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Zwischen Eros und Agape

Das paulinisch-augustinische Liebeskonzept beim Arcipreste de Hita

0904
2023
978-3-8233-9606-2
978-3-8233-8606-3
Gunter Narr Verlag 
Anna Waldschütz
10.24053/9783823396062

Diese Studie behandelt das Libro de Buen Amor im Horizont der christlichen Theologiegeschichte, wobei der Fokus sowohl auf der neutestamentlichen Exegese und der Patristik als auch auf der abendländischen Begriffsgeschichte von Eros und Agape liegt. Es wird dargelegt, wie der Liebesbegriff im autoritativen christlichen Schrifttum selbst polysem und damit zum hermeneutischen Problem wird. So kann das Verhältnis von buen amor und loco amor im Werk des Arcipreste neu bestimmt und über bisherige Deutungen hinausgegangen werden, indem die Herleitung aus einer patristisch-platonischen und dem lateinischen Westen bestens bekannten Tradition neu beleuchtet wird, die sich mit Paulus, Origenes, Dionysius Areopagita und insbesondere mit Augustinus sowie mit deren zahlreichen Nachfolgern bis ins Mittelalter hinein verbindet.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-8233-8606-3 Diese Studie behandelt das Libro de Buen Amor im Horizont der christlichen Theologiegeschichte, wobei der Fokus sowohl auf der neutestamentlichen Exegese und der Patristik als auch auf der abendländischen Begriffsgeschichte von Eros und Agape liegt. Es wird dargelegt, wie der Liebesbegriff im autoritativen christlichen Schrifttum selbst polysem und damit zum hermeneutischen Problem wird. So kann das Verhältnis von buen amor und loco amor im Werk des Arcipreste neu bestimmt und über bisherige Deutungen hinausgegangen werden, indem die Herleitung aus einer patristisch-platonischen und dem lateinischen Westen bestens bekannten Tradition neu beleuchtet wird, die sich mit Paulus, Origenes, Dionysius Areopagita und insbesondere mit Augustinus sowie mit deren zahlreichen Nachfolgern bis ins Mittelalter hinein verbindet. Waldschütz Zwischen Eros und Agape Anna Waldschütz Zwischen Eros und Agape Das paulinisch-augustinische Liebeskonzept beim Arcipreste de Hita <?page no="1"?> Zwischen Eros und Agape <?page no="2"?> Studia philologica Monacensia Edunt Andreas Dufter et Bernhard Teuber Volumen 24 · 202 3 Comité scientifique - Advisory Board - Wissenschaftlicher Beirat Lina Bolzoni (Scuola Normale Superiore di Pisa) Anthony Cascardi (University of California at Berkeley) Pedro Cátedra (Universidad de Salamanca) Victoria Cirlot (Universitat Pompeu Fabra, Barcelona) Marie-Luce Démonet (Université François Rabelais, CESR, Tours) Carlos Garatea Grau (Pontificia Universidad Católica del Perú, Lima) Barbara Kuhn (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) Frank Lestringant (Université Paris-Sorbonne) María Jesús Mancho Duque (Universidad de Salamanca) Wolfgang Matzat (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) Paulo de Sousa Aguiar de Medeiros (University of Warwick) Wolfram Nitsch (Universität zu Köln) Uli Reich (Freie Universität Berlin) Maria Selig (Universität Regensburg) Elisabeth Stark (Universität Zürich) Collegium consultorum <?page no="3"?> Anna Waldschütz Zwischen Eros und Agape Das paulinisch-augustinische Liebeskonzept beim Arcipreste de Hita <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823396062 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2365-3094 ISBN 978-3-8233-8606-3 (Print) ISBN 978-3-8233-9606-2 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0491-3 (ePub) Umschlagabbildung: Guidoccio Cozzarelli: Die heilige Katharina von Siena tauscht ihr Herz mit Christus, um 1485, Pinacoteca Nazionale di Siena, Inv.-Nr. 445. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Für meinen Vater <?page no="7"?> I 11 I.1 11 I.2 13 II 19 II.1 19 II.2 25 II.3 30 III 33 III.1 35 III.2 36 III.2.1 37 III.2.2 39 III.2.3 41 III.2.4 43 III.2.5 44 III.2.6 46 III.2.7 48 III.2.7.1 49 III.2.7.2 55 III.2.8 56 III.2.8.1 57 III.2.8.2 61 Inhalt Forschungsfragen und Herangehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herangehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Person des Juan Ruiz und warum ihm Paulus als Vorbild gedient haben könnte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Biographie“ des Juan Ruiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Mögliche Parallelen zwischen Paulus und dem Erzpriester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gefangenschaftsmetapher - weitere Interpretationsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext Theorien und Vorstellungen von Liebe im christlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eros und agape nach Nygren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agape . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuplatonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eros und agape in der nachapostolischen Zeit und bei den Apologeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gnostizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die alexandrinische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Origenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Origenesʼ Hoheliedkommentar . . . . . . . . . Der Liebesbegriff bei Origenes nach Nygren . . . . . Augustin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Der Liebesbegriff bei Augustin nach Arendt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Liebesbegriff bei Augustin nach Nygren . . . . . <?page no="8"?> III.2.9 67 III.2.9.1 67 III.2.10 70 III.3 77 III.3.1 78 III.3.2 80 III.3.3 84 III.3.4 112 III.4 120 IV 125 IV.1 125 IV.2 127 IV.2.1 128 IV.2.1.1 128 IV.2.1.2 143 IV.2.1.3 146 IV.2.2 151 IV.2.3 159 IV.3 161 IV.3.1 162 IV.3.2 165 IV.3.3 173 V 177 V.1 178 V.1.1 191 V.1.2 192 V.2 201 V.3 206 Dionysius vom Areopag (Pseudo-Dionysius) . . . . . Exkurs: Der Liebesbegriff bei Dionysius vom Areopag nach Suchla . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der christliche Liebesbegriff im Mittelalter . . . . . . Anwendung auf das Libro de buen amor . . . . . . . . . . . . . . . . Bisherige Interpretationen von loco amor und buen amor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zählung einschlägiger Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffserläuterungen und Interpretationen . . . . . Eros und agape im Libro de buen amor . . . . . . . . . . Sünde, Reue, Buße, Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allegorien der weltlichen Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ovide moralisé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Darstellung von Amor und Venus in De amore und dem Roman de la rose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . De amore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Roman de la rose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Don) Amor und (Doña) Venus im Libro de buen amor, De amore und dem Roman de la rose im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Don Amor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doña Venus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Planetenkinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung der Theorie über die Planetenkinder . Die sieben Planeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Planet Venus im Libro de buen amor und der Arcipreste als Kind der Venus . . . . . . . . . . . . . . . . . Liebesbeziehungen im Libro de buen amor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doña Endrina und Don Melón . . . . . . . . . . . . . . . . . Doña Garoza und Don Polo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kupplerin(nen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tod versus Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> VI 211 VI.1 211 VI.2 213 VI.3 216 VI.4 221 VII 227 VIII 231 235 IX 237 IX.1 237 IX.2 240 IX.3 247 IX.4 247 IX.5 247 Kämpfe im Libro de buen amor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Streit um das rechte Verständnis - Römer versus Griechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Streit um das Gewissen - Don Amor versus den Erzpriester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Streit um das rechte Verhalten - Don Carnal versus Doña Cuaresma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Streit um den rechten Glauben - Der „gute Kampf “ der Christen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfsmittel und Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetseiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="11"?> 1 Carmelo Gariano: El mundo poético de Juan Ruiz, Madrid: Editorial Gredos 2 1974, p.-9. 2 Cf. Anthony N. Zahareas: The Art of Juan Ruiz, Archpriest of Hita, Madrid: Estudios de Literatura Española 1965, p.-24. 3 Die Ausführungen zur Begriffsgeschichte für eros und amor folgen in Kapitel II.2. I Forschungsfragen und Herangehensweise 1974 leitete Carmelo Gariano sein Werk El mundo poético de Juan Ruiz mit folgenden Worten ein: He aquí un nuevo estudio sobre Juan Ruiz…, pese a que hay ya bastantes, y quizá de sobra. Pero eso no quiere decir que queda interrumpido el diálogo interior entre el antiguo vate y el estudioso moderno. Todo diálogo mental es búsqueda, y, por ser tal, puede llegar a ser descubrimiento. 1 In dieser Aussage steckt viel Wahrheit. Es gab damals bereits sehr viel Literatur zum Libro de buen amor (LBA) und auch nach 1974 wurde noch mehr dazu geforscht und veröffentlicht, aber die Suche ist noch nicht abgeschlossen und lässt uns immer wieder Neues entdecken. I.1 Forschungsfragen Diese Dissertation will einen Beitrag zur Forschung leisten, indem folgende Fragen beantwortet werden: Welchen Liebesbegriff verwendet der Erzpriester? Diese Frage scheint nicht neu zu sein, schließlich haben sie sich zuvor schon andere Literaturwissenschaftler: innen gestellt. Der Unterschied zwischen ihren Analysen und der vorgelegten Dissertation liegt aber darin, dass hier der Liebesbegriff des Erzpriesters auf seinen christlichen Ursprung hin untersucht und mit den Erzählungen des LBA in Verbindung gebracht wird, sodass sich eine bislang noch nicht erforschte Perspektive ergibt. Dies stellt uns allerdings schon vor weitere Fragen: Warum verwendet der Arcipreste ausgerechnet den Begriff „amor“ und auch noch „buen amor“? Wie die nächsten Kapitel zeigen werden, könnte die Gottesliebe ganz andere Namen tragen. Gottesliebe wurde vor dem LBA nie als „buen amor“ bezeichnet. 2 Warum muss also ein solcher Begriff verwendet werden, v. a. da er ein gewisses Streben 3 in sich trägt? <?page no="12"?> 4 Cf. Laurenz Volkmann: „Dialogizität“, in: Ansgar Nünning ed.: Metzler Lexikon Lite‐ ratur- und Kulturtheorie, Stuttgart: J.B. Metzler 4 2008, pp. 127 sq. 5 Cf. Juan Ruiz, Arcipreste da Hita: Libro de buen amor, vol. 1 et 2, ed. Jaques Joset, Madrid: Espasa-Calpe S.A. 1974, cc. 181-575. 6 Cf. ibid., cc. 1210-1314. Handelt es sich bei der Definition der Liebe im LBA um den paulinischen Liebesbegriff? Diese Frage ist für die hier vorgelegte Untersuchung zentral. Bei genauerem Hinsehen scheint der Erzpriester eine stark dualistisch geprägte Auffassung von der rechten Lebensführung zu haben, d. h. er unterscheidet klar zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht, rechter und törichter Liebe. Diese Dichotomie ist auch unter den frühchristlichen Autoren und v. a. bei Paulus zu finden. Geht man einen Schritt weiter, findet man in den Paulusbriefen diverse Regeln und Vorgaben, die auch im LBA auftauchen, sodass nun untersucht werden soll, welcher Zusammenhang zwischen den Paulusbriefen und dem LBA besteht. Ist die weltliche Liebe im LBA erlaubt? So heiter und humorvoll der Erzpriester an die Schilderungen seiner Liebes‐ abenteuer herangeht, so deutlich sind auch seine Warnungen vor Verfehlungen und sündhaftem Handeln. Mittels Dialogizität 4 führt er uns verschiedene Stand‐ punkte und Anschauungsmöglichkeiten vor, sodass die Antwort auf die Frage, ob weltliche Liebe erlaubt ist, und wenn ja, in welchem Rahmen, zunächst nicht leicht ersichtlich scheint. Die weltliche Liebe ist weder beim Erzpriester noch in der (mittelalterlichen) christlichen Kirche gänzlich als sündhaft zu verteufeln. Schließlich - und auch darauf wird im Verlauf dieser Arbeit näher eingegangen - hat Gott Mann und Frau füreinander geschaffen sowie zur Fruchtbarkeit und gegenseitigen Unterstützung auf Basis von Zuneigung aufgerufen. Es stellt sich daher die Frage, wie der Erzpriester zur weltlichen Liebe an sich steht, und ob es eine ehrbare, vertretbare Variante gibt. Welche Rolle spielen Don Amor und Doña Venus im LBA? Die beiden Götter der römischen Mythologie sind im LBA sehr präsent. Das Streitgespräch zwischen dem Erzpriester und Don Amor nimmt verhältnis‐ mäßig viel Platz ein. 5 Als siegreicher Feldherr zieht der Liebesgott mit Don Carnal nach dem Sieg über die Fastenzeit durch die Lande, was überbordender Beschreibungen nicht entbehrt. 6 Doña Venus begegnet den Leser: innen nicht nur als Gesprächspartnerin des Erzpriesters, bevor dieser bzw. sein Alter Ego sich in sein erstes „erfolgreiches“ Liebesabenteuer begibt, sondern sie leitet ihn, 12 I Forschungsfragen und Herangehensweise <?page no="13"?> 7 Cf. ibid., cc. 576-652, 123-165. 8 Cf. ibid., cc. 608 sq. 9 Cf. Kapitel II.1. 10 Cf. Juan Ruiz, Arcipreste de Hita: Libro de Buen Amor, ed. María Brey Mariño, Madrid: Editorial Castilia, S. A. 1967. 11 Cf. Juan Ruiz, Arcipreste de Hita: Libro de Buen Amor, ed. Hans Ulrich Gumbrecht, München: Wilhelm Fink Verlag 1972 (Hans R. Jauss/ Erich Köhler edd.: Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben, vol. 10). 12 Cf. Juan Ruiz, Arcipreste de Hita: Libro de buen amor, vol. 1 et 2, ed. Jaques Joset, Madrid: Espasa-Calpe S. A. 1974. der sich als „Kind der Venus“ sieht, in Liebesdingen an. 7 V. a. erstaunt aber die Konstellation, in der die beiden Götter gemeinsam auftreten: Anders als in der römischen Mythologie sind sie hier nicht Mutter und Sohn, sondern ein Ehepaar. 8 Was der Erzpriester mit dieser Darstellung im Sinn gehabt haben könnte, verdient eine genauere Untersuchung. Welche Rolle die Götter spielen - jeder für sich und beide als Paar - wird hier ebenfalls analysiert. Dabei interessiert v.-a., wie sie zur Definition des Liebesbegriffs beitragen. Außerdem soll ein weiterer Punkt untersucht werden, der die Wissenschaft schon lang beschäftigt: Wer war Juan Ruiz? Da es nach wie vor nur vage Hinweise auf die historische Person Juan Ruiz, Erzpriester von Hita, gibt 9 , wird hier nicht gänzlich geklärt werden können, wer er war, wo er herkam und was aus ihm wurde. Aber es soll ein Versuch unternommen werden, anhand neuer Informationen mehr über ihn zu erfahren, sodass irgendwann vielleicht das Rätsel um seine Person gelöst werden kann. I.2 Herangehensweise Vom LBA selbst gibt es verschiedene Ausgaben. Neben den zahlreichen altspa‐ nischen gibt es auch die neuspanische Übersetzung 10 und - für die deutschen Leser: innen eine hilfreiche Stütze - die zweisprachige Ausgabe, erstellt von Hans Ulrich Gumbrecht 11 . Für die Zitate in dieser Dissertation wurde die Ausgabe von Jaques Joset aus dem Jahr 1974 12 gewählt, weil diese sich in der bisherigen Forschung als eine der am besten recherchierten und kommentierten etabliert hat. Das LBA wurde in der Vergangenheit von zahlreichen Literaturwissen‐ schaftler: innen untersucht. Hierbei standen die unterschiedlichsten Gesichts‐ punkte im Zentrum der Analysen. Anthony N. Zahareas zum Beispiel kon‐ zentrierte sich u. a. auf die Struktur des LBA, die Rolle des Erzählers bzw. I.2 Herangehensweise 13 <?page no="14"?> 13 Cf. Anthony N. Zahareas: op. cit. 14 Cf. Jaques Joset: Nuevas investigaciones sobre el „Libro de buen amor“, Madrid: Cátedra Crítica y estudios literarios 1988. 15 Cf. inter alia Leo Spitzer: „Zur Auffassung der Kunst des Arcipreste de Hita“, Zeitschrift für romanische Philologie, 54 (1934), 237-270. 16 Cf. Ulrich Leo: Zur dichterischen Originalität des Arcipreste de Hita, Frankfurt: Vittorio Klostermann 1958. 17 Cf. inter alia María R. Lida de Malkiel: „Nuevas notas para la interpretación del Libro de buen amor“, NRFH, vol. 13 (1959), 17-82. 18 Die Bezugnahmen des Arcipreste auf die hier gelisteten antiken Autoren werden in den entsprechenden Kapiteln dieser Dissertation genauer analysiert. 19 Cf. Kapitel IV.2.1.3. 20 Cf. Michel Foucault: Die Sorge um sich, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2012 (id.: Sexualität und Wahrheit, vol. 3). 21 Anders Nygren: Eros und Agape - Gestaltwandlungen der christlichen Liebe, vol. 1, Gü‐ tersloh: C. Bertelsmann 1930; id.: Eros und Agape - Gestaltwandlungen der christlichen Liebe, vol. 2, Gütersloh: „Der Rufer“ Evangelischer Verlag 1937. Kommentators und die Übernahme bis dahin tradierter Erzähltechniken. 13 Joset hat in seinen Kommentaren zum LBA und seiner zweiten Auseinandersetzung mit dem Werk 14 wichtige Erläuterungen aufgeführt, die für das Verständnis des komplexen Textes unerlässlich sind. Auch die Äußerungen Leo Spitzers 15 , Ulrich Leos 16 und María Rosa Lida de Malkiels 17 dürfen in einer erneuten Untersuchung des LBA nicht vergessen werden. Die bisherigen Ansätze werden hier mit modernen theoretischen Ansätzen und zum Teil kürzlich erschienenen Publi‐ kationen zum LBA kombiniert, weitergeführt und, wenn notwendig, kritisch hinterfragt. Untersucht werden außerdem die im LBA explizit und implizit zitierten Quellen sowie sein theologischer Inhalt. Es geht hier um die teils ironische, teils ernste Verarbeitung und Anwendung paulinischer bzw. christlicher Werte und Lehren. Da diese u. a. auf platonischen Ideen fußen, dürfen Platon und sein Symposion hier nicht fehlen. Des Weiteren werden die im LBA explizit zitierten Werke der Antike herangezogen, u. a. Ovid und natürlich die Bibel. 18 Zudem gibt es auch implizit zitierte Werke, die hier ebenfalls berücksichtigt werden müssen, z. B. Plutarch. 19 Die Kombination der Werke aus der Antike, der älteren Forschung aus dem 20. Jahrhundert sowie Hintergründe, wie sie z. B. Michel Foucault 20 liefert, soll neben der Beantwortung der oben genannten Fragen auch zum Ziel haben, diesen Klassiker der spanischen Literatur in neuem Glanz erscheinen zu lassen. Besonders hilfreich sind Anders Nygrens Ausführungen zu eros und agape, die - ergänzt durch weitere Standpunkte zu einzelnen Etappen innerhalb der Begriffsgeschichte - einen Einblick in die Entwicklung des christlichen Liebesbegriffs liefern. 21 Es gilt zu erläutern, wie 14 I Forschungsfragen und Herangehensweise <?page no="15"?> 22 Cf. LBA, Prosaprolog. 23 Cf. Kapitel III.3.3. 24 Cf. LBA, cc. 4, 6. 25 Cf. Gérard Genette: Die Erzählung, München: Wilhelm Fink Verlag 1998, p.-175. platonische Ideen und Werte Einzug in das christliche Gedankengut gefunden haben, wie sie verstanden wurden und wie sie sich v. a. durch Paulus und die Kirchenväter entwickelt haben. So soll gezeigt werden, unter welchen Einflüssen der Erzpriester gestanden haben könnte, als er das LBA verfasste, und wie sich dieser Liebesbegriff bei ihm darstellt. Allerdings sagt uns der Erzpriester ganz deutlich, dass es darum geht, zwischen den Zeilen zu lesen und den „rechten“ Sinn zu verstehen 22 , wobei es davon abhängt, was die Leser: innen als richtig erachten bzw. was sie suchen - und sie ggf. zum Umdenken zu inspirieren, denn der Erzpriester selbst kennt seine Definition von „richtig“. 23 Die Werke eines Gonzalo de Berceo, einer Teresa de Ávila oder San Juan de la Cruz würden sicherlich weitere Vergleichsmöglichkeiten liefern. Dennoch werden diese hier nicht erwähnt, weil es nicht um einen Vergleich mit diesen Werken geht - zumal es immer schwierig zu beurteilen ist, inwieweit ein: e Autor: in des Mittelalters die Werke anderer Autor: innen kannte. Oft lassen sich eklatante Parallelen erkennen, manchmal müssen Ähnlichkeiten mit Mühe herausgefiltert werden. Unterschiede fallen leicht auf, allerdings bleibt dann zuweilen die Frage im Raum stehen, ob es sich um eine absichtlich eingenom‐ mene Kontraposition handelt oder ob die Disparität eher zufällig entstanden ist. Darum wurde der Teil, der sich mit Vergleichen zu anderen Werken der Liebeslehre beschäftigt, bewusst kurzgehalten. So werden der Roman de la rose (RR) und De amore (DA) als Beispiele für weitere Darstellungen der weltlichen und geistlichen Liebe herangezogen, in denen Amor und Venus auftauchen und die die Leserschaft, wenn auch zum Teil auf Umwegen, zu unsittlichem Handeln auffordern. Drei grundlegende Anmerkungen sollen die Lektüre dieser Dissertation erleichtern: Es handelt sich um das absichtliche Umgehen der Bezeichnungen „Autor“ und „Erzähler“, den Gebrauch der Begriffe „Ironie“ und „Humor“ sowie den Ausdruck „Leser: innen“ für das Publikum des Arcipreste. Die Unterscheidung zwischen „Autor“, „Erzähler“ bzw. „Erzählinstanzen“ kann bei der literaturwissenschaftlichen Analyse eines Werks neue Perspek‐ tiven eröffnen. Im LBA erscheint der Erzpriester, der als Autor des LBA be‐ zeichnet wird, einerseits selbst als Erzähler, z. B. wenn er gleich zu Beginn Gott anfleht, er möge ihn aus seinem Gefängnis befreien 24 . Mit Gérard Genette gesprochen, ist ein Erzähler, der in seiner eigenen Geschichte auftaucht, ein homodiegetischer Erzähler. 25 Andererseits gibt sich der Erzpriester in der End‐ I.2 Herangehensweise 15 <?page no="16"?> 26 Cf. LBA, cc. 653-891, 1332-1507. 27 Cf. Gérard Genette: op. cit., p.-178. 28 Cf. ibid.; LBA, cc. 1650-1660, 1710-1728, 1690-1709. 29 Cf. Uwe Japp: Theorie der Ironie, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 3 2021, pp. 38-43. 30 Cf. Gerd Althoff, Christel Meier: Ironie im Mittelalter: Hermeneutik - Dichtung - Politik, Darmstadt: WBG 2011, p.-22. 31 Cf. Ernst Behler: „Ironie/ Humor“, in: Ulfert Ricklefs ed.: Fischer Lexikon Literatur, vol. 2, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2002, pp. 810-841, ibid. pp. 818 sq. 32 Cf. LBA, cc. 1332-1507. 33 Cf. ibid., cc. 1333-1338. rinasowie der Garoza-Episode jeweils einen neuen Namen, nämlich Don Melón bzw. Don Polo. 26 In beiden Fällen bleibt er aber Ich-Erzähler, also ein intradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler 27 . Im Scholarengesang und in den Blindengesängen sowie dem Klagelied der Kleriker von Talavera müsste man von einem extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler 28 sprechen usw. So be‐ inhaltet das gesamte LBA verschiedene Erzählertypen. Die Ausdifferenzierung des jeweils zur Passage passenden Typs wäre zwar möglich, allerdings würde dies vom eigentlichen Thema, der Untersuchung des Liebesbegriffs, ablenken. Daher wird vom „Erzpriester“ bzw. dem „Arcipreste“ gesprochen, ohne auf die jeweilige Unterscheidung nach Genette einzugehen. Lediglich in Kapitel II wird kurz von dieser Vorgehensweise abgewichen, weil das Thema der ggf. biographischen Angaben des Autors im LBA dies notwendig macht. Der Begriff „Ironie“ wird hier im Sinne der Wortironie (antiphrasis) gebraucht. Wortironie bedeutet nach Uwe Japp, dass ein Sprecher etwas sagt, aber etwas anderes meint und trotzdem - im Gegensatz zur Lüge - verstanden werden will. 29 Laut Gerd Althoff und Christel Meier geht diese Definition der Ironie im Gegensatz zur Lüge auf Isidor von Sevilla und Donat zurück. 30 Der Erzpriester konfrontiert sein Publikum u. a. mit einer Form der Ironie, wie sie eigentlich erst in der Renaissance zutage tritt: Er vermengt Triviales mit Erhabenem, wie Friedrich Schlegel es bei William Shakespeare gesehen hat. 31 Ein Beispiel hierfür findet sich in den Strophen 372-387, die ein Teil der Invektive des Erzpriesters gegen Don Amor sind. Hier wirft der Erzpriester Don Amor vor, er nutze Kirchgänge, um eine Frau zur weltlichen Liebe zu überreden. Psalmenzitate und die Aufzählung von Stundengebeten gemischt mit der Verführungstaktik Don Amors lassen die Ironie hier deutlich werden. Weitere Ironiesignale, derer sich der Erzpriester bedient, sind Unter- und Übertreibung, wie wir sie z. B. in der Garoza-Episode finden 32 : Zu Beginn dieser Episode beschreibt Trotaconventos Nonnen als durchaus im Überfluss lebende und dem Liebesspiel keineswegs abgeneigte Damen, die ihre Verehrer mit Geschenken, Lebensmitteln aller Art sowie heilenden Kräutern verwöhnen. 33 Später wiederum versucht sie, Garoza 16 I Forschungsfragen und Herangehensweise <?page no="17"?> 34 Cf. ibid., cc. 1391-1394. 35 Urs Meyer: „Humor“, in: Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff edd.: Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart u. a.: Verlag J.B. Metzler 2007, pp. 332 sq., ibid. p.-332. 36 Ibid. 37 Ibid. von ihrem Verehrer zu überzeugen, indem sie ihr aufzeigt, wie elend und entbehrungsreich ein Leben ohne einen Mann an ihrer Seite sei. 34 Eng mit der Ironie verbunden, ist der Begriff des „Humors“. Humor wird hier im Sinne des „heitere[n], optimistische[n] Witz[es]“ 35 sowie als „tolerantes Inf‐ ragestellen geltender Konventionen“ 36 gebraucht. Es handelt sich beim Humor, im Gegensatz zur Ironie, nicht um ein Stilmittel, sondern um einen Gemütszu‐ stand und eine „variable Schreibweise, die sich verschiedener Techniken des Komischen bedient mit dem Ziel, die Diskrepanz zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem auszugleichen“ 37 . Da es sich also um eine Haltung handelt, könnte man sagen, die ironische Schreibweise des Erzpriesters drückt seinen Humor aus. Man muss davon ausgehen, dass das LBA sowohl (vor)gelesen als auch (in Teilen) als Theaterstück aufgeführt wurde, wie es im Mittelalter üblich war. Um hier aber den Lesefluss nicht unnötig zu stören, wird von den „Leser: innen“ bzw. „Rezipient: innen“ gesprochen, wenn das damalige sowie das heutige Publikum des Erzpriesters gemeint ist. Zu guter Letzt soll noch ein allgemeiner Hinweis zum Gebrauch des Titels Libro de buen amor gegeben werden: Da es im Spanischen „el libro“ heißt, könnte man im Deutschen von „der Libro de buen amor“ sprechen. Oder man sagt „das Libro de buen amor“ und verwendet dann den deutschen Artikel zu „Buch“. Da zwei der bekanntesten und ältesten deutschsprachigen Forscher: innen über das LBA, Hans Ulrich Gumbrecht und Leo Spitzer, „das Libro de buen amor“ sagen, schließe ich mich dieser Vorgehensweise an. Nach dieser kurzen Umschreibung des Themas ist es nun an der Zeit, in medias res zu gehen und aufzuzeigen, warum das LBA als ironische, aber doch äußerst ernstgemeinte Interpretation platonischer, paulinischer und augustini‐ scher bzw. patristischer Ideen zu verstehen ist. I.2 Herangehensweise 17 <?page no="19"?> 38 Anthony N. Zahareas: op. cit., p.-12. 39 Ibid., p.-11. II Die Person des Juan Ruiz und warum ihm Paulus als Vorbild gedient haben könnte Die Biographie eines Autors, sein Werdegang, seine Erfahrungen, seine Inte‐ ressen - alle Details, die ihn ausmachen - können Einfluss auf seine Werke nehmen. Auch wenn Juan Ruiz uns nur wenige Hinweise auf sich selbst als Person mitteilt, so erfahren wir doch zwischen den Zeilen einiges, was uns weitere Möglichkeiten eröffnet, das LBA zu interpretieren und zu verstehen. Neben den bereits erforschten Ansätzen und Theorien soll im Folgenden über die „Biographie“ des Autors ein neuer Zugang zum LBA untersucht werden, in der Hoffnung, auf diesem Wege die Facetten des Liebesbegriffs zu erweitern. II.1 „Biographie“ des Juan Ruiz Der Begriff „Biographie“ steht hier ganz bewusst in Anführungszeichen. Schließlich sind so wenige Details über das Leben des Juan Ruiz bekannt, dass man kaum eine ganze Biographie erstellen könnte. Dennoch wird diese Vokabel hier verwendet, weil nun versucht wird, nähere Einblicke in sein Leben zu gewinnen. Zunächst soll ein Blick auf die bisherige Forschung die Grundlage dieser Untersuchung bilden. Im Jahr 1965 veröffentlichte Anthony N. Zahareas seine Abhandlung The Art of Juan Ruiz, Archpriest of Hita, in welcher er verschiedene Aspekte des LBA untersuchte, unter anderem Juan Ruizʼ Äußerungen zur weltlichen Liebe, die für diese Dissertation besonders wichtig sind. Es geht ihm aber nicht nur um die Verwendung von Begriffen, sondern er behandelt auch die Frage nach der Identität des Autors bzw. wie es sein kann, dass ein vermeintlicher Geistlicher so deutlich über die weltliche Liebe schreibt. Das Besondere an seinen Ausführungen ist, dass es für ihn nicht nur den Erzähler gibt, sondern er ihn in seinen Doppelrollen als „Erzähler-Liebhaber“ („narratorlover“ 38 ) und „Erzähler-Kommentator“ („narrator-commentator“ 39 ) wahrnimmt. Diese Unterscheidung erleichtert die Interpretation des LBA ungemein, indem sie wie eine Art Kompromiss erscheint, die den Erzähler aus zwei Perspektiven zeigt: den Liebenden, der ebenso wie seine Leser: innen den Gesetzen der <?page no="20"?> 40 Cf. ibid., pp. 11-16. Dass die Unterscheidung zwischen dem Erzähler und dem Kom‐ mentator schwerfällt, weil die Kommentare offensichtlich widersprüchlich sind, ist laut Zahareas ein typisches Merkmal der mittelalterlichen Lehrdichtung, was besonders in c. 1628, in der zu Gebeten, Messen und Almosen aufgerufen wird, zum Ausdruck gebracht werden soll, denn den sehr weltlichen Schilderungen über die Liebe folgt ein umso deutlicheres Statement für die christliche Lebensweise. Cf. ibid., p.-39. 41 Cf. ibid., p.-20. 42 Cf. ibid., p. 14. Zahareas bezieht sich auf María R. Lida de Malkiel: „Nuevas notas“, p. 28; ead.: Two Spanish Masterpieces - The Book of Good Love and The Celestina, Illinois: University of Illinois Press Urbana 1961 (Harris F. Fletcher, John R. Frey, Philip Kolb edd.: Illinois Studies in Language and Literature, vol. 49), p.-26. 43 Gemeint sind hier die Begegnungen mit den Sennerinnen bzw. Gebirglerinnen, wie sie auch genannt werden. (Cf. LBA, cc. 950-1042.) 44 Cf. Leo Spitzer: „Kunst des Arcipreste“, p.-255. 45 Cf. id.: „The Prologue to the ,Lais‘ of Marie De France and Medieval Poetics“, Modern Philology, 41/ 2 (1943), 96-102. Natur unterworfen ist und sich seiner Sündhaftigkeit nicht erwehren kann, und den Kommentierenden, der weiß, dass sein Handeln nicht konform mit den christlichen Leitlinien geht und gleichzeitig v. a. auf zum Teil ironische Weise Anleitungen gibt, wie man auf den rechten Weg zurückfinden kann, wenn man sich einmal in die sündige Welt verirrt hat. 40 Zahareas gelingt es, die Komplexität wie auch die Komik des LBA auf den Punkt zu bringen: Für die meisten Kritiker: innen ist es der Kontrast zwischen dem Liebenden, der als liebenswürdig, ängstlich und manchmal auch naiv dargestellt wird, und dem Kommentator mit seinen klaren Moralvorstellungen, der sowohl die Vielschichtigkeit als auch die Ironie des LBA ausmacht. 41 Zahareas beruft sich u. a. auf María Rosa Lida de Malkiel, wenn er erläutert, dass der Erzpriester die Form des Ich-Erzählers wohl gewählt hat, um Nähe zu den Leser: innen zu schaffen, also um ihnen als Beispiel zu dienen. 42 Von einem autobiographischen „Ich“, das auch in überzeichneten Situationen dargestellt wird 43 , ist demnach eher abzusehen. Spitzer meint, dass der Erzpriester lediglich die Form einer Autobiographie gewählt habe, die Verwendung der 1. Person Singular bedeute aber noch nicht, dass der Erzähler auch wirklich alles erlebt habe, was er schildert. 44 Außerdem sagt Spitzer, der Erzpriester folge dem Beispiel der Heiden, die ihre Philosophie in Fabeln versteckten, indem auch er seine Darstellung der rechten Liebe in einem Buch über die törichte Liebe zwischen den Zeilen erläutere. 45 Diese Standpunkte dienen der Feststellung, dass wir es mit mehr als einem Autor, einem Erzähler und einem lyrischen Ich zu tun haben. Die Grenzen dieser Begriffe verschwimmen im LBA zu einem Konstrukt, in dem man sich die Frage stellen muss, wer gerade spricht bzw. ob es eine Mischform aus den 20 II Die Person des Juan Ruiz und warum ihm Paulus als Vorbild gedient haben könnte <?page no="21"?> 46 Näheres zu diesem Alter Ego des Erzpriesters wird in den Kapiteln III.3.3 und V.1.2 gesagt. 47 Cf. LBA, cc. 1485-1489; Anthony N. Zahareas: op. cit., pp. 144-146. 48 Cf. LBA, c. 1331. 49 Cf. ibid., cc. 727, 738, 873, 875, 881, 891. 50 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, pp. 263 sq., Fußnote zu c. 727c. 51 Cf. Hans Ulrich Gumbrecht ad locum, in: LBA, ed. Hans Ulrich Gumbrecht, pp. 9 sq. verschiedenen Rollen gibt. Daher müssen wir also davon ausgehen, dass an der ein oder anderen Stelle doch auch autobiographische Elemente im LBA auftauchen. Die Verbindung aus Dichtung und (eventuell) Biographischem verleiht dem LBA seine besondere Atmosphäre. Sucht man nach weiteren Hinweisen über den Autor und seine Biographie, stößt man unweigerlich auch auf die Beschreibungen der Kupplerin, die Doña Garoza davon überzeugen sollen, dass es sich lohnt, Don Polo 46 zum Geliebten zu nehmen. Die indirekte Selbstbeschreibung des Erzpriesters ist aber wahrscheinlich kein wirklicher Hinweis auf die Person des Autors, ist sie doch eine Auflistung erotischer Merkmale, die noch dazu nicht ein einziges „priesterliches“ Detail erkennen lassen, sodass man wohl davon ausgehen muss, dass der Erzähler nur die sehr konkrete Beschreibung eines für die damalige Zeit besonders attraktiven Mannes dargelegt hat. 47 „Don Polo“ ist einer der beiden Namen, die sich der Erzpriester gibt. 48 Der erste ist „Don Melón“. 49 Warum der Arcipreste ausgerechnet bei den beiden zent‐ ralen Episoden jeweils einen anderen Namen wählt, hat zu vielen Diskussionen geführt. 50 Zumindest im Fall der Endrina-Episode wissen wir aus sicherer Quelle, dass es sich nicht um eine biographische Begebenheit handelt, schließlich sagt das der Erzpriester selbst in c. 909. Hier erklärt er, er habe die Geschichte von Endrina nur erzählt, um seinen Leser: innen ein Beispiel zu nennen, nicht, weil sie ihm selbst passiert sei. Diese sehr deutliche Aussage lässt keine weiteren Fragen offen. Nun könnte aber noch eine Kleinigkeit bei manchen Leser: innen für Verwirrung bezüglich des Namens- und Personenwechsels gesorgt haben: In den später eingefügten Überschriften 51 wird der Protagonist dieser Episode nach wie vor als „Arçipreste“ bezeichnet, z. B. zwischen c. 652 und c. 653 („Aquí dize de cómo fue fablar con Doña Endrina el Arçipreste“) oder c. 870 und c. 871 („De cómo Doña Endrina fue a casa de la vieja e el Arçipreste acabó lo que quiso“). Dass der bzw. ein Kopist hier eventuell mitverantwortlich für die Unklarheiten in der Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler gewesen sein könnte, wurde bisher wohl nicht berücksichtigt. Der Name „Don Polo“, den der Erzpriester in der Garoza-Episode aufbringt, wird in Kapitel V.1.2 näher untersucht. II.1 „Biographie“ des Juan Ruiz 21 <?page no="22"?> 52 Cf. Jaques Joset: „Introducción“, in: Juan Ruiz, Arcipreste de Hita: Libro de buen amor, vol. 1, ed. Jaques Joset, Madrid: Espasa-Calpe S. A. 1974, pp. IX-XLVI, ibid. p. XXXVII. 53 Cf. Jaques Joset: Nuevas investigaciones, p.-19. 54 Cf. Juan Ruiz, Arcipreste de Hita: Libro de Buen Amor, ed. Joan Corominas, Madrid: Editorial Gredos, S. A. 1967, pp. 322, 324, Fußnote zu 845a. 55 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p.-295, Fußnote zu 845a. 56 Cf. Jaques Joset: Nuevas investigaciones, p.-20; Manuel Criado de Val: Teoría de Castilla la nueva - la dualidad castellana en la lengua, la literatura y la historia, Madrid: Editorial Gredos 1969, p.-153, Fußnote 2. 57 Cf. Jaques Joset: Nuevas investigaciones, pp. 23 sq. Jaques Josets Ausführungen aus dem Jahre 1988 liefern weitere, wenn auch nur vage Hinweise auf die Person des Juan Ruiz. Mit Sicherheit kennen wir den Vor- und Zunamen des Autors, welchen Beruf er ausübte und wo er gelebt hat sowie die Jahresangaben 1330 und 1343 aus den Manuskripten Toledo (T) und Salamanca (S). 52 Die Erwähnung, dass sich der Autor auf Befehl des Don Gil de Albornoz im Gefängnis befunden habe, entbehrt nach wie vor jeglicher Beweise und wird auch von Joset stark angezweifelt. 53 Möglicherweise schrieb er Teile des Werkes, bevor er Erzpriester wurde, z. B. die Endrina- Episode. Joan Corominas und Joset sehen es nämlich durch Erwähnung des Ortes „Fita“ in c. 845a erwiesen, dass sich der Autor hier auf seinen Geburtsort bezieht: Corominas liest aus diesem Vers einen jugendlichen Mut heraus, der ihn annehmen lässt, dass der Autor sich zum Zeitpunkt der Dichtung noch nicht der Kirche und ihren Regeln unterworfen haben könnte 54 ; Joset hingegen glaubt, es handle sich bei der Vorstellung des Verehrers in diesem Vers um einen Fehler in der Pamphilus-Adaption, hält Corominasʼ These aber für durchaus möglich. 55 Wiederum andere Forscher: innen behaupten, „Juan Ruiz“ sei lediglich ein Pseudonym 56 , was weitere Untersuchungen unmöglich machen würde. Allerdings gibt es auch für diese These keine wirklichen Beweise, sodass dieser Vermutung genauso viel bzw. wenig Wahrscheinlichkeit zukommt wie allen Untersuchungen, die die Existenz des Autors namens Juan Ruiz zu beweisen versuchen. Im Jahr 1984 tauchte ein Dokument auf, das auf den ersten Blick ein‐ deutig zu sein schien: Francisco J. Hernández behauptete, im Liber privilegiorium ecclesie Toletane des Madrider Nationalarchivs die Erwähnung eines „Johannes Roderici archipresbiter de Fita“ gefunden zu haben. Es handelt sich bei diesem Schriftstück um ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 1330 und der genannte Johannes Roderici wurde wohl als Zeuge aufgerufen. Hernández versprach zwar, eine ausführlichere Untersuchung zu liefern, diese blieb allerdings aus, sodass auch hier nur spekuliert werden kann, ob es sich bei dem Zeugen um den Autor des LBA handelt. 57 Für den Mediävisten und ehemaligen Direktor der Real Academia toledana, Ramón Gonzálvez Ruiz, ist die Nennung dieses Namens im oben 22 II Die Person des Juan Ruiz und warum ihm Paulus als Vorbild gedient haben könnte <?page no="23"?> 58 Cf. Ramón Gonzálvez Ruiz: La persona de Juan Ruiz, Alicante: Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes, 2012; Architoledo: https: / / www.architoledo.org/ noticias/ fallece-canonig o-d-ramon-gonzalvez-ruiz/ [Stand: 4.4.19]. genannten Schriftstück bereits ein Beweis für die Existenz des Juan Ruiz, Erz‐ priester von Hita. Schließlich sei es laut Gonzálvez Ruiz sehr unwahrscheinlich, dass es zwei Erzpriester aus demselben Ort zur selben Zeit mit demselben Namen gegeben habe. Gonzálvez Ruiz erläutert in seinem Aufsatz den Zweck, den das Liber privilegiorum erfüllte. Demnach wurden hier Schiedssprüche festgehalten, die die Vormachtstellung der Kirche demonstrierten. Die Erwähnung des Juan Ruiz, Erzpriester von Hita, als Zeuge in einem derart wichtigen Dokument ist für Gonzálvez Ruiz ein eindeutiger Hinweis darauf, dass Juan Ruiz sogar als Erzpriester von Hita erkannt werden wollte. Gonzálvez Ruiz beschreibt auch, welche Funktion der Erzpriester von Hita hatte: Damals gehörte Hita zum Erzbistum Toledo, weswegen Juan Ruiz an die toledanische Kirche gebunden war. Er gehörte keinem Orden an, war auch kein Wanderprediger, sondern ein sogenannter weltlicher Kleriker („clérigo secular“), der dem toledanischen Erzbischof unterstand und eine priesterliche Funktion ausübte. Als Historiker und Archivar der Kathedrale von Toledo beschreibt Ramón Gonzálvez Ruiz in dem hier zitierten Artikel die Lebensumstände der Geistlichen im Spanien des 14. Jahrhunderts allgemein. U. a. schildert er, dass weltliche Kleriker nicht an den Zölibat gebunden waren und heiraten durften. Sie profitierten von den Vorteilen, die ein kirchliches Amt bot, ohne dafür alle Pflichten einzugehen. Wer in der klerikalen Hierarchie aufsteigen wollte, musste ab einem gewissen Grad allerdings auf einige weltliche Genüsse verzichten. Des Weiteren beschreibt Gonzálvez Ruiz, welche Rechte und Pflichten das Amt eines Erzpriesters mit sich brachte und wie sich die Kirche um Toledo zu Juan Ruizʼ Zeiten entwickelte. All diese Details zeichnen ein sehr differenziertes Bild von einem Kleriker, der in einer Region, die von jüdischen und muslimischen Einflüssen geprägt war, ein verantwortungsvolles Amt ausgefüllt haben könnte, wobei auch hier betont werden muss, dass Gonzálvez Ruiz lediglich die bisherigen Forschungsergeb‐ nisse zur Identität des Autors mit seinen Kenntnissen über die Kirche von Toledo kombiniert, aber keine weiteren konkreten Hinweise auf die Existenz des Autors aufführen kann. 58 Emilio Sáez und José Trenchs glaubten, es handelte sich bei dem Autor des LBA um einen gewissen Juan Ruiz (oder Rodríguez) de Cisneros, der ein Bekannter des Don Gil de Albornoz war. Als Sohn des Arias González, eines reichen Mannes aus Palencia, bekleidete er wohl diverse Kirchenämter zwischen 1318 und 1353, allerdings wird an keiner Stelle erwähnt, dass er auch II.1 „Biographie“ des Juan Ruiz 23 <?page no="24"?> 59 Cf. Emilio Sáez’ und Jose Trenchs’ Beitrag auf dem I Congreso Internacional sobre el Arcipreste de Hita, Barcelona 1972 zitiert nach Jaques Joset: Nuevas investigaciones, p.-22. 60 Cf. ibid.; Tomás Antonio Sánchez: „Poema de Alfonso Oceno“, in: id.: Poetas castellanos anteriores al siglo XV, Alicante: Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes 2008, c. 1733cd, http: / / www.cervantesvirtual.com/ obra-visor/ poema-de-alfonso-onceno-rey-de-castill a-y-de-leon--0/ html/ [Stand: 27.8.2021]. 61 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p.-123, Fußnote zu c. 326b. 62 Cf. Jaques Joset: Nuevas investigaciones, pp. 22 sq. 63 Cf. Catholic Hierarchy, Diocese of Ciudad Rodrigo: http: / / www.catholic-hierarchy.org/ diocese/ dciro.html [Stand: 5.10.2021]. 64 Cf. Diocesis Ciudad Rodrigo: https: / / www.diocesisciudadrodrigo.org/ blog4/ la-diocesis / [Stand: 13.9.2021]; PhiloBiblon: https: / / philobiblon.upf.edu/ html/ [Stand: 11.2.2023]. 65 Cf. LBA, cc. 1-3, 1674. Erzpriester von Hita gewesen sei. 59 In den Versen 1733cd des Poema de Alfonso Onceno wird ebenfalls ein „Iohan Rruis, rrico omne de Cisneros“ 60 erwähnt. Aber auch hier kann nicht mit Sicherheit geklärt werden, ob dieser der Autor des LBA gewesen ist. Joset meint, in c. 326cd des LBA mit dem Ausdruck „el león mazillero“ eine Anspielung auf Alfons X oder Alfons XI zu erkennen 61 , was ebenfalls ein historiographischer Hinweis wäre und die beiden Personen eventuell in Verbindung bringt. Der Name „Juan Ruiz“ in dieser oder einer ähnlichen Schreibweise taucht in dieser Zeitspanne öfter auf - bei keinem kann man sicher sein, ob er nun der von den Literaturwissenschaftler: innen gesuchte Autor war oder nicht. Ebenso wenig lässt sich beweisen, ob der von José Filiguera Valverde entdeckte Johannes Roderici ( Johan Rodríguez), ein Meistersänger des Klosters Las Huelgas in Burgos, „unser“ Juan Ruiz war. 62 Jeder, der sich mit dem LBA beschäftigt, möchte wohl ebenfalls herausfinden, wer Juan Ruiz war. Daher werden bestimmt auch in Zukunft weitere Hinweise über die vermeintliche Existenz seiner Person auftauchen. Z. B. könnte man auch erforschen, ob es sich bei dem Juan, der in der Auflistung der Ordinarii der Diözese der Ciudad Rodrigo aufgeführt wird, um unseren Erzpriester gehandelt haben könnte 63 , schließlich könnte er dort Ordinarius geworden sein. Außerdem ist es bezeichnend, dass ein gewisser Alfonso de Paradinas im 15. Jahrhundert ebenfalls in Ciudad Rodrigo als Bischof tätig gewesen sein soll. 64 Diesen Namen kennen die Leser: innen des LBA als den des Kopisten. Die rein lokale Nähe zwischen dem Kopisten und einem Mann namens Juan aus Rodrigo lassen uns aufmerksam werden. Dennoch erhebt auch diese Beobachtung keinen Anspruch auf Vollständigkeit und bleibt daher reine Spekulation. Der Autor beginnt seinen Text mit der Erwähnung einer Gefangenschaft. 65 Dieses Gefängnis hat ebenfalls viele Wissenschaftler: innen inspiriert, entspre‐ 24 II Die Person des Juan Ruiz und warum ihm Paulus als Vorbild gedient haben könnte <?page no="25"?> 66 Eine Aufzählung einiger wissenschaftlicher Positionen liefert Zahareas. Cf. Anthony N. Zahareas: op. cit., p.-8, Fußnote 1. 67 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p.-2, Fußnote zu c. 1d. 68 Cf. inter alia ibid., p.