ernst. […] Bitte helfen Sie mir, diese Angst macht mich noch wahnsinnig! (Bw, 23.05.1991) Die Sorge um eine geliebte Person wird als solche nicht genannt, sondern indirekt in der Angst, dass der Traum wahr werden könnte. Die Texte zeugen von Verzweiflung („solche Angst“, „was soll ich jetzt machen? “, „Bitten und Flehen“, „diese Angst macht mich noch wahnsinnig! “) und Hilflosigkeit („Bitte helfen Sie mir! “). In Texten dieses Themenbereichs dominieren Gefühle der Sorge und der Angst, die sich bis hin zur Panik steigern können. Aufgrund der eigenen Hilflosigkeit, das Verhalten der anderen Person und damit die vermeintlich feststehende Zukunft zu verändern, schließt sich das Gefühl der Verzweiflung an, die die Betroffenen bisweilen körperlich und seelisch lähmt. 146 Lisa Rhein <?page no="147"?> 6.2 „Zeichen aus dem Jenseits“: physikalische Anomalien Kurz vor, während oder nach einem Todesfall auftretende Phänomene wie beispielsweise plötzlich anhaltende oder in anomaler Weise tickende Uhren, herabfallende Bilder, Kälteempfindungen, Poltern werden von Betroffenen in den Texten häufig als Zeichen aus dem Jenseits interpretiert - wenngleich bei dieser Interpretation gleichzeitig eine gewisse Verunsicherung und Zweifel bestehen können: als meine oma gestorben ist gab es danach lauter merkwürdiger dinge in unserem haus schritte, stimmen … schränke gingen auf … doch nicht nur nach dem tot meiner oma war das so auch nach dem tot von ihrem mann oder sohn in diesem haus … danach passierten diese ereignisse wieder und keiner glaubt mir (Mw, 20.12.2012) Die Betroffene führt die physikalischen Anomalien auf die Todesfälle zurück, ist sich offenbar des Zusammenhangs sicher, wird aber nicht von ihrem Umfeld in ihrer Deutung unterstützt. Insbesondere das Stehenbleiben von Uhren wird vielfach in Zusammenhang mit dem Tod einer geliebten Person in Verbindung gebracht: Mein Vater starb im [Datum], vormittags etwa 9.30 Uhr. Noch am Vormittag fuhr ich mit dem Fahrrad in den Nachbarort, um den Geschwistern meines Vaters die Nachricht von seinem Tod zu überbringen. Die älteste Schwester machte sich zu Fuß auf den acht Kilometer langen weg in mein Elternhaus. Sie fragte meine Mutter, wann genau der Vater gestorben sei. Ihre Wanduhr sei um halb zehn Uhr stehen geblieben. (Bm, 11.02.2002) Ein solches Korrelieren des Ablaufens der Lebenszeit mit Uhren ist ein gängiges Motiv, das Stehenbleiben der Uhr wird als Zeichen des Todes interpretiert. Zeichen und deren Interpretation betreffen aber noch zwei weitere Ebenen, nämlich a) das Einfordern von Zeichen, wie sie im Rahmen der Nachtod-Kon‐ takte auftreten (s. dazu 6.3), und b) den Versuch der Kontaktaufnahme mit Verstorbenen über Rituale, Medien oder Gebete: da ich nun weiß das es etwas gibt was wir uns nicht erklären können dachte ich es gibt auch so eine art ritul mit dem sie zu mir kommt und das ich merken dann das sie im raum ist … ich weiß sehen kann ich sie nicht aber ich wil halt merken das sie da ist will ihr alles sagen. gibt es dafür ein ritual? (Mw, 20.12.2012) Die Betroffene möchte Kontakt zu ihrer verstorbenen Großmutter aufnehmen, um sich auszusöhnen und die Bindung wiederherzustellen, da es zu Lebzeiten Konflikte gab. Die Betroffene äußert das Bedürfnis, sich Dinge von der Seele zu Die Liebe, der Tod und das Übernatürliche 147 <?page no="148"?> reden und sich zu entschuldigen. Die E-Mail lässt damit nicht nur Trauer, son‐ dern auch Bedauern, Sehnsucht und den Wunsch nach Versöhnung erkennen. Auftretende physikalische Anomalien werden als Warnungen, als Ankündi‐ gungen von Todesfällen oder als Folge des Todes einer geliebten Person, die diese Zeichen aus dem Jenseits sendet, interpretiert. Die Phänomene lassen in der Interpretation der Betroffenen die Grenze zwischen der Lebens- und Totenwelt verschwimmen, diese wird durchlässig, sodass ein Kontakt zwischen den zu Lebzeiten eng verbundenen Menschen weiterhin möglich ist. 6.3 Nachtod-Kontakte Diese Durchlässigkeit der Grenze zwischen Leben und Tod ist grundlegend für das Auftreten von Nachtod-Kontakten. Durch sie wird die gefühlte Beziehung von beiden Seiten (also von den Lebenden und den Verstorbenen; Elsaesser et al. 2022: 49) aufrechterhalten. Der Kontakt reißt demnach nicht komplett ab, sondern es bleibt Zeit für die Verarbeitung und Verabschiedung etc. Der Fokus liegt zwar auf den Gefühlen, die der Kontakt mit den Verstor‐ benen bei den Betroffenen ausgelöst hat, dennoch soll kurz auf Gefühle Bezug genommen werden, wie sie von den Betroffenen gegenüber den NTK geäußert werden. Dies dient auch dazu, die Ambivalenz der Gefühle aufzuzeigen, die daraus entsteht, dass Betroffene den (neu entstandenen) Kontakt zur verstor‐ benen Person zwar positiv bewerten - das Auftreten des Kontakts selbst, die Anomalie an sich wird jedoch in vielen Fällen als beängstigend und/ oder beunruhigend empfunden: Irgendwie ist es so, daß ER mir auf diese Weise noch erhalten geblieben ist, obwohl ich so Panik davor [seinem Erscheinen, LR] habe. Ich möchte meinem Vater als von mir geliebtem Menschen in meinem Herzen behalten. (Bw, 23.02.1996) In Bezug auf das Auftreten eines NTK berichten Betroffene von vielfältigen Gefühlen, die sich zwischen Angst/ Panik und Freude auffächern: Angst und Panik: „Seit dieser Zeit habe ich große Angst, wenn ich alleine bin. […] Ich weiß zwar daß ich eigentlich keine Angst haben sollte, doch das schaffe ich nicht“ (Bw, 23.02.1996); „Ich geriet in Panik und sprang lautschreiend aus dem Bett“ (Bw, 21.12.1998). Unruhe: emotionale Kategorie: „Mir sind nach dem Tod meines Ehemannes im Mai 1989 auch merkwürdige bzw. unheimliche Dinge passiert, die ich mir nicht erklären kann. […] Mir war ganz unheimlich zumute“ (Bw, 24.01.1996). 148 Lisa Rhein <?page no="149"?> Unsicherheit: epistemische Kategorie: „Was soll mir dieses Bild sagen […] Ist es eine Botschaft an mich von meinem Vater? Sagt es irgendwas aus oder besagt es nichts? “ (Bw, 18.07.1997); „Jetzt weiß ich nicht was ich davon halten soll“ (Bw, 05.06.1992). Zweifel: Glaube daran, „dass meine Tochter mir schon viele Zeichen über‐ bracht hat, doch habe ich dann leider auch immer wieder diese Zweifel“ (Bw, 06.12.1999). Freude: „Es gibt unterschiedliche Meinungen. Die einen sagen, ich solle diese Träume dankbar annehmen und mich freuen, über den Tod hinaus Kontakt mit meinem Mann zu haben. Die anderen sagen, ich müsse den Kontakt abbrechen und meinem Mann ins Licht schicken, damit seine Seele Ruhe findet. […] Ich möchte noch betonen, dass mich diese Träume sehr froh machen und ich glaube, meinen Mann auch.“ (Bw, 27.10.2004). - „Ein froher Schrecken durchfuhr mich, ich wußte sofort, das war unser [Enkel]“ (Bw, 28.08.1995). Wie die zitierten Beispiele bereits andeuten, hängen die Gefühle gegenüber dem NTK mit dem interpretierten Sinn der Kontakte eng zusammen bzw. beeinflussen sich gegenseitig. Die negativen Gefühle treten vor allem dann auf, wenn die erlebten Phänomene nicht als Kontaktaufnahme gedeutet werden. Werden sie als eine solche interpretiert, sind die damit verbundenen Gefühle eher positiv. Es gibt aber auch Fälle, in denen ganz konkrete Botschaften von den Verstor‐ benen an die Erlebenden übermittelt werden und damit auch den Kern der Erfahrung ausmachen: in dieser Nacht sag ich eine Frau, die meiner Mutti sehr ähnelte, erst dachte ich, ich träume. Sie streichelte mich und ich wehrte mich dagegen, dann hörte ich genau ihre Stimme: Hab keine Angst, alles wird wieder gut und in Ordnung, komm drück mich doch, komm bitte und da drückte ich Sie fest und innig und plötzlich war Sie weg. (Bw, 20.06.1999) Die Stimme sagte: „[Vorname] sei still sei ruhig wein nicht mehr. Es hat mich förmlich zurückgerissen, aber ich war überhaupt nicht erschrocken oder entsetzt, denn das war die Stimme meiner Mutter, aber nicht als alte Frau, sondern als junge Frau in ihren besten Jahren. Ich hatte den Klang dieser Stimme überhaupt nicht mehr in meinem Gedächtnis. Ich habe ganz spontan geantwortet ich habe es hinausgeschrien: „Aber es tut doch so weh, so schrecklich weh! “ Daraufhin hat dieselbe Stimme geantwortet ruhig und erhaben: „Ich weiß es aber sei still sei ruhig wein nicht mehr.“ […] Ich habe Die Liebe, der Tod und das Übernatürliche 149 <?page no="150"?> aber nie wieder diesen Trennungsschmerz empfunden, meine Mutter lebt ja, sie ist irgendwie bei mir und sie will nicht, daß ich weine. (Bw, 25.11.1997) Das letzte Beispiel drückt durch die Schilderung des Hinausschreiens sowie der Schmerzen Verzweiflung, Druck und damit eine starke emotionale Belastung aus. Hinzu kommt, dass die Erscheinung auf die von der Tochter ausgedrückten Schmerzen sozusagen ‚reagiert‘. Beide Beispiele verweisen darauf, dass der Interpretation der Betroffenen gemäß die Verstorbenen das Leid der lebenden Angehörigen/ Freund: innen bewusst lindern und damit auch sich selbst befreien wollen (vgl. Elsaesser et al. 2022: 49). Die eingeforderte Umarmung im ersten Beispiel erfordert zwei Menschen und die Verstorbene verschwindet erst, nachdem die Betroffene sie „fest und innig“ gedrückt hat. Im zweiten Beispiel folgt die Betroffene der Aufforderung ihrer verstorbenen Mutter, nicht mehr zu weinen, weil diese es nicht mehr „will“ und weil die Betroffene sich durch den NTK sicher ist, dass die Mutter „lebt“ und „irgendwie“ noch immer präsent ist. Auch in Bezug auf die Verstorbenen beschreiben die Betroffenen in ihren Briefen und E-Mails komplexe Gefühle. Dies ergibt sich - wie bereits gesagt - zum einen aus dem Zusammenspiel zwischen den Gefühlen gegenüber der NTK und der verstorbenen Person, zum anderen aus dem Changieren der Gefühle zur Bezugsperson vor und nach dem NTK. In den meisten Berichten wird zunächst die Beziehung zwischen den Betroffenen und den Verstorbenen charakterisiert; dies kann in aller Kürze durch eine Attribuierung mittels „geliebte“/ „geliebter“, Relativsätze oder Beziehungsbeschreibungen geschehen: • „Meine geliebte Mutter“ (Bw, 25.11.1997), • „mein geliebter Ehemann“ (Bw, 27.10.2004), • „Tante […] die ich sehr liebte“ (Bw, 20.06.1995), • „Ich hatte sehr enge, gute Beziehung zu Ihr [Mutter, LR]“ (Bw, 12.06.1999), • „ZU meiner vor 11 Jahren verstorbenen Mutter hatte ich ein lebenslanges inniges Verhältnis“ (Bw, 30.11.2005), • „Wir waren 44 Jahre verheiratet und ich liebe meinen Mann abgöttisch“ (Bw, 14.06.2001), • „Der Hund war mein ein und alles und wir hatten ein ganz besonderes Verhältnis zueinander. Er ist im Mai gestorben und ich komme über seinen Tod einfach nicht hinweg.“ (Bw, 21.12.1998), • „Mein Verhältnis zu meinem Vater war etwas ganz Besonderes. Ich habe ihn geliebt, er war für mich Vorbild, Freund, Vertrauter und der allerbeste Vater, den ich mir nur wünschen konnte. Er hatte immer für mich Zeit und hat 150 Lisa Rhein <?page no="151"?> mich immer spüren lassen, daß ich ihm wichtig bin, und daß er mich liebt.“ (Bw, 23.02.1996). Die Betroffenen stellen in allen Fällen die positive Beziehung und häufig die Besonderheit der Verbindung heraus: Diese ist sehr eng, innig, besonders, es wird abgöttisch geliebt. Dies kann aber nicht als Indikator für das Auftreten der NTK gewertet werden (vgl. Elsaesser et al. 2022: 53-55). Betrachtet man nun die Schilderungen und geäußerten Gefühle vor dem Auftreten des NTK, fallen vor allem die Nennung bzw. der Ausdruck von Trauer, Kummer und Leid in Bezug auf die verstorbene Person ins Auge: Nachdem mein Vater im Jahre 1992 mit 56 Jahren an Krebs starb litt ich sehr darunter. […] Kurz nach dem Tod meines Vaters habe ich oft versucht ihn herbeizurufen oder wünschte mir, er möge sich irgendwie bei mir melden. In dieser Zeit war ich sehr traurig und verbrachte viel Zeit auf dem Friedhof. (Bw, 18.07.1997); Es fing an als ich 13 Jahre war und als meine Tante starb die sich sehr liebte. Ich konnte damals nur schwer verkraften das sie tot war. Ich weinte mich ständig im Schlaf und wachte Nacht wieder auf. (Bw, 20.06.1995); Meine geliebte Mutter ist 1977 an einer Lungenembolie mit 70 Jahren plötzlich gestorben. Für mich brach eine Welt zusammen ich habe schrecklich darunter gelitten. (Bw, 25.11.1997); ich muß sagen das mich Ihr Tod sehr betroffen hat und ich hatte das Gefühl, als hätte Sie all meine Gefühle mitgenommen, die ich allmählich wieder zurück gewinne. (Bw, 12.06.1999). Die Betroffenen sind vor den NTK in Trauer und Trauerarbeit gefangen, sie leiden unter dem Verlust der verstorbenen Person. Tritt ein NTK während dieser Trauerphase auf, können NTK den Kummer lindern und Trost spenden: Betrof‐ fene berichten, dass die Träume „sehr tröstlich, keinesfalls beängstigend [sind] und […] mir in meiner Trauerarbeit sehr geholfen [haben]“ (Bw, 27.10.2004) und dass sie sich durch den Kontakt „ganz ruhig und zufrieden und […] nicht alleine“ (Bw, 09.12.1993) fühlen. Die NTK führen so dazu, dass die Betroffenen die Beziehung zur verstorbenen Person als intakt empfinden, von einer wieder‐ erlangten Verbindung schreiben und sich froh darüber äußern, dass die Bindung über den Tod hinaus aufrechterhalten werden kann: ich weiß das ich mit meinem Sohn verbunden bin bis in alle Ewigkeit, bin wieder mit Körper ,Geist und Seele im Einklang (Bw, 16.11.2012); Ich bin jetzt überzeugt davon, dass er bzw. seine Seele lebt. (Bw, 27.10.2004), Die Liebe, der Tod und das Übernatürliche 151 <?page no="152"?> Gefühl, mein Mann nimmt aus dem Jenseits an meinem Leben teil (Bw, 14.06.2001). Es gibt aber auch Fälle, in denen sich die Gefühle in Bezug auf die verstorbene Person durch die NTK zum Negativen wenden. Betroffene berichten von Schuld‐ gefühlen, weil sie aus ihrer Sicht nicht angemessen auf die Kontaktaufnahme reagiert haben, z. B. aus Unsicherheit oder Angst: „Mir ist, als hätte ich meine Mutter verraten“ (Bw, 08.09.1994), was dazu führt, dass die Betroffene sich Vorwürfe macht. Betroffene berichten aber auch davon, dass sie während des NTK Dinge gesehen und/ oder gehört haben, die zu Sorgen und Angst um die verstorbene Person führen: So ist eine Betroffene „zutiefst erschrocken und beunruhigt“ und überlegt in ihrer Überzeugung, dass es der verstorbenen Person schlecht geht, wie sie „ihm helfen kann usw.“ (Bw, 24.06.2003). 7 Fazit Liebe und Angst sind Basisemotionen, die eng miteinander verknüpft sind. Wer liebt, macht sich aufgrund der Unvermeidbarkeit des Todes unweigerlich Sorgen um geliebte Menschen. In den untersuchten Texten zeigt sich dies zum einen an einem großen Spektrum an Gefühlen basierend auf den Emotionen Liebe und Angst (um einen Menschen). Zum anderen lassen sich verschiedene Gefühle in Bezug auf das Auftreten der Anomalien identifizieren. Die Kombination der beiden Spektren macht die Komplexität und große Ambivalenz der Gefühle aus, zwischen denen die Betroffenen oszillieren und die in den Texten verschriftlicht werden. Liebe ist dabei die Ausgangsemotion, die Ursache für alle anderen Emotionen und Gefühle ist. Beim Niederschreiben der Erlebnisse ringen die Verfasser: innen mit der Sprache: Das Gefühlte und Erlebte soll angemessen formuliert sein, die Ereig‐ nisse werden in eine Chronologie gebracht, interpretiert und für antizipierte Rezipierende aufbereitet. Dass damit Identitätsarbeit verbunden ist, zeigt die Vielzahl an selbstreflexiven und selbstvergewissernden Formulierungen wie „ich bin nicht verrückt“ usw. Zudem wird deutlich, dass sich die Betroffenen eine Last von der Seele schreiben, die Texte sind höchst individuell und folgen nur in Teilen Textsortenmustern wie einem Bericht; tendenziell sind sie konzeptionell mündlich verfasst und enthalten narrative Brüche. Gleichwohl wurde bisher nur eine geringe Anzahl an Texten analysiert, daher müssen die Befunde großflächig anhand eines größeren Textkorpus geprüft werden. 152 Lisa Rhein <?page no="153"?> Bibliografie Antos, Gerd (2008). Schriftliche Textproduktion: Formulieren als Problemlösen. In: Janich, Nina (Hrsg.) Textlinguistik. 15 Einführungen. Tübingen, 237-254. Bauer, Eberhard (2010). Fanny Mosers „Spuk“. Sondierungen und Rekonstruktionen an drei historischen RSPK-Fallberichten. Zeitschrift für Anomalistik 10, 322-346. Bergmann, Jörg/ Peräkylä, Anssi (2021). Traumdarstellungen als Narratoid. Epistemische Sprünge bei der Wiedergabe von Träumen. In: Weidner, Beate/ König, Katharina/ Imo, Wolfgang/ Wegner, Lars (Hrsg.) 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Dies erfolgt unter anderem anhand der Hochzeitsvideos auf YouTube, die in letzter Zeit an Popularität gewinnen, in sprachwissenschaftlichen Studien jedoch bis dato unterrepräsentiert waren. Ziel des Beitrags ist es, anhand ausgewählter You‐ Tube-Hochzeitsvideos von deutschen Influencerinnen aus textlinguistischer und multimodaler Perspektive zu untersuchen, wie - d. h. mittels welcher sprachlichen Mittel und anderen Zeichenmodalitäten - die Emotion Liebe in solchen Videos ausgedrückt wird. Zudem soll der Frage nachgegangen werden, ob es sich in Hochzeitsvideos um wahre Liebe oder nur um eine Inszenierung der Liebe zum Zweck des Selbstmarketings handelt. Keywords: Hochzeitsvideo, YouTube, Lifestyle-Influencer: innen, Authenti‐ zität, Multimodalität, Ausdruck der Liebe, Selbstmarketing, parasoziale Be‐ ziehung 1 Einleitung Glamouröses Brautkleid, atemberaubende Location, prominente Gäste, große Pub‐ licity und vor allem viel Liebe - das alles verbinden wir mit Hochzeiten von <?page no="158"?> 1 Vgl. Angaben des Statistischen Bundesamtes, Wiesbaden, für den Zeitraum zwischen 2013 und 2018 sowie 2022 (die Zeit der Corona-Pandemie wurde mit Absicht nicht mitberücksichtigt). https: / / www-genesis.destatis.de/ genesis/ online (Stand: 30.09.2023). 2 Die Begriffe Emotion und Gefühl werden in diesem Beitrag synonym verwendet. Lifestyle-Influencer: innen. Heiraten ist heute wieder in Mode 1 , deshalb verwundert es nicht, dass sich für diese Art der Liebesbestätigung auch viele Social Media-Stars entscheiden. Diese teilen die Einblicke in ihren Hochzeitstag - ähnlich wie andere Inhalte zu ihrem Alltag und Lebensstil - mit der virtuellen Öffentlichkeit nicht selten in Form von Texten, Bildern und Videos in ihren persönlichen Blogs oder in sozialen Netzwerken wie Facebook, Instagram und YouTube. Diese Kommunika‐ tionsangebote werden in der Regel möglichst sorgfältig und ästhetisch gestaltet, um in der heutigen „Zeichenüberflutung“ (Klemm 2017: 7) aus der Menge anderer Kom‐ munikationsangebote zum Thema Hochzeit herauszustechen, die Follower: innen bzw. Abonnent: innen bei der Planung der eigenen Hochzeit zu inspirieren und eine Vielzahl von Likes und positiv bewertenden Kommentaren zu erhalten. Dabei sollen der Hochzeitstag und die Liebe zwischen den Partner: innen so glaubwürdig und authentisch wie möglich dargestellt werden, um das Vertrauen der Follower: innen zu gewinnen, die Reichweite zu erhöhen und eine möglichst große Community aufzubauen (vgl. Waldhoff/ Vollmar 2019). Der vorliegende Beitrag widmet sich dem Kommunikationsangebot Hoch‐ zeitsvideo von deutschen Influencer: innen, das in sprachwissenschaftlichen Studien bisher kaum Beachtung fand. Nach einer einleitenden Auseinanderset‐ zung mit Influencer: innen als neuen sozialen Akteur: innen im digitalen Zeitalter sowie mit dem Kommunikationsangebot Video soll am Beispiel ausgewählter YouTube-Hochzeitsvideos untersucht werden, welche kommunikativen Bedin‐ gungen solche Videos aufweisen und wie - d. h. anhand welcher sprachlicher Mittel und anderer Zeichenmodalitäten - die Emotion 2 Liebe in Hochzeitsvi‐ deos zum Ausdruck gebracht wird. Darüber hinaus soll im Beitrag der Frage nachgegangen werden, ob und warum die Darstellung der Liebe in den Videos glaubwürdig und authentisch ist und inwiefern die Funktion Liebe zeigen im Dienste der Marketingfunktion steht. 2 Neue Akteur: innen im digitalen Zeitalter: Life Style-Influencer: innen In den Zeiten des Web 2.0 hat sich die Kommunikation maßgeblich verändert: Die Entwicklung sozialer Netzwerke und verschiedener digitaler Plattformen wie etwa YouTube hat dazu beigetragen, dass heutzutage „jeder durchschnittlich befähigte Nutzer […] aktiv an der Informations- und Meinungsverbreitung teilnehmen kann“ 158 Tanja Škerlavaj <?page no="159"?> 3 In Anlehnung an Bucher/ Gloning/ Lehnen (2010: 19), die eine hierarchische Ordnung der Medienkommunikation vorschlagen und zwischen Mediengattungen (z. B. Print‐ medien, Fernsehen, Internet usw.), Medienformaten (z. B. Tageszeitung, Fachzeitschrift, Weblog, Podcast usw.) und Kommunikationsbzw. Darstellungsformen (z. B. Bericht, Magazingeschichte, Instagram-Posting usw.) unterscheiden, wird unter einer mehr‐ medialen Ansprache der Fans eine Ansprache über verschiedene Mediengattungen wie Internet und Fernsehen, aber auch innerhalb der Gattung Internet - etwa über verschiedene soziale Netzwerke und persönliche Blogs - verstanden. (Androutsopoulos 2010: 421) und es haben sich neue soziale Akteur: innen wie Blogger: innen, Vlogger: innen und Lifestyle-Influencer: innen entwickelt. Im Fall Letzterer handelt es sich um Personen, die „sehr aktiv auf Sozialen Netzwerken wie Instagram, Facebook, Snapchat, Twitter, YouTube unterwegs sind, und mit ihrem Content, den sie in Form von Videos, Bildern und Texten zu ihrem Alltag und Lebensstil erstellen, eine hohe Reichweite erzielen“ (Waldhoff/ Vollmar 2019: 3). Ihre Rolle besteht darin, die Internet-User: innen in ihrem Lebensstil, aber auch in ihren Kaufentscheidungen zu beeinflussen - man kann sie auch als digitale Meinungsführer: innen bezeichnen (vgl. Interview Duckwitz 2022). Mit den Posts und Videos, die sie mit ihrer Community teilen, wollen sie in der Regel eine Einkom‐ mensquelle erschließen und Karriere machen, was mit der Anzahl der Follower: innen bzw. Abonnent: innen eng zusammenhängt. Influencer: innen konzentrieren sich in der Regel auf einen bestimmten Themenbereich wie Mode, Lifestyle, Reisen, Food und/ oder Fitness und sprechen jeweils unterschiedliche Zielgruppen an. Sie agieren oft als Vorbilder für ihre Follower: innen: Zwischen den Influencer: innen und den Follower: innen entsteht meist eine sogenannte parasoziale Beziehung, wobei es sich um eine emotionale Bindung, eine einseitige Freundschaft zwischen den Follower: innen und den Influencer: innen handelt. Dabei werden die Influencer: innen als reale Freund: innen wahrgenommen, obwohl sie die Follower: innen kaum oder gar nicht kennen. Hinzu kommt, dass Influencer: innen meist eine „gewisse soziale Nähe zu den ihnen folgenden Menschen haben: Sie sind ihnen in bestimmten Eigenschaften ähnlich und agieren daher als Vorbild“ (vgl. Interview Duckwitz 2022). Die Tatsache, dass Influencer: innen bei ihren Follower: innen hohes Ansehen genießen, machen sich oft Unternehmen zu Nutze, um diese zu Marketingzwe‐ cken für sich zu gewinnen und werben zu lassen. Über Bilder bestimmter Produkte, die von Influencer: innen genutzt werden, über verschiedene direkte oder indirekte Bewertungsvideos (Styling-Tutorials, Tops und Flops o.ä.), so‐ dann über eine mehrmediale Ansprache der Fans (z. B. über verschiedene soziale Netzwerke, persönliche Blogs oder etwa eigene TV-Sendungen) 3 sowie über die Verwendung von Hyperlinks und Hashtags gelingt es den Influencer: innen, Marken und Produkte einem größeren Publikum bekannt zu machen, was auch mit dem Begriff „Electronic Word of Mouth“ (eWoM), also als digitale Mund True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? 159 <?page no="160"?> zu Mund-Propaganda bezeichnet werden kann. Influencer: innen sind „Brand Ambassador“ und stehen als aktive Werbebotschafter: innen für die Marke bzw. das Produkt (vgl. Waldhoff/ Vollmar 2019: 4). Dabei hängt ihre Effektivität von ihrer Popularität, aber auch von ihrer Glaubwürdigkeit und Authentizität ab.- Während die Glaubwürdigkeit der Aussagen von Influencer: innen vor allem mit den Faktoren Kompetenz und Expertise, Vertrauenswürdigkeit, Fairness und Objektivität zusammenhängt (vgl. Waldhoff/ Vollmar 2019: 12), kommt deren Au‐ thentizität vor allem in den „menschlichen“ Komponenten wie etwa Freundlichkeit und Zugewandtheit zum Ausdruck (vgl. Gleich 2019: 253). Ebenfalls stellen sich Influencer: innen als authentisch dar, wenn sie in ihren Posts und Videos Emotionen zeigen oder ihren Fans einen Einblick in ihr Privatleben geben (vgl. Interview Duckwitz 2022). Die Follower: innen können nämlich sehr gut zwischen der privaten und beruflichen Rolle von Influencer: innen unterscheiden: Sie gestehen es ihnen zu, dass sie sich aufgrund ihrer Professionalität in gewissem Maße inszenieren müssen. Aber dadurch, dass sie neben Produktplatzierung und Werbung gleichzeitig viel aus ihrem Alltag zeigen - mal ungeschminkt, mal mit Freunden oder Familienmitgliedern - führt das über einen längeren Zeitraum hinweg zu einer gewissen inhaltlichen Konsistenz und damit zu einer wahrgenommenen Authentizität. (Interview Duckwitz 2022) Vor dem Hintergrund des Strebens nach Authentizität verwundert es nicht, dass Influencer: innen einen so wichtigen Tag wie ihren Hochzeitstag für ihre Community festhalten und ihre Fans an ihrem besonderen Tag teilhaben lassen. Ob es ihnen gelingt, in Hochzeitsvideos auf YouTube diesen Tag und ihre Liebe authentisch zu vermitteln, soll (unter anderem) im weiteren Verlauf des Beitrags untersucht werden. 3 Das Kommunikationsangebot (YouTube-)Video Aufgrund der rasanten technischen Entwicklung und der damit verbundenen ver‐ änderten sozialen und kommunikativen Bedürfnisse sind wir im digitalen Zeitalter Zeug: innen einer veränderten „semiotischen Landschaft“ (vgl. Stöckl 2004). Vor dem Hintergrund eines „Überangebots an Informationen“ (Fix 2001: 39) werden (Lang-)Texte zunehmend weniger gelesen, (bewegte) Bilder sind „auf dem Vor‐ marsch“ (Fix 2001: 45) und zu traditionellen Textsorten und Kommunikationsformen kommen neue Formate wie Vlogs und Video-Tutorials hinzu. Ausgegangen von der sog. „Theorie des multimodalen Handelns“ (Bucher 2010), die auf die Theorie des kommunikativen Handelns (Wittgenstein 1967, Searle 1976 u.-a.) zurückgeht, werden Videos im vorliegenden Beitrag als kom‐ plexe (multimodale) Kommunikationsangebote verstanden, mit denen kommu‐ 160 Tanja Škerlavaj <?page no="161"?> 4 Die im Jahr 2005 gegründete und 2006 von Google übernommene Video Sharing-Plattform ist die zweit populärste Website weltweit (vgl. https: / / www.similarweb.com/ top-websites/ , Stand: 30.09.2023). nikative Aufgaben gelöst werden (vgl. Luckmann 1986). Diese Aufgaben werden in der Regel durch ein Zusammenspiel verschiedener Zeichenmodalitäten wie gesprochene und geschriebene Sprache, bewegte und statische Bilder sowie Ton und Musik erfüllt. Dabei werden in Videos unterschiedliche Modalitäten miteinander kombiniert. Videos werden im Netz auf verschiedenen Bewegtbild-Plattformen veröffent‐ licht - die heute bekannteste, weltweit führende Plattform für das Teilen von Video-Inhalten ist YouTube. 4 Neben der Partizipation, die das zentrale Merkmal der Kommunikation im Web 2.0 darstellt (Androutsopoulos 2010: 421) und im konkreten Fall darauf bezogen ist, dass YouTube-Videos von jede: r User: in hochgeladen, geschaut, gelikt, geteilt und kommentiert werden können, sind YouTube-Seiten und folglich YouTube-Videos nach Androutsopoulos und Tereick (2016: 356) auch durch die Merkmale Mehrautor: innenschaft, Multimodalität, Dialogizität und Dy‐ namik gekennzeichnet. Während sich die Mehrautor: innenschaft darauf bezieht, dass Videos, Kommentare und ,begleitende‘ Elemente auf YouTube (wie etwa Statistiken, Vorschläge ähnlicher Inhalte usw.) von verschiedenen Autor: innen beigetragen werden, ist mit der Multimodalität das oben erwähnte Zusammenspiel verschiedener Modalitäten gemeint. Kommt das Merkmal der Dialogizität im Fall der Videos von Influencer: innen vor allem in den Kommentaren der User: innen zum Ausdruck, kann in den eigentlichen Videos oft ein verwandtes Phänomen, und zwar das des parainteraktiven Austauschs (vgl. Böckmann et al. 2019) beobachtet werden. Darunter werden von Böckmann et al. (2019: 144f.) multimodale Formen der direkten Ansprache von User: innen verstanden, „mit dem Ziel, den Eindruck einer face-to-face-Situation entstehen zu lassen“. Das erzeugt bei User: innen den Eindruck, sie könnten über das im Video Gesagte mitentscheiden, was die Glaubwürdigkeit des Gesagten erhöht (vgl. Böckmann et al.: 168).- Schließlich nennen Androutsopoulos und Tereick (2016) als eine wichtige Dimension der YouTube-Inhalte ihr Potenzial für intermediale Zirkulation. Dieses spielt im Hinblick auf die Videos von Influencer: innen eine besonders wichtige Rolle, denn mit dem Ziel, die Reichweite ihrer Inhalte zu erhöhen, kommunizieren die Influencer: innen mit ihren Follower: innen oft über ver‐ schiedene Kanäle - für sie ist eine mehrmediale Ansprache der Fans typisch. So teilen sie ihre YouTube-Videos oft in ihren persönlichen Blogs bzw. auf ihren sozialen Netzwerk-Seiten und versuchen damit ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Dabei können die geteilten Videos ,viral gehen‘: Indem sie von Internet-User: innen gelikt, kommentiert und geteilt (d. h. weitergeleitet) True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? 161 <?page no="162"?> werden, finden sie schnell eine weite Verbreitung im Netz, was zum Erfolg und zur ,Prominenz‘ der Influencer: innen beiträgt und - sofern es sich um gesponserte Videos kommerzieller Art handelt - auch eine erfolgreiche Werbe‐ kampagne bedeutet (vgl. Waldhoff/ Vollmar 2019: 7f.). Mit Blick auf ihre Funktion und die Art und Weise ihrer Ausgestaltung können sich YouTube-Videos z.T. deutlich voneinander unterscheiden: Von Vi‐ deos mit informativem Charakter, über Werbespots und Musikvideos bis hin zu Filmtrailern und verschiedenen Unterhaltungs-Videos - auf YouTube ist ,alles dabei‘. Auch die Videos der Influencer: innen decken hinsichtlich ihrer Art und Funktion ein breites Sortiment ab: Die Social Media-Stars kommunizieren mit ihren Fans über verschiedene Formate wie Vlogs, Tutorials, Hauls, Tops und Flops u. a. m. Da das Heiraten wieder in ,Mode‘ ist, gewinnen in den letzten Jahren auch Hochzeitsvideos an Popularität. Diese sind in der Forschung bis dato unterrepräsentiert und stellen daher einen spannenden Gegenstand der genaueren linguistischen Untersuchung dar. 4 Korpus und Methodik Um zu untersuchen, wie die Emotion Liebe zwischen den Influencer: innen und ihren Partner: innen ausgedrückt wird, sollen im Weiteren ausgewählte Hochzeitsvideos aus textlinguistischer und multimodaler Perspektive analysiert werden. Das Korpus setzt sich aus sieben Hochzeitsvideos von deutschen Influencerinnen zusammen, die zwischen 2018 und 2022 auf YouTube hochgeladen wurden und zwischen 361.000 und 3,7 Millionen Aufrufe haben (Stand: 12.03.2023). Das Kriterium für den Einbezug von Hochzeitsvideos in das Analysekorpus dieses Beitrags war die Reichweite von Influencerinnen, die zwischen 2018 und 2022 geheiratet haben. Ihre Reichweite wurde über die Follower: innenbzw. Abonnent: innenzahlen bestimmt, denn die große Anzahl der Fans spricht für den Erfolg eines Profils bzw. Kanals (vgl. Böckmann et al. 2019: 143). Außerdem sprechen die zahlreichen Aufrufe, Likes und Kommentare der ausgewählten Videos dafür, dass diese bei den Internet-User: innen gut angekommen sind. Konkret handelt es sich dabei um Videos der Influencerinnen Dagi Bee (ca. 3,95 Mio. YouTube-Abonnent: innen und 6,7 Mio. IG-Follower: innen, Stand: 12.03.2023), Sarah Harrison (ca. 1,23 Mio. YouTube-Abonnent: innen und 3 Mio. IG-Follower: innen, Stand: 12.03.2023), Julia Maria bzw. xLaeta (ca. 1,77 Mio. YouTube-Abonnent: innen und 3 Mio. IG-Follower: innen, Stand: 12.03.2023), Vanessa und Ina bzw. Coupleontour (ca. 657.000 YouTube-Abonnent: innen und 2,5 Mio. IG-Follower: innen, Stand: 12.03.2023), Ana Johnson (ca. 300.000 You‐ Tube-Abonnent: innen und 1,3 Mio. IG-Follower: innen, Stand: 12.03.2023), Sarah 162 Tanja Škerlavaj <?page no="163"?> 5 Die Transkripte der gesprochenen Sprache erfolgen auf Grundlage des Transkriptions‐ systems GAT 2 (vgl. Selting et al. 2009). Für die wertvolle Beratung bezüglich der Transkription bedanke ich mich herzlich bei Dr. Anna Wessel (Universität Halle). 6 Im Fall des Videos von Dagi Bee trifft das nur teilweise zu, denn die Regie des Videos wurde von Dagi und ihrem Mann Eugen selbst geführt und anschließend geschnitten. Engels (ca. 65.000 YouTube-Abonnent: innen und 1,8 Mio. IG-Follower: innen, Stand: 12.03.2023) und Carmen Mercedes bzw. Carmushka (ca. 52.900 You‐ Tube-Abonnent: innen und 1,1 Mio. IG-Follower: innen, Stand: 12.03.2023).- Im Folgenden werden die Hochzeitsvideos der Influencerinnen im Hinblick auf die daran beteiligten Akteur: innen, ihren Aufbau, ihre Funktionen und Themen sowie ihre sprachlichen Merkmale 5 und weitere semiotischen Res‐ sourcen untersucht. Dabei wird insbesondere auf diejenigen Mittel und Strate‐ gien eingegangen, die in den Videos genutzt werden, um die Emotion Liebe darzustellen. Vor dem Hintergrund der Frage, ob die Liebe in den Videos als wahr wahrgenommen oder nur als ein Mittel im Dienste des Marketings empfunden wird, soll zudem auch die Rezeption der Videos widerspiegelnde Anschlusskommunikation kurz berücksichtigt werden. Dabei handelt es sich um eine qualitative explorative Untersuchung, für die eine sogenannte Top-down-Perspektive gewählt wurde. Das heißt, dass es sich nicht um Analysen einzelner Videos handeln wird, sondern vielmehr um eine exemplarische Darstellung der für die Ziele des Beitrags relevanten Aspekte. 5 Analyse ausgewählter Hochzeitvideos von Influencerinnen 5.1 Akteur: innen Während die Rezipient: innen der Hochzeitsvideos natürlich die Abon‐ nent: innen und Follower: innen der jeweiligen Influencerin sowie weitere Internet-User: innen sind, sind die Video-Produzent: innen fast aller hier analy‐ sierten Videos - anders als in anderen Arten der Videos von Influencer: innen wie Vlogs, Tutorials usw. - nicht die Influencerinnen selbst, sondern Firmen, die sich mit dem Fotografieren und Filmen von Hochzeiten beschäftigen. 6 In den meisten Videos werden die Video-Produzent: innen in den begleitenden Informationen auf YouTube unter „filmed by“, „Video by“ oder „Film“ angegeben. Indem die Influencerinnen anhand eines Hyperlinks auf die Homepage der Video-Produzent: innen verweisen, machen sie für sie Werbung, wovon sowohl die beworbenen Unternehmen als auch die Influencerinnen profitieren. Gleich‐ zeitig deutet die Tatsache, dass es sich um professionell erstellte Kurzfilme der Hochzeiten handelt, auf eine gewisse Qualität der Videos hin, was das Potenzial True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? 163 <?page no="164"?> 7 https: / / www.frau-skroblies.com/ (Stand: 17.03.2023). 8 Sie dürfen und ,sollen‘ allerdings ihre Eindrücke, Beobachtungen und Bewertungen in die Kommentare schreiben, was sie wiederum zu aktiven Kommunikationsteil‐ nehmer: innen macht und den Eindruck erzeugt, ihre Meinung sei für das Brautpaar wichtig. für viele Aufrufe, Likes und positiv bewertende Kommentare erhöht. Außerdem legen die professionellen Videograph: innen - wie es z. B. der Homepage von Frau Skroblies und Freunde, des Video-Produktionsunternehmens des Hochzeits‐ videos von Ana Johnson zu entnehmen ist - einen besonders großen Wert darauf, „die Hochzeit so natürlich wie möglich einzufangen“ 7 . Ein wichtiges kommunikatives Ziel der Video-Produzent: innen und der Influencer: innen als ,Auftraggeber: innen‘ ist es also, den Hochzeitstag und die Liebe zwischen den Partner: innen möglichst glaubwürdig und authentisch darzustellen. Was die Akteur: innen in den Videos bzw. genauer die Sprecher: innen und ihre Ansprache der Fans angeht, so gibt es auch hier wesentliche Unterschiede zu ,klassischen‘ Video-Formaten der Influencer: innen. Anders als in Tutorials, Tops und Flops usw. sind wir hier keine Zeug: innen des parainteraktiven Austauschs (vgl. Böckmann et al. 2019) - die Rezipient: innen werden in den berücksichtigten Videos also nicht wie in einer face-to-face-Situation direkt an‐ gesprochen, sondern bleiben vielmehr Betrachter: innen des Hochzeitstages des jeweiligen Influencer-Paars. 8 Dabei sind die Sprecher: innen in allen analysierten Videos die Braut und der Bräutigam, die einander ihr Gelübde aussprechen, sodann Trauzeug: innen, die ihre Reden halten, sowie Familienmitglieder und Freund: innen, die - in der Regel auf der Hochzeitsfeier - den Frischvermählten gratulieren oder etwas Persönliches über sie erzählen. Ein gutes Beispiel für eine solche Rede ist das Hochzeitsvideo von Carmen Mercedes, in dem Car‐ mens Mutter über das „Mysterium“ der Liebe sowie über die Persönlichkeit ihrer Tochter spricht (Min. 1: 03-1: 39, 1: 54 und 2: 11-2: 22). Des Weiteren sind Sprecher: innen in manchen analysierten Hochzeitsvideos Trauredner: innen und - sofern es sich um eine kirchliche Trauung (wie etwa im Video von Carmen Mercedes) handelt - Pfarrer: innen. Wie im weiteren Verlauf des Beitrags gezeigt wird, sorgt dabei vor allem das Miteinbeziehen von Familie und Freund: innen als Sprecher: innen auf der Hochzeit für eine gewisse Glaub‐ würdigkeit - ihr ,Bezeugen‘ wirkt authentisch und den Zuschauer: innen soll der Eindruck vermittelt werden: Auch Influencer: innen sind ganz ,normale‘ Menschen, die sich verlieben und mit ihren Partner: innen eine glückliche Ehe führen wollen.- 164 Tanja Škerlavaj <?page no="165"?> 5.2 Aufbau der Videos Die ausgewählten Hochzeitsvideos weisen eine einbis dreiteilige Struktur auf. Während einige Videos (z. B. die Videos von Sarah Engels, xLaeta, Vanessa und Ina) aus einem einzigen zentralen Teil bestehen, ist z. B. das Video von Sarah Harrison aus drei Phasen aufgebaut: einem kurzen Intro, dem „Welcome Day“ und dem „Wedding Day“. Ähnlich weist das Video von Carmen Mercedes neben dem Hauptteil noch ein teaserartiges Intro auf. Das Video von Ana Johnson beginnt hingegen mit einem „Motto“ in geschriebener Sprache und enthält am Ende - wie ein ,richtiger‘ Film - noch einen Abspann („Credits“). Dabei wird die Trennung der einzelnen Phasen in der Regel durch milde bis scharfe Schnitte und den Einsatz eines schwarz gefärbten Hintergrunds markiert. Was die thematisch-strukturellen Bausteine im Hauptteil angeht, so beginnen die meisten Videos mit bewegten Bildern einiger nacheinander angereihter Details, z. B. von Dekorationsblumen, eines Schildes mit den Namen des Braut‐ paars (Sarah & Dominic, Julia & Jonas, Nessi & Ina), des Kusses zwischen den Partner: innen oder des Hochzeitsortes (Schloss, Kirche, Wiese usw.). Dann folgt in den meisten Videos die Trauung bzw. konkret das Verkünden der Eheversprechen. Von dieser Struktur weicht das Video von Carmen Mercedes ab, in dem den einleitenden Bildern der Details die Reden der Gäst: innen folgen. Eine abweichende Struktur weisen zudem die Videos von Dagi Bee und Coupleontour auf: Während in Dagis Video die Eheversprechen des Brautpaars komplett ausbleiben, hören wir im Video von Coupleontour zunächst die Stimme der Traurednerin, erst später im Video wird das Gelübde ausgesprochen. Die meisten Videos sind im Hauptteil dann ,chronologisch‘ aufgebaut und enthalten mindestens einige der folgenden thematisch-strukturellen Bausteine: Das Unterschreiben der Heiratsurkunde (etwa im Video von Ana Johnson), den Auszug des Brautpaars aus der Kirche/ dem Schloss, die Glückwünsche der Hochzeitsgäst: innen das Fotografieren mit Familie und Freund: innen, die Danksagungen des Brautpaars, die Reden der Gäst: innen und schließlich die Party. Dabei werden die einzelnen Teile der Hochzeit im Hauptteil einiger Videos ebenfalls durch scharfe Schnitte oder durch den Einsatz eines schwarzen Hintergrunds getrennt, in anderen Videos wird diese Trennung jedoch durch die Änderung der Modalität Musik markiert. 5.3 Funktionen und Themen Die hier analysierten Hochzeitsvideos der Influencerinnen erfüllen sechs grund‐ legende kommunikative Aufgaben, die in den folgenden kommunikativen True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? 165 <?page no="166"?> Handlungen zum Ausdruck kommen: 1) Einblick in den Hochzeitstag geben, Ausschnitte daraus zeigen und darüber informieren, 2) Liebe zeigen, 3) Glück zeigen, 4) Sich selbst darstellen und vermarkten, 5) Für gewisse Produkte und/ oder Dienstleistungen werben und 6) Unterhalten. Diese grundlegenden kom‐ munikativen Handlungen werden in den untersuchten Hochzeitsvideos mit unterschiedlichen thematischen Aspekten kombiniert - dadurch ergeben sich verschiedene Teilfunktionen wie etwa Ausschnitte aus der Trauung zeigen, Ausschnitte aus der Feier zeigen, das Brautkleid, die Haare und das Make-up der Braut zeigen, sodann die Liebe zwischen den Partner: innen zeigen, das Glück des Brautpaars zeigen, für den Hochzeitsort werben usw. Dabei erfüllen die analysierten Videos gleichzeitig mehrere Funktionen, außerdem sind manche (Teil-)Funktionen - z. B. die Funktion die Liebe zwischen den Partnern zeigen, und das Glück des Brautpaars zeigen - eng miteinander verbunden. Die (Teil-)Funktionen der analysierten Videos werden anhand verschiedener Modalitäten erfüllt. Dazu gehören: bewegte Bilder, gesprochene und (nur ansatzweise) geschriebene Sprache sowie Musik. Hinsichtlich der in diesem Bei‐ trag relevanten Funktion Liebe zeigen spielen zudem die interaktiv relevanten Ausdrucksressourcen Stimme, Gestik, Mimik und Blick eine wichtige Rolle (vgl. Böckmann et al. 2019). Dabei trägt zum kommunikativen Gesamteffekt der Videos ein Zusammenspiel verschiedener Modalitäten und Ausdrucksres‐ sourcen bei. Im Folgenden soll insbesondere auf diejenigen Mittel und Strategien eingegangen werden, mit denen in den Videos die Funktion Liebe zwischen den Partner: innen zeigen realisiert wird. 5.4 Mittel zum Ausdruck der Funktion Liebe zwischen den Partner: innen zeigen 5.4.1 (Gesprochene und geschriebene) Sprache Für die Erfüllung der Funktion „Liebe zwischen den Partner: innen zeigen“ bestehen in Hochzeitsvideos bestimmte mehr oder weniger standardisierte Äußerungsformen und Vertextungsverfahren. Diese sind in den analysierten Videos sowohl im geschriebenen Text als auch in den gehaltenen Reden zu konstatieren und sollen im Folgenden näher betrachtet werden. 5.4.1.1 Geschriebene Sprache Die Funktion Liebe zeigen wird schon in einigen Titeln der hier berücksichtigten Hochzeitsvideos realisiert. So wird z. B. im Titel des Videos von Dagi Bee eine ,mathe‐ matische‘ Formel genutzt - der Titel lautet Du & Ich = WIR 🖤 Unsere Traumhochzeit 166 Tanja Škerlavaj <?page no="167"?> | Dagi Bee. Dabei liegt die Betonung auf dem „Ergebnis“ der Addierung zweier Pro‐ nomen im Singular (Du und Ich), dem pluralischen Wir, wobei dieses typographisch durch Großschreibung vom restlichen Text abgehoben wird. Im Vordergrund steht also die Zweisamkeit, was zusätzlich durch ein Herzchen-Emoji als Symbol der Liebe unterstützt wird. Außerdem ist das Präfixoid Traumim zweiten Teil des Titels ein Hochwertwort, d.h. ein Wort, das das Bezeichnete aufwertet (vgl. Janich 2013: 169). Der Titel suggeriert also, es handele sich um eine traumhaft schöne Hochzeit mit ganz viel Liebe zwischen zwei Individuen, die nun Eins geworden sind. Solche Titel der Videos - mit Hochwertwörtern, Großschreibung und Herz‐ chen-Emojis - haben die Funktion eines „Blickfängers“ (vgl. Janich 2013: 77) und sollen durch die Hervorhebung der Traumhaftigkeit der Hochzeiten und vor allem der Liebe zwischen den Partner: innen aus der Menge anderer YouTube-Videos he‐ rausstechen. Sie sollen die Aufmerksamkeit und das Interesse der Internet-User: innen wecken und für eine Vielzahl von Aufrufen sorgen.-Die Funktion Liebe zeigen in den Titeln der Videos steht also fraglos im Dienste der Selbstmarketings-Funktion.- Dem Ausdruck der Liebe dienen zudem auch die geschriebenen Kurztexte am Ende einiger analysierter Videos. So steht im Video von Dagi Bee in weißer Schrift auf schwarzem Hintergrund der letzte Satz des kirchlichen Vermählungsspruchs „…bis dass der Tod uns scheidet.“ mit dem Zusatz „ich liebe dich.“ (vgl. Min. 9: 04). Da im Hauptteil des Videos von Dagi Bee kein freies Eheversprechen (s. u.) des Brautpaars ausgesprochen wird, hat die Influencerin als Regisseurin des Videos den letzten Satz des Trauversprechens und eine direkte Liebeserklärung an ihren Vermählten in geschriebener Form wiedergegeben. Damit verspricht Dagi ihrem Bräutigam ihre Liebe bis zum Tod. Im Vergleich dazu erweitert xLaeta das kirchliche Trauversprechen sogar über den Tod hinaus: Am Ende ihres Videos befindet sich der Kurztext „Even death cannot part us.“ (Min. 2: 34). Damit wird impliziert, dass die Liebe zwischen Julia und Jonas so stark ist, dass das Paar nicht einmal durch den Tod getrennt werden kann - die Liebe soll also ewig, auch nach dem Tode, anhalten. Die beiden geschriebenen Kurztexte, die isoliert am Ende der erwähnten Videos platziert sind, stellen einen emotionalen Abschluss der Hochzeitsvideos dar und sollen als solche bei den Fans gewisse Emotionen hervorrufen - die Rezipient: innen sollen die Liebe und das Glück der Brautpaare mitfühlen, um die Videos dann mit Likes und positiven Bewertungen in den Kommentaren zu versehen und sie weiterzuleiten. Auch diese Texte stehen also im Dienste der Selbstpromotion der Influencerinnen. 5.4.1.2 Gesprochene Sprache Ferner wird die Funktion Liebe zwischen den Partnern zeigen in den Videos hauptsächlich mit mündlichen Eheversprechen der Brautpaare realisiert. Diese True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? 167 <?page no="168"?> kommen nämlich bis auf das Video von Dagi Bee in allen analysierten Hochzeitsvideos vor und erfüllen die Funktion des Versprechens der beiden Partner: innen, sich ewig zu lieben und einander treu zu bleiben. Außerdem er‐ läutern bzw. argumentieren die Eheleute in ihren Versprechen meist, warum sie ihre Partner: innen lieben und heiraten möchten. Dabei werden die Funktionen des Versprechens und des Argumentierens durch eine Vielzahl sprachlicher Mittel realisiert, auf die im Folgenden exemplarisch eingegangen werden soll.- In vielen analysierten Videos sind musterhafte Formulierungen vorzufinden, die typisch für die Textsorte Ehegelübde bzw. Eheversprechen sind. So verspricht z. B. Carmen Mercedes ihrem Bräutigam Niclas im Intro ihres Hochzeitsvideos Folgendes: Nr. Sprecher: in Text 1 Carmen NIclas; 2 - (-)vor GOttes angesicht; 3 - (3.0) 4 - nehm ich dich AN als meinen mann. 5 - (3.0) 6 - ich verspreche dir TREUe, 7 - (2.0) 8 - in GUten (.) und in BÖsen tagen. 9 - (2.0) 10 - in geSUNDheit und KRANKheit, 11 - bis der TOD uns scheidet; 12 - (6.0) 13 - ((seufzt)) Tab. 1: Transkript 1, Video von Carmen Mercedes (Min. 0: 12-0: 43) Obwohl im Video der letzte Satz des Vermählungsspruchs („Ich will dich lieben, achten und ehren alle Tage meines Lebens“) fehlt, erkennt jemand, der in der christlichen Kultur zu Hause ist bzw. über ein bestimmtes Allgemeinund/ oder Textsortenwissen verfügt, anhand der typischen propositionalen, illokutiven und lokutiven Elemente (vgl. Fix 2008: 68) mühelos die Textsorte Eheversprechen. Die Braut Carmen verspricht hier also ihrem Bräutigam Niclas vor einer ,hö‐ 168 Tanja Škerlavaj <?page no="169"?> heren Instanz‘, Gott, Treue und ewige Liebe unter jeder Bedingung - Letzteres wird durch die Aufzählung der Gegensätze GUt(en) und BÖse(n) sowie geSUNDheit und KRANKheit ausgedrückt. Eine weitere typische Form der Textsorte Ehegelübde ist zudem im Video von Coupleontour bzw. Vanessa und Ina zu beobachten. Dabei handelt es sich um eine eine Eheschließung durch das Ja-Wort Traurednerin zunächst Ina: Nr. Sprecher: in Text 1 Traurednerin kathaRIna; 2 - willst du (.) vaNEssa heute (.) vor ALL euren LIEben (.) zu deiner EHEfrau nehmen. 3 - willst du sie LIEben (.) schätzen und schützen- 4 - durch alle höhen und TIEfen mit ihr gehen- 5 - (.) HEUte und alle tage eures gemeinsamen LEbens; 6 - (.) so antworte bitte mit JA ich will Tab. 2a: Transkript 2a, Video von Coupleontour (Min. 3: 03-3: 18) Nachdem die emotional tief gerührte Ina mit ja ich WILL- (Min. 3: 19) antwortet und die Traurednerin eine ähnliche Frage noch an Vanessa stellt, vollzieht sie die Vermählung mit: Nr. Sprecher: in Text 1 Traurednerin so seid ihr denn (.) mit diesem verSPREchen (.) EIN(.)mal (.) mehr 2 - (.) EHEfrau und ehefrau. Tab. 2b: Transkript 2b, Video von Coupleontour (Min. 3: 45-3: 50) Obwohl die Rede der Traurednerin sprachlich vom traditionellen Vermählungs‐ spruch etwas abweicht (anstatt „Willst du sie lieben, achten und ehren“, heißt es hier willst du sie LIEben (.) schätzen und schützenusw.), erkennen Rezipient: innen mit einem bestimmten Allgemein- und Text‐ sortenwissen anhand der Frage willst du (.), der Antwort ja ich True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? 169 <?page no="170"?> WILL-, der begleitenden bewegten Bilder sowie des ganzen Kontextes der Trauung auch hier die Textsorte Ehegelübde. Ähnliches versprechen sich auch die anderen Brautpaare in den analysierten Videos, wobei die meisten den standardisierten Vermählungsspruch etwas modifizieren und/ oder ergänzen. Dabei verwenden sie häufig Adjektive, die Ge‐ fühle ausdrücken, oft in Kombination mit intensivierenden Adverbien (z. B. „un‐ fassbar glücklich“, „unglaublich stolz“, „unheimlich froh“). Außerdem greifen die Eheleute in ihren Versprechen auf zahlreiche Schlüsselwörter zurück wie „Treue“, „Vertrauen“, „Aufmerksamkeit“, „Respekt“, „bedingungslose Liebe“, „ge‐ meinsame Zukunft“, „bester/ liebevoller Ehemann“, „beste/ liebevolle Ehefrau“, „bester Vater/ Papa“, „beste Mutter/ Mama“. So freut sich z. B. im Video des Team Harrison der Bräutigam Dominic auf eine gemeinsame Zukunft mit seiner Ehefrau Sarah. Er nennt sie „die Liebe seines Lebens“ und spricht ihr sein Gelübde aus: Nr. Sprecher: in Text 1 Dominic es macht mich einfach nur GLÜCKlich heute mit dir hier zusammen zu 2 - stehen und gemeinsam in eine ZUkunft zu blicken. 3 - (-) 4 - für mich ist es KLAR ich hab die LIEbe meines lebens geFUNden- 5 - (1.0) 6 - und du machst WIRKlich (-) wirklich einen besseren MENschen aus 7 - mir. 8 - (2.0) 9 - heute stehe ich HIER voller STOLZ- 10 - (-) und verSPREche dir dass ich dich ACHTen und EHren werde- 11 - (-) in GESUNDheit oder in krankheit, 12 - (-) bis in alle TAge. Tab. 3: Transkript 3: Video von Team Harrison (Min. 5: 45-5: 54) 170 Tanja Škerlavaj <?page no="171"?> Ferner geben sich die Brautpaare in den Videos oft das Versprechen, einander zur Seite zu stehen und sich gegenseitig zu unterstützen. So verspricht Jonas seiner Julia alias xLaeta seine Aufmerksamkeit, Liebe und volle Unterstützung bei allen ihren Lebensplänen: Nr. Sprecher: in Text 1 Jonas ich will dir ein aufmerksamer und liebevoller EHEmann sein. 2 - (-) dir immer zur SEIte stehen- 3 - und dich bei allem unterSTÜtzen- 4 - (-) was du dir in deinem leben noch VORnimmst. Tab. 4: Transkript 4, Video von xLaeta (Min. 1: 39-1: 47) Darüber hinaus versprechen sich die Brautpaare häufig auch gute Eltern zu sein - im Video von Ana Johnson verspricht der gerührte Bräutigam Tim seiner Vermählten unter anderem: Nr. Sprecher: in Text 1 Tim ((…)) 2 - (tiefes atmen und seufzen) 3 - ˂˂weinend˃ und ich verspreche dir dass ich der beste PApa sein werde, 4 - den man sich jemals WÜNSCHen kann; 5 - genau wie mein VAter es für mich war.˃ Tab. 5: Transkript 5, Video von Ana Johnson (Min. 2: 53-2: 59) In den analysierten Videos gibt es also Beispiele, die das standardisierte Formu‐ lierungsmuster des Eheversprechens befolgen, es sind aber auch individuelle Realisierungsvarianten im konkreten Sprachgebrauch vorhanden. Des Weiteren zeigen die Brautpaare in den Videos ihre Liebe und Zuneigung oft, indem sie ihre Vermählten mit Kosenamen ansprechen. Dabei wird am häufigsten die Bezeichnung „mein Schatz“ verwendet (vgl. das Eheversprechen von Sarah Engels - Min. 0: 33, Niclas Eheversprechen im Video von Carmen Mercedes - Min. 4: 39 usw.). Im Video von Coupleontour benennt Vanessa ihre Braut Ina zudem BUbu True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? 171 <?page no="172"?> (Min. 1: 52). Außerdem bezeichnen die Eheleute ihre Geliebten mit Wortverbindungen wie „mein bester Freund/ meine beste Freundin“, „mein Seelenverwander/ meine Seelenverwandte“, „der/ die Richtige“, „die Liebe meines Lebens“, „meine große Liebe“. Beim Argumentieren, warum sie ihren Partner/ ihre Partnerin lieben und hei‐ raten möchten, bedienen sich die Eheleute verschiedener rhetorischer Figuren - neben Vergleichen, Parallellismen und Chiasmen kommen in den Videos besonders häufig Metaphern vor, die auf positive Eigenschaften des Gegenübers referieren. So stellt z. B. Ana Johnson in ihrem Gelübde Tims Fähigkeit heraus, sie zu achten und zu beschützen, und nennt ihn ihre starke SCHULter (Min. 3: 37). Ferner nennen sowohl Sarah Engels als auch Carmen Mercedes ihre Vermählten ihre „Knöpfe“ (z. B.: danke, dass du mein KNOPF bistder mein ganzes leben zuSAmmenhält - Min. 0: 40 im Video von Sarah Engels). In vielen Videos werden die Geliebten zudem mit „mein Zuhause“ bezeichnet (z. B. in Min. 3: 49 im Video von Team Harrison, in Min. 1: 59 im Video von Sarah Engels), was darauf hindeutet, dass sich die Ehepartner: innen bei ihnen wohl und geborgen fühlen. So freut sich z. B. Julian Engels (damals noch Büscher) zusammen mit seiner Sarah alt zu werden und verspricht ihr, ihr zuHAUse zu sein. Darauf, dass er zusammen mit ihr alle Hürden überwinden möchte und er sich überall zu Hause fühlt, wo sie zusammen sind, untermauert er mit dem Phrasem hand in hand durchs FEUer gehen und einer Rekontextualisierung des Spruchs „Home is where the heart is“ (hier: HOME is where you ARE-): Nr. Sprecher: in Text 1 Julian du bist mein zuHAUse. 2 - und ich verSPREche dir- 3 - (.) auch DEINS zu sein. 4 - lass uns (.) hand in hand durchs FEUer gehen. 5 - HOME is where you ARE- 6 - (-) ich sehe uns geMEINsam 7 - (.) in jedem lebensabschnitt, 8 - (-) und auf dieser BANK. 9 - (-) 10 - und ich kann es kaum erWARTen; 172 Tanja Škerlavaj <?page no="173"?> 9 Nach Kienpointner (1992) sind kontextspezifische Muster immer an bestimmte Dis‐ kurse und damit an bestimmte Themen gebunden, im konkreten Fall also an den Hochzeitsdiskurs und das Thema Liebe. Nr. Sprecher: in Text 11 - jeden weiteren WEG mit dir zu gehen- 12 - (.) und ANzukommen. 13 - ((…)) Tab. 6: Transkript 6, Video von Sarah Engels (Min. 1: 59-2: 19) Neben (mehr oder weniger) musterhaften Formulierungen, emotional gefärbten Adjektiven, Schlüsselwörtern, Metaphern und anderen rhetorischen Figuren sowie (rekontextualisierten) Phrasemen sind in den gewählten Hochzeitsvideos auch bestimmte kontextspezifische Argumentationsmuster 9 bzw. Topoi zu beob‐ achten. In solchen Argumentationsmustern verdichtet sich das gesellschaftliche Wissen einer Zeit (vgl. Ziem 2005: 321), im konkreten Fall also das Wissen über die Zeit der Generation Z und Social Media-Stars. So begründen viele Influencerinnen bzw. ihre Partner: innen in den analysierten Videos ihre Hei‐ rats-Entscheidung mit dem Topos des Respekts und der bedingungslosen Liebe. Dieser Topos lautet: Weil eine Person von einer anderen bedingungslos geliebt und respektiert wird, liebt auch diese Person die andere und will sie heiraten. Mit diesem Topos argumentiert z. B. der Bräutigam Tim in seinem Gelübde an Ana Johnson. Er verwendet dabei viele Schlüsselwörter und endet seinen Gedanken mit einer Aufzählung der Eigenschaften, die er an Ana liebt: Nr. Sprecher: in Text 1 Tim mein SCHATZ. 2 - ehrlichkeit (-) vertrauen (-) respekt (.) und beDINGungslose (.) aufrichtige LIEbe; 3 - das ist das (.) was du mir TAG für tag gibst. 4 - ich liebe (.) Alles an dir. 5 - ((…)) Tab. 7: Transkript 7, Video von Ana Johnson (Min. 0: 55-1: 04) True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? 173 <?page no="174"?> Ferner wird in den analysierten Videos auch mit dem Zuhause-Topos sowie dem Topos der besten Freundschaft und Seelenverwandtschaft argumentiert. Diese Muster lauten: Weil sich zwei Personen beieinander wohl und zuhause fühlen, lieben sie sich und wollen heiraten. Und: Weil zwischen zwei Personen eine Seelenverwandtschaft / beste Freundschaft besteht, besteht auch Liebe und man will heiraten. Sarah Harrison begründet z. B. ihre Liebe zu Dominic anhand einer Kombi‐ nation dieser beiden Topoi: Nr. Sprecher: in Text 1 Sarah als du mich in new york ˂˂weinend˃ gefragt hast ob ich deine FRAU 2 - werden möchte, 3 - (seufzt) 4 - hast du mich in diesem moment zur GLÜCKlichsten frau auf der welt 5 - gemacht. 6 - (2.0) 7 - denn du bist mein bester FREUND- 8 - (-) mein SEElenverwandter- 9 - (.) mein zuHAUse und die liebe meines LEbens.˃ Tab. 8: Transkript 8, Video von Team Harrison (Min. 3: 34-3: 50) Mit dem Topos der Seelenverwandschaft ist zudem ein weiterer Topos eng verzahnt, und zwar der Perfekt-füreinander-Topos. Dieser lautet: Weil zwei Personen perfekt zusammenpassen, lieben sie sich und wollen einander heiraten. So endet Dominic sein Versprechen an Sarah mit dem Perfekt-füreinander-Topos, in den er einen Chiasmus integriert, und dem er eine explizite Liebeserklärung hinzufügt: 174 Tanja Škerlavaj <?page no="175"?> Nr. Sprecher: in Text 1 Dominic wir sind BEIde nicht perFEKT- 2 - (.) aber perFEKT füreinANder. 3 - mein SCHATZ ich liebe dich. Tab. 9: Transkript 9, Video von Team Harrison (Min. 5: 55-5: 59) Ein in den analysierten Videos vor allem von den Männern genutztes Argument für die Eheschließung ist zudem das gute Aussehen und/ oder der tolle Charakter der Partnerin. Der Topos der gut aussehenden, intelligenten und/ oder begabten Partner: innen lautet: Weil eine Person gut aussieht, intelligent und begabt ist, liebt man sie und man will sie heiraten. So begründet z. B. Jonas seine Liebe zu Julia folgendermaßen: Nr. Sprecher: in Text 1 Jonas oft genug FRAge ich mich- 2 - (.) womit ich dich an meiner seite überhaupt verDIENT habe. 3 - du bist wunderSCHÖN- 4 - (.)du bist intelligent- 5 - (.) und du hast SO viele beeindruckende talente und FÄhigkeiten. 6 - ((…)) 7 - wir müssen also zusammen ALT werden, 8 - (.) und aus den acht jahren (.) nun einfach ACHTzig jahre machen. Tab. 10: Transkript 10, Video von xLaeta (Min. 0: 58-1: 07 und Min. 1: 13-1: 15) Des Weiteren liegen die Liebe und der Heiratswunsch vieler Influencerinnen bzw. ihrer Partner: innen darin begründet, dass das jeweilige Gegenüber immer (auch in schlimmen Zeiten) für einen da war/ ist und dass sie gemeinsam schon viel durchgestanden haben. Dieser Argumentation liegt ein Topos zugrunde, der sich als Immer-füreinander-da-sein-Topos fassen lässt: Weil die andere Person immer (auch in schlimmsten Zeiten des Lebens) für einen da war/ ist, liebt man diese True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? 175 <?page no="176"?> Person und will sie heiraten. So stützt sich Ana Johnson in ihrer Argumentation, warum sie Tim liebt, auf ihre gemeinsame Vergangenheit: Nr. Sprecher: in Text 1 Ana ((…)) 2 - in den letzten jahren haben wir gemeinsam so viel DURCHgestanden. 3 - mit dir hatte ich die SCHÖNsten (-) aber auch TRAUrigsten momente (.) in meinem leben, 4 - die uns noch viel mehr zuSAmmengeschweißt haben. Tab. 11: Transkript 11: Video von Ana Johnson (Min. 1: 25-1: 35) Nicht zuletzt begründen einige Influencerinnen in den ausgewählten Videos ihre Liebe mit einem Familien-Topos. Dieser lässt sich folgendermaßen formulieren: Weil eine Person das Potenzial hat, ein guter Vater/ eine gute Mutter zu werden, liebt man diese Person und man will sie heiraten und mit ihr eine Familie gründen. Sarah Harrison argumentiert in ihrem Versprechen an Dominic unter Rückgriff auf diesen Topos: Nr. Sprecher: in Text 1 Sarah an diesem tag hast du mir verSPROchen, 2 - (schnupft) 3 - du wirst der beste VAter sein- 4 - der du nur SEIN kannst. 5 - (1.5) 6 - und mein SCHATZ- 7 - (schnupft) 8 - dieses verSPREchen hast du mehr als nur geHALTen. 9 - (1.0) 10 - du bist für MIA- 11 - (.) der BESTe 176 Tanja Škerlavaj <?page no="177"?> 10 Siehe dazu Abschnitt 5.4.2. Zur multimodalen Realisierung von Topoi siehe außerdem Klug (2016) sowie Polajnar/ Scharloth/ Škerlavaj (2022). 11 Kuck (i.d.B) behandelt in anderen Kontexten den Unsagbarkeits-Topos. Nr. Sprecher: in Text 12 - (.) und liebevollste ˂˂weinend˃ VAter, 13 - (1.0) 14 - (schnupft) 15 - (2.0) 16 - den sich ein KIND, 17 - (-) nur WÜNschen kann.˃ Tab. 12: Transkript 12, Video von Team Harrison (Min. 3: 52-4: 13) Die Paare begründen also ihre Liebe und den Heiratswunsch anhand verschie‐ dener - oft miteinander kombinierter - Argumentationsmuster, die in den analysierten Hochzeitsvideos zudem nicht selten multimodal realisiert bzw. durch die Zeichenmodalität ,bewegtes Bild‘ unterstützt werden. 10 Schließlich wird die Liebe in den Videos - wie weiter oben bereits gezeigt - sprachlich oft anhand direkter und indirekter Liebeserklärungen ausgedrückt. Dabei bezeichnen die Influencerinnen und ihre Ehepartner: innen ihre Liebe oft als „unbeschreiblich“ 11 und verwenden verschiedene rhetorische Figuren wie Parallelismen (zum mehrfachen Ausdruck der Liebe) und Vergleiche (zum Ausdruck der Stärke der Liebe). Die Eheleute sprechen ihre Liebe z. B. folgen‐ dermaßen aus: Nr. Sprecher: in Text 1 Ina meine worte können nicht annähernd beSCHREIBen- 2 - wie viel ich für dich empFINDE. Tab. 13: Transkript 13, Video von Coupleontour (Min. 1: 13-1: 16) True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? 177 <?page no="178"?> Nr. Sprecher: in Text 1 Ana ich liebe DICH. Tab. 14: Transkript 14, Video von Ana Johnson (Min. 4: 42) Nr. Sprecher: in Text 1 Tim ich liebe dich MEHR als worte beSCHREIBen könnten- 2 - ((…)) Tab. 15: Transkript 15, Video von Ana Johnson (Min. 3: 21-3: 23) Nr. Sprecher: in Text 1 Niclas ˂˂weinend˃ ich LIEBe dich. 2 Carmen [((schluchzt)) ] 3 Niclas [für immer in DIEsem leben- 4 - für immer im NÄchsten leben- 5 - für Immer immer.˃] Tab. 16: Transkript 16, Video von Carmen Mercedes (Min. 6: 22-6: 28) Insgesamt lässt sich behaupten, dass die Influencerinnen und ihre Partner: innen in den hier analysierten Videos alles andere als sparsam mit Worten umgehen, wenn es um das Ausdrücken der Liebe geht. Die Formulierungsmuster und Äu‐ ßerungsformen, mit denen sie Liebe und Zuneigung zeigen, sind sehr vielfältig und sollen bei den Zuschauer: innen für ,Gänsehaut-Momente‘ sorgen. Die in den Videos ausgedrückte Liebe soll bei den Rezipient: innen also Emotionen hervorrufen und bei ihnen den Wunsch erwecken, sie wären genauso verliebt bzw. hätten auch eine so traumhafte Hochzeit. Gleichzeitig soll das in den Videos Gesagte die Zuschauer: innen zum Liken, Teilen und Kommentieren der Videos veranlassen - die sprachlichen Mittel zum Ausdruck der Liebe erfüllen hier also zweifellos die Funktion des Selbstmarketings. 5.4.2 Bewegte Bilder, Stimme, Gestik, Mimik und Blick Die Funktion Liebe zeigen wird in den hier berücksichtigten Hoch‐ zeitsvideos nicht nur verbal, sondern auch durch die Zeichenmoda‐ 178 Tanja Škerlavaj <?page no="179"?> lität ,bewegtes Bild‘ sowie durch die interaktiv relevanten Ausdrucksres‐ sourcen ,Stimme‘, ,Gestik‘, ,Mimik‘ und ,Blick‘ realisiert. Dabei werden diese Modalitäten - bis auf die Ressource Stimme, die an die Modalität ,Sprache‘ gebunden ist - zum Ausdruck der Liebe in den Videos in zwei verschiedenen Weisen eingesetzt: Zum einen begleiten und ergänzen sie das in den Videos Gesagte, zum anderen erfüllen sie ihren kommunikativen Zweck unabhängig von der Sprache. So wird das (verbale) Gestehen der Liebe in den Eheversprechen von Influ‐ encerinnen und ihren Partner: innen oft anhand ihrer Stimme, ihrer Gesten und ihrer Gesichtsmimik unterstützt. Dabei handelt es sich um einen (indexika‐ lischen) Emotionsausdruck (vgl. Fiehler 2014): Die Emotion Liebe wird - anders als im Fall kontrollierter Formen der Liebesbekundung durch Verbalisiertes - nicht zum Ausdruck gebracht, vielmehr kommt sie z. B. anhand einer zitternden Stimme oder einer gewissen Gesichtsmimik unintendiert zum Ausdruck (vgl. Keller 1977). Dies lässt die einzelnen Liebesszenen in den Videos authentisch wirken und kann bei den Rezipient: innen gewisse Emotionen auslösen. Sarah Harrison spricht beispielsweise den Teil ihres Versprechens über Dominic als den BESTe(n) (.) und liebevollste(n) VAter (ab Min. 4: 05) mit einer vom Weinen zitternden Stimme aus. Dies gibt ihren Worten ein zusätzli‐ ches Gewicht und wirkt authentisch, deshalb kann es bei den Zuschauer: innen für Gänsehaut sorgen. Ähnlich werden Tims Worte im Video von Ana Johnson durch seine Stimme, aber auch durch seine Gestik und Mimik untermauert. Wenn er über seine Zukunftspläne mit Ana spricht und sie mit die MUtter von zwei Kindern (Min. 2: 45) bezeichnet, bricht er nämlich vor lauter Emotionen in Tränen aus und kann nicht weitersprechen. Seine Rede wird durch ein lautes Heulen unterbrochen, er verzieht sein Gesicht (s. Abb. 1) und muss seine Tränen mit einem Taschentuch abwischen (s. Abb. 2). Er ist offensichtlich von Emotionen überwältigt, wobei die ganze Szene spontan und ,echt‘ wirkt. True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? 179 <?page no="180"?> Abb. 1: Video von Ana Johnson (Min. 2: 45 - https: / / youtu.be/ XlqZsDuwvGo? t=165, Stand: 05.10.2023) Abb. 2: Video von Ana Johnson (Min. 2: 47 - https: / / youtu.be/ XlqZsDuwvGo? t=165, Stand: 05.10.2023) Des Weiteren werden die von den Brautpaaren in ihren Eheversprechen verwen‐ deten typischen Äußerungsformen und Formulierungsmuster (vgl. Abschnitt 5.4.1) in den Videos oft durch bewegte Bilder unterstützt. So wird die von Julian verwendete Zuhause-Metapher im Video von Sarah Engels durch ein bewegtes Bild des küssenden Brautpaars begleitet - auf dem Bild liegt Sarah in Julians Armen und sie küssen einander zärtlich (s. Abb. 3). Dabei umarmt Julian Sarah um ihren Rücken und hält sie fest an sich, was seine Worte (vgl. Tab. 6) untermauert: Das Bild signalisiert, er wird für Sarah immer „da sein“ und sie kann sich bei ihm wohl und geborgen fühlen. 180 Tanja Škerlavaj <?page no="181"?> Abb. 3: Video von Sarah Engels (Min. 2: 02 - https: / / youtu.be/ 8vyqib-OnZI? t=122, Stand: 05.10.2023) Durch bewegte Bilder werden zudem auch einige von den Eheleuten genutzten Argumentationsmuster unterstützt. Dies ist z. B. in mehreren analysierten Videos beim Topos der gut aussehenden, intelligenten und/ oder begabten Partner: innen der Fall. So begleiten Jonas Ehegelübde im Video von xLaeta (vgl. Tab. 10) mehrere nacheinander gereihte bewegte Bilder der „wunderschönen“ Julia: Im Fall der Abb. 4 handelt es sich z. B. um eine Nahaufnahme ihres Gesichtes, die den Fokus auf ihre Augen, Lippen, ihr perfektes Make-up und die üppigen Locken legt. Jonas Argumentation, warum er Julia liebt, wird hier also multimodal realisiert. Gleichzeitig erfüllen die Bilder der attraktiven Influ‐ encerin die Funktion der visuellen Selbstdarstellung und des Selbstmarketings, denn sie sollen die Internet-User: innen anlocken und sie zum Liken, Teilen und Kommentieren des Videos anregen. Abb. 4: Video von xLaeta (Min. 1: 03 - https: / / youtu.be/ zdZevDTAFT8? t=63, Stand: 05.10.2023) True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? 181 <?page no="182"?> Ein weiterer Topos, der in einigen Videos multimodal realisiert wird, ist der Familien-Topos. Ein gutes Beispiel dafür ist noch einmal das Eheversprechen von Sarah Harrison, in dem das Argument, Dominic sei der BESTe (.) und liebevollste VAter, visuell durch das bewegte Bild der glücklichen Familie untermauert wird (s. Abb. 5). Abb. 5: Video von Sarah Harrison (Min. 4: 07 - https: / / youtu.be/ Pe-jB-RnQB4? t=247, Stand: 05.10.2023) Auf dem Bild sind Sarah, Dominic und Mia am Hochzeitstag beim Schaukeln zu sehen: die kleine, lächelnde Mia sitzt auf der Schaukel und Dominic hält ihre Hand und schubst sie leicht an, wobei er sie liebevoll und fürsorglich anschaut. Die Zuschauer: innen bekommen den Eindruck, Mia fühlt sich dabei sehr wohl. Sarah, die das andere Schaukelseil hält, schaut die beiden liebevoll an und scheint glücklich zu sein. Das bewegte Bild ergänzt hier Sarahs Worte (vgl. Tab. 12) - die aus dem Familien-Topos schöpfenden Argumente werden also durch eine Kombination verbaler und visueller Mittel realisiert. Was die Motive der in den Videos genutzten bewegten Bilder angeht, so ist das am häufigsten verwendete visuelle Motiv zum Ausdruck von Liebe und Zuneigung das eines Kusses. Bewegte Bilder der küssenden Brautpaare kommen nämlich bis auf das Video von xLaeta in allen Videos mehrmals vor. So beginnt und endet z. B. das Intro des Videos von Carmen Mercedes mit einem Bewegtbild der küssenden Eheleute im Wald: Während wir zu Beginn des Videos aufgrund des Gegenlichtes nur eine schwarze Silhouette des Brautpaars sehen und der Kuss kurz und ,unschuldig‘ ist (s. Abb. 6), hält Niclas auf dem Bild am Ende des Intros Carmens Gesicht und küsst sie leidenschaftlich (s. Abb. 7). Dabei wird die Szene am Ende des Intros durch dramatische Kirchenmusik begleitet und endet mit einem leidenschaftlichen Seufzer von Carmen, was eine sexuelle Konnotation hat. Die Platzierung der bewegten Bilder der Küsse am Anfang und 182 Tanja Škerlavaj <?page no="183"?> am Ende des Intros ist strategisch: Das einleitende Bild des Kusses hat neben der Liebe zeigenden Funktion die Rolle eines Blickfängers - es soll das Interesse der Rezipient: innen für das Video wecken und sie zum Weiterschauen motivieren. Die Szene am Ende des Intros dient ebenfalls stark den Marketingzwecken und soll durch das Bild des leidenschaftlichen Kusses, dramatische Musik und die sexuelle Anspielung in Carmens Eheversprechen (vgl. Tab. 1) die Anzahl der Aufrufe und somit die Reichweite des Videos erhöhen. Abb. 6: Video von Carmen Mercedes (Min. 0: 02 - https: / / youtu.be/ g-nQTm2XscA, Stand: 05.10.2023) Abb. 7: Video von Carmen Mercedes (Min. 0: 40 - https: / / youtu.be/ g-nQTm2XscA? t=40, Stand: 05.10.2023) Des Weiteren ist ein Zeichen der echten Liebe der Kuss ab Min. 3: 01 des Videos von Dagi Bee. Der Rede des Trauredners und dem Ringtausch folgt das bewegte Bild eines langen Bestätigungskusses, der Liebe und absolute Hingabe des frisch vermählten Brautpaars ausdrückt und den Beginn ihrer Ehe vor ihren Hochzeitsgäst: innen besiegelt (s. Abb. 8). Diesem Bild folgen weitere, auf denen beide Eheleute sichtbar gerührt sind und ihre Tränen abwischen müssen True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? 183 <?page no="184"?> 12 Zum „Glaubwürdigkeitsbonus“ von Bildern siehe Holly (2010). (s. Abb. 9 und 10), was einen Glaubwürdigkeitseffekt 12 hat - das Gezeigte hat „Beweiskraft“ (vgl. Holly 2010: 372), es wirkt authentisch und kann bei den Rezipient: innen gewisse Emotionen erwecken. Abb. 8: Video von Dagi Bee (Min. 3: 05 - https: / / youtu.be/ ZYV_bNjKf9A? t=185, Stand: 05.10.2023) Abb. 9: Video von Dagi Bee (Min. 3: 13 - https: / / youtu.be/ ZYV_bNjKf9A? t=193, Stand: 05.10.2023) Abb. 10: Video von Dagi Bee (Min. 3: 18 - https: / / youtu.be/ ZYV_bNjKf9A? t=193, Stand: 05.10.2023) 184 Tanja Škerlavaj <?page no="185"?> Schließlich werden Liebe und Zuneigung zwischen den Eheleuten auch anhand von Umarmungen, zarter Berührungen und tiefer Liebesblicke ausgedrückt, was wir ebenfalls zahlreichen bewegten Bildern in den Videos entnehmen können. So wird das Eheversprechen von Dominic durch eine Vielzahl bewegter Bilder begleitet (s. Abb. 11): Auf dem ersten Bild (oben links) können wir Sarah und Dominic sehen, die tiefe Liebesblicke austauschen - vor allem Sarah schaut Dominic verliebt an und lächelt dabei. Auf dem zweiten Bild (oben rechts) sehen wir, wie das Paar zärtlich mit den Händen spielt, wobei Sarah bereits den Ehering trägt. Dieses Bild geht in das nächste über, auf welchem Sarah Dominic sorgfältig den Ring ansteckt (unten links), und auf dem letzten Bild (unten rechts) können wir das Paar beim Umarmen beobachten. Dabei ist der Einsatz dieser Bildfolge während Dominics Eheversprechens kein Zufall: Die Bilder der Berührungen stellen dar, dass sich das Paar zutiefst und innig liebt, wobei die Bilder des Rings als Unendlichkeitssymbol und des Ringtausches symbolisch für ,für immer‘ stehen. Abb. 11: Video von Sarah Harrison (Min. 5: 30, 5: 33, 5: 36 und 5: 40 - https: / / youtu.be/ Pe-jB-RnQB4? t=330, Stand: 05.10.2023) 5.4.3 Musik Die Modalität ,Musik‘ wird in den analysierten Videos unter anderem genutzt, um Gefühle zu wecken. So überrascht es nicht, dass diese Modalität auch die Szenen begleitet, in denen Liebe ausgedrückt wird. In den meisten analysierten Videos wird in romantischen Szenen leise instru‐ mentale, oft elektronische Musik vorgespielt, die dem Genre ambient music bzw. cinematic music angehört und eine entspannte Stimmung schaffen sowie True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? 185 <?page no="186"?> 13 https: / / www.musicbed.com/ songs/ becoming-human/ 18181 (Stand: 03.10.2023). Glücksgefühle evozieren soll. So wird während der Eheversprechen im Video von Sarah Harrison (ab Min. 2: 19) das Musikstück „Fathers‘ Land“ vorgespielt - dieses beginnt mit leisen Tönen des Klaviers und elektrischer Gitarre, die dann mit der Steigerung des Geschehens im Video (Dominics Eheversprechen, Sarahs Gang zum Traualtar, Ringtausch, Liebeserklärung und Kuss) in elektronische Sounds mit Trommeln übergehen und immer lauter werden. Einem ähnlichen Crescendo begegnen wir ab Min. 2: 08 im Video von Ana Johnson. Der Song „Becoming Human“, der dem klassischen Genre und der Filmmusik angehört, fängt mit leisen Orchester- und Klavier-Tönen an, wenn Ana ihren Bruder trifft und von ihm zum Traualtar begleitet wird. Das in‐ strumentale Musikstück, das auf dem Musikportal Musicbed mit „Beautiful“, „Dramatic“ und „Enchanted“ bezeichnet wird 13 , wird während Tims Ehever‐ sprechens immer lauter, der Rhythmus schneller und die dramatischen Töne des Orchesters immer höher. In dieser Szene kommt es - auch aufgrund der Musikwahl - zu einer Steigerung, die in Tims Worten ich liebe dich MEHR als worte beSCHREIBen könntenden Höhepunkt erreicht. Die Modalität ‚Musik‘ trägt also dazu bei, dass die Szene noch romantischer und dramatischer wirkt, als sie ist, und sie ruft bei den Rezipient: innen Emotionen tiefer Rührung hervor. 6 Hochzeitsvideos: True Love oder Influencer: innen-Marketing? Die Analyse ergab, dass die Funktion Liebe zeigen in den hier be‐ rücksichtigten Hochzeitsvideos durch ein Zusammenspiel der Modali‐ täten ,Sprache‘, ,(bewegtes) Bild‘ und ,Musik‘ sowie der interaktiv relevanten Ressourcen ,Stimme‘, ,Gestik‘, ,Mimik‘ und ,Blick‘ erfüllt wird. Dabei sind die Äußerungsformen und Formulierungsmuster sowie andere zum Ausdruck der Liebe genutzte Modalitäten und Ressourcen sehr vielfältig und facettenreich. Da sich allerdings einige für die Textsorte Eheversprechen eher untypische Äußerungsformen (wie etwa die „Knopf “-Metapher), aber auch bestimmte Bezeichnungen für Ehepartner: innen wie „bester Freund“, „Seelenverwandte“, „die Liebe meines Lebens“ in mehreren Videos wiederholen und daher etwas klischeehaft erscheinen, fragt man sich, ob die Influencerinnen das Gesagte überhaupt ernst meinen. Gleichzeitig erregen die zahlreichen in den Videos ge‐ nutzten (bewegten) Bilder der ,gestylten‘ Influencerinnen sowie der küssenden und sich verliebt anschauenden Brautpaare in Kombination mit der Klischee‐ 186 Tanja Škerlavaj <?page no="187"?> haftigkeit ihrer Aussagen und der dramatischen, emotionsauslösenden Musik bei Rezipient: innen den Verdacht, die Liebe in den Videos sei - mit dem Ziel der Erhöhung der Reichweite - inszeniert und es handele sich nur um gute Marketingstrategien. Dafür, dass dies nicht der Fall ist und die im Video dargestellte Liebe zwischen den Influencerinnen und ihren Partner: innen dennoch ,echt‘ ist, sprechen einige - verbale wie auch visuelle - Mittel in den analysierten Videos, auf die im Folgenden kurz eingegangen werden soll. Wie bereits im Abschnitt 5.4.2 erwähnt, sprechen viele bewegte Bilder der zu Tränen gerührten Eheleute mit zitternden Stimmen als Zeichen des indexi‐ kalischen Emotionsausdrucks (vgl. Fiehler 2014 sowie Keller 1977) dafür, dass diese vor lauter Emotionen überwältigt sind und ihre Partner: innen aufrichtig lieben. Den Bildern lässt sich entnehmen, dass fast alle Influencerinnen und ihre Partner: innen während ihrer Eheversprechen und/ oder der Reden der Trauredner: innen die Tränen fließen lassen. Dass die Brautpaare so emotional werden und die Tränen kaum zurückhalten können, ist ein Beweis dafür, dass ihre Liebeserklärungen, Küsse und verliebten Gesten und Blicke nicht ,gelogen‘ sind. Dafür, dass den Worten (und Taten) der Influencerinnen und ihrer Partner: innen zu glauben ist, sprechen zudem einige Aussagen der Trau‐ zeug: innen, Familienmitglieder und Freund: innen, die auf den Hochzeiten ihre Reden halten. Niemand kennt ja die Influencerinnen so gut wie ihre Liebsten. So bezeugt die Mutter von Carmen Mercedes die Echtheit der Liebe zwischen Carmen und Niclas, indem sie sagt, dass es an dem Tag um die Liebe geht, und dann über das „Mysterium“ der Liebe spricht (vgl. Min. 1: 03-1: 39). Außerdem erzählt ein Freund von Niclas eine lustige Geschichte darüber, wie sich Niclas und Carmen kennengelernt haben - als Niclas Carmens Foto gesehen hat, ging es um Liebe auf den ersten Blick (vgl. Min. 2: 27-2: 53). Eine weitere Freundin nennt zudem Carmen und Niclas traumWIRKlichkeitsmacher (vgl. Min. 4: 19) und will damit darauf hinaus, dass sie aus ihrem Traum von großer Liebe Wirklichkeit gemacht haben. Darauf, dass es sich im Fall der ausgedrückten Liebe auf den Hochzeiten nicht um Schauspielerei handelt, weisen letztendlich nicht nur die Bilder der weinenden Brautpaare, sondern auch der zu Tränen gerührten Verwandten, Freund: innen und anderer Hochzeitsgästinnen hin. So ist die Mutter von Sarah Engels während Sarahs Eheversprechens an Julian sichtbar gerührt und muss ihre Tränen abwischen (s. Abb. 12). Im Video von Sarah Harrison sind es ebenfalls ihre Mutter, aber auch die Brautjungfern, die ihre Tränen nicht unterdrücken können, wenn sie Sarah in ihrem Brautkleid zum Traualtar gehen True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? 187 <?page no="188"?> sehen (s. Abb. 13). Aber auch in den Videos von Ana Johnson, Vanessa und Ina, Carmen Mercedes und Dagi Bee wird im „Publikum“ geweint. Aus den (bewegten) Bildern, die bekanntlich mehr als tausend Worte sagen und die einen „Glaubwürdigkeitsbonus“ haben (Holly 2010), lässt sich also auf die Ehrlichkeit der Influencer-Paare und die Wahrheit ihrer Liebe schließen. Abb. 12: Video von Sarah Engels (Min. 0: 54 - https: / / youtu.be/ 8vyqib-OnZI? t=54, Stand: 05.10.2023) Abb. 13: Video von Sarah Harrison (Min. 4: 38 - https: / / youtu.be/ Pe-jB-RnQB4? t=278, Stand: 05.10.2023) Davon, dass die Hochzeitsvideos als authentisch und die Liebe zwischen den Influencerinnen und ihren Partner: innen als wahr wahrgenommen werden, zeugen schließlich die vielen positiv bewertenden Kommentare der berührten Internet-User: innen unterhalb der Videos. Diese lauten etwa: 188 Tanja Škerlavaj <?page no="189"?> • Wer hat auch mit GEWEINT bei den Reden 😭 Liken 👇👇 und die Musik ohhhhhh so wunderschön • Man spürt wie sehr ihr euch liebt, und das nicht nur für die Kamera und das Geld. Ihr seid ein Traumpaar! Gebt das niemals auf! *pippiindenaugen ❤ (Kommentare zum Video von Sarah Harrison) • Ein schönes Hochzeitsvideo 😍 Der Schnitt ist jedesmal sanft und gelungen 😀 Das Hochzeitspaar strahlt und ist glücklich berührt. Die Emotionen kommen gut rüber. […] • Ein wunderschönes Video, dass so viel Liebe zeigt ❤ (Kommentare zum Video von Sarah Engels) • Ich habe mich selten so mitgefreut und das Glück des Paares bei einer Hochzeit so mitgefühlt. Ihr seid das schönste und authentischste Paar, dass ich seit langem wieder sehe. […] • Ich wurde von meinen Eltern sehr streng erzogen. Mir wurde gesagt, dass Liebe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern falsch und unnatürlich ist. Mittlerweile bin ich erwachsen und ganz ehrlich: Wenn ich mir das ansehe, mit Tränen in den Augen, wie kann man diese wahre Liebe nur verurteilen? Glück und Liebe sollten immer akzeptiert und vor allem respektiert werden. Denn seht nur, wie unfassbar toll Menschen aussehen, wenn sie andere Menschen lieben und glücklich sind. • Von Herzen alles erdenklich Gute euch zwei. Let love explode ❤🌈👭 (Kommentare zum Video von Vanessa und Ina) • Wow. Ein so intensives Video. So wunderschöne Worte die ihr füreinander gefunden habt. Es geht unter die Haut. • Und das, liebe Leute ist LIEBE! Danke für diesen unglaublich privaten Einblick! Und wie bei so manch einem sind auch meine Augen nicht trocken geblieben… ♥ (Kommentare zum Video von Julia alias xLaeta) • Als Tim angefangen hat zu weinen, war es bei mir auch vorbei! Ihr beiden seid so perfekt und eurer Video zeigt: DAS ist wahre Liebe! Wünsche euch alles gute für die Zukunft […] ❤💍 True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? 189 <?page no="190"?> • ungelogen, so ein wunderschönes, ehrliches und emotionales Hochzeits‐ video habe ich noch nie gesehen! richtig wunderschön! Das hat mich so berührt. Wow. (Kommentare zum Video von Ana Johnson) • Ich habe mir das Video jetzt schon so oft angeschaut und ich werde jedes mal mit Tränen überrumpelt es ist so schön so was anzusehen dass man sich wünscht auch zu heiraten 😭❤ • Wie Eugen weint, das ist sooo unfassbar süß 😩😍 Und wie ihr euch anschaut… als hättet ihr überhaupt keine Zweifel gegenüber der Zukunft. Es passt einfach alles 1: 1. WOW, ihr könnt euch echt glücklich schätzen so jemanden gefunden zu haben! Glückwunsch! (Kommentare zum Video von Dagi Bee) • Carmen: "Du bist der Knopf, der alles in meinem Leben zusammenhält" Me: crying a river • ein traumhaft schönes Video… Niclas Worte gehen unter die Haut direkt ins Herz 💌😭 man will euch nur das Beste wünschen, aber das habt ihr miteinander schon gefunden. ❤ (Kommentare zum Video von Carmen Mercedes) Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Funktion Liebe zeigen in den hier berücksichtigten Hochzeitsvideos der Influencerinnen fraglos im Dienste der Selbstmarketingsfunktion steht. Die rührenden Liebeserklärungen und die zahlreichen Bilder der verliebten und glücklichen Brautpaare sollen bei den Rezi‐ pient: innen Emotionen hervorrufen und sie zum Liken, Teilen und Kommentieren der Videos anregen. Dies ist im Fall der analysierten Videos mehr als gelungen: Die Videos wurden mit einer - im Vergleich zu anderen oft aufgerufenen Videos der berücksichtigten Influencerinnen - sehr großen Anzahl von Likes (zwischen 17.000 und 244.000, Stand: 03.10.2023) und Kommentaren (zwischen 454 und 22.748, Stand: 03.10.2023) honoriert. Dass Liebe in den Videos zum Zweck des Selbstmarketings verwendet wird, bedeutet allerdings nicht, dass diese nicht echt ist. Die Reden der Trauzeug: innen, Familienmitglieder und Freund: innen, die vielen Bilder der zu Tränen gerührten Ehepaare und der vor Freude weinenden Hochzeitsgäst: innen sowie die positiv bewertenden Kommentare der zutiefst bewegten Fans beweisen das Gegenteil. Aus der Analyse der ausgewählten Hochzeitsvideos geht also hervor, dass sich True Love und Marketing nicht ausschließen. Vielmehr ist wahre Liebe ein Mittel, das den Influencerinnen dabei verhilft, die Reichweite ihrer Videos zu erhöhen und somit in der digitalen Welt (aber auch außerhalb dieser) erfolgreich und ,prominent‘ zu werden. 190 Tanja Škerlavaj <?page no="191"?> Bibliografie Quellen (YouTube-Videos) Video von Ana Johnson. THE BEST DAY IN OUR LIFE. - Unser Hochzeitsvideo ♥ | AnaJohnson. Abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=XlqZsDuwvGo (Stand: 20.05.2023). Abb. 1 (Min. 2: 45) - abrufbar unter: https: / / youtu.be/ XlqZsDuwv Go? t=165 (Stand: 05.10.2023); Abb.-2 (Min. 2: 47) - abrufbar unter: https: / / youtu.be/ X lqZsDuwvGo? t=165 (Stand: 05.10.2023) Video von Sarah Engels. Hochzeitsvideo | Sarah & Julian Engels | Hoher Darsberg. Ab‐ rufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=8vyqib-OnZI (Stand: 20.05.2023). Abb. 3 (Min. 2: 02) - abrufbar unter: https: / / youtu.be/ 8vyqib-OnZI? t=122 (Stand: 05.10.2023); Abb. 10 (Min. 0: 54) - abrufbar unter: https: / / youtu.be/ 8vyqib-OnZI? t=54 (Stand: 05.10.2023) Video von Julia Maria (xLaeta). OUR PERFECT WEDDING | Unser Hochzeitsvideo | XLAETA. Abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=zdZevDTAFT8 (Stand: 20.05.2023). Abb. 4 (Min. 1: 03) - abrufbar unter: https: / / youtu.be/ zdZevDTAFT8? t=6 3 (Stand: 05.10.2023) Video von Sarah Harrison (Team Harrison). OFFIZIELLES HOCHZEITSVIDEO 👰🏼🤵🏽 Team Harrison. Abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=Pe-jB-RnQB4 (Stand: 20.05.2023). Abb. 5 (Min. 4: 07) - abrufbar unter: https: / / youtu.be/ Pe-jB-RnQB 4? t=247 (Stand: 05.10.2023); Abb.-11 (Min. 5: 30 - 5: 40) - abrufbar unter: https: / / yout u.be/ Pe-jB-RnQB4? t=330 (Stand: 05.10.2023); Abb.-13 (Min. 4: 38) - abrufbar unter: ht tps: / / youtu.be/ Pe-jB-RnQB4? t=278 (Stand: 05.10.2023) Video von Carmen Mercedes (Carmushka). OUR PERFECT WEDDING | CARMEN & NICLAS. Abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=g-nQTm2XscA (Stand: 20.05.2023). Abb. 6 (Min. 0: 02) - abrufbar unter: https: / / youtu.be/ g-nQTm2XscA (Stand: 05.10.2023); Abb. 7 (Min. 0: 40) - abrufbar unter: https: / / youtu.be/ g-nQTm2Xs cA? t=40 (Stand: 05.10.2023) Video von Dagi Bee. Du & Ich = WIR 💗 Unsere Traumhochzeit | Dagi Bee. Ab‐ rufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=ZYV_bNjKf9A (Stand: 20.05.2023). Abb. 8 (Min. 3: 05) - abrufbar unter: https: / / youtu.be/ ZYV_bNjKf9A? t=185 (Stand: 05.10.2023); Abb. 9 (Min. 3: 13) - abrufbar unter: https: / / youtu.be/ ZYV_bNjKf9A? t=19 3 (Stand: 05.10.2023); Abb.-10 (Min. 3: 18) - abrufbar unter: https: / / youtu.be/ ZYV_bN jKf9A? t=193 (Stand: 05.10.2023) Video von Vanessa und Ina (Coupleontour). Unsere TRAUMHOCHZEIT ❤👰🏻♀👰🏼♀ | Coupleontour. Abrufbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v =Et-Hj9Stvzc (Stand: 20.05.2023) True Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? 191 <?page no="192"?> Literatur Androutsopoulos, Jannis (2010). Multimodal - intertextuell - heteroglossisch: Sprach-Gestalten in ,Web 2.0 ‘-Umgebungen. In: Deppermann, Arnulf/ Linke, Ange‐ lika (Hrsg.) Sprache intermedial - Stimme und Schrift, Bild und Ton. Berlin/ New York, 419-445. Androutsopoulos, Jannis/ Tereick, Jana (2016). YouTube: language and discourse practices in participatory culture. In: Georgakopoulou, Alexandra/ Spilioti, Tereza (Hrsg.) The Routledge Handbook of Language and Digital Communication. London/ New York, 354-370. Böckmann, Barbara et al. (2019). Multimodale Produktbewertung in Videos von In‐ fluencerinnen auf YouTube: Zur parainteraktiven Konstruktion von Warenwelten. Zeitschrift für Angewandte Linguistik 70, 139-171. Bucher, Hans Jürgen (2010). 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Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die stimmliche Entfaltung der sprachlich vorkonzipierten Charaktere und ihrer Interaktion sowie die musikalische Überformung des sprachlich definierten Sinns. Im Ausgang von ausdrucks- und zeichentheoretischen Erörterungen prinzipieller Natur soll gezeigt werden, dass Mozarts Musik den expliziten Inhalt der Figurenrede nicht nur widerspiegelt, umsetzt oder kommentiert, sondern auch Ungesagtes und Unsagbares, all das, was den Protagonisten selbst nicht zu Bewusstsein kommen mag, zur Geltung bringt: in beredten Ausdrucksformen von gestischer Prägnanz. Weiter ist es darauf abgesehen, Mehrdimensionalität und psychologische Eindringlichkeit der musikdrama‐ tischen Inszenierung von Liebesbewusstsein und Liebeserfahrung bei Mozart zu veranschaulichen und auf ihre strukturellen Voraussetzungen zurückzu‐ führen. Keywords: Arie, Chiffre, Koloratur, Oper, Pathognomisch, Physiognomisch, Semiotische Musikkonzeption, Stimme <?page no="196"?> 1 Allgemeine Merkmale von Mozarts musikalischer Sprachgestaltung Dem Musiktheater des gereiften Mozart - jenem gewaltigen Werkkomplex, der sich von der „Entführung aus dem Serail“ über die Trias der Da-Ponte-Opern bis hin zur „Zauberflöte“ erstreckt - wird einhellig menschliche Wahrhaftig‐ keit nachgerühmt: In der Tat sind Hintergründigkeit und Tiefenschärfe der Musik, ihre Plastizität und die seismographische Präzision, mit der sie zwischen‐ menschliche Konstellationen, namentlich uneindeutige, instabile Liebesverhält‐ nisse und die mit ihnen einhergehenden emotionalen Komplikationen, fassbar macht, bis heute schlichtweg beispiellos. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man die großen Opern Mozarts ein enzyklopädisches Pandämonium der Liebe nennt. Sie „bilden“, wie Dieter Borchmeyer in seinem Buch mit dem prononcierten Titel „Mozart oder Die Entdeckung der Liebe“ bilanziert, ein einzigartiges Panorama der sich überlagernden, kreuzenden, befehdenden und versöhnenden Liebesdiskurse des späten 18. Jahrhunderts, wobei der empfindsame unverkennbar die anderen Diskurse dominiert, die Empfindsamkeitsgemeinde den Goldgrund bildet, von dem sich die Liebenden galanter, taktischer oder empfindsamer Provenienz, Zärtliche und Rasende, Treue und Treulose, Schwärmer und Zyniker, Verführer und Verführte, Liebesmetaphysiker und Liebesnihilisten, Passionierte und Entsagende, Spiritualisten, Sensualisten und Sexualisten leuchtend oder dunkel ab‐ heben (Borchmeyer 2005: 16f.). Mit seiner emphatischen Ausführlichkeit zielt Borchmeyer darauf ab, eine eindrückliche Idee von dem Alleinstellungsmerkmal des Mozart’schen Liebes‐ kosmos zu geben, auf das sich dessen exzeptioneller Rang unter den para‐ digmatischen Hervorbringungen der Musik- und Theatergeschichte gründet: Zweifelsohne finden sich auch im Schaffen anderer Komponisten meisterhafte, zwingende, ja überzeitlich gültige musikdramatische Darstellungen und Deu‐ tungen der Liebe, doch sind die Mozarts in ihrem Erscheinungsreichtum, in ihrer Nuanciertheit und analytischen Sensibilität - man kann ebenso gut auch von empathischer Schärfe sprechen - unerreicht. Alle diese Züge profilieren sich vor einem Spannungsfeld von resignativ-versöhnlicher Humanität und skeptisch-ironischer Unbestechlichkeit, das sich dahin auswirkt, dass Grenzer‐ fahrungen, wie Mozart sie seine Liebenden nur allzu oft erleben und erleiden lässt, künstlerisch eingeholt, mitvollzogen, ausgelotet und in ihrer Abgründig‐ keit durchmessen, aber zugleich auch relativiert, aufgehoben, überwunden werden. 196 Matthias Attig <?page no="197"?> 1 Danco hat an der 1955 entstandenen Referenzaufnahme des „Figaro“ unter Erich Kleiber mitgewirkt, der aus einer hochkarätigen Sängerriege und den unter ihm ungemein agil musizierenden Wiener Philharmonikern eine Einheit von größter Geschlossenheit und Homogenität zu formen wusste. Der makel- und schlackenlose, schlanke, doch glanz‐ volle, wunderbar transparente Gesamtklang ist dank der vielgepriesenen Tontechnik der DECCA vorbildlich eingefangen und konserviert worden, so dass sich auch nach sage und schreibe 69 Jahren die Anmutung bestechender Klarheit und zwingender Unmittelbarkeit, ja Gegenwärtigkeit einstellt. Ein Hinweis auf diese Schallplatte ist hier deshalb am Platze, weil sprachliche Beschreibungen der Musik Mozarts nicht gerecht werden können und man die in diesem Aufsatz vorgetragenen Überlegungen am besten hörend nachvollziehen sollte. Von dem Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“, das im Folgenden des Öfteren ins Blickfeld treten wird, liegen mehrere bemerkenswerte Einspielungen vor, unter denen hier die aus dem Jahr 1965 datierende Zu der von Borchmeyer apostrophierten Qualität der Mozart-Opern - ihrer Zeitgenossenschaft mit den Liebeskonzeptionen des ausgehenden 18. Jahrhun‐ derts - kommt noch etwas Anderes. Nicht nur zeugen sie davon, dass ihr Schöpfer ein unerhört feines Organ für bewusstseinsgeschichtliche Gärungs‐ prozesse besaß, wie sie im Zeichen der Aufklärung einsetzten, und ihnen ebenso wie den allgemeinen Brüchen seiner Epoche, etwa dem Gegensatz zwischen idealischer Höhenluft und rokokohaftem Ästhetizismus auf der einen und den illiberalen Unterströmungen des josephinischen Absolutismus auf der anderen Seite, Resonanz zu geben wusste: Die Werke erfreuen sich bis heute ungebro‐ chener Beliebtheit, ja, man kann ihnen Weltgeltung, Universalität attestieren. Mozarts Figuren zumal sind geradezu unsterblich, und zwar im doppelten Sinne: Sie überdauern, sie beweisen ihre Lebensfähigkeit auch in unseren Tagen und in unserer Wirklichkeit bzw. sie „beanspruchen Präsenz“, wie Manfred Hermann Schmid (2009: 7) es gleichermaßen treffsicher und entschieden formuliert hat, und Mozart selbst lässt sie nicht sterben, Don Giovanni ausgenommen, von dem freilich zu sagen ist, dass sein „erschreckendes Ende sich vorwitzigen Blicken entzieht“ (Schmid 2009: 6). Wie Schmid an anderer Stelle festhält, ist Mozart „in der Konturierung von Personen“ zu „eine[r] ungekannte[n] Individualisierung“ (Schmid 1994: 205) gelangt, gleichzeitig aber sind seine Charaktere typisiert, ins Exemplarische gewendet (vgl. auch Bekker 1921: 286ff.) oder, wie Wolfgang Hil‐ desheimer schreibt, ins „Überdimensionale“ gesteigert (Hildesheimer 1979: 135). Gestalten wie der eben erwähnte Don Giovanni oder auch der auf seine Art nicht minder dämonische Cherubino, die so ungleichen Verführer, die beide jedoch dies vereint, dass sie undurchdringlich und unergründlich sind, haben gar eine mythische Statur. Mit ihrer diaphanen Stimme hat die große belgische Sopranistin Suzanne Danco den hermaphroditischen Pagen, dessen tumultuarisches Liebeserwachen auf seine ganze Umwelt ausstrahlt, wie einen Wiedergänger des antiken Eros erscheinen lassen. 1 Mozarts musikdramatische Imaginationen von Liebe 197 <?page no="198"?> Produktion von Wolfgang Sawallisch hervorgehoben sei: Sie wartet mit dem stilechten und versatilen Kurt Böhme als Osmin, vor allem aber mit dem unübertrefflichen Fritz Wunderlich als Belmonte auf und hat bereits aus diesem Grunde Anrecht auf den Ehrentitel diskographisches Denkmal. Die fulminanten neueren Interpretationen von John Eliot Gardiner, dessen English Baroque Soloists auf Originalinstrumenten der Mozartzeit musizieren, machen trotz unüberbietbarer philologischer Akribie und technischer Akkuratesse die eben erwähnten Aufnahmen keineswegs entbehrlich. 2 Für die Herausforderungen, die die „Zauberflöte“ bis heute parat hält, ist der abrupte „Wechsel der ideologischen Perspektive mitten im Finale des ersten Aktes“ das wohl eklatanteste Beispiel: jener handstreichartige Theatercoup, durch den „die Kontraposi‐ tion von Gut und Böse entgegen der Vorlage umgepolt“ wird. Was geschieht? „Aus der guten Fee wird die böse Königin der Nacht […], aus dem bösen Zauberer Dilsenghuin von Liebeskinds Märchen [„Lulu oder Die Zauberflöte“, MA] der Herrscher über das Sonnenreich, dessen Name Sarastro die italianisierte Form des persischen Zoroaster (Zarathustra) ist“ (alle Zitate Schweikert 2018: 234). So viel für diese Deutung spricht, so wenig ist damit zu rechnen, dass Schweikert das letzte Wort behalten wird: Die so sprunghafte Verwandlung der ikonischen Königin der Nacht wird sich wohl niemals so weit rational einhegen, das heißt: psychologisch oder dramaturgisch motivieren lassen, dass sie nicht auch fürderhin etwas Unergründliches und Entwaffnendes haben wird. Danco schärft im Übrigen auch die innovativen Züge von Mozarts virtuoser Behandlung des Italienischen, die rezitativisches Parlando, plappernden, regis‐ terreichen Sprechgesang von geschmeidiger Virtuosität, und blühende Melodik in weit ausgreifenden, filigranen Gebilden zu einem organischen Ganzen verschränkt, mit exemplarischer Eindringlichkeit heraus: In den Arien der Da-Ponte-Opern mündet ein an der mündlichen Rede modelliertes musikali‐ sches Deklamieren in einen die Sprache transzendierenden Gesang von gestischer Prägnanz, während in den Rezitativstrecken das volle Ausdruckspoten‐ tial des klassischen Opern-Italienisch, seine rhythmische Verve und seine emi‐ nente klangliche Modulationsvarianz für Figurenzeichnung und Pointierung der dramatischen Situation nutzbar gemacht sind. Man möchte meinen, dass Mozart die Möglichkeiten der Sprache, die in ihrer Materialität liegen, nicht nur aktua‐ lisiert, sondern durch ihre ästhetische Durchdringung noch vermehrt und sol‐ cherart die sprachliche Bedeutung differenziert und ausgeweitet hat. Inkliniert das Italienische in der Opera buffa, erst recht in deren sublimierter Ausprägung bei Mozart, zu „spitzfindige[r] Intrige“, zu „Wortakrobatik“ und „erotischen An‐ züglichkeiten“, so ist das Deutsche im Singspiel zur Beschwörung „eine[r] ver‐ gleichsweise geordnete[n] Welt verlässlicher Moral“ (Schmid 2009: 98) prädisponiert, die freilich, wie an der „Zauberflöte“ augenfällig wird, nicht selten doch auch etwas Intrikates, Vertracktes hat und mit irisierenden metaphysischen oder ethisch-religiösen Inhalten imprägniert ist. 2 Mozarts Vertonung ist nicht nur den spezifischen Sujets, der ideellen Grundhaltung und dem Duktus seiner Texte, sondern auch den strukturellen und typologischen Merkmalen der jeweiligen 198 Matthias Attig <?page no="199"?> Sprache, etwa ihren Suprasegmentalia, durchweg kongenial. Mozart weiß auch, wie aus satztechnischen Analysen Schmids erhellt, prosodische und metrische Züge gleichsam musikalisch in Regie zu nehmen, durch ihre Gestaltung sze‐ nische Effekte, Beleuchtungswechsel und Überraschungen anzubahnen und in ihnen Affekte, Emotionen und Bewusstseinszustände, seelische Befindlich‐ keiten anklingen zu lassen: Das Bühnengeschehen ist im musikalisierten und somit multimodal überformten Sprachklang rückverankert. Wenn Mozart im Übrigen keine französische opéra komponiert hat, eine kapitale Gattung des europäischen Musiktheaters in seinem Werkkatalog folglich nicht vertreten ist, so dürfte das vornehmlich äußeren Misslichkeiten, wie sie Mozarts ganzes Leben überschatteten - aus dem Konzept bringen ließ er sich von ihnen freilich nicht -, konkret: dem Scheitern seiner Pariser Karrierepläne auf die Rechnung zu setzen sein. Zusammenfassend kann man die musikalische Realisierung der Rede in Mozarts Bühnenwerken dahin kennzeichnen, dass das vokale Melos auf Form und Inhalt des Textes (subtilste prosodisch-metrische Schattierungen einge‐ schlossen) anspricht und die Aussage bis auf die Ebene des implizit in ihr Mitschwingenden, des Mitgemeinten oder Verschwiegenen hinab sondiert. So wächst der Sinn über den Rahmen hinaus, den seine sprachliche Definition auf‐ spannt, wird der diskursiv vorbestimmte Inhalt mit Unbestimmtem, mit fluiden semantischen Impulsen angereichert, die sich gegen jede begriffliche Fixierung sperren. Nicht zuletzt aus dem Grunde, weil Mozart mit höchster Bewusstheit hinter die Sprache zurückgeht und die Inhalte aus ihrem sprachlichen Gehäuse herauslöst, ist sein musikdramatisches Œuvre für die Sprachwissenschaft von Relevanz, und es ist bedauerlich, dass den Mozart-Opern von dieser Seite bisher kaum Interesse zuteilgeworden ist, obwohl sie zum unverlierbaren Grundbestand des kulturellen Welterbes zählen. 