-297, Fußnote zu c. 1674. chende Nachforschungen anzustellen, die leider ohne historisch belegbare Ergebnisse blieben. 66 Joset erläutert, dass die Erwähnungen des Gefängnisses in den Versen 1d, 2cd, 3d, 4cd, 5d, 7d, 9cd, c. 10, 1669a, 1671a, 1674e, 1683a und v. a. der Kolophon des Manuskripts S die romantische Legende um die physische Gefangenschaft des Erzpriesters genährt habe, wobei die Angaben zur Dauer der Haft je nach wissenschaftlicher Position zwischen sechs und 30 Jahren variieren. 67 Dass hiermit aber auch die Metapher des Liebesgefängnisses gemeint sein könnte, ist ebenfalls eine bekannte und durchaus legitime Position, schließlich war dieses Bild des leidenden Liebenden, der sich in einer aussichtslosen und verzweifelten Situation gefangen sieht, ein beliebter Vergleich in der mittelal‐ terlichen Literatur. 68 Nun gäbe es aber auch noch eine weitere Möglichkeit, dieses Gefängnis zu deuten. Es ist unbestritten, dass der Arcipreste gelehrt und v. a. mit biblischen Schriften und Lehren sehr vertraut war. Dass sich der Autor mit den Regeln für die „rechte Liebe“ auseinandersetzt, ist ebenfalls eine unbestreitbare Tatsache. Nun liegt der Verdacht nahe, dass er sich u. a. die Paulusbriefe als Vorlage für die Regeln der guten und der törichten Liebe ausgewählt haben könnte, galten die Schriften des Paulus doch seit jeher als zentrale Texte der christlichen Lehre. So unterrichtet Paulus z. B. in Röm 8,5-8 oder Gal 5,16-23 den Unterschied zwischen geistlicher und fleischlicher Liebe sowie deren Auswirkungen auf den Menschen. An diesem Punkt lohnt sich ein kurzer Blick auf Teilaspekte der Biographie des Apostels, um die Zusammenhänge zu erläutern, die hinsichtlich der Gefan‐ genschaftsmetapher eine weitere Möglichkeit der Interpretation liefern können, denn es gibt interessante Ähnlichkeiten zwischen dem Erzpriester und dem Apostel Paulus. II.2 Exkurs: Mögliche Parallelen zwischen Paulus und dem Erzpriester Bei genauerer Betrachtung fallen Ähnlichkeiten zwischen dem Apostel und dem Erzpriester auf. Für Martin Dibelius und Werner G. Kümmel zeichnet sich Paulus unter anderem durch seine Anpassungsfähigkeit aus. Um seine bzw. Gottes II.2 Exkurs: Mögliche Parallelen zwischen Paulus und dem Erzpriester 25 <?page no="26"?> 69 Cf. Martin Dibelius, Werner G. Kümmel: Paulus, Berlin: de Gruyter 2 2019, p.-80. 70 Cf. ibid., p.-16. 71 Cf. ibid., p. 25. Dibelius und Kümmel werfen allerdings auch die Frage auf, ob Paulus wirklich rein jüdischer Abstammung gewesen sei. Da es weder für noch gegen diese Position stichhaltige Beweise zu geben scheint und Paulusʼ Denkweise jüdisch bzw. diasporajüdisch, nicht griechisch geprägt ist (cf. ibid., pp. 26-27), wird die Beantwortung dieser Frage hier nicht weiterverfolgt. Botschaft zu vermitteln, gleicht er sich seiner jeweiligen Zielgruppe an. 69 So heißt es in 1Kor 9,19-22: Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, damit ich möglichst viele gewinne. Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden - obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin -, damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne. Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich wie einer ohne Gesetz geworden - obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin in dem Gesetz Christi -, damit ich die, die ohne Gesetz sind, gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich auf alle Weise einige rette. Sich selbst seinen Leser: innen als einer von ihnen zu präsentieren, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen und sie von der eigenen Meinung zu überzeugen, ist ein Werkzeug, dessen sich auch der Erzpriester bedient. Er stellt sich als Sünder bzw. Gefährdeter dar, um seinem Publikum möglichst nah zu sein, er nennt sich Sünder, erzählt von Liebeskummer und wie schwer es ist, der Versuchung zu widerstehen. So stellt er eine enge Autor-Leser-Verbindung her, vielleicht nach dem Vorbild des Paulus. Dibelius und Kümmel zufolge prägten drei verschiedene Umstände das Leben des Apostels: Er war zugleich römischer Bürger, hellenistischer Jude und jerusalemischer Schriftgelehrter. 70 Einer der Vorteile, die Paulus aus diesem Hintergrund zog, war, dass er als Pharisäer, also besonders gut Gelehrter, die Gegensätze zwischen der jüdischen Welt und der Botschaft Jesu besser verstehen konnte als die Apostel vor ihm. Seine Kenntnisse über das griechische Judentum wiederum gereichten ihm zum Vorteil, da er dadurch sowohl Sprache als auch Denkweisen besser verstand als andere Pharisäer. Laut Dibelius und Kümmel beruht Paulusʼ Erfolg als Prophet des Christentums und Missionar auf diesen beiden Umständen. 71 So wie Paulus vom Verfolger zum Verfolgten wurde, also vom „alten“ zum „neuen Weg“ wechselte, verhält es sich vielleicht mit dem Erzpriester: Er scheint zwei Seiten des Lebens zu kennen, nämlich die des Sünders und die des Geistlichen, des Geläuterten, weswegen er es 26 II Die Person des Juan Ruiz und warum ihm Paulus als Vorbild gedient haben könnte <?page no="27"?> 72 Cf. Bernd Willmes: „Sündenfall“, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex) 2008, https: / / www.bibelwissenschaft.de/ fileadmin/ buh_bibelmodul/ media/ wibi/ pdf/ S%C3%BCndenfall__2018-09-20_06_20.pdf [Stand: 14.3.2022]. 73 Cf. 1Kor 12,31. 74 Cf. 1Kor 13; Martin Dibelius, Werner G. Kümmel: op. cit., p.-89. versteht, seinem Publikum die Heilsbotschaft besonders authentisch und mit viel Verständnis für die Fallstricke des Lebens zu vermitteln. Diese beiden zuletzt genannten Vergleiche zwischen Paulus und dem Erz‐ priester mögen gewagt klingen, schließlich ist der eine ein Wegbereiter des christlichen Glaubens, der andere ein Autor, der sich dem Thema der Liebe auf fast schon spielerische Art widmet. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, dass der Erzpriester in seinem gesamten Werk Humor bewiesen hat - warum sollte er dies also nicht auch bei der Wahl seiner Vorbilder bzw. bei dem Selbstvergleich mit ihnen getan haben? Eine weitere und diesmal weniger gewagte als offensichtliche und für das Christentum typische Gemeinsamkeit zwischen Paulus und dem Erzpriester ist die Dichotomie von Gut und Böse. Diese geht zurück auf den Sündenfall bzw. auf Adams und Evas Vergehen, vom Baum der Erkenntnis zu essen, in dessen Folge sie u. a. mit der Unterscheidung von Gut und Böse konfrontiert sind. 72 Sowohl Paulus als auch der Arcipreste sehen die moralische Welt in Gut und Böse aufgeteilt, dennoch ist der rechte Weg nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Weil dem Erzpriester bewusst war, dass einfache Leser: innen genau hier Verständnisschwierigkeiten haben könnten, geht er auf konkrete Beispiele ein, schildert, wie und wo sich die Sünde versteckt und wie man ihr entgeht, um bei den paulinischen Lehren zu bleiben. Insgesamt - und das ist eine weitere Gemeinsamkeit - geht es beiden um die Liebe: Paulus erklärt, wie sich die Liebe zwischen Gott und den Menschen ausnimmt, welche Verhaltensregeln unter den Menschen eingehalten werden sollen, um diese liebevolle Verbindung nicht zu gefährden, und erklärt, welche Gefahren einem Christen auf dem Weg zu Gott begegnen. Für Paulus ist die Liebe ein „besserer Weg“ zu Gott als alle Bräuche, die vorher gelebt wurden. 73 So bezeichnet er im Hohelied der Liebe die Liebe als sinnstiftend und tragendes Element in der Mensch-Gott-Beziehung, das neben dem Glauben und der Hoff‐ nung alle Zeiten und Zweifel übersteht. 74 Die Liebe zu Gott bzw. die rechte Liebe ist auch für den Erzpriester zentrales Thema. Sie ist für ihn ebenfalls essentiell, nur sieht er, wie schwer sie im Alltag manchmal zu finden und auszuleben ist. Auch der Erzpriester erklärt seiner Zielgruppe, wie sie sich zu verhalten hat, nur eben etwas konkreter und an alltäglichen Beispielen, die mit viel Humor und geschickt so formuliert werden, dass man neben der moralischen Lehre auch II.2 Exkurs: Mögliche Parallelen zwischen Paulus und dem Erzpriester 27 <?page no="28"?> 75 Cf. ibid., p.-80. 76 Ibid., p.-85. 77 Ramón Menéndez Pidal: Poesía juglaresca y orígenes de las literaturas románicas, Madrid: Instituto de estudios políticos 6 1957, pp. 30 sq. 78 Cf. Anthony N. Zahareas: op. cit., p. 93. Zahareas beschreibt hier, inwiefern er Gemein‐ samkeiten zwischen den Goliarden und dem Autor des LBA sieht, erklärt aber dennoch auch den größten Unterschied: „His [ Juan Ruiz] satirical motifs are those of the goliards, but he often directs these motifs to different ends.“ 79 Phil 1,7,14,17. noch unterhalten wird. So missionieren beide, Paulus und Juan Ruiz, diejenigen, die noch unsicher sind, wie der richtige Weg zu Gott aussieht. In beiden Fällen richten sich die Anweisungen an Personen, die bereits die „richtige“ Richtung eingeschlagen haben, aber noch etwas mehr Anleitung brauchen, d. h. im Falle des Apostels besteht die Zielgruppe aus Gläubigen, die sich bereits (mehr oder weniger) entschieden haben, einen neuen Weg zu gehen 75 , und auch der Arcipreste spricht wohl christlich orientierte Leser: innen an. Dibelius und Kümmel erläutern, dass Paulus bei der Belehrung seiner neu entstandenen Gemeinden ein Ziel mit vorherigen Missionsgedanken teilt, nämlich Verhaltensregeln zu verbreiten. So halten die Autoren über die von Paulus und seinen Vorgängern missionierten Gemeinden fest, „daß die jungen Christen zwar wissen, daß sie den Willen Gottes tun sollen, aber nicht wissen, welches der Wille Gottes ist“ 76 . Wenn Juan Ruiz mit seiner meist heiteren Erzählweise die Grenzen von guter und törichter Liebe erläutert, scheint es, als verfolge er damit ebenfalls das Ziel, seinem Publikum Orientierungshilfen anzubieten. Betrachtet man nun all diese Gemeinsamkeiten bzw. Ähnlichkeiten zwischen den Schriften des Apostels und dem Arcipreste, liegt der Verdacht nahe, das LBA als eine Art Rezeption der Paulusbriefe zu verstehen. Der Erzpriester widerspricht den paulinischen Lehren an keiner Stelle, er beschreibt sie nur sehr viel humorvoller als der Apostel selbst und ergänzt sie um weitere literarische Quellen, die aber alle letzten Endes der Anleitung zur rechten Liebe dienen. Zieht man nun in Betracht, dass Ramón Menéndez Pidal das LBA als eine Art Goliardengedicht identifiziert 77 und auch Zahreas im LBA v. a. die Äuße‐ rung gesellschaftlicher Kritik und Satire als eine der Goliarden verwandten Ausdrucksweise sieht, und die Goliarden sich wiederum - wenn auch auf paro‐ distische Weise - mit den Aposteln verglichen, um in die Welt hinauszuziehen und dort Gottes Wort zu predigen 78 , könnte man sagen, der Autor des LBA habe sich vielleicht in Anlehnung an den Apostel Paulus als Gefangenen bezeichnet. Es ist bekannt, dass sich der Apostel Paulus tatsächlich in Gefangenschaft befand und einige seiner Briefe dort verfasste. Der Brief an die Philipper beispielsweise enthält Hinweise darauf. 79 Auch im Epheserbrief kommt sie zur Sprache, wenn 28 II Die Person des Juan Ruiz und warum ihm Paulus als Vorbild gedient haben könnte <?page no="29"?> 80 Eph 3,1. 81 Eph 4,1. 82 Cf. Jens Herzer: „Pastoralbriefe“, in: Deutsche Bibelgesellschaft: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex) 2013, http: / / www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 53 866/ [Stand: 8.2.2022]; Laut Eve-Marie Becker geht die Erforschung paulinischer Pseu‐ depigraphien auf die „zunächst maßgeblich aus der bibelhermeneutisch motivierten Kritik am Kanonprinzip hervor“ (Eve-Marie Becker: „Von Paulus zu ,Paulusʻ“, in: Jörg Frey, Jens Herzer, Martina Janßen, Clarke K. Rothschild edd.: Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen, Tübingen: Mohr Siebeck 2009, pp. 363-386, ibid. p.-364), die bereits im 18.-Jahrhundert ihren Anfang nahm. Cf. ibid. 83 Auf eine detailliertere Erläuterung der Proto-, Deutero und Tritopaulinen wird hier ver‐ zichtet, weil sie für die Untersuchung der Frage, ob das Corpus Paulinum dem Erzpriester als Inspiration oder gar Vorlage diente, nicht ausschlaggebend ist. Eine kurze Einführung in den Deuteropaulinismus findet man z. B. bei Martin Hüneburg: „Deuteropaulinen“, in: Deutsche Bibelgesellschaft Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex) 2017, https: / / ww w.bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 46944/ [Stand: 8.2.2022]. Eine noch immer überschaubare, aber ausführlichere Darlegung der paulinischen Pseudepigraphie-Forschung bietet z. B. Eve- Marie Becker: Paulus, pp. 363-386. In ihrem Aufsatz beschreibt Becker die Geschichte der Pseudepigraphie-Forschung und stellt sie in einen literaturhistorischen Kontext, wobei sie auch „die literatur- und theologiegeschichtliche Funktion ‚paulinischer‘ Pseudepigraphie“ (ead., pp. 385 sq.) nicht außer Acht lässt. 84 Laut Marco Frenschkowski haben frühe Christen pseudepigraphische Texte meist nicht als solche erkannt. Für die Erstellung pseudonym verfasster Texte gab es gute Gründe, z. B. wog die Autorität eines Textes bzw. eines Autorennamens zuweilen mehr als die Frage der eigentlichen Verfasserschaft. Bewunderung für bereits existierende Schriften war ebenfalls ein Grund, der viele Autoren dazu bewog, unter einem bekannten Pseudonym zu schreiben. V. a. aber galt unter den frühen Christen die Ansicht, alles Orthodoxe sei echt, alles Häretische sei unecht. Die Blindheit für „gefälschte“ Schriftzeugnisse liegt laut Frenschkowski wohl auch in der Tatsache begründet, dass das frühe Christentum eine Subkultur war und damit sehr einseitige Ansichten vertrat. Im Gegensatz zur Subkultur ist im Mainstream einer Kultur oft mehr Platz für Facettenreichtum. Cf. Marco Frenschkowski: „Erkannte Pseudepigraphie? Ein Essay über Fiktionalität, Antike und Christentum“, in: Jörg Frey, Jens Herzer, Martina Janßen, Paulus sich als den „Gefangene[n] Christi Jesu für euch Heiden“ 80 oder „der Gefangene in dem Herrn“ 81 bezeichnet. Ebenso heißt es in 2Tim 1,8: Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener bin, sondern leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes. Dass es sich bei dem Brief an die Epheser und sowohl dem ersten als auch dem zweiten Brief des Paulus an Timotheus, die zu den sogenannten Pastoralbriefen gehören, um Pseudepigraphien handelte, ist erst seit dem 19. Jahrhundert bekannt 82 , daher musste der Autor des LBA noch davon ausgehen, dass diese heute als deuteropaulinische Texte bezeichneten Bibelpassagen 83 von Paulus selbst stammten 84 . II.2 Exkurs: Mögliche Parallelen zwischen Paulus und dem Erzpriester 29 <?page no="30"?> Clarke K. Rothschild edd.: Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen, Tübingen: Mohr Siebeck 2009, pp. 181-232. 85 Ferdinand Staudinger: „δεσμός“, in: Horst Balz, Gerhard Schneider edd.: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, vol. I, Stuttgart: Kohlhammer 3 2011, coll. 692-696, ibid. col. 695. 86 Dirk Bültmann: „Gefängnis“, in: Otto Betz, Beate Ego, Werner Grimm edd.: Calwer Bibellexikon, vol. 1, Stuttgart: Calwer 6 2003, p. 405. Bültmann sagt zwar, die Gefangenen in dem hier zitierten Psalm seien Tote, die im Gefängnis der Unterwelt auf Gottes erlösende Taten warteten, allerdings wird das nicht im Psalm direkt erwähnt. Daher kann auch angenommen werden, dass die Metapher weiter gefasst werden kann. Bei Paulus hat das Gefängnis neben der tatsächlichen Haft die Bedeutung der Bindung an den Glauben. Nicht umsonst bezieht er sich in Eph 4,8 auf Psalm 68,19, wo es heißt: „Er ist aufgefahren zur Höhe und hat Gefangene mit sich geführt und hat Menschen Gaben gegeben.“ Der deutsche Text bezeichnet dann zwar auch das Christentum als ein Gefängnis im positiven Sinne; man könnte sagen, Paulus war vom christlichen Glauben gefesselt. Dass diese Gefan‐ genschaftsmetapher für die enge Verbundenheit des Paulus mit seinem Glauben steht, bestätigt auch Ferdinand Staudinger, der in Eph 3,1 im griechischen Originaltext in der grammatikalischen Struktur des Ausdrucks „Gefangener im Herrn“ den Beweis für die „innige Christusverbundenheit des Apostels“ 85 sieht. Für einen Erzpriester wäre es nicht unwahrscheinlich, wenn auch er sich dieses Bildes bedienen würde. II.3 Die Gefangenschaftsmetapher - weitere Interpretationsmöglichkeiten Eine weitere, ganz andere Art der Interpretation wäre folgende: Der metapho‐ rische Gebrauch der Fessel bzw. der Gefangenschaft steht u. a. in der Bibel auch für Gottesferne, wie z.-B. in Ps 107,10-16 86 : Die da sitzen mussten in Finsternis und Dunkel, gefangen in Zwang und Eisen, weil sie Gottes Geboten ungehorsam waren und den Ratschluss des Höchsten verachtet hatten, sodass er ihr Herz durch Unglück beugte und sie dalagen und ihnen niemand half, die dann zum Herrn riefen in ihrer Not und er half ihnen aus ihren Ängsten und führte sie aus Finsternis und Dunkel 30 II Die Person des Juan Ruiz und warum ihm Paulus als Vorbild gedient haben könnte <?page no="31"?> 87 LBA, c. 1674. 88 Cf. ibid., c. 1675. 89 Ibid., c. 1674f. 90 Ibid., c. 1675f. und zerriss ihre Bande: Die sollen dem Herrn danken für seine Güte und für seine Wunder, die er an den Menschenkindern tut, dass er zerbricht eherne Türen und zerschlägt eiserne Riegel. Gottesferne und sündhaftes Handeln, das den Menschen an die Welt bindet und damit von der rechten Liebe zu Gott abhält, würden zu den weiteren Lehren des LBA passen, sodass das Gefängnis des Erzpriesters hier als eine Metapher für das unfreiwillige Verhaftetsein in der sündigen Welt gedeutet werden kann. In seinen Gebeten bittet der Erzpriester um Befreiung von Sünden und Versuchungen. Somit müsste man also eigentlich von der Bitte um Befreiung aus dem Sündengefängnis der Welt, nicht vom Eingeschlossensein im Liebesgefängnis oder einer physischen Gefangenschaft sprechen. Diese Idee scheint schlüssig, ist doch das LBA eine ein- und manchmal auch zweideutige Anleitung für das Finden und Leben der rechten Liebe, die sich auf Gott bezieht. Auch die Verse 110ab („Si omne a la muger non la quissiese bien, non ternía tantos presos el amor quantos tien“) könnte sowohl als Anspielung auf das Liebesals auch auf ein Sündengefängnis hindeuten, das für viele Liebende zum Kerker werden könnte. Auch später im Text findet man das Gefängnis wieder. In einem der das Werk abschließenden Lobgesänge an die Heilige Jungfrau Maria heißt es: Del mundo salud e vida, de muerte destrüimiento. de graçia llena conplida, de coidados salvamiento: de aqueste dolor que siento en presión sin meresçer, tú me deña estorçer con el tu defendimiento. 87 Hier und in der darauffolgenden Strophe spricht der Arcipreste in seinem Lobge‐ sang an die Heilige Jungfrau von sich selbst als Sünder 88 und bittet um Erlösung. Die Nähe der Begriffe „Gefängnis“ („presión“ 89 ) und „Sünder“ („pecador“ 90 ) lässt II.3 Die Gefangenschaftsmetapher - weitere Interpretationsmöglichkeiten 31 <?page no="32"?> 91 So auch schon bei Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p. 2. Dieser bezieht sich wiederum u. a. auf Leo Spitzer: Kunst des Arcipreste, pp. 255-258, María R. Lida de Malkiel: „Nuevas notas“, pp. 69-82 und Félix Lecoy: Recherches sur le Libro de buen amor de Juan Ruiz, Archiprêtre de Hita, Farnborough: Gregg International 1974, pp. 331-332. Spitzer geht sogar so weit, die Interpretation der erwähnten Haft als tatsächliche Begebenheit als „Sensationsbedürfnis der Biographieschnüffelei“ (Leo Spitzer: „Kunst des Arcipreste“, p. 257) zu bezeichnen. Seiner Meinung nach könnte die Erwähnung der Haft keine andere Interpretation als die einer Metapher mit christlichreligiösem Hintergrund zulassen. Cf. ibid., pp. 255-258. 92 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 2, ed. Jaques Joset, p.-294, Fußnote zu c. 1666i. 93 Cf. LBA, cc. 1661-1667. vermuten, dass die Theorie des Sündengefängnisses tatsächlich gerechtfertigt sein könnte. 91 Vor allem aber die Erwähnung des „gefährlichen Gefängnisses“ („cárcel peligrosa“) in c. 1666 scheint die oben geäußerte Vermutung zusätzlich zu unterstützen. Joset interpretiert diesen Ausdruck als Metapher für das Fegefeuer 92 , das dem Sünder droht, wenn er sich nicht auf den rechten Weg begibt. An dieser Stelle des LBA bittet der Erzpriester die Heilige Jungfrau mit seinem Ave Maria darum, ihn vor diesem Umstand zu bewahren. 93 Da nun die intertextuellen und inhaltlichen Bezüge zwischen dem LBA und biblischen Quellen bereits angesprochen wurden, bleibt zu untersuchen, inwie‐ fern sich die Begriffswahl „buen amor“ und „loco amor“ vielleicht ebenfalls an der Bibel und anderen christlichen Quellen orientiert bzw. warum ausgerechnet „amor“ als Bezeichnung für die Gottesliebe gewählt wurde. Schließlich hätten einem Geistlichen auch andere Begriffe zur Verfügung gestanden, die für die Beschreibung der Gott-Mensch-Beziehung nützlich gewesen wären. 32 II Die Person des Juan Ruiz und warum ihm Paulus als Vorbild gedient haben könnte <?page no="33"?> 94 Cf. Michael Rössner „Eros/ Agape, Amor/ Caritas: Probleme der Übersetzung im Libro de Buen Amor“, in: Jörg Dünne, Kurt Hahn, Lars Schneider edd.: Lectiones difficiliores - Vom Ethos der Lektüre, Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2019, pp. 517-526. 95 Ibid., p.-521. 96 Cf. ibid., pp. 522-525; LBA, cc. 44-70. Spitzer erläutert übrigens, dass sich der Erzpriester für diese Passage des LBA eine Glosse des Accursius zum Vorbild genommen hat. Cf. Leo Spitzer: „Kunst des Arcipreste“, p.-249. III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext Die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten der Liebe im LBA sind nach wie vor Gegenstand der Forschung, z. B. beschäftigt sich Michael Rössner mit den unterschiedlichen Übersetzungen des Liebesbegriffs beim Erzpriester und den damit einhergehenden Problemen. Ihm zufolge wird eine eindeutige Übersetzung schon allein deswegen erschwert, weil die neueren Sprachen anders als die Sprachen der Antike nicht zwischen den vier verschiedenen Begriffen für Liebe (eros, agape, amor und caritas) unterscheiden. Die einzig klare Unterscheidung muss laut Rössner aber nicht der Arcipreste treffen: 94 Dieses Schwanken zwischen den Polen der reinen Liebe (buen amor) und der Flei‐ scheslust (loco amor) bestimmt die dem Schein nach ambivalente Haltung des Textes, in der der Rezipient selbst über seine Orientierung entscheiden muss. 95 Die von Rössner als „scheinbar ambivalente Haltung“ bezeichnete Position wird ebenfalls in den folgenden Kapiteln untersucht. Vorab sei an dieser Stelle festgehalten, dass der Arcipreste eine sehr klare Meinung vertritt, aber auch die Situationen beschreibt, die seinen Rezipient: innen bei der eigenen Positio‐ nierung den Blick auf die rechte Liebe versperren könnten. Rössner geht noch weiter, indem er sagt, das LBA handle nicht mehr von der Frage, wie man sich zwischen den möglichen Liebesvarianten entscheidet, sondern es hält fest, dass man sich zu entscheiden hat. Bereits in der Passage im LBA über die Griechen und Römer, die einen Disput über die richtige Deutung der Zeichen führen, demonstriert Juan Ruiz, so Rössner, wie schwierig richtige Interpretationen zu finden sind, v. a. wenn man von unterschiedlichen Bildungsniveaus ausgeht. Der Erzpriester hilft hier den Rezipient: innen, sich in den verschiedenen Inter‐ pretationsmöglichkeiten zurechtzufinden. 96 Laut Zahareas handelt das LBA von dem Konflikt zwischen dem Ideal der göttlichen Liebe und der Realität, in der die weltliche Liebe herrscht. Die <?page no="34"?> 97 Cf. Anthony N. Zahareas: op. cit. pp. 202 sq. 98 LBA, c. 70. 99 An dieser Stelle wird Bezug genommen auf den Prosaprolog des LBA, in dem gezeigt wird, in welcher Weise sich die Leser: innen aktiv am LBA beteiligen, nämlich indem sie ihren eigenen Verstand benutzen: „Intellectum tibi tabo […] Ca por el buen entendi‐ miento entiende onbre el bien e sabe dello el mal.“ LBA, Prosaprolog, linn. 12 sq. 100 Cf. ibid., Prosaprolog. religiöse Perspektive ist für Zahareas nur eine von vielen Möglichkeiten, Liebe an sich zu definieren. Der Erzpriester scheint sich nicht zu entscheiden, auf welcher Seite er steht: auf der religiösen, die als einzig wahre Liebe die zu Gott gelten lässt, oder auf der weltlichen, in der der Mensch seinen natürlichen Bedürfnissen nachgibt. 97 Insgesamt wirkt das LBA unter diesem Gesichtspunkt offen für die Interpre‐ tation eines jeden Lesers bzw. einer jeden Leserin. Oder, um das Buch selbst sprechen zu lassen: De todos los instrumentos yo, libro, só pariente: bien o mal, qual puntares, tal diré çiertamente; qual tú dezir quisieres, ý faz punto, ý tente; si me puntar sopieres sienpre me avras en miente. 98 Wer das LBA als eine Anleitung zum sündigen Leben lesen will, findet hier die richtigen Hinweise dazu; wer sich von den Abenteuern des Erzpriesters abgeschreckt fühlt, erkennt wahrscheinlich den richtigen Weg zu Gottes Liebe; und wer der Meinung ist, dass es eine Grauzone zwischen der göttlichen Liebe und der fleischlichen, weltlichen Liebe gibt, der findet im Buch des Erzpriesters eine Art Trost und die Bestätigung, dass er mit dieser Einstellung nicht alleine ist. Somit erweisen sich die einleitenden Sätze des Erzpriesters als wahr: Man muss das LBA zu interpretieren wissen und spielt ganz unbewusst als Leser: in die Hauptrolle, indem man selbst versteht, was man verstehen will. 99 Keine der drei oben genannten Interpretationen ist dann falsch, sondern entspricht einfach der eigenen Einstellung, was wiederum für Rössners These spricht. Dennoch erläutert der Arcipreste in aller Deutlichkeit, wo er steht. Er plädiert für die Gottesliebe und appelliert an seine Leser: innen, sich dieser Ansicht anzuschließen. 100 Aber woher kommen die diversen Facetten des Liebesbegriffs, auf die der Erzpriester sich in seinem Werk bezieht? Ein Überblick über die Quellen und Liebeskonzeptionen der damaligen Zeit, auf die im LBA Bezug genommen werden, soll diese Frage beantworten. Hierzu zählen u. a. natürlich biblische Texte ebenso wie einige Werke Platons, Ovids und Plutarchs, dessen Dialog über 34 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="35"?> 101 Cf. Günther Müller: „Gradualismus. Eine Vorstudie zur altdeutschen Literaturge‐ schichte“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, vol. 2, Stuttgart: Metzler 1924, ProQuest Information and Learning Company 2004, 681-720, ibid. 709. die Liebe bisher wohl noch nicht mit dem LBA in Verbindung gebracht wurde. V.-a. in Kapitel IV.2.1.3 wird dieser Bezug sichtbar werden. Wenn der Erzpriester seinen Leser: innen empfiehlt, sich der Gottesliebe anzuschließen, rekurriert er auf einen Liebesbegriff, dessen Geschichte weit zurückgeht und für dessen Verständnis seine Entstehungsgeschichte genau untersucht werden muss, was im folgenden Kapitel geschieht. III.1 Theorien und Vorstellungen von Liebe im christlichen Kontext Hört man die Schlagworte eros und agape, denkt man zwangsläufig an die beiden Pole, zwischen denen sich auch die deutsche Minnedichtung bewegt. 101 An dieser Stelle muss aber festgehalten werden, dass es sich beim LBA nicht um ein Werk der Minne handelt. Die Verehrung einer höhergestellten Dame ist zwar ein vergleichbares Motiv, und auch, dass der Erzpriester in c. 153 sagt, er widme sich dem Dienst an den Frauen, erinnert an die für die hohe Minne typische Ausdrucksweise, aber die Damen im LBA sind für ihren Verehrer leichter erreichbar, d. h. es gibt durchaus Kontakt zwischen den Figuren. Dies ist für die hohe Minne untypisch, denn die in der hohen Minne besungene Liebe ist fast immer eine entsagende. Dennoch soll nicht ausgeschlossen werden, dass der Erzpriester durch das ein oder andere Werk vielleicht inspiriert wurde. Außerdem - und auch das ist inzwischen schon deutlich geworden - geht es nicht in erster Linie darum, die Liebe einer Frau zu gewinnen, sondern ein gottgefälliges Leben zu führen. Daher ist der Liebesbegriff, der in der klassischen Minne verwendet wird, für das LBA nicht unbedingt ein Vorbild. Hier muss der philosophische und religiöse Werdegang des Begriffs „Liebe“ v. a. im christlichen Kontext untersucht werden, um ihn auf das LBA anwenden zu können. Sowohl im Deutschen als auch im Spanischen verwenden wir ein und dasselbe Wort für die ideale Verbindung zwischen dem christlichen Gott und den Menschen sowie für die Verbindung unter den Menschen: „Liebe“ bzw. „amor“. Das scheint zunächst unproblematisch. Aber im Falle des LBA und anderer Werke des Mittelalters wie Andreas Capelanusʼ DA wird u. a. implizit thematisiert, wie (absichtlich) verwirrend die Verwendung desselben Begriffs sein kann, wenn man die unterschiedlichen Nuancen der Liebe beschreibt. III.1 Theorien und Vorstellungen von Liebe im christlichen Kontext 35 <?page no="36"?> 102 Cf. Anders Nygren: Eros und Agape, vol. 1, pp. 15-17. 103 Cf. ibid, pp. 184-185. Die christliche Begriffsgeschichte kennt eros als eine dieser Nuancen, jedoch wird seine Entwicklungsgeschichte oft nicht berücksichtigt. Anders Nygren hat seine Entstehung 1930 dargelegt und erläutert nicht nur eros bei Platon, sondern auch, wie sich dieser Begriff unter Aristoteles, Plotin und anderen wegweisenden Philosophen sowie Theologen weiterentwickelt hat. Zudem stellt Nygren dem Erosmotiv auch agape gegenüber. Darauf aufbauend erläutert er, wie diese beiden Motive im frühen Christentum und im Mittelalter verwendet wurden und in das christliche Vokabular Einzug nahmen. Weil Nygrens Ausfüh‐ rungen bedeutende Erkenntnisse für die zentrale Fragestellung dieser Disserta‐ tion liefern, sollen sie als wichtigste Schritte in der Entwicklungsgeschichte des Liebesbegriffs hier wiedergegeben werden. Unter weiteren Werken zu diesem Thema fiel die Wahl auf Nygren, weil nur bei ihm die beiden für das LBA zentralen Begriffe so deutlich dargestellt werden, er einen detaillierten Einblick in die einzelnen Stufen der Entwicklung liefert und seine Erläuterungen exakt auf den Zeitraum bezogen sind, die für diese Doktorarbeit wichtig sind. Kurze Vergleiche u. a. mit Heinrich Scholz und seinen Ansichten zu eros und caritas, die Hinweise von Alfons Fürst und Holger Strutwolf zu Origenesʼ Interpretation des Hohelieds, Hannah Arendts Erkenntnisse über den Liebesbegriff bei Augustin sowie Beate R. Suchlas Kommentar zu Pseudo-Dionysius sollen das Bild über die Entstehung des christlichen Liebesbegriffs abrunden. III.2 Eros und agape nach Nygren Zunächst muss gesagt werden, dass laut Nygren die Begriffe eros und agape zwei völlig unterschiedlichen Welten angehören und ein direkter Vergleich deswegen nicht stattfinden kann bzw. sie sich auch nicht gegenseitig ersetzen können. Dennoch übersetzen wir beide Ausdrücke mit „Liebe“, was zu dem Irrtum führt, es gäbe einen Zusammenhang. Der Begriff eros geht auf Platon zurück, agape auf Paulus. 102 Wir sehen also schon allein an den Ursprüngen der Begriffe, dass der eine der Philosophie, der andere der Religion entstammt und somit zwei verwandte, aber nicht deckungsgleiche Richtungen aufgemacht werden. Der Untersuchung soll vorausgeschickt werden, dass es sich nicht um eine wertende Gegenüberstellung handelt. Die beiden Begriffe sind gleichberechtigt und nicht höher oder niedriger in irgendeiner Skala anzusiedeln. 103 36 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="37"?> 104 Cf. ibid., pp. 140-148. 105 Ibid., p.-148. III.2.1 Eros Für Nygren bekommt der Erosbegriff bei Platon seine klare Form. Er erläutert den Ursprung des eros anhand des Zagreusmythos, der wiederum dem Or‐ phismus zugrunde liegt: Zagreus (Dionysos) sollte auf Geheiß seines Vaters Zeus die Welt beherrschen, wird aber von den Titanen gefangen, die ihn verzehren. Aus Rache verbrennt Zeus daraufhin die Titanen und formt aus ihrer Asche den Menschen. Somit lässt sich die Zerrissenheit des Menschen zwischen seinem göttlichen Anteil, den er durch Dionysos erhielt, und der Grausamkeit der Titanen, aus deren Asche er entstand, erklären. Dieser Orphismus gepaart mit der platonischen Anschauung über das zwiegespaltene Wesen des Menschen ist Grundlage des Erosmotivs. Das Göttliche im Menschen sehnt sich stets nach der Wiedervereinigung mit der göttlichen Heimat, der er entstammt, und der Be‐ freiung der Seele von allem Weltlichen, denn der Leib gilt als das Gefängnis der Seele. Eine klare Grenze zwischen den Göttern und den Menschen gibt es nicht, die Seele ist im Grunde ein göttliches Wesen. So kann der Aufstieg gelingen. Charakteristisch für Platon ist hier der Dualismus zwischen der Sinnen- und der Ideenwelt. Der Mensch bewegt sich zwischen diesen beiden Welten und hat auch zu beiden Kontakt, in der die erste die notwendige Vernunfterkenntnis, die zweite die zufällige Wahrnehmung darstellt. Die Ideenwelt erobert die Sinnenwelt mit Hilfe des dem Menschen innewohnenden eros. Der Mensch muss hier als Werkzeug dienen, denn die Ideen sind keine Mächte und können daher nicht selbstständig in die Sinnenwelt eingreifen. 104 Und hier wird nun klar, wie eros wirkt: Das Verhältnis zwischen den beiden Welten ist durchaus einseitig; es gibt nur eine Bewegungsrichtung: von unten - nach oben. Von der Ideenwelt geht keine helfende Aktion aus, die der niederen Welt entgegenkommt. Die Ideen haben keinen Anteil an den Dingen, sondern die Dinge haben Anteil an den Ideen. Wenn der Mensch in den Dingen die Idee ahnt, wird er von Eros, von der Sehnsucht nach der Welt der reinen Ideen, ergriffen. Eros ist die Umkehr des Menschen von dem Sinnlichen zu dem Übersinnlichen. Eros ist die Tendenz der Menschenseele nach oben. Er ist die reale Kraft, die die Seele in die Richtung der Ideenwelt treibt. 105 Eros ist also die Verbindung zwischen der Sinnen- und der Ideenwelt und der Mensch ist mit diesem eros gerüstet, um den Ideen zur Macht zu verhelfen. V. a. im Höhlengleichnis verdeutlicht Platon diese Ansicht, indem er schildert, wie der Philosoph sich aus dem Gefängnis des Irdischen befreit und somit die III.2 Eros und agape nach Nygren 37 <?page no="38"?> 106 Cf. ibid., pp. 148-149; Platon: Der Staat - Politeia, ed. et transt. Karl Vretska, Stuttgart: Reclam 2000, 7. Buch, 514a-518b. 107 Cf. Anders Nygren: Eros und Agape, vol. 1, pp. 149-151; Platon: Phaidros, edd. et transtt. Thomas Paulsen, Rudolf Rehn, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2019, 249-251. 108 Cf. Anders Nygren Eros und Agape, vol. 1, pp. 151-152; Platon: Das Gastmahl, edd. Thomas Paulsen, Rudolf Rehn, transt. Thomas Paulsen, Stuttgart: Reclam 2008, 211. 109 Cf. Anders Nygren Eros und Agape, vol. 1, pp. 152-158; Phaidros: 249, 250; Platon: Phaidon - Griechisch/ Deutsch, ed. et transt. Barbara Zehnpfennig, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2008, 75. 110 Cf. Heinrich Scholz: Eros und Caritas - Die platonische Liebe und die Liebe im Sinne des Christentums, Halle (Saale): Max Niemeyer Verlag 1929, pp. 3-5. Wahrheit erkennt, statt die Schatten an der Wand seiner Höhle für die einzige Wahrheit zu halten. 106 Im Phaidros erläutert Platon, dass die Seele in ihrem präexistenten Dasein das Gute, das Wahre gesehen hat und nun dorthin zurückstrebt, weil sie sich bewusst oder unbewusst daran erinnert. Dieses Streben nach dem Anteil am göttlichen Leben ist eros. Die Seele sieht in der Schönheit der weltlichen Dinge Abbilder des Göttlichen. Das Schöne in der Welt ruft also eros wach, aber die Aufmerksamkeit des Menschen soll in dieser Welt nicht hängen bleiben, sondern die Seele soll aufsteigen. 107 In welchen Stadien sie sich erhebt, erklärt Platon im Symposion mit dem Bild der Himmelsleiter, die man erklimmen muss, um das Schöne zu sehen. 108 Nygren fasst die drei wesentlichen Punkte des Erosmotivs bei Platon wie folgt zusammen: 1) Eros ist begehrende Liebe, d. h. sie strebt nach dem, was ihr fehlt, und das wiederum ist der glückliche Zustand, in dem sich die Seele einst befunden hat; 2) Eros ist der Weg des Menschen zum Göttlichen - und dies ist auch die einzige Richtung. Die Götter selbst müssen nichts begehren, daher ist eros nur dem Menschen eigen und eine Art Weltflucht; 3) Eros ist egozentrisch, denn alles kreist um den Menschen und seine Seele bzw. um die Frage, wie sie den ersehnten Zustand erreichen kann. 109 Hilfreich sind hierbei auch die Erläuterungen, die Heinrich Scholz bietet: Der platonische Begriff der Liebe, eros, bezeichnet demnach ein Streben nach dem Schönen in der Welt und einer damit verbundenen Selbsterhöhung, da man versucht, z. B. einer verehrten und damit hochgeschätzten Person ähnlich zu sein. Die Fähigkeit, das Schöne zu sehen, ist allerdings nur Männern vorbe‐ halten; ebenso können auch nur Männer bzw. Jünglinge oder Knaben Schönheit verkörpern. 110 Basierend auf diesen Anschauungen entwickelt Aristoteles seine eigene Definition des Erosmotivs. Aristoteles, so Nygren, erweitert das platonische 38 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="39"?> 111 Cf. Anders Nygren: Eros und Agape, vol. 1, pp. 160-163. 112 Cf. ibid., pp. 138-140. 113 Ibid., pp. 58. 114 Cf. ibid., pp. 45-68. Erosmotiv um seine kosmische Bedeutung, nach der alles im Kosmos nach oben strebt, d.-h. für Aristoteles ist das gesamte Universum von eros geprägt. 111 Dieses hellenistische Erosmotiv von Platon und Aristoteles war also den Urchristen bereits bekannt, als sie ihre eigene Definition von Liebe, Gottes Liebe und Liebe unter den Menschen entwickelten. Nygren fragt zunächst, ob man vom Erosmotiv als einem Wegbereiter oder einem Konkurrenten für das christliche Agapemotiv sprechen kann, und beantwortet die Frage unmissver‐ ständlich: Er sieht eros als konkurrierendes Motiv gegenüber agape. 112 III.2.2 Agape Nachdem im Alten Testament die Gemeinschaft von Gott und den Menschen durch die Befolgung des Gesetzes determiniert ist, d. h. Gott sich den Gerechten zuwendet, erfährt diese Verbindung eine neue Wendung im Neuen Testament, in dem Jesus Christus sagt, Gott wende sich nicht an die Gerechten, sondern an die Sünder (Mk 2,17). Dass es nicht mehr notwendig ist, sich durch die Einhaltung der Gesetze für Gottes Liebe zu qualifizieren, sondern Gott sich dem Menschen spontan und bedingungslos - oder wie Nygren sagt, „unmotiviert“ 113 - zuwendet, ist eine grundlegende Botschaft des Christentums. Somit wird aus einer Rechtsgemeinschaft eine Liebesgemeinschaft. Diese bedingungslose Liebe Gottes wird agape genannt. Nur Gott allein ist zu einer solchen Liebe fähig, weil sein ganzes Wesen Liebe ist. Der Mensch aber ist zu einer Liebe wie dieser nicht in der Lage, schließlich ist er im Gegensatz zu Gott nicht perfekt. Agape schafft eine Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen, sie ist also schöpferisch und wertschaffend. 114 Erfährt man Gottes Liebe, wird man zu dessen Eigentum, indem man sich ihm gänzlich hingibt. Laut Nygren ist Gott nicht des Menschen höchstes Gut, denn dazu müsste er über ein eigenes Leben verfügen und Gott wäre darin eines seiner Güter. Auch ist agape nicht mit amor concupiscentiae oder amor amicitiae gleichzusetzen, denn die erste zielt auf die Befriedigung weltlicher Bedürfnisse, die andere setzt eine Gleichheit zweier Ebenbürtiger voraus. Dies ist zwischen Mensch und Gott nicht gegeben. Aber wie liebt der Mensch Gott dann? Wenn er sich ihm hingibt, empfindet er spontane und umfängliche Liebe für Gott, in III.2 Eros und agape nach Nygren 39 <?page no="40"?> 115 Cf. ibid., pp. 74-77. 116 Cf. ibid., pp. 90-96. Nygren schildert im Anschluss die sogenannte Kreuztheologie, d. h. den Gedanken, dass Jesu Tod am Kreuz die bedingungslose Liebe Gottes den Menschen gegenüber am deutlichsten veranschaulicht. Cf. ibid., pp. 96-104. 117 Ibid., p.-106. 118 Cf. ibid., pp. 106-109. 119 Cf. ibid., pp. 78-83. der er alles tut, um dessen Willen zu erfüllen. 115 Dennoch kann er nicht so rein lieben wie Gott, weshalb hierfür ein anderer Name gefunden werden muss. Laut Paulus, der den Agapegedanken noch weiter ausarbeitet, indem er den Begriff agape als Gottesliebe im Christentum manifestiert, gibt es keinen Weg vom Menschen zu Gott, sondern nur von Gott zum Menschen 116 bzw. der Weg vom Menschen zu Gott wird anders bezeichnet, weil er sich auch anders ausnimmt: Wenn Agape Liebe ist, so absolut spontan und durch und durch unmotiviert, wie sie bei Jesu Kreuz hervortritt, dann paßt offenbar der Agapebegriff nicht länger als Bezeichnung für das Verhalten des Menschen zu Gott. Im Verhältnis zu Gott ist der Mensch niemals spontan; er ist kein selbständiges Zentrum. Seine Hingabe an Gott ist nur eine Antwort. Wenn sie am höchsten steht, ist sie doch nur ein Reflex seiner Liebe und durch sie motiviert. Sie ist also ein gänzlicher Gegensatz zu spontan und schöpferisch; es fehlen ihr alle die wesentlichen Kennzeichen für Agape. Die Hingabe des Menschen an Gott muss sich deshalb einen anderen Namen suchen, nicht ἀγάπη, sondern πίστις. 117 Die Einführung des Begriffs πίστις, pistis (Glaube) für die Richtung der Liebe vom Menschen zu Gott ist einer der großen Unterschiede zwischen Paulus und den Synoptikern, denn diese hatten noch keine eigene Bezeichnung für dieses Verhältnis. Dieser Glaube steht für die Empfänglichkeit des Menschen für Gottes agape, zeigt aber auch an, dass der Mensch Gott gegenüber nicht dazu in der Lage ist, agape zu schenken. Anderen Menschen, also den Nächsten, kann der Mensch aber agape schenken, denn wenn er von der Liebe Gottes erfüllt ist, strömt sie von ihm aus auf andere Menschen. 118 Die Nächstenliebe ist daher ein Widerspiegeln der göttlichen Liebe unter den Menschen. 119 Ein Schaubild soll diesen Gedanken verdeutlichen: 40 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="41"?> 120 Cf. ibid., p.-126. 121 Cf. ibid., pp. 129-137. Gott agape agape pistis Johannes geht noch einen Schritt weiter, indem er tut, was den Synoptikern vor Paulus schon fast gelungen ist, und führt Gott mit agape zusammen: „Gott ist Liebe“, heißt es in 1Joh 4,16. Er sieht Gott und agape also als eine Einheit. 120 Johannes fügt der Liebesdefinition noch einen weiteren Punkt hinzu, der uns im Folgenden noch beschäftigen soll: Während Paulus, wenn er von der Liebe zur Welt spricht, eine schutzbedürftige Welt meint, assoziiert Johannes mit dem Wort „Welt“ Sünde und Vergänglichkeit. Die Liebe zur Welt wird bei ihm die begehrende, strebende Liebe. Hier besteht für den Menschen auch die Gefahr, das Unschuldige in der Liebe zu verlieren und die Liebe zu Gott als eine begeh‐ rende Liebe zu empfinden, auch wenn sie in diesem Falle nach dem Himmlischen und einem höchsten Gut strebt. Dies ist also ein Anknüpfungspunkt für das Erosmotiv, sodass nun eine Vermischung der beiden Begriffe ihren Anfang nimmt. 121 III.2.3 Neuplatonismus Plotin, der ca. 500 Jahre nach Platon lebte, begründet den Neuplatonismus, der eine Synthese aus Platonismus und spätantiker Mysterienfrömmigkeit darstellt. Für Plotin ist die Rückkehr der Seele zum Göttlichen nicht mehr nur eine Grundlage der Religion, sondern das zentrale Thema. Vor allem das alexandrinische Weltschema kommt hier zum Tragen: Die beiden Pole von Gott und Materie werden durch Mittelwesen verbunden, wobei Gott dem Menschen entgegenkommt, indem er sich erniedrigt, und der Mensch Gott entgegenkommt, indem er sich erhebt. Wenn die Seele eines Menschen sich III.2 Eros und agape nach Nygren 41 <?page no="42"?> 122 Cf. ibid., pp. 163-171; Hermann Friedrich Müller transt.: Die Enneaden des Plotin, vol. 1, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1878, I-VI. 123 Cf. Anders Nygren: Eros und Agape, vol. 1, pp. 189-190. 124 Tatsächlich erläutert Nygren die Entwicklung bis in die Reformationszeit. Cf. Anders Nygren: Eros und Agape, vol. 2, pp. 504-559. Aber da diese Epoche für das LBA keine Rolle mehr spielt, werden Nygrens Erläuterungen hier nur bis zum Mittelalter wiedergegeben. 125 Nygrens Ausführungen zu Tertullian, Irenäus, Methodius von Olympus, Athanasius und Gregorius von Nyssa werden hier ausgelassen, weil die darin beschriebenen Etappen zwar allgemein für die Entwicklung des christlichen Liebesbegriffs wichtig sind, aber nicht unbedingt für die Fragen, die in dieser Dissertation mit Nygren beantwortet werden sollen. Cf. Anders Nygren: Eros und Agape, vol. 1, pp. 127-142, 191-212, 214-251. von der sogenannten Weltseele losreißt und ihren göttlichen Ursprung verlässt, um in der Sinnenwelt Befriedigung zu finden, hat sie ihren normalen Zustand, nämlich die Einheit von Seele und Weltseele, verloren. Die Seele ist dann aufgrund von Überschätzung der weltlichen Dinge und Unterschätzung des Selbstwerts gefangen und gefesselt. Sie selbst ist gut, was ihre Erlösung und Befreiung grundsätzlich möglich macht; das Böse dringt von außen in sie ein. Um sich daraus zu befreien, muss man die Werte wieder richtig ordnen, d. h. man muss dem Weltlichen weniger, der eigenen Seele mehr Bedeutung beimessen. Dieses stufenweise Streben zurück in den Urzustand ist eros. 122 Bei dem „Vergleich“ von eros und agape ist wichtig, wie es um die Liebe zu den Mitmenschen steht. Wie bei der Erklärung des Agapemotivs bereits erläutert, fließt die Liebe Gottes durch den Menschen zu seinen Mitmenschen. Da eros eine egozentrische Liebe ist, werden die Mitmenschen als Mittel zum Aufstieg der eigenen Seele genutzt. Jeder Gegenstand (oder Mensch) ist immer nur eine Stufe auf dem Weg nach oben. Zentral ist hier allerdings der Gedanke, dass jedes Ding (oder Mensch) ein Abbild des Urschönen ist, d. h. wenn man jemanden liebt, liebt man den göttlichen Anteil an ihm. 123 Im zweiten Band seines Werks Eros und Agape erklärt Anders Nygren, wie sich der Liebesbegriff im Laufe der Zeit, d. h. von der nachapostolischen Zeit bis ins Mittelalter 124 weiterentwickelt hat. Wir erfahren dadurch, welche Nuancen von nomos, eros und agape bei welchem theologischen Autor die Hauptrolle gespielt haben. Da diese Entwicklung für das Verständnis des mittelalterlichen Liebesbegriff in der christlichen Kirche außerordentlich wichtig ist, sollen die einzelnen Stufen hier in einer möglichst kompakten Zusammenfassung dargestellt werden. 125 42 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="43"?> 126 Cf. ibid., pp. 25-38. III.2.4 Eros und agape in der nachapostolischen Zeit und bei den Apologeten Dem Christentum dient der Agapegedanke zu Beginn, so Nygren, als Grund‐ motiv, doch bereits kurz nach seiner Entstehung, in der nachapostolischen Zeit, erfährt er eine Abschwächung in Form von Angleichung und Assimilierung, indem Einflüsse aus dem Alten Testament, also aus der Vergangenheit, ebenso auf ihn einwirken wie Strömungen der damals üblichen Anschauungen. Dies liegt u. a. daran, dass die Motive des Christentums noch nicht gefestigt sind und daher ineinander überfließen. Es zeichnen sich drei Haupttypen unter den Motiven ab: das alttestamentliche Nomos-, das hellenistische Eros- und das neutestamentliche Agapemotiv. Während das Nomosmotiv die Vergangenheit repräsentiert, in der sich das Verhältnis zwischen Gott und Mensch auf das Gesetz und dessen Erfüllung stützt, findet man die neuere, weiterentwickelte Auffassung im Eros- und dem Agapemotiv bzw. in deren Vermischung. Das Alte Testament und das darin enthaltene Nomosmotiv dienen dem Christentum als Grundlage, um darauf den eigenen Agapegedanken aufzubauen. Man beachte, dass den Christen in den ersten Jahren der Entstehung des Christentums kein Neues Testament, wie wir es kennen, zur Verfügung stand. 126 Daher war es not‐ wendig, den Spagat zwischen dem Aufbau einer eigenen Lehre und Abgrenzung zu „überholten“ Ansichten auf Basis derselben Texte zu schaffen, wobei das neue Element, nämlich Christi Botschaft von der spontanen und unmotivierten Liebe Gottes, noch gefestigt werden musste. Ohne das Alte Testament wäre die agape nicht zustande gekommen, denn ein völliges Ignorieren des Bisherigen wäre nicht möglich gewesen. Gleichzeitig schwächt aber auch der Einbezug des Alten Testaments den neugefundenen Agapegedanken, was letztendlich dazu führt, dass das alttestamentliche Nomosmotiv in den Agapegedanken eingebaut wird. Z. B. erklärt Nygren, wie in diesem Kontext Christus Gesetzgeber und zugleich Vorbild zur Erfüllung des neuen Gesetzes sowie Weltrichter wird, wenn es um Nächsten- und Feindesliebe geht. Die Grundforderung des neuen Gesetzes ist agape. V. a. die Feindesliebe wird als Überbietung der bisher so stark betonten Nächstenliebe betrachtet, verlangt sie doch mehr als nur menschliche Güte und spiegelt die bedingungslose Liebe Gottes wider. Die Liebe spielt also in allen Belangen des Christentums eine zentrale Rolle. Für die Apologeten ist die III.2 Eros und agape nach Nygren 43 <?page no="44"?> 127 Cf. ibid., pp. 38-49. Im Folgenden wählt Nygren Justin als Beispiel für die Neuorien‐ tierung des Christentums im Zuge der Anknüpfung an das Alte Testament und der Rechtfertigung des Neuen Testaments als wahre Philosophie. Philosophie wird hier als Aufzeigen eines Heilswegs verstanden, und laut Justin findet man den einzig richtigen Heilsweg nur im Christentum. Cf. ibid., pp. 51-61. Dies soll nur der Vollständigkeit halber hier gesagt sein. Auf Justins Anschauung wird deshalb nicht weiter eingegangen, weil die nachfolgenden Kapitel für die Entwicklung des Liebesbegriffs hinsichtlich des Einflusses von eros und agape wichtiger erscheinen. 128 Cf. ibid., pp. 62-77. 129 Nygren erläutert an dieser Stelle die Schwierigkeit, den Gnostizismus adäquat zu definieren, da er bereits vor dem Christentum entstand und durch christliche Einflüsse eine eigene Richtung eingeschlagen hat. Cf. ibid., pp. 77-82. Im Folgenden wird lediglich auf die Einflüsse eingegangen, die der christlich geprägte Gnostizismus zur Entwicklung der christlichen Liebeslehre beigetragen hat. unmotivierte Liebe konstitutiv für das Christentum. Es geht nun nicht mehr um die Liebe, die Gott schenkt, sondern um die, die er von den Menschen fordert. 127 Eine klare Abgrenzung vom Erosmotiv erfährt das Christentum durch die Herausbildung dreier christlicher Dogmen: Erstens gilt Gott als Schöpfer des Himmels und der Erde. Mit diesem ersten Dogma gelingt die Abgrenzung vom Erosmotiv, indem die von Gott geschaffene Welt zunächst als gut empfunden wird, d. h. man muss sich nicht mehr von ihr befreien, wie es der hellenistische Erosgedanke noch vorgibt. Das Böse entsteht in der Welt, wenn sich der Mensch dem göttlichen Willen entzieht. Das zweite Dogma bezieht sich auf die Inkarnation. Dass Gott Mensch geworden sein soll, ist für den Hellenismus nicht mehr nachvollziehbar, schließlich besteht im Hellenismus die Erlösung gerade in der Befreiung vom Fleisch. Das dritte Dogma ist die Auferstehung des Fleisches, die als göttliche Machttat aufgrund Gottes Gnade gilt. Der Mensch wird erlöst, weil Gott es so gefällt, nicht weil der Mensch einen Anspruch aufgrund seines göttlichen Seelenanteils hätte, wie es der Hellenismus beschreibt. 128 Man sieht also an dem bisher Gesagten, dass sowohl eine Grenze zwischen dem Nomos- und dem Agapemotiv gezogen werden sollte, aber auch zwischen dem Eros- und dem Agapegedanken. Dass diese Grenzen, v. a. in Richtung Hel‐ lenismus, nicht immer aufrechterhalten bleiben konnten, zeigen die nächsten Kapitel. III.2.5 Gnostizismus Vor allem über den Gnostizismus fand das Erosmotiv Einzug in das Chris‐ tentum. 129 In dieser Interpretation des christlichen Heilswegs stellt vor allem die Rückkehr der Seele zu ihrem göttlichen Ursprung das Ziel eines jeden Menschen dar. Die Welt ist eine unnatürliche Mischung aus Geistigem und Materiellem; 44 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="45"?> 130 Das Folgende gilt für Platonismus und Neuplatonismus. Cf. ibid., p.-89. 131 Cf. ibid., pp. 82-102. was erreicht werden soll, ist, diese Mischung aufzulösen und das Göttliche im Menschen in seine natürliche Heimat, nämlich die Welt des Geistigen, zurückzuführen. Die Nähe zu Platon ist hier klar erkennbar, allerdings fügt der Gnostizismus eine noch deutlichere Diskrepanz zwischen dem Geistigen und dem Weltlichen hinzu. So thront Gott in unerreichbarer Ferne in der Welt des Geistigen, während die Menschen in der verabscheuungswürdigen Welt leben. Dies wirft zwangsläufig die Frage auf, warum der erhabene Gott etwas so Hässliches wie die Welt erschaffen hat. Die Antwort darauf lautet, dass es weitere Wesen gibt, die aus ihm emanieren. Eines von ihnen ist der Weltschöpfer, der Demiurg. Dieser hat die Welt geschaffen, sodass der höchste Gott keine Schuld an ihrer Hässlichkeit trägt, sondern eben der niedrigere Gott. Auf der geistigen Ebene ist der Mensch mit dem höchsten Gott verwandt, aber sein Körper ist an die niedrige Welt gefesselt. Somit durchbricht der Mensch die eigentliche Ordnung, in der alles sich genau dort befindet, wo es hingehört. Der Mensch strebt also danach, sich von allem, auch von seinem Äther- und Astralkörper, zu befreien, während er die einzelnen Stufen der Himmelsleiter erklimmt, um zum höchsten Gott zu gelangen. Ein weiterer Unterschied zwi‐ schen Platonismus 130 und Gnostizismus besteht in der Motivation, die dazu führt, die Reise anzutreten: Im Platonismus erinnert die materielle Welt den Menschen immer wieder an seinen göttlichen Ursprung. Im Gnostizismus muss der Mensch eine Botschaft aus der geistigen Welt erhalten, um sich für die Reise bereit zu machen. Dass somit die Inspiration zur Erlösung keine menschliche Tat ist, sondern von oben initiiert wird, ist ein Element, das der Platonismus nicht kennt. Schwierig wird es aber, wenn der Gnostizismus von agape spricht. Da die Erosfrömmigkeit im Gnostizismus vorherrscht, bekommt agape in diesem Kontext die Bedeutung eines vulgären eros und wird somit maximal degradiert. Dies erklärt sich dadurch, dass, wenn der Erosgedanke in einem Heilsweg die Hauptrolle spielt, man früher oder später an den Punkt kommt, an dem man sich fragen muss, wie sich die Gottesliebe ausnimmt. Diese kann nicht dieselbe sein wie die, die der Mensch Gott gegenüber empfindet, schließlich geht es bei der Liebe zu Gott um ein Streben nach etwas Höherem. Da Gott über allem steht, kann er nicht ebenso empfinden wie die Menschen, sonst wäre die Liebesrichtung verdreht. Seine Liebe richtet sich nach unten und muss daher einen anderen Namen tragen, in diesem Falle eben agape. Gleichzeitig handelt es sich dabei aber um eine niedrigere Liebe, die sich auf etwas so Scheußliches wie die Welt richtet, was - kurz gesagt - eine vulgäre Nuance bekommt. 131 III.2 Eros und agape nach Nygren 45 <?page no="46"?> 132 Cf. ibid., pp. 109-127. Erst Marcion betont erneut den Agapegedanken - und das, obwohl auch er von den Kirchenvätern als Gnostiker angesehen wurde und für sie als Ketzer galt. Nygren erläutert aber, dass er sich von den Gnostikern insofern unterscheidet, als er die Erlösung als eine göttliche Tat interpretiert, nicht als eine Tat der Menschen selbst. Marcions Meinung nach gibt es einen Gott, der die Welt erschuf, und einen, der in Christus die Erlösung der Menschheit vollzog. Weil der Mensch Teil der unvollkommenen und vom schwachen Demiurgen geschaffenen Welt ist, ist auch er ebenso unvollkommen und schwach, d. h. an‐ ders als die meisten Gnostiker sieht er den Menschen nicht als Wesen göttlichen Ursprungs. Der Gott, der mit Christus die Erlösung brachte, liebt die Menschheit trotz ihrer Schwäche spontan und überschwänglich, obwohl er nichts davon hat, wenn er das Elend der Menschen beendet. Ähnlich wie Paulus deutet Marcion diese Zuwendung Gottes als Akt reiner Güte. Für ihn liegt hierin der charakteristischste Zug dieses Gottes. Gleichzeitig verwirft Marcion, so Nygren, das Alte Testament und damit den Nomosgedanken. Er sieht das Christentum als etwas absolut Neues an. Selbst mit dem Neuen Testament zieht er hart ins Gericht, indem er nur Teile davon anerkennt - und diese auch nur nach Bereinigung von judaistischen Prägungen. Auch die allegorische Schriftdeutung ist ihm zu willkürlich, weswegen er die buchstäbliche Deutung für unerlässlich hält. Trotz seiner starken Betonung des Agapegedankens teilt Marcion auch die ein oder andere Ansicht mit den Gnostikern, z. B. die Interpretation der drei Grunddogmen des Christentums, die in Kapitel III.2.4 beschrieben werden. Indem er sagt, Gott sei nichts als Liebe, und sich sowohl gegen den Nomismus des Alten Testaments als auch die Erosfrömmigkeit des Hellenismus wandte, erfährt der Agapegedanke bei ihm gerade durch die Negierung des Nomismus eine gewisse Abschwächung. Nygren erklärt dies damit, dass man die Sünde schließlich erkennen muss, um agape zu erleben. Hier bezieht sich Nygren auf Röm 3,20: „Denn durch das Gesetz kommt die Erkenntnis der Sünde.“ Unter anderem deswegen hielten die Kirchenväter Marcion für den Vertreter eines fremden Christentums. Dadurch erhielt wiederum das Nomosmotiv eine stärkere Bedeutung in der Großkirche. 132 III.2.6 Die alexandrinische Theologie Nygren fährt mit der alexandrinischen Theologie fort und sagt, diese habe ein neues Stadium bezüglich des eros-agape-Problems eröffnet. In Alexandria, der geistigen Hauptstadt der Spätantike, trafen verschiedenste Kulturen und damit 46 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="47"?> 133 Ibid., p.-144. auch ihre jeweiligen Religionen aufeinander, weswegen hier der Religionssyn‐ kretismus zu Hause war. Die Erosfrömmigkeit setzte sich auch hier durch: Der antike Leitsatz „Erkenne dich selbst“ wurde zu einem „[E]rkenne dein göttliches Wesen und sorge für dessen Rückkehr zur göttlichen Welt“ 133 . Das alexandrinische Weltschema, das ebenfalls aus dieser Zeit stammt, thematisiert das kosmologische Herabsteigen sowie das soteriologische Aufsteigen. All dies zeigt, wie stark die in Alexandria entstandene Philosophie vom Erosgedanken geprägt war. Vor allem für die zwei Vertreter, auf die sich Nygren im Folgenden konzentriert, Clemens Alexandrinus und Origenes, ist der hellenistische Ein‐ fluss positiv konnotiert - obwohl eros und agape auch bei ihnen eigentlich nur schwer vereinbar gewesen sein müssen. Laut Nygren überwinden die beiden den ursprünglichen Widerspruch zwischen eros und agape mit der allegorischen Schriftdeutung, d.-h. durch ihre Suche nach dem pneumatischen Sinn in den Worten der Schrift gelingt es ihnen, die Diskrepanz zwischen den beiden Theorien auszugleichen, wobei der Erosgedanke erneut die Vormacht‐ stellung erreicht. Für Clemens erzieht Gott den Menschen durch den logos und führt ihn so zu seiner eigenen Vervollkommnung. In diesem Sinne werden die Weisheiten des Alten Testaments und der griechischen Philosophie zu einer Art Vorbereitung. Die Vervollkommnung besteht im Christentum bzw. in der Offenbarung des logos durch Christus. Somit steht für Clemens das Christentum über dem Judentum und dem Hellenismus. Trotzdem reicht es laut Clemens nicht, nur dem Christentum anzuhängen, denn auch wenn man sich dazu bekennt, muss der Glaube noch geschärft werden, indem er verschiedene Stufen durchläuft. Der Glaube, den Gott den Menschen mit auf den Weg gibt, wird somit zu einer Grundlage für den rechten Weg, die wichtig ist, aber verfeinert werden muss, indem man die gnosis, also den wahren Glauben und die Liebe zu Gott erreicht. Für Clemens ist der Gnostiker der wahre Christ, ein Gläubiger auf der nächsthöheren Stufe, dem es gelingen kann, zum Kern des Glaubens vorzudringen. Der wahre Gläubige handelt laut Clemens nicht aus Furcht und Angst vor, sondern nur aus Liebe zu Gott richtig. Er will damit keinen Zweck erfüllen oder einen eigenen Vorteil aus seinem Handeln ziehen, sondern tut Gutes um des Guten willen. So erreicht er die Vollendung und wird selbst göttlich. Nygren folgert aus diesem Gedanken, dass gnosis hier nur ein anderer Name für eros wird. Clemens selbst benutzt für diese neue Stufe allerdings das Wort agape. Hinter seiner Theorie und Wortwahl steht für Nygren die Liebe als Leitprinzip. Das Ziel des wahren Gnostikers ist es, auf Erden das engelgleiche Leben und das Höchstmaß an Vollendung zu erreichen III.2 Eros und agape nach Nygren 47 <?page no="48"?> 134 Cf. ibid., pp. 143-164. 135 Cf. ibid., pp. 164-165. 136 Ibid., p.-165. sowie im künftigen Leben, also nach dem Tod, die sieben Himmelssphären zu durchschreiten, bis er Gott schauen und bei ihm zu ewiger Ruhe kommen darf. Nach diesen Zielen strebt der Gnostiker, wobei agape die treibende Kraft auf diesem Weg ist. Gott liebt den Menschen, schließlich hat er ihn eigenhändig geformt und ihm göttliches Wesen eingehaucht. Dieser göttliche Anteil im Menschen ist gut und entlockt Gott seine Liebe für den Menschen. Die Liebe unter den Menschen ist geprägt von Nächstenliebe, die hier wiederum bedeutet, sich dem anzunehmen, der Barmherzigkeit schenkt, sprich, zunächst liebt der Mensch Christus. Christus zu lieben bedeutet, seine Gebote zu befolgen und das heißt, man soll sich auch denjenigen zuwenden, die ebenfalls an Christus glauben. Wer sich in agape und Nächstenliebe übt, befindet sich laut Clemens auf dem sichersten Weg, seine Sünden auszugleichen. 134 III.2.7 Origenes Origenes stellt nun einen Meilenstein in Sachen christlicher Liebeslehre dar, denn er schafft, so Nygren, eine echte Religionssynthese aus Hellenismus und christlicher Anschauung. 135 Er ist mit vollster Überzeugung ein Christ, aber auch ebenso überzeugter Platoniker. Neben Augustin ist Origenes das interessanteste Beispiel einer solchen religiösen Motivmischung. Die Möglichkeit, die beiden strittigen Motive miteinander zu ver‐ binden, erhält er durch die allegorische Deutungsmethode. Mit ihrer Hilfe kann er die platonischen Gedankengänge und Mythen so umdeuten, daß sie sich dem biblischen Inhalt nähern. Aber umgekehrt konnte er auch - und das ist noch wichtiger - mit Hilfe der allegorischen Schriftdeutung die platonische Anschauung als verborgenen geistigen Inhalt des Christentums auffassen. 136 Insgesamt behält aber auch bei Origenes das Erosmotiv die Oberhand. Von agape spricht er in seinen Schriften nur, wenn er das Christentum gegen dessen Kritiker verteidigen muss. Wenn es um die Frage der Gottesgemeinschaft geht, basiert die Antwort für ihn auf der Erosfrömmigkeit. Ihr Ziel ist es, Gott zu schauen, wie es auch bei Platon zu finden ist. Der Heilsweg ist als eine Himmels‐ leiter aufgebaut, die ebenfalls im Hellenismus bereits bekannt war, aber auch im Alten Testament beschrieben wird. Für Origenes endet die Himmelsleiter nicht mit dem Eintritt ins Himmelreich, d. h. nach dem Tod, sondern wird auch dort noch bis zum Erreichen des Göttlichen fortgesetzt. Ähnlich wie bei Clemens 48 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="49"?> 137 Cf. ibid., pp. 164-184. besteht der Aufstieg aus zwei Stufen: Die erste Stufe erreicht man über den bloßen Glauben, die zweite über die gnosis, die zur Gottesschau führt. Der wahre Unterschied zwischen Platonismus und Christentum besteht für Origenes in der angesprochenen Personengruppe. Während sich der Platonismus an eine kleine Elite richtet, gilt das Christentum für alle Menschen: Die Gebildeten erreichen das höchste Ziel der Gottesschau; wer ungebildet ist, bleibt deswegen aber trotzdem nicht zurück, sondern diesen Menschen wendet sich Christus zu. So steht den Gebildeten der Erosweg offen, für alle anderen gibt es den Umweg über agape. Voraussetzung ist aber sowohl für die Gebildeten als auch für die Ungebildeten, sich von der Sünde zu befreien. Wer das geschafft hat, darf sozusagen einen Schritt weiter auf der Himmelsleiter gehen. Wer sich aber den notwendigen Unterweisungen zum Loslassen von den Sünden widersetzt, dem wird mit Strafe gedroht, um den Weg der Besserung einzuschlagen. Gott, der einzig Seiende und Schöpfer der Welt, hat den Menschen mit freiem Willen versehen. Damit besteht zwar das Risiko, dass sich der Mensch von Gott abwendet, aber auch die Möglichkeit, sich ihm wieder zuzuwenden. Der Mensch hat also die Wahl, ob er zu Gott aufsteigen oder in seinem Gefängnis des Körpers und der Sinne verweilen will. 137 Im Hohelied wird die eros-agape-Problematik von Origenes gezielt unter‐ sucht. Zum besseren Verständnis für Nygrens weitere Ausführungen lohnt sich an dieser Stelle ein kurzer Exkurs zu Origenesʼ Hoheliedkommentar (Commen‐ tarium in Cantica Canticorum, CCC). - III.2.7.1 Exkurs: Origenesʼ Hoheliedkommentar Bibelexegese und -hermeneutik waren und sind unerlässlich, um den Sinn vieler Textstellen der Heiligen Schrift zu verstehen. Ein Text wie das Hohelied Salomos bedarf einer besonders ausführlichen Erläuterung, denn es wirkt zunächst nicht wie ein biblischer Text, geht es doch um eine Braut und ihren Bräutigam, die sich nacheinander sehnen und verzehren. Ulrich Gaier schreibt über seine Entstehung: Das Hohelied wurde in vorchristlicher Zeit zu jüdischen Hochzeitsfeiern gesungen, nachdem es wahrscheinlich erst im 5./ 4. Jahrhundert v. Chr. gesammelt und mit der (wohl in salomonischer Zeit begonnenen, aber ebenfalls ins 5. Jahrhundert herabreichenden) Weisheitsliteratur dem fiktiven Verfasser Salomo zugeschrieben worden war. […] In den ersten nachchristlichen Jahrhunderten kam die allegorische Deutung von der Liebe Gottes zur Synagoge auf, mit der der Text im Kanon der heiligen Schriften gesichert werden konnte; christliche Deuter schlossen sich an III.2 Eros und agape nach Nygren 49 <?page no="50"?> 138 Ulrich Gaier: „Lieder der Liebe. Herders Hohelied-Interpretation“, in: Anselm C. Hagedorn ed.: Perspectives on the Song of Songs - Perspektiven der Hoheliedauslegung, Berlin: Walter de Gruyter 2005, pp. 317-337, ibid. pp. 317 sq. 139 Cf. ibid., p.-318. 140 Als bedeutender Theologe der griechischen Kirche (cf. Joachim Schäfer: „Origenes“, in: id.: Ökumenisches Heiligenlexikon. https: / / www.heiligenlexikon.de/ BiographienO/ Orig ines_Adamantios.html [Stand: 5.2. 2022]) schrieb Origenes seinen Hoheliedkommentar auf Griechisch, allerdings ist das Original nur noch fragmentarisch erhalten. Die lateinische Übersetzung stammt von Rufinus von Aquileja. Cf. Alfons Fürst, Holger Strutwolf: „Einleitung“, in: Origenes: Der Kommentar zum Hohelied, edd. et transtt. Alfons Fürst, Holger Strutwolf, Berlin: Walter de Gruyter 2016 (Alfons Fürst, Christoph Markschies edd.: Werke mit deutscher Übersetzung, vol. 9/ 1), pp.-3-54, ibid. p.-3. 141 Friedrich Ohly: „Kommentar“, in: Anonymus: Das St. Trudperter Hohelied - eine Lehre der liebenden Gotteserkenntnis, ed. Friedrich Ohly, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker- Verlag 1998 (Bibliothek des Mittelalters, vol. 2, Bibliothek deutscher Klassiker, vol. 155), pp. 315-1267, ibid. p.-320. 142 Cf. ibid., pp. 320, 329. und interpretierten das Liebesverhältnis typologisch als Vorausdeutung auf die Liebe zwischen Christus und seiner Kirche. 138 Das bedeutet, die Braut im Hohelied wird ab diesem Zeitpunkt als Allegorie für die Kirche verstanden, der Bräutigam als Christus. Später interpretierte z. B. Bernhard von Clairvaux die Liebenden des Hohelieds als Christus und die minnende Seele. 139 Einer der wahrscheinlich bekanntesten Hoheliedkommentare stammt von Origenes 140 , den Friedrich Ohly als „Schöpfer der allegorischen Hoheliedausle‐ gung“ 141 bezeichnet. Er war der erste Exeget, der das Lied der Lieder zur Gattung des Dramas zählte. 142 Interessant an seinem Kommentar in diesem Kontext ist vor allem seine Erklärung zum Gebrauch der Bezeichnungen für die Liebe: Videtur autem mihi quod diuina scriptura uolens cauere, ne lapsus aliquis legentibus sub amoris nomine nasceretur, pro infirmioribus quibusque eum, qui apud sapientes saeculi cupido seu amor dicitur, honestiore uocabulo caritatem uel dilectionem nominasse, uerbi gratia […]. Et in his ergo et in aliis pluribus locis inuenies scripturam diuinam refugisse amoris uocabulum et caritatis dilectionisque posuisse. Interdum tamen, licet raro, proprio uocabulo amorem nominat et inuitat ad eum atque incitat animas […]. Arbitror autem quod, ubi nulla lapsus uidebatur occasio, ibi tantum nomen amoris inseruit. Quid enim passibile aut quid indecorum possit aliquis aduertere in amore sapientiae uel in eo, qui se amatorem profiteatur esse sapientiae? […]. Apertissime autem et in hoc ipso libello, qui habetur in manibus, amoris nomen caritatis uocabulo permutatum est […]. 50 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="51"?> 143 Origenes: Der Kommentar zum Hohelied, edd. et transtt. Alfons Fürst, Holger Strutwolf, Berlin: Walter de Gruyter 2016 (Alfons Fürst, Christoph Markschies edd.: Werke mit deutscher Übersetzung, vol.-9/ 1), Prologus 2,20, 22-25, 33. Nihil ergo interest, in scripturis diuinis utrum amor dicatur an caritas an dilectio, nisi quod in tantum nomen caritatis extollitur, ut etiam Deus ipse caritas appelletur […]. Sic ergo quaecumque de caritate scripta sunt, quasi de amore dicta suscipe nihil de nominibus curans; eadem namque in utroque uirtus ostenditur. Es scheint mir jedoch, dass die göttliche Schrift, weil sie verhüten wollte, dass die Nennung des Eros (amor) für die Leser zur Ursache für einen Fehltritt wird, zum Schutz gerade der Schwächeren das, was bei den Weltweisen Begehren (cupido) oder Eros (amor) genannt wird, mit einem ehrbareren Wort als Liebe (caritas) oder Zuneigung (dilectio) bezeichnet hat […]. Du wirst also an diesen und an vielen anderen Stellen finden, dass die göttliche Schrift das Wort „Eros“ vermieden und durch Liebe und Zuneigung ersetzt hat. Manchmal allerdings, wenn auch selten, nennt sie den Eros bei seinem eigentlichen Namen und lädt die Seelen zu ihm ein und stachelt sie an […]. Ich meine aber, dass die Schrift dort, wo kein Anlass, zu Fall zu kommen, gegeben zu sein schien, einfach das Wort „Eros“ einsetzte. Welche Leidenschaftlichkeit nämlich oder welche Unanständigkeit könnte jemand in der Liebe zur Weisheit finden oder bei dem, der bekennt, ein Liebhaber der Weisheit zu sein? […]. Aber ganz offenkundig ist selbst in diesem Buch, das wir in den Händen halten, die Bezeichnung „Eros“ durch das Wort „Liebe“ ersetzt […]. Es macht also keinen Unterschied, ob in den göttlichen Schriften von Eros oder von Liebe oder von Zuneigung gesprochen wird, außer dass der Begriff der „Liebe“ so weit herausgehoben wird, dass sogar Gott selbst als Liebe bezeichnet wird […]. So nimm denn alles, was über die Liebe geschrieben steht, auf, als ob es über den Eros gesagt wäre, und kümmere dich nicht um die Bezeichnungen; dieselbe Bedeutung zeigt sich nämlich in beidem. 143 Wie man an diesen Ausführungen erkennt, wurden in der Bibel unterschiedliche Begriffe für die Liebe gewählt, um Missverständnisse zu vermeiden. Dennoch können die Bezeichnungen amor, caritas und dilectio auch synonym verwendet werden, v. a. dann, wenn nach Meinung des Origenes eindeutig erkennbar ist, welche Art von Liebe gemeint ist, die Zuneigung, die körperliche oder die geistige Liebe, die Liebe zu Gott, die Liebe zu den Menschen etc. Auch die sinnliche Nuance in Bezug auf die Liebe im Sinne der christlichen Religion darf entsprechend bezeichnet werden: III.2 Eros und agape nach Nygren 51 <?page no="52"?> 144 CCC, Prologus 2,36. 145 Ibid., Prologus 2,33. 146 Cf. ibid., Prologus 2,38-40. Non ergo interest, utrum amari dicatur Deus aut diligi, nec puto quod culpari possit, si quis Deum, sicut Iohannes caritatem, ita ipse amorem nominet. Es macht also keinen Unterschied, ob man sagt, Gott werde heiß geliebt oder innig geliebt, und ich glaube nicht, dass man es missbilligen könnte, wenn jemand Gott, so wie Johannes ihn Liebe nennt, Eros nennen würde. 144 Benutzt man Bezeichnungen für Liebe für Sündhaftes, gebraucht man sie nicht richtig: Quod si quis dicat quia et pecuniam et meretricem et alia similiter mala eodem uocabulo, quod a caritate duci uidetur, diligere appellamur, sciendum est in his non proprie, sed abusiue caritatem nominari. Wenn aber jemand einwenden sollte, dass mit demselben Begriff, der von der Liebe abgeleitet zu sein scheint, über uns gesagt wird, dass wir das Geld, ein Freudenmäd‐ chen und andere ähnlich schlechte Dinge lieben, muss man wissen, dass in diesen Fällen der Begriff der Liebe nicht im eigentlichen, sondern im uneigentlichen Sinne gebraucht wird. 145 Laut Origenes hat Gott dem Menschen die Gabe der Liebe geschenkt. Allerdings widmet der Mensch seine Aufmerksamkeit und Hingabe nicht immer Gott, sondern es kann passieren, dass er seine Liebe auf Ablenkungen oder sogar auf Laster und Sünden richtet, was selbstverständlich nicht rechtens ist, denn nur Gott soll geliebt werden. 146 Um seinen Leser: innen zu erklären, wie einzigartig und exklusiv die Liebe Gottes für den Menschen ist und wie sich der Mensch verhält, der allein Gott liebt, greift Origenes zu folgenden Worten: Ponamus, uerbi causa, mulierem amore uiri alicuius ardentem cupientemque in consortium eius adscisci, nonne omnia ita aget et omnes motus suos ita temperabit, ut scit illi placere, quem diligit, ne forte, si in aliquo contra uoluntatem illius egerit, consortia eius uir ille optimus refutet ac spernat? Poteritne haec mulier, quae erga amorem uiri illius toto corde, tota anima, totisque uiribus feruet, aut adulterium committere, quae eum nouerit amare pudicitiam, aut homicidium, quae eum nouerit mitem, aut furtum, quae ei sciat liberalitatem placere, aut concupiscet aliena, quae omnes suas concupiscentias erga amorem uiri illius habeat occupatas? Sic ergo in caritatis perfectione et omne mandatum restaurari dicitur [Röm 13,9] et legis uirtus prophetarumque pendere. [Mt 22,40] 52 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="53"?> 147 Ibid., Prologus 2,43. 148 Cf. ibid., I 6,6-14. 149 Cf. ibid., II 2. Nehmen wir zum Beispiel eine Frau, die in Liebe zu einem Mann entflammt ist und sich danach sehnt, mit ihm verbunden zu werden: Wird sie nicht in allen Dingen so handeln und alle ihre Bewegungen so einrichten, wie sie weiß, dass es dem, den sie liebt, gefällt, damit dieser außergewöhnliche Mann nicht etwa, falls sie etwas gegen seinen Willen tun sollte, ihre Begleitung ablehnt und verschmäht? Könnte diese Frau, die mit ganzem Herzen, ganzer Seele und allen Kräften in Liebe zu diesem Mann brennt, Ehebruch begehen, wenn sie weiß, dass er Keuschheit liebt, oder einen Mord, wenn sie ihn als friedfertigen Mann kennt, oder einen Diebstahl, wenn sie weiß, dass ihm Freigebigkeit gefällt, oder wird sie fremde Dinge begehren, wo sie doch all ihr Verlangen auf die Liebe zu diesem Mann gerichtet hat? In diesem Sinne also heißt es, dass in der Vollkommenheit der Liebe das ganze Gebot zusammengefasst ist [Röm 13,9] und die Kraft des Gesetzes und der Propheten daran hängt. [Mt 22,40] 147 Auch hier wird erneut deutlich, wie das Bild der zärtlichen Liebe zur Veran‐ schaulichung der Liebe zu Gott verwendet wird. Ein redliches, tugendhaftes Ver‐ halten ist für das Erlangen der Vollkommenheit, der Liebe (caritas), unerlässlich. Zur Redlichkeit gehören auch die Tugenden der Wahrheit, der Gerechtigkeit und natürlich der Keuschheit. 148 Auffällig ist in Origenesʼ Kommentar zudem die Dialektik zwischen Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Gerade und Krumm 149 - ebenso wie wir es aus den Schriften des Apostels oder auch dem LBA kennen. Diese Gegenüberstellung von Werten, richtigen und falschen Verhaltensweisen ist ein zentrales Thema in christlichen Kontexten. Ebenso wie für Paulus, auf den sich Origenes ebenfalls oft bezieht, ist die Darstellung von Gegensätzen auch für Origenes ein Weg, um seine Leser: innen vom Guten zu überzeugen und auf etwaige Gefahren aufmerksam zu machen, sollte man sich vom Bösen verleiten lassen. Hier sei ein kurzer Hinweis zum LBA erlaubt: Während in den meisten christlichen Schriften die Trennlinie zwischen Gut und Böse klar gezeichnet ist und die Lehrwerke moralische und religiöse Konsequenzen aufzeigen für diejenigen, die sich nicht regelkonform verhalten, sticht das LBA allerdings genau dadurch hervor, dass es eben die Schwierigkeiten bei der Unterscheidbarkeit von Gut und Böse betont, die nicht zuletzt aufgrund der Wortwahl entsteht, weil amor sowohl die fleischliche als auch die tugendhafte Liebe bezeichnet. Im dritten Buch seines Kommentars erklärt Origenes, dass jeder Mensch ab einem gewissen Alter, der Pubertät, etwas lieben muss, diese Liebe aber in dreierlei Weise auch falsch gelebt werden kann, nämlich indem man entweder III.2 Eros und agape nach Nygren 53 <?page no="54"?> 150 Cf. ibid., III 7,1-12. 151 Ibid., III 8,13-14. die falschen Dinge liebt oder dem Richtigen zu viel bzw. zu wenig Liebe entgegenbringt. Nur Gott darf und soll man maß- und grenzenlos lieben, allerdings gibt es ansonsten und vor allem bei der Liebe zwischen den Menschen ein Maß, das es einzuhalten gilt, nämlich: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Mt 19,19). Aber auch hier gibt es Unterschiede, schließlich verhalten sich manche Menschen ehrenhafter als andere oder unterrichten ihre Mitmenschen sogar im christlichen Glauben. Diese soll man mehr lieben als diejenigen, die nicht gottgefällig leben oder andere sogar vom rechten Weg abbringen. 150 Nun gibt es aber einen Punkt, an dem die Bilder der römischen Vorstellungs‐ welt vom Verliebtsein in die christliche Sprache übergegangen sind. Origenes schildert die Emotion, die ein Mensch Gott gegenüber haben kann, mit deutlicher Ähnlichkeit zur Verwundung eines Verliebten durch den Pfeil Amors: Si quis usquam est, qui fideli hoc amore Verbi Dei arsit aliquando, si quis est, ut propheta dicit, qui electi iaculi [Jes 49,2] eius dulce uulnus accepit, si quis est, qui scientiae eius amabili confixus est telo, ita ut diurnis eum desideriis nocturnisque suspiret, aliud quid loqui non possit, audire aliud nolit, cogitare aliud nesciat, desiderare praeter ipsum aut cupere aliud uel sperare non libeat, ista anima merito dicit: ‚Vulnerata caritatis ego sum‘ [Hld 2,5] et ab illo uulnus accepit, de quo dicit Isaias: ‚Et posuit me sicut iaculum electum, et in pharetra sua abscondit me.‘ [Jes 49,2] Tali uulnere decet Deum percutere animas, talibus telis iaculisque configere ac salutaribus eas uulneribus sauciare, ut, quia Deus caritas est, [1Joh 4,8] dicant et ipsae: ‚Quia uulnerata caritatis ego sum.‘ [Hld 2,5] Wenn es irgendwo jemanden gibt, der irgendwann einmal in dieser treuen Liebe zum Wort Gottes entbrannt ist, wenn es jemanden gibt, wie der Prophet sagt, der von seinem auserwählten Pfeil [ Jes 49,2] eine süße Wunde empfangen hat, wenn es jemanden gibt, der vom liebenswerten Speer seiner Erkenntnis durchbohrt worden ist, so dass er sich Tag für Tag und Nacht für Nacht in Sehnsucht nach ihm verzehrt, nichts anderes reden kann, nichts anderes hören will, nichts anderes zu denken weiß, nichts anderes als ihn begehren oder ersehnen oder erhoffen mag, diese Seele sagt mit Recht: „Wund vor Liebe bin ich.“ [Hld 2,5] Und sie hat die Wunde von dem empfangen, über den Jesaja sagt: „Und er machte mich zu einem auserwählten Pfeil, und in seinem Köcher verbarg er mich.“ [ Jes 49,2] Es geziemt Gott, die Seelen mit einer solchen Wunde zu erschüttern, mit solchen Speeren und Pfeilen zu durchbohren und sie mit heilsamen Wunden zu verletzen, so dass sie, weil Gott die Liebe ist, [1Joh 4,8] auch selbst sagen: „Denn wund vor Liebe bin ich.“ [Hld 2,5] 151 54 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="55"?> 152 Cf. ibid., III 8,15. 153 Cf. ibid., III 13,25. 154 Cf. LBA, cc. 181-652. Wenn Gott bzw. Christus mit den Attributen des Amor bzw. Cupido versehen wird, also mit Pfeilen, die mitten ins Herz treffen und die Verwundeten in gren‐ zenloser Liebe entbrennen lassen, ist es für die weniger gebildeten Leser: innen natürlich leicht, eine Parallele herzustellen bzw. sogar die Definitionen von Liebe zu Gott und Verliebtsein (in eine andere Person) zu verwechseln. Die Liebe zu Gott, die hier durch Pfeile ihren Weg in die Herzen der Menschen findet, wird begleitet von Weisheit, Kraft und Gerechtigkeit 152 , was der Wunde mehr Erhabenheit und Ehre verleiht als die wirre, unbändige Liebe, die Amor bzw. Cupido verursacht. Aber nicht nur das Handeln eines Menschen unterteilt sich in Gut und Böse, sondern auch seine Gedanken. Laut Origenes stammen die guten Gedanken, die ein Mensch hat, von Gott, die schlechten hingegen werden ihm von Dämonen eingeflüstert. 153 Im LBA wären diese Dämonen wohl Don Amor und Doña Venus, denn sie verleiten den Erzpriester zu seinen Liebesabenteuern, sagen ihm, worauf er bei einer Frau achten soll und wie er sie für sich gewinnt 154 , ohne dabei die Lehren des christlichen Glaubens zu achten. Dieser Punkt wird in Kapitel IV ausführlich dargestellt. - III.2.7.2 Der Liebesbegriff bei Origenes nach Nygren Nygren erläutert, dass sich laut Origenes das Hohelied ausschließlich an die vollkommenen Christen, die Gnostiker, richtet und nur ihnen verständlich sein kann. Es gibt hier keinen buchstäblichen Schriftsinn, nur die allegorische, tiefere Bedeutung. Er warnt sogar davor, Ungebildete mit diesem Text zu konfrontieren, denn sie könnten darin einen vulgären eros finden. Für Origenes wird im Hohelied der eros beschrieben, der als treibende Kraft die Seele befähigt, sich von der Erde abzuheben bis ins Himmelreich. Die Glückseligkeit kann man nur erreichen, wenn man nach Liebe verlangt und strebt. Weil der Begriff des eros bereits bei den Menschen, selbst bei den Gebildeten, die Assoziation zum vulgären eros hervorruft, bedient er sich bei seinen Ausführungen zum Hohelied vornehmlich des Begriffs der agape. Nur dort, wo der Ausdruck eros unmissver‐ ständlich ist, wird er verwendet. Agape dient Origenes also nur als schützende Verkleidung für den eigentlichen Begriff eros, was den Gnostikern aber bekannt sein dürfte. So kommt es, dass hier eros und agape als Synonyme verwendet werden können. Laut Nygren zielt Origenes auf eine gänzliche Identifikation des platonsichen Erosgedankens mit dem christlichen Agapemotiv ab. So kommt Origenes zu dem Schluss, Gott sei eros und agape. Darin besteht die Synthese, III.2 Eros und agape nach Nygren 55 <?page no="56"?> 155 Cf. Anders Nygren: Eros und Agape, vol. 2, pp. 184-191. 156 Cf. ibid., pp. 255-262. 157 Um die Entwicklung zentraler Begriffe von Origenes bis Augustin deutlich zu machen, wäre es wünschenswert gewesen, zu untersuchen, wie sich Augustin zum Hohelied geäußert hat. Allerdings gibt es von ihm keinen fortlaufenden Kommentar zum Lied der Lieder. Seine Äußerungen zu diesem biblischen Text findet man verstreut über sein gesamtes Werk. (Cf. Anne-Marie La Bonnardière: „Le cantique des cantiques“, Revue des études augustiniennes, 1 (1955), 225-237, ibid. 225.) Dafür setzt sich Augustin in vielen seiner Werke mit dem christlichen Liebesbegriff auseinander, sodass eine Beschränkung auf die Hoheliedinterpretation fast zu wenig aufschlussreich gewesen wäre. Daher wird im Folgenden auf den Liebesbegriff bei Augustin allgemein eingegangen. die er geschaffen hat und in der die Liebe als elementare Kraft verstanden wird, die allen Menschen innewohnt. Die Frage ist nur, wo der Mensch Befriedigung für seine Liebe findet, in der geistigen oder der sinnlichen Welt. 155 Ähnlich geht auch Augustin mit der Frage nach der rechten Orientierung des Menschen um, wie die folgenden Kapitel zeigen. III.2.8 Augustin Über Augustins Beitrag zur Entwicklung des christlichen Liebesgedankens sagt Nygren, die christliche Liebeslehre sei mit ihm in ein neues Stadium eingetreten. Dies erreicht Augustin, indem er mit dem Caritasbegriff eine Synthese aus eros und agape erzielt, die für die folgenden Jahrhunderte richtungsweisend sein wird. Für Augustin ist die Liebe das Zentrum des Christentums bzw. das Christentum ist die Religion der Liebe. Caritas - das ist für Augustin nicht nur die Liebe zu Gott, sondern auch religiöser und ethischer Mittelpunkt seiner Theorie. Sie ist die Wurzel alles Guten, während das fleischliche Begehren die Wurzel alles Bösen darstellt. Indem Gott den Menschen seine Liebe schenkt, lehrt er sie, ihn auf die richtige Weise zu lieben. Selbst Vorschriften braucht der Mensch nicht mehr, wenn die Liebe herrscht. Die Nächstenliebe ist dabei ein weiterer Weg, um Gott zu lieben. Grundvoraussetzung für das rechte Verständnis der caritas ist es, Gott als das höchste Gut anzuerkennen. 156 Da Augustin eine so zentrale Rolle für das hier behandelte Thema spielt, soll seine Theorie genauer untersucht werden. Wie Gott als das höchste Gut zu verstehen ist, bedarf einer genaueren Erläuterung, die bei Hannah Arendt zu finden ist. Bevor Nygrens Standpunkt weiter dargelegt wird, soll im Folgenden mit Arendt erklärt werden, was es mit Augustins Begrifflichkeiten auf sich hat. 157 56 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="57"?> 158 Cf. Frauke A. Kurbacher: „Liebe zum Sein als Liebe zum Leben. Ein einleitender Essay“, in: Hannah Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustin - Versuch einer philosophischen Interpretation, Hildesheim: Georg Olms Verlag 2007, pp. XI-XLIV. 159 Ibid., p. XXXIII. 160 Cf. ibid., p. XXV. 161 Im Folgenden wird eine Kurzfassung des arendtschen Werks wiedergegeben, d. h. es wird nur auf die Begriffe Bezug genommen, die für die vorliegende Dissertation ausschlaggebend sind. III.2.8.1 Exkurs: Der Liebesbegriff bei Augustin nach Arendt Bereits 1928 beschäftigte sich Hannah Arendt mit dem Liebesbegriff bei Au‐ gustin in ihrer gleichnamigen Dissertation. In der 2007 erschienen Ausgabe dieses Werks findet sich der einleitende Essay von Frauke Kurbacher 158 , in dem vom Dualismus die Rede ist: In Augustinusʼ Liebeskonzeption wird die Liebe durch das Verhältnis Gott-Mensch in‐ stituiert und entsprechend seiner dualistischen Weltauffassung in zwei Liebesweisen geteilt, in eine caritas und eine cupiditas, die beide zwar ein Begehren (appetitus) zum Grunde haben, aber verschiedene Ziele. Das erste verbürgt Liebe göttlich, das zweite läßt sie endlich sein, wie den Menschen selber, dem es aber möglich ist, sich der caritas zuzuwenden und letztlich - qua Gnade - dieser auch teilhaftig zu werden. 159 Allein die Aufteilung in eine dem Göttlichen zugewandten Liebe (caritas) und einer weltlich orientierten Liebe (cupiditas) lässt erkennen, wie nah der Erzpriester der augustinischen Sichtweise mit seinen Bezeichnungen buen amor und loco amor steht. Kurbacher betont aber nicht nur die Darstellung dieser zwei Welten, sondern auch die Möglichkeit, den falschen Weg zu verlassen und den guten einzuschlagen (conversio) 160 - und auch dieser Begriff ist für das LBA wichtig, denn der Arcipreste versucht ebenfalls, seine Leser: innen vom falschen Weg abzubringen und auf den guten zurückzuführen. Basierend auf Hannah Arendts Analysen lässt sich der Grundgedanke des augustinischen Liebeskonzepts wie folgt darstellen: 161 Jeder Mensch möchte ein glückliches Leben führen (beate vivere). Nach diesem Glück strebt er. Dieses Streben (amor) basiert auf einem Verlangen (appetitus) und dieses wiederum richtet sich nach etwas dem Menschen Bekannten, aber nicht Besessenen, nach etwas, das als gut empfunden wird. Verlangen und Streben lassen den Menschen hoffen, dieses Gute (bonum) eines Tages besitzen zu können. Der Mensch kann sein Streben auf Dinge richten, die er in der Welt liebt (cupiditas). Dann läuft er allerdings Gefahr, seine erstrebten und im besten Fall erworbenen weltlichen Güter zu verlieren und lebt in andauernder Furcht vor dem Verlust (metus amittendi). Da der Mensch im weltlichen Leben ständig von Tod und Verlust bedroht wird, kann er im Diesseits kein dauerhaftes Glück finden. Das wahrhaft III.2 Eros und agape nach Nygren 57 <?page no="58"?> 162 Cf. Hannah Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustin - Versuch einer philosophischen Interpretation, Hildesheim: Georg Olms Verlag 2007, pp. 16 sq., 31. 163 Cf. ibid., pp. 25 sq. Dies ist auch gleichzeitig eine Teildefinition des doppelten Liebes‐ gebotes „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ („diliges proximum tuum sicut te ipsum“) (Mt 19,19). 164 Aurelius Augustinus: Confessiones. Bekenntnisse - Lateinisch/ Deutsch, edd. Kurt Flasch, Burkhard Mojsisch, Ditzingen: Reclam 2009, X.VII.11. 