2 Mozarts Musiktheater aus semiotischer Sicht 2.1 Mozarts semiotische Musikkonzeption Zur Auflichtung und Erweiterung des sprachlichen Inhalts leistet nun ein kompositionstechnisches Spezifikum bei Mozart, durch das er sich von praktisch allen seinen Zeitgenossen abhebt, einen entscheidenden Beitrag: Seine „wort‐ inspirierten Einfälle“ - um das eben Ausgeführte in ein Schlagwort zusammen‐ zudrängen, das wir von Schmid entlehnen (Schmid 2009: 104) - sind nicht additiv aneinandergereiht, sondern von einem sprachunabhängigen, nämlich rein mu‐ sikalischen Strukturzusammenhang, einer aufs Große berechneten autonomen Mozarts musikdramatische Imaginationen von Liebe 199 <?page no="200"?> Klangarchitektur überwölbt; in der multimodalen Komplexion von Musik, Sprache und Szene nimmt die Erstere den absoluten Vorrang ein. Mit Stefan Kunze ausgedrückt, ist Mozarts wesentliche, originäre Errungenschaft „die ganz und gar in Bewußtheit getauchte Einheit von durchgeistigter Empfindung, die keine Stelle unerleuchtet läßt, und strengster, auf das Werkganze gerichteter Konstruktion“ (Kunze 1996: 176). Uwe Schweikert hat für dieses Moment eine vielleicht noch emphatischere und umfassendere Formulierung gefunden: Mozarts Musik illustriert weder den Text noch kommentiert sie die Szene, sondern vertraut einzig der Form und ihrer strukturellen Dynamik. Darin beruht ihre unver‐ gängliche Schönheit, ihre tiefe Wahrheit, aber auch ihr unergründbares Geheimnis, das sich jeder Analyse und folglich auch den Worten entzieht (Schweikert 2021: 131). Mozart selbst hat mit der ihm eigenen Eloquenz Signifikanz und suggestive Ver‐ gegenwärtigungskraft seiner Musik glossiert. Das Sprechende an ihr umschreibt er in einem berühmten Brief an seinen Vater, der vom 26. September 1781 datiert und Einblick in die Arbeit an der „Entführung aus dem Serail“ gewährt, mit den Verben anzeigen, ausdrücken und exprimieren: O wie ängstlich, o wie feurig, wissen sie wie es ausgedrückt ist - auch ist das klopfende liebevolle herz schon angezeigt - die 2 violinen in oktaven. - […] man sieht das zittern - wanken - man sieht wie sich die schwellende brust hebt - welches durch ein crescendo exprimiert ist - man hört das lispeln und seufzen - welches durch die ersten violinen mit Sordinen und einer flaute mit in unisono ausgedrückt ist (Mozart 2005: 162f). Mozart, der sein Schaffen und die darin abgegoltenen Absichten auch andern‐ orts mit intellektueller Souveränität erklärte und dem die einschlägigen ästheti‐ schen Debatten seiner Zeit nicht unbekannt gewesen sein dürften, zieht hier, wie flüchtig auch immer, Grundlinien eines semiotischen Musikkonzeptes aus und verrät damit eine Affinität zu den Aufklärern Lessing und Moses Mendelssohn, deren Kunstbetrachtung sich ebenfalls in zeichentheoretischen Denkfiguren auskristallisierte. Der zitierten Briefstelle lässt sich etwa ein Paralipomenon zum „Laokoon“, in dem es heißt, dass „die Folgen der Töne“ in der Musik „Leidenschaft erregen und bedeuten können“ (Lessing 1766: 314), an die Seite setzen. Als Vergleichsfolie kann außerdem ein Aperçu von Mendelssohn dienen, laut dem die natürlichen Zeichen der Musik „die Illusion der Dichtkunst […] durch die vermehrte Lebhaftigkeit der Empf.[indung] unterstützen“ können, ja im Ausdruck von „Empfindungen“, womit „so wohl sinnliche Begriffe, als 200 Matthias Attig <?page no="201"?> 3 Diese Zitate sind Anmerkungen entnommen, die Mendelssohn auf Manuskriptblätter notierte, welche Lessing ihm hatte zukommen lassen; sie sind in der Lessing-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlages abgedruckt, der wir hier folgen. 4 Er postuliert in diesem Kontext, dass „die leidenschaften, heftig oder nicht, niemal bis zum Eckel ausgedrückt seyn müssen, und die Musick, auch in der schaudervollsten lage, das Ohr niemalen beleidigen, sondern doch dabey vergnügen muß, folglich allzeit Musick bleiben Muß“ (Mozart 2005: 162). Neigungen und Leidenschaften” gemeint sind, von Natur aus „den höchsten Grad der Lebhaftigkeit“ (Lessing 1766: 250) 3 besitzen. Für diese verallgemeinernde Feststellung Mendelssohns bietet der Brief, in dem Mozart die mimetische Eindringlichkeit seiner Musik, die ihr immanente Aktionshaltigkeit und Theatralität an Beispielen aus der „Entführung“ darlegt, denkbar plastisches Anschauungsmaterial. Sein Komponieren ist darauf abge‐ zweckt, das Seelenleben von Liebenden, die zwischen Hoffnung, Angst und Sehnsucht schwanken, wahrnehmbar, sinnenfällig zu machen, so dass die Hörer es mitvollziehen, vor dem inneren Auge sehen zu können glauben. Die „Folgen der Töne“ (Lessing 1766: 314), im vorliegenden Fall: der rein instrumentalen, nehmen demnach geradezu ikonisches Gepräge an - was aus streng semio‐ tischer Sicht paradox anmuten könnte -, und es dürften bei einer solchen klanglichen Evokation von Gefühlen, die auf suggestive, atmosphärisch zwin‐ gende Effekte angelegt ist, zwischen dem „Bedeuten“ und dem „Erregen von Leidenschaften“ (vgl. Lessing 1766: 314), zwischen verbildlichender Darstellung, Aktivierung der Imaginationskraft der Hörer und performativer Einlösung schließlich gar keine scharfen Grenzen mehr zu ziehen sein. Dabei ist die mu‐ sikalische Figurierung des textuellen Gehalts, wie oben ausgeführt, konsequent der Logik, den Bauprinzipien des musikalischen Gefüges angepasst, was das sehr weitreichende Ergebnis zeitigt, dass das Gemeinte - hier: die sehnsüchtige Beklommenheit Belmontes, der seine entführte Verlobte Konstanze wiederzu‐ finden hofft - auch für jemanden fasslich ist, der die einzelnen Wörter oder den Textzusammenhang nicht versteht. Die Ausdrucksfähigkeit des Klanges leidet weder durch sprachliche noch durch kulturelle Barrieren Einbuße. 2.2 Verrätselung und Unbestimmtheit als opernsemiotische Kategorien Dass Mozart die architektonische Schlüssigkeit der Musik als Wert an sich begreift, gibt er selbst zu verstehen, wenn er sich, gleichfalls in dem eben herangezogenen Brief, über eine seiner imposantesten Figuren, über Osmin, einen notorischen, nicht eben durch Intelligenz bestechenden Wüterich, äußert. 4 Mozarts musikdramatische Imaginationen von Liebe 201 <?page no="202"?> Eben weil für Mozart die „Objektivität der Töne und Tonbeziehungen“ (Kunze 1996: 205) außer Frage steht und bei ihm alle musikalischen Parameter einem strengen kompositorischen Ordo unterworfen sind, zeigt seine Musik eine eloquente Versatilität sowie höchste Treffsicherheit und Schlagkraft in der Charakterisierung. So erlangt der handfeste, einfach gestrickte Osmin bei Mozart eine Vielschichtigkeit und Tiefe, die das Libretto höchstens hie und da erahnen lässt - auch wenn es ihn durchaus nicht zur bloßen Knallcharge oder Karikatur degradiert. Mit all seinen grobschlächtigen und buffonesken Zügen, denen Mozart Effekte von zündender und unwiderstehlicher Komik abgewinnt, ist Osmin ja ein unglücklich Liebender, ein mal aimé, und Mozart nimmt auch ihn in seinen Gefühlen, Sehnsüchten und Träumen ernst. Zugleich lässt die formale Autarkie der Musik, mit der er ausgestattet ist, durch sein teils burleskes, teils furchteinflößendes Gebaren etwas Opakes, Unergründliches und Geheimnisvolles durchschimmern. Die konstitutive und darum unüberbrück‐ bare Differenz zwischen dem Text, der ihm in den Mund gelegt wird, und seiner musikdramatischen Gesamterscheinung, die - im Sinne der oben zitierten Äußerung von Uwe Schweikert - analytisch nicht gänzlich aufzuhellen ist, manifestiert sich darin, dass Osmin sich nicht restlos ausspricht und dass sein Wesen nicht auf eine Formel gebracht, in ein Repertoire von scharf umrissenen Typen einrangiert werden kann: Ihm eignet eine latente Unbestimmtheit, die ihn der Erfahrungsrealität des Hörers entfremdet. Sein Fall ist exemplarisch. Man kann ihn dahin verallgemeinern, dass die signifikative Qualität von Mozarts Musik dem sprachlichen Medium ipso facto inkommensurabel ist und das Klanggefüge somit bei aller Expressivität und Beredtheit ein Moment von Mittelbarkeit besitzt, das ihm etwas Mehrsinniges, Undurchdringliches, vielleicht sogar Hermetisches verleiht: etwas, das sich der gedanklichen Identi‐ fizierung, der Zuweisung zu einer bestimmten Kategorie verweigert, mithin zu interpretatorischer Auseinandersetzung auffordert und zur Spekulation, auch zur Projektion einlädt. Die so klare und transparente Musik Mozarts - das lehrt das Beispiel Osmins - ist im Grunde doch enigmatisch. Davon kündet nicht zuletzt auch die überaus lebhafte und vielstimmige Deutungsgeschichte, die sich seit dem frühen 19. Jahr‐ hundert an Mozarts Opern knüpft und als deren prominentestes, folgenreichstes Kapitel man die tiefschürfenden dichterischen und philosophischen Exerzitien ansehen darf, die E.T.A. Hoffmann und Søren Kierkegaard dem „Don Giovanni“ gewidmet haben. Diese Diskurse können hier nicht nachgezeichnet werden; es muss mit einem streiflichtartigen Exkurs sein Bewenden haben, der wiederum einen symptomatischen Zug ins Blickfeld rücken soll: Von dem Dramaturgen Wolfgang Willaschek stammt ein sehr anregendes Buch mit dem Titel „Mo‐ 202 Matthias Attig <?page no="203"?> 5 In dem 419 Seiten umfassenden Text (das Vorwort wird hier ausgeklammert) tauchen immerhin 27 Wortformen von Chiffre auf. 6 Die beiden Partien, in denen die angeführten Ausdrücke auftreten, lauten: „Mozart machte Koloraturen zu Chiffren, an denen sich seelische Befindlichkeit und emotionale Erregung eines Menschen unmittelbar ablesen lassen.“ - „Das Auseinanderdriften der Soloinstrumente ist ein unüberhörbares Signum für die zunehmende Verzweiflung Konstanzes“. Das erste Diktum wird am Ende dieses Beitrags noch einmal zur Behand‐ lung kommen. zart-Theater“, das 1995, unter der Ägide Uwe Schweikerts als spiritus rector, im Metzler-Verlag erschienen ist und Mozarts Janusgesichtigkeit, wie sie soeben in Relief gebracht wurde, gleich einem Spiegel zurückwirft. Sie strahlt tatsächlich bis in die konzeptionelle Disposition von Willascheks Interpretationsansatz hinein aus: Er ist von einer untergründigen Spannung beherrscht, die auf sprachlicher Ebene etwa dann durchschlägt, wenn zeichenhafte Momente in den Arien „Ach ich liebte, war so glücklich“ und „Martern aller Arten“, Nr. 6 und Nr. 11 der „Entführung“, mit Vokabeln wie Chiffren (Willaschek 1995: 97) 5 auf der einen und unüberhörbares Signum (Willaschek 1995: 103) 6 auf der anderen Seite annotiert und diese beiden Stichwörter wie Synonyme gehandhabt werden. Ihr semantischer Unterschied erhält jedenfalls keinen thematischen oder argumen‐ tativen Stellenwert, will heißen: Willaschek entschlüsselt Mozarts musikalische „Chiffren“, indem er ihren Rätselcharakter nivelliert, so als ob Verrätselung und Unbestimmtheit den Inhalten bloß äußerlich wären und diese ohne Schwierig‐ keiten sprachlich reformuliert, also in ein anderes Medium transferiert werden könnten. Kurzum: Willascheks Terminologie führt die Implikation mit sich, dass man musikalischen Formationen eine Bedeutung unterbreiten könne, die nach der sprachlichen modelliert und demnach grundsätzlich benennbar ist, wenn sie sich auch nicht in jedem Falle direkt ermitteln lässt, sondern interpretativ erschlossen werden muss. Insgesamt stellt sich hier der Eindruck ein, dass kategoriale Eigenart und Konstitutionsbedingungen musikalischer und musiktheatraler Zeichenhaftigkeit unterbelichtet bleiben. 2.3 Stimmphysiognomie und stimmliche Individuierung Bei Willaschek nimmt die Phrase unüberhörbares Signum übrigens auf eine rein instrumentale Figur, also auf ein autonomes Klanggebilde ohne Rückhalt in der Sprache, das Wort Chiffren auf ein vokales Moment, nämlich auf Kolo‐ raturen, Bezug. Signifikanz - sei sie potenziell, sei sie aktualisiert - wird in der Mozart-Forschung praktisch einhellig sowohl den Stimmals auch den Orchesterpartien, die in Mozarts Musiktheater ohnehin strukturell miteinander Mozarts musikdramatische Imaginationen von Liebe 203 <?page no="204"?> 7 Vgl. Bühler (1982: 286): „Männer-, Frauen-, Kinderstimmen sind verschieden, und jedes Wort klingt anders im Munde eines Mannes und eines Kindes. Das geht so weit, daß die Sprechstimme einiger Dutzende von Menschen um mich herum zu dem gehört, woran ich die Individuen identifiziere. Es sind also physiognomische Züge im Klangbild eines Wortes, die wir beachten und im Sprachverkehr ausnützen. Die Sprechstimme ist weiter ein seismographisch fein ausschlagendes Ausdrucksorgan; wir notieren oft an ihr, wir notieren manchmal am Klangbild des einzelnen Wortes, wieviels geschlagen hat im Sender. Das Klangbild ist also pathognomisch aufschlußreicher Modulationen fähig“. Den Ausdruck Pathognomik erklärt er andernorts (Bühler 1968: 22) mit der auf Lichtenberg zurückgehenden Wendung Semiotik der Affekte (vgl. Lichtenberg 1778: 264). verschränkt sind, konzediert. Aber auch wenn der Instrumentalblock keines‐ wegs auf eine Begleitfunktion beschränkt, sondern als integraler Faktor in die musikalische Dramaturgie eingebunden ist, haben in der Oper per se die Sänger den Primat inne: Sie beherrschen die Bühne, während das Orchester zumindest heute in einen Graben versenkt ist, und auch für den Hörer von Tonträgern stehen die Stimmen im Vordergrund. Im Rekurs auf Thrasybulos G. Georgiades kann man statuieren, dass „[d]as Spezifische des an die Stimmlage gebundenen Tonvolumens, der Tonkörper, der ,Ton als Etwas‘“ (Georgiades 1967: 197) für die Wahrnehmung maßgeblich wird und „die Vorstellungsstruktur des Körper‐ haften, des Von-außen-her, des Gegenüber, des hier und jetzt stattfindenden menschlichen Handelns“ (Georgiades 1967: 119) etabliert. Die Stimmen sind es, die, mehr oder minder verständlich, den Operntext übermitteln, sich als Träger des sprachlichen Substrats der multimodalen theatralen Komplexion exponieren und die Synthesis der beidenZeichenmodalitäten Sprache und Musik, zumeist unter Führung der Letzteren, vollziehen, nämlich in der Weise einer stimmklanglichen Überformung der sprachlichen Lautsubstanz. Dabei wird eine Eigenschaft der Stimme an sich kultiviert: der ihr inhärente Symptomwert, ihre Fähigkeit zur Profilierung, die bereits bei der natürlichen Rede physiognomische und, um eine von Karl Bühler geprägte Kategorie anzubringen, pathognomische Eindrücklichkeit erreicht. 7 Laut Paul Bekker, einem heute viel zu wenig bekannten Opern- und Stimm‐ theoretiker, der als Theaterpraktiker über einen eminenten Erfahrungsreichtum verfügte, konzentriert sich das Ausdrucksvermögen der Stimme brennpunkt‐ artig in ihrem „Geschlechtscharakter“ (Bekker 1934: 9, vgl. auch Bekker 1922: 318, 339-341), der im Musiktheater ästhetisch durchdrungen und typisiert wird. Mozart nun hat die Identität seiner Figuren mit geradezu plastischer Deutlich‐ keit und Konzisität in deren Stimmpartien hineingebildet, worin sich zum einen seine profunde Kenntnis der einzelnen Stimmfächer und ihrer physiolo‐ gischen Voraussetzungen, zum anderen seine überragende Meisterschaft in der 204 Matthias Attig <?page no="205"?> Psychologisierung des Klanges, mithin in der souveränen Handhabung seiner physiognomischen und pathognomischen Potenzen dokumentiert: Alle Stimmgestalten Mozarts sind Persönlichkeiten. Sie sind es durch die Art, in der die Stimme geformt: in welcher Lage sie geschrieben, mit welcher Art der Singtechnik sie behandelt, mit welcher Manier des Ausdruckes sie ausgestattet ist. Die Bildkraft lediglich aus Farbe und Führung der Stimme setzt voraus, dass jede Bewegung der Stimme gedacht und erfunden ist aus unmittelbarer Anschauung des Charakters (Bekker 1934: 21). Mozarts Modellierung der Frauenstimme zumal, so Bekker weiter, ziele auf „den Ausdruck der Liebe in allen Schattierungen“; bei der Übertragung „der Gefühlsbewegung einer Frau in stimmliche Klangbewegung“ sei der Kompo‐ nist zu Lösungen von solcher Vorbildlichkeit und Durchschlagskraft gelangt, dass „die Stimmen der zum beglückenden oder schmerzhaften Bewusstsein der Liebe erwachenden Frauen für Mozart und durch Mozart der Inbegriff der Frauenstimme überhaupt geworden“ seien (Bekker 1934: 24). Vor diesem Deutungshorizont beruht seine Größe nicht zum Mindesten darauf, dass er bei der Individualisierung, Beseelung der Frauenstimmen, die Empfindung und Erfahrung der Liebe vernehmlich machen sollen, Archetypen schuf, die sich den lautlichen Profilen der Stimmen dauerhaft eingesenkt, auf die Geschichte des Musiktheaters ebenso wie auf dessen Wahrnehmung, auf das Hören im Allgemeinen nachhaltigen Einfluss genommen haben. 2.4 Stimmklangliche Substantialisierung sprachlicher und außersprachlicher Bedeutung Die intellektuell kontrollierte Emotionalisierung oder, um den Gedanken ins Grundsätzliche zu wenden, die konsequente semiotische Sättigung des Stimm‐ klangs kann als Versinnlichung, Substantialisierung seelischer Regungen be‐ schrieben werden. In den Mozart’schen Hörbildern ist noch der ephemerste psychische Impuls miterfasst und weiter auch die ganze Dimension des Unbe‐ wussten abgedeckt. Aus medientheoretischer Perspektive ist an dieser Stelle, wiederum in Anknüpfung an Bekker, festzuhalten, dass „[d]as stets vieldeutige Wort seinen besonderen Sinn erst aus der Art“ empfängt, „wie es sich in Ge‐ sangslinie umsetzt“ - was im Übrigen zur Folge hat, dass allein die Letztere „den Vortrag, demgemäss auch die darstellerische Gebärde bestimmen“ kann (Bekker 1934: 36). Hier ist wiederum das Moment der musikalischen Eigengesetzlichkeit angeschlagen, das sich in den Stimmpartien derart manifestiert, dass sich die Themen und Melodien, auch wenn sie untextiert vorgetragen, auf einem Instru‐ Mozarts musikdramatische Imaginationen von Liebe 205 <?page no="206"?> 8 „Mozart“, so urteilt er, „stellt die - sichtbar körperhafte - Gebärdenstruktur der Frage als Musik dar; daher das ungemein Körperhaft-Gemeißelte der musikalischen Struktur. Als menschliche Gebärde enthält sie Sprache, und diese ist richtig vertont. Aber die musikalische Fragegebärde überzeugt als solche auch ohne den Text“ (Georgiades 1967: 124). ment gespielt würden, als stimmige, in sich substantielle musikalische Gebilde ausnähmen. Georgiades hat das an Taminos Bildnis-Arie in der „Zauberflöte” exemplarisch nachgewiesen; 8 es kann in diesem Kontext als symptomatisch gelten, dass vokale Motive bei Mozart nicht selten von einzelnen Instrumenten antizipiert oder aufgegriffen werden und so in diesen den Stimmen autonome Bezugsgrößen erwachsen. Für den hier zu entwickelnden Argumentationsgang ist entscheidend, dass in der Stimme selbst die Sprache von einem weiteren ausfunktionalisierten Ausdruckssystem umfangen ist, das in der musikalischen Aktualisierung der physiognomischen und pathognomischen Merkmale der Stimme seinen Ursprung hat. Die Semantik der Wörter, ja des Textes insgesamt wird produktions- und rezeptionsästhetisch vom musikalisierten Stimmklang überspielt, der sich zu ihm nicht mehr nur als strukturell untergeordnetes, subsidiäres Medium der Performanz verhält, sondern im Gegenteil signifikative Eigenständigkeit erlangt. Das ist wahrnehmungspsychologisch bereits dem Umstand geschuldet, dass Gesungenes weniger verständlich ist als Gespro‐ chenes, zumal bei einer melismatischen Sprachbehandlung, die eine Wortsilbe auf mehrere Töne verteilt und so die Wortstruktur aufbricht: „Beinahe ohne ein Wort zu verstehen“, so lässt ein fiktiver Komponist bei E.T.A Hoffmann verlauten, muß der Zuschauer sich aus dem, was er geschehen sieht, einen Begriff von der Handlung machen können. Kein dramatisches Gedicht hat diese Deutlichkeit so im höchsten Grade nötig, als die Oper, da, ohne dem, daß man bei dem deutlichsten Gesange die Worte doch immer schwerer versteht, als sonst, auch die Musik gar leicht den Zuhörer in andere Regionen entführt […] (Hoffmann 1813: 771). An der Verminderung der Textverständlichkeit erweist sich, dass die klangliche Materialisierung des sprachlichen Signifikanten einen Verfremdungseffekt nach sich zieht, der sich auch auf die sprachliche Referenzfunktion erstreckt; das sprachliche Zeichen ist dem ideellen Inhalt gegenüber, den es transportieren soll, aufgewertet, und gleichzeitig - es wurde eben bereits angedeutet - läuft durch das Klanggebilde, das die Wörter gewissermaßen absorbiert und im doppelten Sinne aufgehoben hat, eine zweite semiotische Spur, die wie ein chiffrierter Kommentar dem Text parallel geht, ihn verdeutlicht, deutet oder auch kontrapunktiert. Unter der Voraussetzung, dass die Figurenrede in der 206 Matthias Attig <?page no="207"?> Oper fiktive Kommunikationszusammenhänge entfaltet, in die, namentlichen beim a parte-Sprechen, auch die Zuschauer involviert sind, oder aber Bewusst‐ werdung und Reflexion inszeniert, kann man zu der Einschätzung gelangen, dass sich in der sprachlichen Aussage primär das mitteilt, was die Figuren auf einer gedanklichen oder emotionalen Ebene erfasst oder was sie sich eingestanden haben und worin ihr Verhalten motiviert ist. Inhalte, die einmal verbalisiert wurden und so dem Rezipienten zur Kenntnis gelangt sind, bleiben in der theatralen Illusion verankert und schreiben die Koordinaten des szenischen Geschehens fest. Diese ausdrücklich gewordene, in der Sprache wie in einem Brennspiegel zusammengefasste Aktion trifft, wie die Forschung an einer Fülle von Beispielen demonstriert hat, nun gerade bei Mozart auf eine musikimmanente Handlungsqualität, die struktureller Art ist, nämlich aus der Artikuliertheit, der semiotischen Wertigkeit der Klangfiguren resultiert. Auf die Liebesthematik bezogen, folgt daraus, dass sich analytisch zwei Darstel‐ lungsstränge voneinander unterscheiden lassen, ein primär sprach- und ein primär musikgebundener: Nicht selten divergieren sie, so dass sich Spannungs‐ felder zwischen Gesagtem und Ungesagtem, vielleicht Nicht-Sagbarem, zwi‐ schen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen Bewusstheit und Unbewusst‐ heit aufbauen. Das Liebesbewusstsein, das die Opern Mozarts imaginieren, hat darum häufig etwas Uneindeutiges, Gebrochenes und Inkonsistentes; Ge‐ fühle, die zwei Menschen füreinander hegen, sind hier kaum je unbedingt, vorbehaltlos und über alle Zweifel erhaben. Im Nu kann durch eine unschein‐ bare Umdisponierung innerhalb der Empfindungsregistratur Anziehung in Aversion, Gleichgestimmtheit in Zwietracht umschlagen und umgekehrt: Part‐ nerschaft, menschliches Beziehungsverhalten insgesamt ist allenthalben von emotionalen Verwicklungen, Irrungen und Konflikten belastet, die die Liebe in einer für Mozart charakteristischen Dialektik in Frage stellen und vertiefen, auch sublimieren, dergestalt dass der in den musikalischen Resonanzraum projizierten Gefühlswirklichkeit der Index ideeller Unmöglichkeit angeheftet scheint. Besonders die großen Frauengestalten der Da-Ponte-Opern, aber auch Konstanze in der „Entführung“ und Pamina in der „Zauberflöte“ sind sich in entscheidenden Augenblicken über ihre Empfindungen nicht wirklich im Klaren; sie werden einer unbestimmten, dunklen Regung gewahr, die ihnen nicht geheuer ist. „Es kommt zu einer Verunsicherung der Gefühle, die als Nachdenklichkeit im Hörer weiterwirken will“, so bemerkt Fritz Hennenberg (1992: 92) zur „Entführung“ und trifft dabei etwas Wesentliches, das sich auf der sprachlichen Ebene höchstens andeutet und beinahe ausschließlich in der Musik kundgibt: Vielleicht wird man auch durch diese erst veranlasst, emotionale Komplikationen in den Text hineinzuinterpretieren. Mozarts musikdramatische Imaginationen von Liebe 207 <?page no="208"?> 3 Musikdramatische Paar- und Beziehungspsychologie. Beispiele und Schlussfolgerungen Wir wollen nun einige exemplarische Konstellationen in einzelnen Schlaglichtern Revue passieren lassen: Susanna wahrt ihrem Verlobten Figaro die ganze Oper hindurch die Treue und zeigt sich für die Verführungskünste des Grafen unempfänglich, ist aber wohl doch so unbeeindruckt nicht, wie sie Figaro und die Gräfin glauben machen möchte; der Page Cherubino wiederum übt eine nachgerade hypnotische, auf einer instinktiven Ebene wirksame Anziehung auf sie aus. Donna Elvira, die große Rächerin im „Don Giovanni“, folgt den Impulsen einer veritablen Hassliebe und ist im Grunde doch versöhnungsbereit, ja, versöhnungssüchtig Donna Anna, Opfer eines Übergriffs von Don Giovanni, ist uneingestanden in den Bann seiner dämonischen Virilität geraten und ihrem Verlobten Don Octavio entfremdet, der es nicht registriert oder aber nicht wahrhaben möchte. Dorabella und Fiordiligi in „Così fan tutte“, dem so subtilen wie abgründigen Schlussglied der Da-Ponte-Trias, sind deshalb verführbar, weil sie mit den falschen Partnern zusammen sind, ohne dass sie es wüssten, und wenn zuletzt die ursprünglichen Paare wieder zueinanderfinden - oder, wie es eher heißen müsste, wieder zusammengebracht werden -, so ist das keine glückliche, sondern eine tieftragische Wendung. Pamina in der „Zauberflöte“ ist Sarastro, der zugleich als Weiser, Beschützer, Entführer und Despot in Erscheinung tritt, stärker und inniger zugetan, als sie oder als sonst jemand ahnt: Sie hat hinter der hieratischen Autoritätsperson mit ihren widersprüchlichen Facetten den Kraft- und Machtmenschen, den Mann von imponierender Statur ausgemacht. Die gleiche unausgesprochene Konstellation findet sich in der neun Jahre früher uraufgeführten „Entführung“, in der Konstanze gerade durch die exaltierte Rigidität, mit der sie das Werben von Bassa Selim zurückweist, durchblicken lässt, dass sie ihm längst verfallen ist; im Übrigen wird sich der Bassa am Ende des Stücks, wenn die einander zugehörigen Figuren, Konstanze und Belmonte, Blondchen und Pedrillo, wieder vereint sind, als der einzig wahre Liebende bewähren: dadurch nämlich, dass er verzichtet. Blondchen und Osmin, die zweiten Partien, sind, wie ihre Musik enthüllt, einander viel ähnlicher und näher, als es der selbstbewusst-resoluten Frau, die von dem cholerischen Mann, dem sprichwörtlichen groben Klotz, angeblich nichts wissen möchte, recht sein kann: Blonchens ritualisierte, geradezu aufreizende Demonstrationen von Antipathie sind nicht frei von heimlichen Verlockungen, sie mögen ihr dazu verhelfen, die flottierenden Energien und Impulse zu kanalisieren, die einem latenten erotischen Schwebezustand zwischen ihr und Osmin, einem libidinös besetzten Wechselspiel von Anziehung und Abstoßung entspringen. 208 Matthias Attig <?page no="209"?> Bei der Evokation solcher unterschwelligen Beziehungsstrukturen, aus denen sich ein musikalischer Subtext zu der sichtbaren, sprachlich sanktionierten Handlung entspinnt, haben naturgemäß die Ensembles und Finali, in denen man früh schon die Kulminationspunkte von Mozarts dramatischer Gestal‐ tungskunst erblickte, eine tragende Rolle inne. Die satztechnisch bewerkstel‐ ligte Simultanität zweier oder mehrerer Stimmen, denen unterschiedliche, ja gegensätzliche Texte unterlegt sind, kann kaleidoskopisch vielfältigste zwi‐ schenmenschliche Beziehungsformen inszenieren: so etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, eine unwillkürliche, unerkannte, unwahre, verleugnete oder auch nur erträumte Konsonanz im Empfinden, eine - aus welchen Gründen immer - fragwürdige oder illegitime Seelenverwandtschaft, durch welche die soeben angesprochenen alternativen oder inoffiziellen Paarungen bedingt sind. Die Ensembles, so Bekker, erheben „das Beziehungsleben“ der Figuren „zum Haupt‐ gegenstande des Geschehens“, so dass „die solistische Stimmgestalt zum Teil unter Teilen eines Kammerspieles der Stimmen“ wird: Ihr Persönlichstes komme „richtig erst im Gegeneinander der Persönlichkeiten, im wechselseitigen Ein‐ greifen, Zusammenklingen, einander Fliehen zum Ausdruck“ (Bekker 1934: 29f.). Die expliziten, auskomponierten Interaktionen der Stimmen alternieren mit indirekten, untergründigen, weil nonverbalen, die sich aus strukturellen Korre‐ spondenzen, aus Verweisen und Resonanzen herausbilden, durch die einzelne Arien miteinander verklammert sind: Die Musik deutet die Monologe in Zwie‐ gespräche um, die aus der Ferne geführt werden, sie bringt sympathetische Verhältnisse, Wahlverwandtschaften, psychische Affinitäten, Interferenzen und Abhängigkeiten zur Anzeige, die in der Selbstaussprache der Figuren keinen Niederschlag finden und die sich als rein seelische Handlungselemente, als ungesteuerte, gedanklicher Kontrolle entzogene Wirkfaktoren präsentieren, die als solche auch nicht sagbar sind, sich begrifflicher Klärung verweigern. Es sei hier zur Abrundung der Erörterung noch ein weiteres, breiter ausge‐ führtes Beispiel eingeschaltet: Das Augenmerk soll auf die vokale Porträtierung Konstanzes in der „Entführung“ gelenkt werden, die im zweiten Akt mit zwei großen, lediglich durch gesprochene Dialoge voneinander getrennten Arien bedacht ist, nämlich mit Nr. 10, „Traurigkeit ward mir zum Loose“, und mit der bereits erwähnten Nr. 11, „Martern aller Arten“. Der letzteren Arie geht eine Konfrontation Konstanzes mit dem Bassa voraus, welcher der ständigen Zurückweisungen überdrüssig geworden ist und der geliebten Frau, der er sonst mit Respekt begegnet, „Martern aller Arten“ androht. Dieses Stichwort dient Konstanze dann sogleich als Einsatzstelle für das stimmliche Ausagieren ebenso vehementer wie widersprüchlicher Affekte; es wird eine regelrechte emotionale Eskalationsspirale vernehmlich. Dass die Protagonistin zwei Arien Mozarts musikdramatische Imaginationen von Liebe 209 <?page no="210"?> 9 Tatsächlich ist die Briefstelle mit der besagten Wendung, wie gerne übersehen wird, nicht auf die „Martern“-, sondern auf die Arie Nr. 6 (s. oben) gemünzt. Der Wortlaut ist folgender: „die aria von der konstanze habe ich ein wenig (nota bene! , MA) der geläufigen gurgel der Mad: selle Cavallieri aufgeopfert“ (vgl. Schweikert 2021: 117). 10 Stellvertretend für andere Zeugnisse, die Schweikert 2021: 117 in einer kleinen Auslese präsentiert, sei hier das etwas medisante Urteil Alfred Einsteins angeführt, der ebenfalls der Riege der großen Mozart-Spezialisten zugehört: „[…] [N]ur einmal hat Mozart die dramatische Wahrheit ihres Charakters [gemeint ist Konstanze, MA] ,der geläufigen Gurgel der Cavalieri‘ (der ersten Darstellerin der Rolle) aufgeopfert, als er ihr die große C-dur-Aria mit konzertierender Flöte, Oboe, Violine und Violoncello schrieb […], ein Stück heroischer Virtuosität oder virtuoser Heroik, das der arme Bassa einfach abzuhören hat“ (Einstein 1953: 515). 11 Am konsequentesten ist dabei Schweikert (2021) in Anknüpfung an Willaschek ver‐ fahren. praktisch nacheinander singt, ist im Musiktheater des Mozart-Zeitalters sehr ungewöhnlich. Man hat denn auch unter Berufung auf den Brief vom 26. September 1781, aus dem oben zitiert wurde, die Ansicht vertreten, dass Mozart dem Profilierungsbedürfnis seiner Primadonna Catarina Cavalieri, der ersten Darstellerin der Konstanze, habe Rechnung tragen wollen, indem er ihr Gelegenheit gab, ihrer „geläufigen gurgel“ (Mozart 2005: 163) Geltung zu verschaffen, 9 und dass es sich bei der Bravour-Arie um eine vordergründige und redundante Virtuosennummer handle. 10 Von diesem Odium ist sie inzwischen freigesprochen worden; man ist längst dazu gelangt, die exzessiven Koloraturen, an denen die frühere Kritik sich hauptsächlich entzündete und die in der Tat für das stimmliche Gepräge Konstanzes essentiell sind, aus einer rein ästhetischen Konzeption zu motivieren und zu einem funktionalen Ausdrucksträger aufzu‐ werten. 11 Im Allgemeinen haben Koloraturen die Eigenschaft, dass sie das Wort ins Unkenntliche verfremden, indem sie seine Lautstruktur aufbrechen und die Silben vollends in musikalischen Klang, in nonverbale Artikulation verwandeln. Die sprachliche Symbolizität weicht dadurch phasenweise einem physiogno‐ misch und pathognomisch besetzten Sinneseindruck, für den aus produktions‐ ästhetischer Sicht eine im Grunde ganz stereotype Formel, eine bloße Kette von Läufen, die häufig eine Klangskala von beträchtlicher Ausdehnung durch‐ messen, ursächlich ist. Die erste ausschweifende Verzierung dieser Art findet sich in der Vertonung der Phrase „ich verlache Qual und Pein“; sie dissoziiert die Hauptsilbe des Prädikats (-láche) und kann als performative Umsetzung des Wortsinns, als musikalische Mimesis an ein Gelächter gedeutet werden, das hier, wo es nichts zu lachen gibt und es der Figur todernst ist, eine hysterische Anmutung hat. Die nächsten prominenten Koloraturen sind im Wunschsatz „des Himmels Segen belohne dich“ in die betonten Silben der 210 Matthias Attig <?page no="211"?> Stichwörter Ségen und belóhne eingelassen und rufen in Verbindung mit der instrumentalen Rahmung der betreffenden Stellen eine gleichsam sphärische Wirkung hervor. Man könnte diese Assoziation dahingehend umschreiben, dass sich Konstanze aus den Bedrängnissen, die sie als peinigend erlebt, aus ihrer Gewalterfahrung in religiöse Erlösungs- und Verklärungsphantasien flüchtet und in einen transzendenten Erfüllungsraum entrückt glaubt. Damit ist musi‐ kalisch, über die klangliche Vergegenwärtigung einer ins Utopische geweiteten, sich entgrenzenden Empfindungswirklichkeit, vorweggenommen, was alsbald auch sprachlich besiegelt werden wird: Konstanzes Todesbereitschaft. In der apodiktisch zugespitzten Äußerung, die auf den Tod als ultima ratio weist - „zuletzt befreit mich doch der Tod“ -, ist mit einer weiteren exponierten Koloratur auf dem Prädikat die definitive Befreiung, die die Adverbiale zuletzt auf einen späteren Zeitpunkt vertagt - was den Schluss erlaubt, dass Konstanze noch auf einen anderen Ausweg, ein Einlenken des Bassa hofft -, in das Jetzt hereingeholt. Die Verzierung figuriert mithin als klangliche Spiegelung exaltierter Imagination, einer emotionalen Entgrenzung im buchstäblichen Sinne des Wortes, nämlich einer Einstimmung auf das Äußerste. Ist nun aber die forcierte Erhabenheit, die man der „Martern“-Arie, genauer deren A-Teil mit seiner gezackten rhythmischen Gebärde, als Stimmungsgehalt zugeordnet hat, hinlänglich in ihrer dramaturgischen Funktion erfasst, wenn man sie zur Gefühlsreaktion auf die Drohungen deklariert, mit denen der Bassa Konstanze gefügig zu machen sucht? Dass in der Arie unterschiedliche Stimmungen und Affekte zum Austrag kommen - Konstanze demonstriert nicht nur „heroi‐ sche Unnahbarkeit“, „Standhaftigkeit“ (Kunze 1996: 210) und „Entschlossenheit“ (Schweikert 2021: 122), sondern stimmt auch eine nachgerade demütige Bitte an („Verschone mich“), die sie mit einem emphatischen Segenswunsch bekräftigt -, wurde auch als Indiz für innere Anfechtungen wahrgenommen, die sich nicht vollends mit der äußeren Notlage decken. Auf diese Spur führt bereits der Text: Die Zeile „Nur dann würd’ ich zittern, wenn ich untreu könnte sein“ erweckt den Eindruck, als hätten die seelischen Spannungen, wie sie die stimmlichen Explosionen hörbar machen, ihren Auslöser darin, dass Konstanze die - nicht einmal unausgesprochene - Befürchtung hegt, sie könne dem Bassa aus freien Stücken gewähren, was er von ihr verlangt. Dass Konstanze sich selbst für verführbar hält oder, um es entschiedener zu formulieren: dass das Werben des Bassa längst die gewünschte Wirkung geübt hat und dass er aus eben diesem Grund ihre und Belmontes Liebe akut gefährdet, insinuiert wiederum die Musik, nämlich durch mehrfache Wiederholung des Wortes untreu, dessen Grundmorphem, wenn es zum ersten Mal fällt, durch eine verminderte Quart, den Tritonus, vom Präfix abgehoben wird. Das notorische Mozarts musikdramatische Imaginationen von Liebe 211 <?page no="212"?> 12 Der entsprechende Passus bei Willaschek wurde oben bereits gestreift und sei hier noch einmal eingeschoben: „Mozart machte Koloraturen zu Chiffren, an denen sich seelische Befindlichkeit und emotionale Erregung eines Menschen unmittelbar ablesen lassen“ (Willaschek 1995: 97). An diesem Diktum wird die im Vorigen vermerkte kategoriale Unterbestimmtheit von Willascheks Ausdrucks- und Zeichenverständnis kenntlich, insofern Chiffren und die Umschreibung der Leistung der solcherart etikettierten Größe, nämlich der Verbalkomplex unmittelbar ablesen lassen, der ihre Verweisfunktion für evident erklärt, semantisch nicht miteinander harmonieren. - Die erwähnte Stelle bei Schweikert wiederum lautet wie folgt: „Der gleichsam maschinelle Wahnsinn der Koloratur und die atemlos über anderthalb Oktaven hetzenden Läufe des Schluss-Strin‐ gendos werden zur musikalischen Chiffre von Konstanzes unbedingter Treue und ihres fast schon hysterisch herausgeschrienen Todesentschlusses“ (Schweikert 2021: 119). Dieser Interpretationsansatz gipfelt in der Hypothese, „dass wir es bei der Martern-Arie mit einer hysterischen Überkompensation zu tun haben“ (Schweikert 2021: 123). Einhaken bei diesem Schlüsselwort scheint die syntaktische Faktur - es handelt sich um eine Protasis im Potentialis - zu verwischen, so dass der Bedingungs- oder Möglichkeitscharakter der Aussage ein Stück weit in den Hintergrund tritt. Konstanze, so könnte man daraus folgern, sieht sich hier für einen Augenblick bereits im Begriff, ihrem fern geglaubten Verlobten die Treue zu brechen. Das legt weiter die Lesart nahe, dass unter den Martern, denen die Koloraturen mit beredter Heftigkeit respondieren, die emotionalen Komplikationen zu verstehen sind, die daher rühren, dass Konstanze die unwillkommene Liebe des Bassa längst erwidert und dass Belmonte später, wenn er ihre Treue in Frage stellt, einen in ihr selbst sich regenden Zweifel ausspricht: Hinter „Angst“ und „Verzweiflung“, wie sie die Arie transportiert, blitzen pure „Lust“ und Sehnsucht nach „erotischer Befreiung“ (Willaschek 1995: 102) hervor; auf der Steigerungsleiter der Affekte bahnt sich, im Sinne eines visionären Vorgriffs, wohl gar schon eine insgeheim und unbewusst herbeigewünschte Trieberfül‐ lung an. Diese Argumentationslinie ziehen Willaschek und Schweikert aus, die bei ihren Reflexionen über das Darstellungsziel der Koloratur im Übrigen beide zu dem Wort Chiffre greifen. 12 Das ist ein Wink über eine Ambivalenz des Gegenstandes, in der sich etwas für die Mozart’sche Oper Wesentliches verdichtet: In ihr meldet sich ein undeutlicher, noch nicht ganz in den Lichtkegel des Bewusstseins gerückter Zustand an, wenn man so will: ein Geheimnis, ohne dass sich dieses wirklich offenbarte. Der Klang bleibt bei aller sinnlichen Ein‐ drücklichkeit, Suggestivität, Prägnanz und expressiven Unmittelbarkeit doch immer interpretationsbedürftig; da sie der Sphäre des sprachlich Mitteilbaren inkommensurabel ist, eröffnet seine ideelle Tiefendimension letztlich keinen Erfüllungs-, sondern einen Möglichkeitsraum. Dementsprechend ragt auch die Liebe in Mozarts Opern weit über die szenisch imaginierte Bewusstseins- und 212 Matthias Attig <?page no="213"?> Erfahrungsrealität der Figuren - wie auch der Menschen, die ihren Handlungen und Schicksalen zuschauend oder hörend beiwohnen! - hinaus. Bibliografie Quellen Mozart (2005). Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe. Gesammelt u. erl. v. Wilhelm A. Bauer u. Otto Erich Deutsch, auf Grund deren Vorarbeiten erl. v. Joseph Heinz Eibl. Erw. Ausg. mit einer Einführung u. Ergänzungen. Hrsg. v. Ulrich Konrad, Bd. III. Kassel/ München. Literatur Bekker, Paul (1921). Die dramatische Idee in Mozarts Texten. In: Kritische Zeitbilder. Berlin, 283-291. Bekker, Paul (1922). Klang und Eros. Gesammelte Schriften, Bd.-2. Stuttgart/ Berlin. Bekker, Paul (1934). Wandlungen der Oper. Zürich/ Leipzig. Borchmeyer, Dieter (2005). Mozart oder Die Entdeckung der Liebe. Frankfurt a.-M./ Leipzig. Bühler, Karl (1968). Ausdruckstheorie. 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Vom „Idomeneo“ bis zur „Zauberflöte“. Stuttgart/ Weimar. 214 Matthias Attig <?page no="215"?> Redebruchstücke, Erinnerungsfetzen Ein filmischer Diskurs der Liebe ohne Narrativ Dorothea Horst Abstract: Ausgehend von Roland Barthes’ philosophischer Abhandlung „Fragments d’un discours amoureux“ von 1977 beleuchtet der Beitrag das sprachlich-strukturalistische Paradigma des Diskurses der Liebe anhand des Hollywood-Spielfilms „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ von Michel Gondry von 2004. Beide mediale Formate, so die zentrale These, entwerfen einen Liebesdiskurs im Wechselspiel rekurrenter Muster und konkreter situativer Praktiken und machen ihn über ihre jeweilige mediale Spezifik als Buch und als Film sinnlich erfahrbar. Der Diskurs in Buch und Film unterläuft damit etablierte Vorstellungen des bewussten, eindeutigen (Liebes-)Gefühls eines selbstidentischen Subjekts, einer Symbiose in Gefühl und Sprache und eines linearen Liebes-Narrativs. Stattdessen entfaltet er sich aus dem schöpferischen Schwelgen im Altbekannten als offene An-Ordnung von Redebruchstücken, die die Vielfalt, Vieldeutigkeit und Unabgeschlossenheit von ‚Liebe‘ offenlegen und erlebbar machen. Keywords: Liebe, Diskurs, Sprache, Fragmente, Medialität, Film, Sinnlich‐ keit, Verkörperung 1 (K)Ein Anfang - ein Fragment Wo beginnen und wie, wenn es im Kern um das Bruchstückhafte, das Nicht-Lo‐ gische, das Nicht-Lineare einer ‚Sprache der Liebe‘ gehen soll? Ein möglicher Ausgangspunkt könnte der folgende Dialog (Min. 0: 43: 09-0: 44: 19) zwischen den beiden Hauptfiguren Clementine und Joel (dargestellt von Kate Winslet und Jim Carey) aus Michel Gondrys Film „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ (2004) sein: <?page no="216"?> - You don’t tell me things, Joel. I’m an open book. I tell you everything. Every damn embarrassing thing-… You don’t trust me. - Constantly talking isn’t necessarily communicating. - I don’t do that. I want to know you. I don’t constantly talk. Jesus! People have to share things, Joel. - Mm-hmm. - That’s what intimacy is. I’m really pissed that you said that to me. - I’m sorry. It just … really just isn’t that interesting. - I wanna read some of those journals you’re constantly scribbling in. What do you write in there if you don’t have any thoughts or passions or … love? Das gemeinsame Sprechen oder Sich-Einander-Mitteilen, das hier als konfliktive Leerstelle zwischen den beiden Liebenden (nicht) zur Sprache kommt, entfaltet sich entlang diverser Bezeichnungen und semantischer Nuancen des Äußerns: to tell, to talk, to communicate, to say, to scribble, to write. Was hier entgegen‐ gesetzt wird, ist nicht nur der mündliche wechselseitige Austausch gegen die schriftliche private Selbstbekundung. Es ist auch die Sinnlichkeit und Ekstase des Sprechens gegen das sinnhafte und logische Bedeuten und Aussagen, das in Joels Satz „Constantly talking isn’t necessarily communicating“ angedeutet wird. Die Szene reicht über die filmische Darstellung eines Streits in einer fiktiven Paarbeziehung hinaus. Sie verkörpert ein medial gerahmtes Räsonieren über die - und gleichzeitig in der - Spezifik des Miteinander-Sprechens zwischen Liebenden selbst, wie es Roland Barthes in seinen „Fragments d’un discours amoureux“ (1977, deutsche Übers. „Fragmente einer Sprache der Liebe“ 1988) unternommen hat. Der besonderen Relevanz (und Tragik) einer nicht empfun‐ denen ‚Balance‘ und Gehaltsamkeit im wechselseitigen Mitteilen, wie sie in der Szene entfaltet wird, widmet sich Barthes unter dem Stichwort „Stummheit“ (1988: 204ff.). Er beschreibt sie als eine destruktiv wirkende Asynchronie, die die affektive Beziehung der Liebenden ihres Zusammenspiels und ihrer Stimmigkeit beraubt: „[…] da ich umsonst spreche, ist es so, als stürbe ich. Denn das geliebte Wesen wird zur bleiernen Gestalt, zur Traumfigur, die nicht spricht, und Stummheit im Traum ist der Tod“ (Barthes 1988: 205, Herv. i. O.). Das Ineinandergreifen des gemeinsamen Sprechens gerät aus dem Takt, es fällt auseinander und hinterlässt die liebende Person auf sich zurückgeworfen, ohne die sie in ihrem Dasein bestätigende Resonanz des geliebten Gegenübers. Barthes’ Ausführungen verleihen dem vorgestellten Filmdialog eine beson‐ dere Prekarität. Die Bedeutungsvielfalt des Sprechens weist sich hier nicht als Vorführung semantischer Spitzfindigkeiten zum Zweck plotbezogener Komik oder Spannungssteigerung aus. Stattdessen erweist es sich als existenziell ver‐ 216 Dorothea Horst <?page no="217"?> 1 „Diskurse sind genauso wie Werkzeuge durch den Gebrauch gekennzeichnet; sie bieten der Analyse Abdrücke von Handlungen oder von Sprechvorgängen.“ (de Certeau 1988: 64, Herv. DH). Der Begriff meint hier eine transtextuelle multimodale semantische Einheit im Sinne Gardts (2007: 30). 2 Der hier verwendete Medienbegriff lehnt sich an Ansätze der wahrnehmungsbasierten Medientheorie und der Phänomenologie des Films an, die ihn als technische Erweite‐ rung menschlicher Wahrnehmung verstehen, der die apriorischen Bedingungen des Verstehens, Urteilens und Imaginierens verändert (vgl. McLuhan 1964, Benjamin 1935, Sobchack 1992). In diesem Sinne soll „[…] Film nicht als Medium der Repräsentation im engen Sinne verstanden werden […], das eine bestimmte Sicht auf die Welt einfach nur wiedergibt. Vielmehr konstituiert der Film selbst eine Welt, indem er in Bildern und Tönen ein Denken entwirft, das anderswo, etwa in anderen Medien oder auch in Formen philosophischer Sprache und Wissenschaft, nicht in gleichem Maße einholbar ist“ (Fahle 2002: 97). koppelt mit der Liebesbeziehung zwischen Ich und Du und ihrer Verkörperung im affektiven Erleben und Fühlen, ebenso wie mit der Wahrnehmung des Selbst und seiner Präsenz. Wie eine (oder verschiedene) Sprache(n) der Liebe in dieser Komplexität (be)greifen, wie sie beschreiben, ordnen, dingfest machen? Barthes folgend, wäre ein analytischer Blick aus einer Metaperspektive von vornherein zum Scheitern verurteilt, entginge ihm doch gerade die „entscheidende Haupt‐ person […], das Ich“ samt dem, „was in seiner Stimme an Unzeitgemäßem, das heißt sich der Behandlung Entziehendem, mitschwingt“ (Barthes 1988: 15, Herv. i. O.). Barthes entscheidet sich aus diesem Grund dezidiert nicht für eine Beschreibung, sondern für eine Inszenierung des Diskurses 1 der Liebe, dem er im Sprechen eines Ich als Liebende: r, gerichtet an ein schweigendes Du, einen lesend sinnlich erfahrbaren Ort gibt (Barthes 1988: 15). Der vorliegende Beitrag stellt die These auf, dass diese medial gerahmte Erfahrbarmachung auch auf Gondrys Film zutrifft: „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ vergegenwärtigt den Diskurs der Liebe als bruchstückhafte Diskon‐ tinuität im und durch das Medium  2 Film. Im Horizont dieser Überlegung wird Gondrys Film anhand von Barthes’ Buch, und im Hinblick auf die Sprache(n) der Liebe, entlang diverser Schlagwörter (Form, System und Performanz, Sinn und Sinnlichkeit und Subjektivität) durchdacht und entfaltet. Schlussendlich stellt sich die Frage, ob und wie der Diskurs der Liebe, den Buch und Film (be)schreiben, überhaupt außerhalb einer medialen Rahmung zu denken wäre. 2 Eine An-Ordnung von Figuren, ein Szenenmosaik Das Augenscheinlichste, was die „Fragmente“ und „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ miteinander verbindet, ist, dass ihre jeweilige Form selbst bereits ihr Inhalt ist. Beide Formate verfügen über keinen chronologischen und Redebruchstücke, Erinnerungsfetzen 217 <?page no="218"?> 3 In der deutschen Übersetzung heißt es „Wie dieses Buch aufgebaut ist“ (Barthes 1988: 15), womit ein formal-struktureller Aspekt in den Vordergrund gerückt wird. Der französische Wortlaut „Comment est fait ce livre“ verweist semantisch expliziter auf die grundsätzliche (künstlerische) Gemachtheit des Werks, seinen Konstruktionsaspekt, der gleichermaßen den von und in ihm geschriebenen ‚Gegenstand‘ betrifft. 4 Barthes (1988: 15) elaboriert in der den „Fragmenten“ vorangestellten ‚Gebrauchsanwei‐ sung‘ dezidiert den metaphorischen Bildspendebereich der Etymologie von ‚Diskurs‘: „Dis-cursus - das meint ursprünglich die Bewegung des Hin-und-Her-Laufens, das ist Kommen und Gehen, das sind ‚Schritte‘ und ‚Verwicklungen‘“. 5 Barthes (1988: 21) weist dezidiert auf die absolute Bedeutungslosigkeit dieser Formge‐ bung hin, wenngleich anzumerken ist, dass sich Projektionen dennoch ergeben, wenn in der deutschen Übersetzung nicht Barthesʼ Abfolge der französisch benannten Figuren übernommen wurde. Auf diese Weise entsteht, wie Ette (2020: 76) ausführt, „eine ganz neue, andere Sequenz“ von Beziehungen, die ihrerseits jedoch auch die Offenheit der Anordnung evident macht. kausallogischen Ablauf und entziehen sich einem eindeutig festzuschreibenden Sinn. Eine zentrale Rolle für diesen Effekt spielt das kreative und ambivalente Ausloten medienspezifischer Gestaltungsmittel und Konventionen. In einer den „Fragmenten“ vorangestellten Kurzzusammenfassung liefert Barthes einige formale und inhaltliche Vorbemerkungen dazu‚ ‚wie dieses Buch gemacht ist‘ 3 und bricht damit explizit die Illusion einer literarischen Fiktion. Diese metakommunikative Form wird wiederum gebrochen, indem er anstelle einer analytischen und distanzierenden Beschreibung eine Inszenierung des Diskurses der Liebe ankündigt: aus der Perspektive bzw. dem Ausdruck eines liebenden Ichs. Das diskursive ‚Sprechen‘ und ‚Sagen‘ vollzieht sich in Redebruchstücken oder Figuren, zwischen denen sich die liebende Person mehr dem Zufall unterworfen, umherirrend und stolpernd, als geradlinig und zielgerichtet hin- und herbewegt. 4 Dementsprechend bilden auch die Figuren untereinander kein kohärentes oder linear aufgebautes System aus, weil sie „sich nicht einordnen, einen Weg bahnen, auf ein gemeinsames Ziel hinstreben (auf eine Niederlassung): es gibt darunter weder erste noch letzte“ (Barthes 1988: 21). Diese grundsätzliche Gleichwertigkeit und Diskontinuität verkörpert sich in einem alphabetisch geordneten Arrangement 5 von insgesamt 80 Figuren oder Szenen unterschiedlicher Liebesgeschehen, die mit Titeln von „Abhängigkeit“ (im Original „S’abîmer“) bis „Zugrundegehen“ (im Original „Vouloir-saisir“) versehen sind. Die Szenen gliedern sich in eine Überschrift, ein darauffolgendes Argument „im Gewand der Definition“ (Ette 2020: 77) und einen durchnumme‐ rierten, aus unterschiedlichen Fragmenten zusammengesetzten Abschnitt, der Reflexionen, Berichte und weiterführende Verweise enthalten kann. Damit fügt sich auch der inszenierte Diskurs eines liebenden Ichs nicht als perfekte Illusion. Unablässig tänzeln die „Fragmente“ zwischen „Bruchstücken 218 Dorothea Horst <?page no="219"?> 6 Zum Beispiel: „Abwesenheit“ („Absence“), „Sehnen“ („Langeur“), „Verausgabung“ („Dé‐ pense“) oder „Ich liebe dich“ („Je-t-aime“). 7 Beispielsweise ist die Figur „Erwachen“ („Réveil“) mit „Morgenständchen“ über‐ schrieben, ohne dass dies hergeleitet oder darauf erklärend Bezug genommen wird. Das Argument bzw. die Definition wiederum betont „verschiedene Stimmungen, in die sich das liebende Subjekt beim Erwachen versetzt findet“ (Barthes 1988: 99). Darauf folgt ein Verweis auf den „Werther“, der von Müdigkeit durch seine Liebesqualen spricht, und eine Aufzählung unterschiedlicher Arten von Erwachen („traurig“, „erschütternd“, „unschuldig“) mit der Randnotiz „Stendhal“. Zwischen den drei formalen Bestandteilen finden sich weder ein erkennbares semantisches Relationsprinzip noch kohäsionsstif‐ tende Mittel zur Unter- oder Überordnung der einzelnen Sätze oder Satzteile. Sie bleiben als offene Fragmente nebeneinanderstehen. Eine zusammenfassende Beschrei‐ bung einzelner Wissensbestandteile in Form eines Übersichtsartikels wie in einem Nachschlagewerk liefern Barthesʼ „Fragmente“ (auch qua Titel) nicht. literarischer und philosophischer, musikalischer und filmischer, schriftlicher und mündlicher, autobiografischer wie fiktionaler Provenienz“ (Ette 2020: 74). Barthes referiert auf Goethes „Werther“, auf Freud, Stendhal, Mozart, Buñuel, um die Spann- und Bandbreite an Verweisen exemplarisch anzudeuten, und verbindet sie mit eigenen motivischen und weiterführenden Reflexionen und Kommentaren - Metatext und Text. In dieser ausgestellten Montagehaftigkeit des Liebesdiskurses bilden Barthesʼ „Fragmente“ „offene, dezentrierte Textge‐ webe“ (Kolesch 1996: 131), die Anklänge eines Nachschlagewerks haben: • durch die arbiträre alphabetische Anordnung anstelle einer kausallogisch linearen, • durch den wiederkehrenden dreiteiligen formalen Aufbau einer Sammlung • vieler einzelner (suggeriert repräsentativer) Situationen oder Ausdrücke 6 und ihrer ‚Bedeutungen‘ bzw. Implikationen sowie weiterführender, bspw. literarischer, Verweise. Die alphabetische Anordnung der 80 Figuren und die assoziative Komposition der einzelnen Bestandteile innerhalb einer Figur 7 unterbrechen gängige Lek‐ türewie Sinngebungsmuster. Abseits von Linearität oder Zielgerichtetheit eröffnen sie vielmehr ein offenes, ja sprunghaft bewegtes Lesen von einer Figur zur anderen, ganz so, wie Barthes (1988: 15) es in seinen Vorbemerkungen etymologisch aus discurrere herleitet. Weder formal noch inhaltlich hält der Liebesdiskurs also Linearität und Konsistenz im Sinne eines durchkomponierten Gesamtwerks bereit: „[E]s ist ein horizontaler Diskurs: keine Transzendenz, kein Heil, kein Roman (aber viel Romanhaftes)“ (Barthes 1988: 20). Ein Narrativ im Sinne einer kausal-logi‐ schen Ordnung, eines erkennbaren Handlungsstrangs, einer lesbaren Story (vgl. Popova 2015: 2) wird nicht eingelöst. Es gibt kein übergreifendes Narrativ Redebruchstücke, Erinnerungsfetzen 219 <?page no="220"?> und damit auch keine intersubjektiv geteilte Sinngebung. Darin kommt die Ambivalenz der Liebe auf den Punkt: Trotz ihrer diversen „multimodalen Ausdrucksformen“ und erlernter „kulturelle[r] Normen, Erwartungshaltungen und auch Regeln der Emotionalität“ (Klug/ Lautenschläger i.d.B.) gibt es im liebenden Sprechen keine sinnhafte Auflösung und keine gemeinschaftliche Erlösung. Der Diskurs der Liebe wird von vielen geführt oder betrieben, aber er ist - und bleibt - „von extremer Einsamkeit“ (Barthes 1988: 13). Anders ausgedrückt: Es gibt möglicherweise ein kollektives Wissen um die Liebe und das Sprechen in Liebe, aber was ‚Liebe‘ in Bezug auf etwas, das geliebt wird, konkret für ein liebendes Subjekt bedeutet, darin bleibt jedes Subjekt in seinem Umherlaufen zwischen den Redebruchstücken für sich, vereinzelt. Auch in „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ ist ein solches dynamisches Hin und Her eines liebenden Ichs eingeschrieben. Wie Barthes’ Buch macht auch der Film sich in seiner Medialität und als künstlerisches Machwerk wahrnehmbar, indem er mal fließend, mal abrupt zwischen diversen Erzählebenen wechselt: Joels Entschluss und Prozess der Löschung seiner Partnerschaft mit Clementine, Clemen‐ tines Leben nach ihrer Löschung der Partnerschaft mit Joel, Joels und Clementines (erste bzw. Wieder-)Begegnung in Montauk, diverse Szenen der Partnerschaft zwischen Clementine und Joel (vgl. Decker 2007: 154). Dreh- und Angelpunkt dieses kontinuierlichen Springens zwischen den Figuren oder Liebesszenen, die es aus Joels Kopf zu löschen gilt, ist - wie bei Barthes - ein assoziatives und unvorhersehbares Prinzip. Ohne Chronologie und Linearität ruft der Zufall Gefühle, Stimmungen und vermeintliche ‚Erinnerungen‘ aus der gemeinsamen Paarbeziehung auf, die sich nicht harmonisch oder konsistent ineinander fügen wollen. Beispielsweise schließt sich während der Löschung von Joels Erinnerungen an die letzte Begegnung mit Clementine (sie kommt nachts betrunken nach Hause, sie streiten, sie verlässt die Wohnung, er fährt ihr nach) durch einen Kameraschwenk von Joel auf der Straße (1. Still, Abb. 1 oben links) zu Joel, wie er neben einer Couch liegt (2. Still, Abb. 1, oben rechts), eine Szene an, in der er neben Clementine essend auf der Couch sitzt (3. Still, Abb. 1, mittig links). Wann diese Sequenz zeitlich zu verorten ist, und in welcher Beziehung sie zur vorherigen ‚Erinnerung‘ steht, klärt sich nicht. Ein Dröhnen im Hintergrund und Tonverzerrungen deuten die Auslöschung der Szene an. Die Essstäbchen, die Joel eben noch in Händen hatte, verschwinden, und er findet sich allein auf der Couch wieder. Das Bild wechselt zu Clementine, die sich anzieht, um auszugehen in dem Outfit, das sie in der zuvor gelöschten letzten Begegnung mit Joel trug (4. Still, Abb. 1, mittig rechts). Nach achronologischer Logik geht die Abfolge Rückkehr - gemeinsames Essen - Anziehen und Aus-der-Tür-Gehen nicht auf. Ein weiteres (zumindest sprachlich-visuell motiviertes) Beispiel für die eher assoziative Montage von Szenen ist der Übergang von Clementines Verlassen der 220 Dorothea Horst <?page no="221"?> Wohnung und der Anschlussszene: In der Tür ruft sie Joel zu, sie hätte ihn auf dem Flohmarkt lassen sollen. Darauf folgt eine Streitszene der beiden auf einem Flohmarkt (5. Still, Abb. 1, unten links). Die Konstruktion eines linear chronologisch oder achronologisch stimmigen Narrativs wird durch solche unvorhersehbaren Sprünge verunmöglicht. Während Barthesʼ Diskurs sich über das Hin- und Herlaufen von Buchstabe zu Buchstabe entfaltet, taumeln die Zuschauer: innen bei Gondry durch Kameraschwenks, harte Schnitte oder Überblendungen von einer Szene in die nächste. Besonders sinnfällig wird die Verwehrung einer kausal-logischen Ordnung in „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ am spielerischen kinematografischen Um‐ gang mit Haupt- und Binnenhandlung (Joel lässt seine und Clementines Beziehung löschen vs. Einblicke in Joels Erinnerungen), narrativer Realität und Fiktion (filmisch auktoriales ‚Beobachten‘ vs. szenische Rollenvielfalt der Figuren als Akteur: innen, Zuschauer: innen, Erzähler: innen), und Erinnern und Erzählen (bereits stattgefunden und unveränderlich vs. sich im Jetzt entfaltend auf Basis von Vergangenem). Abb. 1: Assoziative Montage ‚erinnerter‘ Beziehungsszenen in „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ (Gondry 2004, Min. 0: 39: 51-0: 42: 04) Redebruchstücke, Erinnerungsfetzen 221 <?page no="222"?> 8 Der metaphorische Ausdruck „to fall apart“, der sich auf das Zerwürfnis zwischen den beiden Beziehungspartner: innen bezieht, wird hier in seiner Bildlichkeit durch das herabgestürzte Auto multimodal vergegenwärtigt. 9 Durch die audiovisuelle Inszenierung scheint die Straßenausrichtung, die Joel entlang‐ läuft, in sich gefaltet/ gebrochen, so dass er immer wieder zu seinem Wagen läuft, während Clementine in die andere Richtung geht. Wie die Handlung ist auch der filmische Raum also nicht ‚stimmig‘, sondern offen und ständig in Bewegung. 10 Das über die Szene gelegte Gespräch von Stan und Patrick schreibt sich durch die Verwendung von Demonstrativpronomen („That girl? “ -„Yeah, that’s this guy’s girl.“) im Zusammenspiel mit der Bildkomposition (während dieser beiden Sätze sind jeweils Beide Ebenen, die zu Beginn scheinbar noch klar voneinander getrennt sind, verschränken sich im Verlauf der Zeit immer mehr miteinander. Wie dieses zunehmende Ineinanderfallen ganzheitlich multimodal erfahrbar wird, lässt sich ebenfalls an der bereits erwähnten Sequenz der Löschung von Joels letzter Begegnung mit Clementine illustrieren: Joel ist schlafend in seinem Bett und mit einer Apparatur um seinen Kopf zu sehen, während die beiden Mitarbeiter der Löschungsfirma, Stan und Patrick, neben ihm an einem Tisch mit technischen Geräten die Löschung vornehmen. Der Kommentar „Got it“ des Mitarbeiters Stan suggeriert den erfolgreichen Abschluss des Verfahrens. Nach einem kurzen Gespräch zwischen Stan und seinem Kollegen Patrick wechselt die Szenerie abrupt wieder zu Joel und Clementine zurück, diesmal auf der Straße vor der Wohnung. Während Joel mit dem Auto neben Clementine herfährt und sie bittet, sie nach Hause fahren zu dürfen, schlägt unvermittelt und lautstark im Hintergrund von Clementine ein Auto ein (1. Still, Abb. 2). Dieser harte Bruch mit der bisher störungsfreien Illusion einer abgeschlossenen (und ‚realistischen‘) Erinnerung wird von Joel innerhalb der Szene aus einer Metaperspektive kommentiert, indem er Clementine aus dem Auto zuruft: „Look at it out here. It’s all falling apart. 8 I’m erasing you, and I’m happy. You did it to me first. I can’t believe you did this to me.“ Aus einer strengen diegetischen Logik heraus kann das Erinnerungsbild Joels in dieser (vorvergangenen und abge‐ schlossenen) Situation faktisch nicht über dieses Wissen verfügen. Gleichzeitig kann schwerlich der sich im Tiefschlaf befindliche und dem Löschungsprozess ausgesetzte Joel als handelndes Subjekt in die Erinnerung eingetreten sein. Kurzum, die scheinbaren Eindeutigkeiten der Zeit- und Erzählebenen und die Konsistenz in den Figurenidentitäten werden brüchig. Dazu trägt ebenfalls bei, dass während Joels vergeblichem Versuch, Clementine hinterherzulaufen 9 , Stan und Patrick während ihrer Löscharbeit als Voice-Over-Stimmen hörbar werden und sprachliche Bezüge zum gezeigten Erinnerungsbild herstellen (2. und 3. Still, Abb. 2). 10 222 Dorothea Horst <?page no="223"?> Clementine und Joel im Bild zu sehen) und Schauspiel ( Joel schaut suchend nach oben, um die beiden Sprecher zu entdecken) in sie ein. Abb. 2: Mehrdeutige und interferierende Zeit- und Erzählebenen in „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ (Gondry 2004, Min. 0: 38: 25-0: 39: 14) Derlei Brüche, Interferenzen und Verflechtungen von Zeit- und Erzählebenen nehmen im Verlauf des gesamten Löschvorgangs bei Joel zu und verdichten sich zu einem komplexen assoziativen Gewebe. Insbesondere Joels Versuche die Löschung zu stören und aus ihr auszubrechen, sind hierfür exemplarisch. Sie führen die Offenheit der Figurenidentitäten, die auch Barthesʼ Diskurs der Liebe zwischen Text und Metatext auszeichnet, deutlich vor Augen. Um Clementines vollständige Auslöschung zu verhindern, will Joel sie in einer Erinnerung ‚verstecken‘, die nichts mit ihr zu tun hat. Dies führt zum fantastischen Szenario einer Ineinsbringung der Erinnerungsräume als Erwachsener und als Kind. Abb. 3: Metaphorische Ineinssetzung von Erinnerungsbildern in „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ (Gondry 2004, Min. 1: 00: 10-1: 00: 42) Die filmische Inszenierung transformiert einen Raum, in dem Joel und Clemen‐ tine als erwachsenes Paar auf der Couch sitzen (1. Still oben, Abb. 3), hin Redebruchstücke, Erinnerungsfetzen 223 <?page no="224"?> zu einem hybriden Raum aus Joels Kindheit. Zunächst bleiben beide Räume in der Zuschauer: innenwahrnehmung durch eine Hin- und Herbewegung der Montage getrennt, werden aber zum Beispiel über Parallelen in der Darstellung (Regen) und über Sound (ein Kinderlied, das Joel singt, das Geräusch des Regens) sukzessive in eins gesetzt. Auf diese Weise findet ein metaphorischer Erfah‐ rungstransfer der einen Szene im Sinne der anderen statt (vgl. Lakoff/ Johnson 1980: 3), wobei es sich um ein dreiteiliges Zusammenspiel handelt: Szene 1 (Couch), Szene 2 (Kindheit, 2. Still oben, Abb. 3) sowie das aus ihrer beider Ineinssetzung und Interaktion (3. Still oben, Abb. 3) resultierende Hybrid. Dieses Hybrid wird insbesondere in der Kleidung und dem Aussehen der Figuren sowie in den Größenverhältnissen des filmischen Bildes evident: Joel ist in Kindergröße in einem Kinderpyjama zu sehen (1. Still unten, Abb. 3), hat jedoch sein erwachsenes Aussehen behalten, Clementine trägt Kleider und Frisur im Stil der 70er-Jahre (2. Still unten, Abb. 3), hat aber ihre roten Haare aus der vorherigen Couchszene. Doch nicht nur die filmische Inszenierung betont Diskrepanzen. Auch sprachlich wird die Fantastik des Hybridszenarios als Metatext anschaulich: Joel und Clementine diskutieren weiter über ein geeignetes Versteck vor der Löschung und Joel teilt Clementine mit, dass sich der Lacuna-Angestellte Patrick auf Basis von Erinnerungsstücken der gemeinsamen Partnerschaft Joels Identität, Worte und Geschenke für sie angeeignet hat. Auf diese Weise zeigt sich sowohl implizit - im Wahrnehmungserleben der Szene - als auch explizit - in der Sprache, dass die Figuren im Film ‚nicht aus einem Guss‘ sind, sondern brüchige, transgressive Identitäten haben, und dass Joel und Clementine nicht zu diesem Ort bzw. nicht in diesen (Kindheits-)Raum passen, dass sie hier nicht ‚hingehören‘. Die drei exemplarischen Szenenanalysen zeigen, dass sich - wie bei Barthesʼ „Fragmenten“ - auch bei Gondrys „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ keine ‚störungsfreie‘ Illusion einer fiktiven Realität einstellt, weil sie nie eindeutig ist, immer wieder unterbrochen und gebrochen wird. Im Ergebnis münden diese Brechungen darin, dass kein eindeutiges lineares Narrativ entsteht, sondern ein Mosaik aus Szenen, das sich grundsätzlich von verschiedenen Richtungen und Positionen aus lesen lässt. Der Film entfaltet die vermeintliche Erinnerung als Rekapitulation vergangener ‚objektiver‘ Ereignisse in seinem Verlauf zuneh‐ mend als subjektive (Neu-)Erzählung einer Liebe, als situative und mediale Welterzeugung. Diesen Diskurs der Liebe bringt der Film hervor, aber die Zuschauer: innen vollziehen ihn wahrnehmend am eigenen Leib mit. Wie bei Barthesʼ „Fragmenten“ sind sie sinnlich einbegriffen in das genussvolle Ausloten 224 Dorothea Horst <?page no="225"?> 11 „Le plaisir du texte“ (Barthes 1973). 12 Abweichend zum vormals gebräuchlicheren und eher statischen (weil materiellen) Werkbegriff (vgl. Pichler 2019: 6) prägt Barthes einen Textbegriff, der prozessual und offen verfasst ist und sich konstant im sinnhaften Werden durch Rezipient: innen befindet. und Spielen mit dem Medium (oder dem Text, wie Barthes es genannt hat 11 ) und den Diskurs der Liebe, der erst im Vollzug vollends greifbar wird anstatt in einer objektiven Beschreibung. 3 Einzigartiges Begehren in einem Repertoire von Floskeln Indem sie sich den Leser: innen mit der alphabetischen Anordnung der Fi‐ guren-Topoi als offenen Text 12 präsentieren, sind Barthesʼ „Fragmente“ nie ‚aus‐ erzählt‘ und können immer wieder neu gelesen werden. Barthes greift über das Wechselspiel eines Inventars von Liebesgeschehen und der Offenheit und Indi‐ vidualität seines Zugangs die strukturalistische Unterscheidung einer systemi‐ schen Internalisierung (langue) von ihrer individuellen Aktualisierung (parole) auf. Sein Diskursbegriff eröffnet jenseits einer rein überindividuellen Sprache und eines exklusiven individualisierten Sprechens ein historisch geöffnetes und gleichzeitig situiertes Sprechen durch eine liebende Person. Das Sprechen aus und in Liebe im Rahmen eines sprachlich-strukturalistischen Paradigmas schreibend zu vollziehen, mag zunächst verwundern, gilt doch die Veräußerung dieses großen Gefühls als persönlichster und intimster (Selbst-)Ausdruck eines Menschen. Was Barthes anhand seiner 80 exemplarischen Figuren jedoch evident macht, ist: Liebe macht von sich reden in szenischen Figurationen, in rekurrenten Schemata, in Floskeln. Sie ist ein Code, den „jeder nach Maß‐ gabe seiner eigenen Geschichte ausfüllen [kann]; dürftig oder nicht“ (Barthes 1988: 17). „Der Mythos, daß gerade die Liebe und die Sprache der Liebe etwas individuelles, unnachahmliches und einzigartiges sei, wird damit entlarvt und bleibt doch gültig.“ (Bayerl 2002: 222) „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ greift in den unterschiedlichen Figuren und Liebeskonstellationen altbekannte Muster auf, verspinnt und verwebt sie aber zu einem eigensinnigen Netzwerk: • die jüngere weibliche Angestellte Mary (Kirsten Dunst), die sich in ihren äl‐ teren, verheirateten Vorgesetzten Dr. Mierzwiak (Tom Wilkinson) verliebt; • die mehrfach betrogene Ehefrau Hollis Mierzwiak (Deirdre O’Connell), die im Misstrauen die Ehe fortsetzt und an der Wiederholung des Seitensprungs ihres Partners verzweifelt; Redebruchstücke, Erinnerungsfetzen 225 <?page no="226"?> 13 Vor diesem Hintergrund bewegen sich sämtliche medialen (Genre-)Formen des Dis‐ kurses der Liebe - seien es Romane, Filme, Lieder - im Spannungsfeld zwischen Floskelhaftigkeit und Einzigartigkeit und machen ihn unvergänglich. • das befreundete Paar Carrie und Rob ( Jane Adams und David Cross), das in Beziehungsroutine und genderstereotypen Geschlechterrollen steckt (sie kümmert sich um den Haushalt, er sitzt im Sessel und moralisiert über Clementines Trennung von Joel und ihre Entscheidung zur Gedächtnislö‐ schung) und in einem Akt der Verschiebung seine eigenen Konflikte am Fall von Joel und Clementine aushandelt; • die schüchternen und introvertierten Männer ( Joel, Stan, Patrick), die un‐ beholfen und zurückhaltend im Umgang mit einem (weiblichen) Gegenüber sind, zu dem sie sich hingezogen fühlen; • das ungleiche Paar Clementine und Joel - impulsiv und spontan vs. intro‐ vertiert und zögerlich -, das anfangs an seiner Gegensätzlichkeit Spannung empfindet und sich später daran aufreibt. All diese Figuren, Konstellationen und Situationen entsprechen dem, was Barthes für seine 80 Liebesgeschehens-Bruchstücke beschrieben hat: „Eine Figur ist dann zustande gekommen, wenn wenigstens einer sagen kann: ‚Wie wahr das ist! Diese Sprachszene kenne ich doch.‘“ (Barthes 1988: 16, Herv. i. O.). Zuschauer: innen sind diese Figur(ation)en aus Medienkultur, Gesellschaft oder eigener Erfahrung geläufig. Der Film macht sie erkennbar, indem er aus dem kulturhistorischen Repertoire des (filmischen) Diskurses der Liebe schöpft und ihn zum Sprechen bringt, ja in Szene setzt. Er spielt auf der Metaebene mit dem altbekannten (Liebes-)Lied: ein - weiterer - Film über Liebe und Trennung, Anfang und Ende, Glück und Schmerz. 13 Hier kommt das strukturalistische Systemische als Code, Topik, Floskelsammlung zum Tragen. Eigensinnig aber komponiert der Film aus diesen thematischen Versatzstücken seinen Diskurs einer Liebe, die entsteht und endet und - vielleicht - wieder entsteht, als technisches Science-Fiction-Szenario und Achterbahnfahrt zwischen Erinnern und Vergessen. Auf der Ebene der filmischen Diegese ist die (fiktive) Firma Lacuna mit ihrem Geschäftskonzept die institutionalisierte Bestätigung und Verkörperung einer Liebe im Spannungsfeld zwischen kontinuierlicher Wiederholung und einzigartiger Aktualisierung. Sie verkauft die Möglichkeit, mit schmerzhaften Erinnerungen buchstäblich fertig zu werden, indem diese und das mit ihnen verbundene Wesen in einem computergestützten Verfahren aus dem Gehirn des durch sie belasteten Menschen gelöscht werden. Die altbekannten Muster des Diskurses der Liebe tauchen bei den Kund: innen von Lacuna immer wieder auf - 226 Dorothea Horst <?page no="227"?> 14 Barthes metaphorisiert das jeweilige Ausfüllen der Figuren durch ein liebendes Subjekt mit dem Kinderspiel „Ringlein, Ringlein, du musst wandern“ (1988: 17). 15 Darin ist Barthes’ Diskursverständnis anschlussfähig an das, was die moderne Sprach‐ wissenschaft unter der langue im Sinne eines im Gebrauch gefestigten und ob seiner (wandelbaren) Konventionalität überindividuell nutzbaren Zeichensystems begreift (ich danke Nina-Maria Klug für diesen Hinweis). durchaus in unterschiedlichen Variationen - aber mit denselben Grundmotiven: Vertrauen und Enttäuschung, Anziehung und Entwöhnung, Liebe und Kummer etc. im Rahmen einer unglücklichen Liebe, einer partnerschaftlichen Trennung, des Todes einer nahestehenden Person oder eines Haustiers, eines begangenen Seitensprungs etc. Stets bilden rekurrente Konstellationen und Szenen die Grundlage für die Erfahrung von Schmerz in der Liebe, und doch ist sie jedes Mal neu, existenziell und einzigartig qualvoll. Der Code - Barthes spricht auch von einer „Topik der Liebe“ (1988: 17) - ist damit keineswegs ein starres und abgeschlossenes Gebilde, sondern im Gegen‐ teil äußerst lebendig. Von einem passiven Regelfolgen kann nicht die Rede sein. Vielmehr handelt es sich beim Diskurs der Liebe um ein In-Gebrauch-Nehmen des Codes in seiner Erfüllung, um ein Spiel 14 mit seinen tradierten und zeitlosen Episoden. 15 Diese spielerische Bemächtigung aber ist kein rationaler Bewusst‐ seins- und Sinnstiftungsakt; sie ist zuvorderst ein sinnlicher, lustvoller, leiblicher Prozess. Manchmal ist es der Zufall oder sind es marginale Ereignisse, die diese äußere Form der Figurenabfolge auslösen. Oft aber wählt sich das Begehren des liebenden Subjekts aus dem Figurenvorrat die geeignete aus. Damit ist der Liebende in der Sprache der Liebe zugleich an- und abwesend: einer allgemeinen Sprache, vorgegebenen Zeichen und Regeln überläßt er sich, indem sich aber die Lust seines Körpers in diesen Diskurs einschreibt, wird dieser zum singulären. (Bayerl 2002: 223) Damit holt Barthes den Körper (zurück) ins Zentrum allen Sprechens. Als sinnliches, verkörpertes Ausdrucksphänomen und Ausdrucksverhalten lässt es sich weder abstrahieren noch metadiskursiv vergegenständlichen. Einzig im Vollzug, im verkörperten Sein, als bewegter und sich bewegender Text, ohne Anfang und Ende, ohne kausale Logik, als atemlos stotternder Redefluss wird der Diskurs der Liebe buchstäblich er-lebbar. Er entfaltet sich in einem eigenwilligen Zusammenspiel aus formelhafter Systematik und einzigartiger Performanz, dessen Medium Körper und Begehren sind. In Gondrys Film markiert Clementines und Joels erneute Begegnung und wiederholtes Verlieben nach den beiden vollzogenen Löschungen einen solchen sinnlichen Überschuss und führt Lacunas Geschäftsmodell ad absurdum. In der Redebruchstücke, Erinnerungsfetzen 227 <?page no="228"?> 16 „In den nicht-persönlichen Figuren eines Liebes-Diskurses vermittelt sich verblüffen‐ derweise das Intimste und zeigt uns, […] daß gerade Wort-Hülsen zum Schutz des Unfaßbaren dienen.“ (Bayerl 2002: 224) spezifischen Aneignung des Liebesdiskurses, die der Film als Erfahrung eines bi‐ zarren Umherirrens zwischen Erinnerung, Traum und ‚Realität‘, Vergangenheit, Irrealität und Gegenwart umsetzt, wird das Zusammenspiel von Wiederholung und Einzigartigkeit im selben Moment anerkannt und übertrieben. Die Vergan‐ genheit der eingegangenen und dann zerbrochenen Beziehung wird in der Gegenwart zur potenziell wahrscheinlichen - oder im nunmehr vorhersehenden Wissen gerade nicht eintretenden? - Zukunft. Wird es dieselbe Version wie die vorherige oder eine andere, obwohl sie durch dieselben Träger: innen-Subjekte verkörpert wird? Sind diese Subjekte überhaupt dieselben oder andere? Selbst‐ verständnis und Konzept von Lacuna sehen ein vollständiges Vergessen vor, eine kognitiv emotionale tabula rasa, auf der alsdann ein neuer Diskurs sich einschreiben kann. Ein Weiterschreiben im Wissen und in gleicher Besetzung ist nicht vorgesehen. Genau das aber tun Clementine und Joel mit ihrem zweiten Versuch und anerkennen, ja zelebrieren, damit die Ambivalenz des Liebesdiskurses, auch verbal: Joel: I can’t see anything that I don’t like about you. Clementine: But you will! But you will. You know, you will think of things. And I’ll get bored with you and feel trapped because that’s what happens with me. Joel: Okay. Clementine: … Okay. Diese Ambivalenz aus einzigartigem Begehren in einem Repertoire von Floskeln beschreibt Barthes als obszön: „Im Leben der Liebenden ist das Gewebe der Begebenheiten von einer unglaublichen Belanglosigkeit, und diese Belanglosig‐ keit, die mit dem größten Ernst im Bunde steht, ist im eigentlichen Sinne ungebührlich“ (Barthes 1988: 183). Die filmischen Figuren Clementine und Joel wissen um diesen „etwas närrischen Sport“ (Barthes 1988: 16), betreiben ihn aber trotzdem mit aller Ernsthaftigkeit bis zur Verausgabung. Nicht trotz, sondern gerade aufgrund seines codehaften Wesens, kann der Diskurs der Liebe so einzigartig sein. 16 Das macht Gondrys Film sinnfällig am Beispiel der Bemächtigung Joels - seiner Erinnerungen, Worte, Geschenke für Clementine - durch den Lacuna-Angestellten Patrick (gespielt von Elijah Wood). Wie sich aus einem Gespräch zwischen ihm und seinem Kollegen Stan (Mark Ruffalo) ergibt, hat Patrick sich während der Löschungsprozedur bei Cle‐ mentine in sie verliebt. Die durch sie zur Vorbereitung des Eingriffs an Lacuna 228 Dorothea Horst <?page no="229"?> 17 Bayerl (2002: 222) weist darauf hin, dass es sich beim Liebesdiskurs um Mimesis handelt, weil er Zeichen gleichzeitig gebrauchen und unterminieren kann. Diesen ambivalenten Zugang weist die rückbezügliche Imitation nicht auf. übergebenen Erinnerungsstücke an ihre Beziehung mit Joel hat Patrick an sich genommen und trägt sie in seinem Rucksack bei sich, aus dem er punktuell Hintergrundwissen über Clementine und bestimmte Situationen generiert. Sein Vorhaben, den intimen Moment der beiden nebeneinanderliegend auf einem zugefrorenen Charles River (1. Still, Abb. 4) zu reinszenieren und sich an Joels statt in ihn einzuschreiben (oder ihn zu überschreiben), geht nicht auf, obwohl er exakt dieselben Worte wie Joel benutzt, als er neben Clementine auf dem Eis liegt (2. Still, Abb. 4): „I could die right now, Clem. I’m just… happy. I’ve never felt that before. I’m just exactly where I want to be.“ Abb. 4: Unhintergehbare Einzigartigkeit des Liebesdiskurses in „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ (Gondry 2004, Min. 0: 53: 39, 0: 57: 27) Während Clementine allerdings bei Joel ergriffen war, reagiert sie auf Patricks Version der Szene verärgert und bricht das Liegen auf dem Eis ab. Das einseitige (Miss-)Verständnis des Liebesdiskurses als reine Plattheit und Banalität, d. h. als bloße Kopie, rächt sich. 17 Das einzigartige Begehren eines spezifischen Körpers ist nicht aufrichtig, weil Patrick eine Identität (und damit auch einen Körper) vorgibt, die nicht seine ist, über die er aber zu verfügen sucht. In dieser Zurückhaltung und Unterdrückung seiner selbst macht er den Körper, den er benutzt, aber nicht leiblich bewohnt, zum Objekt. Damit verobjektiviert er auch den Diskurs der Liebe, den er aus einer Außenperspektive betrachten, ein- und abzuschätzen und steuern zu können glaubt. Das Hinter-Sich-Zurücktreten fällt jedoch auf ihn zurück. Gerade einer Floskel will aufrichtig und respektvoll begegnet sein. In der ernsthaften Durchspielung des fiktiven Szenarios, den Schmerz und die Ambivalenz der Liebe durch Vergessen/ Löschung in den Griff zu bekommen, stellt „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ die Topoi der Liebe Redebruchstücke, Erinnerungsfetzen 229 <?page no="230"?> einerseits spielerisch auf den Kopf und schüttelt sie kräftig durch, während er ihnen gleichzeitig huldigt. Es ist dieses Genießen, das in seiner radikalen Aus‐ stellung als „spielerisch-ästhetisch[e]“ (Kolesch 1996: 132) und kreative Praxis sowohl Gondrys Film als auch Barthes’ „Fragmente“ prägt. Beide knüpfen an das sprachlich-strukturalistische Paradigma eines systemischen Codes an und unterwandern es gleichzeitig in ihrer (medial gerahmten und sinnlich erfahrbaren) bruchstückhaften Diskursivität. Bei Barthes wie bei Gondry emergiert der Sinn des Diskurses der Liebe aus seinem lustvollen Schreiben bzw. Wahrnehmen. Dieses fast trotzige Schwelgen im anerkennenden Wissen um die Ambivalenz einer Sprachmaschine des Banalen und ihres einzigar‐ tigen Tiefgangs, des tiefen Glücks und des qualvollen Schmerzes kommt in einem kurzen Wortwechsel zwischen Clementine und Joel kurz vor Ende des Films auf den Punkt: Clementine: This is it, Joel. It’s going to be gone soon. […] What do we do? Joel: Enjoy it. 4 Ein sinnlich hervorgebrachter Sinn und ein multiples Subjekt Sinnlichkeit und Medialität des Diskurses der Liebe setzt Barthes gleich zu Be‐ ginn der „Fragmente“ zentral, indem er sich weigert, ihn aus einer analytischen Metaperspektive zu erfassen: „Daher die Wahl einer ‚dramatischen‘ Methode, die auf Beispiele verzichtet und sich einzig auf die Wirkungsweise einer ersten Sprache (keiner Metasprache) stützt. Die Beschreibung des Diskurses der Liebe ist also durch seine Nachbildung ersetzt worden […]“ (Barthes 1988: 19). Damit setzt Barthes einerseits die wissende, sich unsichtbar machende, entkörperte und affektlose Autor: inneninstanz außer Kraft. Gleichzeitig macht er mit der machtvollen Rückkehr des Körpers und des Begehrens die diskursive Bewegung (das discurrere) selbst zur Quelle von Sinnfälligkeit. Es sind die Prozessualität, Dynamik und Intensität der zeitlichen und qualitativen Entfaltung des Dis‐ kurses, die für Barthes im Zentrum (des Genießens) stehen: „Barthes’ Akzent liegt auf der Produktion, nicht auf dem fertigen Produkt“ (Röttger-Denker 1989: 36). Das liebende Ich befindet sich darin konstant im Werden und Verändern: „Barthes diagnostiziert keine Auslöschung des Subjekts im Text“, sondern ein Ich, das schreibend hervorgebracht wird und „als Imaginationsform des Subjekts aufzufassen ist“ (Kolesch 1996: 156). Der Körper markiert die Schnittstelle zwi‐ schen Produzent: in und Werk, und dieser sinnliche Schöpfungsprozess löst die 230 Dorothea Horst <?page no="231"?> 18 Um den Aspekt der Lust am Diskurs explizit herauszustellen, wäre wohl von einer ‚Genussgemeinschaft‘ zu sprechen. etablierte Trennung zwischen aktivem künstlerischen Produktionsprozess und passivem Rezeptionsprozess auf. Im sinnlich verkörperten Wahrnehmungsakt des Schreibens wie des Lesens wird das liebende Ich immer wieder neu hervorgebracht: „Die Lektüre von Barthes’ Texten, Texten der Lust/ Wollust, macht aus dem Leser einen Mit-Produzenten, keinen stummen Konsumenten“ (Röttger-Denker 1989: 36). Barthes’ Text-Körper adressiert und erfasst Lesende sinnlich-affektiv durch „eine an den Körper rückgebundene Schreibweise“ (Bayerl 2002: 226). Überdies bietet die offene Form der „Fragmente“ als nicht logische und nicht lineare, sondern gleichwertige Anordnung der Figuren Raum für eine eigen(willig)e Lektüre-Écriture. Auf diese schöpferische, verkörperte Teilhabe scheint Barthes anzuspielen, wenn er in den Vorbemerkungen schreibt: „Das Buch wäre idealerweise eine Interessengemeinschaft, Herv. i. O.: ‚Den Lesern - den Liebenden - Vereint‘“ (Barthes 1988: 17). 18 Wie die Écriture von Barthes’ „Fragmenten“ führen die Inszenierung und das ästhetische Erleben von „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ in ihrer Offenheit, Bruchstückhaftigkeit und Ambivalenz das Filmesehen als schöpferische Aktivität der Zuschauer: innen vor Augen. Der Film stellt den Akt filmischer Bedeutungskonstruktion durch seine Mosaikhaftigkeit als symbolische Sinnsuche performativ zur Schau, führt sie gleichzeitig ad absurdum und feiert sie, indem er ihr einen weiten Spielraum eröffnet, in dem sie sich lustvoll austoben kann. Wie Barthes’ Diskurs der Liebe irrlichtert „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ von einer Szene oder ‚Erinnerung‘ zur nächsten: teilweise assoziativ und eklektisch (beispielsweise die in Kapitel 2 angeführte assoziative Montage ‚erinnerter‘ Beziehungss‐ zenen von der letzten Begegnung vor der Trennung zum gemeinsamen Essen zu Clementines Aufbruch, um auszugehen), teilweise scheinbar logisch und narrativ motiviert (beispielsweise folgt nach der ‚Aufspürung‘ Joels in einer Badeerinnerung seiner Kindheit eine Einstellung des erwachsenen, aber nassen Joel in einer Erinnerung mit Clementine, Abb. 5). Redebruchstücke, Erinnerungsfetzen 231 <?page no="232"?> 19 Ein Fall von Mimesis, wie ihn Bayerl (2002: 222) für Barthes aufgezeigt hat. Abb. 5: Motivierter Szenenwechsel in „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ (Gondry 2004, Min. 1: 08: 27, Min. 1: 09: 10) Gondrys Film etabliert jedoch grundsätzlich keine kausallogische Ordnung eines chronologischen Ablaufs von Begebenheiten, sondern ordnet unterschied‐ liche Szenen nacheinander an oder legt sie inbzw. übereinander, ohne sich auf ein übergreifendes Regelprinzip festzulegen. In diesem Zurücktreten von chronologischer Ordnung und eindeutigem (Abfolge-)Sinn rückt ein Spiel mit der ästhetischen Form in den Vordergrund. Der Film entfaltet vor allem eine Lust an der Wiederholung, die kein 1: 1-Abbild ist 19 - am Durchspielen, Abbrechen, Aufgreifen, Neu-Arrangieren, Überlagern, Fortführen. Die Interferenz von Joels Löschprozess, der Vorbereitung des Löschprozesses bei Lacuna und einer nicht klar zuordbaren kommentierenden Subjektposition Joels, entfaltet filmische ‚Erinnerungs‘bilder von extremer Absurdität und auch Komik, die gleichzeitig jedoch voller Poesie sind. Als Joels Erinnerungen an Clementine bei der Vorbe‐ reitung des Eingriffs mittels einer Art MRT in seinem Gehirn kartiert werden sollen, treten Sound, Rede und Montage in einen Loop vorheriger Momente und Szenen, die immer stärker verschwimmen (u.a. durch Unscharfeinstellung der Kamera oder Tonstörgeräusche, Min. 0: 32: 14-0: 32: 36). Alsdann wechselt der Film kontinuierlich zwischen dem Setting von Joels Wohnung während der Löschung und Joel bei Lacuna während seines Vorgesprächs (letzteres wird zusätzlich von einem nicht zuordbaren kommentierenden Joel überlagert). Der Rhythmus dieses szenischen Wechselspiels schraubt sich, gestützt von einer unterlegten Tonabfolge, die in immer neuen Variationen wiederholt wird, immer mehr ‚nach oben‘, wird dynamischer und spannungsgeladener und entfaltet die Erfahrung eines zunehmenden Taumels wie durch ein sich immer schneller drehendes Karussell. Dass hier narrative Sinnsuche ebenso wie Sinngebung durch Sprachbedeu‐ tung ausgedient haben, wird bemerkenswerterweise sprachlich expliziert. Als Joel zur Lokalisierung seiner Erinnerung an Clementine die gemeinsamen 232 Dorothea Horst <?page no="233"?> Erinnerungsstücke vorgesetzt werden und er beginnt, die Geschichte hinter dem ersten Gegenstand zu erzählen, unterbricht ihn Stan mit den Worten: „No, actually, Mister Barish, I get a much better emotional readout if you refrain from any sort of verbal description on the items. Just, please, try to focus on the memories“ (Min. 0: 32: 00-0: 32: 10). Genau diese Erinnerungen weisen sich jedoch als rational nicht verlässlich, uneindeutig und ambigue aus, wie Joels ‚Erinnerungs-‘Sequenzen bei Lacuna zeigen. Er begegnet sich dort zweifach: als Teil der Erinnerung (Stills 2, 3 und 4, Abb. 6 oben rechts, unten links und unten rechts) und als ihr Zuschauer (Stills 1 und 3, Abb. 6 oben links und unten links). Die (er)neu(t) durchlebte Szene wird aus multiplen Kameraperspektiven durchgespielt und dadurch in ihrem Status als klar abgeschlossene Erinnerung eines selbstidentischen Subjekts brüchig. Abb. 6: Multiple Kamera- und Subjektperspektiven in „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ (Gondry 2004, Min. 0: 33: 04-0: 33: 17) Indem Subjektstatus der Figuren, Eindeutigkeit, Abfolgelogik und Narration im Film auf diese Weise ad absurdum geführt werden, stellt sich das Filmi‐ sche in seiner Medialität und Eigengesetzlichkeit aus. Im Sehen erleben die Zuschauer: innen über die Szenenwechsel, Handlungssprünge, Überlagerungen am eigenen Leib eine fremde kreative (und realweltlich unmögliche) Wahrneh‐ mungsform. Diese erlebte Ambivalenz und versuchte Vereindeutigung verschie‐ dener widersprüchlicher Perspektiven zur gleichen Zeit thematisiert im Film die nicht zuordbare Subjektposition Joels (im Pyjama) - für sich, jedoch auf Redebruchstücke, Erinnerungsfetzen 233 <?page no="234"?> 20 Das Original stammt von James Warren aus dem Jahre 1980. einer Metaebene auch für die Zuschauer: innen des Films: „Why am I? I don’t understand what I’m looking at. Why am I … standing here and … Oh my God, Déjà vu! Déjà vu! This is so…“. Mit diesem leihweisen Sprechen für die Zuschauer: innen tritt der Film heraus aus der Fiktion der Diegese, in die Sehsituation im Kino oder zu Hause und begreift sie ein. Die Vorstellung einer Trennung zwischen Filmobjekt und Zuschauer: innensubjekt bzw. zwischen Filmwelt und Realwelt ist nicht länger aufrechtzuerhalten. Beide sind im Akt des verkörperten Wahrnehmens unmit‐ telbar miteinander verbunden. Der filmische Diskurs der Liebe macht damit auch die Vorstellung eines selbstidentischen Zuschauer: innensubjekts brüchig. Guattari (2006: 62f.) hat eine solche fluide und heterogene Subjektivität, die über alternierende Formen und Positionen erfahrbar wird, als (medien-)spezifisch für das Kino beschrieben. In der verkörperten Verbindung mit dem Film entsteht ein multipler Zuschauer: innen-Filmkörper, dessen Subjektstatus in konstanter Transformation begriffen ist. Diese filmische Subjektivität „zerplatzt in eine Vielheit von Polen“, „[e]s geht nicht […] mehr um ein Subjekt des Aussagens im eigentlichen Sinne; denn was von diesen Polen aus gesendet wird, ist nicht allein ein Diskurs, sondern das sind Intensitäten aller Art“ (Guattari 2006: 62). Die Betonung dieses sinnlich verkörperten Erlebens einer Vielheit von Sub‐ jektivität ist eingebettet in Gondrys filmischen Diskurs der Liebe, sein exzessives Collagieren von Szenen durch Kombinieren, Auseinanderreißen, Neuanordnen von Bekanntem zu Neuem/ Alten. All das ist ein ausgiebiges genussvolles Bad im Medium des Films, in das er die Zuschauer: innen körperlich hineinzieht. Ein prägnantes Beispiel ist die auf vielfältige Art und Weise realisierte Inbezug‐ setzung unterschiedlicher Räume, Zeiten und Ereignisse. Beispielsweise endet die Eröffnungssequenz von Joels Fahrt nach Montauk, seiner - (er)neu(t)en - Begegnung mit Clementine und beider gemeinsam verbrachter Zeit bis zum frühen Morgen, mit einer Einstellung des auf Clementine wartenden Joel in seinem Auto, wie er das Seitenfenster hochkurbelt (1. Still, Abb. 7), durch eine Abblende ins Schwarze. Diese Montagetechnik ist ein klassisches filmisches Mittel, um Zeit- oder Ortssprünge zu insinuieren. Unterstützt wird dieses Moment durch ein paralleles Fade-Out des laufenden Motors aus der endenden Szene über einen kurzen Moment völliger Stille (bei paralleler Schwärze des Bildes) hin zu einem raschen Fade-In des Coversongs „Everybody’s gotta learn sometime“ von Beck 20 , zu dem Joel umgeben von Dunkelheit und mit einer Mütze auf dem Kopf weinend hinter dem Steuer seines Autos zu sehen ist (2. Still, Abb. 7). 234 Dorothea Horst <?page no="235"?> 21 Die Kameraposition ist nur leicht verändert - nach der Abblende erfasst sie Joel durch die Frontscheibe des Autos, wodurch die Zuschauer: innen das Lenkrad und den Rückspiegel und nicht, wie zuvor, den Autositz im Bild sehen. Abb. 7: Ein Zeitsprung mit Kontinuitäten in „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ (Gondry 2004, Min. 0: 17: 29-0: 17: 38) Ganz eindeutig und absolut ist dieser Zeit-Ortssprung jedoch nicht aufgrund eines bildkompositorisch visuellen und eines akustischen Kontinuitätsaspekts: Joel ist, wie zuvor, in Nahaufnahme im Auto aus einer leichten Aufsicht von außen zu sehen 21 , und das Geräusch des laufenden Motors setzt wieder ein. Der Film bedient sich hier einer etablierten Form der Montagetechnik, mit der unterschiedliche Einstellungen in Bezug zueinander gesetzt und auf diese Weise narrativ gedeutet werden. Gleichzeitig spielt er mit dieser Form, lotet sie kreativ aus, indem er sie ins Ambivalente öffnet und ihr seine eigene ästhetische Handschrift verleiht. Das genussvolle Schwelgen sowohl in der „Beständigkeit als auch […] Subversion bestimmter Regeln oder Codes“ (Kolesch 1996: 165) sowohl in den „Fragmenten“ als auch in „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ ist untrennbar verbunden mit einem Ausloten der Medialität des Liebesdiskurses als Text bzw. von Sprache im Allgemeinen. Im kreativen Spiel mit der Sprache rückt ihre Zweckausrichtung als kommunikative Mitteilung durch autonome und selbstidentische Sprachsubjekte, die über einen systemischen Code zum gegen‐ seitigen Verstehen verfügen, in den Hintergrund. Stattdessen eröffnen sich in der Freisetzung sprachlich medialer Eigenwilligkeit Frei- und Spielräume, die über die Ausstellung von Überschuss, Sinnlichkeit und Ambivalenz grundsätz‐ liche Bedingungen und Möglichkeiten symbolischer Sinnstiftung performativ erkunden und durchspielen. Dafür bildet der Diskurs der Liebe das sprachliche Paradigma. Anhand Barthes’ und Gondrys, ihrer beider medienspezifischem rekursiven Spiel mit Formeln und Figuren zur Hervorbringung neuer einzigartiger Diskurse wäre abschließend nach der prinzipiellen medialen Rahmung des Diskurses Redebruchstücke, Erinnerungsfetzen 235 <?page no="236"?> der Liebe zu fragen. Ist Liebe überhaupt anders als in einer medialen Form - geschrieben oder gesprochen, visuell oder audiovisuell etc. - zu denken und zu be-greifen? 5 Kein Abschluss - ein Zwischenraum Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags war die These, dass Gondrys „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ einen Barthes’schen Diskurs der Liebe im und durch das Medium Film in Szene setzt: als fragmentarisches, nicht lineares und ambivalentes Szenenmosaik ohne Anfang oder Ende. Diese Überlegung wurde anhand der drei Aspekte Form, System und Performanz sowie Sinnlichkeit und Subjektivität illustriert: • Die Montage zeitlich und räumlich nicht klar zuordbarer Szenen sowie Brüche, Interferenzen und Verflechtungen von Zeit- und Erzählebenen bei Gondry korrespondiert mit Barthes’ explizit „bedeutungslosem“ alphabe‐ tisch geordneten Arrangement von Figuren oder Szenen unterschiedlicher Liebesgeschehen. Auf diese Weise wird die Ausbildung eines in sich ab‐ geschlossenen chronologischen und kausal-logischen Narrativs verunmög‐ licht. • Die Spezifik von Barthes’ Diskursbegriff als systemisch basiertes, historisch geöffnetes und gleichzeitig situiertes Sprechen durch eine liebende Person (siehe Kapitel 3) findet in „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ sein Pendant in Liebes-Figurationen aus dem kulturhistorischen Repertoire des (filmischen) Diskurses der Liebe, die zu einem technischen Science-Fic‐ tion-Szenario zwischen Erinnern und Vergessen entfaltet werden. • Die Zentralsetzung von Körper und Begehren in Barthes’ Text-Körper, der Lesende sinnlich adressiert und zu Schreibenden macht, führt bei Gondry die filmische Ästhetik von Offenheit, Bruchstückhaftigkeit und Ambivalenz das Filmesehen als schöpferische und lustvolle Aktivität der Zuschauer: innen vor Augen. Diese sinnliche Verkörperung im Akt des Lesens/ Sehens und die Heterogenität des liebenden Ichs unterwandert das Konzept eines selbstidentischen Subjekts zugunsten einer multiplen Subjektivität. Weder Gondry noch Barthes zeigen oder schreiben über die Liebe aus der Distanz. Sie theoretisieren sie nicht, sondern setzen sich und die Zu‐ schauer: innen/ Leser: innen ihr aus: Über die Inszenierung eines liebenden Ichs machen sie die Liebe in ihrer Körperlichkeit und ihrem Begehren sinnlich erfahrbar. Die Medialität des jeweiligen Formats Film und Buch spielt hierfür 236 Dorothea Horst <?page no="237"?> eine zentrale Rolle. Spielerisch werden sie mit all ihren spezifischen Mitteln ästhetisch ausgelotet und ausgestellt, um die Offenheit, Vielfältigkeit und Ambivalenz des Liebesdiskurses erlebbar zu machen. Vor diesem Hintergrund erscheint die performative Hervorhebung der Me‐ dialität des Diskurses der Liebe und seiner körperlichen Durchwirkung als conditio sine qua non, um sich ‚der‘ Liebe überhaupt nähern zu können. Wie sonst von Liebe erzählen, sprechen, sie zeigen, sie beklagen, in ihr schwelgen, unter ihr leiden etc. als in ihrer medialen Vergegenwärtigung im Spannungsfeld zwischen rekurrenten Mustern und einzigartigen Realisierungen, zwischen Ausdruck und Erfahrung, zwischen kulturhistorischer/ sozialer Einbettung und individualisierender Einzigartigkeit? Diese mediale Komplexität und Vielheit spiegelt sich auch im Titel dieses Bandes wider, der metasprachlich die Offenheit von Liebe, vom Diskurs der Liebe und letztlich auch von Sprache explizit macht: „Sprache(n) der Liebe“. Denn […] dort ist Liebe nichts Abgeschlossenes, keine wie auch immer definierte Es‐ sentialität, sondern ein in ständig neuen Konfigurationen und Positionen realisierter Diskurs, der […] so stereotyp und mechanistisch, und doch im Erleben zugleich so unvergleichlich und immer wieder neu konkretisiert wird. (Ette 2020: 311) Für die (wissenschaftliche) Auseinandersetzung mit ‚der‘ Liebe eröffnen der Bar‐ thes’sche Diskurs und Gondrys filmische Umsetzung einen weiten Spielraum zur (Wieder-)Entdeckung ihrer Vielfältigkeit, Vieldeutigkeit, Sinnlichkeit und insbesondere ihrer Unfassbarkeit, über die es kein letztes Wort geben kann. „Die Liebe entzieht sich […] jeglicher diskursiver Herrschaft über sie. Die Liebe steht mit dem Körper und dem Leib […] und mit der Lust im Bunde.“ (Ette 2020: 81) Was tun mit dieser Erkenntnis? - Sie genießen! Bibliografie Quellen (Film) Gondry, Michel (2004). Eternal Sunshine of the Spotless Mind. USA: Anonymous Con‐ tent/ This is That Productions. Literatur Barthes, Roland (1988). Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt am Main (Orig. erschienen 1977. Fragments d'un discours amoureux.). Barthes, Roland (1973). Le Plaisir du texte. Paris. Redebruchstücke, Erinnerungsfetzen 237 <?page no="238"?> Bayerl, Sabine (2002). Von der Sprache der Musik zur Musik der Sprache. Konzepte zur Spracherweiterung bei Adorno, Kristeva und Barthes. Würzburg. Benjamin, Walter (1988). Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier‐ barkeit. Frankfurt a. M. (Orig. erschienen 1935) Certeau, Michel de (1988). Kunst des Handelns. Berlin. Decker, Jan-Oliver (2007). Innovativer Stil - konservative Ideologie. Überlegungen zu einem Epochenstil der ‚Postmoderne‘ am Beispiel von Michel Gondrys Eternal Sunshine of the Spotless Mind. Ars Semeiotica 30: 1-2, 153-175. Ette, Ottmar (2020). LiebeLesen. Potsdamer Vorlesungen zu einem großen Gefühl und dessen Aneignung. Berlin/ Boston. Fahle, Oliver (2002). Zeitspaltungen. Gedächtnis und Erinnerung bei Gilles Deleuze. montage/ av 11: 1, 97-112. Gardt, Andreas (2007). Diskursanalyse. Aktueller theoretischer Ort und methodische Möglichkeiten. In: Warnke, Ingo H. (Hrsg.) Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände. Berlin/ New York, 28-52. Guattari, Félix (2006). Die Couch des Armen. Maske und Kothurn 52: 1, 55-64 (Orig. erschienen 1975. Le divan du pauvre). Klug, Nina-Maria/ Lautenschläger, Sina (2024). Einleitung. In: Klug, Nina-Maria/ Lauten‐ schläger, Sina (Hrsg.) True Love. Sprache(n) der Liebe in Text und Gespräch. Tübingen, 7-14. Kolesch, Doris (1996). Das Schreiben des Subjekts. Zur Inszenierung ästhetischer Sub‐ jektivität bei Baudelaire, Barthes und Adorno. Wien. Lakoff, George/ Johnson, Mark (1980). Metaphors We Live By. Chicago. McLuhan, Marshall (1964). Understanding Media. The Extensions of Man. New York. Pichler, Doris (2019). Der literaturwissenschaftliche Textbegriff als interdisziplinärer Transfer-begriff. Textpraxis 17: 2. Abrufbar unter: https: / / www.textpraxis.net/ der -literaturwissenschaftliche-textbegriff-als-interdisziplinaerer-transferbegriff (Stand: 25.09.2023) Popova, Yanna B. (2015). Stories, Meaning, and Experience. Narrativity and Enaction. New York/ London. Röttger-Denker, Gabriele (1989). Roland Barthes zur Einführung. Hamburg. Sobchack, Vivian (1992). The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience. Princeton. 238 Dorothea Horst <?page no="239"?