165 Es wird auf folgende Version des Originaltexts und der Übersetzung zurückgegriffen: Aurelius Augustinus: „De doctrina christiana“, in: id.: Opera - Pars IV, I, Turnhout: Brepols Publishers NV 1962 sowie id.: Die christliche Bildung - De doctrina christiana, ed. Karla Pollmann, Ditzingen: Reclam 2002. glückliche Leben (beata vita) findet er erst im Jenseits und in der Liebe zu Gott (caritas). Dieses Gut des glücklichen Lebens kann ihm nicht mehr verloren gehen. Daher ist die Zuwendung zu Gott die einzige Möglichkeit, der Furcht zu entgehen und im Jenseits ewig glücklich zu werden. Der Weg zu Gott und aus der Furcht ist ein Leben nach christlichem Vorbild. Arendt erläutert außerdem, dass sich der Mensch laut Augustin ständig isoliert fühlt und sich selbst nicht genügt. Deswegen ist er bestrebt, diesen Zustand aufzuheben und die Leere in sich zu füllen. Die Sehnsucht nach Anbindung führt ihn entweder in den Genuss des Weltlichen (cupiditas) oder zu Gott und dessen Liebe (caritas). Entscheidet sich der Mensch für cupiditas, wird er ein Sklave der Welt und unterliegt der oben bereits beschriebenen Bedrohung, seine vermeintlichen Güter zu verlieren. Gott hingegen braucht nichts weiter, er genügt sich selbst. Der Mensch, der sich der caritas zuwendet, liebt Gott als das, was Gott ist und er (der Mensch) nie sein kann, nämlich das Ewige, das höchste Gut (summum bonum). Durch die Liebe zu Gott wird der Mensch Gottes Selbstgenügsamkeit teilhaftig und frei von der ewigen Bedrohung durch Tod und Verlust (malum). Liebt der Mensch Gott, liebt er auch sich selbst auf die rechte Weise. 162 Amor ist hier das Streben nach einem ersehnten Gut. Es liegt beim Menschen selbst, ob er der Welt oder Gott zustrebt. Die dilectio hingegen bezeichnet eine Liebe, die keinem appetitus entspringt. Sie verbindet die Menschen untereinander, die in einer Welt leben, die sich der göttlichen Ordnung unterworfen hat. Das gemeinsame Ziel der caritas, das summum bonum, eint die Menschheit. Diese Liebe bezieht sich gleichermaßen auf jeden Menschen selbst wie auf alle seine Mitmenschen. 163 Beispiele dafür, wie Augustin die Ausdrücke für „Liebe“ in seinen Werken gebraucht, wären Folgende: „Quid ergo amo, cum deum meum amo? “ („Was also liebe ich, indem ich meinen Gott liebe? “) 164 Der nach Gott strebende Mensch verwendet für die Liebe zu Gott gemäß Augustins Definition das Verb „amare“. Ein eindrückliches Beispiel für die Verwendung des Wortes „caritas“ findet sich in De doctrina christiana  165 , wo es in III.X.16 heißt: 58 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="59"?> 166 Confessiones, X.IV.5. 167 Ibid. Caritatem uoco motum animi ad fruendum deo propter ipsum et se atque proximo propter deum; cupiditatem autem motum animi ad fruendum se et proximo et quolibet corpore non propter deum. Ich nenne die Liebe einen Antrieb des Geistes, Gott um seiner selbst willen und sich und den Nächsten wegen Gott zu genießen. Die Begierde aber nenne ich einen Antrieb des Geistes, sich selbst, den Nächsten und einen beliebigen Körper nicht wegen Gott zu genießen. An dieser Stelle bezeichnet „caritas“ den Bezug zwischen Mensch und Gott. Für die Liebe unter den Menschen und damit für den Gebrauch des Verbs „diligere“ finden wir in den Confessiones ein eindeutiges Beispiel: Animus ille hoc faciat fraternus, non extraneus, non filiorum alienorum, quorum os locutum est vanitatem, et dextera eorum dextera iniquitatis, sed fraternus ille, qui cum approbat me, gaudet de me, cum autem improbat me, contristatur pro me, quia sive approbet sive improbet me, diligit me. Das kann nur brüderlicher Geist tun, nicht der fremde und nicht der Geist der Söhne von Fremden, deren Mund leeres Zeug redet und deren Handeln dem Unrecht dient, sondern jener brüderliche Geist, der sich über mich freut, wenn er mich gutheißen kann, und der traurig wird, wenn er mich missbilligt. Er wird traurig meinetwegen, denn ob er mich gutheißt oder ob er mich missbilligt, er liebt mich. 166 Nun fällt aber bei der Lektüre der Texte auf, dass Augustin selbst die drei Begriffe häufig synonym benutzt, so z.-B. noch einmal in den Confessiones: Amet in me fraternus animus quod amandum doces, et doleat in me quod dolendum doces. Ihr brüderlicher Sinn soll in mir lieben, was du zu lieben lehrst, und in mir beklagen, was du zu beklagen lehrst. 167 Hier hätte laut der arendtschen Analyse das Verb „diligere“ verwendet werden müssen, wenn es um die Liebe geht, die Menschen füreinander empfinden, die auf das gleiche christliche Ziel zustreben. In Confessiones XII.XV.19 heißt es: Quoniam tu, deus, diligenti te, quantum praecipis, ostendis ei te et sufficis ei, et ideo non declinat a te nec ad se? Denn du, Herr, zeigst dich dem, der dich in dem Maße, wie du es wünschst, liebt, und genügst ihm; deshalb wendet er sich nicht mehr von dir ab und sich zu[? ] III.2 Eros und agape nach Nygren 59 <?page no="60"?> 168 Cf. id.: Vom Gottesstaat - De civitate Dei, transt. Wilhelm Thimme, ed. Carl Andresen, München: dtv 2007, XIV.7. 169 Cf. John Rist: „Augustine: Freedom, Love and Intention“, in: Luigi Alici, Remo Piccolo‐ mini, Antonio Pieretti edd.: Il misterio del male e la libertà possibile, vol. 4 - Ripensare Agostino: atti del VIII seminario del Centro Studi Agostiniani di Perugia, Rom: Institutum Patristicum Augustianum 1997 (Studia Ephemeridis Augustinianum, vol. 59), pp. 7-21, ibid. p.-10. Das Verb „diligere“ wird hier für die Liebe eines Menschen zu Gott benutzt. Per definitionem müsste hier aber das Verb „amare“ verwendet werden, denn der Mensch strebt dem summum bonum zu. Ein weiteres Beispiel findet man in Confessiones XIII.VII.8: Affectus sunt, amores sunt, immunditia spiritus nostri defluens inferius amore cu‐ rarum et sanctitas tui attollens nos superius amore securitatis, ut sursum cor habeamus ad te, ubi spiritus tuus superfertur super aquas, et veniamus ad supereminentem requiem, cum pertransierit anima nostra aquas, quae sunt sine substantia. Triebe sind es, Leidenschaften, die Unreinheit unseres Geistes, die uns durch sorgen‐ volle Liebe nach unten zieht, aber die Heiligkeit deines Geistes ist es, die uns durch Sicherheit bietende Liebe erhebt, damit wir unser Herz oben bei dir haben, wo dein Geist über den Wassern schwebt, und zu der alles überragenden Ruhe gelangen, wenn unsere Seele dereinst die Wasser, die substanzlos sind, überstiegen haben wird. Die „Sicherheit bietende Liebe“ hätte eigentlich „caritas“ heißen müssen. Eine Erklärung für die unterschiedlichen Verwendungsmöglichkeiten der Begriffe findet man in Augustins De civitate Dei, in dem er erläutert, es gäbe keinen Unterschied zwischen den drei Ausdrücken für Liebe, was er mit diversen Textstellen aus der Bibel belegt, in welchen die drei Begriffe synonym verwendet werden. Laut Augustin können im Schriftgebrauch sowohl „amor“ als auch „dilectio“ positiv und negativ konnotiert sein. Einzig und allein der Wille ist es, der den Unterschied macht: Der rechte Wille führt zu guter Liebe, der verkehrte Wille führt zu törichter Liebe. 168 Diese Gedanken fußen auf den Aussagen Platons, der sagt, man könne nur gut handeln, wenn man das Gute auch liebe. Handelt man aufgrund anderer Motivationen gut, d. h. aufgrund von Pflichtbewusstsein oder gesellschaftlichen Normen, läuft man Gefahr, der akrasia, der Willensschwäche, zu verfallen und doch falsch zu handeln. Nur wer wirklich das Gute liebt, dem gelingt auch rechtes Handeln. 169 Die verkehrte Liebe (amor perversus) bzw. das Böse entsteht aus dem Willen, der sich vergänglichen Gütern zu- und von Gott sowie der 60 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="61"?> 170 Cf. Peter L. Oesterreich: „‚Der umgekehrte Gott‘. Augustinusʼ Einfluß auf Schellings Rede vom Bösen“, in: Rainer Adolphi ed.: Das antike Denken in der Philosophie Schellings, Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2004 (Walter E. Ehrhardt, Jochem Hennigfeld edd.: Schellingiana, vol. 11), pp. 483-495, ibid. p. 489. Oesterreich bezieht sich auf Confessiones VII.16,22 und De civitate Dei XII.8. 171 De civitate Dei XIV.5, 6, 7. 172 Zur Gleichsetzung von voluntas und caritas bei Augustin sowie der Parallele zwischen Liebe und Glaube und der Zustimmung entweder zur guten oder zur bösen Ausrichtung der eigenen Lebenseinstellung cf. John Rist: „Love and Will. Around De Trinitate XV 20,38“, in: Johannes Brachtendorf ed.: Gott und sein Bild - Augustins De Trinitate im Spiegel gegenwärtiger Forschung, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2000, pp. 205-216. geistigen Schönheit abwendet. 170 Auch das folgende Zitat aus De civitate Dei unterstreicht den Willen, der die Ausrichtung der Liebe lenkt: [U]nde etiam illis fatentibus non ex carne tantum adficitur anima, ut cupiat metuat, laetetur aegrescat, uerum etiam ex se ipsa his potest motibus agitari. […] Interest autem qualis sit uoluntas hominis; quia si peruersa est, peruersos habebit hos motus; si autem recta est, non solum inculpabiles, uerum etiam laudabiles erunt. uoluntas est quippe in omnibus; immo omnes nihil aliud quam uoluntates sunt. […] recta itaque uoluntas est bonus amor, et uoluntas peruersa malus amor. Demnach wird auch nach ihrem eigenen Geständnis die Seele nicht vom Leib allein beeinflußt in der Richtung auf Begierde, Furcht, Lust und Bekümmernis, sondern sie kann auch aus sich selbst durch solche Regungen erschüttert werden. […] Es kommt indes auf die Beschaffenheit des Willens im Menschen an; ist der Wille verkehrt, so werden auch diese Regungen in ihm verkehrt sein; ist er dagegen gerade gerichtet, so werden sie nicht nur untadelhaft, sondern selbst lobenswert sein. Denn in allen Regungen ist Wille vorhanden, ja sie alle sind nichts anderes als Willensregungen. […] Der gerade Wille also ist gute Liebe, der verkehrte Wille schlechte Liebe. 171 Hier scheint man den Bogen zurück zum LBA spannen zu können: Es kommt darauf an, in welche moralische Richtung man sich orientiert, dann kann die Liebe (amor) entweder gute oder auch schlechte Gestalt annehmen. Nur die Gesinnung des Menschen ist wichtig, weshalb der Erzpriester die Leser: innen seines Werks von der rechten Gesinnung 172 und damit von der rechten Liebe zu überzeugen versucht. - III.2.8.2 Der Liebesbegriff bei Augustin nach Nygren Nach diesen Ausführungen kehren wir zurück zu Nygren, der weitere Hinter‐ gründe zu Augustin liefert. Den Erosgedanken, den man deutlich in Augustins Theorie erkennt, also das Begehren und Streben nach Gott, stammt, so Nygren, aus dem Neuplatonismus. III.2 Eros und agape nach Nygren 61 <?page no="62"?> Den Agapegedanken hat er wohl aus dem Neuen Testament und dort v. a. von Paulus übernommen. Augustin weiß, dass man zwischen zwei Arten von Liebe unterscheiden muss, nämlich der Liebe zu Gott und der Liebe von Gott. Die erste ist geprägt von Bedürfnissen und Streben; sie ist nach oben, d. h. auf Gott gerichtet; die zweite ist ein Überquell der göttlichen Güte, die nach unten, also von Gott auf die Menschen gerichtet ist. Der Mensch hat keinen Anspruch auf die göttliche Liebe, sondern sie wird ihm spontan und ohne jegliche Motivation durch Gott zuteil und erzeugt die menschliche Gegenliebe. Eros wird für Augustin zum Ziel, agape der Weg dorthin. Der Mensch ist seiner Meinung nach zu schwach, um das Ziel seiner Begierde zu erreichen, daher muss ihm Gott mit seiner Liebe entgegenkommen. Während der Erosgedanke die Selbstgenügsamkeit (superbia) in sich trägt, mildert agape zusammen mit der Demut (humilitas) diese schlechte Eigenschaft des eros ab. So entsteht ein Kompromiss zwischen eros und agape. Mit dieser Synthese, d. h. mit der caritas, geht aber auch ein ganzer Komplex an Bedeutungen einher. Dass alle Liebe begehrende Liebe ist, ist dabei ein Axiom, auf dem Augustins Caritaslehre fußt. Der Mensch richtet demnach all seine Liebe auf einen Gegenstand, von dem er sich Glückseligkeit erwartet. Im Idealfall ist dieser Gegenstand Gott, denn laut Augustin schenkt nur das Christentum wahres Glück. Ebenso axiomatisch ist für Augustin, dass jeder Mensch glücklich sein und lieben will. Frei von der Suche nach dem Glück ist nur Gott, denn er ist perfekt und begehrt daher nichts. Der Mensch allerdings ist alles andere als perfekt und muss deswegen nach dem streben, was er als gut für sich identifiziert hat, im besten Falle nach dem summum bonum, also Gott. Da Gott dem Menschen das Begehren nach dem Guten mit auf den Weg gegeben hat, ist das Begehren an sich nichts Schlechtes - im Gegenteil, wenn der Mensch nach dem richtigen Gut strebt, bringt es ihn sogar ans Ziel. Ob es sich um gute oder schlechte Liebe handelt, hängt vom geliebten Gegenstand ab. Die Liebe an sich, das Begehren, ist gut, aber wenn sie sich auf die falsche Sache bezieht, wandelt sie sich ins Schlechte. Eine Sache bzw. der Gegenstand der Liebe wird als gut angesehen, wenn er die Bedürfnisse des Menschen gänzlich und langfristig befriedigen kann. Kann er das nicht oder befriedigt er sie nur scheinbar, führt er zur verkehrten Liebe. Außerdem hört dann die Suche nie auf, denn nur wer wahres Glück und absolute Ruhe (quies) gefunden hat, kann sie beenden. Andernfalls muss er immer weiter streben. So kommt es für Augustin zur Unterscheidung zwischen caritas, der Liebe zu Gott, der einzig richtigen Liebe, und der cupiditas, der Liebe zur Welt und den geschaffenen Dingen, d. h. zur falschen Liebe. Während der menschliche Geist nach oben strebt, wird der Mensch durch seinen Körper an die Welt gebunden. Als höchstes Geschöpf auf Erden hat er die Wahl zwischen 62 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="63"?> 173 Cf. Anders Nygren: Eros und Agape, vol. 2, pp. 265-315. caritas und cupiditas. Allerdings ist der Mensch dazu bestimmt, sich der caritas anzuschließen. Tut er das nicht, hat er seine Bestimmung verfehlt. Wählt er die caritas, verbindet er sich mit Gott und wird dadurch ein Stück weit göttlich, wählt er die Welt, bleibt er Teil der sinnlichen Welt. Statt also seiner Bestimmung nachzukommen, verliert der Mensch, der sich für cupiditas entscheidet, seine Stellung als höchstes Geschöpf. Wer sündigt und den Lastern verfällt, zeigt trotzdem, dass auch er auf der Suche nach Gott sein kann; er hat das absolut Gute dann einfach noch nicht gefunden bzw. noch nicht verstanden, worauf er seine Begierde richten soll. 173 Der Gedanke, dass der Mensch nur das richtige Ziel seiner Liebe definieren soll, statt sich dem hinzugeben, was der sinnlichen Welt angehört und damit leichter zu erreichen ist, dafür aber nur kurzzeitige Befriedigung schenkt, wäre die Interpretation, die die Leser: innen des LBA im Idealfall herausfiltern könnten. Schließlich geht es dem Erzpriester darum, dass man seinen Verstand einsetzen und sich für das Richtige, das christliche Lebensideal, entscheiden soll. Dennoch sieht der Erzpriester, wie auch Augustin, dass der Mensch viel zu leicht von der sinnlichen Welt abgelenkt wird und sich der nur scheinbaren Befriedigung des Bedürfnisses nach Liebe hingibt. Um Nygrens Ausführungen zu Augustin zu vervollständigen, bedarf es noch eines Blicks auf die Verben, die Augustin in seiner Theorie gebraucht und die Nygren wie folgt erläutert. Es handelt sich um die Verben „genießen“ (frui) und „gebrauchen“ (uti). Der Mensch soll Gott von ganzem Herzen lieben, ihn und nichts anderes. Aber Nygren fragt, wie man dann zu den Geschöpfen stehen soll, denn auch sie sind von Gott geschaffen und deswegen liebenswert. Die Antwort liefert er über Augustins Verwendung von frui und uti. Gott soll man genießen, man soll ihn um seiner selbst willen lieben, und die Dinge in der Welt soll der Mensch gebrauchen, d. h. sie als von Gott geschaffene Dinge wertschätzen und durch sie hindurch Gott lieben. Das wiederum bedeutet, dass man Gott auch lieben kann, indem man seine Schöpfungen liebt, also bedient der Mensch sich dieser Dinge, um seiner Liebe zu Gott Ausdruck zu verleihen. So wird Gott zum Ziel, alles Geschaffene wird zum Mittel. Nun ergeben caritas und cupiditas sowie frui und uti verschiedene Kombinationsmöglichkeiten, wovon aber nur eine die richtige ist, nämlich: In der caritas genießt der Mensch Gott und gebraucht die weltlichen Geschöpfe. In der cupiditas, also in der falschen Kombination, würde der Mensch Gott gebrauchen, um die Dinge der Welt zu genießen. Je näher Geschöpfe Gott stehen, desto mehr sollen sie geliebt werden, je weiter entfernt sie von Gott sind, desto weniger Liebe verdienen sie. Mit der III.2 Eros und agape nach Nygren 63 <?page no="64"?> 174 Cf. ibid., pp. 315-347. richtigen Einsicht in diese Theorie versteht der Mensch, jedes Ding angemessen zu lieben und bleibt von Verwirrungen verschont. Diese Einsicht nennt Augustin die geordnete Liebe (dilectio ordinata). Hat man diese Einsicht nicht, verfällt man der ungeordneten Liebe (dilectio inordinata). Ziel der geordneten Liebe ist das Genießen und Schauen Gottes (fruitio Dei / visio Dei). Die caritas ist der rechte Weg zu diesem Ziel, in dem absolute quies besteht. Diese Vorstellung vom Streben nach Glückseligkeit und Ruhe, die nur in Gott zu finden sind, erinnern, so Nygren, stark an Platons Erosfrömmigkeit. Der Weg hinauf zu Gott erfolgt über drei Leitern. Die erste ist die Leiter der Tugend, d. h. der Mensch kann über seine Verdienste hinauf zu Gott steigen, wobei die caritas die Gabe ist, die der Mensch durch Gottes Gnade erhält, die ihn zu diesen Verdiensten befähigt. Die zweite ist die Leiter der Spekulation, wie Nygren sie nennt. Der Begriff „Spekulation“ bezieht sich darauf, dass der Mensch hinter den Dingen, die er mit seinen Sinnen wahrnimmt, Gott erkennt, d. h. er muss sich klarmachen, dass es nicht die weltlichen Geschöpfe sind, die seine ganze Liebe wert sind, sondern das, was dahintersteht, nämlich Gott. Die dritte Leiter ist die der Mystik. Hier soll der Mensch Gott sowie sich selbst auf introspektivem Weg erkennen. Wer sich von Gott abwendet, wendet sich auch von sich selbst ab und verliert sich in der sinnlichen Welt. Hier muss allerdings dazugesagt werden, dass bei Augustin Gott und Mensch nie ineinander übergehen. Die Grenze zwischen Gott und Mensch bleibt immer gewahrt. Dennoch soll der dreieinige Gott im Menschen leben und umgekehrt. Augustin glaubt nicht, dass der Mensch durch Furcht vor Strafen das göttliche Gesetz befolgt, sondern nur aus Liebe, wobei der freie Wille eine zentrale Rolle spielt und auch die Gnade (gratia), das göttliche Eingreifen, das sogar noch über den freien Willen hinausgeht. Diese Gnade haben die Menschen umsonst und ohne Verdienst erhalten, durch sie sind sie gerecht geworden. Um die Gnade behalten zu können, muss der Mensch sie sich verdienen, indem er Gott in sich und durch sich wirken lässt. So gesehen, ist die gratia eigentlich auch eine Art Leiter zu Gott. Der Gnadengedanke bei Augustin ist, anders als der Weg zu Gott, weit vom hellenistischen Gedankengut entfernt, aber da er sie mit der caritas verbindet, schafft Augustin so die oben genannte Synthese aus eros und agape, aus urchristlicher und hellenistischer Anschauung. Diese Synthese wird für das Mittelalter richtungsweisend sein. 174 Ein weiterer Aspekt bei Augustin wird uns bei der Analyse des LBA interes‐ sieren, nämlich das Verhältnis von der Liebe zu Gott (amor Dei) und Selbstliebe (amor sui). Diese beiden Arten der Liebe können sich widersprechen, sie können aber auch miteinander harmonieren, indem man, wie Augustin sagt, Gott in sich 64 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="65"?> 175 Cf. Mt 19,19. 176 Cf. Anders Nygren: Eros und Agape, vol. 2, pp. 347-376. 177 Hannah Arendt: op. cit., p.-16. 178 Ibid., p.-34. 179 Ibid., p.-20. 180 Ibid., p.-11. selbst liebt, also auch hier die Hierarchie anerkennt, die der Liebe innewohnt. Die Menschen stehen wie alle anderen Geschöpfe unter Gott, daher müssen sie sich selbst lieben, aber auch bzw. noch viel mehr das, was hinter ihnen und allen anderen Geschöpfen steht, nämlich Gott. Die Selbstliebe hat also ebenfalls die Gottesliebe zum Ziel, nur dann ist sie echte Selbstliebe. Liebt man sich selbst mehr als Gott, handelt es sich um falsche Selbstliebe. Kurz gesagt, die Art der rechten Liebe ist die caritas bzw. amor Dei. Die Gegenstände der rechten Liebe sind Gott, das Selbst, der Nächste. Die Nächstenliebe ist für Augustin ebenfalls nur ein weiterer Weg, um Gott zu lieben. Man liebt nicht den Nächsten per se, sondern Gott im Nächsten. Da der Nächste manchmal selbst nicht weiß, dass Gott in ihm ist, muss man ihn auf jeden Fall lieben, denn man kann nie wissen, was aus dem Menschen wird. Selbst wenn er heute schlecht und böse handelt, kann er sich morgen dafür entscheiden, sich Gott zuzuwenden. Man selbst sollte diese Möglichkeit immer im Blick haben und seinen Nächsten daher schon einmal vorsorglich lieben. Dieser Gedanke erstreckt sich auch auf den Fremden und sogar auf den Feind, wobei die Liebe bei einem selbst ihren Anfang nimmt, denn man soll seinen Nächsten lieben wie sich selbst. 175 Almosen und Nächstenbzw. Feindesliebe haben zudem eine sündenaufhebende Wirkung. So gebrauchen (uti) wir den Nächsten, um Gott ein Stück näher zu kommen. Außerdem ist es die Aufgabe des Menschen, seinen Nächsten dabei zu unterstützen, Gott zu lieben. Gott hingegen genießt sich selbst unentwegt, schließlich ist er das höchste Gut, und er sammelt die menschliche Liebe, die ihm zustrebt. 176 Ein Großteil der Selbstliebe besteht im Hinterfragen des eigenen Selbst (se quaerere). Indem man Abstand von der Welt sowie der Zerstreuung (dispersio) nimmt und „Gott als das Ewige“ 177 , dem Menschen Innewohnende liebt und sich auf sich selbst bzw. „auf Gott als seinen Schöpfer bezieht“ 178 (redire ad se bzw. redire ad Creatorem), liebt man sich selbst auf die rechte Weise. In dieser Gottesliebe, die gleichzeitig die richtige Selbstliebe ist, liebt man sein zukünftiges Ich „in seiner ersehnten Zugehörigkeit zu Gott“ 179 . „Zukünftig“ ist abgeleitet von der „absoluten Zukunft“ 180 . Dies wiederum ist ein zentraler Begriff in Arendts Interpretation der augustinischen Schriften. Er bezeichnet die Zukunft, in der der rechtgläubige Christ das summum bonum erreicht hat. Im Diesseits erkennt der Christ, dass sein Leben auf dieses Dasein im III.2 Eros und agape nach Nygren 65 <?page no="66"?> 181 Cf. ibid., pp. 11-34. 182 Cf. Hannah Arendt: op. cit., pp. 42-80. 183 Cf. Michael Locke McLendon: The Psychology of Inequality - Rousseau’s Amour-Propre, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2019, pp. 55-73. Jenseits ausgerichtet werden muss, er versetzt sich also gedanklich bereits in diese Zukunft und schaut aus dieser quasi zurück in die Gegenwart, sodass er erkennt, wie der Weg zu Gott hier auf Erden aussehen muss. Diese „Rückschau“ ermöglicht es dem Menschen, seine gesamte Umwelt, inklusive aller Menschen, sachlich und objektiv zu betrachten. So gelingt es ihm, die Dinge, die ihm in dieser Welt begegnen, richtig zu ordnen, d. h. er versteht, was bzw. wer wie viel oder wenig Liebe verdient. Diese neutrale und wohlgeordnete Haltung bezeichnet Augustin als ordinata dilectio. Die Erinnerung (memoria) befähigt den Menschen dazu, sowohl Vergangenes als auch Zukünftiges bzw. Erstrebtes in der Gegenwart greifbar zu machen. Dies zeigt die herausragende Rolle, die der memoria-Begriff für Augustin hat. 181 Dieser wird in den Kapiteln III.2.10 und III.3.2 noch einmal genauer beleuchtet. In amor Dei und dem rechten amor sui liebt der Mensch Gott und erkennt ihn als seinen Schöpfer und sich als dessen Geschöpf an. Der falsche amor sui ist verbunden mit amor mundi, d. h. der Liebe des Menschen zu dem, was er selbst geschaffen hat. 182 Michael Locke McLendon beschreibt Augustins Konzept von amor sui aus einer anderen Sicht. Auch ihm zufolge gibt es bei Augustin zwei Varianten der Selbstliebe, nämlich die, die sich an Gott orientiert, und die, die sich der Welt und ihren Genüssen zuwendet. Die erste Lesart kann man mit Arendts Interpretation vergleichen: Die beste Art, sich um sich selbst zu kümmern und zu pflegen, ist die Gottesliebe. Wer Gott richtig liebt, liebt auch sich selbst richtig - und umgekehrt. Aber McLendon beschreibt zudem die Fallstricke, die mit amor sui ebenfalls einhergehen: Es besteht eine fließende Grenze zwischen den Sünden des Stolzes sowie der Ruhmsucht und den guten Taten, die ein Christ vollbringt, d.-h. es kann passieren, dass ein Christ sich zwar in Wohltätigkeit und Barmherzigkeit übt, aber nur, weil er sich dadurch die Anerkennung seiner Mitmenschen erhofft. Trotzdem wäre dabei etwas Gutes aus der Sünde entstanden. Somit könnten Stolz, Ruhmsucht und Eitelkeit in gewisser Weise auch hilfreich sein. Allerdings gibt es noch die Variante, in der die Selbstliebe niemandem nützt, d. h. es geht dann um die gänzlich an der Welt ausgerichtete Selbstliebe, die den Menschen dazu antreibt, sich als gottgleich oder gar überlegen zu fühlen. Aus dieser falsch ausgerichteten Selbstliebe entsteht erst Stolz, dann Ruhmsucht und die Lust daran, von anderen nicht nur gelobt zu werden, sondern sie sogar zu beherrschen (libido dominandi). Diese Lust wird im schlimmsten Fall Tyrannei. 183 McLendon 66 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="67"?> 184 Die geeigneten Mittel, um die Selbstliebe richtig zu verstehen sind beim Arcipreste entendimiento, memoria und voluntad. Mehr dazu in den Kapiteln III.2.10 und III.3.2. 185 Cf. Anders Nygren: Eros und Agape, vol. 2, pp. 374-376. 186 Cf. ibid., pp. 396 sq. betrachtet also mehr die Schattenseiten von amor sui, während Arendt sich eher auf die positiven Aspekte konzentriert. McLendons Ansatz trägt in Bezug auf die zum Teil verworrenen Wege des Arcipreste, seine Botschaft zu vermitteln, zur Klärung bei, indem er unsere Aufmerksamkeit darauf lenkt, dass auch das Motiv der Selbstliebe recht verstanden werden muss. 184 Tut man dies nicht, läuft man Gefahr, die Selbstliebe ebenso falsch zu verstehen wie buen amor und loco amor. Auch hier wäre dem Menschen ein Weg zu Gott verschlossen, wenn er gedankenlos einen Begriff verwenden und nach ihm handeln würde. Diese Wechsel und verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten erschweren natürlich das Verständnis und könnten ebenfalls eine Art Vorlage für das LBA gewesen sein bzw. für die Frage, welche Liebe die richtige ist und wie man sie am besten bezeichnet und v.-a. auslebt. Nach all seinen Ausführungen zu Augustin geht Nygren noch einmal auf die Begriffsverwendung ein. Augustin verwendet caritas, amor und dilectio abwechselnd und teilweise auch synonym, ohne damit ausschließlich eine gute oder falsche Liebe zu bezeichnen. 185 III.2.9 Dionysius vom Areopag (Pseudo-Dionysius) Mit Dionysius vom Areopag findet die Eroslehre quasi endgültig Einzug in das Christentum. Seine Schriften wurden, so Nygren, einige Zeit lang fast als kanonisch angesehen, weil man ihn für einen Jünger des Paulus hielt, denn der Autor hatte sich nach dem Jünger benannt, der in Apg 17,34 auftaucht. Wegen dieser Verwechslung zwischen dem Autor des 6. Jahrhunderts und dem Aposteljünger spricht man heute über diesen Kirchenvater auch als Pseudo- Dionysius. 186 Er ist ebenso wichtig für die vorliegende Untersuchung wie Augustin, sodass sich auch hier ein genauerer Blick auf eine seiner Schriften lohnt. - III.2.9.1 Exkurs: Der Liebesbegriff bei Dionysius vom Areopag nach Suchla Um 500 n. Chr. entstand das Werk des Pseudo-Dionysius De divinis nominibus. Der Autor gilt als ausgesprochen Paulus-affin, was man z. B. an seinen häufigen Paulus-Zitaten, seinem wiederholten Lob des Paulus als Vorbild und an der III.2 Eros und agape nach Nygren 67 <?page no="68"?> 187 Cf. Beate R. Suchla: Dionysius Areopagita: Leben - Werk - Wirkung, Freiburg: Herder 2008, pp. 15-25. Dass die beiden Timotheusbriefe nicht aus der Feder des Paulus selbst stammten, konnte der Autor des hier beschriebenen Werkes noch nicht wissen. (Cf. Kapitel II.2.) Daher wird hier weiterhin davon ausgegangen, dass der Autor Timotheus als Adressaten auswählte, um der Nähe zu seinem Vorbild Ausdruck zu verleihen. 188 Cf. Pseudo-Dionysius Areopagita: Die Namen Gottes, ed. et transt. Beate R. Suchla, Stuttgart: Anton Hiersemann 1988. 189 Cf. Beate R. Suchla: op. cit., p. 90 unter Bezug auf Die Namen Gottes, III-IV 138,1-162,5. 190 Beate R. Suchla: op. cit., p.-94. 191 Ibid., pp. 94 sq. Tatsache, dass er seine Traktate an den Paulusschüler und Bischof von Ephesus, Timotheus, adressiert, erkennt. 187 Pseudo-Dionysius untersucht in seinem Werk - wie der Titel schon verrät - die Namen Gottes und erörtert anhand dieser Namen sein Wesen. 188 Innerhalb dieser Erörterung beschreibt Pseudo-Dionysius die ontologische Gutheit Gottes sowie seine praktische Güte. Als der Übergute schenkt er das Sein. Die Liebe wird Gott als charakteristisches Wesensmoment zugeschrieben. 189 Basierend auf Kapitel IV in De divinis nominibus erläutert Suchla den Liebes‐ begriff bei Dionysius Areopagita wie folgt: Liebe (ἔρως) ist ein weltbestimmendes Prinzip insofern, als sie mit Gott in eins geht und alle ihre Ausdifferenzierungen in Gott als der Liebe gründen und zu Gott als der Liebe hinführen: die Liebe Gottes zur Welt und zum Menschen; die Liebe des Menschen zu Gott, zur Welt, zum Menschen und zu sich selbst. Nach Dionysius Areopagita ist Gottes Liebe ein Vermögen im Sinne einer Kraft. Diese ist ontologisch gut, da sie in Gott als dem Guten um des Guten willen besteht. Sie ist zudem vollkommen, da Gott auch der Vollkommene ist. Als gute und vollkommene Kraft ist sie jedoch nicht nur vorhanden, sondern auch bivalent; denn sie ist wertbejahend und motivierend zugleich. Als motivierende Kraft bewegt sie zum Tun, als wertbejahende Kraft setzt sie Beziehungen. 190 Erstaunlich an den Ausführungen des Dionysius Areopagita ist, dass hier die Liebe als Motivation zum Handeln Gott betrifft. Gott wird von ihr zum Handeln bewegt, indem er als Schöpfer wirkt, sich offenbart und dem Menschen Erleuchtung schenkt. Durch ihr Ausströmen „wirkt sie kreativ, kommunikativ und informativ“ 191 . Laut Dionysius Areopagita kommt alles Seiende aus dem Guten, somit kann das Böse bzw. Schlechte weder Ursache noch Sein aufweisen. Das Böse stammt nicht von Gott, denn alles, was ist, kommt von ihm und ist gut. Die Frage, warum es das Böse trotzdem gibt, beantwortet Dionysius Areopagita mit einem 68 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="69"?> 192 Ibid., p.-104. 193 Cf. ibid., pp. 103-105 unter Bezug auf Die Namen Gottes, I, IV und V. Mangel an Gutem (deficiens bonum), einer Schwäche, die bereits der Ursache innewohnt. Somit existiert das malum nicht für sich allein, es ist nur die Störung des Guten und wird durch Anderes real, d. h. es ist lediglich „Mitsubsistenz durch Anderes“ 192 . Dionysius Areopagita erläutert zudem die Theodizee-Frage, indem er sagt, Gott zeige seine Gerechtigkeit dem Menschen darin, dass er ihm den freien Willen schenke und somit auch die Möglichkeit, sich von ihm (Gott) abzuwenden. Gleichzeitig steht es dem Menschen auch immer frei, sich ihm wieder zuzuwenden. 193 - III.2.9.2 Dionysius vom Areopag nach Nygren Nygren erläutert, dass man zwar die Unterschiede zwischen den Schriften des Pseudo-Dionysius und Paulus sowie dem Neuen Testament insgesamt erkannte, man aber in die Werke des Pseudo-Dionysius einen tieferen, mystischen Sinn des Christentums hineininterpretierte. Das reine Erosmotiv wird bei Pseudo- Dionysius zum geistigen Sinn des Christentums. Von Proklos übernimmt er die Idee einer alles durchströmenden, vereinenden Eroskraft, die das Höhere an‐ treibt, sich dem Niederen zuzuwenden, und das Niedere motiviert, sich nach dem Höheren zu strecken. Gleichzeitig verbindet diese Kraft alles Gleichgestellte und fußt auf der Selbstliebe. Sie entspringt dem Göttlichen, lässt alles und alle am Göttlichen teilhaben und nährt die Sehnsucht nach ihm. Darüber thront das göttliche Eine in absoluter Ruhe und Unberührtheit. Über dieses Eine kann man nur eines sagen, nämlich dass es die Quelle alles Guten und Schönen ist, die über das gesamte Dasein fließt. Ansonsten kann man von Gott nur in Negationen sprechen, denn was sich in der Reichweite des Menschen befindet, ist negativ im Gegensatz zu ihm. Von ihm geht alles aus, zu ihm will alles zurück. Er ist das Gute, das Licht, eros. Entsprechend seiner grundsätzlich metaphysischen Anschauung herrscht bei Gott Identität zwischen dem Seienden, dem Schönen und dem Guten. Je näher sich etwas bei Gott befindet, desto mehr kommt es in den Genuss seines Lichts, je weiter es entfernt ist, desto weniger Licht empfängt es. Eros nennt Pseudo-Dionysius dieses Eine, denn hierin sieht er laut Nygren den adäquaten Ausdruck für die universelle Kraft, die der Welt ihre Dynamik verleiht und sie gleichzeitig zusammenhält. Bei jedem Streben in der Welt ist diese Kraft beteiligt. Sie verleiht jedem himmlischen und irdischen Wesen den angestammten Platz in einer Weltordnung, in der alles in einer Eroskette mitei‐ nander verbunden ist. So wird diese Kette, in der das Höhere sich dem Niederen zuwendet und das Niedere sich an das Höhere bindet, zum Bewegungsprinzip III.2 Eros und agape nach Nygren 69 <?page no="70"?> 194 Cf. Anders Nygren: Eros und Agape, vol. 2, pp. 409-414. des Daseins. Gleichzeitig ist aufgrund der Selbstliebe jede Eroskraft auch in sich geschlossen. Aber unter den Wesen bewegt eros die Liebenden zueinander hin, auch das überströmende Göttliche zu den Menschen. So entsteht sowohl das Prinzip des Kreislaufs, in dem alles von Gott kommt und wieder zu ihm zurückkehrt, als auch das Prinzip der Verkettung aller Wesen. Das menschliche Lebensziel ist laut Pseudo-Dionysius die Vergottung, d. h. das Erreichen der größtmöglichen Gleichheit mit Gott und Einheit mit ihm. Grundlage hierfür ist die Wesensverwandtschaft des Menschen mit dem Göttlichen, denn der Mensch trägt einen göttlichen Anteil in sich. Hierfür sind die Reinigung, Erleuchtung und Vereinigung die Schritte, die der Mensch gehen muss. Für Pseudo-Dionysius ist die Erosfrömmigkeit die einzig wahre, den Begriff der agape übernimmt er nur aus der christlichen Tradition, ohne den damit verbundenen Inhalt. Zudem erklärt Pseudo-Dionysius Wörter allgemein zu Gegenständen der sinnlichen Welt, auf die es nicht ankommt; allein der Sinn ist entscheidend und dieser ist bei eros und agape für ihn gleich. Außerdem ist eros für ihn ein geläufigerer Begriff unter den Menschen, womit er dessen Gebrauch rechtfertigt. Seiner Meinung nach taucht der Begriff eros in der Heiligen Schrift nur deswegen nicht auf, weil - und hier ähnelt seine Argumentation der des Origenes - der durchschnittliche Christ nicht klug genug ist, um den gemeinten himmlischen eros vom vulgären eros zu unterscheiden. Daher benutzten die Autoren der Bibel den Ausdruck agape. Dies ist auch der Grund, warum der Begriff der agape auch weiterhin verwendet werden darf: um die Einfältigen unter den Christen nicht dem Risiko auszusetzen, den Liebesbegriff falsch zu verstehen. Dennoch hält Pseudo-Dionysius eros für den einzig adäquaten Namen für die Gottesliebe; für ihn ist eros sogar göttlicher als agape. 194 Nach diesen Erläuterungen über Dionysius Areopagita wenden wir uns Nygrens Untersuchung über die Entwicklung des christlichen Liebesbegriffs im Mittelalter zu. III.2.10 Der christliche Liebesbegriff im Mittelalter Wenn Nygren im Folgenden über den christlichen Liebesbegriff im Mittelalter spricht, geht er leider nicht mit so viel Detailschärfe auf einzelne Theologen ein, wie er es noch bis dahin getan hat. Diese Vorgehensweise erklärt er mit den Worten: Die Caritas ist nicht nur ein Moment im mittelalterlichen Christentum, sondern die Caritas ist das Ganze; es gibt nichts, was prinzipiell außerhalb der Sphäre der 70 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="71"?> 195 Ibid., p.-431. 196 Cf. ibid., pp. 433-436. Caritas fällt. Um ein getreues Bild der mittelalterlichen Liebeslehre zu erhalten, sollte man streng genommen deshalb genötigt sein, eine erschöpfende Darstellung der mittelalterlichen religiösen und ethischen Anschauungen zu geben - was begreifli‐ cherweise den Rahmen unserer gegenwärtigen Untersuchungen sprengen würde. Wenn wir uns im folgenden darauf beschränken, die Liebeslehre des Mittelalters nur in den allergröbsten Zügen darzustellen, dann hat dies indessen seinen Grund nicht nur in der Notwendigkeit, den Stoff zu begrenzen; noch weniger darf es als ein Zeichen dafür aufgefaßt werden, daß die Arbeit der mittelalterlichen Theologie auf diesem Gebiet gering gewesen sei, so daß sie keine eingehendere Darstellung rechtfertige. Die entscheidende Ursache unseres Vorgehens ist vielmehr diese, daß eine eingehendere Darstellung eher den bedeutungsvollen Anteil des Mittelalters an der Geschichte des christlichen Liebesgedankens verdunkeln würde. Dieser Anteil liegt nämlich nicht auf der Ebene, wo die verschiedenen Auffassungen hervortreten und sich eifrig bekämpfen. Nur in allzu hohem Grade hat man das historische Bild des Mittelalters durch dessen Meinungsverschiedenheiten bestimmen lassen, die zwar für die kämpfenden Richtungen von vitaler Bedeutung sind, die aber, unter größerer Perspektive betrachtet, zu Kräuselungen auf der Oberfläche werden, während in der Tiefe eine große Einheitlichkeit im mittelalterlichen Geistesleben herrscht. 195 Die Einheitlichkeit, von der Nygren hier spricht, fußt auf den drei Säulen des ale‐ xandrinischen Weltschemas, dem Stufenleitergedanken und der Tendenz nach oben, die in diesem Kapitel bereits ausführlich erläutert wurden. Besonderes Augenmerk liegt auf dem sogenannten sursum, der Tendenz, nach Höherem zu streben, das charakteristisch für die mittelalterliche Christentumsauffassung ist. 196 Als literarisches Beispiel hierfür wählt Nygren Dantes Divina Commedia (DC), in der das Christentum als Caritasreligion erläutert wird. Gott wird hier als die ewige und einzige Liebe bezeichnet, die die ganze Geschichte über anhält. Diesen Gedanken nennt Nygren repräsentativ für das christliche Mittelalter. Gott hat die Hölle geschaffen, aber auch das Fegefeuer, in dem die Seele die Möglichkeit zur Reinigung erfährt, wodurch es ein Weg zur Glückseligkeit wird. Die Liebe ist die Wurzel aller Tugenden. Fehlt sie im menschlichen Leben, muss man dafür im Fegefeuer sühnen. Die in der DC dargestellte Liebe sieht Nygren als eine auf der augustinischen Caritassynthese basierende mit scharfem Eroszug, da die aristotelische Auffassung von Liebe als das Dasein zusammen‐ haltende Band und Gott als äußeres Bewegungsprinzip mit aufgenommen wird. Seiner Meinung nach bedient sich Dante des Erosmotivs, das wiederum mit III.2 Eros und agape nach Nygren 71 <?page no="72"?> 197 Cf. ibid., pp. 439-441. 198 Cf. ibid., pp. 441-459. Die drei Fähigkeiten intellecuts, memoria und desiderium gehen auf Augustins De Trinitate zurück. Cf. Michael Schmaus: „Einleitung“, in: Des heiligen einem Agapezug versehen wird, wobei diese agape nicht mit der des Neuen Testaments gleichgesetzt werden darf, sondern hier die Liebe als Gabe göttlicher Gnade interpretiert wird. 197 Die mittelalterliche Theologie ist, so Nygren weiter, von der Theorie über die drei Himmelsleitern geprägt, die auf Augustin und Pseudo-Dionysius zurück‐ geht. Die oberste Stufe dieser Leitern ist stets die Gemeinschaft mit Gott. Die sogenannte Meritumleiter, die auf dem Verdienst der Menschen und der Gnade Gottes fußt, ist die erste der drei Leitern. Verdienst und Gnade bedingen sich gegenseitig, der Mensch kann allein durch seinen Verdienst die Glückseligkeit nicht erreichen - hier bezieht sich Nygren auf Thomas von Aquin -, sondern braucht auch Gottes Gnade, um Erlösung zu erlangen. Gnade bedeutet hier das Eingießen der Liebe (infusio caritatis / infusio amoris) durch den Heiligen Geist und auf Gottes Geheiß. Hierdurch wird der Mensch, der sich von seiner Natur aus den inneren Dingen zuwendet, innerlich umgestaltet, sodass er sich auf das Höhere fokussiert. Erst, wenn die Liebe die Grundmacht seines Lebens ist, ist der Mensch so geworden, wie Gott ihn haben will. Dann können seine Taten zu Verdiensten werden und die Liebe wird zur Erfüllung des Gesetzes. Somit beginnt der Aufstieg des Menschen, der durch die göttliche Gnade in Gang gesetzt wird, die wiederum dem Menschen gleichzeitig die dafür notwendige Kraft verleiht. Die zweite Leiter bezeichnet Nygren als die analogische Leiter der Spekulation, deren Grundsatz lautet, dass man in der Wirkung immer etwas findet, was an die Ursache erinnert. Die Ursache alles Seienden ist Gott, alles Seiende ist die aus ihm hervorgehende Wirkung. Das bedeutet, dass man in allem eine Ähnlichkeit mit Gott erkennen kann. Aufgabe der Theologie ist es hierbei, die Spuren des Göttlichen zu identifizieren und sich somit zum Betrachten Gottes zu erheben. Je höher das Seiende sich auf der Leiter befindet, desto deutlicher erkennt man auch die Ähnlichkeit zu Gott. Der Aufstieg auf dieser Leiter ist nur mit Christi Hilfe möglich. Der Mensch findet drei verschiedene Welten vor sich: die Sinnenwelt (extra nos), das Seelenleben (intra nos) und die Welt des Ewigen (supra nos). In jeder dieser Welten zeigt sich Gott dem Menschen, aber auf jeweils unterschiedliche Weise, je nach Grad der Vollkommenheit. In seiner ursprünglichen Form besaß der Mensch alles, was er zum Aufstieg gebraucht hätte, aber durch den Sündenfall zerbrach diese Leiter, denn seitdem richtet der Mensch seinen Verstand (intellectus), seine Fähigkeit zur Erinnerung (memoria) und sein Begehren (desiderium) auf die Sinnenwelt und nicht nach innen. 198 Christus stellte sie wieder her und indem wir uns wieder 72 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="73"?> Kirchenvaters Aurelius Augustinus fünfzehn Bücher über die Dreieinigkeit, ed. et transt. Michael Schmaus, München: J. Kösel, F. Pustet 1935, pp. 1-36, ibid. p.-26. Inwiefern sie sich beim Arcipreste niederschlagen, wird in Kapitel III.3.3 ausgeführt. 199 Cf. Anders Nygren: Eros und Agape, vol. 2, pp. 446-459. 200 Auf den Seiten 477-478 erläutert Nygren, dass sich u. a. Alfred von Rievaulx unter gewissen Vorbehalten auf den Gedanken eingelassen hat, Gott sei amicitia. An derselben Stelle erläutert Nygren übrigens auch den Freundschafsgedanken des Aquinaten noch einmal so, als sei er ein valides Gegengewicht zu den Gedanken anderer Theologen, Gott sei amor sui. Cf. ibid., pp. 474-478. auf die Werte Glaube, Hoffnung und Liebe konzentrieren, haben wir erneut die Möglichkeit aufzusteigen. Die Leiter zu Gott findet man in dieser Theorie in der menschlichen Seele. Die dritte Leiter heißt bei Nygren die analogische Leiter der Mystik. Hier geht es darum, im Inneren eine Verbindung mit Gott zu spüren, also das Gottverwandte in der Seele zu erkennen, was nur durch die drei Schritte Reinigung, Erleuchtung und Vereinigung erreicht werden kann. Der natürliche Wunsch des Menschen nach Aufstieg und Erhöhung ist die Grundlage dieser Theorie, aber nicht selten meinen die Menschen zu früh, mit der Vorbereitung und Reinigung fertig zu sein. Stolz und Übermut stehen ihnen oft im Weg. An dieser Stelle weist ihnen Christus die richtige Richtung, denn er gilt als Vorbild dafür, wie die eigene Erniedrigung die Erhöhung bewirkt. 199 Die augustinische Caritaslehre lebt also auch im Mittelalter weiter, aber laut Nygren wird sie um einen Aspekt erweitert, nämlich um den der selbstlosen Liebe, die nicht nur einen Teil der mittelalterlichen Theologie ausmacht, sondern sogar in ihr Zentrum gerückt wird. Anders als Augustin sehen die mittelalterlichen Theologen allerdings ein Problem mit dieser Liebe: Laut Augustin ist alle Liebe Selbstliebe, die ihr eigenes bonum sucht; laut Paulus sucht die Liebe aber nicht das Ihre (1Kor 13,5). Für Augustin besteht zwischen diesen beiden Standpunkten kein Widerspruch, schließlich zielt am Ende alles auf Gott ab. Nygren zeigt an drei Beispielen, wie mit dieser Problematik umgegangen wurde. Das erste findet er bei Thomas von Aquin, der zwischen begehrender Liebe (amor concupiscentiae) und Freundschaftsliebe (amor amicitiae) unterscheidet, wobei caritas in die zweite Kategorie fällt, d. h. der Christ liebt Gott, sich selbst und seinen Nächsten mit der Freundschaftsliebe. Seiner Meinung nach bedeutet Liebe, das Gute zu wollen. Laut Nygren scheitert dieses Vorhaben aber u. a. daran, dass agape nicht als amicitia bezeichnet werden kann. 200 Trotzdem ist für die Untersuchung von buen amor und loco amor interessant, was er außerdem über Thomas von Aquin bzw. dessen Liebesbegriff sagt: Angelehnt an die Theorien des Augustin und des Pseudo-Dionysius ist auch für den Aquinaten alle Liebe begehrende Liebe und der Mensch empfindet ein natürliches Verlangen nach Glückseligkeit. Gleichzeitig ist jeder Mensch aufgrund seiner Natur und seines Verstandes dazu veranlagt, III.2 Eros und agape nach Nygren 73 <?page no="74"?> 201 Cf. ibid., pp. 459-467. 202 Cf. ibid., pp. 467-470. Gott zu lieben, schließlich ist er das höchste bonum. Wer Gott nicht liebt, ist mit Wertblindheit gestraft und entbehrt des Verstandes. Der Unterschied zwischen der rechten und der falschen Liebe liegt auch hier in dem Ziel, auf das die Liebe gerichtet ist: Wer Gott liebt, liebt auch sich selbst richtig; wer Gott nicht liebt, sondern sich auf das Weltliche konzentriert, liebt auch sich selbst nicht richtig. Die guten Menschen, also die, die die Liebe verstanden haben, wissen auch, dass die Vernunft der vornehmste Teil ihres Wesens ist, und diese erreicht Vervollkommnung im Schauen Gottes. Die schlechten Menschen halten den sinnlichen Teil für den besten an ihrem Wesen - und dennoch sind sie nicht ganz verloren, denn auch wenn ihre Liebe auf das falsche Ziel gerichtet ist, so ist doch zumindest Liebe vorhanden, an die das Christentum appellieren kann, um sie auf Gott auszurichten. 201 Das zweite Beispiel für die Lösung des Problems der selbstlosen Liebe in der mittelalterlichen Theologie ist Bernhard von Clairvaux. Auch dieser übernimmt den Gedanken, dass alle Liebe begehrende Liebe ist und der Mensch nach dem Höchsten streben muss, weil alles, was niedriger ist, keine echte Befriedigung bringt. Er fügt dem hinzu, dass der Mensch eigentlich alle weltlichen Genüsse kennenlernen sollte, um dann festzustellen, wie sinnlos diese sind, und sich anschließend Gott zuzuwenden. Da dies aber mehr Zeit in Anspruch nimmt als das menschliche Leben bietet, empfiehlt er, die weltlichen Genüsse nur in der Fantasie zu erleben und sich ansonsten auf den rechten Weg zu konzentrieren. Die fleischliche Liebe ist für Bernhard ein Zeugnis der Schwäche der menschli‐ chen Liebe. Die Nächstenliebe fügt dieser sonst so egozentrischen Liebe einen sozialen Teil hinzu. Aber auch die Nächstenliebe muss auf Gott gegründet sein. Er lässt den Menschen durch eine Reihe von Betrübnissen gehen, um ihm zu zeigen, wie hilflos er ohne ihn wäre. Je intensiver diese Erfahrung von Gott aus der Not gerettet zu werden ist, desto mehr Raum nimmt die Liebe zu ihm im Leben ein und wird so zur reinen Gottesliebe. So wird aus der Selbstliebe nach und nach Gottesliebe, d.-h. sie wird in ihr Gegenteil umgewandelt. 202 Das dritte Beispiel liefert die mystische Sichtweise. Hierbei geht es um das Abtöten des eigenen Ichs (mortificatio). Die falsche Selbstliebe hält den Men‐ schen fern von Gott und macht eine Vereinigung unmöglich, wobei die falsche Selbstliebe in diesem Zusammenhang bedeutet, dass der Mensch versucht, Gott gegenüber selbstständig zu sein. Nur die Vernichtung des eigenen Ichs und das Ablassen von jedem eigenen Willen eröffnet dem Menschen den Weg zum Höchsten. In dieser Auffassung sind eros und agape auf sehr eigene Art und 74 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="75"?> 203 Cf. ibid., pp. 470-478. 204 Cf. ibid., pp. 478-481. Weise miteinander verwoben, denn einerseits ist eros mit dem Gedanken an Gott als Ursprung, Triebkraft und Ziel des Lebens vertreten, andererseits ist da aber auch der agape-Einfluss, d. h. die Liebe, die nicht das Ihre sucht. Obwohl hier das eigene Ich so sehr bekämpft wird, ist dennoch die gänzliche Verschmelzung das Ziel, sodass am Ende die Leitsprüche „Gott ist ich“ und „Ich bin Gott“ daraus entstehen. Nygren fasst diese Lösung des Problems, die Selbstliebe mit der Liebe, die nicht das Ihre sucht, miteinander zu verbinden, mit dem Begriff „Sublimierung“ zusammen: Die Selbstliebe wird so lang veredelt, bis aus ihr eine selbstlose bzw. auf Gott gerichtete Liebe wird. Aber auch auf terminologischer Ebene kommt es zu Neuerungen im Mittelalter, wie Nygren erklärt: Augustin, der die lateinischen Begriffe amor, dilectio und caritas synonymisch verwendet und für den klar ist, dass amor den himmlischen eros meint, macht den Terminus amor zu einem Begriff mit kirchlicher Würde. Im Mittelalter aber geht dieses Wissen um die Eindeutigkeit der inhaltlichen Dimension verloren. Gott ist also nicht mehr eros, agape oder einfach nur amor, sondern man beginnt, in der Gottesliebe zudem Selbst- und Freundschaftsliebe zu sehen. 203 Insgesamt versteht die mittelalterliche Theologie die Gemeinschaft mit Gott als eine Vereinigung auf Gottes Ebene, die allerdings durch den Menschen erkämpft werden muss, denn er ist mangel- und sündhaft, Gott hingegen ist makellos. Um diese Diskrepanz zu überwinden und Gleichheit herzustellen, muss der Mensch die drei oben beschriebenen Leitern des Verdienstes, der Kontemplation und der Mystik erklimmen. Die caritas ist es, die ihn dazu antreibt und dem Glauben die richtige Form verleiht (fides caritate formata). Durch sie kommt ein Kontakt zwischen Mensch und Gott zustande, sie bringt Gerechtigkeit und Heiligkeit in das menschliche Leben, die wiederum gottge‐ fällig machen. Mit Thomas von Aquin erläutert Nygren noch einmal die vier Schritte, die man für eine Vereinigung mit Gott gehen muss: Zuerst muss Gott dem Menschen die Liebe eingießen - dies ist die Grundvoraussetzung. Erst dann kann sich der Mensch dank des freien Willens weg von der Sünde und hin zu Gott bewegen. Dadurch werden ihm seine Sünden vergeben und die Vereinigung mit Gott kann geschehen. 204 Zu guter Letzt widmet sich Nygren dem Einfluss der Caritaslehre auf die Minnefrömmigkeit. In der Minnedichtung wird zwar (zunächst) eine irdische Liebe besungen, aber aus der Caritaslehre übernehmen die Autoren wohl die Veredelung dieser Liebe bis ins Ideal. So wie die caritas als die höchste theologi‐ III.2 Eros und agape nach Nygren 75 <?page no="76"?> 205 Cf. Josef Pieper: Über das christliche Menschenbild, Freiburg: Johannes Verlag Einsiedeln 1995, pp. 57-59. 206 Cf. Anders Nygren: Eros und Agape, vol. 2, pp. 481-484. 207 Cf. Gall Morel ed.: Mechthild <von Magdeburg>: Offenbarungen der Schwester Mechthild von Magdeburg oder das fließende Licht der Gottheit - aus der einzigen Handschrift des Stiftes Einsiedeln, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980. 208 Gonzalo de Berceo: Obras Completas II - Milagros de Nuestra Señora, ed. Brian Dutton, London: Tamesis Books 1971. 209 Cf. Albert Gier: „Literatur am Hof von Alfonso el Sabio“, in: Christoph Strosetzki ed.: Geschichte der spanischen Literatur, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1996, pp. 17-20, ibid. p.-19. 210 Ibid. unter Bezug auf Joseph T. Snow: „The central role of the troubadour ‚persona‘ of Alfonso X in the ‚Cantigas de Santa María‘, BHS, 56 (1979), ProQuest Information and Learning Company 2004, 305-316. 211 Cf. Joseph T. Snow: loc. cit., p.-308. sche Tugend 205 gilt, ist auch in der Minne die Liebe der Hort der Tugend. Da sich die Minnedichtung vieler kirchlicher Begriffe und Anschauungen bedient, wird der Einfluss der kirchlichen Anschauung immer deutlicher. Aus der Frau‐ enminne wird dann zuweilen die Marien-, Christus- und letztendlich sogar die Gottesminne, in der die minnende Seele als Königin dargestellt wird, die von Christus bzw. Gott begehrt wird. Nicht selten wird Christus dann zum liebenden Bräutigam, der seine Königin-Seele mit Liebespfeilen in süßen, sehnsuchtsvollen Schmerz versetzt. Oder auch Bilder von Christus und der menschlichen Seele als verliebtes Paar, die sich mit Plaudern oder Streicheln die Zeit vertreiben, werden oft gezeichnet. Das Bild von der geistigen Hochzeit der beiden Verliebten wird aus der Mysterienreligion übernommen. 206 Als ein Beispiel für diese Form der Liebesdichtung sei Mechthild von Magdeburg mit ihrem Werk Ein vliessende lieht miner gotheit genannt. 207 In der spanischen Literatur ist Gonzalo de Berceo mit seinen Milagros de Nuestra Señora  208 eines der wahrscheinlich bekanntesten Beispiele für die Marienminne. Ebenso wichtig sind die nicht-narrativen cantigas de loor am Beginn einer jeden Dekade sowie am Schluss der Cantigas de Santa María von Alfonso el Sabio 209 als ein Beispiel für die geistliche Überbietung der weltlichen Verzichtsminne der galegoportugiesischen Lyrik: Alfonso setzt sich hier als Troubadour in Szene, der der Liebe zu anderen Frauen entsagt hat, um allein Maria nach den Regeln der höfischen Liebesdichtung zu verherrlichen. 210 In seinen Lobgesängen an die Heilige Jungfrau will der bußfertige Alfonso zwar von weltlicher Liebe ablassen und seine Kunst so verfeinern, dass er der Gnade Marias würdig wird 211 , aber er darf sich gewiss sein, dass Maria ihn erhören und seine Liebe zu ihr - anders als die weltliche Liebe - eine erfüllte Liebe sein wird. 76 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="77"?> 212 Caridat bzw. caridad taucht insgesamt achtmal im LBA auf. Cf. LBA, Prosaprolog, lin. 119, cc. 379, 1309, 1322, 1594, 1599, 1603, 1722. In c. 379 fällt der Begriff im Zuge der Anschuldigungen des Erzpriesters an Don Amor, in c. 1309 ist es Don Amor selbst, der dieses Wort ausspricht, allerdings um sich darüber zu beschweren, dass man ihm nicht liebevoll begegnet. C. 1722 gehört zu einem der Abschlussgebete an die Hl. Maria, daher wird die Verwendung hier nicht weiter berücksichtigt. Die weiteren Erwähnungen werden in die Interpretationen in den entsprechenden Kapiteln dieser Dissertation einbezogen. 213 Cf. LBA, cc. 431-435, 444-450. 214 Cf. ibid., cc. 934-936. 215 Cf. Anthony N. Zahareas: op. cit., p.-24. III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor Nun haben wir also gesehen, dass der Liebesbegriff seit der Antike eine enorme Entwicklung erfahren hat und immer wieder neu definiert wurde. Was aber bedeutet all das für das LBA? Die damalige Leserschaft des Erzpriesters kennt diesen Entwicklungsprozess des Liebesbegriffs mit größter Wahrscheinlichkeit nicht. Sie steht vor dem Dilemma, dass auch im (Alt-)Spanischen von „amor“ gesprochen wird, nicht von „eros“ und „agape“ und nur selten im LBA von „caritas“ 212 . Diese Problematik wird aber wiederum abgefedert durch das allgemein religiöse Umfeld, in dem sich die Rezipient: innen bewegen und das sie mit Informationen ausgerüstet hat, die wir als Leser: innen des 21.-Jahrhunderts nicht mehr von vornherein haben, sondern uns erarbeiten müssen. Wir müssen erst in Erfahrung bringen, was es bedeutet, wenn man den falschen Boten beauftragt oder eine Kupplerin vor der Tür steht. Auch die Verhaltensregeln für Frauen und Männer im Liebesspiel kennt das Publikum des 14. Jahrhunderts bereits. Wenn Don Amor von den Frauen spricht, die man sich unbedingt suchen soll 213 , oder die Kupplerin sich als Verrückte ausgibt, um den Verdacht anderer Menschen abzulenken 214 , weiß das Publikum des Erzpriesters diese Dinge viel schneller und besser einzuordnen, als wir es können. Auch eine Ebene tiefer erreicht das LBA seine damaligen Leser: innen vielleicht auf ganz andere Weise: Wenn der Erzpriester von „buen amor“ und „loco amor“ spricht, bedient er sich bereits vorgeformter Begriffe, die vielleicht schriftlich so noch nicht fixiert waren 215 , aber wahrscheinlich auf ein zeitgenössisches Motiv verweisen. Wenn der Erzpriester also seine humorvollen Darstellungen präsentiert und uns dabei nicht klar ist, wo er die Grenze zwischen buen amor und loco amor zieht, heißt das nicht, dass das damalige Publikum dasselbe Problem hatte. Hier wird wohl auf eine Definition rekurriert, die außerhalb des LBA bereits feststeht und vor deren Hintergrund die Komik des Dargestellten erst richtig hervortritt - zumindest für diejenigen, III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 77 <?page no="78"?> 216 Cf. ibid., p. 3. Zahareas bezieht sich auf die Ausgabe der Recherches sur le Libro de buen amor de Juan Ruiz, Archiprêtre de Hita von Félix Lecoy aus dem Jahr 1938. In dieser Dissertation wurde die Ausgabe von 1974, herausgegeben von A. D. Deyermond, ver‐ wendet. Da Zahareas nicht angibt, welche Passagen er von Lecoy genau übernommen hat, kann dies hier ebenfalls nicht wiedergegeben werden. Daher wird Zahareas zitiert. 217 Cf. ibid., p. 4; Américo Castro: El ‚Libro de Buen Amorʻ del Arcipreste de Hita, Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes, http: / / www.cervantesvirtual.com/ obra-visor/ el-libro-de-buen-amor-del-arcipreste-dehita/ html/ dcd64a3e-2dc6-11e2-b417-000475f5bda5_13.html [Stand: 14.9.21]. 218 Cf. María R. Lida de Malkiel: „Nuevas notas“, p. 20, Fußnote 11; ead.: Two Spanish Masterpieces, pp. 25, 32. die die Begriffe zu unterscheiden wissen. Die Vorgeschichte der Begriffe wurde bereits erläutert; in den folgenden Kapiteln sollen weitere Einblicke in den zum Teil humorvollen Hintergrund gewährt werden. III.3.1 Bisherige Interpretationen von loco amor und buen amor Wie die Kapitel über die Entwicklung des christlichen Liebesbegriffs gezeigt haben, hielt man im Mittelalter an den Ausführungen der Kirchenväter fest: Mittels des freien Willens entscheidet der Mensch darüber, ob er die Inhalte der sinnlichen Welt gebrauchen oder genießen will bzw. ob er sie als Gottes Schöp‐ fung ansieht und damit eigentlich Gott liebt oder ob er sie (fälschlicherweise) bereits als summum bonum betrachtet und so der Liebe zur Welt anheimfällt, um es mit Augustin zu sagen. Die Frage, wie nah oder fern eine Sache oder ein Mensch Gott steht, entscheidet darüber, wie viel Liebe ihr/ ihm zugestanden werden soll. Im LBA findet man den typischen Dualismus christlicher Texte, allerdings mit absichtlicher Verwechslungsgefahr vermischt. Felix Lecoy behauptet, die zwei Welten der guten und weltlichen Liebe seien ehrlich gemeint, aber sie vermischten sich nie. 216 Andererseits sagt Américo Castro, Ruiz lasse die gute und die törichte Liebe oft so weit in einander übergehen, dass es schwer sei, sie voneinander zu unterscheiden, und folge damit dem Vorbild arabischer Lite‐ ratur, für die das Verschwimmen und Verwischen von Aspekten charakteristisch sei. 217 Eine ähnliche Position nimmt auch María Rosa Lida de Malkiel ein, indem sie sagt, der Erzpriester habe quasi christliche Themen in arabischer bzw. heb‐ räischer Form dargeboten. 218 Ob ein solcher Einfluss auch hier geltend gemacht 78 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="79"?> 219 Wie bereits in meiner unveröffentlichten Magisterarbeit gezeigt wurde, sind v. a. arabische Einflüsse beim Erzpriester nicht auszuschließen. Cf. Anna Waldschütz: Das Frauenbild im Halsband der Taube und im Libro de buen amor - Ein Fallbeispiel für Intertextualität und Interkulturalität im spanischen Mittelalter? , München: Ludwig- Maximilians-Universität, Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften 2010 (opus ineditum). 220 Cf. Anthony N. Zahareas: op. cit., p.-179. 221 Cf. ibid., p. 24. Zahareas bezieht sich hier u. a. auf G. B. Gybbon-Monypenny, der wiederum sagt: „It is possible, then, to find examples of the term bona amors and its equivalents in other languages being used in three senses: sexual love, brotherly love and divine love. But the same is true of fina amors.“ G. B. Gybbon-Monypenny: „Lo que buen amor dize con rrazon te lo pruebo“, BHS, vol. 38 (1961), 13-24, ibid. 22. 222 Anthony N. Zahareas.: op. cit., p.-2. 223 Cf. ibid.: op. cit., p.-15. werden kann, bleibt offen, denn die Frage nach orientalischen Inspirationen steht in dieser Doktorarbeit nicht im Fokus. 219 Laut Zahareas widmet sich der Erzpriester mit all seinen Fertigkeiten der Darstellung der Disparität zwischen Ideal (buen amor) und Realität (loco amor). 220 Für Zahareas ist die Mehrdeutigkeit sowohl bezüglich des gewählten Themas als auch der Intention des Arcipreste eines der Hauptmerkmale des LBA. So wird auch der Begriff buen amor bewusst mehrdeutig konnotiert, sodass die Leser: innen nicht mehr sicher sein können, ob die göttliche Liebe gemeint ist oder doch die weltliche oder gar eine Kombination aus beiden. Laut Zahareas wurde der Begriff buen amor nie zuvor in der spanischen Tradition für „Gottes‐ liebe“ benutzt, sondern entstammt dem Vokabular der höfischen Liebe, in dem bona amors begehrende Liebe bezeichnet. Buen amor, so erläutert Zahareas, ist die göttliche Liebe, während loco amor die profane Liebe bezeichnet. 221 Indem der Erzpriester für die Gottesliebe einen Begriff verwendet, der bis dahin die erotische Liebe meinte, wird beim Publikum Verwirrung gestiftet, auch wenn ihm das dualistische Konzept von rechter und törichter Liebe bekannt war. Es stellt sich die Frage, warum nicht z. B. das Wort „caridad“ durchgängig verwendet wird, wenn es um christliche Liebe geht, schließlich, so Zahareas, unterweist der Erzpriester sein Publikum in „Christian charity“ 222 . Laut Zahareas liegt den Aussagen des Erzpriesters eines immer zugrunde: Die Liebe ist ein tief in der Natur des Menschen verwurzeltes Gefühl, das gelebt werden will; nur wie es gelebt wird, also ob es sich an Gott richtet und damit gut ist oder ob es sich der Welt und den Lüsten zuwendet und so töricht wird, liegt in der Hand eines jeden Menschen selbst 223 , was den zuvor detailliert dargelegten Ausführungen zu Augustin entspricht. In Augustins Worten hieße das, dass der geliebte Gegenstand das Liebesziel bestimmt und ob sich die Liebe am bonum oder malum orientiert. III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 79 <?page no="80"?> 224 Cf. LBA, cc. 1332-1507. 225 Cf. Anthony N. Zahareas.: op. cit., p.-25. 226 Cf. ibid., pp. 38 sq. 227 Es wurde auch hier die Ausgabe von Jaques Joset aus dem Jahr 1974 als Grundlage der Zählung verwendet. Für Zahareas birgt die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks buen amor einen thematischen Widerspruch, der wiederum zu Spannung führt und sogar proportional wächst: je größer der Widerspruch, desto größer die Spannung, wie z. B. in der Garoza-Episode 224 , in der die Mehrdeutigkeit der „guten Liebe“, in der sich der Erzpriester und die Nonne zugetan sind, immer mehr Fragen aufwirft, für deren Beantwortung die Fähigkeit der Leser: innen zur Interpreta‐ tion gefragt ist. 225 Außerdem erschwert laut Zahareas die Aneinanderreihung von Widersprüchen, feinen Unterschieden und unpräzisen Hinweisen das Erkennen der eigentlichen Intention des Erzpriesters. Aber gerade diese Art der Präsentation stellt den Kern des LBA dar, denn dadurch bekommen die Andeutungen über die Interpretationsmöglichkeiten wiederum eine ganz eigene Schärfe, eine didaktische Präzision. 226 Dieser Ansicht kann man aber auch widersprechen. Die Häufigkeit der ironischen Aussagen verdeutlicht den Leser: innen bestimmt die Intention des Arcipreste, allerdings vertieft sie sie nicht unbedingt, sondern erweitert sie eher, indem aufgezeigt wird, in wie vielen verschiedenen Situationen und Facetten die törichte Liebe mit der rechten Liebe verwechselt werden kann. Anhand der zuvor durchgeführten Analyse der Begriffe eros und agpae sollen nun die bisherigen Standpunkte zur Interpretation von loco amor und buen amor neu beleuchtet werden. Hierzu ist es allerdings notwendig, zunächst herauszufiltern, wann und in welchem Kontext von loco amor und buen amor die Rede ist. Eine Zählung der einschlägigen Begriffe soll hierüber Aufschluss geben. III.3.2 Zählung einschlägiger Begriffe Mit einer Tabelle soll gezeigt werden, welche Begriffe im LBA verwendet werden, um rechte und törichte Liebe zu bezeichnen. Zur Erstellung dieser Tabelle wurden ausgewählte Begriffe im LBA  227 gezählt. Es wurden neben den zentralen Begriffen „buen amor“, „linpio amor“, „loco amor“ und „falso amor“ die Worte in der Zählung berücksichtigt, die diesen zentralen Begriffen sowohl lexikalisch als auch inhaltlich am nächsten stehen und zwischen Gut und Böse unterscheiden. 80 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="81"?> In einem ersten Schritt wird nur die Häufigkeit dargestellt, in einem zweiten Schritt erfolgt die Auswertung, d. h. es wird ein Zusammenhang zwischen Häufigkeit und Inhalt hergestellt; in einem dritten Schritt werden zentrale Sequenzen des LBA bzw. die Verwendung der Begriffe darin sowie die ironische Verwendung des Begriffes „buen (amor)“ und seiner Synonyme untersucht (Kapitel III.3.3). „Loco (amor)“ und seine Synonyme müssen nicht auf ironi‐ schen Gebrauch hin untersucht werden, weil dies nicht vorkommt. Bei diesen Begriffen wird aufgezeigt, welche andere Funktion sie im Text erfüllen. Die Zählung selbst erfolgt strophenweise. Da die Darstellung aller einzelnen Strophen zu viel Platz eingenommen hätte, werden in der folgenden Tabelle die Kapitel zum Teil gebündelt angegeben. Sie tragen Kurztitel, basierend auf der Gumbrechtschen Übersetzung. Die Tabelle kann man entweder nach Kapiteln auswerten, wodurch man sehen kann, welche Begriffe in welchen Kapiteln am häufigsten gebraucht werden, und somit erkennen, auf welche Kapitel man am meisten achten sollte. Diese sind die Kapitel 02, 33, 37, 42, 43, 44, 46, 59, 69, 76, 77 und 80. Das Hauptaugenmerk liegt also auf der Einführung in das Thema des LBA, der Auseinandersetzung mit Don Amor und Doña Venus, der Endrina-Episode, der Erinnerung an die einführenden Worte, dem Kampf zwischen Karneval und Fastenzeit, der Garoza-Episode und dem Tod der Kupplerin. Diese Kapitel werden im Verlauf dieser Dissertation genauer betrachtet. Außerdem wird auf die Passagen eingegangen, in denen explizit von „buen amor“ die Rede ist, um seine Bedeutung im jeweiligen Kontext zu entschlüsseln und mit den zuvor behandelten Interpretationen des Liebesbegriffs der Kirchenväter in Verbindung zu bringen. Die Reihenfolge der Analyse orientiert sich weitestgehend am LBA selbst, nur dort, wo eine Abweichung aus interpretatorischen Gründen sinnvoll erscheint, wird auf die Einhaltung der Abfolge verzichtet. Man kann die Zählung aber auch horizontal lesen. Man sieht dann, welche Begriffe insgesamt wie häufig gebraucht wurden. Dadurch wird deutlich, wie viel Gewicht die jeweiligen Begriffe für das gesamte Buch tragen. Die am häufigsten verwendeten Begriffe sind „bien“, „buen“, „mejor“, „falso“ und „mal“, was einerseits nicht überrascht, allerdings hätte man meinen können, dass „loco“ öfter auftaucht. Mehr zur Verteilung der Begriffe für Gut und Böse folgen in diesem Kapitel. III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 81 <?page no="82"?> Kap. Titel cc. / linn. Kap. Tiel cc. Kap. Titel cc. 01 Erstes Gebet 1-10 34 Streit mit Don Amor 372-387 65 Vierte Liebe: Dame beim Gebet 1321-1331 02 Prosaprolog 1-166 35 Streit mit Don Amor 388-406 66 Trotaconventos schlägt Nonne vor 1332-1347 03 Zweites Gebet 11-19 36 Exempel "Maulwurf und Frosch" 407-422 67 Exempel "Gemüsegärtner und Schlange" 1348-1356 04 Freuden der Hl. Maria 20-32 37 Don Amors Antwort 423-456 68 Exempel "Windhund und sein Herr" 1357-1369 05 Freuden der Hl. Maria 33-43 38 Ex. "Zwei Träge kämpfen um dieselbe Frau" 457-473 69 Exempel "Stadtmaus und Landmaus" 1370-1386 06 Römer vs. Griechen 44-70 39 Exempel "Pitas Payas" 474-489 70 Exempel "Hund, Safir und Misthaufen" 1387-1400 07 Natur des Menschen und der Tiere 71-76 40 Exempel "Wesen mit Geld" 490-527 71 Exempel "Esel und Hündchen" 1401-1411 08 Erste Liebe 77-81 41 Don Amor warnt vor Wein 528-575 72 Exempel "Füchsin und Hühner" 1412-1424 09 Exempel "Kranker Löwe" 82-97 42 Doña Venus 576-652 73 Exempel "Löwe und Maus" 1425-1436 10 Exempel "Erde, die brüllte" 98-104 43 Endrina 653-745 74 Exempel "Füchsin und Rabe" 1437-1444 11 Alles ist nichtig, außer der Gottesliebe 105-114 44 Exempel "Trappe und Schwalbe" 746-870 75 Exempel "Hasen" 1445-1453 12 Zweite Liebe, Ferrand Garçía 115-122 45 Endrinas Eroberung im Haus der Alten 871-891 76 Exempel "Räuber und Teufel" 1454-1484 13 Planeten 123-165 46 Unterweisung d. Damen, Dame i. d. Estrade, 77 Aussehen des Erzpriesters 1485-1507 14 Dritte Liebe und Ex. "Dieb und Hofhund" 166-180 Namen der Kupplerin 892-944 78 Trotaconventos und die Araberin 1508-1512 15 Kampf mit Don Amor 181-188 47 Besuch der Alten 945-949 79 Instrumente und arabische Liebe 1513-1519 16 Ex. "Ein Mann will drei Frauen heiraten" 189-198 48 Erste Gebirglerin 950-959 80 Tod der Kupplerin 1520-1575 17 Exempel "Frösche und Jupiter" 199-216 49 Gesang von der Gebirglerin 960-971 81 Epitaph 1576-1578 18 Habsucht 217-225 50 Zweite Gebirglerin 972-986 82 Waffen des Christen 1579-1605 19 Exempel "Dogge und Fleisch" 226-229 51 Gesang von der Gebirglerin 987-992 83 Eigenschaften der kleinen Damen 1606-1617 20 Hochmut 230-236 52 Dritte Gebirglerin 993-996 84 Don Furón 1618-1625 21 Exempel "Pferd und Esel" 237-245 53 Gesang von der Gebirglerin 997-1005 85 Wie man das LBA verstehen soll 1626-1634 22 Geiz 246-251 54 Vierte Gebirglerin 1006-1021 86 Freuden der Hl. Maria 1635-1641 23 Exempel "Wolf, Ziege, Kranich" 252-256 55 Gesang von der Gebirglerin 1022-1042 87 Freuden der Hl. Maria 1642-1649 24 Ausschweifung 257-269 56 Dichtung für die Hl. Maria del Vado 1043-1048 88 Scholarengesang 1650-1660 25 Exempel "Adler und Jäger" 270-275 57 Christi Passion 1049-1058 89 Blindengesang 1710-1719 26 Neid/ Missgunst 276-284 58 Christi Passion 1059-1066 90 Blindengesang 1720-1728 27 Exempel "Pfau und Krähe" 285-290 59 Don Carnal und Doña Cuaresma 1067-1127 91 Ave Maria 1661-1667 28 Völlerei 291-297 60 Beichte des Don Carnal, seine Absolution 92 Lobgesang für die Hl. Maria 1668-1672 29 Exempel "Löwe und Pferd" 298-303 und Buße 1128-1172 93 Lobgesang für die Hl. Maria 1673-1677 30 Ruhmsucht 304-310 61 Aschermittwoch und Fastenzeit 1173-1209 94 Lobgesang für die Hl. Maria 1678-1683 31 Ex. "Löwe tötet sich selbst im Zorn" 311-316 62 Don Amor und Don Carnal - Einzug 1210-1224 95 Lobgesang für die Hl. Maria 1684 32 Fauhlheit 317-320 63 Don Amor - Empfang 1225-1314 96 Gesang gegen Fortuna 1685-1689 33 Exempel "Gerichtsverhandlung" 321-371 64 Alte sucht neue Gelegenheit 1315-1320 97 Klagelied der Kleriker von Talavera 1690-1709 Garoza-Episode Endrina- Episode 82 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="83"?> Gesamt peoría 1 1 2 peor (adj., adv, Subs.) 1 1 1 2 1 1 3 1 2 1 14 malum 1 1 maldat/ maldad 1 1 1 1 1 1 2 1 1 10 mal… 1 1 1 2 2 1 1 1 2 8 1 3 2 1 1 1 1 1 8 3 1 1 1 1 46 mal, -es/ malo, -a, -s (adj., adv., Subs.) 1 8 2 7 2 5 1 1 4 2 8 6 4 3 4 4 1 1 8 12 28 6 33 13 4 1 7 1 6 1 5 2 1 1 3 3 35 1 19 6 2 5 1 1 1 2 2 2 5 281 locura 2 1 1 2 2 1 4 1 3 1 2 20 loco, -a, -s (adj., Subs.), locamente 2 2 1 1 5 3 9 3 1 1 1 1 1 1 32 loco amor / amor loco 7 2 9 falsamente 1 1 falso, -a, -s (adj.) 2 1 1 2 4 1 2 1 1 1 5 1 22 falsía 1 1 falsedad 1 1 2 amor falso / falso amor 1 1 2 alinpiar 1 1 2 linpio, -a, -s (adj.) 1 1 2 1 1 6 linpieza/ linpieça 2 2 linpiar 1 1 amor linpio / linpio amor 1 1 2 mejoría 1 3 1 1 6 mejorar 1 1 mejor (adj., adv., Subs.) 1 2 1 1 1 3 1 1 1 2 1 8 6 14 3 3 1 2 6 2 3 1 2 1 67 bonus, -a (Latein) 2 1 3 bona (Galizisch/ Okzitanisch) 2 2 bondat/ bondad 1 2 2 1 2 2 10 …buen/ buen…/ …bien/ bien…/ ben… 1 1 1 1 2 1 1 1 1 1 7 1 3 1 3 4 1 1 2 1 3 3 2 1 44 bien (adv., Konj.), bien, -es/ bueno, -a, -s (Subs.), buen, bueno, -a, -s (adj.) 1 36 4 1 12 2 14 7 17 6 7 1 5 5 3 3 2 25 19 39 22 110 22 7 7 12 21 2 19 7 11 1 18 1 5 76 3 2 19 14 7 2 6 3 2 7 1 3 2 6 627 buen amor 2 2 2 1 2 1 2 1 2 15 enamorar 1 1 2 3 3 1 2 3 16 amoroso, -a, -s 1 2 1 4 ama… 1 1 1 3 amar 7 2 1 5 1 1 1 1 12 3 24 1 1 2 1 10 2 3 1 2 1 82 amor 1 1 1 3 2 7 3 1 2 1 2 1 14 9 26 2 3 3 1 12 1 3 6 2 2 1 1 111 Kap. 14 Kap. 01 Kap. 02 Kap. 03 Kap. 04 - 05 Kap. 06 Kap. 07 Kap. 08 -10 Kap. 11 Kap. 12 Kap. 13 Kap. 42 Kap. 15 - 17 Kap. 18 - 19 Kap. 20 - 21 Kap. 22 - 23 Kap. 24 - 25 Kap. 26 - 27 Kap. 28 - 29 Kap. 30 - 31 Kap. 32 - 33 Kap. 34 - 36 Kap. 37 - 41 Kap. 61 Kap. 43 - 45 Kap. 46 Kap. 47 Kap. 48 - 49 Kap. 50 - 51 Kap. 52 - 53 Kap. 54 - 55 Kap. 56 Kap. 57 - 58 Kap. 59 Kap. 60 Kap. 85 Kap. 62 Kap. 63 Kap. 64 Kap. 65 Kap. 66 - 77 Kap. 78 Kap. 79 Kap. 80 - 81 Kap. 82 Kap. 83 Kap. 84 Kap. 97 Kap. 86 -87 Kap. 88 Kap. 89 - 90 Kap. 91 Kap. 92 - 95 Kap. 96 III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 83 <?page no="84"?> 228 LBA, c. 424. 229 Ibid., Prosaprolog, linn. 36-41. 230 Cf. ibid., Prosaprolog, cc. 892, 1626-1634. 231 Der Prosaprolog wurde mithilfe der Zählung als erste aussagekräftige Passage zur Unterscheidung von Gut und Böse identifiziert. Gleichzeitig wird darin aber auch zum ersten Mal im LBA der Begriff „buen amor“ verwendet, weswegen Schritt 2 und 3 (s. oben) hier kombiniert betrachtet werden können. Begriffe, die „Gutes“ insgesamt ausdrücken, findet man 788-mal, wohingegen Bezeichnungen für „Törichtes“ 443-mal auftauchen. Ähnlich verhält es sich mit den zentralen Worten: „Buen amor“ und „linpio amor“ liest man insgesamt 17-mal (15-mal „buen amor“, zweimal „linpio amor“) und „amor falso“ sowie „loco amor“ insgesamt nur elfmal (neunmal davon „loco amor“ und zweimal „amor falso“). Es wird also fast doppelt so oft von Gutem gesprochen wie von Törichtem. Nun muss man allerdings festhalten, dass an den Stellen, an denen der Erzpriester von „gut“ und „rein“ spricht, durchaus auch Ironie im Spiel sein kann bzw. die Interpretation des Gesagten nicht immer eindeutig zu sein scheint. Wenn Don Amor z. B. sagt: „[L]a buena fabla sienpre faz de bueno mejor“ 228 ist damit gewiss gemeint, man solle im Sinne der törichten Liebe „gut“ sprechen, d. h. ein Mann solle seine Worte so wählen, dass er eine Frau von der törichten Liebe überzeugt. Anders verhält es sich beim Gebrauch von „bueno“, wenn der Erzpriester im Prosaprolog die rechte Liebe beschreibt: E desque el alma, con el buen entendimiento e buena voluntad, con buena remenbrança escoge e ama el buen amor, que es el de Dios, e pónelo en la çela de la memoria porque se acuerde d’ello e trae al cuerpo a fazer buenas obras, por las quales se salva el omne. 229 Eben dieses Verwirrspiel mit dem Begriff der guten Liebe ist das zentrale Thema und dessen Entwirrung Aufgabe der Leser: innen. Dies ist der Schluss, den man aus der Häufigkeit der zentralen Begriffe ziehen kann: Das Gute im Gegensatz zum Bösen/ Törichten scheint im Fokus des Buches zu stehen, tatsächlich muss man als Leser: in aber die Eigenleistung erbringen, zu erkennen, wann das Gute im christlichen Sinne gemeint ist. III.3.3 Begriffserläuterungen und Interpretationen Der Erzpriester fordert seine Leser: innen insgesamt dreimal - am Anfang, in der Mitte und am Schluss des LBA - dazu auf, sich seinem Buch mit Verstand zu widmen und seine Zeichen richtig zu deuten. 230 Zentrales Thema des Prosaprologs 231 ist das Bibelzitat „Intellectum tibi dabo“, das als Leitmotiv an den Anfang des Textes gestellt wird. 84 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="85"?> 232 LBA, Prosaprolog, linn. 27-30. 233 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, pp. 7 sq., Fußnote zu Prosaprolog, lin. 29. 234 LBA, Prosaprolog, linn. 31-33. 235 Cf. ibid., lin. 6. 236 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p. 6, Fußnote zu Prosaprolog, lin. 1. 237 Cf. LBA, Prosaprolog, linn. 8 sq. 238 Schmaus: „Einleitung“, p.-28. 239 Ibid., p.-27. E desque está informada e instruida el alma que se ha de salvar en el cuerpo linpio, e piensa e ama e desea omne el buen amor de Dios e sus mandamientos. 232 In diesem ersten, titelgebenden Gebrauch des Ausdrucks „buen amor“ zeigen laut Joset sowohl der bestimmte Artikel „el“ als auch das Determinativ „de Dios“ und der Kontext die Hochachtung, die der Mensch als Geschöpf seinem Schöpfer gegenüber empfindet. 233 Dem Begriff „buen amor“ wird kurz darauf sein Gegenstück gegenüberge‐ stellt: E otrosí desecha e aborresçe el alma el pecado del amor loco d’este mundo. 234 Der Prosaprolog behandelt die Intention des Erzpriesters, das LBA zu verfassen, und gleichzeitig ist er zu lesen wie eine Art Gebrauchsanweisung, um den Inhalt des LBA richtig zu verstehen. Der Arcipreste bezieht sich auf Psalm 31, um genau zu sein, sagt er, es handle sich bei dem Zitat „intellectum tibi dabo“ um Vers 10 des Psalms 31. 235 Joset merkt in seiner Fußnote an, dass es um Vers 8 des Psalms 31 ginge. 236 Gottesfurcht und Gottesliebe sind eindeutig mit dem Verstand verbunden. Die drei wichtigsten Begriffe sind entendimiento, voluntad und memoria, die der Arcipreste dem zitierten Bibelvers entnimmt und als Bestandteile der Seele betrachtet. 237 Durch den Verstand (entendimiento) weiß der Mensch Gut und Böse zu unterscheiden. Hat er dies einmal gelernt, ist er gewillt, sich Gott hinzugeben und in seinem Namen richtig zu handeln (voluntad). Dies schafft er, weil er sich daran erinnert, was als guter Mensch zu tun ist (memoria). So fügen sich die drei zentralen Begriffe zu einer Einheit zusammen, die wiederum für das Verständnis des hier beschriebenen Werks zentral sind, denn wenn der Mensch diese Fähigkeiten verinnerlicht hat, wählt er die rechte Liebe und das rechte Handeln. Diese drei Begriffe gehen auf Augustin zurück. In Buch X-XIV von De Trinitate beschreibt er sie als die „Seelensubstanz“ 238 und die „notwendigen Entfaltungsweisen des Geistes“ 239 sowie als die „im inneren III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 85 <?page no="86"?> 240 Ibid. 241 Ibid. 242 Ibid. 243 Ibid. 244 Cf. ibid., pp. 27 sq. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Dreiheit memoria, ratio und voluntas auch die spätere Exegese biblischer Texte prägte. Zum Beispiel nennt der Verfasser des St. Trudperter Hohelieds (TH) die drei zentralen Begriffe in seinem Prolog: „[…] der heilige geist der brennet die memoriam, er | erglüejet die rationem, er zerlât die voluntatem. | […].“ Anonymus: Das St. Trudperter Hohelied - eine Lehre der liebenden Gotteserkenntnis, ed. Friedrich Ohly, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker-Verlag 1998 (Bibliothek des Mittelalters, vol. 2, Bibliothek deutscher Klassiker, vol. 155), I,17-18. Dies zeigt, wie intensiv der Einfluss des augustinischen Gedankenguts fortwirkte, schließlich geht man davon aus, dass das TH um 1160 im steirischen Benediktinerkloster Admont entstand. Cf. Friedrich Ohly: loc. cit., p.-328. Menschen verwirklichte Dreiheit“ 240 . Memoria bezeichnet dabei nicht nur das Erinnerungsvermögen, sondern auch den Besitz von Wissen. Sie ist der „Quell des geistigen Erkennens“ 241 , in ihr findet man sich selbst sowie „unwandelbare Wahrheiten und Normen“ 242 . Grundvoraussetzung für diese Fähigkeit ist gött‐ liche Erleuchtung. Intellectus meint die „intuitive Erkenntnis“ 243 , die Einsicht, mit der wir unmittelbar auf die Gedanken schauen. Voluntas ist das bewusste Wollen, die bewusste Entscheidung, memoria und intellectus einzusetzen. Somit bilden die drei Begriffe eine Einheit, mit der man sich der Suche nach Gott widmen kann. Dass voluntas in diesem Zusammenhang zuweilen auch amor genannt wird, liegt daran, dass sich der Wille stets und grundlegend mit der Liebe befasst. Wichtig ist hierbei v. a., dass Augustin seine Leser: innen für fähig erachtet, diese Dreiheit zu verstehen. 244 Da die drei richtungsweisenden Fähigkeiten bei Augustin und dem Arcipreste geradezu identisch sind, liegt der Verdacht nahe, der Erzpriester habe sich an Augustin orientiert. Auf diese Weise wird das LBA von Anfang an und in Gänze sozusagen unter ein augustinisches Motto gestellt. Folglich wäre auch der Liebesbegriff an Augustin angelehnt, d. h. buen amor wäre das, was Augustin als caritas bezeichnet, loco amor wäre dann gleichbedeutend mit cupiditas. Während für Origenes noch die Bildung ausschlaggebend war, um im Hohelied die biblischen Begriffe für himmlischen und vulgären eros zu unterscheiden, appellieren sowohl Augustin als auch der Erzpriester an den gottgegebenen Verstand, der jedem Menschen zu eigen ist. Somit ist jeder Mensch, unabhängig von seiner Herkunft und seiner Bildung, in der Lage, den richtigen Weg einzuschlagen. Zur Untermalung dieser wichtigen Botschaft für die Leser: innen taucht der Begriff „buen amor“ hier bereits ein zweites Mal auf, nämlich in den Zeilen 38 und 39: „el buen amor, que es el de Dios“. In ähnlicher Konstellation, d. h. nachdem der Erzpriester wieder die Notwendigkeit des rechten Verstands, des 86 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="87"?> 245 Cf. LBA, Prosaprolog, linn. 36-53. 246 Cf. ibid., linn. 71 sq. 247 Cf. ibid., linn. 76-79. 248 Cf. ibid., linn. 97-106. 249 Dennoch bleiben im weiteren Verlauf Schilderungen über mögliche Strafen weitestge‐ hend aus. Cf. Kapitel III.4. 250 Cf. LBA, Prosaprolog, linn. 126-141. 251 Ibid., linn. 141-151. guten Willens und der guten Erinnerung der Leser: innen hervorgehoben hat, spricht er von der Gottesliebe („amor de Dios“). 245 Hier ist also die Definition eindeutig und unmissverständlich dargestellt: Die rechte Liebe ist die Liebe Gottes. Allerdings ist der Mensch von Natur aus der Sünde zugeneigt, aber im Gegensatz zum Tier ist er in der Lage, dank seines Verstands besser zu handeln als die Tiere und von der Sünde Abstand zu nehmen. 246 Weil der Mensch sich aber nicht alles merken kann, müssen Bücher geschrieben werden. Hier beginnt der Erzpriester mit der Schilderung seiner Intention: Er schrieb das Buch, um seine Leser: innen (egal ob Mann oder Frau) darüber aufzuklären, wo die Gefahren der törichten Liebe lauern und wie diese aussehen. 247 Nach all diesen Beschreibungen und dem Lobpreis auf die Liebe zu Gott zeigt sich der Arcipreste dennoch menschennah, indem er gesteht zu wissen, wie viele Übel die törichte Liebe den Menschen bringen kann. 248 In Zeile 100 wird der Begriff „amor loco“ erneut explizit verwendet, ebenso wie kurz darauf in den Zeilen 105-106, 122, 128, 132 und 148. Es wirkt fast, als wolle der Erzpriester den Schaden und das Unheil, die den Menschen durch die törichte Liebe drohen, vehement betonen, sodass sie nie vergessen werden, sich also ins Gedächtnis einprägen. 249 Allerdings kann man das Buch auch als eine Anleitung zum sündigen Leben verwenden, wenn man der Natur des Menschen nachgeben und sündigen möchte, so der Erzpriester. 250 Auch an dieser Stelle erinnert das Gesagte an Augustin: Es liegt am Menschen selbst, wie er die geliebten Objekte einordnet und für sich ein Ziel identifiziert. Trotzdem zeigt der Erzpriester, wie er zur Thematik steht, indem er sagt: E Dios sabe que la mi intençión non fue de lo fazer por dar manera de pecar ni[n] por maldezir, mas fue por reduçir a toda persona a memoria buena de bien obrar e dar ensienplo de buenas constunbres e castigos de salvaçión; e porque sean todos aperçebidos e se puedan mejor guardar de tantas maestrías como algunos usan por el loco amor. Ca dize sant Gregorio que menos fieren al onbre los dardos que ante son vistos e mejor nos podemos guardar de lo que ante hemos visto. 251 III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 87 <?page no="88"?> 252 Cf. ibid., linn. 156-165. 253 Auffällig ist außerdem die häufige Verwendung von „e cetera“. An einigen Stellen zitiert der Erzpriester wieder Psalmenverse, führt diese aber nicht zu Ende, sondern ersetzt den Schluss des Zitats mit „e cetera“. Cf. ibid., linn. 16, 23, 34, 96, 110, 134, 166. „Und so weiter und so fort“ würde man heute wohl auf Deutsch dazu sagen. Während beispielsweise Joset sich an dem Gebrauch dieser Abkürzung nicht zu stören scheint, ist doch die Häufigkeit eventuell ein Zeichen, das Aufmerksamkeit erregen soll. Vor allem das siebte Mal muss ungewöhnlich sein: Die Trinität ist nicht zu Ende geführt, so als wäre vordergründig das Wissen um den Ausdruck vorausgesetzt (was auch legitim ist, denn die Dreifaltigkeit ist wohl jedem geläufig), hintergründig aber könnte ein weiterer Scherz versteckt sein: Der saloppe Umgang mit den Zitaten ist vielleicht ein Hinweis darauf, wie ungenau die Gesellschaft religiöse Regeln handhabt. Aber dies kann nur als Vermutung stehen bleiben. 254 Cf. Anthony N. Zahareas: op. cit., pp. 22 sq. Er verweist also auf die göttliche bzw. gottgerechte Liebe als Lebensziel und betont, dass es nicht seine Absicht sei, zur Sünde anzustiften. Es folgt daraufhin noch einmal die Betonung, die Grundlage eines jeden Handelns seien Gott und der Glaube an ihn. 252 Hier zeigt der Arcipreste, wie das Buch zu verstehen ist, hebt seine moralische bzw. christliche Intention hervor und liefert damit eine Rechtfertigung für die detaillierte Beschreibung seiner Liebesabenteuer. Man darf also nicht übersehen, dass hinter all diesen Beteuerungen rechtschaffener Absichten auch eine Art Legitimation für die Auflistung sehr unchristlicher Geschichten steckt. Somit beginnt bereits hier das Spiel mit den Leser: innen, für welches das LBA so berühmt ist. 253 Die beiden Begriffe „buen amor“ und „loco amor“ werden hier so nah und kurz hintereinander verwendet wie sonst nirgends im LBA, was eine Andeutung sein könnte: Im Leben stehen Gut und Böse oft direkt nebeneinander. Zahareas be‐ schreibt, wie absichtlich unpräzise der Arcipreste das Wort „intellectus“ einsetzt und gebraucht. Demnach könnte es einerseits die Gottesfurcht beschreiben, die den Menschen von der Sünde abhält, andererseits könnte es aber auch die Schwäche des Menschen bezeichnen, die ihn zur weltlichen Liebe verleitet. Laut Zahareas ist genau diese Ambivalenz mancher Begriffe eine Art Markenzeichen des Erzpriesters, das sich immer wieder im LBA zeigt und seine Einzigartigkeit unterstreicht sowie das LBA zu einem komplexen Werk macht. 254 Man muss sich also immer wieder daran erinnern, was richtig ist, muss immer wieder gewillt sein, den Unterschied zu erkennen und seinen Verstand gebrauchen, um eine angemessene Unterscheidung zu treffen. Auffällig ist hier aber auch die Gewichtung: In einem grundlegenden Text wie diesem taucht „buen amor“ explizit nur zweimal, „loco amor“/ „amor loco“ hingegen siebenmal auf. An dieser Stelle könnte man eine Zahlensymbolik geltend machen und sagen, dass 88 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="89"?> 255 Cf. Hans A. Hutmacher: Symbolik der biblischen Zahlen und Zeiten, Paderborn: Ferdi‐ nand Schöningh 1993, pp. 81-99. 256 Cf. inter alia LBA, c. 12ab. 257 LBA, c. 13. 258 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p.-16, Fußnote zu c. 13c. 259 Cf. ibid., p.-16, Fußnote zu c. 12d. im Christentum die Zahl Sieben für Vollendung steht, denn der erste Satz des Alten Testaments beginnt mit sieben Worten und die Welt wurde in sechs Tagen erschaffen, denen ein Ruhetag folgte. 255 Ab der Zahl Acht beginnt eine neue Ära, eine neue Chance, ein neues Leben. 256 Man könnte annehmen, dass der Erzpriester, der mit der christlichen Numerologie vertraut sein muss, nun, da er siebenmal gewarnt hat, mit den detaillierten Erläuterungen der rechten bzw. törichten Liebe fortfährt. Unter dieser Prämisse beginnt er mit dem eigentlichen LBA, d. h. erst mit einem Gebet, einer Beschreibung der sieben (! ) Freuden der Mutter Gottes, denen dann die Liebesabenteuer folgen. In seinem zweiten Gebet bittet der Arcipreste um Gottes Hilfe beim Verfassen eines Buches der guten Liebe und nennt den „Titel“ seines Werks: Tú, Señor e Dios mío que el omne formeste, enforma e ayuda a mí, el tu açipreste [sic], que pueda fazer libro de buen amor aqueste, que los cuerpos alegre e a las almas preste. 257 Joset kommentiert, dass die ersten zwei Verse dieser Strophe den Ausdruck „buen amor“ in den Wirkungsbereich der Gottesliebe rücken. 