> 1 Tierkategorien wie ‚Nutztiere‘, ‚Zootiere‘, ‚Haustiere‘ usw. werden im Folgenden in einfache Einführungsklammern gesetzt, um deutlich zu machen, dass es sich hierbei um eine sprachliche Konstruktion mit einer bestimmten menschlichen Perspektive (mit einer entsprechenden Deontik, Wertung usw.) auf diese Tiere handelt. True Love? Inszenierte Tierliebe in Zoo-Doku-Soaps Pamela Steen Abstract: Dieser medienbzw. gesprächslinguistische Beitrag widmet sich der Frage, wie Tierliebe in Zoo-Doku-Soaps sprachlich und multimodal inszeniert wird, welche Funktionen sie für die Narration und welche Aus‐ wirkungen sie auf das Mensch-‚Zootier‘-Verhältnis hat. Im Sinne einer Tierlinguistik werden menschliche und nichtmenschliche Tiere theoretisch gleichwertig als soziale Akteur: innen modelliert. Die Analysen zeigen, dass für die Inszenierung von Tierliebe insbesondere naturalisierte, anthropomor‐ phisierende Gender-Aspekte zentrale Funktionen aufweisen. Keywords: Tierlinguistik, Medienlinguistik, Tierliebe, Zoo-Doku-Soaps, Emotionalisieren, Gender, Anthropomorphisieren 1 Linguistik und ‚Zootiere‘: Zoo-Doku-Soaps Seit der Jahrtausendwende nehmen auch in Deutschland Forschungen zum sozialen Mensch-Tier-Verhältnis unter der Bezeichnung Human-Animal Studies (HAS) zu. Dabei stehen u. a. ‚Zootiere‘ 1 im Interesse der interdisziplinären Untersuchungen (vgl. Ullrich 2015). Auch die linguistische Pragmatik kann für die HAS einen Beitrag leisten, indem sie interspezifische Kommunikations- und Interaktionspraktiken analysiert, z. B. die Gespräche von Zoobesucher: innen als kommunikative Gattung (vgl. Steen 2022). Dieser Beitrag widmet sich der sprachlich-medial konstruierten Liebe von ‚Zootieren‘ in Zoo-Doku-Soaps, die sich in diesem Format als ein Schlüsselaspekt der filmisch-narrativen Darstel‐ lung erweist. <?page no="240"?> Zoo-Doku-Soaps versprechen zumeist mit intertextuellen Titeln wie „Hart aber herzlich“ (2009) oder „Manche mögen’s heiß“ (2011) - wie hier die Leipziger Sendung „Elefant, Tiger & Co.“ - spannende Geschichten rund um präsentierte ‚Zootiere‘. Dass die Soaps oftmals auf Serienbzw. Filmtitel referieren, ist nicht verwunderlich. Als Reality-TV-Format bilden sie ein hybrides Genre, das populäre mediale Themenschwerpunkte und verschiedene Genres vereint. Viele Sendungen greifen das Thema Liebe auf, denn eine Verbindung von Liebe und Tieren verspricht hohe Einschaltquoten aufgrund eines großen Emotionspotenzials. Zwar haben die deutschen Zoo-Doku-Soaps ihre Blütezeit (ca. 2003 bis 2018, 16 Serien) hinter sich, denn mittlerweile wird nur noch in Leipzig und Hannover neu produziert, aber die Soaps werden in den Regionalprogrammen wiederholt und können auf Internetplattformen wie YouTube angesehen werden. Trotz der Dezimierung des Formats im aktuellen TV hat das Genre daher wenig an Beliebtheit eingebüßt, und es hat mit seinen hochgradig typisierten Erzählformen noch immer einen großen Einfluss auf das Bild, das wir uns vom Leben der Tiere im Zoo machen. Die Popularität des Formats hängt auch mit einer langen Tradition der filmischen Inszenierung von Tieren zusammen. Fernsehtiere haben das Publikum schon immer begeistert, sei es in fiktionalen Filmen wie „Lassie“ oder „Fury“ oder in Tierdokumentationen wie Grzimeks „Ein Platz für Tiere“, die als „erfolgreichste Tierreihe der Welt“ (Brunst 2003: 253) gilt. Zwischen Tieren - ob innerhalb oder außerhalb des Zoos - und TV und Kino besteht eine besondere, gewachsene Verbindung. So hat die Filmkamera schon vor dem Kino „eine Affinität zu den Bewegungen und Gebärden der Tiere gehabt“ (Nessel/ Schlüpmann 2012: 7), und zwischen Zoo und Kino ent‐ stand schon früh ein reger Austausch, insofern ‚Zootiere‘ in spektakulären Filmszenen auftraten und Zoos Filme als didaktisches Material nutzten (vgl. Nessel/ Schlüpmann 2012: 7). In den Soaps werden die Tiere zumeist in einer Halbtotalen präsentiert, dabei kontinuierlich eingebunden in sprachliche Rahmungen, die das Schicksalhafte der Geschichten betonen oder mittels konstru‐ ierter Konfliktsituationen Spannung evozieren (vgl. Bleicher 2017: 207). Dem (zumeist männlichen) Off-Kommentar kommt hierbei eine besondere Rolle zu. Während die Beschreibungen und Erklärungen der Pfleger: innen fachsprach‐ liche Elemente (z. B. biologische Begriffe) enthalten, begleitet der Sprecher die visuelle Vermittlung, indem er die Tiere vorstellt, die Szenen in den weiteren Kontext der Sendung einordnet und sich nicht selten über die Tiere lustig macht. Der Modalitätswechsel in die Scherzkommunikation erfolgt häufig im Zuge von Anthropomorphisierungen, um die Geschichten publikumsnah zu 240 Pamela Steen <?page no="241"?> 2 Unter Anthropomorphisierungen werden kommunikative Akte verstanden, mit denen „Tieren durch eine (mehr oder minder bewusst vollzogene) Analogisierung menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden, insbesondere Erlebnisse oder psychische Ereig‐ nisse, die dem mentalen Bereich (Kognition, Gefühle, Motivation) zuzuordnen sind“ (Wiedenmann 2009: 123; vgl. Kennedy 1992: 9); zur Problematik einer gesprächslinguis‐ tischen Bestimmung siehe Steen (2022: 599-625). 3 Siehe für die mediale Inszenierung der Vorderbühne als Hinterbühne, wodurch eine „middle region“ (Meyrowitz 1977: 135) entsteht, Steen (i.Dr.). erzählen. 2 Aus tierlinguistischer Perspektive ergeben sich aus der filmisch-do‐ kumentarischen Darstellung des Zoolebens vielfältige Forschungsaspekte (z. B. sprachliche Animation von Tierstimmen, Fiktionalisierungen als narratives Mittel, multimediale Bedeutungskonstruktionen in der Interaktion usw.). 2 Tierliebe zwischen Fakt, Fiktion und Anthropozentrik In Zeiten, in denen die Sinnhaftigkeit von Zoos immer mehr zur Diskussion steht, wirken die Soaps als positive Image-Filme, mit denen die Zuschauer: innen den Tieren scheinbar näher kommen können als dies vor Ort, über die Barrieren hinweg, möglich wäre. Das Format vermittelt Wissen über die Tiere in kleinen, abgeschlossenen Geschichten und inszeniert den Blick auf eine sonst nicht zugängliche Hinterbühne (vgl. Goffman 2003: 104). 3 Wie für das Reality-TV typisch, überlagern sich dabei Fakten und Fiktionen (vgl. Bleicher 2017: 19). (Konstruierte) Emotionen spielen bei der Wissensvermittlung und Unterhaltung eine wesentliche Rolle. Die Soaps sollen die Zuschauer: innen informieren, aber primär unterhalten, d. h. sie sollen eine als „angenehm erlebte Makroemotion“ (Früh 2003: 50) evozieren. Diese speist sich aus vielfältigen (sprachlich) insze‐ nierten Mikroemotionen, in die Menschen und Tiere im Zoo gleichermaßen involviert sind (vgl. Steen i.Dr.). Bewegten (Tier-)Bildern kommt dabei eine besondere Funktion zu, da sie, wie andere Bilder auch, „wirklichkeitsnahe[ ] emotionale[ ] Reaktionen“ (Stöckl 2004: 98) auslösen. „Liebe ist ein Gefühl, das sich als eine innere Einstellung positiver, tiefer Ver‐ bundenheit zu einer Person beschreiben lässt“ - damit bringt Schwarz-Friesel (2007: 288) eine komplexe, vielschichtige Erfahrung auf den Punkt. Meistens wird Liebe als ein Gefühl von Menschen für Menschen konzeptualisiert. In der modernen naturwissenschaftlichen Emotionstheorie ist der Konsens zu verzeichnen, dass auch Tiere „einfache Formen von Emotionen wie Angst, Aversion und Wohlbefinden“ (Fischer 2015: 93) kennen. Bezüglich der Frage, ob sie auch spezifische Gefühle oder „kulturell überformte Emotionen wie Trauer oder Freude empfinden“ (Fischer 2015: 93) - so auch Liebe -, gibt es unter den Forscher: innen keine einheitliche Position. Der Primatologe de Waal True Love? Inszenierte Tierliebe in Zoo-Doku-Soaps 241 <?page no="242"?> (2019: 168) vertritt hierzu jedoch eine klare Ansicht. Für ihn sind Liebe und Anziehung essenziell zumindest für alle sozialen Tiere, nicht nur im Kontext von Sexualität und Fortpflanzung. Grundsätzlich gilt, was wir bei Tieren als „Liebe“ bezeichnen, hängt im Wesentlichen - in Abgrenzung oder in Übereinstimmung - mit den Konzepten zusammen, die wir als humanspezifische Formen der Liebe annehmen und diskursiv konstruieren (s. z. B. Mutterliebe/ Mutterinstinkt, vgl. Thomas 2013). Die häufigste Form der interspezifischen reziproken Liebe dürfte die freundschaftliche Liebe zum ‚Haustier‘ sein. Menschen lieben ihre ‚Haustiere‘, weil sie ihnen das Gefühl geben, „unersetzlich, unaustauschbar, einzig zu sein“ (Rheinz 1994: 175). ‚Haustiere‘ lieben ihre Menschen als primäre Bezugswesen und/ oder aus einer Abhängigkeit heraus. Bezogen auf fiktionale Kontexte wie Literatur, Theater und Film ist Liebe ein „Masterplot“ (Bleicher 2017: 224). Auch in Reality-TV-Formaten sind „Liebe, Sexua‐ lität und zwischenmenschliche Beziehungen“ die „zentralen Themenkomplexe“ (Bleicher 2017: 223). Grundsätzlich können in den Zoo-Doku-Soaps drei Ebenen der Inszenierung von Tierliebe beobachtet werden: erstens die innerartliche tierliche Liebe und Zuneigung (z. B. zwischen männlichen und weiblichen Tieren, Eltern und Jungen); zweitens die sprachliche und interaktive Konstruktion einer zwischenart‐ lichen Liebe als Ausdruck einer besonderen Bindung zwischen Pfleger: innen und Tieren (z. B. über Kosenamen, Praktiken des Vertrauens); drittens die metapraktische Darstellung der Inszenierung einer zwischenartlichen Liebe, wenn etwa Praktiken der unterhaltenden Liebesinszenierung (z. B. Küssen) für das Publikum vor der Kamera eingeübt werden. Da im Folgenden nicht alle Ebenen der inszenierten Tierliebe in einer angemessenen analytischen Tiefe berücksichtigt werden können, wird nur die erste Ebene behandelt. In den Analysen wird gezeigt, welche Implikationen die inszenierte Tierliebe hinsichtlich der Wertung und Normierung von Tieren hat. Aus tierlinguisti‐ scher - posthumanistischer - Sicht werden dabei nicht einfach Tiere medial konstruiert. Wenn enkulturierte ‚Zootiere‘ dergestalt konstruiert werden, dass sie quasi als Protagonist: innen in Flirt-Casting-Shows, Erotik- und Liebesfilmen auftreten, so kokonstruiert dies auf der anderen Seite in einem materiell-semio‐ tischen Knoten (vgl. Haraway 2018) menschliche Akteur: innen als Instanzen, die sich in Aneignungsprozessen die Hoheit über die Deutung der tierlichen Tätigkeiten zu eigen machen. 3 Exemplarische Analysen Das Einstiegskorpus besteht aus 17 Folgen der Leipziger, Hamburger und Münchner Zoo-Doku-Soaps, das auf relevante Szenen durchgesehen wurde. 242 Pamela Steen <?page no="243"?> 4 https: / / www.youtube.com/ watch? v=bb-Yz2FykcM (Stand: 12.06.2022). Dabei zeigten sich spezifische Inszenierungsmuster, die seit Beginn der Aus‐ strahlung bis heute zu finden sind, insbesondere hochgradig stereotype Insze‐ nierungen der innerartlichen Tierliebe in Verbindung mit Paarungsakten. Der tierliche Paarungsakt wird in den Soaps nach bestimmten kulturellen und gen‐ respezifischen Mustern anthropomorphisiert und/ oder durch die Verwendung von Fachsprache naturalisiert. An drei Beispielen aus zwei Sendungen (2010 und 2016) wird gezeigt, wie insbesondere Genderdisplays und das hybride Format die Tiere in Liebesnarrationen einbinden. Die Sequenzen wurden nach GAT 2 (vgl. Selting et al. 2009) transkribiert. Wenn in den Szenen gestische und mimische Displays der Pfleger: innen keinen relevanten Einfluss auf die gesprächslinguistische Rekonstruktion des Gesprächssinns haben, wurde auf ihre Transkription aus Gründen der Über‐ sichtlichkeit verzichtet. Ebenso bleiben Formen der multimodalen Inszenierung (Kameraperspektiven, Schnitte, Musik, Töne usw.) aus Komplexitätsgründen unberücksichtigt, wenn diese für die Beantwortung der analytischen Leitfrage weniger relevant sind. Die Analysen konzentrieren sich auf die verbalen Dis‐ plays der Pfleger: innen und (hier) der (männlichen) Off-Sprecher; längere, aufeinanderfolgende Redebeiträge werden tabellarisch dargestellt, wobei Bild‐ inhalte und multimodale Aspekte prägnant zusammengefasst werden und relevante Text-Bild-Bezüge mit Hilfe von Screenshots dokumentiert werden. Kürzere, einzelne Redebeiträge werden aus Platzgründen im Fließtext der Analyse wiedergegeben. 3.1 „Pfundskur“: Liebe, Konkurrenz und Casting Das erste Beispiel inszeniert die innerartliche ‚Liebe‘ zwischen drei Opossums im Zoo Leipzig. Bereits der Titel der Sendung - „Pfundskur für die Liebe“ 4 - greift explizit den Masterplot Liebe auf. Der Zoo hofft auf einen Zuchterfolg, und im Rahmen einer Fütterung erzählen zwei Pfleger: innen und der Off-Sprecher im Zuge einer medial inszenierten „joint production“ (Cameron 1997: 55) die Geschichte der drei Opossums, die schnell zusammengefasst ist: Teddy soll sich mit einem der beiden Weibchen, Naira oder Heidi, paaren. Erst durch narrative Ausschmückungen, die mit einer verschmähten Liebe, Konkurrenz und Body‐ shaming zu tun haben, entsteht eine Reportability (vgl. Labov/ Waletsky 1967) und eine vermeintliche Liebesgeschichte. True Love? Inszenierte Tierliebe in Zoo-Doku-Soaps 243 <?page no="244"?> Nr. Min. Akteur: in Text Bild Ton 1 00.24 -00.38 Sprecher - die FRAU mit dem silberBLICK (-) opossumdame heidi GLUBSCH (-) ihren ÖFFentlichen auftritt gabs bei der DSCHUNGelnacht(-) HEIdi (-) hat ein proBLEM (--) und das kennen nicht nur <<t> opossumWEIBchen>. Heidi schaut aus ihrem Häuschen heraus - Tab. 1: Transkript 1, „Elefant, Tiger & Co.“, Folge 376/ 2010, „Pfundskur für die Liebe“, Min. 00.24-00.38 Der Sprecher präsentiert Heidi (Tab. 1) als „die FRAU mit dem silberBLICK“ (1). Silberblick und große Augen wurden nach und nach durch verschiedene Werbemaßnahmen des Zoos zum Markenzeichen der Beutelratte, wodurch ein regelrechter Heidi-Hype entstand. Nachwuchs hätte den Hype vermutlich vergrößert, doch dafür müsste sich Teddy für sie interessieren, denn „HEIdi (-) hat ein proBLEM (--) und das kennen nicht nur <<t> opossumWEIBchen>“ (1). Mit einem expliziten Genderdisplay wird relevant gesetzt, dass auch menschliche weibliche Wesen mit Heidis Situation vertraut sind. Diese Mensch-Tier-Analogie sorgt für Aufmerksamkeit und soll emotionale Reaktionen bei den Zuschauer: innen evozieren. Welches Problem Heidi hat, wird aus Gründen der Spannungserzeugung zunächst verschwiegen. Nr. Min. Akteur: in Text Bild Ton 7 00.43 -01.03 Sprecher - TEDDy (-) der einzige MANN im haus (--) mag offenbar junges geMÜse (.) die schöne HEIdi nicht (-) steht wohl nur auf SCHLANke (--) u: nd hat noch ein ZWEItes weibchen zur WAHL (--) doch JETZT (-) gibts erst mal MITtag Das Futter wird durch die Flure getragen; Pfleger 1 öffnet das Gehege und bringt Teddy Gemüse; Teddy sitzt vor seinem Häuschen - Tab. 2: Transkript 2, „Elefant, Tiger & Co.“, Folge 376/ 2010, „Pfundskur für die Liebe“, Min. 00.43-01.03 244 Pamela Steen <?page no="245"?> Nun präsentiert der Off-Sprecher Teddy (Tab. 2) mit „der einzige MANN im haus“ (7) als geschlechtliches Pendant zu den Weibchen. Mit dieser Konstruktion wird die gendersensible Redewendung Herr im eigenen Haus assoziiert und eine dominante, überlegene männliche Rolle kontextualisiert. Dagegen werden die „weibchen“ objektifiziert, indem sie für ihn zur Wahl stehen und verfügbar sind. Teddys Speisevorlieben fungieren als Aufhänger für die Liebesnarration, wenn diese mit seinen Vorlieben für das Äußere des anderen Geschlechts kontrastiert werden, indem postuliert wird, dass er „die schöne HEIdi“ (7) im Gegensatz zum jungen Gemüse nicht mag. Zwar ist Heidi aus der Perspektive des Off-Sprechers schön, aber Teddy „steht wohl nur auf SCHLANke“ (7). Mit der die Validität einschränkenden Partikel „wohl“ wird vermutet, dass Heidis Gewicht der Grund für sein Desinteresse ist. Es werden keinerlei biologische oder ethologische Be‐ gründungen zum Paarungsverhalten von Opossums gegeben, sodass Teddys Vorliebe in keiner Weise validiert wird. Inszeniert wird hier rein formal eine egozentrische Perspektivenübernahme im Rahmen einer kognitiven Empathie (vgl. Breyer 2020: 20), wobei diskursive ästhetische Körperideale anthropomor‐ phisierend auf Teddy projiziert werden. Funktional dient diese inszenierte Empathie jedoch der Narration ums geschlechtliche Buhlen und Konkurrieren, völlig unabhängig davon, welchem weiblichen Opossum Teddy tatsächlich zugetan ist. Die Generalisierung des weiblichen Geschlechts in Bezug auf Körperfülle als Problem in der Liebe soll unter den Zuschauerinnen mitfühlende Verbündete schaffen. Derartige hyperrealisierte (vgl. Goffman 1981) Genderdisplays sind in den Massenmedien typisch, da sie „die Unterscheidung männlich/ weiblich prak‐ tisch als Leitdifferenz“ (Kotthoff 2002: 20) verwenden. Heidis Körpergewicht wird als weiblicher Attraktivitätsaspekt zum zentralen Dreh- und Angelpunkt der Liebesnarration. Für die Geschichte spielen Statur oder Attraktivität des männlichen Opossums hingegen keine Rolle, während Heidi, um liebenswert zu sein, eine „Pfundskur“ machen müsste. Nachdem Pfleger 1 vom allgemeinen Fressverhalten der Opossums erzählt hat, ertönt wieder die tiefe Stimme des Off-Sprechers, die das Thema zurück auf die Geschlechtlichkeit der Tiere lenkt und damit auf den etablierten, gender‐ isierten Liebesdiskurs: „richtig intreSSANT? (--) wirds erst (-) wenns ums schöne geSCHLECHT geht (-)“ (Min. 01.48-01.55). Die Redensart das schöne Geschlecht lässt als Pendant das starke Geschlecht aufscheinen, das auf Männer bezogen wird (vgl. Röhrich 2001: 538). Die Rede‐ wendung kontextualisiert erneut eine ästhetisierte Geschlechterasymmetrie, insofern der Wert von (passiven) Frauen auf ihre Äußerlichkeit als Anschau‐ True Love? Inszenierte Tierliebe in Zoo-Doku-Soaps 245 <?page no="246"?> ungsobjekt reduziert wird, während Männer tatkräftig sind und Agency besitzen (vgl. dazu auch Lautenschläger i.d.B.) Nr. Min. Akteur: in Text Bild Ton 16 02.17 -02.18 Sprecher die AUSerwählte Pfleger 1 öffnet die Tür zum Ge‐ hege von Naira - 17 02.18 -02.25 Pfleger 1 so: das ist also jetzt hier die (--) die kandiDAtin dies IS (3.0) Pfleger 1 betritt das Gehege - 18 02.25 -02.52 Pfleger 1 so: maDAMM (1.0) da isse (2.0) das ist also die SCHWESter von heidi (--) das sieht man (.) an den AUgen (.) die schielt nämlich AUCH n bisschen (--) also heidi SCHIELT und äh (.) ihre SCHWESter die NaIra schielt AUCH (.) aber sie is relativ SCHLANK oder sie is norMALwüchsig (.) sagen wir es mal SO (-) und deswegen is es auch die erste WAHL für den MANN (.) also wir hoffen dass er die och attrakTIver findet erst mal (-) wenn das NICHT klappt (.) dann muss heidi hier drüben dann (.) dran GLAUben (-) Pfleger 1 öffnet Klappe zum Opossumhaus; Naira kommt heraus - Tab. 3: Transkript 3, „Elefant, Tiger & Co.“, Folge 376/ 2010, „Pfundskur für die Liebe“, Min. 02.17-02.52 Heidis Schwester Naira wird vom Sprecher als „die AUSerwählte“ (16) bezeichnet (Tab. 3). Im Liebesdiskurs wird Auserwählte scherzhaft für Freundin oder Verlobte verwendet (vgl. Duden 2019: 224). Eine scherzhafte Modalität klingt hier schon deshalb an, weil der menschliche Beziehungsframe auf die tierliche Situation gelegt wird. Naira wird zudem als hochgradig passiv in diesem Paarungsgeschehen ausgewiesen, da sie - ob sie will oder nicht - für 246 Pamela Steen <?page no="247"?> den Geschlechtsakt auserkoren ist. Im Redebeitrag des Pflegers wird Naira auf die Rolle der „kandiDAtin“ (17) festgelegt. Ein Kandidat ist jemand, „der sich um etw. bewirbt“ oder „der sich zur Wahl stellt“ (Duden 2019: 983, Herv. i. O.), was eigentlich eine aktive Rolle impliziert, die hier jedoch fiktionalisiert wird. Das Lexem ruft zudem das Reality-TV-Format der Verkupplungsbzw. Flirt-Castingshow auf (z. B. Der Bachelor). Bei diesem Format geht es nicht um die romantische Partnerwahl, sondern um sexuelle Attraktivität, die zur Bewertung der Kandidat: innen herangezogen wird (vgl. Bleicher 2017: 226). Dass Teddy „noch ein ZWEItes weibchen zur WAHL“ (7) hat, macht die Situation spannender. Dreiecksgeschichten versprechen Szenen der Eifersucht, Leidenschaft und Untreue. Auch im Zuge von Nairas Identitätskonstruktion werden nur körperliche Merkmale genannt. So wird eine Familienähnlichkeit konstruiert, denn „ihre SCHWESter die NaIra schielt AUCH“ (18). Auch hier wird die Körperfülle thematisiert, jedoch wird mit einer adversativen Konjunktion ein Unterschied konstruiert: „aber sie is relativ SCHLANK oder sie is norMALwüchsig (.) sagen wir es mal SO“ (18). Die Adjektive schlank und normalwüchsig stammen nicht aus dem gleichen Wortfeld. Während schlank eine temporäre, relative Körpereigenschaft (Gewicht) beschreibt, be‐ zeichnet normalwüchsig eine dauerhafte physiognomische Eigenschaft (Größe, Knochenbau etc.). Im Kontrast dazu erscheint Heidis Figur als von der Norm abweichend. Die Erklärung „und deswegen is es auch die erste WAHL für den MANN“ (18) ist ein generalisierendes Genderstereotyp, nach dem sich Männer (bevorzugt schlanke) Frauen (zum Sex) aussuchen (können). Der Nachsatz „also wir hoffen dass er die och attrakTIver findet erst mal“ (18) verrät durch die Verwendung des Adverbs auch, dass die Einschätzung zur größeren Attraktivität aufgrund der schlanken Statur eine menschliche Bewertung darstellt, die auf Teddys Perspektive übertragen wird. Dass eine Paarung mit Teddy für die weiblichen Opossums einen Zwangs‐ charakter hat - Sexualität wird als Domäne konstruiert, die grundsätzlich nur den männlichen Wesen Spaß macht (Aktivität vs. passives Erdulden) -, indiziert die humoristische Konstruktion dran glauben müssen: „wenn das NICHT klappt (.) dann muss heidi hier drüben dann (.) dran GLAUben (-)“ (18). Es wird zudem vorausgesetzt, dass die Weibchen dem Männchen zur Verfügung stehen. Im weiteren Verlauf der Szene wird immer deutlicher, dass das Dreiecks‐ verhältnis der Opossums wenig mit tierlichen Emotionen oder realen Paa‐ rungsambitionen zu tun hat, sondern ein fiktionales Konstrukt ist. Heidi wird als bedauernswert dargestellt, weil sie durch „konkurRENZ (--) True Love? Inszenierte Tierliebe in Zoo-Doku-Soaps 247 <?page no="248"?> 5 An dieser Stelle wird deutlich, dass keine stringente Heidi-Konstruktion vorliegt: Zum einen wäre das Opossum mit einer Verpaarung nicht glücklich (sie müsste dran glauben), zum anderen ist ihre Schwester ihre Konkurrentin, was impliziert, dass sie ihr das Glück mit Teddy streitig machen kann (ich danke Sina Lautenschläger für diesen Hinweis). Anzunehmen ist daher, dass diese Offenlegung einer institutionalisierten Zwangsverpaarung ein Lapsus ist, der die Liebesnarration konterkariert. aus der eigenen faMIlie“ (Min. 02.55) ausgebotet wird. 5 Erneut wird ihre Körperfülle durch den Off-Sprecher als Grund für das (potenzielle) Ver‐ schmähtwerden angegeben: „und alles wegen ein paar gramm zu VIEL“ (Min. 02.57). Während Heidi das ‚hässliche Entlein‘ ist, ist Naira das „SCHWESterchen (-) mit den TOPmassen“ (Min. 02.59), wodurch wiederum die medialisierte - menschliche - (Model-)Körperindustrie kontex‐ tualisiert wird und Schönheitsideale reproduziert werden. Wie bei „Germany‘s next Topmodel“ gibt es hier eine „Anstachelung weiblicher Konkurrenz auf der Ebene von Schönheit und Erotiktauglichkeit“ (Kotthoff/ Nübling 2018: 307). Am Ende der Szene scheint aber Hoffnung für Heidi auf, wenn der Off-Sprecher resümiert: Heidi ist „auf einem GUten WEG“ und das heißt, dass „sie wohl bald (.) CHANcen (--) bei nachbar TEDDy“ (Min. 08.29-08.39) hat. Das Lebensglück der Beutelratte hängt - getreu dem Kosmos von Casting-Sendungen - von ihrem Körpergewicht und der männlichen Bestätigung ab. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Wenn in der Regel kollek‐ tive, mediale Diskurse, die Vorstellungen zur körperlichen Ästhetik (im Zu‐ sammenhang mit Leibesfülle) betreffen, von den „Menschenkörpern einver‐ leibt“ (Kotthoff 2002: 23) werden, so zeigt sich hier, wie ein solcher Diskurs anthropomorphisierend auf die Körper der Opossums oktroyiert wird. Zur Konstruktion von Heidis und Nairas Identitäten werden unreflektiert kulturelle Geschlechternormen wie schlanke Frauen sind für Männer attraktiver als übergewichtige Frauen auf die tierliche Sphäre übertragen. Entlang einer Oppo‐ sition von normal/ unnormal wird Heidis körperzentrierte Identität als defizitär ausgewiesen. Die kulturellen, diskursiven Geschlechternormen werden durch die Formulierung „norMALwüchsig“ naturalisiert. Für die unterhaltende Narration ist das Thema Tierliebe ein fiktiver Aufhänger, der die Zuchtabsicht des Zoos als emotionsloses Kalkül mit Merkmalen, wie man sie aus Abnehm-, Model-, Makeover- und Verkupplungsshows kennt, zu Unterhaltungszwecken überblendet. Die performative Selbstdarstellung der Kanditat: innen, wie sie für diese Shows üblich ist, wird stellvertretend durch menschliche Fremdposi‐ tionierungen (vgl. Lucius-Hoene/ Deppermann 2004) realisiert, die bewährte Rollenmuster aufgreifen: 248 Pamela Steen <?page no="249"?> Als implizite Ideologie der Flirt-Castingformate werden konservative weibliche Kör‐ perideale und Rollenmuster als erfolgsbewährte Ideale der Geschlechtspartnergewin‐ nung präsentiert. Attraktivität, Anpassung an die männlichen Interessen und stete Bereitschaft zu sexuellen Kontakten werden als erfolgsbewährte Ideale vermittelt. (Bleicher 2017: 227) „Gender is done“ (Kotthoff 2002: 20) for them. Statt Genre-Diktaten zu folgen, hätten sich die menschlichen Akteur: innen allozentrisch (vgl. Breyer 2013: 28) in die Perspektive der jeweiligen Tiere versetzen können. Angereichert mit biologischem Wissen über die Paarung von Opossums hätte so ein realistisches Bild von der Situation entstehen können, in dem auch Reflexionen über echte tierliche Emotionen Platz gehabt hätten. 3.2 „Machos“: Männer, die (im Erotikfilm) auf Zebrastuten starren In der gleichen Sendung romantisiert der Sprecher die Zusammenkunft von Zebra‐ bulle Macho - der Name ist Programm - und mehreren Stuten: „zebrahengst MAcho (--) angeSCHLAgen (-) die ersten rendezVOUS mit seinen STUten stecken ihm noch in den KNOchen“ (Min. 14.41- 14.48). Die Verwendung des Ausdrucks Rendezvous moduliert die Aussage als ein anthropomorphisierendes Fiktionalisieren (vgl. Steen 2022: 605), bei dem sich der Sprecher über die Tiere lustig macht, indem er kulturelle menschliche Praktiken (z. B. sich gegenseitig den Hof machen, sich Komplimente machen) auf die tierliche Sphäre überträgt. Im Vergleich mit der Opossumnarration zeigt sich mithin ein Muster: Ausdrücke aus dem Wortfeld der (menschlichen) romantischen Liebe dienen dazu, die Zuchtpläne fiktionalisierend, komisierend und zu Unterhaltungszwecken als Liebesnarration zu rahmen. Nr. Min. Akteur: in Text Bild Ton 1 20.35 -20.45 Pfleger 1 ---------- es ham im prinZIP (-) sach isch mal zu ACHzig prozent attraktive STUten (--) nee das muss man wirklich SAgen ham wir n paar SCHÖne dabei also GUT ((lacht)) man weiß ja nun OCH nich was son ZEbrahengst attrakTIV findet (.) a: ber Pfleger 1 spricht in die Kamera, lächelt - - True Love? Inszenierte Tierliebe in Zoo-Doku-Soaps 249 <?page no="250"?> Nr. Min. Akteur: in Text Bild Ton 2 20.46 Pfleger 2 STREIfen Pfleger 1 - 3 20.47 -20.54 Pfleger 1 a: ber (.) da sind WIRKlich ein paar HÜBsche dabei (-) also das muss man einfach mal SAgen (.) und wir ham ja OCH (.) n ganz schönes ANgebot (.) ich denke MAL (.) der wird schon nischt ANbrennen lassen ----Zebras auf Wiese - Tab. 4: Transkript 4, „Elefant, Tiger & Co. “, Folge 376/ 2010, „Pfundskur für die Liebe“, Min. 20.35-20.54 Auch mit Bezug auf die Zebras lassen sich sprachliche Konstruktionen finden, die eine überlegene männliche Perspektive aufgrund der Beurteilung weibli‐ cher Äußerlichkeiten entstehen lassen (Tab. 4). Denn auch hier erfolgt eine Ästhetisierung des weiblichen tierlichen Körpers, indem Pfleger 1 „ACHzig prozent der STUten“ aus seiner Perspektive als „attraktiv“ (1) einschätzt. Anschließend gibt er zu, sich nicht in die tierliche Perspektive hineinversetzen zu können, also nicht zu wissen, „was son ZEbrahengst attrakTIV findet“. Pfleger 2 nutzt die kurze Redepause als übergangs‐ relevante Stelle, indem er mit „STREIfen“ (2) einen Witz macht, insofern dieses Fellkennzeichen die einzige Gemeinsamkeit aller Zebrastuten ist, was präsupponiert, dass Macho eben diese attraktiv findet. Der Witz extrapoliert die einseitige Gewichtung von Äußerlichkeiten, obwohl z. B. auch Gerüche bei Zebras eine wichtige Rolle spielen. Pfleger 1 ignoriert den Witz und fährt fort, aus seiner menschlichen, d. h. männlichen, Perspektive zu beurteilen, dass „WIRKlich ein paar HÜBsche dabei“ (3) sind, die Macho nicht verschmähen wird. Er verwendet die umgangssprachliche Redewendung nichts anbrennen lassen, die im menschlichen Kontext eine ständige Bereitschaft zu sexuellen Kontakten bedeutet, wodurch Macho als besonders potent konstruiert wird. In einem solchen konstruierten „draufgängerischen Hofmachen[ ]“, bei dem „angeblich der wahre Charakter der männlichen Animalität zum Vorschein kommt“, verwirklichen sich „auf die Geschlechtsunterschiede bezogene My‐ then“ (Goffman 2001: 141). Die Stuten werden entindividualisiert, indem sie mit dem ökonomischen Ausdruck „ANgebot“ klassifiziert werden, wobei das Angebot vom Zoo bereitgestellt wird. Wie auch oft in der Werbung wird der Mann (Macho) als Kunde konstruiert und der weibliche Körper als Ware 250 Pamela Steen <?page no="251"?> 6 https: / / www.youtube.com/ watch? v=ngz41xotLMc&; list=PLh4gJiSf‐ XENqS3sq4H8gZoCRspQvJSGFA&index=1 (Stand: 10.06.2022). inszeniert (vgl. Kotthoff 2002: 18). Im Anschluss an diese Sequenz wird gezeigt, wie Macho - musikalisch untermalt mit dem Mambo Te para dos (inklusive erotischer Hauchlaute), begleitet von einem Lachen der Zoobesucher: innen - auf eine Stute aufreitet. Diese Szene wird von Pfleger 1 - machohaft - als „besser GEHTS nicht“ (Min. 21.32) bewertet, was wiederum die Vorstellung impliziert, dass er die Qualität des sexuellen Kontakts beurteilen kann. Die bisherigen Beispiele verdeutlichen, dass sich die Blicke der männlichen Pfleger auf die weiblichen Zebras und Opossums nicht nur an der ästhetischen Kategorie der Schönheit orientieren, sondern dass diese ebenso sexualisiert sind. Einerseits dominiert bei den Pfleger: innen der „zoological gaze“, d. h. die Tiere werden als ‚wissenschaftliche‘ Objekte betrachtet und analysiert (vgl. Beardsworth/ Bryman 2009: 226), und in den Doku-Soaps wird vielfach mit biolo‐ gischen Begriffen auf sie referiert. Die damit einhergehende Subjektlosigkeit der Tiere gewährleistet ganz generell die kommunikative Aneignung. Andererseits vermischt sich dieser Blick in den Doku-Soaps mit dem (antizipierten) Blick der Besucher: innen als einem „recreational gaze“ (vgl. Beardsworth/ Bryman 2009: 226), der sich auf die Tiere aus der Unterhaltungserwartung heraus richtet. Dieser Blick wird vor allem durch den Off-Sprecher repräsentiert, der zuweilen eine naive Position einnimmt. Indem Sprecher und (männliche) Pfleger Teddys und Machos (fiktionalisierte) Perspektive einnehmen, vermischen sich diese beiden Blickarten auf die Tiere mit einem male gaze (vgl. Mulvey 1975). Die pas‐ siven und willigen weiblichen Tiere werden jeweils zwecks ihrer Paarungstaug‐ lichkeit begutachtet und als passend (schön) aufgewertet oder als unpassend (nicht schön, zu dick) abgewertet. Indem der männliche, d. h. voyeuristische Blick die weiblichen Tiere objektiviert, auf eine ästhetisierte Körperlichkeit reduziert und ökonomisiert, werden filmische, männliche Sehgewohnheiten auf die tierliche Welt übertragen. Es entsteht auf diese Weise eine Hybridbildung aus Castingshow und Softporno, wie sie nach der Jahrtausendwende typisch für Flirtshows war (vgl. Bleicher 2017: 226). 3.3 „Liebesrausch“: Zwischen Naturdokumentation und Liebesfilm Im dritten Beispiel aus der Münchner Soap „Nashorn, Zebra & Co.“ (Zusammen‐ schnitt verschiedener Folgen, Staffel 5/ 2016) 6 aus dem Tierpark Hellabrunn, True Love? Inszenierte Tierliebe in Zoo-Doku-Soaps 251 <?page no="252"?> 7 Gemeint ist hier die Musth, die die Fruchtbarkeit von männlichen Elefanten anzeigt (vgl. Mumby 2021: 110). mit dem Titel „Amore bei den Tigern“, geht es nicht um Tiger, sondern um die Verpaarung von Elefanten. Das Zusammenspiel aus Sprecher-Kom‐ mentar und Pfleger-Erklärungen ist eine Mischung aus einem kulturellen Anthropomorphisieren (Romantisieren), Fiktionalisieren und Naturalisieren. Auch hier werden die Zuchtabsichten des Zoos mittels einer Liebesnarration überblendet, indem der Sprecher die Elefantenszenen mit Lexemen aus dem Liebesdiskurs rahmt: „doch zunÄCHST gehts zur BRAUTwerbung nach elefantenART (-) gajendra ist im LIEbesrausch (-) mit AUSdauer und einer guten kondiTION lässt sich die ANgebetete vielLEICHT überZEUgen“ (Min. 00.43-00.55). Eine wei‐ tere Parallele zu Beispiel 1 und 2 ist die konstruierte Perspektive des männlichen Elefanten. Der Bulle wird auch im weiteren Verlauf der Szene im traditionellen, kulturellen Sinne der Brautwerbung und im zoologischen Sinne als durchset‐ zungsfähig (Min. 01.47) und damit sprachlich als der aktivere Part agentiviert. Nr. Min. Akteur: in Text Bild Ton 2 00.57 -01.37 Pfleger so jetzt SCHAUN wir hier ma: l nach unse: : rm LIEbespärchen (-) und ZWAR (.) kann man hier gerade im HINtergrund SEHN (.) pasSIERT hier heut n BISSchen was (--) der BULLe war die LETZten (.) wochen in MUSTH 7 (-) das heißt seine DRÜsen sind sehr stark geLAUfen (.) und er hat WEnig hunger geHABT (-) das zeigt uns immer dass ba: ld eine von den kühen HEISS wird (-) da die ANderen beiden TIEre: SCHWANger sind (-) die PAnang und die TEmi (-) bleibt jetzt nur noch die MANgala (-) und das deckt sich auch mit unsern (.) Pfleger geht zur Anlage; im Hin‐ tergrund laufen Elefanten (Bulle läuft hinter Kuh her) -------------Zeigegeste - 252 Pamela Steen <?page no="253"?> Nr. Min. Akteur: in Text Bild Ton uRINuntersuchungen er hat sie heute auch schon MEHRfach geDECKT (.) das is so ne art VORspiel (.) die laufen sehr VIEL (.) e: r legt die STOSSzähne bei ihr auf n RÜCKen (.) also die KÄMpfen sehr VIEL (.) 3 01.38 -01.43 Sprecher das VORspiel als dauerLAUF (-) wenn gajendra die PUSte ausgeht (-) ist die freundin PFUTSCH Bulle läuft hinter Kuh her - 4 01.46 -02.11 Pfleger das geht einfach in der naTUR da drum (.) dass wirklich nu: r die DURCHsetzungsfähigsten BULLN dann zur <<all> fortpflanzung> kommen (-) dass die dann eben auch was DRAUF ham (-) das ist also auch ganz WICHtig (.) dass die kuh dann wirklich STEHNbleibt (.) das ist heute der ERSte tag (.) die kühe werden ungefähr alle viertel JAHre heiss (-) u: nd (.) dann deckt der bulle die auf zwei bis drei aufeinander(.)folgenden tagen (.) das ist also <<all> sehr wichtig> […] Bulle läuft hinter Kuh her ------Pfleger im Vor‐ dergrund, Ele‐ fanten im Hin‐ tergrund - 5 02.35 -02.43 Sprecher ein giGANtisches liebesabenteuer (.) da ist man für alles ANdere einfach TAUB und blind Elefanten in Nahaufnahme Gitarrenmusik Tab. 5: Transkript 5, „Nashorn, Zebra & Co.“, Zusammenschnitt Staffel 5, „Amore bei den Tigern“ (2016), Min. 00.57-02.43 True Love? Inszenierte Tierliebe in Zoo-Doku-Soaps 253 <?page no="254"?> 8 Vgl. zur anthropologischen Differenz von Natur/ Kultur bzw. Handeln/ Verhalten Steen (2022: 84-96). Bezogen auf die beiden Redebeiträge des Pflegers (Tab. 5, 2/ 4), verwendet auch er zu Beginn der Sequenz mit dem Diminutiv des Kompositums „LIEbespärchen“(2) einen Begriff aus dem Liebesdiskurs. Die zoologischen Lexeme Bulle, Musth, decken, Stoßzähne dienen zur Erklärung des (typischen) Verhaltens und zur Beschreibung der Physiognomie. Das Adjektiv heiß ist eine umgangssprachliche, metaphorische Variante für paarungsbereit oder brünftig. Als emotionsbezeichnendes Wort (vgl. Hermanns 1995: 145) indiziert es offenbar einen (leidenschaftlichen) Gemütszustand und erotisiert damit die Begegnung der Elefanten stilistisch gesehen. Im Kontext der weiteren Erklärungen wird jedoch klar, dass mit heiß eher der regelmäßig eintretende hormonelle Status der Kuh gemeint ist. Statt trächtig wird das Lexem schwanger verwendet, das semantisch der menschlichen Sphäre zugerechnet wird (vgl. Habermann 2015: 74). Das Substantiv Vorspiel kann als neutral betrachtet werden. Eine Naturalisierung erfolgt explizit über die Konstruktion „in der natur“ (4), wobei die Verbindung von tierlicher und landschaftlicher Natur gemeint ist, was zugleich eine implizite sprachliche Abgrenzung von der menschlichen Kultur darstellt, die derartigen Zwängen nicht unterworfen ist (wobei nicht selten aber gerade die Macht des Stärkeren - „dass die dann eben auch was DRAUF ham“ (4) - als Topos, d. h. als evolutionäre Argumentationsfolie für menschliches Verhalten, herangezogen wird). 8 Insgesamt changieren die Redebeiträge des Pflegers zwischen einer sprachlichen Näheherstellung durch die Konstruktion von menschlichen und tierlichen Gemeinsamkeiten und einer sprachlichen Distanzierung durch die Verwendung zoologischer Fachwörter. Zumindest wird die Fortpflanzung der Elefanten nicht ausschließlich in einer eigens dafür geschaffenen Lexik „gewortet“ (Habermann 2015: 74), um ein tierbezogenes Othering zu betreiben, dennoch überwiegt hier die Naturalisie‐ rung als Indikator für die Realisierung des Bildungsauftrags im Rahmen der Tierdokumentation. Indem der Off-Sprecher mit „freundin“ (3) ein reziprokes beziehungs‐ bezeichnendes Lexem verwendet, wird die Beziehung der Elefanten anthropo‐ morphisiert, da eine symmetrische, dauerhafte soziale Beziehung konstruiert wird, während der Pfleger erläutert, dass der Bulle auch die anderen Kühe deckt (2). Der Sprecher lässt die Situation als Liebesfilmszene erscheinen, wenn er die aktuelle Verpaarung als „giGANtisches liebesabenteuer“ (5) rahmt. Das Adjektiv gigantisch ist kontextuell ambig, da es multimodal zugleich auf die großen Körper der Elefanten (in Nahaufnahme) und auf das 254 Pamela Steen <?page no="255"?> vermeintlich große, konzeptionalisierte Liebesgefühl referiert. Bezogen auf die tatsächlichen Gefühle der Elefanten erscheint diese Emotionszuschreibung als „flache Empathie“ (Hermanns 2007: 139), bei der der Off-Sprecher zum Zwecke der Liebesnarration aufgrund von (filmischen) Liebesstereotypen em‐ pathisiert. Noch deutlicher wird diese typisierende Empathie als Inszenierung, wenn sie mit Fiktionalisierungen versetzt wird: „zärtlich STREIcheln und sich gegenseitig etwas ins OHR flüstern (--) die elefanten MANgala und gaJENdra sind toTA: L verLIEBT“ (Min. 10.27-10.34). Als Aufhänger für die Konstruktion der erotischen Liebes‐ filmszene dient eine kurze körperliche Nähe der beiden Elefanten (Abb. 1). Abb. 1: ‚Elefantenflüstern‘, „Nashorn, Zebra & Co.“, „Amore bei den Tigern“ (2016), Min. 10.30 Gajendra berührt mit dem Rüssel Mangalas Gesicht. Dieses Display wird mit der Konstruktion „zärtlich STREIcheln“ als taktile Liebespraktik gerahmt. Für die Interpretation als Liebesfilmszene wird zudem die Nähe von Rüssel und Ohr als verbale Liebespraktik, als ein „sich gegenseitig etwas ins OHR flüstern“ fiktionalisiert. Die explizite Emotionszuschreibung erfolgt hier mittels eines emotionsbezeichnenden Wortes („verLIEBT“) und einer Intensivierung durch das Adjektiv „toTA: L“, die im prosodischen Display mit einer indizierten Emphase durch Vokaldehnung unterstützt wird. Es soll an dieser Stelle nicht grundsätzlich in Abrede gestellt werden, dass die Elefanten ineinander verliebt sein können, allerdings steuert der Off-Kommentar die Wahrnehmung der Zuschauer: innen (vgl. Bleicher 2017: 207) und legt den fiktionalen Gehalt der Zuschreibung nicht offen. Mit einem vergleichenden Kommentar wie es sieht aus, als wenn er ihr - wie Menschen das tun - etwas ins True Love? Inszenierte Tierliebe in Zoo-Doku-Soaps 255 <?page no="256"?> Ohr flüstert würde die Begegnung weniger als Fabel erscheinen und eher als eine anthropologische Folie, die zum Nachdenken über emotionale Analogien von Menschen und Elefanten anregen könnte. Später wird die Szene durch den Redebeitrag des Pflegers erneut de-roman‐ tisiert und entemotionalisiert (Tab. 6). Nr. Min. Akteur: in Text Bild Ton 6 10.58 -11.20 Pfleger die werden nicht mehr HEISS (.) und der bulle weiss GANZ genau (.) dass die AUSfallen (.) de: r (.) deckt die eigentlich NUR aus zweierlei gründen (.) entweder (.) wenns irgendwie: aus (.) domiNANZtechnischen gründen halt wichtig is (.) wenn eine kuh irgendwie (.) ähm die REgeln nicht befolgt (.) oder wenn halt die kuh heiss ist (.) aber so: aus jux und dollerei gibts eigentlich bei eleFANten sehr selten Pfleger in Nah‐ aufnahme -----Pfleger im Vor‐ dergrund, Ele‐ fanten im Hin‐ tergrund - 7 11.21 -11.23 Sprecher sex (-) aber SPANNend ist es TROTZdem - - Tab. 6: Transkript 6, „Nashorn, Zebra & Co.“, Zusammenschnitt Staffel 5, „Amore bei den Tigern“ (2016), Min. 10.58-11.23 Der Sprecher macht deutlich, dass Elefantenkühe vom Bullen manchmal nur aus Gründen der Dominanz gedeckt werden oder wenn die Kuh paarungsbereit ist, selten deshalb, weil ihnen der Akt Spaß macht: „aber so: aus jux und dollerei gibts eigentlich bei eleFANten sehr selten“ (6). Hier scheint die für Dokumentationen typische Fehlannahme vorzuliegen, dass sich Tiere (bewusst) paaren, um Nachwuchs zu zeugen (vgl. de Waal 2022: 158). Man kann eher davon ausgehen, dass die Elefanten in der gezeigten Situation nur deshalb Sex haben, weil sie Sex haben wollen: „For them, sex is just sex“ (de Waal 2022: 157). Der Sprecher schließt an die Erklärung des Pflegers mit einem fugalen Sprechen (vgl. Schwitalla 1992: 83) an: „sex (-) aber 256 Pamela Steen <?page no="257"?> 9 Vgl. zur sprachlichen Animation von Tieren in Zoo-Doku-Soaps Steen (2023). 10 Nicht nur besteht noch immer der Mythos, dass die weibliche Sexualität bei Menschen und anderen Tieren eingeschränkter und passiver sei, obwohl viele Studien mit diesem Mythos aufräumen (vgl. de Waal 2022: 173), auch das Narrativ der besonders starken Potenz einzelner, herausragender männlicher Individuen hält sich hartnäckig. SPANNend ist es TROTZdem“ (7), wodurch er den Beitrag des Pflegers nicht nur syntaktisch vervollständigt, sondern durch das unmarkierte, neutrale Substantiv Sex (im Gegensatz zu decken) den Geschlechtsakt der Elefanten in semantischer Hinsicht ent-zoologisiert. Die Reportability (es sind trotzdem Emotionen im Spiel) wird über den metanarrativen Akt und den Hinweis auf das Emotionspotenzial („SPANNend“) gesichert. Am Ende der Szene setzt eine unaufgeregte Hintergrundmusik ein und der Sprecher betont: „gaJENdra und MANgala stört das PUblikum nicht (--) <<h> das gehört sich so>“ (Min. 11.55-12.00). Damit wird die Abwesenheit von Schamgefühlen konstruiert. Auch Elefan‐ tenforscherin Mumby (2021: 114) berichtet, dass sich Elefanten selbst „von der Anwesenheit eines Fahrzeugs voller neugieriger Wissenschaftler nicht im Geringsten abschrecken ließen“. Dennoch gibt der moralisierende Aussagesatz „das gehört sich so“, der in einem höheren Tonhöhenregister realisiert wird und damit mutmaßlich die sich rechtfertigende ‚Stimme‘ der Elefanten ani‐ miert, weniger die Perspektive der Elefanten wieder. 9 Vielmehr kann der Beitrag als Beschwichtigung in Richtung ‚verklemmter‘ Zuschauer: innen betrachtet werden. Bei der Fortsetzung der Szene im letzten Drittel der Sendung dient ein explizites Genderdisplay des Sprechers dazu, abschließend (obwohl der Pfleger auch die Aktivitäten der weiblichen Elefanten aufgreift) den aktiven männlichen Part bei der Paarung hervorzuheben: „sex von FRÜH bis SPÄT (--) ist nur was für GANze KERle“ (Min. 19.59-20.05). Der Geschlechtsakt wird typischerweise einseitig als besondere Leistung des ‚starken Geschlechts‘ konstruiert, wobei mit dem Ideal der männlichen Potenz nicht nur die weibliche Rolle als unbeteiligt dargestellt wird, es werden mit dieser Generalisierung implizit auch männliche Wesen diskriminiert, die diesen allgemeinen Leistungs‐ anforderungen nicht gerecht werden. 10 Dass die Pfleger: innen letztlich die Sexualität der Elefanten (zu Zuchtzwe‐ cken) regeln und überhaupt erst ermöglichen, wird vom Sprecher als mora‐ lische Pointe (vgl. Bleicher 2017: 206) wie folgt zusammengefasst: „von den TIERpflegern hängt es also AB (.) ob sich zwei verLIEBte eleFANTen auch treffen dürfen (1.0) das kann True Love? Inszenierte Tierliebe in Zoo-Doku-Soaps 257 <?page no="258"?> ein LIEbespaar aber SCHON auf die PALme bringen“ (Min. 21.00-21.09). Abb. 2: Elefant klettert auf Felsen, „Nashorn, Zebra & Co. “, „Amore bei den Tigern“ (2016), Min. 21.09 Zwar macht dieser Kommentar die mangelnde Agency der Elefanten als ‚Zootiere‘ explizit, er prangert diese aber nicht an, sondern komisiert sie mit einem multiplen multimodalen Fiktionalisieren. Denn erstens gäbe es keine ‚verliebten Elefanten‘, wenn sich männlicher und weiblicher Elefant nicht träfen. Hier wird aber ein andauerndes, wechselseitiges Gefühl konstruiert, dass die Schicksalshaftigkeit einer unglücklichen Liebe à la Romeo und Julia kontextualisiert. Zweitens erfolgt ein (doppelbödiges) Fiktionalisieren über die metaphorische Redewendung jemanden auf die Palme bringen. Dabei wird mit der Metapher das emotionale ‚Hochgehen‘ eines Erzürnten sprachlich-bildhaft ausgeschmückt (vgl. Röhrich 2001: 1129). Die sprachliche Prädikation kann hier nicht wörtlich genommen werden, da die bildliche Nomination ein Felsen und keine Palme ist (vgl. Abb. 2). Drittens gibt es bei Gajendra aber keine körperlichen Anzeichen für Wut (Dominanz- oder Drohgebärden), sodass sein im Fernsehbild sichtbares, langsames Hochgehen durch die Verwendung des Phraseologismus metaphorisiert, aber damit als emotionale Reaktion auf die Macht der Pfleger: innen auch fiktionalisiert wird. Gleichzeitig kontextualisiert Gajendras Proxemik - jedoch nur im Rahmen der Narration - einen höheren sozialen Rang, da dieser mit erhöhten räumlichen Standorten symbolisiert wird (vgl. Kotthoff 2002: 21). Eine Parallelisierung von Sprache und Bild (vgl. Stöckl 2011: 54) zum Zwecke der dramatisierenden Narration ist im Fernsehen nicht selten. Es wird nach 258 Pamela Steen <?page no="259"?> Szenen gesucht, denen das passende konkrete oder metaphorische Konzept zugeschrieben werden kann. Ob die Sprache dem Bild folgt oder anders herum, kann hier jedoch nicht beurteilt werden. Fest steht, die Kombination des sprachlichen und visuellen Bildes schafft, bezogen auf die Liebesfilm-Narration, eine intermodale Kohärenz, bei der der Off-Sprecher einen Konflikt zwischen Elefanten und Pfleger: innen konstruiert. Er ergreift dabei scheinbar Partei für die Elefanten, indem er ihre Emotionen erkennt und verbalisiert. Die inszenierte Empathie des Off-Sprechers erscheint als eine „Parteinahme in einer Dreierszene“ (Breithaupt 2016: 152, Herv. i. O.), jedoch selbstreferenziell bezogen auf die eigene fiktionalisierte Konfliktnarration. Die Zuschauer: innen sind eingeladen, seine Einstellung zu übernehmen und sich im Zuge einer folgenarmen Empathie (vgl. Hermanns 2007: 139) kurzzeitig unterhalten zu fühlen. Die Analysen zusammenfassend zeigt sich, dass bei den Elefanten, anders als bei den Opossums (‚Liebe‘ in einer unglücklichen Ménage-à-trois) und den Zebras (sexualisierte, körperliche ‚Liebe‘), eine romantische und erotische Liebe konstruiert wird, die nur von Seiten des Off-Sprechers als homogene Konstruk‐ tion durchgehalten wird und regelrecht gegen die nüchternen zoologischen Erklärungen des Pflegers verteidigt wird, um Doku und Soap im Gleichgewicht zu halten. Opossums und Elefanten verdeutlichen, dass das Narrativieren des tierlichen Agierens als Liebes-Plot am besten funktioniert, wenn die Szenen entweder so viele Leerstellen aufweisen, dass sie mit diesem Plot komplett überschrieben werden können, oder wenn die Tiere ein ausgeprägtes Sozialver‐ halten zeigen, das - im besten Fall multimodal - an den Plot angepasst werden kann, um ihn glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Als Aufhänger eignen sich konkrete oder potenzielle tierliche Geschlechtsakte, weil die Tiere bereits mit ihren (von der Kamera) eingefangenen, faszinierenden ‚exotischen‘ Körpern präsentiert werden, die gezeigten oder auch nur imaginierten Sexszenen den menschlichen Voyeurismus befriedigen und sie das fleischgewordene Sinnbild einer seelischen Vereinigung von Liebenden darstellen. 4 Schlussbemerkungen Zoo-Doku-Soaps haben als Mega-Bühne (vgl. Willems/ Kautt 2000) eine impli‐ zite Sendebotschaft: Ein Ort, an dem es Liebe gibt, kann kein schlechter Ort (für die Tiere) sein. Durch Liebesnarrationen wird der Zoo zum „locus amoenus“, zum glücklichen Ort (vgl. Haß 2000). Die dargestellte tierliche Liebe befeuert als intensive Emotion die „Emotionsfabrik Zoo“ (Klothmann 2015: 195) und verschleiert, wie die Analysen zeigen, dass es sich beim Zoo um eine totale Institution handelt (vgl. Goffman 2020; Steen i.Dr.), indem die menschliche True Love? Inszenierte Tierliebe in Zoo-Doku-Soaps 259 <?page no="260"?> 11 Erst in jüngerer Zeit steht die unverbrüchliche biologische Ebene als Argumentation des tierlichen Agierens, z. B. bei nichtmenschlichen Primaten, zur Disposition (vgl. de Waal 2022: 47). Kontrolle der sozialen tierlichen Begegnungen hinsichtlich der erfolgreichen Verpaarung zu Zuchtzwecken überspielt wird. Die ‚Zootiere‘, die sich laut Narration lieben, miteinander um Liebe konkur‐ rieren, sich zum Rendezvous treffen, tun dies auf einer genderisierten Folie in einer institutionalisierten „Umwelt, die speziell für den Zweck eingerichtet wurde, sie gewissermaßen heraufzubeschwören“ (Goffman 2001: 147). Diese Umwelt besteht im materiellen Sinne aus dem Zoo als Ort und gleichzeitig im semiotischen Sinne aus der TV-Narration. Damit sind die Tiere zweifach gerahmt: Das präsentierte theatrale Tier auf der Vorderbühne wird auf der inszenierten Hinterbühne medialisiert, wodurch die Bedeutung für das eigent‐ liche Habitat der Tiere und das ökologische Verständnis der Besucher: innen bzw. Zuschauer: innen noch weiter eingeschränkt werden dürfte (vgl. Malamud 2012: 126). Durch die Anbindung an die „reale körperliche Differenz“ (Kotthoff 2002: 5, FN 6) von männlichen und weiblichen Tieren, die zum Teil mit biologischen und zoologischen Daten verfestigt wird, und die, im Gegensatz zum Menschen, scheinbar nicht mit kulturellen oder individuellen Displays unterlaufen werden kann, wird das tierliche „Arrangement der Geschlechter“ (vgl. Goffman 2001) - unter dem Deckmantel der konstruierten Liebe - durch die Narration sta‐ bilisiert. 