258 Gleichzeitig sollte man aber auch nicht überlesen, welche zweideutigen Informationen in dem Gebet enthalten sind: Die rechte Liebe soll unter anderem den Körper erfreuen. Nimmt man hier auch noch dazu, was in c. 12 gesagt wird, wird die Aufmerksamkeit der Leser: innen auf die Mehrdeutigkeit dieses Abschnitts gelenkt: El que fizo el çielo, la tierra e la mar, Él me done su graçia e me quiera alunbrar, que pueda de cantares un librete rimar, que los que lo oyeren puedan solaz tomar. An sich wäre hier kein Anstoß zu nehmen, würde man nicht durch Joset erfahren, dass „solaz“ (von lateinisch „solacium“: „Trost“) im Mittelalter nicht nur „Erholung“ oder „Erbauung“ heißt, sondern auch „fleischliche Freuden“ 259 . Das Provenzalische kennt „solatz“ als Begriff u. a. für „Unterhaltung, Kurzweil, III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 89 <?page no="90"?> 260 Cf. Emil Levy: „Solatz“, in: id.: Provenzalisches Supplement-Wörterbuch - Berichtigungen und Ergänzungen zu Raynouards Lexique roman, 8 vol., Leipzig 1894-1924, réimpr. Hildesheim 1973, pp. 772-777. 261 Cf. Walther von Wartburg: „Solacium“, in: id.: Französisches Etymologisches Wörterbuch - Eine darstellung des galloromanischen sprachschatzes, 25 vol., Bonn, Leipzig et. al. 1928-2002, pp. 32-34. 262 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p. 16, Fußnote zu c. 12d; John E. Keller, L. Clark Keating, Eric M. Furr edd.: The Book of Tales by A.B.C., New York: Peter Lang 1992, pp. 4 sq. 263 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p. 16, Fußnoten zu cc. 12d und 13d. Belustigung, Vergnügen“ sowie für „Freude, Lust“ 260 oder auch „Lebenslust“ oder „Erquickung“. 261 Joset verweist an dieser Stelle auch auf c. 167c, wo uns diese Zweideutigkeit erneut begegnet und nur für die Leser: innen zu verstehen ist, die mit dem oben bereits beschriebenen Verstand gesegnet sind, denn dort heißt es: „por aver solaz bueno de amor con amada, […]“ Für die Leser: innen ohne rechten Verstand meint diese Stelle die schadenbringende törichte Liebe. 262 Auch bei „solaz“ ist also die Interpretationsfähigkeit bzw. das Verständnis der Leser: innen gefragt, wie es auch bei „amor“ bzw. „buen amor“ der Fall ist: Nur wer Verstand besitzt und das Gute im Sinn hat, liest hier „Erbauung“; wer unverständig ist und das falsche Ziel gewählt hat, liest hier „Fleischeslust“ heraus. Dieser Kunstgriff, zweideutige Begriffe zu verwenden und deren Interpretation den Leser: innen zu überlassen, erinnert erneut an Origenes und Augustin: So wie die beiden Kirchenväter die Bezeichnungen „eros“ bzw. „amor“ für Gottesliebe für Gebildete als unmissverständlich ansahen, sich aber über die Gefahr im Klaren waren, dass Ungebildete diese Worte als vulgär deuten könnten, verwendet der Arcipreste hier einen ebenso „gefährlichen“ Begriff. Ein weiteres Mal zeigt sich also die Nähe zu den Kirchenvätern, die hier mit Nygren als zentral für die Entwicklung des christlichen Liebesbegriffs identifiziert wurden. Aber zurück zu c. 13. Das Buch solle also nicht nur den Körper erfreuen, sondern auch die Seele stärken. Auch hier ist der Kommentar von Joset nützlich, der uns daran erinnert, dass im oben behandelten Prosaprolog erwähnt wird, wie schädlich die törichte Liebe für Körper und Geist sei. Nur wer das Buch mit Arglist liest, nimmt Schaden. Wer den rechten Verstand einsetzt, erkennt das Gute und ist in der Lage, das Buch richtig zu interpretieren. 263 In Strophe 18 begegnet den Leser: innen die rechte Liebe erneut: Der Erz‐ priester beschreibt in den Strophen davor bereits, dass sich Schönes ab und zu in hässlicher Gestalt zeigen kann. So ist zum Beispiel Frauenhaar außen schwarz, innen weiß. In Vers 18d versteckt sich dann die rechte Liebe, dem Beispiel des Frauenhaars folgend, unter einem, wie Gumbrecht übersetzt, „schlechten He‐ 90 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="91"?> 264 Hans Ulrich Gumbrecht ad locum, in: LBA, ed. Hans Ulrich Gumbrecht, p.-71. 265 Die „Hässlichkeit“ der Worte ist hier dem vorherigen Prosaprolog entnommen, in dem der Autor selbst den Klang der Wörter als hässlich bezeichnet: „[…] al son feo de las palabras […].“ (LBA, Prosaprolog, linn. 138 sq.) 266 Cf. LBA, cc. 44-63. Die Strophen 64 bis 70 stellen die moralischen Lehren aus dem davor beschriebenen Wettstreit dar. 267 LBA, c. 52a. 268 Weitere Ausführungen zum Streit zwischen den Römern und Griechen finden sich in Kapitel VI.1. 269 Cf. LBA, cc. 44-70. roldswams“ 264 . Also ist es erneut die Aufgabe der Rezipient: innen, die Botschaft von der rechten Liebe mittels des rechten Verstands in den hässlichen Worten 265 zu erkennen. Die nächste explizite Verwendung von „buen amor“ folgt in Strophe 66: Fallarás muchas garças, non fallarás un uevo; remendar bien non sabe todo alfayate nuevo: a trobar con locura non creas que me muevo; lo que buen amor dize, con razón te lo pruevo. Diese Strophe befindet sich am Ende des Wettstreits zwischen den Griechen und Römern, in dem die Römer die Griechen um ihre Gesetze bzw. um Weitergabe ihres Wissens bitten. 266 Die Griechen halten die Römer für unwürdig, geben ihnen aber die Möglichkeit, das Gegenteil zu beweisen und fordern sie zu einem Duell in Zeichensprache heraus, zu dem beide Seiten je einen Vertreter schicken dürfen. Die Griechen schicken einen Gelehrten, die Römer einen gewöhnlichen Mann bzw. einen „vellaco“ 267 , also einen Schurken. Die Zeichen des griechischen Gelehrten werden von dem römischen Schurken ebenso falsch verstanden wie andersherum. Die Griechen halten die Römer für weiser als sie es tatsächlich sind und erachten sie doch für würdig, die Gesetze zu erhalten. Selbstverständlich handelt der Wettkampf seitens der Griechen von der christlichen Lehre - seitens der Römer geht es um die Androhung von Gewalt. 268 Diese Passage soll darlegen, wie unterschiedlich die Interpretationen von Zeichen sein können, und lehrt somit, dass man sich beim Studieren des Buches immer wieder fragen soll, was sein wahrer Sinn ist, statt sich immer nur auf den konkreten Wortsinn zu fokussieren. Verstand, Wille und Erinnerung werden also erneut eingefordert. So wie es das Beispiel der Römer und Griechen zeigt 269 , müssen die Leser: innen in der Lage sein, die Zeichen, d. h. in diesem Falle die Erzählungen, richtig zu interpretieren, damit sie verstehen, was eigentlich gesagt wird. Wer intelligent und gottesfürchtig ist wie der Grieche, der weiß, dass der Glaube an Gott und die Einhaltung seiner Gesetze der richtige Weg zur III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 91 <?page no="92"?> 270 Hans Ulrich Gumbrecht ad locum, in: LBA, ed. Hans Ulrich Gumbrecht, p.-81. 271 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p.-34, Fußnote zu c. 66d. 272 Cf. LBA, c. 71-76. 273 Cf. ibid., c. 76. 274 LBA, c. 68. rechten Liebe ist. Wer so plump und unverständig ist wie der Römer, der kann nur Schlechtes in die Zeilen hineininterpretieren. Was die Interpretation der oben zitierten Strophe 66 angeht, muss zusätzlich die Übersetzung Gumbrechts untersucht werden. Gumbrecht übersetzt „con razón te lo pruevo“ mit „stelle ich dir klar vor Augen“. 270 Andere Übersetzungen wären aber ebenfalls möglich. „Beweise ich dir mit Recht“ wäre ein Beispiel hierfür. Oder man übersetzt „beweise ich dir aus gutem Grund“. Der gute Grund wäre leicht zu erkennen, nämlich damit die Leser: innen lernen, die rechte Liebe zu erkennen. „Beweise ich dir auf vernünftige Art“ wäre ebenfalls eine mögliche Variante. Diese scheint in Anbetracht der vorherigen Betonung der Vernunft als die sinnvollste. Joset kommentiert an dieser Stelle, dass es sich hier ganz klar um die Gottesliebe (amor Dei / amor de Dios) handelt, die bereits in Vers 13c beschrieben wurde, weist aber auch auf das Durcheinander an ernsten Ratschlägen und Scherzen hin, die die Leser: innen ablenken bzw. herausfordern sollen. 271 Nachdem diese Lehre erteilt wurde, spricht der Erzpriester von dem Drang der Tiere, sich zu paaren. 272 Mit der letzten Strophe dieses Kapitels beweist er, dass er bereits weiß, was richtig ist: E yo, como só omne como otro, pecador, ove de las mugeres a las vezes grand amor; provar omne las cosas non es por end peor, e saber bien e mal, e usar lo mejor. 273 Hier zeigt der Arcipreste, dass er seinen Verstand einsetzt und daher in der Lage ist, Gut und Böse voneinander zu unterscheiden, was gleichzeitig als Legitimation dient, um seinen Leser: innen als Lehrer vorzustehen, auch wenn er wie alle anderen auch von Natur aus ein Sünder ist. Ein weiteres Mal bezieht sich der Arcipreste darauf, dass die rechte Liebe gefunden werden muss: Las del buen amor son razones encubiertas: trabaja do fallares las sus señales çiertas; si la razón entiendes o en el seso açiertas, non dirás mal del libro que agora refiertas. 274 92 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="93"?> 275 Cf. ibid., cc. 321-371. Die rechte Liebe ist vernünftig, setzt aber das Bemühen um Erkenntnis bei den Leser: innen voraus. Sie scheint versteckt, ist es aber nur für diejenigen, die ihre Zeichen nicht verstehen. Das Verständnis stellt sich ein, wenn man intellectus, memoria und voluntad einsetzt. Nun zu einer Sequenz, die sich durch die Zählung als eine Stelle erwiesen hat, in der besonders häufig von Gutem und Bösem gesprochen wird: Es handelt sich um das Exempel von der Gerichtsverhandlung, in der der Wolf die Füchsin des Diebstahls beschuldigt und vom Richter, dem Affen, ein Urteil gefällt wird. 275 Dieses Exempel führt der Erzpriester im Zuge des Streitgesprächs mit Don Amor an, um seinen Vorwurf der Falschheit zu untermauern. Es geht v. a. um das Argument, Don Amor klage bei den Menschen Unrecht an, dessen er sich selbst schuldig macht. In dem Exempel wird eine Füchsin von einem Wolf beim Raub eines Hahns beobachtet und von ihm vor Gericht gestellt. Auf seine Anklage, die Füchsin sei eine Diebin und gehöre dafür verurteilt, antwortet die Füchsin, vertreten durch ihren Anwalt, einem Schäferhund, der Wolf sei selbst ein Räuber und könne sie daher nicht verurteilen lassen. Außerdem wird ihm sein unsittlicher Lebenswandel vorgeworfen, denn obwohl er mit seiner Frau, der Wölfin, verheiratet sei, habe er eine Geliebte, nämlich eine Hündin. Der Wolf gesteht alle Vorwürfe, die ihm seitens der Füchsin gemacht werden. Am Ende urteilt der Richter, die Füchsin dürfe weiterhin jagen, aber nicht in der Nachbarschaft. In seiner Urteilsbegründung führt der Richter an, dass die von der Verteidigung vorgebrachten Gründe, also das Dasein als Räuber und der unmoralische Lebenswandel des Wolfes, zu diesem milden Urteil für die Füchsin geführt habe. An diesem Exempel ist für die vorliegende Untersuchung vor allem interessant, dass der Umstand, eine Geliebte zu haben, sich so rufschädigend auswirkt, dass selbst ein Geständnis, wie es der Wolf vor Gericht ablegt, den Schaden nicht mehr beheben kann. Wer sich eines schlechten Lebenswandels schuldig macht, verliert jedes Ansehen und kann selbst bei gerechtfertigten Klagen vor Gericht nicht mehr auf ein wohlwollendes Urteil hoffen. Die Botschaft an die Leser: innen lautet also: Es ist von absoluter Wichtigkeit, sich nicht nur an die juristischen, sondern auch an die moralischen, kirchlichen Gesetze zu halten (sofern im Mittelalter zwischen diesen Kategorien unterschieden wurde). Der gesamte Lebenswandel steht also unter Beobachtung und wird im Zweifelsfall für die Beurteilung eines Menschen in seiner Rolle als Mitglied der Gesellschaft herangezogen. Auch hier lautet das Ergebnis, der Mensch solle sich von unmoralischen Handlungen fernhalten, v. a. wenn Don Amor dazu aufruft. III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 93 <?page no="94"?> 276 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p.-170, Fußnote zu 443b. 277 Cf. Ramón Menéndez Pidal: Poesía árabe y poesía europea, Buenos Aires: Espasa-Calpe Argentina S. A. 1946, p.-111, Anm. 2. 278 LBA, cc. 436-443. 279 Cf. LBA, Prosaprolog, linn. 38 sq. Die Antwort, die Don Amor auf die Vorwürfe des Erzpriesters gibt, ist eine weitere einschlägige Sequenz. In den Strophen 423-456 beschreibt Don Amor zuerst das Schönheitsideal der Frauen, wobei er auch den willigen Charakter einer Frau hervorhebt. Direkt im Anschluss daran erläutert er, was eine gute Botin ist und wie man sie findet. Dieser Abschnitt ist Teil der Falle, die der heidnische Gott dem Christen stellt: Alles, was Don Amor als gut und erstrebenswert erachtet, führt den Christen eigentlich nur ins Verderben, denn Don Amor will ihn zu sündhaftem Verhalten verführen, indem er sehr detailliert beschreibt, wie eine Frau innerlich und äußerlich beschaffen sein soll, damit man mit ihr sündigen könnte. Das hier so häufig verwendete Wort „amor“ (insgesamt zehnmal) bezieht sich also auf die weltliche Liebe, den vulgären eros, nicht auf die Gottesliebe. Aber auch in dieser Sequenz finden wir den Ausdruck „buen amor“ wieder. In Strophe 443 heißt es: De aquestas viejas todas, ésta es la mejor; ruégal que te non mienta, muéstral[e] buen amor, que mucha mala bestia vende buen corredor e mucha mala ropa cubre buen cobertor. Im Gegensatz zu den vorherigen Stellen ist hier nicht die Rede von der Liebe, die sich an eine Dame richtet, sondern es wird die Kupplerin von Don Amor beschrieben, die Liebesabenteuer einfädeln soll. Joset weist in der entsprech‐ enden Fußnote darauf hin, dass nun wohl mit „amor“ weder die rechte noch im ironischen Sinne die törichte Liebe gemeint ist. Er verweist wiederum auf Menéndez Pidal 276 , der erklärt, „amor“ bedeute hier „amistad“. Wichtig ist dazu folgender Hinweis: „Buen amor“ kann auch mit „Friede“ oder „Eintracht“ übersetzt werden. 277 Der Liebende soll sich also mit der Kupplerin, die sich für ihn mit den Frauen in Verbindung setzt und für ihn „Werbung macht“, damit ein Liebesabenteuer entstehen kann 278 , anfreunden und auf sie vertrauen. Was sowohl Menéndez Pidal als auch Joset wohl nicht berücksichtigt haben, ist das Spiel, das der Erzpriester an dieser Stelle mit den Leser: innen treibt: „Buen amor“ wurde jenseits aller Ironie eingangs bereits als die Gott zugewandte Liebe identifiziert 279 , d. h. als die gute und tadellose Verbindung zwischen Gott und Mensch. In Strophe 443 heißt es nun aber, diese Liebe, die Gott zusteht, soll der Kupplerin entgegengebracht werden. Zieht man Menéndez Pidals Anmerkung 94 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="95"?> 280 Cf. LBA, cc. 576-652. Weitere Ausführungen zu den beiden Allegorien folgen in Kapitel IV. 281 Cf. LBA, cc. 608-609. 282 Cf. ibid., cc. 627, 637 sq. noch einmal hinzu, soll man sogar nach Frieden und Eintracht mit der Kupplerin streben - dieses Ziel erinnert sehr an die Lehren Augustins, der sagte, der Mensch solle nach Frieden und Eintracht mit Gott streben, wie in Kapitel III.2.8 gezeigt wurde. Es handelt sich also bei diesem Gebrauch von „buen amor“ durchaus um eine ironische Verwendung. Das Gespräch zwischen dem Erzpriester und Doña Venus verläuft ganz anders als die Unterredung zwischen dem Erzpriester und Don Amor. 280 Während Don Amor beschimpft wird, verehrt der Erzpriester dessen Gattin. Sie ist es, die nach den Erläuterungen ihres Mannes über Frauen und (weltliche) Liebe nun dessen Ratschläge ergänzt. Zu Beginn dieses Kapitels schildert der Erzpriester zwar, dass es ihm nun nicht mehr um die Liebe zu den Frauen allgemein ginge, sondern um eine ganz bestimmte Dame, nämlich Doña Endrina, dennoch sind die Ratschläge der Venus pauschal gehalten. Nur einmal, nämlich in c. 643, nimmt sie Bezug darauf, dass der Erzpriester eine bestimmte Dame erwähnt, aber hier wird nur ein weiteres Mal betont, dass eine Botin eingeschaltet werden solle. Im Grunde sagt Doña Venus nichts anderes als Don Amor, nur verwendet sie andere Worte für dieselbe Botschaft. Sie sagt sogar, sie wiederhole noch einmal mit wenigen Ergänzungen die Ratschläge ihres Mannes. 281 Auch wenn der Erzpriester mit Verehrung und flehentlicher Bitte an die Göttin herantritt, ändert das nichts daran, dass diese dasselbe Ziel verfolgt wie Don Amor. Auch sie gibt Anweisungen, wie ein Mann eine Frau mit List und Lügen von der weltlichen Liebe überzeugen kann. 282 Alle Erwähnungen des Guten und Lieben - so schön sie auch klingen mögen - lenken die Aufmerksamkeit der Leser: innen doch wieder weg von der Gottesliebe. Inwiefern Don Amor und Doña Venus für die weltliche Liebe, Sünden und cupiditas stehen, wird in Kapitel IV.2 weiter ausgeführt. An dieser Stelle sei nur kurz gesagt, dass die beiden Figuren der römischen Mythologie für all das stehen, was dem christlichen Wertesystem entgegensteht: Sie wollen den Menschen vom rechten Weg ablenken, indem sie ihm aufzeigen, wie leicht er mithilfe ihrer Ratschläge in den Genuss kurzfristiger weltlicher Liebe kommen könnte, was sie ihm als erstrebenswertes Ziel beschreiben. Es handelt sich also bei der Verwendung von „amor“ und allen Begriffen für das Gute erneut um die Botschaft des vulgären eros. III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 95 <?page no="96"?> 283 Cf. ibid., cc. 653-891. 284 LBA, c. 661c. 285 Ibid., c. 677c, d. 286 Cf. ibid., c. 686. 287 Cf. Kapitel III.2.8.2. 288 Cf. LBA, cc. 746-870. In der Endrina-Episode 283 ist Endrina die schöne, kluge Witwe, die gerade die Trauerzeit hinter sich hat und nun von der Kupplerin Trotaconventos überzeugt wird, sich ihrem Verehrer Don Melón hinzugeben. Hier tauchen die Worte „bien“ und „bueno“ am häufigsten auf, allerdings muss erneut unterschieden werden, welche Konnotation die beiden Begriffe tragen. Endrina ziert sich zwar und ist daher den Liebesangeboten gegenüber skeptisch, jedoch versucht die Kupplerin unnachgiebig, sie von der Verbindung mit ihrem Verehrer zu überzeugen. Doña Endrinas Skepsis einer neuen Liebe gegenüber beruht zum einen auf Zweifeln an der Ernsthaftigkeit ihres Verehrers und zum anderen auf einem moralischen Konflikt ihrem verstorbenen ersten Gatten gegenüber. Hier könnte man sagen, dass die Endrina-Episode durch cupiditas initiiert wird. Zwei Sätze fallen bei der Unterhaltung zwischen Don Melón und Doña Endrina besonders auf: „[…] ámovos más que a Dios; […].“ 284 Dass der Verehrer seine Dame liebt, erstaunt nicht, aber der Ausdruck, er liebe sie mehr als Gott, zeigt bereits an, dass es sich hier um eine auf das falsche Ziel gerichtete Liebe handelt. Für Augustin wäre der Fehler, dass Don Melón nicht das richtige Liebesobjekt gewählt hätte. Aber die Verirrung geht noch weiter: „[…] que mugeres e varones por palabras se conosçen: son amigos, conpañones.“ 285 Mann und Frau sollen sich also durch Gespräche wirklich kennenlernen und Freunde werden - unter dem Vorwand der amicitia soll Endrina zur Sünde überredet werden. Vielleicht handelt es sich also mehr um ein ironisch verwendetes „Erkennen“, angelehnt an Gen 4,1, d. h. so wie Adam Eva „erkannte“ und sie daraufhin Kain gebar. Gespräche sind es auch, die Doña Endrina zumindest unter Wahrung der Heimlichkeit zulässt. 286 Und auch hier ist die Verwirrung noch nicht zu Ende: In den Strophen 692-694 erkennt Don Melón, dass er Gottes Hilfe benötigt, wenn er Doña Endrina für sich gewinnen will. Gottes Hilfe wird also zweckentfremdet, um eine Frau zu verführen - ein ironischer Kunstgriff, mit dem erneut aufzeigt wird, wie die weltliche Liebe und die Gottesliebe im Eifer des Gefechts verwechselt werden können. Zugleich ist dies ein Beispiel, wie die Kombination aus uti und cupiditas zum malum führt. 287 In der Zählung wurde ein Teil dieser Episode als zentrale Sequenz identifi‐ ziert, nämlich das Exempel von der Trappe und der Schwalbe 288 . Hier muss allerdings angemerkt werden, dass dieses nur einen kleinen Teil des Kapitels 96 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="97"?> 289 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p.-307, Fußnote zu c. 877c. ausmacht. Die Strophen, in denen die Schlüsselwörter vorkommen, gehören schon nicht mehr zu dieser Fabel, sondern werden erst im Anschluss daran angewandt. Trotaconventos erzählt die Geschichte von der Trappe und der Schwalbe, um Endrina vor Fallen zu warnen, die man ihr als Frau stellen könnte. Dies ist Teil ihrer Verwirrungstaktik, um Endrinas Vertrauen zu gewinnen. Die Verwendung der Schlüsselbegriffe beginnt mit c. 806. Hier klagt Don Melón über seine Sehnsucht nach Doña Endrina. Trotaconventos versichert ihm in den folgenden Strophen die Liebe seiner Dame. Die Kupplerin vermittelt weiter zwischen den beiden und in Strophe 840 erwähnt sie das eigentliche Ziel ihrer Machenschaften: Sie will, dass Doña Endrina und Don Melón sich vereinen. Die Alte überredet Endrina kurz darauf zu einem heimlichen Treffen mit ihrem Verehrer. Dies geschieht nicht ohne den mahnenden Kommentar an die Leser: innen zu den Ereignissen in Strophe 865, in der auch darauf hingewiesen wird, dass auf Entscheidungen, die aufgrund des fehlgeleiteten Verstandes beruhen, die Reue folgt: Los omnes, muchas vegadas, con el grand afincamiento, otorgan lo que non deven, mudan su entendimiento; quando es fecho el daño, viene el arrepentimiento: çiega es la muger seguida, non tiene seso nin tiento. In diesem Hin und Her zwischen Trotaconventos, Doña Endrina und Don Melón fallen die Begriffe, die sich in der Zählung niederschlagen. Sie alle zielen auf die leidenschaftliche Liebe zwischen den beiden Verliebten, also auf den weltlichen eros. Eigentlich endet das Kapitel mit Strophe 870, aber das nachfolgende Kapitel gibt Aufschluss über die Botschaft, die hier vermittelt werden soll. Endrina lässt sich zu unmoralischen Handlungen verführen, deren genaue Beschreibung allerdings nicht überliefert ist, denn nach Strophe 877 fehlen die entsprechenden Textstellen. Joset fragt an dieser Stelle, ob diese Seiten vielleicht von einem „lector moralista“ entfernt wurden. 289 Dass diese Handlungen stattgefunden haben, bestätigen die Strophen 878-885, in denen Endrina ihre Taten beklagt. Ab Strophe 887 eröffnet ihr Trotaconventos die Möglichkeit, die Schande abzuwenden, indem sie Don Melón heiratet, was in Strophe 891 im Beisein von Gästen nach Recht und Gesetz auch passiert. Hierfür verwendet sie das Wort „casarse“. Corominas erläutert in der Fußnote zu Strophe 891, was es seiner Meinung nach mit diesem Verb auf sich hat: Ihm zufolge deutet es lediglich auf ein Zusammenleben, nicht aber auf eine Heirat hin. Wenn man im Spanien des 14. Jahrhunderts wirklich III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 97 <?page no="98"?> 290 Cf. Joan Corominas ad locum, in: LBA, ed. Joan Corominas, pp. 344, 346, Fußnote zu 891a. 291 Ulrich Leo: op. cit., p.-60, Fußnote 84. 292 Cf. ibid. 293 LBA, c 904c, d. 294 LBA, c. 582d. von einer Hochzeit sprach, verwendete man, so Corominas, für die Eheleute den Ausdruck „velados“. 290 Er bezieht sich hier auf Ulrich Leo und dessen Kommentar zur oben genannten Strophe. Liest man diesen Kommentar aber, kann Corominasʼ Interpretation nicht bestätigt werden - im Gegenteil. Leo sagt ganz deutlich: „An unserer Stelle bedeutet ‚casar‘ wirklich heiraten.“ 291 Er spricht sogar von einem happy end der Endrina-Episode. 292 Direkt im Anschluss warnt der Erzpriester seine Leserinnen (dieses Kapitel richtet sich ausschließlich an die weiblichen Rezipienten) vor der törichten Liebe, die ganz explizit mit „amor loco“ bezeichnet wird, und rät, ihre Liebe auf das einzig richtige Ziel zu richten: „[…] el coraçón se lançe en amor de Dios linpio; loco amor nol trançe.“ 293 In diesem Ratschlag verwendet er eine Variante des Begriffs „buen amor“, nämlich „amor linpio“. Angesichts der Tatsache, dass dieser Begriff nur ein weiteres Mal auftaucht, nämlich in c. 1503, die zur Garoza- Episode gehört, scheint dies der Verweis auf das konkrete Gegenbeispiel zur Endrina-Episode zu sein. Damit stehen sich Endrina und Garoza diametral gegenüber. Auch in den nachfolgenden Strophen bis c. 909 betont er, die Endrina-Episode sei ihm nicht selbst passiert, aber sie diene als Unterweisung dafür, wovor sich Frauen in Acht nehmen sollen: den Überredungskünsten einer Alten und dem Lächeln eines bösen Nachbarn, womit Don Melón gemeint ist, denn er nennt Endrina zu Beginn der Episode seine Nachbarin. 294 Man soll also gut zuhören, damit das Herz mit Gottes Liebe erfüllt werden kann und gleichzeitig vor der Gefahr der törichten Liebe geschützt wird. Nun fragt man sich aber, warum auf eine Episode mit gutem Ausgang die Warnung geäußert wird, man solle als Frau nicht so handeln wie Endrina. Die einzige Erklärung, die hier Licht ins Dunkel bringen kann, ist, dass diese Ehe nur aus Reue geschlossen und als Wiedergutmachung erfolgter Sünden gesehen wird, statt - wie es eigentlich sein sollte - aus freien Stücken und als Zeichen aufrichtiger Liebe. Weitere Ausführungen zur Ehe folgen in Kapitel V.2. An dieser Stelle soll uns nur interessieren, dass das Zustandekommen dieser Ehe auf loco amor, inklusive der List der Kupplerin sowie der Verführbarkeit von Frauen, basiert und sie damit nur zum Teil als eine Variante der erlaubten, weltlichen Liebe gesehen werden kann, weswegen sie die Bezeichnung happy end nicht gänzlich verdient, sondern 98 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="99"?> 295 Auch Joset sieht die Ehe zwischen Doña Endrina und Don Melón als ein „ejemplo de loco amor que culmina en matrimonio“ ( Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p.-295, Fußnote zu c. 845a). 296 Joan Corominas ad locum, in: LBA, ed. Joan Corominas, pp. 348, 350, Fußnote zu 905c. eher als „gerade noch gut gegangen“ angesehen werden kann. 295 Aber zurück zu den Begriffen, die nach Don Melóns und Doña Endrinas Hochzeit verwendet werden. Diejenigen, die sich bereits für die reine, rechte Liebe entschieden haben, sind vor weiteren Verführungen geschützt. Corominasʼ Ausführungen zu Strophe 905 werfen ein ganz neues Licht auf die Begriffe buen amor und linpio amor, denn er unterscheidet zwischen buen amor als der spirituellen Liebe und amor linpio als der Liebe Gottes: La que por aventura es o fue engañada, guárdese que non torne al mal otra vegada: de coraçón e de orejas non quiera ser menguada; en ajena cabeça sea bien castigada. Seiner Meinung nach gibt es hier einen Punkt, an dem sich die Liebe Gottes und die törichte Liebe treffen können: Wenn der Sünder sein Fehlverhalten einsieht, steht ihm die Möglichkeit der Vergebung ohne weitere Konsequenzen offen. Corominas liest an dieser Stelle keinen Zynismus oder Ironie heraus, sondern versteht diese Chance zur Vergebung als veritablen und gangbaren Weg für Christ: innen. 296 An dieser Stelle sei noch einmal an Origenes sowie den Aquinaten erinnert, bei denen der Christ ebenfalls die Möglichkeit hat, auf den rechten Weg zurückzufinden. Nun aber zu einem Beispiel für den Begriff buen amor bzw. „Buen Amor“, wie die Kupplerin ihn verwendet. Sie nennt sich selbst „Buen Amor“ und dieser Gebrauch ist durchaus ironisch gemeint. Den Leser: innen wird mehrmals geraten, den rechten Verstand zu nutzen, wenn man das LBA liest, sodass sie auch hier gefragt sind und besondere Vorsicht walten lassen sollten, wenn ihnen eine Kupplerin begegnet - schließlich muss man fragen, welches Ziel von ihr verfolgt wird. In den Strophen 924 bis 927 listet der Erzpriester erst alle Namen auf, die einer Kupplerin ungebührlich sind, bevor er in der Strophe 932 den richtigen Namen für sie nennt: „Buen Amor“. Dies scheint natürlich mehr als überraschend, schließlich wurde sie zuvor als quasi Dreh- und Angelpunkt für jedes Liebesabenteuer angesehen. Ihr nun ausgerechnet den Namen zu geben, der bisher das Gegenteil ihrer Handlungen bezeichnete, wirkt verwirrend - aber genau diesen Effekt scheint der Arcipreste hier im Sinn gehabt zu haben. Joset kommentiert diese überraschende Wendung, indem er die Position der beschriebenen Kupplerin wiedergibt: Die Kupplerin will wohl die Sticheleien III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 99 <?page no="100"?> 297 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 2, ed. Jaques Joset, p.-22, Fußnote zu c. 932b. 298 Cf. ibid. 299 Cf. Anthony N. Zahareas: op. cit., p. 163. Zahareas analysiert an dieser Stelle die Beschreibungen der Aussagen und Handlungen der Kupplerin. 300 LBA, c. 933. 301 Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 2, ed. Jaques Joset, p.-23, Fußnote zu c. 933ab. des Erzpriesters mit einem Scherz beantworten, indem sie sein Vokabular benutzt und umwandelt. Sie verwendet diesen Ausdruck für sich selbst, um die Ahnungslosen noch mehr zu verwirren und noch trügerischer sein zu können. Hier zeigt sich, dass die Liebe, die doch eigentlich die rechte Liebe, die Liebe Gottes sein soll, auch weitere Nuancen beinhalten kann, wie Joset sagt 297 . Dies meint solche, die weniger rein oder sogar noch schlimmer sein können. 298 Man kann also an dieser Stelle davon ausgehen, dass der Erzpriester die Leser: innen ein weiteres Mal darauf aufmerksam macht, dass man besonders vorsichtig sein muss, wenn man nicht auf die Täuschungen einer Kupplerin herein- und der Sünde anheimfallen will. Diese Ansicht wird vertieft, wenn man bedenkt, dass auch Zahareas hervorhebt, in Vers 1452b würde ebenfalls von buen amor gesprochen und loco amor gemeint. 299 Verstärkt wird dieses Spiel mit den Leser: innen ein weiteres Mal in der darauffolgenden Strophe: Por amor de la vieja e por dezir razón, «buen amor» dixe al libro e a ella toda saçón ; [sic] desque bien la guardé, ella me dio mucho don: non ay pecado sin pena nin bien sin gualardón. 300 Joset sieht in dieser Strophe erneut die Doppeldeutigkeit des Begriffs buen amor aufgezeigt. In seinem Kommentar versetzt er sich diesmal in die Rolle des Erzpriesters: Por simpatía hacia mi vieja - y para traer de nuevo la suya -, y porque es verdad (nótese que en la copla 68, razón es la palabra que designa el verdadero propósito de la obra), llamo buen amor a ella para conformarme con su deseo (estamos en el plan de la apariencia engañosa, irónica) y buen amor a mi libro porque trata del verdadero amor que es el de Dios (estamos en el plan de la autenticidad) […] el cuerdo bien «puntará»; el loco, del que se mofa nuestro discreto poeta, seguirá con su mal entendimiento. 301 Demnach ist es also die bewusste Zweideutigkeit, die den Erzpriester zum Gebrauch dieses Namens führt. Der letzte Satz zeigt an, dass Joset meint, der Arcipreste mache sich über diejenigen lustig, die über wenig Verstand verfügen. Hier sei angemerkt, dass die Erzählungen und Ratschläge laut Prosaprolog niemanden bloßstellen, sondern als Warnung dienen sollen. Daher ist Josets 100 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="101"?> 302 Cf. LBA, c. 922. 303 Cf. ibid., cc. 934-937. 304 In der Fußnote zu Vers 1331d zitiert Joset erneut Corominas, der die Kupplerin sogar als Personifikation Don Amors bezeichnet. Cf. Joan Corominas ad locum, in: LBA, ed. Joan Corominas, pp. 498, 500, Fußnote zu c. 1331d. Allerdings distanziert sich Joset von Corominasʼ Standpunkt. Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 2, ed. Jaques Joset, p. 179 sq., Fußnote zu c. 1331d. Der Gedanke, es handle sich bei Trotaconventos um den personifizierten Don Amor wird in dieser Dissertation ebenfalls nicht übernommen, denn es gibt keinen Hinweis darauf, dass Don Amor in Gestalt der Kupplerin erscheinen sollte. Don Amor beschreibt in seinen Ausführungen, wie eine gute Kupplerin sein soll (cf. LBA, cc. 436-443), daher wird die Kupplerin hier als Personifikation der Beschreibungen betrachtet, nicht des römischen Gottes. 305 Cf. LBA, cc. 1067-1127. Unterscheidung zwischen den Leser: innen mit und ohne Verstand sicher richtig, aber das Ziel sollte genauer definiert sein. Auch die darauffolgenden Strophen unterstreichen das doppelte Spiel der törichten Liebe, in dem sie sich gern als rechte Liebe ausgibt. Es geht um eine List, die die Kupplerin anwendet: Die neue Angebetete des Erzpriesters, die Dame in der Estrade, wird streng von ihrer Mutter bewacht 302 , und um die wachsamen Augen der Mutter abzulenken, gibt sich die gerade noch „Rechte Liebe“ genannte Kupplerin als Verrückte aus, indem sie nackt durch die Straßen irrt und so den Leuten weismacht, dass sie nichts Böses im Schilde führen könne. Überzeugt von der Verrücktheit der Alten vernachlässigen sowohl die Mutter als auch die Amme der Angebeteten deren Überwachung, sodass sich die Kupplerin erneut in der Rolle als Hausiererin der Dame nähern kann. 303 In den Strophen 697 und 698 erklärt der Arcipreste, dass diese Alte, die für eine solche List gut geeignet ist, von Don Amor empfohlen wurde und Doña Venus für Pamphilus nicht besser hätte handeln können als diese Alte. Diese Wiederholung in Strophe 937 ist also eine direkte Bezugnahme auf die Erläuterungen Don Amors, der für die sündhafte Liebe steht und somit den Menschen Unheil bringt. Sein verlängerter Arm ist die Kupplerin, die Don Amors Empfehlungen in die Tat umsetzt. 304 Hier sieht man also, dass die törichte Liebe sich auch als „Rechte Liebe“ tarnen kann, um dann doch ihr böses Werk zu tun. Die Passage mahnt zur Vorsicht vor der törichten Liebe, die den Menschen vorgaukelt, harmlos zu sein, um sie dann in Versuchung zu bringen. Die nächste Passage, die die Zählung als zentrale Stelle wiedergibt, wäre der Kampf zwischen Don Carnal (Karneval) und Doña Cuaresma (Fastenzeit). 305 Hier stehen sich die beiden Gegensätze zwischen Religiösem und Weltlichem so deutlich gegenüber wie sonst nirgends im LBA. Da diese Erzählung aber die Herausforderungen des Christen im guten Kampf thematisiert, soll ihre Interpretation in Kapitel VII.3 betrachtet werden. III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 101 <?page no="102"?> 306 Anthony N. Zahareas: op. cit., p.-31. Kurz nach dem Kampf zwischen Doña Cuaresma und Don Carnal wünscht sich der Erzpriester erneut ein Liebesabenteuer. Obwohl diese Sequenz nicht durch die Zählung als wichtig identifiziert wurde, soll sie doch beleuchtet werden, denn die Inhalte, die hier aufgezeigt werden, sind für das Verständnis von buen amor bedeutsam. Zahareas illustriert den ironischen Umgang mit religiösen Begriffen am Be‐ spiel von Strophe 1322 des LBA, die den Auftakt zu einem neuen Liebesabenteuer darstellt, als sich der Arcipreste in eine betende Frau verliebt: Vi estar una dueña fermosa, de veldat, rogando muy devota ante la majestat; rogué a la mi vieja que me ovies’ pïadat e que andudiese por mí passos de caridat. Hier taucht das Wort „caridat“ auf, allerdings in ironischer Form. Die Kupplerin soll sich in Nächstenliebe üben und für den Liebenden aus Mitleid zu der geliebten, betenden Frau gehen. Das Verb „rogar“ steht an dieser Stelle für „beten“ und zugleich für die Aufforderung an die Kupplerin, die Betende anzusprechen. Ebenso verhält es sich mit den Ausdrücken „aver pïadat“ und „passos de caridat“, die dem christlichen Kontext entstammen und hier sexuelle Liebe oder zumindest das Verlangen danach andeuten. Laut Zahareas wird die Bedeutung von christlicher Nächstenliebe und buen amor verdreht: The narrator first perverts the meaning of caridat-buen amor and then, through conceptual playing, cleverly exploits the ironical possibilities inherent in the situation: a woman praying in a church creates a devout atmosphere; in this atmosphere another person beseeches his bawd and asks for “mercy”; “charity” supposedly is what Christ (la majestad) inspires in the one who prays, just as a bawd is asked to perform passos de caridat. That is, the image of the lover beseeching before his bawd (symbol of loco amor) parallels the picture of the woman (object of his love) praying before Christ (symbol of buen amor). Or, what Christ can give to one devout person, the bawd can give to another: charity. The process from a play on the word rogar, to the distortion of the idea of piedad, to the reciprocity of the concept of charity (with the implication that Trotaconventos’ passos de caridat would reach over to the devout woman who is praying for charity), points out Juan Ruiz’s artistry in exploiting all the irony hidden in the double property of religious words. They state what they mean, but above all they insinuate as much as they mean. 306 102 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="103"?> 307 Cf. LBA, c. 1329. 308 Cf. ibid., cc. 1504-1505. 309 Cf. ibid., cc. 1499-1501. 310 In DA, I,viii schildert Andreas die Liebe zu Nonnen als absolut verwerflich und diejenigen, die sich ihr dennoch hingeben, als ebenso abscheulich wie ihre Taten. Zwar geht er in seinem Beispiel wohl davon aus, dass es zwischen den Liebenden auch zu In diesen Ausführungen ist für Zahareas klar, dass buen amor und caridat eins sein müssen - auch wenn die Bedeutung hier verkehrt wird. Erneut führt uns der Erzpriester vor Augen, wie wichtig es ist, entendimiento einzusetzen, um die richtige Bedeutung zu entdecken. Zahareas hat recht, wenn er den Kunstgriff des Erzpriesters beschreibt und dafür den Inhalt des Gebets in seine Ausführungen einbaut. Die Parallelität zwischen einer betenden Frau und einem bittenden Mann ist leicht zu erkennen. Auch die Fähigkeit der Kupplerin, sich den Bitten des Mannes zu widmen, so wie Christus die Gebete der Frau erhören könnte, versteht man ohne Pro‐ bleme. Mit dieser Umkehrung von Begrifflichkeiten einerseits und Parallelen andererseits zeigen sich erneut die Fertigkeiten des Erzpriesters, mit den Leser: innen zu spielen, sodass eine eindeutige Interpretation erst nicht möglich ist und auch auf den zweiten Blick nur vermuten lässt, was gemeint sein könnte. Allerdings überrascht das Ende dieser Erzählung: Die Dame, die die Kupplerin für ihren Auftraggeber ansprechen soll, lehnt ab und heiratet (vermutlich) einen anderen. 307 Bei der nächsten expliziten Verwendung des Begriffs „buen amor“ handelt es sich ebenfalls um eine Wiederholung, da auf die oben beschriebene Passage, den Namen der Kupplerin, Bezug genommen wird: Die Kupplerin nennt sich selbst wieder „Buen Amor“ und schlägt dem Erzpriester vor, diesmal eine Nonne als Geliebte zu wählen. Sie arrangiert eine solche Verbindung, denn Nonnen sollen laut der Klosterrennerin quasi perfekte Frauen sein, sind sie doch schön, edel und großzügig, sie gehen lange Liebesverbindungen ein, sind gebildet und anständig. Doña Garoza wird als ideale Frau gezeichnet, die sich den Ausschweifungen der weltlichen und törichten Liebe entzieht und ihrem Liebhaber nur gute Gebete zukommen lässt. 308 Somit ist wenigstens einer der Partner begierdelos, denn der Erzpriester beschreibt ausführlich, wie anziehend die Erscheinung der Nonne auf ihn wirkt. 309 Dennoch muss hier bei allem Erfolg im Liebesabenteuer berücksichtigt werden, dass die Liebe zu einer Nonne mit Vorsicht genossen werden muss, weswegen doch ein Hauch von Ironie auch an dieser Stelle mitschwingt. Auch wenn sie hier als die ideale Frau bezeichnet wird, ist und bleibt Doña Garoza eine Nonne und somit als Geliebte im Sinne der fleischlichen Liebe tabu. 310 Die Alte versucht nun, Doña Garoza von III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 103 <?page no="104"?> körperlichem Kontakt kommt, was im LBA nicht passiert, auch wenn Don Polo sagt, er wünsche es sich (cf. LBA, c. 1501). Allein der Wunsch des Mannes ist hier das, was die Reinheit der Verbindung zunächst trübt. 311 Cf. LBA, cc. 1331-1479. 312 Cf. ibid., cc. 1370-1386. 313 Ibid., c. 1390. 314 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 2, ed. Jaques Joset, p.-198, Fußnote zu c. 1390. der Verbindung mit dem Erzpriester zu überzeugen, was zu einem Austausch von Exempeln zwischen den beiden Frauen führt. 311 Eines dieser Exempel ist das von der Landmaus und der Stadtmaus 312 , das wir aufgrund des häufigen Vorkommens der gezählten Schlüsselbegriffe genauer in Augenschein nehmen wollen: Doña Garoza erzählt diese Geschichte, in der es darum geht, sich nicht von weltlichem Prunk von der Notwendigkeit ablenken zu lassen, sich rechtzeitig dauerhaften Schutz vor Angst und Bedrohung zuzulegen. Reichtum und Überfluss verleiten in diesem Exempel zur Nachlässigkeit vor den Gefahren der Welt. Armut und Bescheidenheit hingegen lassen den Menschen wachsam sein, sodass man vor etwaigen Gefahren geschützt ist. Die Schlüsselbegriffe des Guten werden verwendet, um die verführerische Szenerie des Festmahls im Haus der Stadtmaus auszuschmücken, das den Mäusen bei Ankunft der Hausherrin zum Verhängnis wird. Das Motiv eines genügsamen Lebens wird auch im darauffolgenden Exempel aufgegriffen, allerdings wird es von der Kupplerin als Geringschätzung des Lebens, als vertane Chance verurteilt. Sie will die Nonne davon überzeugen, die Schätze, die das Leben bereitstellt, zu genießen. Dies rechtfertigt sie mit den Worten: Muchos leen el libro, toviéndolo en poder, que non saben qué leen ni l’ pueden entender; tienen algunos cosa preçiada e de querer, que non le ponen onra, lo que devié aver. 313 Joset hebt zwar unter Bezug auf Spitzer die Zweideutigkeit dieser Aussage hervor 314 , analysiert sie aber nicht genauer. Daher soll dies nun versucht werden: Der Begriff „libro“ wirft die Frage auf, welches Buch gemeint sein könnte. Zum einen wirkt es zunächst, als wäre das LBA an sich gemeint, zum anderen lässt der stark religiöse Kontext aber auch vermuten, dass es sich um das Buch der Bücher, also die Bibel handeln könnte. Diesmal wäre es demnach nicht ein Mann, sondern die Kupplerin, die die Bibel so uminterpretiert, dass sie damit die Dame zur weltlichen Liebe verleitet. 104 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="105"?> 315 LBA, c. 1452. 316 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 2, ed. Jaques Joset, p.-216, Fußnote zu c. 1452b. 317 Cf. ibid., p.-22, Fußnote zu c. 932b. 318 Cf. LBA, cc. 1454-1484. Innerhalb dieses Austauschs begegnen wir dem nächsten deutlichen Ge‐ brauch von „buen amor“. Die Alte will die Nonne davon überzeugen, dass ihre Bedenken überflüssig seien, indem sie ihr sagt: Tened buena esperança, dexad vano temor, amad al buen amigo, quered su buen amor ; [sic] si más ya non, fablade como a chato pastor, dezilde: ‘¡Dios vos salve! ’, dexemos el pavor. 315 Erneut bietet Joset einen interessanten Aspekt bezüglich des Gebrauchs von „buen amor“ in diesem Kontext, indem er zuerst erläutert, dass „buen amor“ als „Gottesliebe“ interpretiert und durch einen guten Freund vermittelt werden könnte. Allerdings verweist Joset auch auf die Zweideutigkeit, die „buen amor“ hier darstellt. 316 Damit in Zusammenhang steht das Konzept der „guten Hoff‐ nung“, die bereits in Strophe 1448 zur Sprache kommt und definitiv die Gefühle der Liebenden in eine falsche Richtung lenkt: A la buena esperança nos conviene atener: faznos tener grand miedo lo que no es de temer; somos de coraçón flaco, ligeras en correr: non deve temor vano en sí omne traer. Hier will die Alte der Nonne die Angst vor ihrem Verehrer ausreden und sät den Gedanken, man müsse an das Gute glauben, also gute Hoffnung haben. Auf diese Verirrung beruft sich die Alte in Strophe 1452, in der sie die Nonne erneut dazu auffordern will, ihrem Verehrer „rechte Liebe“ entgegenzubringen, und damit die weltliche Liebe meint. Joset verweist auch auf die Fußnote zu Strophe 932, die hier ebenfalls bereits besprochen wurde. Es geht laut Joset wieder um den schönen Schein, den der Ausdruck „buen amor“ den Liebenden vermitteln soll; es geht um die Täuschung, die oft hinter diesen Worten steckt, 317 denn nur weil jemand oder etwas „buen“ oder gar „buen amor“ genannt wird, heißt das noch lange nicht, dass er oder es auch wirklich Gottes Liebe verkörpert. Ein weiteres Exempel interessiert uns, da die Zählung darauf verweist. Es ist das Exempel vom Räuber und vom Teufel inklusive der Unterhaltung, die Doña Garoza und Trotaconventos im Anschluss führen. 318 Auch an dieser Stelle zeigt Doña Garoza, wie standhaft sie ist, schließlich durchschaut sie die Schliche der Kupplerin und vergleicht diese mit dem Teufel, der den Räuber trotz eines III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 105 <?page no="106"?