11 Verbunden mit den anthropomorphisierenden Gender-Stereotypen entstehen auf diese Weise universale Deutungsmuster, die legitimierend auf die menschliche Sphäre zurückwirken. Unter diesem Aspekt wäre eine Ausweitung der Analyse auf andere Tier-TV-Formate spannend, um eventuelle Übereinstim‐ mungen oder Unterschiede herauszuarbeiten. Die Transformation der Mensch-‚Zootier‘-Beziehung in eine Doku-Soap - so lässt sich abschließend beurteilen - ist ein weiterer Schritt im Prozess der Disneyisierung (vgl. Beardsworth/ Bryman 2009), in dem die unterhaltenden Fiktionalisierungen, Genre-Adaptionen und die oftmals auf einem male gaze beruhenden traditionellen Genderrollen den Zoo noch weniger als Bildungsein‐ richtung erscheinen lassen. Zwar sieht die Medienkritik (etwa bezogen auf For‐ mate wie Big Brother) die „Menschenwürde“ im „televisionären Menschenzoo“ (Bleicher 2017: 349; vgl. Schon 2013) in Gefahr, die Zurschaustellung der Tiere wird aber selten aus ethischer Perspektive problematisiert. Während Menschen zumeist freiwillig an den Shows teilnehmen, treten die tierlichen Liebenden oder die Tiere als ‚Liebende‘ unfreiwillig als Protagonist: innen auf. Denn in den 260 Pamela Steen <?page no="261"?> Zoo-Doku-Soaps gibt es kein tierliches Ich als einen „Ort jemandes, der für sich, als Liebender, spricht“ (Barthes 1984: 15). Die Tiere schweigen. Bibliografie Quellen Elefant, Tiger & Co. (2010). „Pfundskur für die Liebe“, Folge 376, https: / / www.youtube.c om/ watch? v=bb-Yz2FykcM (Stand: 12.06.2022) Nashorn, Zebra & Co. (2016). „Amore bei den Tigern“, Staffel 5 (Zusammenschnitt verschiedener Sendungen), https: / / www.youtube.com/ watch? v=ngz41xotLMc&list=PLh4gJiSfXENqS3sq4H8gZoCRspQvJSGFA&index=1 (Stand: 10.06.2022) Literatur Barthes, Roland (1984). Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt am Main. Beardsworth, Alan/ Bryman, Alan (2009). The Disneyization of Zoos. In: Arluke, Ar‐ nold/ Sanders, Clinton (Hrsg.) Between the Species: Readings in Human-Animal Relations. Boston, 225-234. Bleicher, Joan Kristin (2017). Reality-TV in Deutschland. Geschichte, Themen, Formate. Hamburg. Breithaupt, Fritz (2016). Kulturen der Empathie. 4. 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Sie stellen daher den theoretischen und methodi‐ schen Rahmen zur Verfügung, um die dargestellte Liebeskommunikation in der Kinderliteratur zu analysieren. Keywords: Interaktionslinguistik, KJL, Emotionen, Mystifizierung, Soziale Institutionen, Liebeskommunikation 1 Einleitung Das Konzept Liebe ist Grundlage wichtiger sozialer Institutionen, vor allem von Partnerschaft und Familie. Das aktuelle Ideal einer Lebenspartnerschaft oder Beziehung basiert z. B. nicht auf dem Gedanken der ökonomischen Absi‐ cherung oder dem Erhalt von sozialem Status - obgleich diese Aspekte fraglos noch immer eine große Rolle bei der Partner*innenwahl spielen -, sondern auf der Liebe. Auch in der Idealvorstellung von Familie - und in herausgeho‐ bener Weise die Eltern-Kind-Beziehung (meist noch immer fokussiert auf die Mutter-Kind-Beziehung) - ist Liebe das zentrale verbindende Element. Dem <?page no="266"?> Konzept Liebe kommt damit die Aufgabe zu, Lebensgemeinschaften und ihre zwischenmenschliche Nähe, aber auch soziale Ordnungen, aus denen Verant‐ wortlichkeiten hervorgehen, wie Rollenverteilungen und Eltern-Kind-Verhält‐ nisse, zu legitimieren. Liebe wird aber gleichzeitig als ein höchst privates und individuelles emotionales Erlebnis konstituiert, das häufig als unbeschreibbar und unvermittelbar gilt, das nur durch eigene Erfahrung erschlossen werden kann. Elemente der Mystifizierung und Sakralisierung sind zusätzlich zu finden und laden das Konzept Liebe mit einer geradezu religiösen Komponente auf. Es stellt damit einen hochkomplexen sozial und diskursiv konstituierten Gegen‐ stand dar, dessen psychische und soziale Bedeutung kaum unterschätzt werden kann, dessen Semantik jedoch diffus und widersprüchlich ist. Mit diesem Beitrag möchte ich mich dieser diffusen und widersprüchlichen Semantik nähern und gleichzeitig herausfinden, wie der hohe gesellschaftliche Status der Liebe für das Individuum gerechtfertigt und vermittelt wird. Zu diesem Zweck wird sich der Beitrag vor allem mit Kinderbüchern beschäf‐ tigen, da Kinder eine Gruppe darstellen, der nur begrenzt Komplexität, Abs‐ traktion und Widersprüchlichkeit zugemutet werden kann, und die daher die einfachsten, pointiertesten und deutlichsten Erklärungen bekommen müssen. Kleinen Kindern wird das Konzept Liebe bereits gesteuert und didaktisch aufbereitet nahezubringen versucht. Davon zeugt in der modernen Kinderli‐ teratur eine nicht geringe Menge an Geschichten, die eben dieses Konzept thematisieren. Das Bedürfnis zu erklären, was Liebe ist, kommt dabei - so viel sei an dieser Stelle unterstellt - nicht von den Kindern, sondern von den Erwach‐ senen, deren eigenes Verständnis von Liebe durch eine lange Kulturgeschichte geprägt ist. Dieser Aufsatz betrachtet daher, wie ein so hoch komplexes und zugleich so grundlegendes Konzept in Kinderbüchern erklärt wird, weniger aus pädagogischem Interesse, als vielmehr, um aus den Erklärungen Rückschlüsse über das Liebes-Bild der erklärenden Erwachsenen ziehen zu können. Dazu werden die Erzählstruktur, die in den Erzählungen dargestellten In‐ teraktionen und die multimodalen Mittel zur Darstellung von Liebe in einer Auswahl von Büchern für Kinder bis zehn Jahren analysiert. Die untersuchten Bücher sind alle in den letzten zehn Jahren erschienen. Sie werden über den Onlineshop Amazon.de vertrieben und erscheinen bei einer Schlagwortsuche mit dem Suchwort „Liebe“ in der Rubrik Kinderbücher unter den Treffern auf den ersten beiden Seiten. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass die ausgewer‐ tete Literatur nicht nur ein Nischenpublikum bedient, sondern einem breiten Publikum zumindest prominent angeboten werden. Acht Bücher wurden so zur Analyse ausgewählt, von denen ich hier drei Bücher intensiver vorstellen 266 Kristin Kuck <?page no="267"?> möchte, da sie exemplarisch zeigen, wie Geschichten um das Thema Liebe strukturiert sind. Zuerst soll aber das Konzept Liebe im Vordergrund stehen. Neben einer sozial- und kulturgeschichtlichen Darstellung dessen, was vor allem im 17. und 18. Jahrhundert in die Vorstellung von Liebe eingegangen ist, wird auch der interaktionale Aspekt beleuchtet. Dazu ziehe ich die Interaktionsforschung über Emotionen im Allgemeinen heran, die bereits seit fast 30 Jahren in der Forschung gängig ist, und übertrage diese Erkenntnisse auf das Konzept Liebe und die Besonderheiten von Liebe in Kinderbüchern. Da wir es hier aber nicht mit natürlichen Interaktionen zu tun haben, sondern mit Erzählungen, wird auch die Erzählstruktur danach untersucht, welche Rückschlüsse sie über das Konzept Liebe zulässt. 2 Was ist Liebe? Liebe ist zunächst einmal eine Emotion. Nach Reinhard Fiehler sind Emotionen „spezielle Formen des Erlebens. Der Begriff ‚Erleben‘ umfaßt alle Formen des Erlebens meiner Selbst, anderer und der Umwelt. Das, was ich unter Emotionen verstehe, ist Teil des Erlebens, macht aber nicht das ganze Erleben aus.“ (Fiehler 1986: 280) Hinzu kommen kognitive und physiologische Einflüsse auf das Erleben. Daher unterscheidet Fiehler auch zwischen „reinen“ Emotionen wie Ekel oder Freude und gemischten Emotionen, die sich z. B. auch mit kognitiven (Neugier) oder physiologischen Zuständen (Hunger) mischen können. Liebe dürfte zu den reinen Emotionen gehören, obwohl ihr auch eine starke körper‐ liche Dimension zugeschrieben wird, wie im Folgenden noch deutlich werden wird. Darüber hinaus haben Emotionen aber auch kulturhistorische und gesell‐ schaftliche Dimensionen, die in das eingehen, was unter einer Emotion ver‐ standen wird, zumindest lässt sich das für die Liebe belegen. Daher werde ich zu dem Konzept Liebe zwei Perspektiven einnehmen. Die eine Perspektive ist streng empirisch und interaktional geprägt und konzentriert sich auf Liebe als Emotion insoweit, wie Emotionen zwischenmenschlich relevant gesetzt, inszeniert und manifest werden. Die interaktionale Perspektive kann unter Liebe nur das erfassen, was als Liebe in einer Interaktion - intendiert oder nicht - zum Ausdruck gebracht oder thematisiert wird. Die andere Perspektive ist sozial- und kulturgeschichtlich geprägt und betrachtet, wie über die Liebe gesprochen wird, wie sie ideologisch aufgeladen oder abgewertet wird (und wurde) und welchen gesellschaftlichen Stellenwert man ihr zugewiesen hat. Liebeserklärungen für Kinder 267 <?page no="268"?> Solcherlei ‚kollektives Wissen‘ sedimentiert sich vor allem semantisch und ist diskurslinguistisch erfassbar. Für die kulturhistorische Perspektive hat der Soziologe Niklas Luhmann 1994 mit seinem Buch „Liebe als Passion“ eine umfangreiche Studie vorgelegt, in der er anhand von vor allem belletristischer Liebesliteratur die Entwicklung dessen, was als Liebe gilt, vom 17. Jahrhundert bis zur Romantik beschreibt. Als Soziologe betrachtet er Liebe als soziales Phänomen und als kollektiven Wissensbestand einer Gesellschaft, kurz gesagt, als Code für Intimität. Ob‐ wohl Luhmann dezidiert keine Diskursanalysen vorlegt, sondern im Rahmen der Systemtheorie Kommunikationsprozesse einer Gemeinschaft beschreiben möchte, geht er in Fragestellung und Datenbasis durchaus einer Diskursanalyse entsprechend vor. Er sucht die soziale Konstitution von Liebe in literarischen Alltagstexten, die zu den kommunikativen Praktiken der Zeitgenossen gehören und diese auch geprägt haben dürften. Das ist nach Luhmann der Ort, an dem der Code für Intimität vermittelt wird. Dieser ist reflektiert, allen Beteiligten bekannt, kann durchschaut werden und wirkt dabei emotional (vgl. Luhmann 1994: 37). Auch Luhmanns Fragestellung, wie dieser Code sich über mehrere Jahrhunderte hinweg verändert und wie er auf die soziale Realität reagiert und sie gleichzeitig prägt, ist eine typisch diskurssemantische Frage, so dass sich seine Analyse durchaus auch mit diskursanalytischem Interesse lesen lässt: Die folgenden Überlegungen lassen sich von der These tragen, daß literarische, ideali‐ sierende, mythisierende Darstellungen der Liebe ihre Themen und Leitgedanken nicht zufällig wählen, sondern daß sie damit auf ihre jeweilige Gesellschaft und auf deren Veränderungstrends reagieren; daß sie, auch wenn in deskriptiver Form gehalten, nicht unbedingt die Realsachverhalte des Liebens wiedergeben, wohl aber angebbare Probleme lösen, nämlich funktionale Notwendigkeiten des Gesellschaftssystems in eine tradierbare Form bringen. (Luhmann 1994: 24) So betrachtet Luhmann Liebe als etwas sozial konstituiertes, als einen „Kommu‐ nikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen und leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird.“ (Luhmann 1994: 23). Kurz zusammengefasst kommt Luhmann zu dem Ergebnis, dass Liebe sich von einem passiven zu einem aktiven Phänomen entwickelt, von etwas, das erlitten wird und über das man keine Kontrolle hat, zu einem kommunizierbaren und inszenierbaren Phänomen. Passion sei dabei das Leitsymbol (vgl. Luhmann 1994: 30). 268 Kristin Kuck <?page no="269"?> Andere Bilder mit zum Teil sehr alter Tradition haben den gleichen Symbolwert - so wenn man sagt, Liebe sei eine Krankheit; Liebe sei Wahnsinn […]; Liebe lege in Ketten. In weiteren Wendungen kann es heißen: Liebe sei ein Mysterium, sei ein Wunder, lasse sich nicht erklären und nicht begründen, usw. All dies verweist auf ein Ausscheren aus der normalen sozialen Kontrolle, das aber von der Gesellschaft nach Art einer Krankheit toleriert und mit der Zuweisung einer Sonderrolle honoriert werden muß. (Luhmann 1994: 30f.) Mit Passion ist sowohl das Leidenschaftliche verbunden als auch das Passive, also die Idee, der Liebe ausgeliefert zu sein. Luhmanns Spezifizierungen enthalten hier typische Merkmale tabubehafteter Themenbereiche, nämlich ambivalente und extreme Wertzuschreibungen wie Stigmatisierungen und Sakralisierungen. Nach Hartmut Eggert (vgl. 2002: 20) und Hartmut Kraft (vgl. 2004: 41) werden solche Auf- und Abwertungen auch dazu genutzt, tabuisierte Gegenstände, Sachverhalte oder Handlungen als etwas zu markieren, das nur stark reguliert und kontrolliert Teil der Gemeinschaft sein darf, da sie als die Gesellschaft oder die soziale Ordnung gefährdend wahrgenommen werden (vgl. Kuck 2021: 2). Zumindest wird ihnen ein subversives Potenzial zugesprochen. Dafür sprechen vor allem die stigmatisierenden Bildbereiche der hier von Luhmann zitierten Metaphern: Wahnsinn, Krankheit, Gefangenschaft, für die es in unserer Gesellschaft geschützte und ausgesonderte Orte gibt (Klinik und Gefängnis) und die mit Störungen des ‚Normalen‘ verbunden sind. Es handelt sich hier um Ausgrenzungsstrategien mit dem Effekt der Tabuisierung. Tabuisierung entsteht aber nicht nur durch negative, sondern auch durch positive Ausgrenzung. Etwas für unerklärlich oder unbeschreibbar, auch für unberührbar zu erklären, führt zu Mystifizierungen, in Verbindung mit starker Aufwertung auch zur Sakralisierung (vgl. Eggert 2002: 19). Diese Formen der Unerklärlichkeit in Verbindung mit der ambivalenten Bewertung und Ausgren‐ zung aus dem Alltag sind daher Hinweise für eine ‚Verklärung‘ des Phänomens, die auch die gegenwärtige Vorstellung von Liebe noch beherrscht. Die Behauptung von Unbeschreibbarkeit wird auch in der Linguistik nicht zufällig in solchen Gesellschaftsbereichen beobachtet und erforscht, die nach Luhmann das „Ausscheren aus der normalen sozialen Kontrolle“ markieren. Die Behauptung von Unbeschreibbarkeit findet sich nach Elisabeth Gülich bei Erzählungen von Katastrophen, Träumen und Visionen, Traumata sowie Nahtoderfahrungen, also transzendenten Erfahrungen (vgl. Gülich 2005: 230, s. dazu auch Rhein i.d.B.). Unbeschreibbarkeit wird von ihr auch im Zusammen‐ hang mit Religion erforscht. Es handelt sich um einen Topos, der im Kontext von einzigartigem und höchst individuellem Erleben steht. Unbeschreibbarkeit besteht Liebeserklärungen für Kinder 269 <?page no="270"?> in der Subjektivität der Erfahrungen und Empfindungen, die anderen nur durch die Beschreibung überhaupt zugänglich werden. Es sind keine geteilten Erfahrungen. Wenn der Sprecher sie als ,unbeschreibbar‘ bezeichnet, so macht er damit deutlich, dass sie nicht nur ein Formulierungsproblem, sondern auch ein Kommunikationshin‐ dernis darstellen. Unbeschreibbar heißt zugleich: dem Gegenüber nicht vermittelbar. (Gülich 2005: 231) Am Beispiel von Epilepsie-Patient*innen, die die Ankündigungen eines Anfalls zu beschreiben versuchen, demonstriert sie, wie musterhaft Unbeschreibbarkeit kommunikativ realisiert wird: Meist wird ein Erklärungsnotstand explizit for‐ muliert, auch Inszenierungen des Formulierungsprozesses, wie sichtbar nach Worten ringen, finden statt und deuten darauf hin, dass ein anderer Sinnbezirk als der der Alltagswelt betreten werden müsste, der anderen aber nicht zugänglich ist. Daher distanzieren sich Sprechende von dem Unbeschreibbaren, das es in Worte zu fassen gilt, und beschreiben zumindest einen Teil oder so gut es eben geht. Es finden sich also durchaus Beschreibungen des Unbeschreibbaren, aber in der Regel mit einem Beharren darauf, dass sie unzureichend sind (Gülich 2005: 240). In der Liebeskommunikation, wie Luhmann sie analysiert, bestünde solch ein anderer Sinnbezirk in der Subjektivität der Empfindung, die das Empfinden von Liebe zu einer Art Transzendenzerfahrung macht. Luhmann nennt das Phänomen der Unbeschreibbarkeit Inkommunikabilität und widmet ihr in „Liebe als Passion“ ein ganzes Kapitel. Er gibt sie als Entdeckung des 18. Jahrhunderts an (vgl. Luhmann 1994: 153). Inkommunikabilität: damit ist jetzt nicht mehr nur gemeint, daß die Passion die Rhetorik ins Stottern bringt, die eloquente Rede verwirrt - und sich dadurch verrät. […] Vielmehr tauchen prinzipielle Schranken der Kommunizierbarkeit auf. Nicht das Versagen der Geschicklichkeit, sondern die Unmöglichkeit der Aufrichtigkeit wird zum Problem. (Luhmann 1994: 154) Sich auf die Einzigartigkeit der eigenen Empfindung zu berufen, passe in das 18. Jahrhundert, da zu dieser Zeit Werte wie Natürlichkeit und Authentizität aufsteigen, dadurch könne aber ein „Ausdruck von Individualität im Sinne von Einzigartigkeit“ (Luhmann 1994: 154) nicht mehr gelingen. Luhmann beschreibt das, was nicht kommuniziert werden kann, als einen Sinn, der dann nicht mehr eintreten könnte, würde er ausgesprochen. Das Nicht-Kommunizierbare ließe sich zwar für die Liebenden nicht auflösen, in einer Liebes-Erzählung jedoch für die Lesenden, da diese in die Interaktion ja eintauchen können und damit auch ihren unbeschreibbaren Sinn erkennen können. So könne der Code für Liebeskommunikation dennoch vermittelt werden (vgl. Luhmann1994: 160). 270 Kristin Kuck <?page no="271"?> 3 Der linguistische Zugriff auf Liebe Die Subjektivität der Erfahrung betrifft allerdings nicht nur die Liebe, sondern im Grunde jede Emotion. Das bedeutet jedoch nicht, dass man empirisch nicht auf sie zugreifen könnte. Emotionen sind in der Linguistik kein unübliches Forschungsfeld. Die Perspektiven, die dabei auf Emotionen geworfen werden, unterscheiden sich in zwei große Felder. Die einen nehmen eine kognitivistische Perspektive ein und fragen nach der Konzeptualisierung von Emotionen auf der semantischen Ebene (vgl. Schwarz-Friesel 2013). Die anderen folgen eher einer interaktionistischen Perspektive und fragen, wie Emotionen in der Kommuni‐ kation zwischen zwei oder mehreren Interagierenden hergestellt, dargestellt, ausgedrückt, benannt und beschrieben werden. Da die Rezipierenden der Kinderliteratur, wie später noch genauer erläutert wird, vor allem multimodal dargestellte Interaktionen und Interaktionspartner*innen beobachten oder aus den Erfahrungen der Hauptfiguren schöpfen, soll hier die interaktionale Ebene mehr im Vordergrund stehen. Eine grundlegende Arbeit über die interaktionale Konstituierung und Pro‐ zessierung von Emotionen stammt von Fiehler (1986). Er legt den Fokus auf den direkten oder indirekten Ausdruck und die Thematisierung von Emotionen sowie die gemeinsame Bearbeitung der Emotionen, die in einer Kommuni‐ kationssituation relevant gesetzt werden. Er berührt also drei Ebenen: Aus‐ druck, Reflexion und Aushandlung. Das typische Anwendungsfeld ist dabei die Face-to-Face-Kommunikation im Alltag. Eine Übertragung dieses Ansatzes auf Literatur soll daher zumindest kurz eingeordnet werden. Zwar geht es in der hier untersuchten Kinderliteratur meist um die Erklärung des Konzepts Liebe, so dass ein kognitiver Wissensgewinn der Rezipierenden angestrebt wird. Jedoch wird dieses Ziel oft durch die Beobachtung von fiktiven Interaktionen oder durch die Thematisierung von typisierten Alltagssituationen zu erreichen versucht. Diese typisierten Situationen, die die Rezipierenden in den Büchern vorfinden, zeigen mehr, als dass sie erklären, wie Liebe ausgedrückt wird bzw. werden soll, und welche sozialen und psychischen Auswirkungen der Ausdruck von Liebe auf die Interaktionspartner*innen hat. Daher explizieren und vermitteln sie gleichzeitig Normen. Die Bücher zeigen Ausdrucks- und Darstellungsformen von Liebe nicht nur durch die Erzählung, sondern auch durch die multimodale Realisation der Erzählung, die für Kinderbücher so typisch ist. Es ist daher sinnvoll, sich der Liebe aus beiden Perspektiven, der kognitiven und der interaktionalen, zu nähern. Zum einen wird die Erzählung als kognitiv-semantisches Schema für die Analyse genutzt, um erfassen zu können, was Kinder durch die Literatur über Liebe erfahren. Denn ein kognitiv-semantisches Schema einer Erzählung Liebeserklärungen für Kinder 271 <?page no="272"?> stellt eine Wissensorganisationsstruktur zur Verfügung, in die Geschehnisse und Erlebtes eingeordnet und so in einen sinnvollen Zusammenhang gestellt werden können. Nach William Labov lässt sich ein solches Schema nutzen, „to make inferences about the relation of a narrative as it is told to the under‐ lying events as the speaker experienced them.“ (Labov 2001: 1). Die erzählten Geschehnisse und Erlebnisse werden also so zusammengefügt, dass ihnen ein Sinn zugeschrieben werden kann. Zum anderen wird innerhalb der Erzählung die Interaktion der Figuren auf die gemeinsame Herstellung der Emotion Liebe betrachtet. Im Folgenden werde ich zuerst die interaktionale Perspektive auf Emotionen nach Fiehler vorstellen und mich im Anschluss der Erzählung als kognitiv-semantisches Schema nach Labov widmen. 3.1 Liebe als interaktives Phänomen Ein geeignetes Raster für die Analyse der Interaktionen bietet Fiehler (1986) in seinen Ausführungen über die „Konstitution, die Prozessierung und die Kommunikation von Emotionen im Interaktionsprozeß“ (Fiehler 1986: 281). Auch er hebt damit, wie auch Luhmann es mit der Liebe getan hat, Emotionen von einer individuellen und subjektiven auf eine soziale Ebene und entindivi‐ dualisiert damit das Phänomen. Dafür definiert er emotionale Aufgaben, die die Interaktionspartner*innen in der Kommunikation bewältigen müssen, und Emotionsregeln, mit denen die Aufgaben bewältigt werden können. Fünf emo‐ tionale Aufgaben gibt er an (vgl. Fiehler 1986: 282-283): 1. Die Typisierung von Situationen hinsichtlich der emotionalen Qualität. Hier gilt es einzuschätzen, welche Emotionen in einer Situation wie dieser angemessen sind und welche nicht. 2. Die wechselseitige Darstellung der eigenen Befindlichkeit hinsichtlich anderer Personen, Handlungen, Ereignisse, erinnerten oder antizipierten Situa‐ tionen o.ä. 3. Hinzu kommt die Deutung der emotionalen Befindlichkeit des anderen hinsichtlich der zuvor genannten Punkte. 4. Auch die allgemeine Emo‐ tionalität aller an der Situation Beteiligten muss typisiert werden - Ist jemand bspw. herzlich oder distanziert? 5. Schlussendlich muss auch die Beziehung der Interagierenden zueinander auf der emotionalen Ebene typisiert werden. Nach Fiehler stehen diese Aufgaben zu jeder Zeit an, in denen Bewertungen und Stellungnahmen zu Sachverhalten oder Ereignissen bezogen werden. Zu den Typisierungen, Deutungen und Darstellungen, die in den emotionalen Aufgaben beschrieben sind, tritt aber auch noch die Ebene des Erlebens. Auch diese sieht Fiehler nicht als rein individuell an, auch wenn das Erleben von den Interagierenden so wahrgenommen wird. Eine Situation emotional zu erleben, wird ebenfalls gelernt, folgt Normen und Regeln. 272 Kristin Kuck <?page no="273"?> 1 Ich folge in diesem Beitrag grundsätzlich der Terminologie Fiehlers, der Emotionen und Gefühle explizit „bedeutungsgleich“ verwendet und sie als „spezielle Formen des Erlebens“ (Fiehler 1986: 280) definiert. Die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen „Emotionsregeln“ als Oberbegriff für die vier Regeln und „Gefühlsregeln“ als erste dieser Regeln entstammt ebenfalls seiner Terminologie (Fiehler 1986: 289). Damit widerspricht Fiehler durchaus seiner eigenen Synonymiebehauptung. „Gefühl“ scheint in diesem Fall aber auf das tatsächliche Fühlen in einer konkreten Situation zu verweisen, während „Emotion“ auch die anderen Facetten (Ausdruck, Ausdrucksregu‐ lation und Gefühlskorrespondenz) umfasst. Die Verbindung zwischen typisierten Situationen und Erleben besteht in Form von Emotionsregeln, und in jeder konkreten Situation wird sie auf ihrer Grundlage hergestellt. Emotionsregeln stiften sozusagen je spezifische Verbindungen zwischen unserem typologischen Wissen über soziale Situationen und Formen des Erlebens bzw. Ausdrucksmöglichkeiten. (Fiehler 1986: 289) Er formuliert vier Emotionsregeln: Gefühlsregeln (feeling rules), Regeln der Gefühlskorrespondenz, Ausdrucksregulationsregeln und Ausdrucksregeln (dis‐ play rules). 1 Gefühlsregeln legen fest, welches Gefühl in welcher Situation angemessen ist: „Wenn eine Situation gedeutet wird als vom Typ X, ist es ange‐ messen und wird sozial erwartet, ein emotionales Erleben vom Typ Y zu haben.“ (Fiehler1986: 289). Die Regeln der Gefühlskorrespondenz legen fest, welche Gefühle in Bezug auf die Gefühlslage einer anderen Person angemessen und erwartet sind (vgl. Fiehler1986: 290). Ausdrucksregulationsregeln normieren, welche Gefühle von wem ausgedrückt werden dürfen und welche nicht, wäh‐ rend Ausdrucksregeln die Konventionen angeben, wie ein Gefühl ausgedrückt wird. Dabei ist es nicht erheblich, ob das Gefühl auch tatsächlich vorhanden ist. Der konventionelle Ausdruck eines Gefühls wird als Indikator gelesen, dass das Gefühl vorhanden ist (vgl. Fiehler1986: 290). Fiehler merkt an, dass diese Regeln nicht nur deskriptive Normen sind, sondern darüber hinaus auch normierende Kraft haben. Eine Abweichung von der sozial erwarteten oder angemessenen Emotionalität wird auch von Gefühlsträgern selbst als unpassend erfahren. Auf dieser interaktionalen Ebene haben wir es also weniger mit tatsächlich vorhandenen Emotionen, als vielmehr mit signalisierten Emotionen zu tun. Werden sie gedeutet, können sie auch in der Interaktion relevant werden. Dafür stellt Fiehler drei Mechanismen fest: Erstens kann eine Emotion von einem Gegenüber unterstellt werden, z. B. weil die typisierte Situation das verlangt, oder auch, weil eine der beteiligten Personen ihre eigenen Emotionen auf die andere projiziert (vgl. Fiehler 1986: 293f.). Zweitens kann ein Ausdruck von Emotion als echt oder unecht gedeutet werden. Wird er als Anzeichen echter Emotion gelesen, so kann ihm eine kommunikative Absicht und Funktion Liebeserklärungen für Kinder 273 <?page no="274"?> zugeschrieben werden (vgl. Fiehler 1986: 294ff.). Drittens kann eine Emotion auch zum Thema einer Kommunikation werden. Dies geschieht vor allem durch Benennung oder auch durch Beschreibung der Emotion, des Erlebens, der Um‐ stände des Erlebens oder erlebnisrelevanter Sachverhalte (vgl. Fiehler 1987: 562). Solche Thematisierungen erfasst Fiehler neben den bis hierhin beschriebenen Ausdrucksmöglichkeiten von Emotionen als eine Form der Manifestation einer Emotion im Kommunikationsprozess (vgl. Fiehler 1987: 561). Für Erlebnisbeschreibungen stellt Fiehler (1987: 564) fest, dass der Fokus der Erzählung auf verschiedene Aspekte des Erlebnisses gelegt wird: Der Träger einer Emotion, die Art der Emotion, die Intensität, der Verlauf, das Objekt oder der Bezugspunkt, die Maßstäbe der Bewertung, der Anlass der Emotion, die Lokalisierung im Körper, die Ausdruckserscheinungen und die Folgen. All diese Aspekte können zum Thema werden und sind daher auch als Teil der Emotionsthematisierung zu betrachten. Diese hier dargestellten verschiedenen Ebenen, Bezugspunkte, Formen und Prozesse, die bei der Analyse von Emotionen in der Interaktion von Bedeutung sind, könnten also prinzipiell in der Kinderliteratur eine Rolle spielen, Erleben könnte thematisiert, emotionale Aufgaben vermittelt, Ausdrucksregeln und -konventionen, Gefühlsregeln sowie Thematisierungsmöglichkeiten dargestellt und illustriert werden. 3.2 Die Erzählstruktur der Kinderbücher über Liebe Da es sich in den Kinderbüchern nicht um natürliche, sondern um erzählte Interaktionen handelt, ist es aufschlussreich für die Analyse, auch die Erzähl‐ struktur zu beachten, in die diese Interaktionen eingebettet sind, da sie bereits im Voraus Schwerpunkte setzt und die Wahrnehmung lenkt, indem bestimmte Fragen aufgeworfen und Ziele definiert werden. Ich wähle zur Beschreibung ein recht einfaches, aber sehr grundlegendes Muster der Narration, das im Nachfolgenden beschrieben wird. Es ist sowohl in Alltagserzählungen als auch in literarischen Textsorten wiederzufinden, da es eine kognitive Grundstruktur für die Einheit Erzählung darstellt. Die Erzählstruktur lässt sich in der Terminologie von Labov und Waletzky (1967) und Labov (2001) als eine musterhafte „narrative Themenentfaltung“ (Brinker et al 2014: 64) beschreiben: Jede Erzählung lässt sich, unabhängig von der Reihenfolge oder Vollständigkeit in der Realisierung, in kognitive Struktur‐ elemente zerlegen, nämlich Abstract, Orientierung, Komplikation, Evaluation, Resolution und Coda. In einem Abstract wird eine Hinführung oder Ankündi‐ gung der Erzählung vorgenommen. Es ordnet ein, warum diese Geschichte 274 Kristin Kuck <?page no="275"?> erzählt wird (vgl. Labov 2001: 3). Die Orientierung verortet die Erzählung räumlich und zeitlich und führt die relevanten Personen der Handlung ein. Es wird eine ‚gewohnte‘ Welt der Protagonist*innen innerhalb der Erzählung aufgebaut und in der darauffolgenden Komplikation durch ein ungewöhnliches Ereignis gestört (vgl. Labov 2001: 3). Ohne diese Komplikation gäbe es nichts berichtenswertes. Dann folgt eine Evaluation, in der sich die erzählende Instanz zu dem erzählten Inhalt positioniert, gefolgt von der Resolution. Darin wird die Komplikation aufgelöst und entweder zur gewohnten Welt zurückgefunden oder es entsteht eine neue gewohnte Welt; in jedem Fall wird die Komplikation als Störung überwunden. Abgeschlossen wird die Struktur durch eine Coda, bei der die erzählende Instanz eine rückblickende Bewertung der Geschichte als solcher vornimmt, also ein Resümee zur gesamten Erzählung zieht (vgl. Labov 2001: 3). Beispielsweise könnte ich meiner Freundin erzählen, dass ich auf meinem Arbeitsweg (Orientierung bzw. gewohnte Welt) beobachtet habe, wie eine Radfahrerin fast von einem Auto angefahren wurde (Komplikation bzw. Störung). Vielleicht würde ich betonen, dass der Radfahrerin glücklicherweise (Evaluation) nichts passiert ist (Resolution) und mich auch über rücksichtslose Fahrweisen generell aufregen (Coda). Nicht alle Elemente müssen in realisierten Erzählungen umgesetzt werden, die Rezipierenden können selbst fehlende Strukturelemente ergänzen: Was in der Orientierung nicht explizit beschrieben wird, kann z. B. aus der eigenen (gewohnten) Welt übertragen werden (z. B. Geschlechterstereotype oder soziale Institutionen wie Familienbilder oder Rol‐ lenverteilung). Evaluationen oder Codas können ebenfalls leicht durch die Rezipierenden komplettiert werden. In den untersuchten Büchern über Liebe kristallisiert sich ein typisches Muster heraus, wie das kognitiv-semantische Schema der Narration gefüllt wird: Nach einer Orientierung, die manchmal explizit, manchmal nur auf der Bildebene umgesetzt wird, entsteht zunächst die Frage danach, was Liebe eigentlich ist. Dann beobachtet die Hauptfigur ihre Umgebung, wo sie viele Verhaltensweisen entdeckt, die sie als Ausdruck von Liebe erklärt bekommt oder selbst als solche interpretiert. Am Ende steht ein Fazit, was sie nun über Liebe gelernt hat. Nur in einem der Bücher formuliert eine Figur tatsächlich, nicht herausgefunden zu haben, was Liebe ist. Das Erkennen des eigenen Nicht-Wissens zu Anfang der Geschichte ist also die Komplikation, durch die die Welt der Hauptfigur gestört wird. Die Erkenntnis, die dann über die Erzählung hinweg erworben wird, ist die Resolution. Die Hauptfigur tritt ein in eine neue Welt, in der das Gefühl Liebe erkannt wird. In diesem Sinne ist es die Erzählung selbst als kognitiv-semantisches Schema, die die Frage, was Liebe ist, für die Liebeserklärungen für Kinder 275 <?page no="276"?> Lesenden überhaupt relevant setzt. Durch die Erkenntnis der Hauptfigur soll auch das rezipierende Kind eine Erkenntnis erlangen. An diesem Schema orientiert, werden die Geschichten im Folgenden für jedes Kinderbuch einzeln wiedergegeben und die darin dargestellten Interaktionen auf der Ebene der Emotionskonstituierung und -prozessierung interpretiert. Das bedeutet, dass die Emotionsaufgaben und -regeln sowie die Mechanismen zur Darstellung und Deutung von Emotionen in den Geschichten nachvollzogen, und die darin ausgedrückten Regeln und Normen expliziert werden. Auf diese Weise wird der Code der Liebeskommunikation rekonstruiert, der in den Geschichten vermittelt wird. Dabei spielt insbesondere der Unbeschreibbar‐ keits-Topos eine herausragende Rolle, da er als eine Besonderheit der Liebes‐ kommunikation erwartbar ist, im Kontext von Erlebnisbeschreibungen oder Emotionsthematisierungen bei der Konstitution einer diffusen Semantik von Bedeutung ist und auch andere kulturgeschichtliche Aspekte nach Luhmann, wie Ausgrenzung und ambivalente Bewertungen, Mystifizierungen und Sakra‐ lisierungen, vermittelt. Insbesondere dem ambivalenten Stellenwert zwischen Tabuisierung und Verklärung auf der einen Seite und Grundlage sozialer Institutionen auf der anderen Seite soll dabei Rechnung getragen werden. 4 Die Kinderbücher 4.1 „Ich hab dich lieb, kleiner Fuchs“ Das erste Buch heißt „Ich hab dich lieb, kleiner Fuchs“ und wurde 2018 von Ulrike Motschiunig geschrieben und von Florence Dailleux illustriert. Es handelt sich um den ersten Teil einer Reihe von drei Geschichten mit dem kleinen Fuchs: „Wie der kleine Fuchs die Liebe entdeckt“, „Viel Glück zum Geburtstag, kleiner Fuchs“ und „Träum was Schönes, kleiner Fuchs“. Das Konzept dieser Fuchs-Geschichten ist offenbar von typischen Erlebnissen geprägt, die Kinder seit frühester Kindheit erfahren und die in Familien üblicherweise Thema sind: das Schlafengehen und das Geburtstagfeiern. Offenbar gehört nach Meinung der Autorin auch das Entdecken der Liebe dazu. Der kleine Fuchs lebt mit seiner Mutter (ein Vater wird nicht erwähnt) im Wald, führt eine Freundschaft mit einem Dachsjungen und kann mit allen Tieren des Waldes sprachlich kommunizieren. Auch der Dachs lebt bei seiner Mutter. Eine andere Fuchsfamilie, die der kleine Fuchs im Wald beobachtet, setzt sich aus Vater, Mutter und Kind zusammen. Fast alle Tiere, denen der Fuchs begegnet, werden in den Strukturen einer westeuropäischen Familie dargestellt, selbst Ameisenkinder werden von ihren Eltern abends ins Bett gebracht. In der 276 Kristin Kuck <?page no="277"?> 2 Die untersuchten Kinderbücher weisen keine Seitenzahlen auf, so dass im Folgenden alle daraus stammenden Zitate ohne Seitenzahl angegeben werden. gesamten Geschichte wird zwischen der Paarliebe und der Eltern-Kind-Liebe nicht unterschieden. Die Erzählung führt auf den ersten Seiten zu der Frage, was Liebe ist. Anstoß gibt eine Beobachtung des Fuchses: Er und der Dachs beobachten beim Spielen zwei Turteltauben beim Kuscheln. Während der Fuchs ihren Zustand als „glücklich und zufrieden“ 2 bewertet, sieht der Dachs darin vor allem Dummheit und lästert über das Verliebtsein. Die Gefühle des Fuchses sind zunächst ambivalent, da er zwar so glücklich sein möchte, wie die Tauben wirken, aber nicht als dumm gelten möchte. Erst die Dachsmutter bringt später die Frage auf, ob die beiden denn überhaupt wüssten, was Liebe ist. Sie ist auch diejenige, die eine unbefriedigende Antwort auf diese Frage gibt. Als der Fuchs „Was denn? “ zurückfragt, erklärt sie: „Liebe ist, wenn es mir wehtut, wenn sich mein kleiner Lausebengel verletzt! “. Damit wird der Fuchs noch weiter in seiner anfänglichen positiven Bewertung verunsichert. Die aufgeworfene Frage ist hier also nicht nur die Frage nach einer Definition, sondern vor allem nach der Bewertung. Nachdem der Fuchs nun also Liebe zuerst beobachtet und dann darüber gesprochen hat, macht er noch eine eigene Erfahrung. Er sieht ein Fuchsmädchen mit seinen Fuchseltern in den Wald kommen und reagiert mit körperlichen Symptomen wie Herzklopfen und Sprachlosigkeit: „‚Doch das kleine Fuchsmädchen ist … es ist …‘ Dem kleinen Fuchs fehlen die Worte, sein Herz beginnt zu klopfen - das kleine Fuchsmädchen ist wunderhübsch! “ Später zeigt er sich vor dem Fuchsmädchen auch noch tollpatschig, reagiert also mit einem Anflug von Kontrollverlust. Erst in Gesellschaft der eigenen Mutter und unterstützt durch ihre Erklärungen kann er auf einer nächtlichen Wanderung durch den Wald wieder positive Bewertungen der Liebe vornehmen: Bspw. hört er, wie Ameiseneltern ihre Kinder schlafen legen, hört die Frage der Kinder „Dürfen wir noch bei euch kuscheln? “ und schließt daraus: „Bestimmt haben die Ameisen einander sehr lieb! “ Weiter werden tanzende Glühwürmchen und kunstvolle Flugmanöver der Fledermäuse als Ausdruck von „Leidenschaft“ bewertet und vom Fuchs mit Liebe in Verbindung gebracht. Er selbst spielt mit seiner Mutter ausgelassen, wobei sie sich gegenseitig sagen, dass sie einander „lieb“ finden. Zum Schluss folgt eine Evaluation, in der der Fuchs die beobachteten positiven Erlebnisse der anderen zusammenfasst und als Wunsch auch für sich formuliert: eine große Familie haben, Feiern, die Welt entdecken, Leidenschaft empfinden und mit seiner Mutter zusammenbleiben. Dann folgt die Erkenntnis, die weniger kognitiv als viel mehr erlebnisbasiert ist: „Auf einmal spürt er etwas, und dann Liebeserklärungen für Kinder 277 <?page no="278"?> … weiß er es. […] ‚Ich kann die Liebe spüren, Mama. Sie fühlt sich warm und fröhlich an und ist mitten in meinem Herzen! ‘ […] Die Liebe fühlt sich gut an…“ Hier bringt der Fuchs körperliche Symptome ein (warm, fröhlich) und verortet das Gefühl (Herz). Betrachtet man diese Geschichte nach der interaktiven Emotionstheorie von Fiehler, dann erlebt der Fuchs vor allem Ausdruckformen der Liebe, er sieht also Manifestationen des Gefühls. Das Verhalten, das er beobachtet, und die Gefühle, die benannt werden, beziehen sich allerdings auf höchst unterschiedliche Bedürfnisse. Sie beziehen sich auf Nähebedürfnis, auf Gemeinschaftsgefühl und auf Spaß an Tätigkeiten (lieben, etwas Bestimmtes zu tun). Irritation tritt dabei vor allem auf, wenn Paarliebe ihren Ausdruck findet. Dann bekommt der Fuchs es auch mit der negativen Bewertung des Dachses zu tun. Beruhigt wird seine Irritation durch den Ausdruck anderer Liebesarten, vor allem der Mutter-Kind-Liebe und der Freude an Tätigkeiten. Thematisierungen der Liebe in Form von Benennung und Emotionsbeschreibung werden nur in der Kom‐ plikation und in der Resolution eingesetzt, wenn die Frage gestellt und wenn die Erkenntnis formuliert wird, also in der Definition der Dachsmutter und in der Liebeserklärung des Fuchses an seine Mutter. Die unterschiedlichen Situationen, in denen der Fuchs Ausdruck von Liebe sieht, werden zwar in unterschiedliche Lebensweisen der Tiere eingebettet, sind aber jeweils auf Situationen der rezipierenden Kinder übertragbar (ins Bett gebracht werden, spielen, kuscheln). Sie erscheinen so als verschiedene Facetten des Konzepts Liebe, das im Alltag der Kinder wiedergefunden werden soll. Liebe ist hier also eher ein Deutungsmuster, das als Erklärung für Bedürfnisse und Gefühle eingesetzt wird, nicht zuletzt aber auch, um Ausdrucksnormen zu vermitteln. Die Bewältigung der Emotionsaufgaben Deuten der Emotionen anderer sowie Situationen typisieren wird hier den Kindern vorgeführt. Ihnen wird beispielhaft gezeigt, in welchen Situationen Liebe, bzw. das, was die Auto‐ rinnen als solche beschreiben, ein angebrachtes Gefühl ist und wie das Gefühl ausgedrückt wird (Nähe austauschen, zusammen spielen, sich um jemanden kümmern). 278 Kristin Kuck <?page no="279"?> Abb. 1: Die erste und die letzte Zeichnung im Buch zeigen Nähe als Ausdruck von Liebe: Der kleine Fuchs kuschelt mit seiner Mutter (Motschiunig/ Dailleux 2018) Eine große Rolle spielt hier die Indexikalisierung, also die Erklärung des Konzepts Liebe durch die Erklärung der Ausdrucksformen von Liebe. Verhal‐ tensweisen werden als Indikatoren für vorhandene Gefühle angegeben. Dies wird auch auf der Bildebene vollzogen. Die Zeichnungen heben die körperliche Nähe in Kind-Kind- und Mutter-Kind-Situationen (wiederum ohne Berücksich‐ tigung des Vaters) und den dabei gezeigten Gesichtsausdruck hervor. Die einander liebenden Tiere sind eng umschlungen, die Körper entspannt, die Gesichter sind nah beieinander und die Konturen verschmelzen fast zu einer Form (s. Abb. 1). Die Augen sind meist geschlossen und die Tiere zeigen ein Lächeln. Der indexikalische Ausdruck wird in solchen Abbildungen wiederum ikonifiziert, so dass eine Abbildungskonvention von sich liebenden Tieren (als anthropomorphisierte Stellvertreter*innen für Menschen) entsteht. Dass Körpernähe und Gesichtsausdruck auf das Gefühl Liebe bezogen sind, wird jeweils auf der sprachlichen Ebene deutlich. Die erste Zeichnung ist das Titelbild der Geschichte und daher überschrieben mit der Äußerung „Ich hab dich lieb, kleiner Fuchs! “. Die zweite Zeichnung bebildert die Resolution, in der der Fuchs seiner Mutter sein Erleben von Liebe beschreibt. Beide Zeichnungen können als Abbildung der jeweiligen Äußerungssituation gedeutet werden. Sprachlich wird das Gefühl bei der Erlebnisbeschreibung des Fuchses in der Resolution körperlich verortet („Herz“) und sowohl metaphorische („warm ums Herz“) als auch abstrakte Anzeichen („aus vollem Herzen“) benannt, an denen das Gefühl erkannt werden soll. Dadurch, dass sie metaphorisch und abstrakt bleiben, wird aber auch der Eindruck der Unbeschreibbarkeit - zuerst erzeugt durch Liebeserklärungen für Kinder 279 <?page no="280"?> die irritierende und wenig aufschlussreiche Definition der Dachsmutter, zuletzt artikuliert durch den Fuchs selbst - für die Rezipierenden nicht überwunden. Extrem weit gefasst sind vor allem die Bezugsobjekte des Gefühls Liebe und damit bleibt auch die Deutung der Beziehungen zu ihnen diffus. Denn nach dem Hervorheben der Mutter als Bezugsobjekt sind es in der Erzählung auch noch Tätigkeiten, Gemeinschaft, Geschwister und eine gewünschte Partnerin, die als Bezugsobjekt fungieren. Sie werden in der Liebes-Thematisierung des kleinen Fuchses in der Resolution zusammengefasst als Familie und Welt. Das eigene Verspüren von Liebe steht plötzlich auch noch im Zusammenhang mit Wünschen für das zukünftige Leben und was der Fuchs „später einmal tue“. Hier deutet sich zwar eine Coda an, der Fuchs habe nun etwas für das Leben gelernt, jedoch bleibt dieser Zusammenhang zwischen Liebe und Wünschen für die eigene Zukunft ungeklärt und wird vor allem behauptet. Liebe scheint also dann doch eine recht mystisch wirkende Bindung zu allen möglichen Dingen in der Welt zu sein, die zu einem europäischen Mittelstandsideal gehören: eine Arbeit („es ist egal, was ich später einmal tue, Hauptsache ich tue es auch vollem Herzen“), eine „große Familie“, Reisen („die Welt entdecken“), und bei allem „Leidenschaft empfinden“. Die Vorstellung davon, was Liebe ist, scheint sich auf die Vorstellung von Glück auszudehnen. Sie ist dem ‚glücklichen Leben‘ quasi zugrunde gelegt. Die Wünsche des Fuchses sind daher auch wenig konkret oder individuell. Sie spiegeln vor allem eine soziale Norm wider. Liebe wird also als eine grundlegende Erfahrung für ein in diesem Sinne ‚glückliches Leben‘ definiert. Bemerkenswert ist die Naturalisierung der Institution Familie, die der Fuchs in seiner Umgebung ausnahmslos wiederfindet. Zwar stehen die Tiere in dieser Erzählung zweifellos für Menschen und ihre Lebensweise für eine menschliche Gesellschaft, allerdings werden sie durchaus in ihrer natürlichen Umgebung (Bau, Ameisenhügel, Baum) gezeigt und mit ihrer Artbezeichnung (Fuchs, Dachs, Taube, etc.) benannt. Ihre Beziehungen zueinander folgen aber der sozialen Ordnung westeuropäischer Gesellschaften (Freund, Mutter, Geschwister) und ihren Werten. Diese Beziehungen und Werte erscheinen daher auf natürliche Weise allen Gemeinschaften zugrunde gelegt. Nicht nur ein Unbeschreibbarkeits-Topos findet sich in dieser Erzählung, sondern auch die von Luhmann beschriebenen ambivalenten Bewertungen gegenüber dem Gefühl Liebe, die auch für tabuisierte Themenbereiche im Allgemeinen typisch sind, werden hier vermittelt. Die anfängliche Verunsi‐ cherung des Fuchses darüber, wie Liebe zu bewerten sei, resultieren aus Abwertungen und Assoziationen mit Schmerz und Kontrollverlust, obwohl er dem Gefühl Liebe zuerst als Passion (der Tauben) begegnet. Aufgehoben wird 280 Kristin Kuck <?page no="281"?> 3 Die Hauptfigur wird nie explizit als männlich bestimmt, kann aber dennoch männlich gelesen werden. Indikatoren sind vor allem auf der Bildebene zu finden. Erstens tragen weibliche Figuren der Geschichte Kleider oder Schleifen im Haar und sind so eindeutig weiblich markiert, Bommel trägt jedoch keine Kleidung. Zweitens erinnern seine Glatze und seine Gesichtszüge an andere männliche Cartoon-Figuren, wie Charlie Brown, was eine männliche Lesart unterstützt. diese Ambivalenz dann durch Aufwertungen, die für die sozialen Institutionen formuliert werden, die gemäß der Erzählung auf Liebe basieren; die negativen Bewertungen werden indes nicht wieder angesprochen. Tabuisierung mag in dieser Erzählung daher schwer zu erkennen sein, deutet sich aber dennoch an. Denn die Abwertung von Liebe und der als beschämend erlebte Kontrollverlust werden für die einzigen beiden Beispiele aufgebracht, die mit Paarliebe in Verbindung stehen, nämlich das Beobachten der Turteltauben und die eigene körperliche Reaktion auf das Entdecken eines Fuchsmädchens. Beide Szenen spiegeln die Dimensionen der Liebe als Passion wider: das Leidenschaftliche und das Passive. Die damit einhergehende negative Bewertung wird auch am Ende nicht aufgelöst. 4.2 „Die kleine Hummel Bommel“ Die zweite Geschichte heißt „Die kleine Hummel Bommel und die Liebe“ und wurde 2018 von den Autorinnen Britta Sabbag und Maite Kelly geschrieben und von Joëlle Tourlonais illustriert. Die Figuren in der Geschichte sind Insekten, die allerdings so stark anthropomorphisiert sind, dass Insektenhaftes nur noch als Hobby oder körperliche Auffälligkeiten erkennbar sind, ansonsten aber in einer typisch europäischen Gesellschaft leben, menschliche Berufe haben (Ausnahmen sind die Eltern von Bommel, die zu Anfang angeben, Blütenpollen sammeln zu müssen), in Häusern leben, Autos fahren und ihre Kinder in den Kindergarten bringen. Auch hier wird die westeuropäische, heteronorme Familie als Normalfall dargestellt, in der Mütter die Hauptbezugspersonen der Kinder sind. Auffällig ist auch, dass männliche Figuren nur in traditionellen Männerberufen (Mechaniker, Professor) vorkommen, nicht aber in der Vater‐ rolle (Ausnahme ist ein Familienbild ganz zu Anfang der Erzählung, auf dem der Vater von Bommel beobachtet, wie die Mutter das Kind küsst). Frauen kommen hier nur in der Mutterrolle oder als umworbene, noch nicht verheiratete Frauen im häuslichen Umfeld vor (mit Ausnahme einer älteren Tausendfüßler-Dame, deren Familienstand ungeklärt bleibt, die aber die Rolle einer weisen alten Frau einnimmt). Hauptfigur ist die Hummel Bommel 3 , die auf dem Weg in den Kin‐ dergarten beobachtet, wie andere Mütter ihre Kinder mit Küssen verabschieden. Liebeserklärungen für Kinder 281 <?page no="282"?> Bommel entwickelt selbständig die Frage „Was bedeutet es eigentlich, sich lieb zu haben? “ und geht ihr auf dem Weg zum Kindergarten nach. An verschiedenen Stationen beobachtet Bommel entweder ein Verhalten, das er als Ausdruck von Liebe identifiziert, oder er deutet Gespräche, um daraus ein Merkmal von Liebe abzuleiten, aus dem er eine Definition erstellen kann. Die Merkmale nennt Bommel am Ende jeder Situation explizit. Die erste Situation findet er beim Überqueren einer Straße, auf der Ameisen Militärfahrzeuge fahren. Ein Panzerkäfer, der als Lotse fungiert, verhindert, dass ein Raupenkind auf die Straße läuft. Sicherheit ist also das erste Thema, das mit Liebe in Verbindung gebracht wird. Bemerkenswert ist die Verbindung von Sicherheitsgefühl mit dem Militärischen. Das Militärische dieses Szenarios wird vor allem auf der Bildebene und über die symbolhaft eingesetzten Insektenarten (Ameise als Soldat, Panzerkäfer als Beschützer) transportiert. Auf der sprachlichen Ebene zieht Bommel die Schlussfolgerung: „Liebe bedeutet also auf jeden Fall, dass man aufeinander aufpasst.“ Bommel nutzt also die aufgeworfene Frage als Deutungsrahmen und unterstellt in der Situation das Gefühl. Nur so erkennt er also eine beschützende Geste als Ausdruck von Liebe, obwohl sie wenig freundlich, dafür aber sehr nachdrücklich ist. Die zweite Situation thematisiert Paarliebe und zeigt ein umwerbendes Verhalten eines Grillenmannes gegenüber einer Grillenfrau. Der hier gezeigte Ausdruck von Liebe ist stark konventionalisiert und genderkonform dargestellt. Er überreicht ihr gerade Blumen mit den Worten „Für meine große Liebe! “, worauf sie mit Augenklimpern, Verlegenheit und Lächeln reagiert und die Geste als „nett von Ihnen“ kommentiert. Bommel schließt wieder explizit: „So süß kann Liebe also auch sein? “. In der dritten Situation wird Liebe in der Mutter-Kind-Beziehung gedeutet. Eine Marienkäfermutter ruft genervt ihre Kinder zur Ordnung, woraus Bommel schließt, dass „Liebe manchmal auch eine Portion Geduld“ braucht. Wiederum haben wir es mit einem anweisenden Verhalten und einer wenig zugeneigten Stimmung zu tun. Dennoch wird sie als Ausdruck von Liebe gedeutet, ohne nach dem Widersprüchlichen zu fragen. In beiden Situationen setzt Bommel Liebe als handlungsleitend voraus. In einer weiteren Situation wiederum kommt Bommel zu der Schlussfolgerung, dass man etwas lieben kann, wenn man es gerne tut. Mit zwei Männern spricht Bommel auch über Liebe. Hier wird kein Verhalten mehr als Ausdruck von Liebe gedeutet, sondern es findet eine Thematisierung vor allem über Beschreibung statt. Zunächst begegnet er einem Professor, den er direkt nach einer Definition fragt. Er bekommt keine zufriedenstellende Antwort: „schwer zu sagen. Seit Ewigkeiten haben sich die Dichter und Denker mit der Liebe befasst und tausende Geschichten darüber geschrieben, denn es 282 Kristin Kuck <?page no="283"?> gibt unendlich viele Formen der Liebe.“ Die Wissenschaft differenziert hier also das Phänomen, das ist jedoch für Bommel nicht weiter von Interesse und er zieht weiter. Metaphorisch abstrakt ist die Aussage eines Mechanikers, der Bommel sein Werkzeug zeigt und ihm erklärt, dass gutes Werkzeug alles reparieren könne. Als Bommel nachfragt „Wirklich alles? “ revidiert er die Aussage mit den Worten „Nur die Liebe repariert alles.