> 319 Cf. Joan Corominas ad locum, in: LBA, ed. Joan Corominas, pp. 544, 546, Fußnote zu c. 1466b. 320 Cf. LBA, cc. 1485-1490. 321 Cf. Joan Corominas ad locum, in: LBA, ed. Joan Corominas, pp. 550, Fußnote zu 1485 sqq. 322 Cf. LBA, cc. 871-891. 323 Cf. ibid., c. 1493. 324 Ibid., c. 1503. 325 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 2, ed. Jaques Joset, p. 233, Fußnote zu c. 1503cd. geschlossenen Pakts am Galgen hängen lässt und sich ihm als schlechter Freund erweist. Auffällig an dieser Passage ist Folgendes: In Strophe 1466 sagt der Teufel zu seinem Schuldner, er käme ihm erst zu Hilfe, wenn er einen „fraile“ mit einer „fraila“ zusammengebracht hätte. Während Joset in seinen Kommentaren darauf nicht eingeht, bemerkt Corominas nur kurz, Garoza wüsste wohl, dass viele ihrer Ordensschwestern Liebhaber hätten und die Alte die Verkörperung des Bösen sei. 319 Garoza durschaut also das Spiel der Alten und erkennt, dass sie nicht buen amor, sondern loco amor im Schilde führt. Dennoch bittet Garoza um eine Beschreibung ihres Verehrers, was die nächste wichtige Passage laut der oben durchgeführten Zählung ist. Der Erzpriester wird als stattlicher, gebildeter und begabter Mann bezeichnet. 320 Laut Corominas entspricht die Beschreibung, die die Kupplerin äußert, dem traditionellen Bild eines Mannes mit sanguinischem und amourösem Temperament. 321 Und tatsächlich hat sie damit Erfolg: Die Nonne gibt der Alten nach. Aber sie macht nicht den gleichen Fehler wie Doña Endrina, die sich von der Kupplerin dazu überreden lässt, mit ihrem Verehrer allein zu sein, denn wenn Mann und Frau allein sind, geschieht Unzucht. 322 Garoza besteht darauf, ihren Verehrer im Beisein anderer Nonnen und beim Gebet kennenzulernen. 323 Sie entschließt sich danach, den Erzpriester zu ihrem Geliebten bzw. „guten Diener“ zu nehmen: Resçibióme la dueña por su buen servidor; sienpre le fui mandado e leal amador; mucho de bien me fizo con Dios en linpio amor: en quanto ella fue biva, Dios fue mi guïador. 324 Zwar deutet Joset in seiner Fußnote zu 1503cd an, man könne auch Corominas und anderen folgen, indem man eine körperliche Verbindung zwischen dem Erzpriester und der Nonne in diese Verse hineininterpretiert. Gleichzeitig nimmt Joset aber auch Abstand von dieser Interpretationsweise. 325 Der Gedanke, der 106 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="107"?> 326 Hier ist es angebracht, tatsächlich von einem Erzpriester zu sprechen, denn Don Polo ist ebenfalls ein Erzpriester, wie man in c. 1345 lesen kann. Mehr zu Don Polo und der Frage, ob dies wirklich eine neue Figur ist, folgt in Kapitel V.1.2. 327 Cf. Kapitel III.2.2. 328 Cf. Kapitel III.2.8.1. Erzpriester 326 und die Nonne hätten sich in fleischlicher Liebe vereint, wird hier ebenfalls nicht weiterverfolgt, da kein entsprechender Hinweis im Text erkennbar ist. Bei dieser zweiten „erfolgreichen“ Liebe wird eine durchaus erlaubte, ja sogar erwünschte Verbindung zwischen Mann und Frau geschildert, nämlich die rein auf Gott bezogene, keusche, und dennoch liebevolle Zuneigung zweier Menschen, hier im Text als „linpio amor“ bezeichnet. Linpio amor scheint hier also eine Steigerung von buen amor zu sein. Zwar wurde zuvor bereits festgehalten, dass buen amor auf die augustinische caritas, also die Verschmelzung von himmlischem eros und agape rekurriert, aber man darf davon ausgehen, dass der Erzpriester sich die Freiheit genommen haben könnte, für einzelne Passagen noch tiefer ins Detail zu gehen. In diesem Sinne könnte man linpio amor als agape verstehen, die laut der paulinischen Definition unter den Menschen weitergegeben wird. 327 Laut Augustin wäre die Liebe unter den Menschen dilectio im Sinne der Nächstenliebe, aber wie wir gesehen haben, entspringt diese Liebe keinem appetitus. 328 Bei Doña Garoza ist der appetitus ihres Verehrers aber durchaus vorhanden, allerdings wird er durch ihre Standhaftigkeit zum Besseren, nämlich zur Gottesliebe, bekehrt. Daher liegt es nahe, linpio amor mit dem Begriff zu übersetzen, den Paulus für die Weitergabe der Gottesliebe unter den Menschen gewählt hat, nämlich agape. Garozas Glaube macht sie für agape empfänglich. Damit kann sie agape an ihren Verehrer weiterleiten. Das Schaubild aus Kapitel III.2.2 könnte dann wie folgt angepasst werden: Gott pistis agape agape linpio amor III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 107 <?page no="108"?> 329 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 2, ed. Jaques Joset, p. 234, Fußnote zu c. 1507c. An dieser Stelle muss der Vollständigkeit halber dennoch erwähnt werden, dass der Erzpriester bei der Kampfszene zwischen Don Carnal und Doña Quaresma ausdrücklich vor der Liebe zu den Nonnen warnt, da sie als trügerisch gelten (cf. LBA, cc. 1255-1259). Zahareas erläutert diese Strophen unter dem Gesichtspunkt der Reue, da für ihn vor allem der Ausdruck „nunca se arrepentiera“ (LBA, c. 1258) im Vordergrund steht, d. h. das Verwirrspiel des Arcipreste mit den Leser: innen anhand des Verbs, das einerseits heißen könnte, dass es den Sünder nie reuen würde, eine Nonne physisch geliebt zu haben, oder es könnte auch bedeuten, dass ein Sünder es nie beichten würde, also niemals zugeben würde. Cf. Anthony N. Zahareas: op. cit., p. 34. Andererseits könnte das Trügerische auch eine andere Bedeutung haben: Zu Karneval war es wohl nicht unüblich, sich als Geistliche zu verkleiden. Vielleicht spielt diese Sequenz darauf an. Mehr dazu findet sich in Kapitel VI.3. Auch einige Verse später wird den Leser: innen noch einmal mit einer widersprüchlichen Aussage über Nonnen konfrontiert: In c. 1505 spricht er davon, dass sie für die weltliche Liebe gefährlich seien („que para amor del mundo mucho son peligrosas“, LBA c. 1505c) - ausgerechnet an der Stelle wird dies gesagt, an der Doña Garoza auf die Bitten ihres Verehrers eingeht und sich von ihm und den Worten seiner Kupplerin dazu verleiten lässt, den Erzpriester als „servidor“ (Diener) anzunehmen. Zahareas fragt, ob sie vielleicht gefährlich für die weltliche Liebe sein könnten, weil sie mit Wenn man an dieser Stelle von einer „erfolgreichen Liebe“ spricht, muss allerdings noch ein Punkt beachtet werden: Ziel der Kupplerin ist es, die törichte Verbindung zwischen Mann und Frau in die Wege zu leiten. Nun wurde aus ihrer Verbindung aber etwas, das nicht dem Ideal der Kupplerin entspricht, sondern dem Ideal der religiös orientierten Liebe. Daher muss man sich nun fragen, ob die Kupplerin ihr Ziel nicht vielleicht verfehlt hat, denn ihre Variante von buen amor ist nicht eingetreten. Viel eher könnte man auch sagen, linpio amor habe über loco amor gesiegt. Der Gebrauch der Varianten von „bueno“ ist in der Garoza-Episode nicht immer ironisch gemeint, führen sie doch zu wirklich rechter Liebe. Die Trag‐ weite der Garoza-Episode wird ersichtlich, wenn man Josets Fußnote zu Strophe 1507 berücksichtigt. In dieser Strophe beschreibt der Arcipreste den Trauerge‐ sang, den er für die verstorbene Nonne Garoza geschrieben hat und gibt zu, dass dieser aufgrund der Trauer nicht perfekt sei. Jeder, der die rechte Liebe erlebt habe, könne die Verse verbessern. Joset sieht in dieser Strophe den Beweis dafür, dass die Verbindung zwischen der Nonne und dem Erzpriester die einzig richtige Art ist, die rechte Liebe auf Erden zu leben, nämlich indem sie keusch und gottesfürchtig bleibt. Und vor allem zeigt sich die Liebe Gottes durch die Menschen auf Erden, die genau das verstehen: Es bedarf keiner Ausschweifungen, sondern einer auf Gebeten und Keuschheit basierenden Freundschaft. Somit wird die Garoza-Episode zum einzig wahren Beispiel für buen amor, ja sogar für die noch höhere Stufe der linpio amor. 329 Diese Form 108 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="109"?> der Liebe zu Gott beschäftigt sind, oder ob sie faul sind und prokrastinieren. Leider bleibt er den Leser: innen eine Antwort schuldig. Cf. Zahareas: op. cit., p. 139. Vergleicht man aber diese Nonnen mit den Damen in DA, die als Verächterinnen der weltlichen Liebe beschrieben werden (cf. DA, I,vi,245-248), klärt sich die Frage: Gefährlich für die weltliche Liebe sind diejenigen, die sich ihr nicht hingeben, sondern ihre Freuden woanders, in diesem Falle in der Liebe zu Gott, finden. 330 Um die Bedeutung zu unterstreichen, die Doña Garoza und die durch sie vertretene Liebe für das LBA tragen, wurde als Cover Guidoccio Cozzarellis Werk: Die heilige Katharina von Siena tauscht ihr Herz mit Christus, um 1485, Pinacoteca Nazionale di Siena, Inv.-Nr. 445 ausgewählt. Dieses Bild soll als Beispiel für eine Frau dienen, die ihr Leben und ihre Liebe Gott bzw. Christus widmet und allen weltlichen Versuchungen entsagt. Die heilige Katharina lebte von 1347-1380, weshalb ihr Bildnis auch zeitlich besonders gut zum LBA passt. Cf. Roberta Spano: „Katharina von Siena tauscht ihr Herz mit Christus“, in: ed. Schweizerisches Nationalmuseum: Nonnen - Starke Frauen im Mittelalter, Zürich: Hatje Cantz Verlag 2020, p.-128. 331 Was es mit dem Tod und der Liebe auf sich hat, wird in Kapitel V.3 weiter erläutert. 332 LBA, cc. 1508-1512. Dieses „Abenteuer“ könnte auch eher eine dichterische Spielerei des Erzpriesters gewesen sein, schließlich wird hier die arabische Dichtung der jarchas bzw. der muwassahat in umgekehrter Besetzung und Sprache wiedergegeben. Cf. Anna Waldschütz: Frauenbild, pp. 81-83. 333 Cf. LBA, cc. 1618-1625. 334 Cf. LBA, cc. 117-120. der guten Liebe basiert dann auf amicitia und entspricht somit dem Lebensideal der Kirchenväter. Sie ist im LBA die einzige Verbindung zwischen Mann und Frau, die buen amor und sogar linpio amor im Zentrum hat und daher als absolut vertretbar angesehen werden kann. 330 Dass die Protagonistin dieser Episode am Ende sterben muss, liegt in der Natur der Sache. Nur so kann die Geschichte vom Suchen nach der Liebe weitererzählt werden. Die Liebe zwischen den beiden kann sich nicht weiterentwickeln, ohne entweder skandalös oder langatmig zu werden. Eine Trennung der beiden Liebenden wäre ebenfalls nicht möglich, denn die wahre Liebe, oder sogar agape, löst sich nicht auf, sondern kann nur durch den Tod beendet werden. Nur indem Doña Garoza stirbt, kann sich ihr Verehrer nach seiner Trauer wieder neuen Abenteuern zuwenden. 331 Diese „Abenteuer“ sind allerdings kaum der Rede wert, schließlich verschmäht die von der Kupplerin angesprochene Araberin den Verehrer 332 , und der Auftrag, den der Erzpriester seinem neuen Boten Don Furón erteilt, wird ebenfalls nicht zufriedenstellend ausgeführt 333 - wie sollte er auch, schließlich ist Don Furón, wie schon der erste Bote des Erzpriesters Ferrand Garçia 334 , das Gegenteil eines guten Kupplers. Ein weiterer Tod führt zum nächsten Gebrauch von „buen amor“: Im Epitaph, das der Erzpriester für seine Kupplerin verfasst hat, begegnet er uns erneut, um genau zu sein in Vers 1578b. Im Gegensatz zu Corominas, der das „buen“ hier aus III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 109 <?page no="110"?> 335 Cf. Joan Corominas ad locum, in: LBA, ed. Joan Corominas, pp. 582, 584, Fußnote zu 1578b. 336 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 2, ed. Jaques Joset, pp. 256 sq., Fußnote zu c. 1578b. 337 Joset schreibt hier „llegaré“, bei Corominas und Gumbrecht hingegen findet man futuro de subjuntivo, was in diesem Zusammenhang sinnvoller ist, daher wird hier von Josets Text abgewichen. Cf. ibid., c. 1578a; Joan Corominas ad locum, in: LBA, ed. Joan Corominas, c. 1578a; Hans Ulrich Gumbrecht ad locum, in: LBA, ed. Hans Ulrich Gumbrecht, c. 1578a. 338 LBA, c. 1578. 339 Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 2, ed. Jaques Joset, c. 1578b bzw. pp. 256 sq., Fußnote zu c. 1578b. 340 LBA, c. 1578b. kontextuellen und metrischen Gründen auslässt 335 , sieht Joset die Notwendig‐ keit, „buen“ einzufügen, als durchaus gegeben. 336 In der entsprechenden Fußnote berichtet er ebenfalls von einer Zählung des Begriffs „buen amor“, allerdings will er nur 14-mal diesen Ausdruck gefunden haben. Die hier durchgeführte Zählung ergab 15 Verwendungen des Ausdrucks „buen amor“. Welche Joset vergessen, übersehen oder nicht mitgezählt hat, kann hier anhand der Fußnote nicht geklärt werden. Fünf Verwendungen beziehen sich laut Joset auf die Kupplerin. Zählt man Vers 1578b dazu, sind es eigentlich sechs. Dennoch unterstreicht auch er, was für diese Dissertation wichtig ist: „Buen amor“ wird vergleichsweise häufig mit der Kupplerin in Verbindung gebracht. Neben seinen Ausführungen zur Metrik in Vers 1578b fokussiert sich Joset auch auf die Gegenüberstellung der Begriffe „buen amor“ und „plazer de amiga“. El que aquí llegar[e] 337 , ¡sí Dios le ben[e]diga! , e ¡sí l’ dé Dios buen amor e plazer de amiga! , que por mí, pecador, un pater nóster diga; si dezir no l’ quisiere, a muerta non maldiga. 338 An dieser Stelle soll ihm recht gegeben werden, wenn er auf die Einfügung von „buen“ in diesen Vers besteht. Interessant an seiner Interpretation des Verses 1578b ist, dass er „buen amor“ und „plazer de amiga“ hier nicht als Gegensatzpaare sieht. 339 Damit macht er eine neue Ebene für das Verständnis von buen amor auf - zumindest aus Sicht der Kupplerin -, die bisher noch nicht aufgetaucht ist. Sie selbst sieht sich nicht als Verführerin zum Bösen, denn für sie schließen sich die „Freuden einer Freundin“ („plazer de amiga“ 340 ) und die Liebe zu Gott nicht gegenseitig aus. Auch scheint die Kupplerin von der Rechtmäßigkeit ihres Handelns auszugehen, was Vers 1576c zeigt: „[…] con buena razón muchos casé […].“ Dass die von ihr verkuppelten Liebenden durch sie zu einer Heirat bewogen werden, scheint sie als Legitimation ihres Handelns 110 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="111"?> 341 Cf. ibid., cc. 890-891. 342 Cf. Kapitel V.1. 343 Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 2, ed. Jaques Joset, p.-256 sq., Fußnote zu c. 1578b. 344 Diese Verse wurden bereits oben in diesem Kapitel genauer untersucht. Dass Joset ebenfalls diese Verse als fünf Bezugnahmen auf die Kupplerin aufführt, aber den Vers 1578b nicht dazuzuzählen scheint, ist verwunderlich. 345 Cf. LBA, c. 443. 346 Ibid., cc. 932b, 933b. zu sehen. Ihr ist wohl jedes Mittel recht, um ans Ziel zu gelangen. In ihrem Epitaph steht nicht, dass sie sogar so weit geht, Frauen zu unrechtmäßigem Handeln zu verführen, damit eine Heirat später gewissermaßen erzwungen wird, wie es bei Doña Endrina der Fall ist 341 . Die Verbindung von Mann und Frau - egal wie sie zustande kommt - ist ihr Ziel und wenn sie dieses erreicht hat, hält sie ihre Aufgabe für erfolgreich erledigt, ja sogar für eine gute Tat. „Plazer de amiga“ scheint allerdings auf eine uneheliche, körperliche und damit ausschweifende Verbindung hinzudeuten, was ihre Werke nicht so gutmütig und unschuldig wirken lässt, wie im Epitaph behauptet. Die Nähe der beiden Begriffe in ein und demselben Vers verweisen eher ein weiteres Mal auf die leichte Verwechselbarkeit der Liebe zwischen den Menschen (bzw. Mann und Frau) und den Menschen und Gott, denn eine Heirat im christlichen Sinne wäre durchaus mit Gottes Willen vereinbar. 342 Aber die von Joset ebenfalls erwähnte Gewichtung soll uns noch einmal interessieren: „[L]a proporción es importante, […].“ 343 Das Verhältnis zwischen der Anwendung des Begriffs allgemein und im Zusammenhang mit der Kupp‐ lerin ist auffällig. Auch hier drängt sich die Interpretation auf, dass es sich erneut um die Betonung der leichten Verwechselbarkeit zwischen törichter und rechter Liebe handelt, die den Arcipreste dazu bringt, die Vertreterin der zwischenmenschlichen und sexuell konnotierten Liebe, also dem vulgären eros, so oft mit dem Begriff der Gottesliebe in Verbindung zu bringen. Auch die Verteilung - es handelt sich um die Verse 443b, 932b sowie 933b, 1331d, 1452b 344 und den hier zur Debatte stehenden Vers 1578b - ist interessant: Sobald von der Kupplerin die Rede ist, wird die Konfusion aufgemacht, indem buen amor im Sinne des vulgären eros und gleichzeitig als erstrebenswertes Ziel verkauft wird. Don Amor verweist sofort auf die Notwendigkeit, einer Kupplerin gebüh‐ rende „Liebe“ entgegenzubringen 345 ; nachdem sie bereits bewiesen hat, was sie bewirken kann, indem sie dem Erzpriester bei der Eroberung von Doña Endrina und der Dame in der Estrade geholfen hat, werden die Namen der Kupplerin aufgezählt, darunter auch „Buen Amor“ 346 . Dies befindet sich ungefähr auf der Hälfte des LBA. Bevor der Erzpriester seine wahre, rechte Liebe trifft, muss die Kupplerin natürlich wieder in Erscheinung treten, denn ohne eine III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 111 <?page no="112"?> 347 Cf. ibid., c. 443b. 348 Hans Ulrich Gumbrecht ad locum, in: LBA, ed. Hans Ulrich Gumbrecht, p.-427. 349 Cf. LBA, cc.1626-1634. 350 Cf. ibid., cc. 1666, 1674 351 Cf. Kapitel II.1. gute Kupplerin kann ein Mann keine gute Frau für sich gewinnen, wie dem Erzpriester schon von Don Amor beigebracht wurde 347 . Daher spielt sie auch in dieser Episode eine zentrale Rolle. Ein letztes Mal taucht die Kupplerin indirekt auf, wenn sie im Epitaph verabschiedet wird, was gleichzeitig kurz vor dem Ende des Buches der Fall ist. So wird diese „Rechte Liebe“ zur tragenden Säule des LBA, indem sie als eine Protagonistin die Liebesabenteuer des Erzpriesters unterstützt und gleichzeitig für die leichte Verwechslung der rechten und törichten Liebe steht. Andererseits hat sie aber auch die ideale Liebe zwischen Don Polo und Doña Garoza zustande gebracht, was ihr für einen Moment einen guten Ruf zu verleihen scheint. Wie oben aber bereits erwähnt, muss an dieser Stelle jedoch hinterfragt werden, ob dieses Ergebnis auch aus der Perspektive der Kupplerin überhaupt als Erfolg gewertet werden kann. Ein letztes Mal stoßen wir auf „buen amor“ in den Versen 1630ad, als der Erzpriester noch einmal seine Ausführungen über gute und törichte Liebe zusammenfasst und betont, das Buch diene in seiner Form eines „kurze[n] Brevier[s] zu Spiel und Spaß“ 348 der Unterhaltung, handle aber von rechter Liebe, sodass es sich gern unter interessierten Leser: innen verbreiten solle. Er schreibt selbst u. a., dass sein Buch neben der Unterhaltung auch die Darstellung „neuartiger Geschichten und Verse“, wie Gumbrecht Vers 1634d übersetzt, zum Ziel hat. 349 Diese neun Strophen, auf die neben Gebeten an die Heilige Jungfrau Maria auch noch die sogenannten Blinden- und Scholarengesänge sowie das Klagelied der Kleriker von Talavera folgen, geben dem LBA einen gewissen Rahmen, knüpfen sie doch inhaltlich an den Prosaprolog zu Beginn des Buches an, indem noch einmal auf den Unterhaltungswert, den eigentlichen Sinn und die Kunst des Dichtens hingewiesen wird. Doch der Rahmen wird noch intensiviert, indem der Arcipreste das Motiv der Gefangenschaft wieder aufgreift. 350 Der Erzpriester klagt darüber, in der sündhaften Welt gefangen zu sein, was wiederum die These stärkt, es handle sich nicht um ein tatsächliches, sondern ein gefühltes Sündengefängnis. 351 III.3.4 Eros und agape im Libro de buen amor Der Einblick in die Entwicklung des christlichen Liebesbegriffs zeigt also, dass Liebe nicht gleich Liebe ist. Der Begriff ist von einer facettenreichen, durchaus 112 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="113"?> 352 Cf. Kapitel III.2.9. paradoxen und vor allem für Laien nicht leicht verständlichen Geschichte geprägt. Wenn der Erzpriester von „buen amor“ und „loco amor“ spricht, benutzt er das Wort „amor“ höchstwahrscheinlich mit mehr Hintergrundwissen, als es zunächst scheint. Versuchen wir, das, was wir über buen amor vom Erzpriester erfahren, nach den Theorien und Schemata einzuordnen, die wir bei Nygren kennengelernt haben, wäre buen amor einerseits mit caritas im augustinischen Sinne gleichzusetzen, denn es ist die Gottesliebe, die zum höchsten bonum führt und als einzige Form der Liebe die echte, dauerhafte Befriedigung garantiert. Aber buen amor kann auch amicitia sein, schließlich widerspricht diese Form der Nächstenliebe den christlichen Lebensregeln nicht - im Gegenteil: Die göttliche Liebe verbindet die Menschen auch untereinander. Allein cupiditas oder loco amor, wie der Erzpriester sagen würde, also die Liebe, die den Menschen an die sinnliche Welt bindet und ihn vom rechten Weg ablenkt, gilt es zu vermeiden, denn sie bringt nur kurzfristige Befriedigung des menschlichen Bedürfnisses nach Glückseligkeit und führt zum malum. Wenn uns der Erzpriester im Prosaprolog daran erinnert, dass Gott den Menschen mit Verstand, der Fähigkeit zur Erinnerung und dem freien Willen ausgerüstet hat, um ihn zu ihm zurückzuführen, so bewegt sich der Erzpriester hier in den Lehren des Origenes, des Augustin und des Thomas von Aquin. Den Liebesbegriff im LBA als caritas aufzufassen, hieße gleichzeitig, dem Werk den Eros- und den Agapezug zuzugestehen, der sich im Laufe der Zeit, also bereits seit der Antike bis ins Mittelalter entwickelt hat. Dies ergibt insofern Sinn, als im LBA alle Varianten des augustinischen Liebesbegriffs wieder auftauchen: Der Mensch soll sich seines Verstandes bedienen, um zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht zu unterscheiden; er soll sich auf die Liebe zu Gott konzentrieren und in allem, was er sieht und erlebt, Gott erfahren bzw. alles seinem Stand entsprechend lieben, d. h. was näher an Gott ist, verdient mehr Liebe als das, was weiter von ihm entfernt ist (was auch Züge trägt, die wir bei Pseudo-Dionysius kennengelernt haben 352 ). Was passiert, wenn man sich durch cupiditas ablenken lässt, zeigt die Endrina-Episode. Da sowohl die gute als auch die falsche Liebe mit „amor“ bezeichnet wird, kann es sein, dass genau der Fehler eintritt, vor dem v. a. Origenes und Augustin gewarnt haben, nämlich dass Unverständige Gefahr laufen, die Terminologie nicht zu verstehen und den gewählten Begriff für Gottesliebe mit der vulgären Liebe zu verwechseln. Während Origenes damit Ungebildete meinte, sind es bei Augustin (und dem Erzpriester) diejenigen, die ihren gottgegebenen Verstand nicht einsetzen. Dennoch kann man auch in der weltlichen Liebe eine gute III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 113 <?page no="114"?> 353 Weitere Ausführungen dazu folgen in Kapitel V.1. Variante finden. Diese ist in der Garoza-Episode dargestellt. Wir halten also fest: Mit dem augustinischen Vokabular gesprochen ist loco amor gleichbedeutend mit cupiditas, buen amor ist caritas. Dass linpio amor mit agape übersetzt werden kann, wird auf Paulus zurückgeführt. Der Arcipreste spricht deswegen von „buen amor“ und „amor loco / amor falso“, weil er sich einerseits aufgrund seiner eigenen Bildung und v. a. seines Verstands bewusst ist, dass man sowohl die Liebe unter den Menschen als auch zwischen Menschen und Gott getrost mit „amor“ bezeichnen kann. Die Komik hinter dem Dargestellten erschließt sich nur denjenigen Leser: innen, die in der Lage sind, mittels ihre Verstandes zu erkennen, wann „buen amor“ ironisch eingesetzt wird und wann nicht. Castros Standpunkt, der in Kapitel III.3.1 dargestellt wurde und der besagt, die törichte und die rechte Liebe gingen im LBA so weit ineinander über, dass eine Unterscheidung schwierig sei, gilt nur für den ersten Eindruck über das LBA. Es ist anzunehmen, dass der Erzpriester genau diesen komischen Effekt bei seinen Leser: innen provozieren wollte, aber sein Ziel war es doch, wie bereits der Prosaprolog deutlich zeigt, dass eine genaue Betrachtung der Erzählungen und Begriffe unter Einsatz von entendimiento, memoria und voluntad die Unterscheidung der Varianten von Liebe durchaus möglich macht. Das Erosgepräge fließt u. a. bei dem Gefängnismotiv ein, wenn man annimmt, dass es sich - wie in Kapitel II.1 beschrieben - um ein Gefangensein in der sündenbeladenen Welt handelt, in dem die Seele des Erzpriesters gefangen ist, obwohl sie nach Gottes Liebe strebt. Das Gefängnis bezieht sich auf das Verhaftetsein im Hier und Jetzt, in der irdischen, sündhaften Welt, aus der der Körper stammt und aus der er sich befreien soll, um mit Gott vereint werden zu können - ein klar vom eros geprägter Gedanke, um Nygrens Wortwahl hier anzuwenden. Dass Gottes Liebe oberste Priorität hat, ist klar, aber was darf man nun in der weltlichen Liebe und was nicht? Ist weltliche Liebe überhaupt erlaubt? Die Antwort auf die letzte Frage lautet ja. 353 Von Paulus übernimmt der Erzpriester die konkreten Lebensregeln für Mann und Frau, wie sie in den Paulusbriefen beschrieben sind, was in Kapitel V.1 näher beleuchtet wird. Betrachtet man aber die Hauptthemen des Erzpriesters - dass man immer Gott im Sinn haben und treu sein soll, am besten keusch miteinander lebt und sich gegenseitig im Glauben stützt (Garoza), aber auch auf die Bedürfnisse des Ehepartners eingehen 114 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="115"?> 354 Dieses Exempel beschreibt, wie ein Ehemann seine sehr viel jüngere Frau wegen einer Geschäftsreise allein lässt. Sie nimmt sich einen Liebhaber, weil sie aufgrund ihrer Jugend und der langen Zeit allein ihre Lust nicht mehr unterbinden kann. Cf. LBA, cc. 474-489. In Kapitel V.1. wird erläutert, wie dieses Verhalten nach den paulinischen Vorschriften für das Eheleben zu verstehen ist. soll (Pitas Payas 354 ) etc. - fällt auf, dass er einen sehr stark an Paulus orientierten Liebesbegriff verteidigt. Die Ehe wird als die einzige Möglichkeit dargestellt, sich den sinnlichen Freuden zwischen Mann und Frau hinzugeben, am besten aber ist die Liebe zwischen Mann und Frau auch dann, wenn sie keusch bleibt, wie zwischen Don Polo und Doña Garoza. Bei Nygren, Fürst und Strutwolf haben wir gesehen, dass Origenes als erster die Begriffe eros und agape gleichgesetzt hat. Seiner Meinung nach musste der deutlichere Begriff, agape, nur verwendet werden, wenn eine Verwechslungs‐ gefahr zwischen himmlischem und vulgärem eros bestand, damit der himmlische eros durch agape geschützt sei. Ähnlich sieht auch Dionysius Areopagita im Gebrauch von agape eine Möglichkeit, Unwissende vor Missverständnissen zu bewahren. Genau mit dieser Verwechslung religiöser Begriffe aber spielt der Erzpriester, wenn er z. B. die Kupplerin als „Buen Amor“ bezeichnet. Das Spiel besteht einerseits aus der Vermischung von himmlischem und vulgärem eros, andererseits aus dem überspitzten Selbstlob der Kupplerin, schließlich scheitern ihre Versuche, für ihren Auftraggeber eine Ehe zu stiften, öfter, als sie zum Ziel führen. Die Ehe zwischen Endrina und Melón ist eher eine notwendige Konsequenz für Endrina und bei der Verbindung von Garoza und Polo könnte man fast sagen, dass die beiden Liebenden sich zwar gefunden haben, aber da es zu keiner Heirat o. ä. kommt, hat die Kupplerin ihr Ziel verfehlt. Man könnte auch sagen, „buen amor“ bedeutet nur in den Unterweisungen und Ermahnungen des Erzpriesters „Gottesliebe“ bzw. caritas. Spricht die Kupplerin von „buen amor“, ist damit die weltliche Liebe gemeint, wobei die Leser: innen diese Interpretation aus dem jeweiligen Kontext herausfiltern müssen, um das auch zu erkennen. Es hat sich auch gezeigt, dass der Erzpriester dann, wenn er die ideale Liebe beschreibt, nämlich die zwischen Don Polo und Doña Garoza, auf die Steigerung von buen amor, also linpio amor, zurückgreift. Da diese im LBA von gegenseitiger Zuneigung, aber vor allem von Unterstützung im Glauben geprägt ist, kann man von einer Gleichsetzung der Begriffe linpio amor und agape ausgehen. Diese Deutung beinhaltet, dass durch den Glauben an Gott seine Liebe auch unter den Menschen weitergegeben wird, aber weit von jeder Ausschweifung entfernt ist. Somit wird die keusche, auf Gott fokussierte Liebe zwischen Mann und Frau III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 115 <?page no="116"?> zum Ideal der weltlichen Liebe. Dem Beispiel Origenesʼ und Augustins folgend, verwendet der Erzpriester einen unmissverständlichen Begriff, der sich durch das Adjektiv „linpio“ von „loco amor“ und „buen amor“ abgrenzt. Hat man dies begriffen und erkannt, was außerhalb des LBA für eine Einstellung zum christlichen Liebesbegriff besteht, tritt die Liebesdefinition klar zutage: Der Erzpriester vertritt deutlich den augustinischen Caritasgedanken. Jeder Mensch strebt nach Glück, aber ob er es schafft, recht zu lieben oder nicht, liegt im Ziel seines Strebens. Richtet er es auf Gott aus, so ist er auf dem richtigen Weg und hat die richtige Liebe erkannt. Richtet er sein Streben auf die sinnliche Welt aus, so ist er auf dem falschen Weg. Die richtige Liebe orientiert sich an Gott. Hierzu muss man seinen Verstand und all seine Fähigkeiten einsetzen, um zu erkennen, dass man die Dinge in der Welt gemäß ihrer Rangordnung lieben soll, schließlich ist am Ende alles von Gott geschaffen. Aber man muss sich bewusst machen, dass trotz der Ablenkungen der sinnlichen Welt Gott das summum bonum ist. Der Mensch strebt nach Glückseligkeit und entscheidet mittels des freien Willens, ob er sich der caritas oder der cupiditas zuwendet. Je nachdem, wie er sich entscheidet, folgt er seinem natürlichen Bedürfnis, sein definiertes Ziel zu finden. Aber allein Gott ist das summum bonum und kann nur erreicht werden, indem man die caritas wählt, die Dinge in der Welt gebraucht (uti), um am Ende das Gute genießen (frui) zu können. Dies ist der Unterschied zwischen loco amor und buen amor. Loco amor hat die sinnliche Welt zum Ziel und kann daher nur schlecht für den Menschen sein, schließlich erfährt man hier nur kurzfristige und flüchtige Freude. Loco amor ist also im augustinischen Vokabular mit cupiditas bzw. amor perversus zu übersetzen. Buen amor ist aber auf Gott und somit auf das höchste bonum des Menschen ausgerichtet. Dies ist die richtige Liebe, die langfristig zur vollständigen Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse führt, nämlich Ruhe und Glückseligkeit auf einer Ebene mit Gott. Mit Augustin würde man hier also von caritas sprechen und eine Mischung aus eros im Sinne von Streben nach Gott und agape meinen. Intellectus/ entendimiento, memoria und voluntas/ voluntad sollen sowohl laut Augustin als auch dem Erzpriester auf den richtigen Gegenstand, d. h. Gott, ausgerichtet sein. Über Thomas von Aquin lernen wir mit Nygrens Hilfe, dass der Mensch, selbst wenn er sündigt, nur auf der Suche nach Glück ist, schließlich ist dies ein Weg, um die Suche nach Liebe zu äußern. Vielleicht knüpft auch hier der Erz‐ priester an, wenn er die Menschen anspricht, die meinen, in der weltlichen Liebe wahres Glück zu finden. Sie sind noch nicht verloren, schließlich empfinden sie das Bedürfnis nach Liebe und Glück. Hier kann das LBA ansetzen, denn dieses 116 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="117"?> 355 Exempli gratia Röm 2,5-10; 1Kor 5,1-8; Eph 3,1-17. 356 Hier sei an Rössners These zur Eigenleistung der Leser: innen erinnert. Cf. Kapitel III. 357 Cf. Anthony N. Zahareas: op. cit., p.-32; LBA, cc. 1606-1617. 358 Cf. LBA, c. 1608. noch vorhandene Empfinden braucht nur in die richtige Richtung gelenkt zu werden, um in Gottesliebe transformiert werden zu können. Die dualistische Verwendung des Liebesbegriffs erinnert stark an den pau‐ linischen Duktus. Paulus erläutert in seinen Briefen christliche Verhaltens- und Denkweisen in Abgrenzung zu heidnischen Normen, Unsittlichkeit, Sünde, Götzendienst, Mord und anderen Wegen, die nach christlicher Ansicht ins Verderben führen können. 355 Die detaillierte Darstellung des Schlechten und das wortreich umschriebene Glück, das man erreicht, wenn man nach den rechten Verhaltensregeln lebt, erzeugen ein für seine Leser: innen klares Bild von Gut und Böse und wirken überzeugend für all diejenigen, die sich die Frage nach angemessener Unterscheidung stellen. So fällt es leicht, in einem von Zweifel geprägten Leben Orientierung zu finden. Der Arcipreste hingegen beschreibt die Suche eines Menschen nach Liebe auf größtenteils ironische Weise, folgt dabei aber der paulinischen Definition von Liebe. Die fließenden Grenzen zwischen loco amor und buen amor sind kunstvoller gestaltbar, wenn für die Liebe „amor“ verwendet und die Ausrichtung „nur“ mit dem jeweiligen Adjektiv angedeutet wird. Religiöse Termini und Zitate werden vom Erzpriester fast ausschließlich ironisch verwendet, sodass seine Leser: innen eine gewisse Eigen‐ leistung erbringen müssen, um seine Aussagen richtig zu verstehen. 356 Hierzu muss man sich die Unterscheidung zwischen Gut und Böse bzw. zwischen rechter und törichter Liebe stets ins Gedächtnis rufen. Zahareas erläutert das Verwirrspiel mit den Leser: innen anhand der Beschreibung der weltlichen Liebe mit religiösen Begriffen, z. B. indem der Erzpriester behauptet, das Paradies, das sich einem Christen sonst nur auf Erden offenbart, wenn er Gottes Liebe erfährt, könne auch durch die Liebe einer (kleinen) Frau erreicht werden. 357 Eine kleine Frau wird in Vers 1616b als „terrenal paraíso“ beschrieben. Allerdings ist diese Aussage mit Vorsicht zu genießen, schließlich gibt er selbst zu, dass die Ausführungen scherzhaft gemeint sind 358 , und damit ganz eindeutig in die Kategorie loco amor gehören. Zahareas beschreibt anhand eines weiteren Beispiels, wie im LBA die weltliche Liebe und christliche Ausdrucksweise miteinander vermischt werden und so für komische Effekte sorgen, nämlich mit der Umdeutung von Bibelzitaten, wie z. B. in c. 90a, d. h. bei der Erzählung von einer unglücklichen Liebe des Erzpriesters zu einer Frau, die genau deswegen scheitert, weil sie nicht geheim gehalten werden kann: „Segund diz Jhesu Cristo, non ay cosa escondida […].“ Hier bezieht sich der Erzpriester auf Mt 10,26: „Denn III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 117 <?page no="118"?> 359 Cf. Anthony N. Zahareas: op. cit., p.-32. 360 LBA, c. 950. 361 Cf. Joan Corominas ad locum, in: LBA, ed. Joan Corominas, p.-370, Fußnote zu c. 950a. 362 Cf. Kapitel III.2.10. 363 So auch schon bei Joset: Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p. 38, Fußnote zu c. 76c. es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird.“ V. a. aber, so Zahareas, zeigt sich an dieser Verwendung eines Bibelzitats nicht nur die Fähigkeit des Arcipreste, Ironie an den Tag zu legen, sondern vor allem seine Bildung und das anspruchsvolle Niveau, auf dem er sich bewegt. 359 Auch die Einleitung zu den Erzählungen über die Sennerinnen beginnt mit einer Anspielung auf die Bibel: „Provar todas las cosas el Apóstol lo manda“ 360 . Der erwähnte Apostel ist Paulus. Hier bezieht er sich, wie wir von Corominas erfahren 361 , auf 1Thess 5,21. Dort heißt es: „Prüft aber alles, das Gute behaltet.“ Eben dieses Zitat führt uns zu einem ganz besonderen Punkt: Joset weist darauf hin, dass „provar“ hier nicht zum ersten Mal vorkommt, sondern bereits in c. 76c: „[P]rovar omne las cosas non es por end peor.“ In c. 76d folgt: „e saber bien e mal, e usar lo mejor.“ Dieser Ratschlag könnte wie ein Leitspruch für das LBA gelten, denn der Erzpriester selbst mahnt seine Leser: innen in c. 76 zur Prüfung aller Dinge, die ihm begegnen - auch des LBA selbst -, und sich nur auf das Gute zu konzentrieren bzw. das Gute aus dem Beschriebenen herauszufiltern. Auch hier scheint sich eine Doppeldeutigkeit zu verstecken, bei der der Verstand der Leser: innen gefragt ist: Das aus dem Lateinischen übernommene „probare“ bekommt in der altspanischen Übersetzung eine neue Nuance, indem es sich nicht mehr unbedingt um ein abstraktes Prüfen und auch nicht um ein Prüfen in der Fantasie, wie es Bernhard von Clairvaux schilderte 362 , sondern um ein empirisches Erleben handelt. Verständige Leser: innen würden hier wohl die erste Deutung lesen, weniger verständige könnten „provar“ als Aufforderung zum wirklichen Durchleben von Erfahrungen verstehen. Erneut sind memoria, voluntad und entendimiento gefragt, um den rechten Weg zu erkennen und sich entweder sofort oder nach erfolgten Erfahrungen wieder umzuentscheiden. 363 Dieser sehr menschennahe Ansatz zeugt ein weiteres Mal von der Nähe des Erzpriesters zu seinen Leser: innen sowie von der Neugierde des Menschen und dem Risiko, dem aus christlicher Sicht Falschen zu nahe zu kommen. Gleichzeitig lässt er aber auch Spielraum für die Rückwendung und die Einsicht des Menschen, wenn er einmal die Sünde gekostet hat, wieder auf den rechten Pfad zurückkehren zu können, was an Origenes, Augustin und Thomas von Aquin erinnert. Nimmt man diese Aussagen zusammen, könnte man auch sagen, der Mensch solle ruhig alles probieren, denn daran ist nichts falsch, 118 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="119"?> 364 Cf. Anthony N. Zahareas: op. cit., pp. 198 sq. man solle nur Gut und Böse zu unterscheiden wissen und das Bessere/ Beste tun, schließlich ist jede Liebe begehrende Liebe. Thomas von Aquin sieht hier, wie bereits erläutert wurde, dass auch die falsch ausgerichtete Liebe eine Möglichkeit ist, zu Gott zu finden, man müsse das natürliche Bedürfnis nach Glückseligkeit nur wieder richtig einnorden. Die bisherigen Interpretationen von loco amor und buen amor, die in Kapitel III.3.1 vorgestellt wurden, erscheinen anhand dieser Analyse in einem neuen Licht. Die arabischen und hebräischen Einflüsse, die Lida de Malkiel hinter dem Schwanken zwischen buen amor und loco amor sieht, kommen hier nicht zum Tragen. Das Hin und Her, in dem sich der Mensch befindet, ist laut der durchgeführten Untersuchung auf die leichte Verführbarkeit zurückzuführen, die von Natur aus jedem Menschen zu eigen ist und in christlichen Schriften thematisiert wird. Lecoys Ansicht, die rechte und die weltliche Liebe vermischten sich nie, kann nur zum Teil unterstützt werden. Wenn Lecoy mit „weltlicher“ Liebe aus‐ schweifende Lust gemeint hat, müsste man ihm zustimmen. Was er aber nicht berücksichtigt zu haben scheint, ist, dass der Erzpriester durchaus Rücksicht auf die natürliche Sexualität des Menschen nimmt und diese nicht verteufelt, sondern lediglich ihre maßvolle Ausübung als Richtlinie vorgibt. Außerdem gibt es mit Garoza auch eine Vertreterin einer anderen Art der weltlichen Liebe. Während vor der ausschweifenden Variante der weltlichen Liebe gewarnt wird, wird die reine, keusche Variante einer weltlichen Liebe sogar als Ideal hervor‐ gehoben, in der die Gottesliebe im Fokus steht. An diesen Stellen vermischen sich gute und weltliche Liebe. Allein Zahareas steht mit seiner Ansicht der hier durchgeführten Analyse am nächsten, indem er sagt, der Erzpriester orientiere sich an Augustin. 364 Allerdings sieht er weder den Agapegedanken in der Garoza-Episode noch die gottgefällige Variante der weltlichen Liebe, wie sie hier herausgearbeitet wurden. Dass Zahareas die Verwendung biblischer Zitate als Kunstgriff sieht, der zusätzliche Verwirrung stiften soll, kann bejaht und als Stilmitttel im Sinne der Komik angesehen werden. Nur die Aussage, die Garoza-Episode sei von Widersprüchen geprägt, die eine Spannung erzeugen, kann nicht gänzlich übernommen werden. Dass eine Nonne als Geliebte gewählt wird, ist span‐ nungsreich, aber da das Begehren nicht gelebt wird und sich die Liebe als eine keusche, auf Gott konzentrierte Zuneigung erweist, löst sich eine eventuell anfängliche Spannung im Verlauf der Erzählung auf. III.3 Anwendung auf das Libro de buen amor 119 <?page no="120"?> 365 Cf. Kapitel III. Es zeigt sich also, dass an den bisherigen Interpretationen mit Hilfe der ausführlichen Erläuterungen von Nygren zur Entwicklungsgeschichte des Lie‐ besbegriffs nur zum Teil festgehalten werden kann. Sie werden durch die Ana‐ lyse ergänzt und präzisiert, sodass am Ende feststeht, dass sich der Erzpriester wohl an den paulinischen Grundsätzen orientiert, diese aber angelehnt an die Aussagen und Standpunkte eines Origenes, Augustin, Dionysius Areopagita und Thomas von Aquin wiedergibt, während er sich gleichzeitig der Komik bedient, die ein mehrdeutiger Begriff wie „amor“ mit sich bringt und die Interpretationsfähigkeit seiner Leser: innen damit herausfordert, selbstständig den Unterschied zwischen der törichten Liebe (loco amor), der göttlichen und der erlaubten weltlichen Liebe (buen amor) und sogar agape (linpio amor) zu erkennen. An dieser Stelle sei noch einmal an Rössner erinnert. 365 Die hier geführte Argumentation zeigt, dass Rössner zugestimmt werden kann: Die Haltung des Erzpriesters ist eindeutig, indem sie besagt, es liegt am Menschen selbst und dem Einsatz seines Verstands, seiner Erinnerung und seines Willens, wie er sich entscheidet, ob für das Gute oder das Böse, wobei er zum Guten rät. Er zeigt nur auf, wie verworren der Weg und wie schwierig die Unterscheidung der die Liebe bezeichnenden Begriffe zuweilen sein kann, aber seine Haltung und seine Botschaft geraten dadurch nicht ins Wanken. Woran man sich also orientieren und wovor man sich hüten soll, wurde nun untersucht. Doch was passiert, wenn man sich falsch entscheidet und die cupiditas der caritas vorzieht? III.4 Sünde, Reue, Buße, Strafe Wenn es um die Darlegung des richtigen Verhaltens geht, fällt bei genauerer Lektüre auf, dass der Erzpriester selten - und wenn, dann nur in sehr geringem Umfang - darauf eingeht, was dem Menschen eigentlich droht, wenn er sich falsch verhält. Es geht im LBA fast ausschließlich um die Vermeidung der Sünde, nicht aber um Buße, Reue, Strafe o. ä. Einerseits leuchtet diese Vorge‐ hensweise zwar ein, weil z. B. ausführliche Androhungen des Höllenfeuers oder Beschreibungen entsprechenden Bußverhaltens die Heiterkeit des LBA deutlich unterbrochen hätten, andererseits hätte es wohl Möglichkeiten gegeben, diese Konsequenzen sündhaften Verhaltens in eine Form zu bringen, die heiter und dennoch ernsthaft zugleich auf einen möglichen Strafkatalog hingewiesen 120 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="121"?> 366 LBA, Prosaprolog, linn. 121-125. 367 Cf. ibid., c. 909. 368 Cf. ibid., cc. 1128-1172. 369 Ibid., c. 281b. 370 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p.-106, Fußnote zu c. 281b. 371 Cf. LBA, cc. 293 sq. hätten. Daher stellt sich nun die Frage, warum der Erzpriester ausgerechnet ein für die christliche Kirche so wichtiges Thema nur am Rande behandelt. Den ersten Hinweis darauf, dass man den Zorn Gottes auf sich zieht, wenn man sich für die verkehrte Liebe entscheidet, finden wir bereits im Prosaprolog: E desecharán e aborresçerán las maneras e maestrías malas del loco amor que faze perder las almas e caer en saña de Dios, apocando la vida e dando mala fama e deshonra e muchos daños a los cuerpos. 366 Die Botschaft ist hier unmissverständlich: Wer seinen Verstand richtig einsetzt und das LBA recht versteht, schont seine Seele und seinen Körper und muss die Strafe Gottes nicht fürchten. Es gibt lediglich zwei Situationen, in denen man eine Art Reue bzw. Buße erkennt, nachdem Unrecht geschehen ist. Die erste ist die Heirat zwischen Doña Endrina und Don Melón, die die einzige Möglichkeit ist, begangene Sünden wieder einigermaßen zu bereinigen. V. a. angesichts der Warnungen, die der Erzpriester im Anschluss an diese Episode ausspricht 367 , muss dieser Ausweg, so ehrenhaft er ist, als reuevolle Handlung angesehen werden. Hätte der Erzpriester eine solche Vermählung befürwortet, wären seine Ermahnungen entweder ausgeblieben oder anders formuliert worden. Der Zweite, der Buße tun muss, um Absolution zu erhalten, ist Don Carnal, dem ein Mönch die Beichte abnimmt und ihn losspricht. Hier geht der Erz‐ priester auf Beichtregeln und -rituale ein. Diese Sequenz nutzt er, um sich direkt an seine Leser: innen, aber auch an andere Kleriker zu wenden. Er betont eindringlich die Notwendigkeit der Buße und der sichtlichen Zerknirschung, die ein Sünder empfinden sollte. Außerdem verweist er auf die Möglichkeiten, sich mit Beichtregeln vertraut zu machen, zu denen u. a. gehört, dass ein einfacher Kleriker lediglich in Notsituationen die Beichte abnehmen kann. 368 Das Fegefeuer taucht hingegen selten auf, z. B. bei der Beschreibung der Todsünden. An dieser Stelle steht es einmal im Zuge der Erläuterungen zum Neid. „Mongibel“ 369 war laut Joset der mittelalterliche Name für den Vulkan Ätna, der wiederum das Fegefeuer symbolisiert. 