“ So baut er eine Analogie zwischen Werkzeug und Liebe auf, die nicht weiter erklärt wird und auch bei Bommel zu keiner expliziten Erkenntnis führt, ihn aber auch nicht zu irritieren scheint. In seiner vorletzten Begegnung erfährt Bommel von einer Libelle, dass sie Sonnenstrahlen auf ihren Flügeln liebt und durch Wärme glücklich wird, woraus Bommel ein weiteres Merkmal schließt: „Man kann die Liebe also spüren.“ Diese Aussage über die sinnliche Wahrnehmbarkeit der Liebe bringt Bommel zu einer weiteren Wahrnehmungsfrage: „Kann man sie denn auch sehen? “ Mit dieser Frage wendet sich Bommel an eine Tausendfüßler-Dame, die ihm in einem mehrstrophigen Lied die Undefinierbarkeit der Liebe vorsingt. Manchmal fragst du dich, Was Liebe ist, Wo sie wohl herkommt, Wie sie wohl aussieht, Wer sie wohl ist. Manchmal fragst du dich, Wie fühlt sich Liebe an. Ist sie ganz weich? Bleibt sie immer gleich? Dreht sie sich im Kreis? Und fängt sie immer wieder von vorne an? Liebe ist so wie der Wind, Du kannst sie nicht greifen, Du kanns sie nicht halten, Du kannst sie nur spürn. Liebe ist wie ein Sonnenstrahl. Du brauchs ihre Wärme, Du brauchst ihre Nähe, Du brauchst sie wie das Licht, Aber sehn musst du sie nicht. Liebe ist Liebe Manchmal fragst du dich, Was die Liebe mit dir macht. Macht sie dich glücklich? Mach sie dich groß und von innen stark? Ich sage ja - es ist sonnenklar Liebe ist so wie der Wind, … Es ist sonnenklar - es ist Liebe da. Dein Herz wird ganz warm. Liebe ist … Es ist sonnenklar - es ist Liebe Da. Sie ist immer da. Liebe ist … Auch hier finden wir also eine explizite Emotions-Thematisierung durch die (tatsächlich recht unklare) Beschreibung. So erfährt Bommel vor allem von ihrer Materialitätslosigkeit und dass Liebe die Quelle von Wärme und Nähe Liebeserklärungen für Kinder 283 <?page no="284"?> sei, und dass er sie brauche. Er hört unbeantwortete Fragen: „wo sie wohl her‐ kommt, wie sie wohl aussieht, wer sie wohl ist“. Bommel hört auch, dass Liebe „immer da“ sei, und eine tautologische Erklärung „Liebe ist Liebe“. Diese stark konventionalisierten Metaphern (Liebe ist Wärme, Liebe ist Licht) in Verbindung mit den unbeantworteten Fragen nach Herkunft und Wesen der Liebe sowie mit den unerklärten Wirkungen der Liebe (Größe und Särke), erwecken den An‐ schein einer Transzendenzerfahrung, die von der Tausendfüßlerin beschrieben wird. Denn hier wird Liebe zu etwas Lebenswichtigem erklärt, ohne dass ein Wirkungszusammenhang erkennbar würde. Weder Ausdrucksmöglichkeiten noch typisierte Beziehungen oder Situationen, in denen Liebe als angemessenes Gefühl betrachtet wird, werden benannt. Interaktion ist kein Thema des Liedes. Bommel ist überraschenderweise mit der (fehlenden) Erklärung zufrieden, behauptet sogar im Tonus des Liedes, es sei ihm nun „sonnenklar“ und fliegt weiter zum Kindergarten. Dort trifft er auf seinen Freund Ricardo und kann nun - er tritt hier in die neue gewohnte Welt ein - Liebe spüren und sie formulieren: „Auf einmal wird Bommels Herz ganz weit. ‚Weißt du was, Ricardo? […] Ich hab dich lieb! ‘“ Das Erlebnis von Liebe löst die Komplikation für Bommel endgültig auf. Er ist nun zufrieden mit der Resolution: „‚Endlich weiß ich, was Liebe ist‘“. In einer Coda tritt auch die erzählende Instanz noch hervor und bestätigt Bommels neues ‚Wissen‘: „Ja, jetzt weißt du es, kleine Hummel Bommel, Liebe ist Liebe.“ Damit wird die tautologische Erklärung als vermeintlicher Wissensgewinn bestätigt. In diesem Buch tritt zu Anfang der Deutungsmechanismus der Unterstellung nach Fiehler besonders stark hervor: Bommel ist eine Art Stellvertreter für die rezipierenden Kinder und deutet - ähnlich wie der Fuchs im vorherigen Kapitel - die Situationen, die er beobachtet, als Ausdruck von Liebe. Dies leitet er aber vor allem aus dem Typ der Beziehung ab, in dem die Interaktionspartner*innen stehen und indem der er den Beteiligten Liebe unterstellt. Damit greift er auf eine konventionelle Erwartung zurück und lässt diese auch nicht fallen, wenn das beobachtete Verhalten kein positives ist. Das Buch geht sogar noch weiter und unterstellt Liebe als grundlegendes Gefühl in jeder Situation, in der mit Kindern interagiert wird, selbst wenn es sich um nur entfernte Beziehungen handelt, wie zwischen dem Panzerkäfer-Lotsen und dem geretteten Raupenkind. Diese Herangehensweise dehnt das Alltagsverständnis des Konzepts Liebe weit aus und erweckt den Anschein von Omnipräsenz. Seit den Begegnungen mit dem Professor und dem Mechaniker steht das Wesen der Liebe stärker im Vorder‐ grund und nutzt vor allem metaphorische Sprache, um positive Assoziationen von Licht und Wärme zu benennen. Das abschließende Lied über Liebe führt 284 Kristin Kuck <?page no="285"?> diese Metaphorik weiter aus und behauptet dann explizit, dass Liebe immer da sei. So wird im späteren Teil vor allem Emotionsthematisierung betrieben. Negative Emotionen werden hingegen nicht thematisiert. Die Hummel beobachtet viele Situationen, die als Konflikte gedeutet werden könnten (Mutter-Kind- und Lotse-Kind-Konflikt, der Mechaniker deutet einen Bezie‐ hungskonflikt an, der Professor stößt an die Grenze seines Wissens), ohne dass eine Lösung angeboten oder beobachtet würde. Auch Bommel selbst erlebt keinerlei Konflikt durch Verständnisschwierigkeiten bei widersprüchlichen Emotionen oder unklaren Antworten. Im Gegenteil bleibt dabei immer eine positive Bewertung bestehen, was im Lied am Ende der Geschichte besonders deutlich wird: Wärme und Licht dienen als positive Bewertungsmuster und überdecken das Konflikthafte. Auch in diesem Buch werden verschiedene Liebesarten undifferenziert ne‐ beneinandergestellt. Das ausschlaggebende Ereignis, das die Frage bei Bommel provoziert, ist ein Ausdruck der Mutter-Kind-Liebe, aber auch Szenen der Paarliebe und auch die Freude an Tätigkeiten werden in den von Bommel analysierten Situationen ausgedrückt. Er trägt so einige Merkmale zusammen wie süß, und facettenreich, Effekte wie Glück und Stärke, aber auch die Konzept‐ metapher Liebe als Werkzeug/ Heilmittel. Er abstrahiert zudem Ausdrucksregeln, wie Fiehler sie anführt: Wenn jemand das Bedürfnis hat, auf den anderen aufzupassen, dann liebt er ihn. Wenn jemand Geduld mit jemandem hat, dann liebt er ihn. Wenn jemand jemanden küsst oder Blumen schenkt, dann liebt er ihn. Am Ende überträgt die Hummel das, was sie über Liebe gelernt hat, auf die Freundesliebe. Liebe ist also auch hier ein Deutungsmuster, das zwar be‐ stimmten Ausdrucksnormen folgt, aber auch als gegeben angenommen werden kann, wenn der konventionelle Ausdruck fehlt oder ein gegenteiliger Ausdruck vorliegt. In dieser Geschichte ist Mystifizierung Programm. Anstatt zu erklären, wird hier vor allem Ehrfurcht erweckt. Unaufgelöste Widersprüche, Andeutungen, abstrakte Metaphern und unerklärte Wirkungsbehauptungen, vorgetragen von Autoritäten, mischen sich mit Tautologien und Fragen, die von den Personen nicht beantwortet werden (können). Das Konzept bleibt also unbestimmt. So kann auch hier eine Form des Unbeschreibbarkeits-Topos gefunden werden. Die abstrakten, metaphorischen und wenig erklärenden Aussagen reproduzieren den Unbeschreibbarkeits-Topos, der aber in keiner Weise als unbefriedigend wahrgenommen wird. Im Gegenteil scheint der Reiz insbesondere für die Tausendfüßlerin gerade darin zu bestehen, dass Liebe nicht erklärt werden kann. So setzt sie hier auch den von Luhmann (1994: 158) beobachteten Sinn, der nicht ausgesprochen werden darf, da er sonst verloren ginge, um. In völligem Liebeserklärungen für Kinder 285 <?page no="286"?> 4 Im Buch wird die Gruppe im Maskulinum als „die drei Freunde“ bezeichnet, obwohl die Tiere auf der Bildebene geschlechtlich nicht definiert sind. Ich übernehme diese Gruppenbezeichnung. Gegensatz dazu steht dann Bommels Behauptung, er wisse nun, was Liebe ist. In diesem Sinne hat Bommel wenig darüber gelernt, was Liebe ist, jedoch viel über ihre Unerklärlichkeit erfahren und darüber, dass Liebe die Grundlage aller Beziehungen ist. Diese Verbindung von Unbeschreibbarkeit, Aufwertung und Notwendigkeit erzeugt eine Sakralisierung des Konzepts. 4.3 „Woher kommt die Liebe? “ Die dritte Geschichte ist von Daniela Kulot von 2022 und heißt „Woher kommt die Liebe? “. Ein*e Urheber*in der Illustration ist nicht angegeben. Auch in dieser Geschichte haben wir es mit anthropomorphisierten Figuren zu tun. Die Hauptfiguren sind ein Eichhörnchen, ein Elch und eine Ente, die offenbar miteinander befreundet sind. Sie werden jedoch nicht weiter in soziale Verhältnisse eingebettet. Familien kommen in dieser Geschichte nicht vor. Es gibt als soziale Bindung nur die Freundschaft zwischen den drei Tieren. Die Handlung wird auch sonst nicht weiter verortet und man erfährt nichts über Alter, Geschlecht oder Lebensweisen. Lediglich auf der Bildebene wird deutlich, dass die „drei Freunde“ 4 picknicken. Auch Namen gibt es nicht, stattdessen werden die Tierbezeichnungen als Name verwendet und entspre‐ chend ohne Artikel gebraucht. Der Text steigt auf der Gefühlsebene ein: Als erstes erfahren wir, in welcher emotionalen Beziehung die Hauptfiguren zueinanderstehen und direkt im Anschluss das körperliche Erleben dieser Emotion. Sofort darauf folgt auch die Thematisierung und die Frage nach der Liebe wird expliziert: „Da sitzen sie, die drei Freunde, und ihnen ist ganz wunderbar wohlig warm ums Herz miteinander. Auf einmal fragt der Elch: ‚Woher kommt eigentlich die Liebe? ‘“. 286 Kristin Kuck <?page no="287"?> Abb. 2: Darstellung der drei Freunde, die Liebe durch Körpernähe ausdrücken (Kulo 2022) In Abbildung 3 ist zu sehen, dass die drei Freunde in entspannter Körperhaltung und mit lächelnden Gesichtern nah beieinander sind. Der größere Elch hat die beiden kleineren Tiere auf dem Schoß, Nasen und Schnabel berühren sich fast und sie lächeln sich an. Dass sie einander lieb haben wird nicht direkt sprachlich ausgedrückt, aber durch die assoziierte körperliche Reaktion „warm ums Herz“ ausgedrückt. Auch das Aufkommen der Frage nach der Herkunft der Liebe in dieser Situation impliziert das Vorhandensein dieses Gefühls. Die Metapher Liebe ist Wärme steht hier also schon am Anfang und beschreibt die eigene Erfahrung von Liebe. Das Gefühl wird nicht erst bei anderen beobachtet. Die drei wissen also schon, wie sich Liebe anfühlt, da die Komplikation nicht im fehlenden Wissen über eine Definition besteht, sondern über die Ursache. Da niemand von den Dreien eine Antwort weiß, beginnen sie, alle Tiere und auch Pflanzen zu fragen, ob diese es wissen. Dabei haben jedes Tier und jede Pflanze tatsächlich eine Antwort parat, allerdings immer eine andere, und sie antworten immer einhellig in der Gruppe, sofern sie nicht alleine den drei Freunden begegnen. Zuerst werden zwei Schwäne und dann ein Schwarm Vögel gefragt. Die Schwäne bilden mit ihren Hälsen ein Herz und geben das Herz als Ursprung der Liebe an. Die Vögel geben die Seele an. Damit sind jeweils zwei stereotypische ‚Orte‘ für das Gefühl im eigenen Körper benannt. Von einem Baum erfahren sie, dass die Liebe „vom Himmel [fällt]“, womit der vom Himmel fallende Regen als Ursprung angegeben wird. Für die Regenwürmer kommt die Liebe aus Liebeserklärungen für Kinder 287 <?page no="288"?> der Erde, für zwei Affen „sitzt [sie] auf dem Kopf “ und wird durch Lausen ausgedrückt. Blumen sehen die Sonne als Ursprung, Fische die Gemeinschaft und für ein Känguru kommt die Liebe aus dem Bauch, womit sowohl ein weiterer körperlicher Ort für Gefühle angegeben wird als auch der Ort, an dem Kängurus ihre Jungen tragen. Den Bauch als Herkunftsort bestätigt auch ein Schwarm Schmetterlinge, wodurch sie das Gefühl ein weiteres Mal körperlich verorten. Gleichzeitig wird hier auf das Sprichwort Schmetterlinge im Bauch haben angespielt, mit dem umgangssprachlich auch das Gefühl des Verliebtseins beschrieben wird. Der Bauch als Ort für Gefühle sorgt im Folgenden dann noch für Verwirrung, da das Eichhörnchen ihn als Ort für das Gefühl Hunger angibt und die Ente als Ort für das Gefühl Durst. Der Elch bekommt daraufhin Bauchweh und führt es auf sein Unwissen zurück, dass er noch immer nicht wisse, woher die Liebe kommt. Das Körperliche spielt hier also eine besondere Rolle. So auch weiterhin, da die beiden anderen dem Elch den schmerzenden Bauch streicheln, bis der Elch pupst, und auf diese Weise seine Bauchschmerzen los wird. Damit ist der Bauch auch als Ort für Blähungen identifiziert. Die Geschichte lenkt dadurch von der bisher vorherrschenden direkten Suche nach der Auflösung der Komplikation ab, führt dann aber auf der letzten Seite wieder dahin zurück, wo die Komplikation aufgekommen ist. Wieder auf dem Schoß des Elches sitzend und picknickend mit entsprechend körperlicher Nähe, wird die Wärmemetapher wieder aufgenommen: „Und wie sie da zusammensitzen, wird es den drei Freunden ganz wunderbar warm ums Herz“. Die erneute Erfahrung von Liebe löst nun die Komplikation. Die Resolution wird also nicht durch einen kognitiven Wissenserwerb erlangt, stattdessen wird die Frage einfach abgewendet und durch das Fühlen selbst ersetzt: „,Vielleicht‘, sagt der Elch, ‚muss man ja nicht alles verstehen…‘ Und auf einmal spürt er ein kleines Kribbeln im Bauch.“ Die ausgiebige und humorvolle Diskussion des Ortes Bauch verweist so auf einen Ort, den Menschen als Sitz dieses Gefühls angegeben könnten. Dadurch wird deutlich, dass die drei Hauptfiguren hier gar nicht als Tiere gelesen werden sollen, sondern für Menschen stehen. Während die anderen Geschichten das Gefühl im Herzen verorten, plädiert diese Geschichte für den Bauch und nutzt dazu ebenfalls konventionalisierte Phrasen wie Kribbeln im Bauch oder Schmetterlinge im Bauch. Der Ort an dem das Gefühl gespürt werden kann, ist damit benannt, wird aber von den drei Freunden nicht als passende Antwort akzeptiert. Die Erfahrung von Liebe am Ende kompensiert letztendlich den unaufgelösten Zustand des Nichtwissens. 288 Kristin Kuck <?page no="289"?> In dieser Erzählung steht nicht der konkrete Ausdruck bzw. die Darstellung von Liebe im Vordergrund, sondern eher die Frage, warum es Liebe überhaupt gibt, also die Frage nach dem Sinn der Liebe. Diese Frage wird aber nicht explizit gestellt. Stattdessen wird gezeigt, worin die Liebe erkannt werden soll. Die Erkenntnis, die die Rezipierenden (entgegen der drei Freunde) ziehen können, wird nicht vorgegeben, sondern nur nahegelegt: Liebe wird in etwas gefunden, das für das Überleben, das Wachstum und die Gemeinschaft unverzichtbar ist. Diese Schlussfolgerung muss allerdings selbst gezogen und auf Menschen übertragen werden, wenn die Frage beantwortet werden soll. Abb. 3: Blumen ‚zeigen‘ durch ihre Neigung auf den Ort, von dem die Liebe kommt (Kulo 2022) Bei der Entschlüsselung des Antwortmusters hilft die multimodale Gestaltung des Textes. Die Sprach- und die Bildebene haben eine regelrechte Arbeitsteilung in den Antwortsequenzen. Auf der sprachlichen Ebene wird meist schlicht der jeweils angenommene Herkunftsort der Liebe benannt. Die Bilder haben dann eine Konkretisierungsfunktion und plausibilisieren die verschiedenen Antworten. Wenn der Baum beispielsweise darauf verweist, dass die Liebe vom Himmel falle, dann ist auf er Bildebene Regen zu sehen, der vom Himmel fällt. So wird nahegelegt, dass mit Liebe eigentlich der Regen gemeint ist. Abb. 3 zeigt, wie die Blumen antworten, die Liebe komme von der Sonne. Gleichzeitig recken sich alle Blumen demonstrativ zur Sonne und meinen mit Liebe offensichtlich das Licht und die Wärme. In diesen Situationen zeigt sich (nicht immer, aber meistens) ein glückliches Lächeln auf den Gesichtern der Pflanzen und Tiere, womit die Empfindung von Liebe auch bildlich belegt wird. Die Blickrichtung des lächelnden Wesens deutet gleichzeitig auf den angegebenen Ort der Liebe, so dass auch das Bezugsobjekt der Liebe eindeutig erkennbar ist (Regen, Licht). Wer dieses Analogiemuster verstanden hat, bemerkt auch, dass die Antwort Die Liebe kommt aus dem Bauch gar nicht die wahrscheinlichste Antwort für Liebeserklärungen für Kinder 289 <?page no="290"?> Menschen ist. Die Erzählung plädiert für eine gewisse Subjektivität des Konzepts Liebe. Die rezipierenden Kinder lernen etwas über die Deutungsmechanismen (unterstellen, als echt/ unecht deuten, thematisieren, s. Kapitel 3.1), nämlich dass die Beschreibungen des Gefühls - auch wenn es dabei nicht um das Fühlen selbst geht, sondern um den Ursprung und später um die Lokalisierung im eigenen Körper - nicht bei allen Tieren bzw. Menschen identisch sein muss, dass die Antworten variieren können, dabei aber nicht falsch werden, sondern nur individuell. Die Antworten der anderen auf sich selbst zu übertragen, funktio‐ niert entsprechend nicht. Es muss eine eigene Antwort über den Ursprung des eigenen Liebeserlebens gefunden werden. Somit enthält auch diese Geschichte einen Unbeschreibbarkeits-Topos. Dieser wird untermauert durch die vielen unterschiedlichen, aber musterhaften Ant‐ worten. Sie demonstrieren recht geschickt die Subjektivität der Empfindung, aus der die Unvermittelbarkeit entsteht. Sie zeigen gleichzeitig aber auch den Stellenwert, der der Liebe hier zugesprochen wird: Die Liebe wird als lebenswichtig gezeigt. Auch durch diese komplexe Antwort wird die Liebe sakralisiert: Die Liebe ist immer da, aufgrund ihrer Subjektivität undefinierbar, aber eine Lebensgrundlage. Emotionsausdrücke sind auch in dieser Erzählung auf der multimodalen Ebene vorhanden. Die drei Freunde werden in der ersten Szene, in der die Erzählung mit der Komplikation, ein unbefriedigtes Wissensbedürfnis über Liebe zu haben, bereits eröffnet wird, und in der letzten Szene, in der die Resolution, von der Frage abzulassen und die Liebe lieber zu spüren, die Erzählung wieder schließt, in jeweils der körperlich nahen und glücklich lächelnden Körperhaltung dargestellt. Das Lächeln taucht auch bei anderen Tieren und Pflanzen wieder auf, wenn sie Antworten auf die Frage geben, woher die Liebe kommt, so dass das Gefühl Liebe indexikalisch-ikonifizierend immer identifizierbar bleibt. 5 Liebe in Kinderbüchern Was lässt sich nun durch die Lektüre von Kinderbüchern über das Verständnis von Liebe herausfinden? Liebe wird in den Geschichten auf zwei Ebenen erklärt. Zum einen findet sich eine soziale Komponente, durch die gesellschaftliche Ordnungen plausibilisiert und damit auch legitimiert werden. Liebe ist dann die Grundlage sozialer Institutionen wie Familie, Gemeinschaft und Freundschaft sowie die Grundlage von sozial vordefinieren Beziehungen (Eltern-Kind, Ge‐ schwister, Freundschaften, etc.). Diese Ebene wird durch die Vermittlung von Emotionsregeln, vor allem Ausdrucksregeln nach Fiehler, geleistet, die in diesen 290 Kristin Kuck <?page no="291"?> Beziehungen erkannt und als Norm erlernt werden sollen. Wie von Luhmann für Liebesromane in der Romantik gezeigt, stellt auch die Kinderliteratur eine kommunikative Gattung dar, in der der Code für Intimität schon früh vermittelt wird. Dazu wird die bei Fiehler beschriebene ausdrucksseitige Komponente, das Kuscheln und Umarmen sowie Gesichtsausdrücke, sprachlich und bildlich realisiert - vor allem jedoch auf der Mutter-Kind-Ebene. Die Lokalisierung im Körper wird dabei vor allem sprachlich-metaphorisch vollzogen. Aber auch Verhalten, das nicht offensichtlich mit Liebe assoziiert ist, jedoch für die sozial vordefinierten Beziehungen legitim ist, wird so auf die Basis Liebe gestellt. Dieser legitimierende Charakter der ‚Liebeserklärung‘ für Kinder wird in allen Büchern umgesetzt. Er zeigt sich beispielsweise in der extensionalen Ausdehnung des Liebesbegriffes auf entfernte und professionelle Beziehungen einerseits und auf verwandte Begriffe wie Glück und Freude andererseits. Das Vorhandensein von Liebe begründet jeweils Verhalten und Verhältnisse. Dabei wird keine Unterscheidung zwischen Paarliebe, Familienliebe oder Freundes‐ liebe gemacht. Auch das Gefühl Freude wird als Liebe bezeichnet, entsprechend der alltagssprachlichen Bedeutung des Verbs lieben im Sinne von Es lieben, etwas zu tun. Zum anderen findet sich eine mystische Komponente, die Liebe gegenüber anderen Emotionen als etwas Besonderes heraushebt und ihre soziokulturelle Bedeutung sowohl sakralisiert als auch naturalisiert, wie es bei den drei Freunden und auch beim kleinen Fuchs der Fall ist. Die natürlichen Lebens‐ weisen und Abhängigkeiten werden hier auf Liebe zurückgeführt. Auch darin ist eine Legitimierungsfunktion zu erkennen: Weil Liebe vorhanden ist, ist die Beziehung ‚natürlich‘. Umgekehrt kann in jeder Abhängigkeit oder natürlichen Lebensweise Liebe unterstellt werden. Insbesondere die Naturalisierung zieht eine weitere Ausdehnung des Konzepts Liebe nach sich, die in der Geschichte „Woher kommt die Liebe? “ sichtbar wird. Die Quelle oder der Ursprung der Liebe wird dabei in biologischen und sozialen Notwendigkeiten gesehen. In diesem Falle begründen also die natürlichen Lebensbedingungen die Liebe. Das durchgehend zumindest latente Vorhandensein von Unbeschreibbarkeit lässt sich als Mystifizierungsstrategie erfassen. Widersprüchlichkeiten, emotio‐ nale Ambivalenzen und tautologische sowie unzureichende, zum Teil auch verunsichernde, Erklärungsversuche erwecken den Eindruck, man habe es mit einem besonders rätselhaften und unergründlichen Phänomen zu tun. Im Sinne von Gülich (2005) wird in Erklärungen (z. B. der von der Dachsmutter oder in den Antworten, die die drei Freunde erhalten) immer wieder der Bezug zu einem von der Alltagswelt abweichenden Sinnbezirk hergestellt, der anderen aber nicht zugänglich ist, und die Kommunikation stört oder zu Missverständnissen Liebeserklärungen für Kinder 291 <?page no="292"?> führt. Hier ist auch die Subjektivierung der Liebeserfahrung als Grund für die Unbeschreibbarkeit der Liebe in den Kinderbüchern zu entdecken. Erst, wenn die Hauptfiguren auch körperlich spüren, dass sie lieben, ist ihre Quest erfüllt. Die subjektive Erfahrung bringt die Auflösung der Komplikation und stellt die Hauptfiguren zufrieden, selbst dann, wenn kognitiv keine Erkenntnis erlangt werden kann. Gleichzeitig findet sich aber der diffus behauptete Zusammen‐ hang von Liebe mit natürlichen Existenzbedingungen. So bleibt Liebe als eine Art mystische Kraft in der Welt stehen. Liebe wird in den Kinderbüchern dabei fast ausschließlich aufgewertet und auf die familiären Verhältnisse bezogen, Stigmatisierungen werden nur in einem Werk angedeutet und dabei nur auf die Paarliebe bezogen. Die Erzählungen weisen eine ganze Reihe von strukturellen Gemeinsam‐ keiten auf, die sich mit dem kognitiv-semantischen Schema von Labov (2001) darstellen lassen. In den hier untersuchten Erzählungen nimmt die Frage danach, was Liebe ist, immer den Platz der Komplikation ein. Liebe wird so also als das Thema der Geschichte gesetzt, jedoch nie wirklich problematisiert. Es wird ein Bedürfnis nach Wissen oder die Auflösung einer Verwirrung über diese Frage aufgebaut. Die zuvor erlebte ‚gewohnte Welt‘ ist der Zustand des Nicht-Wissens bzw. des Nicht-Verstanden-habens. In diese Welt zurückzu‐ kehren bzw. den Zustand zu erhalten kann nicht Ziel der Geschichte sein. Hier muss ein neuer Zustand erworben werden, in dem die Hauptfigur ein Verständnis von dem infrage stehenden Konzept Liebe erreicht hat. Die Bemü‐ hungen, die die Figuren auf sich nehmen, um zu klären, was Liebe ist, stellt den Weg zur Resolution dar, egal wie diffus die gefundene Antwort auch sein mag, führt sie in den Geschichten zu einer Befriedigung des Wissensbedürfnisses und lässt sie mit einem neuen Verständnis weiterleben. Was in den Geschichten aber nie in die Komplikation einbezogen wird, ist ein Zweifel am Vorhandensein von Liebe. Es steht nie infrage, ob jemand Liebe empfindet, oder ob die gedeuteten Zeichen wirklich Liebe ausdrücken, sodass auch dadurch eine strenge Norm abgeleitet werden kann, wo die Liebe ‚hingehört‘ und wo sie unterstellt werden kann. Darüber hinaus thematisieren alle Geschichten entweder sprachlich oder bildlich körperliche Symptome, die als Anzeichen für das Empfinden von Liebe gedeutet werden können. Diese werden häufig auf Phrasen, Sprichwörter oder konventionalisierte Metaphern aufgebaut, so dass die Erklärungen auch gleichzeitig durch sprachliche Mittel in der Welt der Kinder außerhalb der Geschichte verankert werden. Die Kinderbücher enthalten dabei eine Ebene der Erzählung, auf die die Liebesliteratur für Erwachsene (z. B. Liebesromane) normalerweise nicht in dem Umfang zurückgreift: das Bild. Das Erschließen 292 Kristin Kuck <?page no="293"?> des konkreten emotionalen Erlebens einer Figur geschieht hier auch über die körperliche Präsenz dieser Figur im (erzählten) Raum, womit vor allem physische Aspekte einer natürlichen Interaktion (Gestik, Nähe, etc.) ebenfalls zu bedeutungstragenden Elementen der Geschichte werden. Diese sind nicht unbedingt der Formulierungsnotwendigkeit unterworfen, sondern können in gewissem Sinne beobachtet werden. Trotz aller behaupteter Unbeschreibbarkeit wird das Konzept Liebe also durchaus beschrieben. Zur Bedeutung von Liebe gehört aber auch der Topos der Unbeschreibbarkeit, der in den Geschichten als Verstehensgrundlage etabliert wird und offenbar ein fester Bestandteil des Liebesverständnisses von Erwachsenen ist. Bibliografie Quellen (Kinderbücher) Kulo, Daniela (2022). Woher kommt die Liebe? Hildesheim. Motschiunig, Ulrike/ Dailleux, Florence (2018). Ich hab dich lieb, kleiner Fuchs! Die schönsten Geschichten vom kleinen Fuchs. Wien. Sabbag, Britta/ Kelly, Maite/ Tourlonais, Joëlle (2018). Die kleine Hummel Bommel und die Liebe. München. Literatur Brinker, Klaus/ Cölfen, Hermann/ Pappert, Steffen (2014). Linguistische Textanalyse. Grundbegriffe und Methoden. Berlin. Eggert, Hartmut (2002). Säkulare Tabus und die Probleme ihrer Darstellung. Thesen zur Eröffnung der Diskussion. In: Eggert, Hartmut/ Golec, Janusz (Hrsg.) Tabu und Tabubruch. Literarische und sprachliche Strategien im 20.-Jahrhundert. Ein deutsch-polnisches Symposium. Stuttgart, 15-24. Fiehler, Reinhard (1986). Zur Konstitution und Prozessierung von Emotionen in der Interaktion. Emotionsaufgaben, Emotionsregeln und Muster der Kommunikation von Emotionen. In: Kallmeyer, Werner (Hrsg.) Kommunikationstypologie. Handlungs‐ muster, Textsorten, Situationstypen (= Jahrbuch 1985 des Instituts für deutsche Sprache). Düsseldorf, 280-325. Fiehler, Reinhard (1987). Zur Thematisierung von Erleben und Emotionen in der Inter‐ aktion. Zeitschrift für Linguistik 5, 559-572. Gülich, Elisabeth (2005). Unbeschreibbarkeit. Rhetorischer Topos - Gattungsmerkmal - Formulierungsressource. Gesprächsforschung. Online-Zeitschrift zur verbalen Inter‐ aktion 6, 222-244. Liebeserklärungen für Kinder 293 <?page no="294"?> Kraft, Hartmut (2004). Tabu. Magie und soziale Wirklichkeit. Düsseldorf/ Zürich. Kuck, Kristin (2021). Einleitung zu diesem Heft. Tabus - Herkunft und heutige Bedeu‐ tung. Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 17: 2, 147-154. Labov, William (2001). Uncovering the event structure of narrative. Georgetown Univer‐ sity Papers, 1-23. Labov, William/ Waletzky, Joschua (1967). Narrative analysis. In: Helm, June (Hrsg.) Essays of the verbal and visual arts. Seattle, 12-44. Luhmann, Niklas (1994). Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. Schwarz-Friesel, Monika (2013). Sprache und Emotion. 2. aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart. 294 Kristin Kuck <?page no="295"?> Praktiken der Vergemeinschaftung in der zwischenstaatlichen Beziehungsgestaltung als Freundschaftsbekundung Aufgezeigt an den politischen Erklärungen um den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag Waldemar Czachur & Steffen Pappert Abstract: Das Ziel des Beitrags ist es, am Beispiel des deutsch-polnischen Ver‐ hältnisses die Rolle der Sprache für die zwischenstaatliche freundschaftliche Be‐ ziehungsgestaltung deutlich zu machen. Im Fokus dieser Arbeit stehen sprachliche sowie kommunikative Praktiken, mittels derer Regierungschefs aus der Bundesre‐ publik Deutschland und der Republik Polen in den politischen Erklärungen um den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag 1991 eine bilaterale Vergemeinschaf‐ tung inszenieren und so die zwischenstaatlichen Beziehungen konstituieren, die auf gute Nachbarschaft sowie freundschaftliche Zusammenarbeit abzielen. Ausgehend von der konsensstiftenden, identifikationsfundierenden sowie hand‐ lungsmotivierenden Aufgabe der politischen Erklärungen sollen in dieser Arbeit Praktiken zur sprachlichen Konzeptualisierung des Nachbarschaftsvertrages, der Zuschreibung von Funktionen für den Vertrag sowie zur Konstruierung einer Wir-Gruppe als Vergemeinschaftungspraktiken ausgearbeitet werden, die auch in den zwischenstaatlichen Relationen beziehungsgestalterisches Potenzial auf‐ weisen. So wird das Konzept der zwischenstaatlichen freundschaftlichen Bezie‐ hungsgestaltung als sprachlich-kommunikatives Phänomen betrachtet, das sich an den Prinzipien der souveränen Gleichheit der Staaten sowie der werte- und interessengeleiteten Diplomatie orientiert und sprachlich mittels der Vergemein‐ schaftungspraktiken realisiert wird. Keywords: zwischenstaatliche Beziehungen, zwischenstaatliche, politische Er‐ klärung, deutsch-polnische Beziehungen, Vergemeinschaftung, Wir-Gruppe <?page no="296"?> 1 Kontext und Verortung Für die zwischenmenschliche Beziehungsgestaltung sind wechselseitige Aner‐ kennung, einhergehend mit den Emotionen Vertrauen und Respekt zentral. In diesem Beitrag soll es aber nicht um die Beziehungsgestaltung zwischen einzelnen Individuen, sondern zwischen zwei Nachbarstaaten gehen, die durch ihre politischen Repräsentant: innen sprachlich und kommunikativ handeln, um freundschaftliche Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft zu erzielen. Die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Staaten werden also mit Sprache aufgebaut, tradiert und verändert. Einerseits handelt es sich um sprach‐ lich tradierte und historisch gewachsene Nachbarschaftsbilder (Stereotype) in den jeweiligen Ländern, in denen sich bestimmte Weltbilder und Denk- und Wahrnehmungsmuster über die Beziehungen sowie über das Nachbarland manifestieren. Andererseits werden mit konkretem Sprachgebrauch politische und gesellschaftliche Relationen zwischen den Staaten insofern propagiert und zugleich konstruiert, als z. B. Freundschaftsverträge unterzeichnet werden und gute Nachbarschaft als politisches Ziel deklariert wird. Uns geht es aber nicht um Freundschaft als Gefühl der Liebe, als eine gewisse emotionale Zuneigung, son‐ dern um Freundschaft als politisches Gefühl, als soziale Verbundenheit/ soziales Band auf der politischen, zivilgesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Ebene. In diesem Sinne gilt Freundschaft in den zwischenstaatlichen Beziehungen nicht nur als der Kitt der Gesellschaften, sondern auch als der Garant für den Frieden (vgl. Kostro 2021: 91). Aus diesem Grund braucht zwischenstaatliche Freundschaft als politisches Ziel immer wieder das gegenseitige Bekennen der Staatsvertreter: innen zu ihr. Sie ist mehr ein kommunikativer Akt als politischer Zustand (vgl. Czachur 2023: 56-57). In dieser Arbeit geht es vor allem darum, am Beispiel des deutsch-polnischen Verhältnisses die Rolle der Sprache für die zwischenstaatliche freundschaft‐ liche Beziehungsgestaltung deutlich zu machen. Wir gehen dabei davon aus, dass in dem uns interessierenden Fall diese über die für politische Reden typische Adressat: innenorientierung (vgl. Schröter 2006) hinausgeht, d. h. die untersuchten politischen Erklärungen tatsächlich als eine Art Beziehungs‐ kommunikation verstanden werden können, mit denen mittels verschiedener Vergemeinschaftungspraktiken freundschaftliche Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft konstituiert wird. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts, der Demokratisierung der Staaten in Mittel- und Osteuropa und der Einheit der beiden deutschen Staaten erwies es sich vornehmlich für Polen und Deutschland als möglich und notwendig, die bilateralen Beziehungen neu zu gestalten. Deswegen soll in diesem Aufsatz 296 Waldemar Czachur & Steffen Pappert <?page no="297"?> 1 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit. Die Erklärungen von Bundeskanzler Helmut Kohl und Ministerpräsident Jan Krzysztof Bielecki bei der Unterzeichnung am 17. Juni in Bonn. In: CDU-Dokumentationen 21/ 1991, 1-12. danach gefragt werden, welche sprachlichen sowie kommunikativen Praktiken seitens der politischen Akteur: innen aus der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen dazu genutzt wurden, um die bilateralen Beziehungen in den Umbruchsjahren 1989-1991 neu aufzubauen und zu pflegen. Im Fokus dieser Arbeit stehen zwei politische Erklärungen, die während der Unterzeichnungszeremonie des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages vom deutschen und polnischen Regierungschef am 17. Juni 1991 abgegeben wurden. 1 Mit diesem Vertrag sollten die historisch belasteten Beziehungen nach der Phase des Misstrauens und der Feindschaften neu gestaltet werden. Wir gehen davon aus, dass die Politiker: innen dabei eine bilaterale Vergemeinschaf‐ tung inszenieren und so die freundschaftlichen Beziehung zwischen den Staaten konstituieren. Im ersten Schritt wird der politische Kontext für die Entstehung der Verträge sowie deren politische Relevanz geschildert, um im zweiten Schritt die politischen Erklärungen der Politiker, die während der Unterzeichnung der Verträge abgegeben wurden, hinsichtlich der sprachlichen Realisierung von unterschiedlichen Praktiken der Vergemeinschaftung zu analysieren. 2 Politischer Kontext der Verträge Mit den halbfreien Wahlen 1989 in Polen und der Ernennung Tadeusz Mazo‐ wieckis zum ersten nicht-kommunistischen Ministerpräsidenten Polens sowie der Öffnung der Berliner Mauer ergaben sich für die politischen Kräfte im freien und demokratischen Polen und im vereinigten Deutschland die Möglichkeiten, die stark historisch belasteten bilateralen Beziehungen neu zu gestalten. Belastet waren sie vor allem wegen der deutschen Verbrechen in Polen und an Polen, wegen der Erfahrung der Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Gebieten, die laut Potsdamer Konferenz Polen zugeteilt wurden, sowie durch die Dialog‐ losigkeit des Kalten Krieges (vgl. Broszat 1972, Bingen 1998). Zwar wurden mit dem Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder (1965), der Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche (1965), dem Memorandum des Bensberger Kreises (1968), dem Warschauer Vertrag zwischen der Bundesrepu‐ blik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen (1970), dem symbolischen Kniefall Willy Brandts (1970) oder auch mit den Paketaktionen in beiden Teilen Deutschlands für Polen während des dortigen Kriegsrechts wichtige Meilensteine im langwierigen Praktiken der Vergemeinschaftung 297 <?page no="298"?> 2 Wichtig ist dabei die Tatsache, dass sich die politischen wie gesellschaftlichen Bezie‐ hungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Deutschen Demokratischen Repu‐ blik sowie der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949-1989 unterschiedlich entwickelt haben. Mehr dazu u.-a.: Bingen (1998) und Olschowsky (2005). 3 Rede des polnischen Außenministers Krzysztof Skubiszewski auf dem VI. Deutsch-Pol‐ nischen Forum am 22. Februar 1990 in Posen. In: Barcz (2011: 63-64). 4 2011 wurden Gespräche mit den beiden Unterhändlern des Vertrages geführt, mit Prof. Jerzy Sułek und mit Dr. Wilhelm Höynck, in: Jaskułowski/ Gil (2011). Prozess des Aufbrechens gegenseitigen Misstrauens gelegt, allerdings waren die politischen Beziehungen durch gegenseitiges Misstrauen und tief verwur‐ zelte Feindschaft gekennzeichnet (vgl. Bingen/ Bömelburg/ Klamt/ Loew 2016). 2 Trotz gegenseitiger Vorurteile und kultureller Fremdheit sowie wegen eines starken Ungleichgewichts im politischen und wirtschaftlichen Potenzial sahen die politischen Eliten in beiden Ländern die Chance für die Entstehung der deutsch-polnischen Werte- und Interessengemeinschaft: 3 Die deutsche Einheit wurde zur Voraussetzung der polnischen Freiheit und der Rückkehr nach Westen - und die polnische Freiheit und die Rückkehr nach Westen wurden zur Voraussetzung der deutschen Einheit. In diesem Geiste verhandelten auch die Unterhändler den Nachbarschaftsvertrag. 4 Weber (2022) pointiert zu Recht: [D]ie so erreichte Konstellation im deutsch-polnischen Verhältnis stützte sich also auf eine gesellschaftlich akzeptierte und politisch getragene Norm integrativer Wechsel‐ beziehungen und kollektiver Konfliktüberwindung, die vom enthusiastischen ,End of History‘-Moment im Westen der frühen 1990er Jahre […] zusätzlich unterstützt wurde und ihr mitunter teleologische Züge verlieh: Versöhnung als Ziel, Konflikt als Vergangenheit - eine Interpretation, die sich in den darauffolgenden Jahren jedoch als allzu optimistisch, ja vielleicht sogar naiv, erweisen sollte. (Weber 2022: 196). Trotz der politisch projizierten Werte- und Interessengemeinschaft waren die Erwartungen der beiden Staaten, die bereits während des Besuches von Bundes‐ kanzler Kohl im November 1989 in Polen artikuliert wurden, in einigen Punkten doch sehr unterschiedlich. Polen erwartete von der Bundesregierung vor allem eine eindeutige Bestätigung der Oder-Neiße-Grenze, eine Reduktion der Schulden, die finanzielle und politische Unterstützung der geplanten Reformen sowie eine offizielle finanzielle Entschädigung polnischer Bürger: innen für ihr während des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzung erlittenes Leid, unter anderem auch für die Zwangsarbeit. Deutschland erwartete vor allem die Anerkennung der deutschen Minderheit in Polen und die Verbesserung ihrer Situation sowie ein sichtbares Signal der Versöhnung (vgl. Czachur/ Feindt 2019: 132-141). 298 Waldemar Czachur & Steffen Pappert <?page no="299"?> Ein erstes fundamentales Problem zwischen Deutschland und Polen wurde gelöst, als der deutsch-polnische Grenzvertrag gleich nach der Wiedervereini‐ gung Deutschlands am 14. Oktober 1990 in Warschau unterzeichnet wurde. Bis 1990 stellte die Bundesregierung aus innenpolitischen und wahltaktischen Gründen den endgültigen Charakter der Oder-Neiße-Grenze völkerrechtlich in Frage, die aber für Polens Integrität und Sicherheit von existenzieller Bedeutung war. Dieser Konflikt vergiftete die bis dahin bereits belasteten Beziehungen. Mit dem Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit hingegen wurde ein umfassendes rechtliches und politisches Fundament für bilaterale Beziehungen geschaffen, auf dem eine vielseitige Zusammenarbeit in den Bereichen Politik, Umweltschutz, Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und Sicherheit möglich werden sollte. Darüber hinaus regelte er auch die Rechte der deutschen Minderheit in Polen sowie der in Deutschland lebenden Polen und be‐ stätigte den europäischen Kurs der neuen polnischen Außenpolitik. Die Fragen der Entschädigungen für die polnischen Opfer deutscher Verbrechen sowie die Vermögensansprüche ehemaliger deutscher Eigentümer: innen wurden aus den Vertragsverhandlungen ausgeschlossen, weil eine Lösung auf juristischer Ebene wegen der unterschiedlichen rechtlichen Standpunkte nicht möglich war (vgl. Barcz 2021: 113-119). Der Nachbarschaftsvertrag wurde am 17. Juni 1991 in Bonn unterzeichnet. So kann man für den Prozess der politischen bilateralen Beziehungsgestal‐ tung drei Phasen konstatieren. Voraussetzung für die Initialisierung der Bezie‐ hungsgestaltung waren die demokratischen Revolutionen 1989 in Polen, die Befreiung Polens von der Sowjetunion und dessen Demokratisierung sowie der Mauerfall und die Wiedervereinigung Deutschlands. In dieser Phase be‐ gannen die Verhandlungen über den Grenz- und Nachbarschaftsvertrag. Mit der Instanziierung wird die Phase bezeichnet, in der die Unterzeichnung der beiden Verträge sowie ihre Ratifizierung in beiden Parlamenten erfolgte. Mit der Ratifikation, die die völkerrechtlich verbindliche Erklärung des Abschlusses eines internationalen Abkommens durch die Vertragsparteien darstellt, wurden die Verträge zu beziehungskonstituierenden Instanzen. Das Ratifizierungsver‐ fahren begann im Bundestag am 6. September 1991 und im polnischen Sejm am 13. September 1991. Am 16. Oktober 1991 verabschiedete der Deutsche Bundestag das Zustimmungsgesetz zu beiden Verträgen. Im Sejm erfolgte dies am 18. Oktober 1991. Die dritte Phase kann als Implementierung bezeichnet werden und sie steht für das Inkrafttreten der völkerrechtlichen Verträge (am 16. Januar 1992) sowie ihre Umsetzung in den Bereichen des Politischen, Sozialen und Wirtschaftlichen. Praktiken der Vergemeinschaftung 299 <?page no="300"?> 5 https: / / www.tatsachen-ueber-deutschland.de/ de/ deutschland-und-europa/ deutsch-fra nzoesische-freundschaft-als-motor (Stand: 15.02.2023). 6 https: / / www.auswaertiges-amt.de/ de/ aussenpolitik/ laender/ frankreich-node/ 60-jahre -élysée-vertrag/ 2574486 (Stand: 16.02.2023). 7 https: / / www.bpb.de/ themen/ europa/ polen-analysen/ 225324/ deutsch-polnische-freund schaft/ (Stand: 16.02.2023). Diese Arbeit fokussiert die Phase der Instanziierung der deutsch-polnischen Beziehungen und konkret den Moment der Unterzeichnung des Nachbarschafts‐ vertrages. Im Fokus stehen die in den beiden Erklärungen verwendeten Prak‐ tiken, mit denen die politischen Staatsvertreter, hier der deutsche Bundeskanzler und der polnische Ministerpräsident, eine bilaterale Vergemeinschaftung be‐ kräftigen und damit beziehungsgestalterisch wirken. 3 Zwischenstaatliche freundschaftliche Beziehungsgestaltung aus linguistischer Sicht „Staaten haben keine Freunde, nur Interessen“ - soll einmal Charles de Gaulle gesagt haben. Trotzdem wird die Freundschaft zwischen Land X und Y in der politischen Kommunikation sehr häufig hervorgehoben, wie z. B. hier: „Deutsch-französische Freundschaft als Motor“ 5 , „Deutschland und Frank‐ reich feiern gemeinsam 60 Jahre deutsch-französische Freundschaft“ 6 oder „Deutsch-Polnische Freundschaft“ 7 . Mit der Bezeichnung freundschaftliche Be‐ ziehungen ist, wie bereits angedeutet, vor allem die Abkehr vom feindseligen Gegeneinander gemeint. Solche Beziehungen „realisieren und aktualisieren sich in zwischenstaatlicher Kooperation“, „gelten als Maßnahme zur Festigung des Weltfriedens“ und „können nicht erzwungen werden“ (Dicke 1998: 175- 176). Wichtig ist aber auch, dass wenn Vertreter: innen von zwei Staaten freundschaftliche Beziehungen sprachlich proklamieren, dann appellieren sie zugleich jeweils innen- und außenpolitisch an die gemeinsame Verantwortung und Solidarität. Solch freundschaftliche Beziehungen zwischen zwei Staaten werden meist auf der Basis bilateraler bzw. internationaler Verträge bzw. Abkommen ge‐ regelt und umfassen Aktivitäten sowohl staatlicher Repräsentant: innen wie auch gesellschaftlicher Akteur: innen. Staatsverträge als normative Textsorten, mit denen durch mindestens zwei übereinstimmende Willenserklärungen ein rechtlicher Konsens erzielt wird (vgl. Kołodziej 2020: 281, auch Walter 1972), konstituieren die zwischenstaatlichen Beziehungen insofern, als sie zum einen aus den Nicht-Beziehungen bzw. schlechten Beziehungen freundschaftliche bzw. gutnachbarschaftliche Beziehungen rechtlich und politisch konstituieren 300 Waldemar Czachur & Steffen Pappert <?page no="301"?> 8 https: / / www.staatslexikon-online.de/ Lexikon/ Außenpolitik (Stand: 03.03.2023). 9 Politische Eliten werden hier verstanden als politische Akteure (vgl. Kämper 2017), die über politische Parteien oder andere Institutionen bzw. Organisationen mit dem Ziel handeln, Einfluss auf die politische Meinungs- und Willensbildung auszuüben (vgl. Pappert 2017). und zum anderen die außenpolitischen Ziele sowie Interessen der beiden Ver‐ tragspartner festlegen und zugleich die Handlungsräume für die Realisierung dieser Ziele schaffen. Denn die Staaten betreiben ihre Außenpolitik, um „sich als eine politisch verfasste Gesellschaft in ihrem regionalen und/ oder globalen Umfeld zu behaupten und ihre kollektiven Aspirationen, Werte, Interessen und Ziele zu realisieren“ 8 . Somit gelten die bilateralen Beziehungen als Ausdruck der (außen)politischen Interessen sowie der proklamierten Werte der Staaten, verstanden auch als ihre Identitäten, im Rahmen der Friedenspolitik. Die Ge‐ staltungsmöglichkeiten der außenpolitischen Interessen hängen einerseits von dem politischen, wirtschaftlichen usw. Potenzial eines Staates sowie von den von politischen Eliten 9 formulierten Zielen (im Sinne der Strategie der Selbst‐ wahrnehmung) und andererseits von der Wahrnehmung der Möglichkeiten des Partnerstaates und der dort formulierten Ziele (im Sinne der Strategie der Fremdwahrnehmung) ab. Die Realisierung der Interessen eines Staates soll also im Anliegen des Gleichgewichts die Interessen des Partnerstaates, aber auch die Möglichkeiten des internationalen Umfeldes in den Blick nehmen. Somit basieren die zwischenstaatlichen Beziehungen grundsätzlich auf der Di‐ plomatie, also Aushandlungsprozessen und gegenseitigen Zugeständnissen, die im bilateralen Kommunizieren von den politischen Eliten in unterschiedlichen Kontexten und in unterschiedlichen Konstellationen vollzogen werden. Als Ergebnis solcher Kompromisse gilt u. a. der internationale Vertrag, in dem sich das beziehungsgestalterische Potenzial auch dadurch manifestiert, dass in ihm vor allem die Regeln und Bereiche der künftigen Zusammenarbeit vor dem Hin‐ tergrund gemeinsamer Werte und Interessen, also der guten Nachbarschaft und freundschaftlichen Zusammenarbeit, festgehalten werden. Wichtig ist dabei auch sein symbolisches Potenzial, weil er einerseits bilaterale Interaktionen zwischen den politischen Akteur: innen in Form des Unterzeichnungsaktes und den politischen Erklärungen oder Ratifikationsdebatten hervorbringt und damit auch öffentlichkeitswirksam wird. Andererseits kann ein Nachbarschaftsver‐ trag auch als bilateraler Gedenkanlass und Erinnerungsort (vgl. Frank 2005: 238) gelten. Anlässlich des 30. Jahrestags des deutsch-polnischen Nachbarschafts‐ vertrages wurde z. B. eine Diskussionsveranstaltung mit der Beteiligung des Bundespräsidenten Steinmeier und des Staatspräsidenten Duda in Warschau Praktiken der Vergemeinschaftung 301 <?page no="302"?> 10 https: / / www.bundespraesident.de/ SharedDocs/ Reden/ DE/ Frank-Walter-Steinmeier/ R eden/ 2021/ 06/ 210617-30-Jahre-deutsch-polnischer-Nachbarschaftsvertrag.html (Stand: 01.09.2023). organisiert. 10 Man denke in dem Zusammenhang auch an die Jahrestage der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages, die abwechselnd in Deutschland oder in Frankreich begangen werden. Aus diesem Grund werden die bilateralen Beziehungen als ein Komplex von grenzüberschreitend-transnationalen Interaktionen aufgefasst, an denen sich neben den staatlichen Repräsentant: innen auch gesellschaftliche Akteur: innen beteiligen können, um sicherheits-, wirtschafts- und kulturpolitische Interessen der Staaten durchzusetzen. Ohne diesen Gedanken weiter zu vertiefen, ist mit Holly (2001: 1384) anzunehmen, dass sowohl zwischenmenschliche als auch zwi‐ schenstaatliche Beziehungen vielschichtige, unterschiedlich stabile, dauerhafte und dynamische Bestandteile der Kommunikation sind, die mittels der Praktiken der Selbst- und Fremddarstellung, Selbst- und Partner: innenaufwertung sowie der Selbst- und Partner: innenabwertung immer wieder hergestellt werden (vgl. Lüger 2013: 117-118, Czachur 2016: 264). Es wird hier ebenso angenommen, dass genau wie die zwischenmenschlichen Beziehungen auch die zwischenstaatli‐ chen Beziehungen durch zwei grundlegende Elemente konstituiert werden: zum einen durch ein eher performatives Element, nämlich durch die wahrnehm‐ bare, manifeste Interaktionspraxis der Beteiligten, die immer auch durch deren Interaktionsgeschichte geprägt ist und sowohl sprachliche wie nicht-sprachliche Komponenten umfasst; zum anderen durch ein eher reflexives Element, und zwar durch die mehr oder weniger bewusste Erfahrung, Auffassung und Deutung der ge‐ meinsamen vergangenen und gegenwärtigen Interaktion durch die an ihr Beteiligten. Auf beide Elemente wirken sich jeweils Idiosynkratisches und Individuelles, aber auch Überindividuell-Soziales, Wiederkehrendes und Musterhaftes aus. (Linke/ Schröter 2017: 15) Die Spezifik der zwischenstaatlichen Interaktionen ergibt sich also sowohl aus den kommunikativen und kulturellen Möglichkeiten und Kompetenzen der Be‐ teiligten als auch aus den in den politischen Kulturen tradierten und interessen‐ geleiteten Weltbildern (vgl. Krell/ Schlotter 2018: 46, auch Czachur 2011), die sich als Erfahrungswerte oder Stereotype in den sprachlichen und kommunikativen Mustern sowie in den argumentativen Topoi manifestieren (vgl. Bartoszewicz 2001). Als typische, sprachlich konstruierte Topoi im deutsch-polnischen poli‐ tischen Dialog dieser Zeit galten vor allem der Topos der Versöhnung, der Topos der Sündenvergebung und Wiedergutmachung, der Topos einer besonderen Rolle stabiler Beziehungen zwischen Deutschland und Polen für den Frieden in 302 Waldemar Czachur & Steffen Pappert <?page no="303"?> 11 „Stereotype sind Beziehungsphänomene, zum einen, weil es um Stereotype einer Dis‐ kursgemeinschaft über andere geht, zum anderen, weil Stereotype wandern, entweder indem Heterostereotype als Autostereotype direkt übernommen werden oder indem sich gegen sie gewehrt wird und sie damit indirekt Einfluss auf die Identitätsbildung ausüben.“ (Hahn 2022: 29) Europa sowie der Topos von Feinden zu Freunden (vgl. Bartoszewicz 2000: 30). Somit spielen die Sprache und der Sprachgebrauch eine zentrale Rolle auch für die zwischenstaatliche freundschaftliche Beziehungsgestaltung, denn der Sprachgebrauch formt einerseits die Beziehungen u. a. durch solche performa‐ tiven Äußerungen wie „Eingedenk der leidvollen Vergangenheit richten wir mit diesem Vertrag die Beziehungen Deutschlands und Polens aus auf eine gemeinsame Zukunft in einem Europa des Friedens, der Freiheit und des Rechts, der guten Nachbarschaft und der engen, partnerschaftlichen Zusammenarbeit“ (Kohl, S. 2). Anderseits gelten solche Aussagen auch als Ausdruck der politischen Interessen beider Staaten, gerade wenn die zwischenstaatlichen Beziehungen neu konstituiert werden sollten. Die Identitäten, verstanden als politisch geteilte Interessen, Werte und Normen der kooperierenden Staaten, manifestieren sich daher auch in den grenzübergreifenden, bilateralen Interaktionen und gleichzeitig erzeugen die politischen Eliten kollektiv geteilte Wissensvorräte in Form von Stereotypen über sich selbst (Autostereotype), über die Partner: innen sowie über die Beziehungen, wobei sich dieses Wissen dynamisch gestaltet und ständig verändert. 11 Auch freundschaftliche Beziehungen zwischen Staaten, genauso wie zwischen Individuen, sind in den meisten Fällen nicht neutral oder symmetrisch. Sie gestalten sich dynamisch und sind ebenso Ergebnis und zugleich die Ursache gegenseitiger historisch gewachsener Wahrnehmungen und Stereotype (vgl. Dąbrowska-Burkhardt 1999, Iluk 2007, Surynt 2021, Cza‐ chur/ Loew/ Łada 2020). Politische Akteur: innen sind aber in ihrem politischen Handeln nicht frei, sondern orientieren sich in ihren institutionell strukturierten Kontexten an den Richtlinien der Außenpolitik (Interessen bzw. Staatsräson) und handeln im Sinne der Amts- und Diensteide. Das sprachliche Handeln umfasst in unserem Zusammenhang sowohl die direkt-bilateralen, gedolmetschten und protokolla‐ risch vorgegebenen Interaktionen, wie z. B. Ansprachen bzw. Erklärungen der Staatsvertreter: innen während der Unterzeichnung der Verträge, als auch die indirekt-bilateralen Interaktionen in Form der Ratifizierungsdebatten in den jeweiligen Parlamenten. Aber auch Medien bleiben wichtige Akteure im Prozess der zwischenstaatlichen Beziehungsgestaltung. Eine zunehmend wichtigere Rolle spielen dabei die sozialen Medien, die auch im Dienste der auswärtigen Kulturpolitik bzw. public diplomacy dafür genutzt werden (vgl. Ociepka 2018). Praktiken der Vergemeinschaftung 303 <?page no="304"?> Solche parlamentarischen oder medialen Debatten sind zwar durch einen ge‐ ringeren Grad der Bilateralität gekennzeichnet, allerdings mehrfachadressiert, so dass sie sich an die Interessengruppen im Ziel- und Partnerland, also in Deutschland wie Polen richten. Es ist davon auszugehen, dass in der Phase der Instanziierung für die Gestal‐ tung der deutsch-polnischen Beziehungen sowohl der Grenz- und der Nachbar‐ schaftsvertrag als beziehungskonstitutive Instanz wie auch deren politische Legitimierung in Form der Erklärungen und Beratungen in den Parlamenten eine zentrale Rolle spielt. Im Fokus dieser Arbeit steht allerdings die Frage, mittels welcher kommunikativer Praktiken die beiden Politiker in ihren Erklä‐ rungen Vergemeinschaftung erzeugen und dadurch beziehungsgestalterisch handeln und zugleich Freundschaft inszenieren. Bevor dies geschieht, soll noch kurz auf die Spezifik der politischen Erklärung für die (zwischenstaatliche) Beziehungsgestaltung eingegangen werden. 4 Politische Erklärung in zwischenstaatlichen Beziehungen In der politolinguistischen Forschung wurden Textsorten wie Staatsverträge oder politische Reden im Bereich der zwischenstaatlichen Beziehungen bis‐ lang kaum untersucht. Erst Reisigl (2007) berücksichtigte diesen Aspekt in seiner Systematisierung von politischen Handlungsfeldern und unterschied u. a. neben den Handlungsfeldern Gesetzgebungsverfahren, öffentliche poli‐ tische Meinungs-, Einstellungs- und Willensbildung auch zwischenstaatliche/ internationale Beziehungsgestaltung mit solchen Textsorten wie Kriegserklä‐ rung, Note, Ultimatum, Staatsvertrag (Freundschaftsvertrag, Friedensvertrag), Gedenkrede (Reisigl 2007: 34-35). Im Fokus seiner Interessen stehen die Fest- und Gedenkreden, die er als Mittel der Herausbildung eines österreichischen Nationalbewusstseins und Nationalstolzes analysiert. Dabei fokussiert er die sinnstiftende, gruppenkonsolidierende, vergangenheitsbewältigende und zu‐ kunftsweisende Funktion von Fest- und Gedenkreden. Auch in unserer Arbeit konzentrieren wir uns auf die vergemeinschaftende (persuasive und zugleich epideiktische) Funktion der Erklärungen, die während der Unterzeichnungszeremonie des Nachbarschaftsvertrages vom deutschen und polnischen Regierungschef vorgetragen wurden. Wie oben angedeutet, ori‐ entieren sich die Regierungschefs im Prozess der bilateralen Beziehungsgestal‐ tung sprachlich an den außen- und innenpolitischen Richtlinien ihrer Staaten und handeln nach den Regeln der Diplomatie, indem sie hohe gegenseitige Kooperationsbereitschaft und Respekt im Sinne des rituellen Gleichgewichts 304 Waldemar Czachur & Steffen Pappert <?page no="305"?> zeigen und sich an dem Prinzip der Symmetrie orientieren (vgl. Bonacchi 2013: 97-99, Kostro 2021: 94-95). Aus den Analysen des diplomatischen Diskurses geht hervor, dass die beiden politischen Vertreter: innen beim Abgeben der Erklärungen in ständiger Interak‐ tion bleiben und trotz ihrer Anordnung nebeneinander und gegenüber den Jour‐ nalisten, entfalten sie phatische und regulative Aktivitäten. Ihre Erklärungen richten sich sowohl an die Journalisten auf der Konferenz als auch an ihre ausländischen Amtskolleg: innen. Die gemeinsame Erklärung ist keine bloße Darstellung der zuvor ausgehandelten bilateralen Beziehungen, sondern ermög‐ licht es den Sprecher: innen, die zwischenstaatlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen vor den Medien als freundschaftlich zu inszenieren (vgl. Kostro 2021: 95). In diesem Kontext ist davon auszugehen, dass die deutsch-polnische Nach‐ barschaft als eine imaginäre transnationale Gemeinschaft und Freundschaft als ein verbindendes politisches Gefühl symbolisch entworfen und der Nach‐ barschaftsvertrag vor dem Hintergrund der innen- und außenpolitischen In‐ teressen der beiden Staaten, also gute und friedliche Nachbarschaft sowie freundschaftliche Zusammenarbeit, legitimiert wird. Die Erklärungen zielen auf eine konsensstiftende, identifikations- und solidaritätsfundierende sowie handlungsmotivierende Wirkung, also auf die Herstellung von Vergemeinschaf‐ tung ab (vgl. Reisigl 2007: 33-36, Klein 2019: 59-61 sowie 146-147, Bartoszewicz 2000: 107-111). Damit werden die bilateralen Beziehungen als freundschaftlich konstituiert. Entscheidend ist, dass die Strategie der Vergemeinschaftung in den bilateralen Beziehungen sowohl als politisches Ziel als auch als interaktive Funktion von unterschiedlichen Praktiken gilt, denn es geht um die Herstellung und Inszenierung der zwischenmenschlichen und zugleich zwischenstaatlichen Freundschaft (vgl. Weiser-Zurmühlen 2021: 95, auch Hanus 2021). Um eine bilaterale Vergemeinschaftung zu konzipieren, bedienen sich die Politiker: innen grundsätzlich der Strategie der Hinwendung. Diese Strategie der Hinwendung manifestiert sich u. a. in verschiedenen Formen von Abschwächung der Ex‐ pressivität und der Euphemisierung bzw. der Bagatellisierung beziehungsbelas‐ tender Themen (vgl. Bąk 2016: 255), aber auch in der Berücksichtigung der Interessen der Partner: innen und Hervorhebung des Gemeinsamen, also dessen, was die beiden Akteure: innen und Staaten verbindet, wie z. B. friedliche und beziehungsprägende Ereignisse in der gemeinsamen Geschichte. Wir gehen davon aus, dass eine Vergemeinschaftung im Sinne der erwähnten Hinwendung in zwischenstaatlicher Beziehungsgestaltung als politische und kommunikative Praktiken der Vergemeinschaftung 305 <?page no="306"?> 12 Wir verstehen Praktiken als handlungsbezogene und akteursbezogene Kategorie, denn als „kontextgebundene Einsatzroutinen von beobachtbaren, formbezogen be‐ schreibbaren Ressourcen“ sind sie „stets darauf angelegt, bestimmte, verständliche Handlungen zu vollziehen.“ (Deppermann/ Feilke/ Linke 2016: 13). Den Strategiebegriff definieren wir als sprecherseitige Verfahren mit praktikenübergreifendem Plan und praktikenübergreifendem Ziel. 13 https: / / www.dw.com/ de/ steinmeier-und-duda-wollen-deutsch-polnische-freundschaft -stärken/ a-57936854 (Stand: 01.09.2023). 14 https: / / www.stern.de/ panorama/ video-duda-und-steinmeier-betonen-deutsch-polnisc he-freundschaft-33001082.html (Stand: 01.09.2023). 15 https: / / www.bundespraesident.de/ SharedDocs/ Reden/ DE/ Joachim-Gauck/ Reden/ 2014 / 07/ 140729-Ausstellung-Warschauer-Aufstand.html (Stand: 01.09.2023). 16 https: / / www.prezydent.pl/ aktualnosci/ wypowiedzi-prezydenta-rp/ wystapienia/ bardzo-si e-ciesze-ze-poglebia-sie-wspolpraca-miedzy-naszymi-krajami-,3758 (Stand: 01.09.2023). 17 https: / / www.bundesrat.de/ SharedDocs/ pm/ 2021/ 024.html (Stand: 01.09.2023). Strategie mittels unterschiedlicher Praktiken 12 realisiert wird, die die Inszenie‐ rung der Konsensualität und der Freundschaft zwischen den beiden Staaten möglich machen. Dies können musterhafte Formulierungen sein, mit denen die politischen und medialen Akteur: innen die freundschaftlichen Beziehungen konzeptualisieren, wie z. B. „Stärkung der deutsch-polnischen Freundschaft“ 13 , „Duda und Steinmeier betonen deutsch-polnische Freundschaft“ 14 , „[es] grenzt […] für mich an ein Wunder, dass Polen und Deutsche heute nicht nur gute Nachbarn sind, die sich vertragen, sondern Freunde, die sich mögen“ 15 oder „Ich glaube, dass Veranstaltungen wie diese dazu beitragen, die Freundschaft zwi‐ schen unseren Ländern und Völkern auf die wohlwollendste Weise zu vertiefen, die man sich vorstellen kann“ 16 , oder „Aus Nachbarn sind in den letzten gut 30 Jahren Freunde geworden, Deutschland und Polen sind in vielen Bereichen eng miteinander verbunden. Die deutsch-polnische Freundschaftsgruppe kann dazu beitragen, diese Beziehungen weiter auszubauen“ 17 . Wichtig erscheinen uns auch die Praktiken, mit denen, wie in unserem Fall, der Nachbarschaftsvertrag politisch legitimiert wird sowie die Argumentationen, die von beiden Partnern im Sinne der Beziehungsgestaltung verwendet werden, wie etwa: Ohne die deutsch-polnische Versöhnung kann West- und Osteuropa nicht zusammen‐ wachsen (vgl. Bartoszewicz 2000: 301). Zentral sind aber auch die Praktiken zur Herstellung einer Wir-Gruppe. Wir-Gruppen definieren wir in Anlehnung an Kromminga als „genuin diskursive, also zugleich sozial wirksame und sprach‐ lich vermittelte Gegenstände. Sie werden über verschiedene kommunikative Praxen hinweg von Diskursbeteiligten durch verschiedene sprachliche Mittel und Äußerungen […] produziert, variiert und reproduziert […]“ (Kromminga 2022: 133). 306 Waldemar Czachur & Steffen Pappert <?page no="307"?> 18 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991, siehe: ht tps: / / de.wikisource.org/ wiki/ Vertrag_zwischen_der_Bundesrepublik_Deutschland_un d_der_Republik_Polen_über_gute_Nachbarschaft_und_freundschaftliche_Zusammen arbeit_vom_17._Juni_1991 (Stand: 01.09.2023). Mit Bezug auf eine solche Wir-Gruppe wird sprachlich eine Gemeinschaft gebildet, die durch unterschiedliche Stufen der Kollektivität gekennzeichnet sein kann, und zwar hinsichtlich der Referenzialisierbarkeit, der Intentionsge‐ meinschaft sowie der Kommunikation. In den zwischenstaatlichen Beziehungen handelt es sich bei der Referenzialisierbarkeit darum, dass es im Sinne des Völkerrechtes zwei Staaten gibt, die über ihre Vertreter: innen handeln und einen Vertrag schließen, sowie Gesellschaften, die sich davon eine gute Nachbarschaft sowie eine freundschaftliche Zusammenarbeit erhoffen. Die Referenz auf die Staaten wird vor allem über die Vertreter: innen der Staaten und sprachlich vor allem über Ethnonyme hergestellt, wie z. B. „die Deutschen und die Polen“ oder „deutsch-polnischer Vertrag“. Mit der Intentionsgemeinschaft ist gemeint, dass im Rahmen der konstruierten Gemeinschaft gemeinsame Ziele formuliert werden, die in unserem Fall bereits im Namen des Dokumentes erkennbar sind: „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“. Im ersten Artikel des Vertrages wird das Ziel konkretisiert: „Die Vertragsparteien werden ihre Beziehungen im Geiste guter Nachbarschaft und Freundschaft gestalten. Sie streben eine enge friedliche und partnerschaftliche Zusammenarbeit auf allen Gebieten an. In europäischer Verantwortung werden sie ihre Kräfte dafür einsetzen, den Wunsch ihrer beiden Völker nach dauerhafter Verständigung und Versöhnung in die Tat umzusetzen“. 18 Und mittels der abgegebenen politischen Erklärungen der Vertreter: innen beider Staaten, in denen solche Deklarationen verwendet werden, wie z. B. „Wir bekennen uns auch zu der (…) europäischen Friedensverantwortung unserer Völker“ (Kohl, S. 3), wird ein symmetrischer Austausch und eine kommunikativ erzeugte Freundschaft und Nähe konstru‐ iert (vgl. Kromminga 2022: 119). Die Konstituierung der Wir-Gruppe in den zwischenstaatlichen Beziehungen erfolgt also durch soziale Kategorisierungen mittels der Ethnonyme und weiterer Prädikatoren, die die Sprechenden sowie Angesprochenen mit unterschiedlichen Praktiken, wie wir in der Analyse zeigen, explizit markieren und auch perspektivieren. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die Praktiken der Benennung des Vertrages, die Praktiken der Zuschreibung von Funktionen für den Vertrag sowie auf die Praktiken zur Konstituierung einer Wir-Gruppe. Damit werden die freundschaftlichen Beziehungen insofern hergestellt, als symbolisch das Praktiken der Vergemeinschaftung 307 <?page no="308"?> Trennende aus der Vergangenheit abgeschlossen und das Gemeinsame in der Zukunft eröffnet wird, die Erfüllung der Interessen beider Staaten akzentuiert wird sowie Vorteile der guten Nachbarschaft und freundschaftlichen Zusam‐ menarbeit für beide Länder und Europa hervorgehoben werden. 5 Analyse Mit dem Blick auf das Ziel der Arbeit wird es hier darum gehen, die kom‐ munikativen Vergemeinschaftungspraktiken herauszuarbeiten, mittels derer die Politiker Helmut Kohl und Jan Krzysztof Bielecki den Vertrag sprachlich benennen, ihm argumentativ eine Funktion in den zwischenstaatlichen Be‐ ziehungen zuweisen, eine Wir-Gruppe konstruieren und damit beziehungsge‐ stalterisch handeln und Freundschaft inszenieren. Diese Praktiken gelten als Ausdruck einer politischen Strategie, die auf gute Nachbarschaft und friedliche Zusammenarbeit abzielt, und mittels unterschiedlicher sprachlicher Verfahren realisiert werden. Wichtig ist dabei die Dynamik zu erfassen, die sich in der permanenten Gratwanderung zwischen der eigenen und der fremden Position, zwischen dem Gewinn von Akzeptanz für die eigene Position und der Erhöhung der Chance für die Ratifizierung derselben manifestiert. Analysiert werden die Erklärungen des Bundeskanzlers Helmut Kohl und des Ministerpräsidenten Jan Krzysztof Bielecki, die am 17. Juni 1991 während der Unterzeichnungsze‐ remonie des deutsch-polnischen Vertrages über die gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vorgetragen wurden. Uns liegt die deutsch‐ sprachige Version des Redetextes von Bundeskanzler Kohl (910 Wörter im Text) sowie die offizielle Übersetzung ins Deutsche des polnischsprachigen Redetextes von Ministerpräsident Bielecki vor (1606 Wörter im Text). Bei der Analyse beider Texte fragen wir danach, wie mittels der sprachlichen Konzeptualisierung des Vertrages, der Zuschreibung von Funktionen für den Vertrag sowie mittels der Praktiken zur Konstituierung einer Wir-Gruppe eine bilaterale Vergemeinschaftung inszeniert und somit eine zwischenstaatliche freundschaftliche Beziehung hergestellt wird. 5.1 Benennungspraktiken: Wie konzeptualisieren die Politiker den Vertrag? Zunächst sollen die Nominationspraktiken, die die politischen Akteure in Bezug auf das Vertragswerk als Bewertungsgegenstand verwenden, ausgear‐ beitet werden. Als zentrale Praktik in den politischen Reden gilt die der Bewertung des Vertrages, die sich in der Wahl von unterschiedlichen Nomi‐ 308 Waldemar Czachur & Steffen Pappert <?page no="309"?> nation-Prädikation-Konstruktionen manifestiert. Neben der offiziellen Bezeich‐ nung deutsch-polnischer Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, in der gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenar‐ beit als politisches Ziel und Maßstäbe für die Qualität der Beziehungen in den Vordergrund treten, operieren beide Sprecher mit dem Begriff Vertrag. Hier einige Beispiele: 1. Dieser Vertrag schafft neue rechtliche und politische, doch nicht weniger auch moralisch-ethische Grundlagen für den Aufbau der dauerhaften Verständigung und Versöhnung zwischen Polen und Deutschen. (Bielecki, S.-5) 2. Er schafft solide Grundlagen für eine neue und dauerhafte Zukunft der Polen und der Deutschen im Herzen Europas. Er schafft die erforderlichen rechtlichen Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen unseren Völkern. (Bielecki, S.-6) 3. Dieser Vertrag ist der Ausdruck einer neuen Philosophie - er weist nachdrücklich auf die neue Form des Zusammenlebens des polnischen und des deutschen Volkes in dem sich vereinigenden Europa hin. (Bielecki, S.-6) 4. Ich denke, dass dieser Vertrag auch der Ausdruck des Verstehens und der Unterstützung für die tiefgreifenden Wandlungen, die in diesem Teil Europas vor sich gehen, ist. (Bielecki, S.-6) 5. Dieser Vertrag soll also eine sehr wichtige Rolle im Prozess des Zusammenwach‐ sens des östlichen und westlichen Teils Europas in ein Ganzes spielen. (Bielecki, S.-7) 6. Wir unterzeichnen den „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammen‐ arbeit“. Eingedenk der leidvollen Vergangenheit richten wir mit diesem Vertrag die Beziehungen Deutschlands und Polens aus auf eine gemeinsame Zukunft in einem Europa des Friedens, der Freiheit und des Rechts, der guten Nachbarschaft und der engen, partnerschaftlichen Zusammenarbeit. Wir bringen damit das Werk der Verständigung und Versöhnung zwischen unseren Ländern und Völkern sichtbar voran. (Kohl, S.-2) 7. Mit dem jetzt unterzeichneten Vertrag setzen wir auf eine dynamische, auch für die Menschen in unseren Ländern spürbare Vorwärtsbewegung in unseren Beziehungen auf allen Gebieten. (Kohl, S.-2) 8. Wir bekennen uns mit dem Vertrag, den wir heute unterzeichnen, zur Tradition des friedlichen Zusammenlebens und des fruchtbaren Austausches, insbesondere in Kultur und Wissenschaft zwischen unseren Ländern und Völkern. Diese Tradition hat lange Jahrhunderte unsere gemeinsame Geschichte geprägt. (Kohl, S.-3) 9. Wir stellen unser Vertragswerk bewusst in den größeren Rahmen Europa. Dies gilt selbstverständlich für die Sicherheitspolitik. (Kohl, S.-3) Praktiken der Vergemeinschaftung 309 <?page no="310"?> 10. Der heute als Anhang zum Vertrag vollzogene Briefwechsel der Außenminister weist die Richtung für die Weiterentwicklung der Rechte für die Deutschen in Polen sowie für die deutschen Bürger, die sich in Polen niederlassen wollen. (Kohl, S.-2) 11. Herr Ministerpräsident, das deutsch-polnische Vertragswerk wird von einigen meiner Landsleute nicht leichten Herzens angenommen. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die infolge des Krieges ihre Heimat jenseits von Oder und Neiße verloren haben. (Kohl, S.-4) Auf der lexikalischen Ebene wird der Vertrag vor allem als Grundlage, als Rahmen und als spürbare Vorwärtsbewegung und somit als zentrales Instrument der freundschaftlichen Beziehungsgestaltung zwischen Deutschland und Polen konzeptualisiert. Zwei Arten von Metaphern (vgl. Csatár 2020) lassen sich bei den Nominationspraktiken erkennen, mit denen der Vertrag als ein Auslöser und Möglichmacher positiver Transformationen und der Freundschaft konzeptuali‐ siert wird: die WEG-Metapher (Beleg 6, 7, 9, 10) und die GEBÄUDE-Metapher (Beleg 1, 2). Mit diesen Metaphern können sich auch die politischen Akteure als Befürworter des Vertrages positionieren. Mit der WEG-Metapher wird der Vertrag als historischer Prozess („Wir sind hier zu einem bedeutsamen Tag in der deutsch-polnischen Geschichte zusammengekommen“ (Kohl, S. 2), „Es ist ein Akt von historischen Dimen‐ sionen“ (Bielecki, S. 5)) legitimiert, mit dem eine radikale Transformation der zwischenstaatlichen Beziehungen erfolgen sollte. Diese Metapher markiert den Beginn des langen und aufgrund der komplizierten Geschichte schwierigen, aber notwendigen Prozesses, fokussiert die deutsch-polnische Verständigung, Versöhnung und Freundschaft als politisches Ziel und konzeptualisiert die im Vertrag festgelegten Bereiche der bilateralen Zusammenarbeit als Mittel zu diesem Ziel. Dabei wird auch auf den aktuellen politischen Kontext, näm‐ lich auf die Umbruchsituation in beiden Ländern hingewiesen, der als eine Chance für Deutschland, für Polen und zugleich für die deutsch-polnischen Beziehungen wahrgenommen wird, ohne dabei die geschichtlichen Aspekte in den Vordergrund stellen zu müssen. Vor dem Hintergrund der progressiven Vorwärtsbewegung werden also die politischen Ziele insofern begründet, als sie in solchen Schlüsselwörtern Niederschlag finden wie gemeinsames Europa, vereintes Europa, gemeinsamer Frieden usw. Die GEBÄUDE-Metapher wird hier verwendet, um den Prozess der politi‐ schen Umwälzungen und damit auch den der deutsch-polnischen Verständigung im europäischen Kontext zu untermauern. Naheliegend ist die Funktion der Me‐ tapher EUROPA als GEBÄUDE (vgl. Klein 2002: 228-233, Mikołajczyk 2004: 145- 153). Hier verschränken sich zwei Sinnordnungen: Das mit der WEG-Metapher 310 Waldemar Czachur & Steffen Pappert <?page no="311"?> aktivierte Konzept der Bewegung und Dynamik überschneidet sich mit dem Konzept der Stabilität, das mit der GEBÄUDE-Metapher evoziert wird. So wird der Vertrag auch eindeutig positiv evaluiert und die deutsch-polnische Freund‐ schaft als etwas Dynamisches, aber auf Stabilität ausgerichtetes entworfen. Wie ersichtlich ist, wird der Vertrag in beiden Erklärungen mittels ähnli‐ cher Benennungspraktiken als ein zentrales Instrument der freundschaftlichen Beziehungsgestaltung konzeptualisiert. Er wird einerseits als Fundament der neuen, guten und freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen profiliert und anderseits als Prozess, in dem beide Länder ihre Interessen realisieren und auf den europäischen Frieden hinwirken können. Mit dieser Konzeptualisierungsweise des Vertrages soll zudem ein Schlussstrich gezogen werden: Die trennende Vergangenheit soll als abgeschlossen gelten, die ge‐ meinsame Zukunft soll als eine Chance für die beiden Länder und Europa definiert werden. Somit wird der Vertrag in beiden Erklärungen also als Auslöser und Möglichmacher deutsch-polnischen Freundschaft konzeptualisiert. Von der Vergemeinschaftung ist in diesem Zusammenhang deswegen die Rede, weil die beiden Regierungschefs auf dieselben metaphorischen Konzepte zurückgreifen. Ein Unterschied, wie sich die beiden Sprecher dem Vertrag gegenüber posi‐ tionieren, lässt sich vor allem darin erkennen, in welchen semantischen Rollen er verwendet wird. Während der Vertrag bei Bielecki nur in der semantischen Rolle AGENS vorkommt und damit als belebter Verursacher von weiteren Handlungen („der Vertrag schafft Grundlage“ (S. 5), „der Vertrag ist Ausdruck“ (S. 6), „der Vertrag soll bei … eine Rolle spielen“ (S. 7)) profiliert wird, wird er bei Kohl vor allem als INSTRUMENT und damit auch als unbelebter Verursacher von bestimmten Handlungen konzeptualisiert, aber auch als EXPERIENCER („das Vertragswerk wird … angenommen“ (S. 4)) und PATIENS („Wir stellen unser Vertragswerk…“ (S. 3)). Auch wenn die Rollen AGENS und INSTRUMENT als Verursacher gelten, kontextualisieren sie den Vertrag doch anders. Mit der Konzeptualisierung des Vertrages in der Rolle INSTRUMENT positioniert sich der Bundeskanzler als ‚Macher‘, der sich eines Instrumentariums bedient, um die deutsch-polnischen Beziehungen und Europa zu verändern. Diese Praktik der Instrumentalisierung geht auch mit den Praktiken der Vergemeinschaftung einher: „Wir stellen unser Vertragswerk“ (S. 3), „wir bekennen uns mit dem Vertrag“ (S. 3). Der Sprecher positioniert sich als zentraler Akteur im politischen Geschehen sowie Mitverantwortlicher für den Erfolg. Der polnische Minister‐ präsident hingegen stellt den Vertrag in den Vordergrund und zugleich sich selbst in den Hintergrund. Praktiken der Vergemeinschaftung 311 <?page no="312"?> 5.2 Die Funktionszuschreibung: Welche Funktionen weisen die Politiker dem Vertrag in den deutsch-polnischen Beziehungen zu? Unter den Praktiken der Funktionszuschreibung verstehen wir kommuni‐ kativ-sprachliche Verfahren, mit denen der deutsch-polnische Nachbarschafts‐ vertrag innen-, außen- und europapolitisch kontextualisiert, ihm eine Funktion im politischen Geschehen zugewiesen und darüber hinaus konsensuell vor den Erwartungen und Interessen der jeweiligen Staaten legitimiert wird. Aus den obigen Beispielen (1-11) wurde ersichtlich, dass der Vertrag in den deutsch-pol‐ nischen Beziehungen eine Transformation, einen Übergang aus der ‚belasteten Geschichte‘ in ‚eine gemeinsame Zukunft in Europa‘ ermöglichen soll. In beiden Reden wird der Vertrag vor dem Hintergrund der horizontalen wie vertikalen Dimension kontextualisiert. Mit horizontaler Dimension ist hier das formulierte Ziel der guten Nachbarschaft in bilateraler Hinsicht gemeint. Beide Politiker konzeptualisieren den Vertrag als Instrument der Verständigung und Versöhnung zwischen Deutschen und Pol: innen (Beispiel 1 und 6). Unter der vertikalen Ebene wird die Positionierung des Vertrages im breiteren Kontext verstanden, also über das Bilaterale hinausgehend. Auch hier betrachten die beiden Regierungs‐ chefs den Vertrag als wegweisend für ein „Europa des Friedens, der Freiheit und des Rechts“ (Beispiel 6) sowie „im Prozess des Zusammenwachsens des östlichen und westlichen Teils Europas in ein Ganzes“ (Beispiel 5, vgl. auch Beispiele 2, 3, 9). Wie die Zuweisung von Funktionen für den Vertrag in den beiden Reden erfolgt und wie damit auch die Wir-Gruppe konzeptualisiert wird, soll anhand der Analyse der argumentativen Strukturen gezeigt werden. Mit der Rekon‐ struktion der zielorientierten Argumentationsstruktur sollen die Praktiken der Zuweisung von Funktionen erfasst werden, die grundsätzlich für die Legiti‐ mierung politischer Maßnahmen gelten (vgl. Czachur/ Lüger 2021: 97-103). In dem Redetext des Bundeskanzlers lassen sich wenigstens zwei zentrale Thesen unterscheiden: A) Der Nachbarschaftsvertrag bietet den deutsch-polnischen Beziehungen eine gemeinsame Zukunft in Europa. a. Der Nachbarschaftsvertrag ermöglicht Verständigung und Versöh‐ nung zwischen Polen und Deutschen. b. Der Nachbarschaftsvertrag knüpft an die Tradition des friedlichen Zusammenlebens und des fruchtbaren Austausches. 312 Waldemar Czachur & Steffen Pappert <?page no="313"?> B) Für Zukunft Europas ist die deutsch-polnische friedliche/ gute Nachbar‐ schaft wichtig. a. Deutschland unterstützt Polen auf dem Weg in die europäische Ge‐ meinschaft. Diese zwei zentralen Thesen (A) und (B) ergänzen einander. Mit der ersten These wird der Nachbarschaftsvertrag als Instrument für die Europäisierung der deutsch-polnischen Beziehungen konzeptualisiert, während sich die zweite These auf die Qualität der bilateralen Relationen bezieht und diese Qualität auch als Maßstab des Erfolgs für die europäische Integration projiziert. Die erste These in Form einer FESTSTELLUNG wird durch zwei Subthesen (a, b) insofern gestützt und spezifiziert, als vor allem Verständigung und Versöhnung als Ziele in den bilateralen Beziehungen deklariert werden und positive Ereignisse aus der schwierigen Geschichte der Nachbarschaft als Bezugsgröße für aktuelle Beziehungen herangezogen werden. Die erste These gilt aber als Stützung der zweiten These, der eine (indirekte) AUFFORDERUNG (B) zugrunde liegt, dass „Deutsche und Polen in [Europas] Mitte die bestehenden Grenzen achten, Brücken der Begegnung bauen und den friedlichen Austausch verstärken“ sollen (Kohl, S. 3). Die Akzeptanz dieser Handlungen wird gestützt durch die Subthesen. So wird der Vertrag als Instrument der deutsch-polnischen Werte- und Interessengemeinschaft bzw. deutsch-polnischen Schicksalsgemeinschaft begründet. In diesem Sinne ist auch die Erklärung des Bundeskanzlers zu verstehen, in der er im Interesse Polens deklariert, Polen auf dem Weg in die Europäischen Gemeinschaften zu unterstützen mit der gleichzeitigen Erwartung, dass die polnische Regierung im Interesse Deutschlands die deutsche Minderheit unterstützt. Dadurch wird die Bereitschaft zu gegenseitigen Zugeständnissen deutlich, ganz im Sinne des symbolischen Gleichgewichts, und ebenso die Wir-Gruppe hergestellt. In der Rede des Ministerpräsidenten Bielecki kann man drei zentrale Thesen identifizieren, die durch weitere Subthesen unterstützt werden: A) Der Nachbarschaftsvertrag schafft neue rechtliche, politische, moralische Grundlagen für den Aufbau der Verständigung und Versöhnung zwischen Polen und Deutschen. a. Der Vertrag ist eine Lehre aus der Vergangenheit. B) Der Vertrag schafft eine solide Grundlage für eine neue Zukunft der Polen und Deutschen in einem sich vereinigenden Europa. a. Polen hat wegen des Zweiten Krieges und Kalten Krieges gelitten. b. Polen hat mit Solidarność Freiheitsrevolutionen in Mitteleuropa her‐ vorgerufen. c. Polen braucht Unterstützung. Praktiken der Vergemeinschaftung 313 <?page no="314"?> C) Die deutsch-polnische Nachbarschaft ist für ein vereintes Europa unab‐ dingbar. Auch in dieser Rede haben wir mit einer Doppelperspektivierung des Vertrages zu tun. Einerseits wird er in den Thesen (A) und (B), die als FESTSTELLUNG gegenseitig ergänzen, als Instrument für das bilaterale Miteinander und die Europäisierung konzeptualisiert und anderseits wird die deutsch-polnische Nachbarschaft als Voraussetzung für ein vereintes Europa deklariert. Auch hier ist mit der BEHAUPTUNG (C) ein politisches Ziel verbunden, nämlich dass „im gemeinsamen Interesse der Europäer […] man die Vertiefung der zivilisato‐ rischen Gefälle, die Schaffung der Grenzen des Wohlstandes einerseits und der permanenten Armut anderseits verhindern [soll]“ (Bielecki, S. 8). Interessant ist aber die Selbstpositionierung von Polen. Mit den FESTSTELLUNGEN (B) a. und b. wird Polens Bild aufgewertet und für die Argumentation genutzt. Polens schweres Schicksal im 20. Jahrhundert, vor allem wegen des deutschen und russischen Angriffs 1939, der Verbrechen an Polen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges, der Zugehörigkeit zum kommunistischen Ostblock, und zugleich Polens Verdienste im Bereich der Freiheitbewegung, werden als Argument für die deutsche Unterstützung der Reformen in Polen verwendet. Mit dieser Hervorhebung der Opferrolle Polens erfolgt zunächst seine Selbstaufwertung und zugleich auch der implizite Hinweis auf die Täterrolle Deutschlands. Damit werden solche Emotionen wie Schuld bzw. Mitleid aktiviert und damit wird sowohl für die Akzeptanz der eigenen Position geworben als auch Polens Integration in die Europäischen Gemeinschaften im Kontext der Vorteile für die deutsche Wirtschaft und Sicherheit dargestellt. Es wird auch auf diese Art und Weise eine Wir-Gruppe konstruiert. 5.3 Praktiken zur Konstitution der Wir-Gruppe Mit Praktiken zur Konstitution der Wir-Gruppe meinen wir jene sprachlichen und kommunikativen Verfahren, mittels derer die Referenzialisierbarkeit auf u. a. zwei Regierungen und somit auf zwei Staaten und deren Gesellschaften erfolgt und eine bilaterale Vergemeinschaftung hergestellt wird. Zentral dafür sind das Personalpronomen wir und das Possessivpronomen unser sowie andere lexikalische Einheiten (darunter vor allem Ethnonyme) bzw. Konstruktionen mit den Konjunktionen und oder mit Präpositionen zwischen bzw. mit. Die beiden Politiker verwenden durchaus unterschiedliche Verfahren zur Konstitution der Wir-Gruppe. Während sich der Bundeskanzler vor allem des Pronomens wir bedient, verwendet der Ministerpräsident die unterschiedlichen 314 Waldemar Czachur & Steffen Pappert <?page no="315"?> Konstruktionen mit den Ethnonymen Deutsche und Polen, deutsch-polnisch usw. Das Pronomen wir wird bei Kohl allerdings in unterschiedlichen Funktionen be‐ nutzt. In den meisten Fällen referiert wir auf die sprechende und angesprochene Person in ihrer Funktion als Regierungschef, die für die beiden Staaten und ihre Interessen steht. Es handelt sich um eine inklusive, ja sogar extensionale und selbstverständlich um eine metonymische (staatstragende) Funktion der Wir-Verwendung. 12. Eingedenk der leidvollen Vergangenheit richten wir mit diesem Vertrag die Beziehungen Deutschlands und Polens aus auf eine gemeinsame Zukunft in einem Europa des Friedens, der Freiheit und des Rechts, der guten Nachbarschaft und der engen, partnerschaftlichen Zusammenarbeit. (Kohl, S.-2) 13. Wir bringen damit das Werk der Verständigung und Versöhnung zwischen unseren Ländern und Völkern sichtbar voran. (Kohl, S.-2) 14. Wir bekennen uns auch zu der in Hambach angeklungenen europäischen Frie‐ densverantwortung unserer Völker. (Kohl, S.-3) 15. Entscheidend ist nun, dass die in unserem Vertrag niedergelegten Minderheiten‐ rechte sowie die Schutz- und Förderverpflichtungen beider Staaten zügig in die Praxis umgesetzt werden. (Kohl, S.-4) Mit der Verwendung des expandierten Wir wird auch versucht, wie in Beleg (15), die eigenen Interessen so zu modellieren, als ob sie gemeinsame Interessen wären. Bundeskanzler Kohl bedient sich auch eines Wir, das auf die sprechende und angesprochene Person in ihren staatstragenden Funktionen referiert, die zusammen eine konkrete Handlung ausführen. Dies wird vor allem durch die direkte Anredeform markiert: 16. Wir waren uns, Herr Ministerpräsident, von Anfang an einig, … (Kohl, S.-2) 17. Herr Ministerpräsident, wir bekennen uns mit dem Vertrag, den wir heute unterzeichnen, zur Tradition des friedlichen Zusammenlebens (Kohl, S.-3) 18. Wir sollten uns hierüber, Herr Ministerpräsident, eng abstimmen. (Kohl, S.-2) 19. Im Geiste der Verständigung und Versöhnung … wollen wir, Herr Ministerpräsi‐ dent, jetzt unseren Vertrag unterzeichnen. (Kohl, S.-4) Diese beiden genannten Typen der Praktiken zur Herstellung der Wir-Gruppe lassen sich bei Bielecki allerdings nur vier Mal belegen. Bundeskanzler Kohl verwendet Wir auch, um nur auf die sprechende Person zu referieren, die metonymisch für die Bundesregierung steht und die Angesprochen ausschließt: 20. Wir sehen es deshalb als unsere besondere Verantwortung an, Polen auf seinem Reformweg nachhaltig zu unterstützen und an die europäische Gemeinschaft heranzuführen. (Kohl, S.-3) Praktiken der Vergemeinschaftung 315 <?page no="316"?> 21. Im Geist des neuen Europa regeln wir auch eine Frage, die uns lange Jahre bedrückt hat: die Frage der Minderheit. (Kohl, S.-3) 22. Meine Damen und Herren, mit unserem westlichen Nachbarn Frankreich haben wir vorgezeichnet, wie Völker den Schutt unheilvoller Geschichte beiseite Räumen und zu engen Freunden werden. Von diesem Vorbild lassen wir Deutsche uns auch gegenüber unseren polnischen Nachbarn leiten. (Kohl, S.-4) Darüber hinaus werden durch die beiden Politiker Konstruktionen mit dem Possessivpronomen unser verwendet, das sich auf beide Staaten und Gesell‐ schaften bezieht und eine expandierte Funktion aufweist. Es dominieren solche Konstruktionen wie „unsere Länder und Völker“, „unsere Beziehungen“, „unsere gemeinsame Geschichte“, „unser Kontinent“, „unsere Zukunft“. Auch hier ver‐ wendet Helmut Kohl unser in Bezug nur auf Deutschland, wie „unser westlicher Nachbar Frankreich“, „unser polnischer Nachbar“, „unsere besondere Verant‐ wortung“. Konstruktionen mit dem Adjektiv gemeinsam werden in beiden Redetexten verwendet, wobei dies bei der Rede des polnischen Regierungschefs häufiger vorkommt. Während Kohl von „der gemeinsamen Zukunft“, „gemein‐ samen Geschichte“, „gemeinsamen Freiheit“ und den „gemeinsamen Initiativen“ spricht, bezieht sich Bielecki auf ein „gemeinsames Europa“, „gemeinsame Interessen“, „gemeinsames Schicksal“ oder „gemeinsame Werte“. Als relevantes Verfahren, das den Praktiken zur Konstituierung der Wir-Gruppe zugeordnet wird, erachten wir die Konstruktionen mit der Ver‐ wendung der Ethnonyme, die sich auf Deutschland und die Deutschen sowie auf Polen und die Polen beziehen. Davon macht vor allem der polnische Ministerpräsidenten Gebrauch, der Bundeskanzler selten. Darunter zählen folgende Konstruktionen: (zwischen) Polen und Deutschen, (zwischen) Polen und Deutschland sowie polnisch-deutsche Nachbarschaft, polnisch-deutsche Zu‐ sammenarbeit, polnisch-deutsche Interessen, polnisch-deutsche Geschichte, das polnische und deutsche Volk, die polnische und deutsche Jugend, polnisch-deutsche Interessengemeinschaft, polnisch-deutsche Beziehungen oder polnisch-deutsche Grenze. Es ist nicht das Ziel der Arbeit, auf die idiolektale Bedingtheit der von den beiden Sprechern verwendeten Praktiken zur Konstitution der Wir-Gruppe einzugehen. Wichtig ist aber, dass sie trotz der unterschiedlichen sprachlichen Realisierungen ähnliche kommunikative und politische Funktionen aufweisen. Auch wenn die Wir-Konstruktionen semantisch und politisch vage und die Konstruktionen mit der Verwendung der Ethnonyme konkreter wirken mögen, ergeben sich diese Unterschiede auch aus dem Einsatz unterschiedlicher sprach‐ licher Selbstdarstellungspraktiken der beiden Politiker. 316 Waldemar Czachur & Steffen Pappert <?page no="317"?> 6 Fazit Die zentrale Frage, die wir uns stellten, lautete, wie mit unterschiedlichen sprachlichen Vergemeinschaftungspraktiken zwischenstaatliche Beziehungen als freundschaftlich und gutnachbarschaftlich konzeptualisiert und aufge‐ baut werden. Dies wurde am Beispiel der politischen Erklärungen um den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag aus dem Jahre 1991 gezeigt. Aus linguistischer Perspektive wird das Konzept der zwischenstaatlichen freund‐ schaftlichen Beziehungsgestaltung als sprachlich-kommunikatives Phänomen betrachtet, das sich an den Prinzipien der souveränen Gleichheit der Staaten sowie der werte- und interessengeleiteten Diplomatie orientiert. Wir gingen davon aus, dass mit der Phase der Instanziierung der bilateralen Beziehungen, also mit der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages, diese Beziehungen politisch als solche konstituiert werden. Als zentrale Text‐ sorten, die hier beziehungsgestalterisch wirksam waren, galten der Vertrag über die gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit als ein internationaler Staatsvertrag sowie die politischen Erklärungen, mit denen die politischen Akteure Helmut Kohl und Jan Krzysztof Bielecki den Vertrag innen- und außenpolitisch legitimieren und die auf eine konsensstiftende, identifika‐ tions- und solidaritätsfundierende sowie handlungsmotivierende Wirkung, also auf die Herstellung von Vergemeinschaftung abzielen. Denn im diplomatischen Diskurs werden die Staaten personifiziert und als gleichberechtigte Partner dargestellt, auch wenn das politische bzw. wirtschaftliche Gewicht der Länder unterschiedlich sein mag. So geschehen auch im Jahr 1991, als politische Vertreter: innen des starken vereinten Deutschland und des schwachen Polens den Vertrag verhandelten. Nichtdestotrotz wurden während der Unterzeich‐ nungszeremonie zwischen den Regierungschefs Symmetrie, Partnerschaft und Freundschaft auf der persönlichen wie institutionellen Ebene betont. Dies ergibt sich auch aus dem Prinzip souveräner Gleichheit der Staaten. Aus diesem Grund spielten die Praktiken der Vergemeinschaftung eine zentrale Rolle, denn mit ihnen konnte die Freundschaft zwischen Deutschland und Polen deklariert und inszeniert werden. Wir haben uns dabei auf die Praktiken der sprachlichen Konzeptualisierung des Vertrages mittels der WEG- und GEBÄUDE-Metaphern, die Praktiken der Zuschreibung von Funktionen für den Vertrag sowie auf die Praktiken zur Konstruierung einer Wir-Gruppe konzentriert mit der Überzeugung, dass diese als geeignete Mittel der bilateralen Vergemeinschaftung anzusehen sind. Die Vergemeinschaftung erfolgt also da‐ durch, dass die beiden Politiker den Nachbarschaftsvertrag in seiner rechtlich und politisch beziehungskonstituierenden Funktion als ein Instrument konzep‐ Praktiken der Vergemeinschaftung 317 <?page no="318"?> tualisieren, mit dem der radikale Wandel, verstanden als Weg von Feindschaft und Gleichgültigkeit zur Versöhnung, Verständigung und Freundschaft, in den deutsch-polnischen Beziehungen möglich werden sollte. Auch die Argumentati‐ onsstrukturen in den beiden Erklärungen, mit denen dem Vertrag eine politische Funktion im bilateralen und transnationalen Kontext zugewiesen wird, weisen weitgehende Konvergenzen auf. Die ähnlichen Praktiken der Konstruktion einer Wir-Gruppe sind ein weiteres Indiz dafür, dass die Realisierung einer guten Nachbarschaft und freundschaftlicher Zusammenarbeit bei beiden Politikern einen hohen Stellenwert einnimmt. Die sprachlich konstruierte und diskursiv erzeugte Freundschaft in den deutsch-polnischen Beziehungen, die hier vor allem als politischer Wandel aufgefasst wird, dient in dem Zusammenhang zudem als ein Referenzpunkt für die Realisierung der eigenen Interessen der beiden Staaten sowie für die Be‐ gründung, dass mit den gemeinsamen Zukunftsszenarien auch das Trennende aus der Vergangenheit abgeschlossen wird. Diese sprachlichen und kommu‐ nikativen Praktiken der Vergemeinschaftung galten in den Umbruchsjahren tatsächlich als ein Ausdruck der authentischen Euphorie, aber zugleich auch der politischen Synchronisierungsillusionen (vgl. Weber 2022: 193), die sich heute in der Agonalität in den deutsch-polnischen Beziehungen manifestiert (vgl. Kaczmarek 2018, Arendarska/ Łada-Konefał/ Sendhardt 2022, Pociask 2023). Bibliografie Quellen (Erklärungen) Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit. 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Zugrunde gelegt wird dabei ein sehr weites Verständnis des Phänomens Text, das über traditionelle Textbegriffe hinausgehend Aspekte von Multimodalität und Hypermedialität, Kategorien der Wahrnehmbarkeit von Texten (Lokalität, Materialität, Medialität) oder ihre Bedeutung als sichtbare öffentliche Zeichen im urbanen Raum einschließt. Gefragt sind neben Beiträgen zur methodologischen Fundierung und terminologischen Präzisierung interdisziplinärer Textforschung vor allem empirische Beiträge quantitativer wie qualitativer Natur, die Einblicke in die Textwelten und textuellen Praktiken verschiedener gesellschaftlicher Domänen geben. Von besonderer Relevanz sind kontrastiv ausgerichtete Untersuchungen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen unterschiedlichen Textkulturen herausarbeiten. Dabei ist die Reihe nicht nur offen für die verschiedenen Strömungen der germanistischen Textlinguistik, sondern auch für Arbeiten anderer Philologien, die sich dem Gegenstand Text widmen. Bisher sind erschienen: Band 1 Kirsten Adamzik/ Wolf-Dieter Krause (Hrsg.) Text-Arbeiten Textsorten im fremd- und muttersprachlichen Unterricht an Schule und Hochschule 2005 255 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6155-8 Band 2 Maximilian Scherner, Arne Ziegler Hrsg.) Angewandte Textlinguistik Perspektiven für den Deutsch- und Fremdsprachenunterricht 2005, 274 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6169-5 Band 3 Georg Weidacher Fiktionale Texte - Fiktive Welten Fiktionalität aus textlinguistischer Sicht 2006, 165 Seiten €[D] 39,90 ISBN 978-3-8233-6254-8 Band 4 Sabine Schmölzer-Eibinger/ Georg Weidacher (Hrsg.) Textkompetenz Eine Schlüsselkompetenz und ihre Vermittlung 2007, 320 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6360-6 <?page no="324"?> Band 5 Sabine Schmölzer-Eibinger Lernen in der Zweitsprache Grundlagen und Verfahren der Förderung von Textkompetenz in mehrsprachigen Klassen 2011, 265 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-7649-1 Band 6 Marianne Grove Ditlevsen/ Peter Kastberg/ Christiane Pankow (Hrsg.) Sind Gebrauchsanleitungen zu gebrauchen? Linguistische und kommunikativ-pragmatische Studien zu skandinavischen und deutschen Instruktionstexten 2009, 166 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6406-1 Band 7 Katja Kessel Die Kunst des Smalltalks Sprachwissenschaftliche Untersuchungen zu Kommunikationsratgebern 2009, 291 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6473-3 Band 8 Peter Klotz/ Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher (Hrsg.) Kontexte und Texte Soziokulturelle Konstellationen literalen Handelns 2010, 346 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6490-0 Band 9 Heinrike Fetzer Chatten mit dem Vorstand Die Rolle der unternehmensinternen Kommunikation für organisatorischen Wandel im Unternehmen 2010, 387 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6574-7 Band 10 Raúl Sánchez Prieto Unternehmenswebseiten kontrastiv Eine sprachwissenschaftlich motivierte und praxisorientierte Vorgehensweise für eine kontrastive Analyse deutscher, spanischer und französischer Unternehmenswebseiten 2011, 140 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6622-5 Band 11 Magnus Pettersson Geschlechtsübergreifende Personenbezeichnungen Eine Referenz- und Relevanzanalyse an Texten 2011, 222 Seiten €€[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6623-2 Band 12 Jakob Wüest Was Texte zusammenhält Zu einer Pragmatik des Textverstehens 2011, 281 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6642-3 Band 13 Jan Engberg/ Carmen Daniela Maier/ Ole Togeby (Hrsg.) Reflections upon Genre Encounters between Literature, Knowledge, and Emerging Communicative Conventions 2014, 232 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6817-5 Band 14 Vijay K. Bhatia/ Eleonora Chiavetta/ Silvana Sciarrino (Hrsg.) Variations in Specialized Genres Standardization and Popularization 2015, 293 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6833-5 <?page no="325"?> Band 15 Heike Ortner Text und Emotion Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele emotionslinguistischer Textanalyse 2014, 495 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-6910-3 Band 16 Susanne Göpferich Text Competence and Academic Multiliteracy From Text Linguistics to Literacy Development 2015, 321 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6934-9 Band 17 Marianne Franz Die katholische Kirche im Pressediskurs Eine medienlinguistische Untersuchung österreichischer und französischer Tageszeitungen 2017, 503 Seiten €[D] 49,99 ISBN 978-3-8233-8025-2 Band 18 Jakob Wüest Comment ils ont écrit l‘histoire Pour une typologie des textes historiographiques 2017, 434 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8178-5 Band 19 Kirsten Adamzik/ Mateusz Maselko (Hrsg.) VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik 2018, 336 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8203-4 Band 20 Kirsten Adamzik/ Mikaela Petkova- Kessanlis (Hrsg.) Stilwechsel und ihre Funktionen in Textsorten der Fach- und Wissenschaftskommunikation 2020, 408 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8223-2 Band 21 Susanne Kabatnik Leistungen von Funktionsverbgefügen im Text Eine korpusbasierte quantitativqualitative Untersuchung am Beispiel des Deutschen und des Polnischen 2020, 385 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8421-2 Band 22 Alessandra Alghisi Deutsche und italienische Verwaltungssprache im digitalen Zeitalter Textlinguistische Untersuchungen zu kommunikativen Praktiken der öffentlichen Verwaltung in der Schweiz 2022, 547 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8522-6 Band 23 Nina-Maria Klug/ Sina Lautenschläger (Hrsg.) True Love Sprache(n) der Liebe in Text und Gespräch 2024, 322 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8598-1 Band 24 Steffen Pappert/ Kersten Sven Roth (Hrsg.) Zeitlichkeit in der Textkommunikation 2023, 224 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-8233-8612-4 <?page no="326"?> ISBN 978-3-8233-8598-1 Europäische Studien zur Textlinguistik 23 Europäische Studien zur Textlinguistik Dieser Band befasst sich mit einem alltäglichen, zugleich aber gesellschaftlich hochrelevanten Phänomen: der Liebe. In den Beiträgen werden unterschiedliche Beziehungskonstellationen in den Blick genommen, sei es die Beziehung zu geliebten Menschen, die Beziehung zu Tieren, aber auch die Beziehung zwischen Nationen. Die empirische Basis reicht von politischen Dokumenten, Kinderbüchern, Hochzeitsvideos und Opern über romantische Filmdramen, Zoo-Doku- Soaps, Dating-Ratgeber und Trauer-Foren bis hin zu kleinen Texten am Grab. Zentral sind dabei u.a. folgende Fragen: Wie wird Liebe sprachlich und multimodal hergestellt, verhandelt und gefestigt? Wie wird sie kommunikativ gep egt - auch über den Tod hinaus? Gemeinsam ist allen Beiträgen das Anliegen, Muster der aktuellen wie historischen Liebesbzw. Beziehungskommunikation herauszuarbeiten. Klug / Lautenschläger (Hrsg.) Nina-Maria Klug / Sina Lautenschläger (Hrsg.) True Love Sprache(n) der Liebe in Text und Gespräch True Love