370 Auch bei der Darstellung der Völlerei nennt der Erzpriester das Fegefeuer. 371 Allerdings sind diese Beschrei‐ bungen der Todsünden Teil des Streitgesprächs zwischen dem Erzpriester und III.4 Sünde, Reue, Buße, Strafe 121 <?page no="122"?> 372 Cf. ibid., c. 281ab. 373 Cf. ibid., cc. 1655, 1660. 374 Cf. ibid., cc. 1661-1667, praesertim 1666; Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 2, ed. Jaques Joset, p.-294, Fußnote zu c. 1666i. 375 Cf. LBA, cc. 1454-1475. 376 Ibid., c. 1501. Don Amor, d. h. der Erzpriester wirft Don Amor vor, den Menschen zu all diesen Verfehlungen zu verleiten. Die Erwähnungen des Fegefeuers beziehen sich immer auf „andere“, d. h. Kain sitzt nun im Mongibel für die Tötung seines Bruders 372 , in c. 293 verbrennt sich Don Amor am Feuer, in c. 294 ist es Adam, der für seinen Fehler, die verbotene Frucht gegessen zu haben, im Fegefeuer verweilen muss; in c. 1140 wird das Fegefeuer als Ort der Reinigung bezeichnet; in cc. 1552, 1557 und 1558 wird die Hölle als Sitz des Todes beschrieben, den der Erzpriester an dieser Stelle (der Tod der Kupplerin wird hier beklagt) verflucht und beschimpft. Ein weiteres Mal finden wir das Fegefeuer im Scholarengesang, allerdings taucht es nur in der Warnung auf, dass gutes Handeln vor der Hölle bewahren kann. 373 Wie bereits in Kapitel II.2 erläutert, bittet der Erzpriester in seinem Ave Maria darum, dass die Heilige Jungfrau ihn vor der Gefangenschaft in dem „cárcel peligrosa“, also dem Fegefeuer, bewahren möge, wie Joset in der entsprechenden Fußnote erklärt. 374 In einer anderen Form ist vom Büßen die Rede, wenn im Zuge des Exempelaustauschs zwischen der Kupplerin und Doña Garoza die Parabel vom Räuber und dem Teufel erzählt wird. Hier will der Teufel die Seele des Räubers noch für sich gewinnen, bevor dieser Buße tut. Natürlich endet die Geschichte mit dem Tod des Räubers. 375 Es ist nie der Erzpriester oder eines seiner Alter Egos, die sich im Fegefeuer wiederfinden. Das Einzige, woran der Erzpriester leidet, wenn seine Abenteuer fehlschlagen, ist Herzschmerz, wie z.-B. in c. 92. Vielleicht ist dies ebenfalls ein humorvoller Seitenhieb: Wenn der Arcipreste seine Liebesqualen beschreibt, muss das Publikum des 14. Jahrhunderts verstanden haben, dass er sich damit eigentlich der Lächerlichkeit preisgibt, schließlich sollte er sich lieber um sein Seelenheil sorgen. Nur an einer Stelle ist er bzw. Don Polo kurz davor, Buße tun zu müssen, aber die Standhaftigkeit der Gegenseite bewahrt ihn davor: Als er Doña Garoza zum ersten Mal sieht, wünscht er, es wäre möglich, ihr Liebhaber zu sein - er würde danach auch büßen: Pero que sea errança contra Nuestro Señor pecado de monja a omne doñeador, ¡ay Dios! , ¡e yo lo fuese aqueste pecador, que feziese penitencia d’este fecho error! 376 122 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="123"?> 377 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 2, ed. Jaques Joset, p. 232, Fußnote zu c. 1501; Kapitel-III.5, V.1.2. 378 Cf. Michel Foucault: Die Geständnisse des Fleisches, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2019 (id.: Sexualität und Wahrheit, vol. 4), pp. 23-201: Zu Beginn geht Michel Foucault noch auf die Bedeutung der o. g. Begriffe für Christen allgemein ein, später geht es um Mönche und ihre Verhaltensregeln innerhalb des klösterlichen Lebens. Michel Foucault veranschaulicht v. a. sowohl die Ursprünge des christlichen Gedankenguts in der Antike, aber auch die Unterschiede zwischen den antiken Philosophen und den frühen Christen. 379 Ibid., pp. 182-183. Ein Mönch, der bemerkt, dass sein Geist keine Ruhe findet, und sich in seinen Gedanken auch das Böse niederschlägt, soll lernen, seine Gedanken zu kontrollieren, nur noch gute und reine Gedanken zuzulassen und somit seine Leidenschaften auch auf dieser Ebene in Schach zu halten. Dies kann selbstverständlich nur durch Gottes Eingreifen und seine Gnade geschehen, denn für ein menschliches Individuum wäre diese Aufgabe nicht zu bewerkstelligen. Cf. ibid., pp. 178-201. Aber es kommt eben nicht zur Sünde und damit auch nicht zur Buße. Vor allem der Konjunktiv scheint für Joset der Beweis zu sein, dass es keinen sündhaften Vorfall zwischen Don Polo und Doña Garoza gegeben hat. 377 Foucault erläutert in Die Geständnisse des Fleisches u. a., welche Rollen im ca. 5. Jhd. n. Chr. Reue und Buße sowie Gehorsam und Kontrolle der Gedanken v. a. für Mönche spielten und welche Maßnahmen ergriffen wurden, um die Reinheit der Gedanken sicherzustellen. 378 Im Zuge dessen schildert er das Wirken des Bösen im menschlichen Körper, indem er sich auf Cassian und dessen Collationes Patrum (CP) bezieht: Seit dem Sündenfall hat der Geist des Bösen sein Reich über den Menschen errichtet. Nicht dass er in seine Seele eingedrungen wäre und ihre beiden Substanzen sich vermischt und überlagert hätten, was dem Menschen seine Freiheit genommen hätte. Doch besitzen der Geist des Bösen und die menschliche Seele eine verwandte Herkunft und Ähnlichkeit; so kann er sich im Körper einnisten, ihn in Konkurrenz mit der Seele in Besitz nehmen und, indem er sich diese Ähnlichkeit zunutze macht, den Körper schütteln, ihm Bewegungen aufzwingen, seine Ökonomie durcheinanderbringen; so schwächt er die Seele, lässt ihr Einflüsterungen, Bilder, Gedanken zukommen, deren Ursprung schwer zu durchschauen ist; die überlistete Seele kann sie aufnehmen, ohne zu erkennen, dass der Andere, der mit ihr zusammen im Körper wohnt, sie ihr eingegeben hat. So ist dieser in der Position, die Gedanken, die von ihm kommen, zu verschleiern, dafür zu sorgen, dass sie für göttliche Eingebungen gehalten werden, und das Schlechte, dessen Träger sie sind, unter dem Anschein des Guten zu verbergen. 379 Dieser Abschnitt soll dazu dienen, die Ursprünge der christlichen Denkweise darzulegen. Basierend auf solchen Aussagen ist es nachvollziehbar, dass das Böse stets als eine Gefahr betrachtet wurde, die tief in der menschlichen III.4 Sünde, Reue, Buße, Strafe 123 <?page no="124"?> Seele verwurzelt ist, und manchmal die Unterscheidung zwischen Gut und Böse schwerfällt. Ebenso zeigt das Zitat, dass der Mensch leicht vom Bösen getäuscht werden kann, was die Differenzierung zusätzlich erschwert. Dieser Grundtenor der christlichen Gedankenwelt scheint im LBA mehr als deutlich aufgegriffen worden zu sein. Auch wenn unklar ist, ob der Erzpriester über ein Exemplar der CP verfügte, so kann angenommen werden, dass die o. g. Ansicht in das christliche Gedankengut aufgenommen und auf verschiedenen Wegen (mündliche Tradition, weitere Schriftzeugnisse mit ähnlichem Inhalt o. ä.) an den Erzpriester herangetragen worden sein könnte. Gerade weil das Böse so tief in der menschlichen Seele verankert ist, muss der gute Christ entendimiento, memoria und voluntad an den Tag legen, um die Gefahr zu erkennen und ihr widerstehen zu können. So gesehen lässt der Erzpriester die Frage nach Buße, Reue und Strafe nicht wirklich aus. Die Andeutungen reichen aus, um die geneigten Leser: innen auf die drohenden Gefahren hinzuweisen. Dadurch gelingt es dem Erzpriester, das Risiko der Sünde mit seinem ungebrochen heiteren Ton zu verbinden. Die Sünde nimmt durch Don Amor und Doña Venus Gestalt an. Wie dies geschieht und welche Bedeutung sie für das LBA haben, wird im folgenden Kapitel erläutert, in dem die Figuren Don Amor und Doña Venus, die beiden Personifikationen der törichten Liebe, untersucht werden. 124 III Der Liebesbegriff im Libro de buen amor und im christlichen Kontext <?page no="125"?> 380 Cf. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Berlin: Rowohlt 1928, p. 225. 381 Cf. Leo Spitzer: „Kunst des Arcipreste“, pp. 267 sq., Fußnote 1. 382 Cf. J. Lara Helder: „Die Transformation von Ovids Metamorphosen im Ovide moralisé“, Eisodos - Zeitschrift für Literatur und Theorie, 2 (2018), 28-40, ibid. 32-33. IV Allegorien der weltlichen Liebe Aus christlicher Sicht sind Amor und Venus Götter, die für die erotische Liebe stehen. Daher liegt es nahe, sie als die Befürworter sündhaften Fehlverhaltens einzusetzen, die den Erzpriester sowie seine Leser: innen von der Liebe zum christlichen Gott abbringen wollen. Walter Benjamin erläutert, dass die Allegorien antiker Götter in ihrer Rezep‐ tion oft umgekehrt werden. 380 Sie tauchen in der abendländischen Literatur als böse Kreaturen auf, als gefallene Götter. 381 So ähnlich geschieht es auch im LBA: Don Amor und Doña Venus werden zwar nicht als gefallene Götter bezeichnet, aber sie verkörpern das Böse, die Verführung und die Sünde. Dass der Erzpriester im Zwiegespräch mit Don Amor auf Ovid verweist, an dem er sich orientiert, wenn er die weltliche Liebe beschreibt, gibt Anlass zu einem kurzen Exkurs über den Umgang mittelalterlicher Autoren mit Ovids Vermächtnis. IV.1 Ovide moralisé Dass sich mittelalterliche Texte mit der Frage befassen, wie man sich als gute: r Christ: in zu verhalten hat, ist keine Seltenheit. So erläutert z. B. Andreas Capellanus in DA seine Ansichten über die weltliche und christliche Liebe. Ebenso wenig selten war es, dass antike Mythen bzw. heidnische Gottheiten in diesen Werken auftraten. Ein Werk, in dem die antike Mythologie sogar mehr als „nur“ zentrales Thema war, ist der sogenannte Ovide moralisé aus dem 14. Jahrhundert. Hierbei handelt es sich um eine spätmittelalterliche französische Überarbeitung Ovids Metamorphosen durch einen unbekannten Autor, der diese um eine christliche Lesart ergänzt 382 , d. h. er unterstellt dem antiken Werk, christliche Motive und Botschaften zu enthalten, indem ein mehrfacher Schriftsinn verwendet worden sein soll, um diese zu verschleiern. Laut Jörg J. Berns geschah dies, weil auch Ovids Metamorphosen „wie das Alte Testament mit einem Schöpfungsbericht <?page no="126"?> 383 Jörg J. Berns „Mythographie und Mythenkritik in der Frühen Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung des deutschsprachigen Raumes“, in: Herbert Jaumann ed.: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit - Ein Handbuch, Berlin: De Gruyter 2011, pp. 85-155, ibid. p.-123. 384 J. Lara Helder: loc. cit., p.-35. 385 Jörg J. Berns: loc. cit., p.-100. 386 Cf. ibid. 387 Cf. LBA, cc. 181-652. 388 Cf. exempli gratia ibid., cc. 429, 436, 446, 451, 524, 612, 891. 389 LBA, c. 429: „Si leyeres Ovidio, el que fue mi crïado […]“, c. 612: „Don Amor a Ovidio leyó en la escuela […]“. beginnt und bis zur Zeit des Augustus führen“ 383 . J. Lara Helder erläutert: „Der unbekannte französische Autor sah in den Texten Ovids, oder vielmehr in seinen Mythen, eine allegorische Verschlüsselung der Schöpfung bis hin zu Christus, die es aufzudecken galt.“ 384 Als Beispiel für die Neuinterpretation der ovidischen Texte nennt Berns den Mythos von Orpheus und Eurydike, der im Ovide moralisé als Allegorie des „Verhältnisses der Gottheit zur Menschheit“ 385 umgedeutet wurde. Dies ist also ein Beispiel dafür, wie antike Mythen mit dem Christentum in Verbindung gebracht wurden. Man könnte meinen, die mittelalterlichen Au‐ toren hätten sozusagen auf Teufel komm raus versucht, den antiken Erzählern einen christlichen Hintergrund zuzuschreiben. Ganz anders verhält es sich aber beim LBA. Der Erzpriester scheint sich einer anderen Ansicht anzuschließen, nämlich derjenigen, die noch im 11. Jahrhun‐ dert die Werke Ovids für Anstiftung zur Unzucht hielten. 386 Die Gottheiten Don Amor und Doña Venus reden dem Christen ein, wie er sich verhalten müsse, um bei den Frauen gute Chancen auf weltliche Liebe zu erlangen. Vor allem Don Amor, gegen den sich der Erzpriester noch zu wehren versucht, beeinflusst ihn so lange, bis er endlich nachgibt und sich Doña Venus ehrerbietig zuwendet. 387 Es ist also zu vermuten, dass der Erzpriester, so fortschrittlich und innovativ er an manchen Stellen gewesen sein mag, hier noch an der Tradition des 11.-Jahrhunderts festhält, Ovid als Autor sündhafter Texte zu sehen. Ovid kommt insofern eine wichtige Rolle zu, als er mit seiner Ars amatoria einer der Ideengeber für die Endrina-Episode gewesen ist 388 , die erwiesener‐ maßen als Beispiel für loco amor dient. Außerdem bezeichnet sich Don Amor als Lehrmeister Ovids 389 und wird damit zum Schirmherrn über dessen Arbeit. Die Figuren des Don Amor sowie dessen Gattin sollen im Folgenden näher untersucht werden. 126 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="127"?> 390 Cf. Apuleius: Das Märchen von Amor und Psyche, ed. Kurt Steinmann, Stuttgart: Reclam 1978. 391 Cf. Hesiod: Theogonie - Griechisch/ Deutsch, ed. et transt. Otto Schönberger, Stuttgart: Reclam 1999, 188-204; Otto Schönberger ad locum, in: Theogonie, ed. Otto Schönberger, pp. 92 sq., Anmerkung zu 201. 392 Plutarch: Dialog über die Liebe - Amatorius, edd. et transtt. Herwig Görgemanns, Barbara Feichtinger, Fritz Graf, Werner G. Jeanrod, Jan Opsomer, Tübingen: Mohr Siebeck 2 2011, 758 C. 393 Cf. ibid., 756D-F und 759E-F. IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar Auffällig an Don Amor und Doña Venus ist nicht nur der Unterschied der Anrede, die der Erzpriester für sie wählt: Während Don Amor in den Strophen 181 bis 422 aufs Bitterste beschimpft wird und der Erzpriester versucht, sich gegen ihn zu wehren, wird Doña Venus in cc. 576-607 vergöttert und um Hilfe angefleht. Beide geben aber mehr oder weniger dieselben Ratschläge, weswegen es verwunderlich ist, warum sie so unterschiedlich angesprochen werden. Auch ihre Konstellation als Ehepaar, die nicht der römischen Mythologie entspricht, stellt die Leser: innen vor Fragen, die im Folgenden geklärt werden sollen. Aus der Literatur gibt es nur ein Beispiel, in dem sich der erwachsene Amor in eine Frau verliebt, die so schön wie seine Mutter ist, nämlich Psyche. 390 Aber der Erzpriester spricht nicht von einer Frau, die Venus ähnlich wäre, sondern von Venus selbst. Auch in den griechischen Mythen findet sich kein Hinweis auf eine Ehe zwischen Amor und Venus bzw. Eros und Aphrodite. In Hesiods Theogonie heißt es, Eros begleite Aphrodite auf ihrem Weg zum Olymp, aber es handelt sich nicht um den Urgott Eros, sondern um das Begehren, das ebenso zur Liebe gehört wie Himeros, die Sehnsucht. 391 Von einer Ehe oder einer anderen Liebesbeziehung zwischen Eros und Aphrodite ist also auch bei Hesiod nie die Rede. Plutarch bezeichnet Eros als den „Gefährten der Musen, der Grazien und der Aphrodite“ 392 und sieht Eros als die Kraft an, die das Werk der Venus vervollständigt bzw. veredelt 393 , worauf später noch einmal eingegangen wird. Aber auch bei Plutarch ist nie von einer Ehe der beiden Gottheiten die Rede. Daher stellt sich nun die Frage, ob der Erzpriester mit dieser Konstellation seiner Figuren etwas Bestimmtes ausdrücken wollte. Amor und Venus könnten zum Beispiel als eine Art Vorbild gelten, schließlich sind sie ehelich miteinander verbunden. Dennoch wäre dieses Vorbild mit Vorsicht zu genießen, denn die beiden raten sozusagen mit vereinten Kräften zur Verführung. IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar 127 <?page no="128"?> 394 Hier wird ebenfalls nicht zwischen „Autor“ und „Erzähler“ unterschieden, sondern von „Andreas“ gesprochen. Cf. Kapitel I.2. 395 Andreas aulae regiae capellanus / Königlicher Hofkapellan: De amore / Von der Liebe - Libri tres / Drei Brücher, ed. Fritz Peter Knapp, Berlin: Walter de Gruyter 2006. IV.2.1 Darstellung von Amor und Venus in De amore und dem Roman de la rose Amor und Venus stellen auch in anderen Werken des Mittelalters häufig eine Einheit dar, die den Liebenden anleiten soll. Zwei Beispiele hierfür sind Andreas Capellanusʼ DA und Guillaume de Lorrisʼ bzw. Jean de Meuns RR. Um die Rollen der beiden Götter erläutern und die Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede ihrer Darstellung in diesen Werken und im LBA angemessen beschreiben zu können, ist es notwendig, sie jeweils kurz zusammenzufassen. - IV.2.1.1 De amore Das Werk ist - anders als das LBA - in Prosa verfasst und besteht aus insgesamt drei Büchern, die Andreas 394 an einen bestimmten Leser, seinen Freund Walter, richtet. Walter soll ihn gefragt haben, was Liebe sei. Diese Frage beantwortet Andreas ausführlich, indem er (im ersten Buch) die Liebe zunächst definiert, dann schildert, zwischen welche Menschen es Liebe geben kann und wie diese aussieht. Im Anschluss erläutert er, zwischen wem es keine Liebe geben soll und warum; im zweiten Buch erklärt er, wie man Liebe bewahrt und steigert, aber auch wie man sie wieder verliert bzw. was die Liebe beendet; in seinen Schilderungen tauchen Liebesgerichte auf, die fragliche Konstellationen und Situationen zwischen Liebenden beurteilen, er zählt die 31 Gebote der Liebe auf und zum Schluss (im dritten Buch) verwirft er all das bisher Gesagte, indem er die weltliche Liebe als sicheren Weg in die Sünde und Ungnade Gottes bezeichnet, die auch die Verurteilung und Verachtung aller guten Menschen nach sich zieht. 395 Einen Hinweis darauf, dass noch ein negatives Urteil über die Liebe gefällt wird, findet man bereits zu Beginn des ersten Buches, wo es heißt, es sei eigentlich nicht förderlich, sich mit solchen Dingen wie der weltlichen Liebe zu beschäftigen - dennoch sei es wichtig, Unterweisungen in Sachen weltlicher Liebe zu äußern, um zu warnen, damit die Menschen die Versuchung erkennen 128 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="129"?> 396 DA, Praefatio. Dorothy C. Clarke ist sich sicher, dass das LBA eine Satire bzw. eine Parodie auf Andreasʼ Werk sein soll. Sie begründet dies u. a. mit der Popularität, die DA genoss, und dass ein so beliebtes Werk leicht zur Zielscheibe für Parodie und/ oder Satire wurde. Cf. Dorothy C. Clarke: „Juan Ruiz and Andreas Capellanus“, HR, vol. 40, 4 (1972), 390-411. Dieser Standpunkt kann hier nicht bestätigt werden. Ob der Erzpriester Andreasʼ Werk kannte und sich davon inspirieren ließ, muss Spekulation bleiben. Die beiden Werke ähneln sich bezüglich ihrer Thematik und in manchen Teilen auch im Aufbau, daher könnte es natürlich sein, dass der Erzpriester DA als eine seiner Vorlagen verwendet hat, aber Gattung, Stil und auch die Argumentation sind z. T. so verschieden, dass hier nicht von einem so engen Zusammenhang gesprochen wird, wie Clarke ihn in ihrem Aufsatz darstellt. Zwar wird in beiden Werken die Gottesliebe als einzig wahres Ziel im Leben eines Christen identifiziert, aber im LBA stehen die Zerrissenheit des Menschen und sein ewiger Kampf gegen die Versuchung im Vordergrund, während Andreas die möglichen Fallen der weltlichen Liebe anhand von Konversationen und Konstellationen erläutert, um diese dann am Ende als sündhaft zu verwerfen. An einer Stelle hat Clarke sicher recht: Die Gebirglerinnen sind als eine Parodie auf die höfische Liebe allgemein zu lesen. (Cf. ibid., 403.) Die weiteren inhaltlichen Parallelen, die Clarke zieht, sind erkennbar, aber nicht unbedingt im Sinne einer konkreten Bezugnahme auf einzelne Szenen, sondern vielleicht eher als eine Art literarische „Mode“, schließlich gab es noch weitere Werke, die sich ebenfalls mit weltlicher und höfischer Liebe befassten, die wiederum im Gegensatz zu göttlicher Liebe steht, wie z.-B. der RR oder Ibn Hazms Halsband der Taube. Beide Werke finden im Verlauf dieser Dissertation Erwähnung. DA wird hier dennoch als Beispiel herangezogen, weil die in diesem Kapitel behandelte Frage nicht auf parodistische oder satirische Bezüge zwischen den beiden Werken gerichtet ist, sondern auf Darstellungen des Liebesgottes und der Liebesgöttin. und sich vor ihr hüten können. 396 Diese Rechtfertigung zum Verfassen des Werks kennen wir aus dem Prosaprolog des LBA. In DA werden in den ersten beiden Büchern detailliert alle möglichen Fälle der weltlichen Liebe in Form von Gesprächen zwischen den potentiellen Liebenden, d. h. Männern und Frauen unterschiedlicher Stände geschildert. List und Tücke zum Erreichen der weltlichen Liebe werden dabei ebenso eingebaut wie im LBA. Versteckte Heiterkeit und Ironie sind auch hier gegeben. In Buch I wird zunächst die Liebe definiert: Amor est passio quaedam innata procedens ex visione et immoderata cogitatione formae alterius sexus, ob quam aliquis super omnia cupit alterius potiri amplexibus et omnia de utriusque voluntate in ipsius amplexu amoris praecepta compleri. Die Liebe ist ein im Inneren geborenes Erleiden (passio), welches aus dem Anblick und der unmäßigen gedanklichen Beschäftigung (cogitatio) mit der Wohlgestalt (forma) des anderen Geschlechts hervorgeht, derentwegen man sich über alles wünscht, die IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar 129 <?page no="130"?> 397 DA, I,i,1. 398 Cf. ibid., I,i,2-13. 399 Cf. ibid., I,iii,1-2. 400 Cf. ibid., I,iv,1-5. 401 Cf. ibid., I,v,1. 402 Cf. Kapitel III.3.3; Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p. 307, Fußnote zu c. 877c. Umarmungen des anderen zu erlangen und alle Vorschriften der Liebe nach dem Wunsch beider in der Umarmung des anderen erfüllt zu sehen. 397 Hier besteht also kein Zweifel, dass mit „amor“ die weltliche Liebe gemeint ist, denn in der o. g. Definition ist nur von körperlicher Zuwendung die Rede, nicht von Gottes Liebe bzw. Gottesliebe. Dass die weltliche Liebe Ängste und quälende Sehnsucht hervorruft, wird direkt im Anschluss geschildert. Ebenso wird festgehalten, dass die Liebe nur zwischen den Geschlechtern stattfinden kann, nicht innerhalb eines Geschlechts. Zudem ist für das Zustandekommen der Liebe der Einsatz eines Boten erforderlich. 398 Ganz besonders interessant für diese Dissertation ist aber auch die Herleitung des Wortes „amor“. So erläutert Andreas, dass es ursprünglich vom lateinischen „amo“ (dt.: „fangen“ bzw. „gefangen werden“) käme und sich auf das Gefangen‐ sein in den Fesseln der Begierde beziehe bzw. auf den Wunsch, eine Person einzufangen. 399 Die Nähe zum Motiv der Gefangenschaft (s. Kapitel II.1) wird hier noch einmal deutlich. Die Wirkung der Liebe ist, laut Andreas, eine Veredelung des Aussehens und der Tugenden. Außerdem verhindert die Liebe Unzucht, denn sie macht einen Mann keusch, da er nur eine einzige Frau begehrt. 400 Tauglich zur Liebe sind diejenigen, die über Verstand ebenso verfügen wie über die Fähigkeit, die Werke der Venus auszuführen. 401 Das meint tatsächlich die physische Fähigkeit, den Geschlechtsakt zu vollziehen. Auf diese Fähigkeit kommt Andreas auch in den weiteren beiden Büchern zu sprechen und spart auch nicht an dem ein oder anderen Detail, was ein weiterer Unterschied zum LBA ist. Der Erzpriester spricht nie so konkret von der Ausübung der fleischlichen Liebe - zumindest in den drei überlieferten Handschriften. Wie wir gesehen haben, wurde ein Teil der Endrina-Episode entfernt. Ob hier vielleicht „anstößige“ Inhalte zu finden waren, kann also nicht genau gesagt werden, es ist aber zu vermuten, ansonsten hätte es wahrscheinlich keinen Grund für den „lector moralista“ 402 gegeben, die entsprechenden Seiten zu vernichten. Bei der ersten Gebirglerin könnte man herauslesen, dass sie ihren Gast zum Geschlechtsverkehr verführt, denn in c. 971 müssen zum „Kampf “ die Kleider ausgezogen werden und der Besucher muss 130 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="131"?> 403 LBA, c. 971f. 404 Cf. LBA, c. 981. 405 Cf. Joan Corominas ad locum, in: LBA, ed. Joan Corominas, p.-382, Fußnote zu c. 981d. 406 Cf. LBA, c. 982c. 407 Cf. ibid., c. 984b. 408 Ibid., c. 984c. 409 Cf. DA, I,v,2-8. Das geeignete Alter für die Liebe wird erneut in I,vi,453-457 erwähnt. tun, was bzw. so viel seine Gastgeberin wollte („ove a fazer quanto quiso“ 403 ). Auch bei der zweiten Gebirglerin sind Anspielungen zu finden: Sie führt den Erzpriester an der Hand in ihre Hütte, um mit ihm „el juego por mal de uno“ zu spielen. 404 Laut Corominas bezieht sich dieser Ausdruck auf ein Lied, in dem es eventuell um eheliche Untreue geht. 405 Da die Gebirglerin nicht sagt, dass sie dieses Lied singen möchte, sondern das Spiel spielen will, könnte man an dieser Stelle vermuten, dass sie ihren Gast in ihre Hütte einlädt, um ihn zu verführen. Auch die nachfolgenden Strophen klingen nach Anspielungen: Der Erzpriester antwortet auf die Einladung, er könne nüchtern nicht gut kämpfen („luchar“) 406 . Sie bittet eindringlich, er möge noch bleiben, weil es ein Feuer zu löschen gäbe, was ihr allein nicht gut gelingt („ca mala es de amatar el estopa de que arde“) 407 ; er wiederum flüchtet geradezu mit den Worten: „Estó de priessa, ¡sí Dios de mal me guarde! “ 408 Er müsste Gott wohl nicht um Schutz vor Unheil bitten, wenn es wirklich nur darum gegangen wäre, ein Lied zu singen oder ein harmloses Spiel zu spielen. Aber zurück zu DA und Andreasʼ Ausführungen über die Liebe. Frauen sind laut Andreas ab dem zwölften, Männer ab dem 14. Lebensjahr geschlechtsreif, aber erst ab dem 18. Lebensjahr können Männer gute Liebhaber werden, weil sie vorher weder reif noch beständig genug seien. Hinderlich für die Liebe sind allerdings körperliche Gebrechen wie Alter und Blindheit, aber auch übermäßige Wollust. 409 Erwerben kann man Liebe durch äußere Schönheit, sittlichen Wert und rhetorische Fähigkeiten. Ein Übermaß an Reichtum und die rasche Gewährung einer Bitte, d. h. die schnelle Zusage zu einem um Liebe Werbenden, können ebenfalls zum Erwerb der Liebe führen, werden aber nicht empfohlen. Auch hier wird dringend davor gewarnt, die Liebe publik zu machen, weil das gerade Erworbene sonst wieder verlorengehen könnte. Außerdem soll sich eine Frau einen sittlichen und uneitlen Mann suchen. Ebenso sollen auch Männer darauf achten, eine Frau zu finden, die nicht übermäßig geschminkt ist, denn wer zu viel Wert auf Äußeres legt, hat nicht viel für gute Sitten übrig. Viel eher als Schminke stehen Frauen Klugheit und Redegewandtheit zu Gesicht. Aber vor allem spielen die guten Sitten eine herausragende Rolle. Sie kommen noch vor der edlen Herkunft oder großem Reichtum. Liebenswerte Frauen sind IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar 131 <?page no="132"?> 410 Cf. ibid., I,vi. 411 Cf. ibid., I,xi. 412 Heiraten wollen die dritte und die vierte Gebirglerin. Cf. LBA, cc. 993-1042. 413 Cf. Publius Ovidius Naso: Ars amatoria. Liebeskunst - Lateinisch/ Deutsch, ed. et transt. Michael von Albrecht, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1992, I, 505-524. 414 Cf. ibid., III, 101-208. 415 Cf. LBA, cc. 429-435, 444-445. 416 Cf. ibid., c. 429. 417 Cf. LBA, cc. 1485-1489; Kapitel II.1; Anthony N. Zahareas: op. cit., pp. 144-146. entweder bürgerlich, adelig oder hochadelig. Männer können aus diesen drei Ständen kommen oder auch noch zu den Alleredelsten gehören, nämlich den Klerikern. 410 Was es mit diesem Stand auf sich hat, wird später betrachtet. Bauern und Bäuerinnen sind nicht zur höfischen Liebe in der Lage, weil sie wie die Tiere ihren Trieben unterworfen sind. Ganz anders als Juan Ruiz, der das LBA extra für ein möglichst breites Publikum geschrieben zu haben scheint, glaubt Andreas, diese Unfähigen in Liebesdingen zu unterrichten, sei unnötig, weil sie sowieso nicht in der Lage wären, die Lehren zu verstehen. Allerdings dürfe man, wenn einem eine Bäuerin gefällt, sie sogar mit Gewalt zur körperlichen Liebe zwingen. 411 Als Bäuerinnen könnte man im LBA die Gebirglerinnen bezeichnen, die aber ganz anders gezeichnet werden. Es handelt sich um monströse Weiber, die eher den Wanderer, also den Erzpriester, zu sexuellen Handlungen und sogar zur Heirat zwingen wollen. 412 Wenn in DA die guten Sitten einer liebenswerten Person hervorgehoben werden und eine schlichte, aber gepflegte Erscheinung die Attraktivität eines Mannes bzw. einer Frau als Pluspunkte bei der Suche nach einem/ einer Ge‐ liebten verstanden wird, erinnert das zunächst an beispielsweise Ovids Ars amatoria. Hier werden sowohl Männern als auch Frauen Ratschläge für gutes Benehmen und Körperpflege gegeben, um für die Liebessuche geeigneter zu sein. Was Ovid rät, ähnelt den Anweisungen aus DA: Ein Mann soll unter anderem immer gewaschen und gepflegt sein 413 , eine Frau hingegen soll auf zu viel Schminke und teure Kleidung verzichten; ihr Äußeres sollte möglichst natürlich und ebenfalls gepflegt sein. 414 Es scheint, als hätte sich auch der Arcipreste an diesen Richtlinien orientiert, schließlich wird keine seiner An‐ gebeteten als übermäßig bemalt oder mit ausladendem Schmuck behangen beschrieben. Don Amor zeichnet in seinem Schönheitskatalog zwar das Idealbild einer wohlgeformten Frau 415 und bezieht sich dabei ganz klar auf Ovid 416 , aber geschminkt und teuer gekleidet ist sie nicht. Das Schönheitsideal des Mannes zeigt uns der Erzpriester, wenn er „sich selbst“ bzw. Don Polo beschreibt. Auch hier handelt es sich um einen stattlichen, ansehnlichen Mann. 417 Dass sich Autoren der Liebesdichtung über Jahrhunderte hinweg einig sind, wie das 132 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="133"?> 418 Cf. Clemens von Alexandrien: Paidagogos (Paedagogus), in: Des Clemens von Alexandreia ausgewählte Schriften, transt. Otto Stählin, Kempten/ München: J. Kösel/ F. Pustet 1934 (Des Clemens von Alexandreia ausgewählte Schriften, vol. 1; Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, vol. 7), III.XI.53.1, 56.1, 57.2, 57.4, 60.2-3, 62.3, 64, 75.1-3. 419 Cf. Ars amatoria, I,89-100. 420 Cf. Paidagogos, III.XI.77.2. 421 Cf. ibid., III.XI.70 Äußere einer geliebten Person beschaffen sein soll, ist nicht verwunderlich. Interessant sind diese Beschreibungen v. a., wenn man in Betracht zieht, dass auch Clemens von Alexandrien in seinem Paidagogos eine Art Schönheitska‐ talog für Männer und Frauen aufgestellt hat - allerdings geht es hierbei nicht darum, wie man für das andere Geschlecht attraktiv wirkt, sondern wie man als gute: r Christ: in aufzutreten hat: Schmuck und weiche Kleidung sind zwar nicht gänzlich verboten, aber nur in Maßen erlaubt, Frauen sollen sich anständig und ihrer Stellung angepasst anziehen, Schmuck und Schminke sind einer Frau nur erlaubt, wenn sie ihrem eigenen Mann gefallen will, ansonsten ist Schlichtheit das oberste Gebot. Geflochtenes Haar ist nicht nur etwas für Dirnen, sondern auch gesundheitsschädlich. Auf unnötige Schminke sollten Frauen möglichst verzichten. Tugendhaftigkeit und eine gesunde Ernährung ersetzen die künstliche Schminke. Männer tragen bei Clemens einen gepflegten, aber starken Bart und halten sich von Kauf- und Barbierläden ebenso fern wie vom Glücksspiel. Außerdem pflegen sie nur mit guten Menschen Umgang. 418 So werden Parallelen zwischen den Schönheitskatalogen und Verhaltenskodizes zwischen den Autoren der Liebesdichtung und dem Kirchenvater sichtbar. Dass Männer und Frauen also auf sich achten sollen, ohne Schmuck und Kleidung betreffend auszuschweifen, ist sowohl für das Erreichen der weltlichen als auch der göttlichen Liebe notwendig. An zwei Punkten unterscheiden sich die Ansichten doch: Während Ovid rät, man solle ins Theater gehen, um dort potenzielle Geliebte zu finden 419 , warnt Clemens geradezu davor, denn im Theater oder bei musikalischen Darbietungen werden „leichtfertige Lüste“ gereizt. 420 Und während in der Liebesdichtung die Augen eine wichtige Rolle spielen, nimmt doch das Auge die Schönheit wahr, sodass die Liebe ihren Lauf nehmen kann, so sind die Augen für Clemens das Tor zur Sünde. 421 Der Grund hierfür ist eigentlich derselbe in beiden Fällen: Das Entertainment eines Theaterbesuchs lenkt von Gott ab; die Augen sind empfänglich für die weltliche Schönheit und Liebe, was für Clemens Sünde bedeutet. Aber zurück zu denjenigen, die zur höfischen Liebe fähig sind. Andreas skizziert in den folgenden Kapiteln Situationen bzw. Konversationen zwischen den verschiedenen o. g. Ständen, d. h. wir lesen erst von bürgerlichen Männern, IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar 133 <?page no="134"?> 422 Cf. DA, I,vi,21-564. 423 Cf. ibid., I,vi,240. 424 Cf. ibid., I,vi,222-275. die sich an gleich- und höhergestellte Damen wenden, also von der Liebeswer‐ bung eines Bürgers an eine Bürgerin, eines Bürgers an eine Adelige und eines Bürgers an eine Hochadelige. Danach wird eine Konstellation geschildert, in der der Mann höher steht als die Frau, d. h. es folgt ein Gespräch zwischen einem werbenden Adeligen und seiner verehrten Bürgerin, dann ein Gespräch zwischen zwei Adeligen. Im Anschluss wird beschrieben, was ein Hochadeliger zu einer Bürgerin sagen würde und ein Hochadeliger zu einer Adeligen. Zu guter Letzt sprechen noch zwei Vertreter des Hochadels miteinander. 422 Der Hochadelige erklärt der Bürgerin den sogenannten Liebespalast, in dem der Liebesgott mit Damen verschiedener Ränge verweilt, die ihrem Stand entspre‐ chend den Männern unterschiedlich schnell Zutritt zum Palast gewähren. Er schildert eine angebliche Reise durch einen Wald mit anderen Rittern, als er noch selbst ein Schildknappe war, bei der er sich verirrt und sich einer Schar Reiter anschließt, die vom König der Liebe angeführt wird. Diese besteht aus Liebenden verschiedenster Art, von den edlen bis zu den schändlichsten. Später werden die Reiter als das „Heer der Toten“ 423 bezeichnet, in dem die Frauen nach ihrem Ableben für die Dienste geehrt bzw. bestraft werden, die sie den Männern im Leben erwiesen haben. Nach einer gemeinsamen Reise gelangen der Schildknappe und das Heer an einen Ort mit schönen Wiesen und duftenden Bäumen, an dem die Damen des Heers ihren Rängen entsprechend in drei Bereichen Platz nehmen. Im Innersten dieses schönen Ortes sitzt die Königin der Liebe, die ihren Gatten freudig empfängt. Der Schildknappe wünscht, den Ort zu verlassen, braucht dafür aber die Erlaubnis des Königs. Er geht zu ihm und bittet darum, in Liebesdingen unterrichtet zu werden. Der König lehrt ihn die zwölf Hauptregeln: Man soll die Habsucht meiden, für die Geliebte keusch bleiben, einem anderen Mann die Frau nicht abspenstig machen, keine Verwandte lieben, nicht lügen, die Liebe geheim halten, den Liebesdienst im Sinne der Frauen vollziehen, sowohl beim Spenden als auch Empfangen der Liebe Rücksicht auf das Schamgefühl nehmen, nicht schmähsüchtig sein, die Liebe nicht öffentlich preisgeben, höfisch und höflich sein und beim Liebesspiel nicht mehr verlangen als die Geliebte will. Diese Regeln soll der Schildknappe den Damen weitergeben, sollten sie sich weigern, sich auf die Liebe einzulassen. Er wird mit einem Kristallstab ausgerüstet und darf den Ort nun verlassen. Der Kristallstab dient quasi als Schlüssel, denn er muss ihn in einen Fluss werfen, um aus dem Wald reiten zu dürfen. 424 Hier endet die Erzählung des Hochadeligen 134 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="135"?> 425 Cf. exempli gratia ibid., I,i,11-12. In II,v,3 wird berichtet, dass ein Bote aber durchaus ein Störfaktor in der Liebe sein kann, nämlich dann, wenn er die Geliebte selbst zu erobern sucht. 426 Cf. ibid., I,vi,41-67. 427 Cf. ibid., I,vi,70-77. 428 Cf. ibid., I,vi,192,202-208. 429 Ibid., I,vi,135. In der Elberfelder Bibel lautet das Zitat: „Wir wissen aber, dass das Gesetz gut ist, wenn jemand es gesetzmäßig gebraucht, indem er dies weiß, dass für einen Gerechten das Gesetz nicht bestimmt ist, sondern für Gesetzlose und Widerspenstige, für Gottlose und Sünder, für Heillose und Unheilige, Vatermörder und Muttermörder, Mörder, Unzüchtige, mit Männern Schlafende, Menschenhändler, Lügner, Meineidige, und wenn etwas anderes der gesunden Lehre entgegensteht, nach dem Evangelium der Herrlichkeit des seligen Gottes, das mir anvertraut worden ist.“ (1Tim 1,8-11.) über den König der Liebe. Auf diesen wird noch einmal eingegangen, wenn der Vergleich zwischen LBA, DA und RR gezogen wird. In den oben genannten Gesprächen werben die Männer mal mehr, mal weniger erfolgreich um die jeweiligen Damen, wobei die Damen sich stets als sittlich und tugendhaft zeigen. Die Männer versuchen, mit schönen Worten und der ein oder anderen List die Damen dazu zu bringen, ihnen ihre Liebe zu schenken. Vergleicht man diese Gesprächssituationen mit den Szenen aus dem LBA, fällt zunächst auf, dass in DA zwar ab und zu erwähnt wird, dass man einen Boten einschalten soll 425 , alle Gespräche aber direkt zwischen den Liebenden stattfinden. Ob diese Gespräche zuvor von Boten eingeleitet wurden, wird in DA nicht gesagt. Man lernt aber auch ganz allgemeine Dinge über die Liebe: Als liebenswert gelten diejenigen Männer, die in ihrem Leben gute Taten vollbracht haben; und je älter ein Mann ist, desto mehr Zeit hatte er, um gute Taten zu vollbringen, erklärt der Bürger seiner angebeteten Bürgerin. Damit er sich ans Werk machen kann, braucht er aber ein Zeichen von ihr, ob er Hoffnung auf ihre Liebe haben kann, denn diese wäre die Motivation für besagte Taten. 426 Ein Bürger erklärt seiner geliebten adeligen Dame, dass Leben und Tod von der Liebe bzw. der Gunst der Frau abhängen 427 - die Parallelen von Leben und Liebe, Tod und Verlust der Liebe sind ähnlich wie im LBA und wiederholen sich auch in DA öfter. 428 Besonders interessant ist natürlich auch die Passage, in der ein Bürger einer hochadeligen Frau erläutert, dass die Stände nur geschaffen wurden, weil manche Menschen für unwürdig erachtet wurden, und dies nicht auf ihn zuträfe, und zur Beweisführung den Apostel Paulus heranzieht, indem er 1Tim 1,9 zitiert: „Das Gesetz wurde nicht für den Gerechten aufgestellt, sondern für die, die sündigen wollen“. 429 Andreas lässt also seine Figuren im Zuge der Liebeswerbung Bibelzitate anführen. Diese Bibelpassage ist allerdings mehr als verdreht. Es geht darum, dass das Gesetz denjenigen dienen soll, die gesündigt haben und sich zum Guten wenden wollen, wie wir IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar 135 <?page no="136"?> 430 Cf. Kapitel III.2.2. 431 Cf. DA, I,vi,163. 432 Cf. exempli gratia ibid., I,vi,11-14; I,vi,41-43; I,vi,116. 433 Cf. exempli gratia ibid., I,vi,349. 434 Cf. ibid., I,vi,367-382. Dieses Argument, Liebe bestehe zwischen Eheleuten nicht, wird an diversen weiteren Stellen wiederholt, z. B. in I,vi,444 und I,vii,42. Die adelige Dame behauptet hier aber, zwischen Eheleuten bestehe sehr wohl Liebe, weil auch sie sich nach den Umarmungen des jeweils anderen sehnen und Eifersucht empfinden könnten. 435 Cf. Fritz Peter Knapp ad locum, in: DA, ed. Fritz Peter Knapp, p.-227, Fußnote 278. 436 Cf. DA, I,vi,390-400. es aus Mk 2,17 kennen und mit Nygren 430 bereits analysiert haben. Da wir nun schon wissen, dass mit dem dritten Buch eine Verurteilung dieser Werbung folgt, muss diese Vorgehensweise als trügerisch eingestuft werden. Schließlich kann man davon ausgehen, dass die Bibel nicht als Mittel zur Erreichung weltlicher Liebe benutzt werden sollte. Die Liebe an sich ist die Wurzel alles Guten in der Welt 431 , denn gute Sitten und gute Taten bzw. ein hoher innerer Wert sind für Liebende Grundvoraussetzungen - fehlen ihnen diese, sind sie nicht würdig zu lieben bzw. geliebt zu werden. 432 Eng damit verknüpft ist auch der Dienst an anderen Frauen: Um seiner Angebeteten zu gefallen, soll der Mann auch anderen Frauen zu Diensten sein. 433 Allerdings erläutert der Hochadelige, dass es zwischen Eheleuten grundsätzlich keine Liebe gäbe, weil die Ehe die Affekte unterbinde, die zur Ausübung der Liebe notwendig seien, schließlich lebe die Liebe von maßlosem Streben danach, eine heimliche Umarmung mit Lust zu erwarten. Eheleute müssten sich um solche Umarmungen nicht mehr bemühen, d. h. das Streben entfällt und auch die Ungewissheit, ob man die Umarmung tatsächlich bekommt. Außerdem sind Ehen öffentlich und, wie wir wissen, muss Liebe geheim gehalten werden. Der Hochadelige behauptet, Eheleute seien nicht eifersüchtig aufeinander, was aber eine grundlegende Voraussetzung für die Liebe sei. 434 Hinter der Idee der Ehe stehe die Vermeidung der Unzucht und die Zeugung der Nachkommenschaft - nicht mehr und nicht weniger. 435 Eine Entscheidung in dieser Debatte wird der Gräfin der Champagne überlassen, die als Liebesrichterin dienen soll. Die Liebenden schreiben ihr einen Brief mit eben dieser Frage, auf den die Gräfin ebenfalls schriftlich antwortet. Sie urteilt, es gäbe zwischen Eheleuten tatsächlich keine Liebe, weil die Ausübung der Liebe in einer Ehe auf Pflichten basiere und es zwischen den Gatten keine Eifersucht mehr gäbe. 436 Bezeichnenderweise unterscheidet Andreas zwischen einer reinen Liebe (amor purus) und einer gemischten Liebe (amor mixtus). Die reine Liebe ver‐ bindet zwei Liebende in zärtlicher Zuneigung, wobei körperliche Nähe nicht ausgeschlossen ist, aber die letzte Wonne (extremum solatium) ausgelassen wird, 136 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="137"?> 437 Ibid., I,vi,472. 438 Cf. ibid., I,vi,470-475. 439 Ibid., I,vi,508. 440 Cf. ibid., I,vi,516. denn so weit dürfen die Liebenden nicht gehen. Diese Liebe kann grenzenlos sein und ist Grundlage für den inneren Wert, der so hochgepriesen wird. Angeblich sieht Gott in ihr kein echtes Vergehen, sondern nur eine „geringe Kränkung“ 437 . Sie ist auch Witwen, Jungfrauen und verheirateten Frauen (mit anderen Männern) gestattet, weil sie nicht rufschädigend ist, so der Hochadelige, der seine angebetete Hochadelige zur Liebe überreden will. Die gemischte Liebe lässt aber die Werke der Venus (Veneris opera) zu, dauert nur kurze Zeit an und lässt schnell nach. Sie hat Verletzung der Liebenden und die Beleidigung Gottes zur Folge. Der hochadelige Redner verdammt sie nicht, denn auch sie ist wahr und lobenswert, er will nur aufzeigen, welche Liebe man vorziehen soll. 438 An dieser Passage fallen gleich zwei Dinge auf: Zum einen wird aufgezeigt, wie Männer versuchen, die Frauen mit allen Mitteln auszutricksen, um an ihr Ziel zu gelangen; zum anderen werden auch hier zwei Arten der Liebe vorgestellt, wobei - anders als im LBA - beide Unterkategorien der weltlichen Liebe sind. Ebenso wie im LBA versucht auch in DA ein Mann, hier noch immer der Hochadelige, eine Frau, ebenfalls eine Hochadelige, mit Bibelzitaten dazu zu überreden, sich ihm hinzugeben, sodass das Sujet des LBA bereits hier auftaucht, wenn er zu ihr sagt: Praeterea, quod cupio et instanter desidero postulare, omni videtur ratione per‐ missum, ipso etiam veritatis auctore testante, qui dicit: „Petite et accipietis, pulsate et aperietur vobis.“ Des weiteren [sic]: Was ich wünsche und inständig ersehne, scheint aus jedem Grunde zu fordern erlaubt, da es sogar der Urheber der Wahrheit bezeugt, der sagt: „Bittet, und ihr werdet empfangen, klopft an, und es wird euch aufgetan.“ 439 Es wird also an dieser Stelle zwar nicht mit dem Begriff der Nächstenliebe gespielt, wie es der Erzpriester tut, aber Andreas zeigt seinen Leser: innen ein weiteres Mal mit diesem Zitat (Mt 7,7), wie liebestolle Verehrer den Wortsinn der Bibel verdrehen, um ihre geliebten Damen zu Handlungen der weltlichen Liebe zu überreden. Ein deutlicher Unterschied besteht aber zwischen dem LBA und DA, wenn es bei Andreas heißt, eine Frau dürfe einen Mann auch einladen, sie zu lieben. 440 Diese Art der Aktivität seitens der Frau taucht im LBA so nicht auf bzw. die Frauen, die im LBA auf den Mann zugehen, nämlich die Gebirglerinnen, werden IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar 137 <?page no="138"?> 441 Cf. LBA, cc. 950-1042. 442 DA, I,vii,2. 443 Cf. ibid., I,vii,1-4. 444 Ibid., I,vi,385. als abscheulich und ungehobelt dargestellt. 441 Dass auch eine gebildete, höfische Dame die Initiative ergreifen dürfe, scheint dem Erzpriester nicht in den Sinn gekommen zu sein, wenn er beschreibt, auf welch verschiedenen Wegen die weltliche Liebe zustande kommt bzw. wie sie sich selbst bei den Tugendhaftesten (der Nonne und dem Erzpriester) darstellt. Aber auch hier gilt es zu beachten, dass Andreas in Buch I und II die verkehrte Liebe beschreibt. Andreas spricht auch von der Liebe der männlichen Geistlichen. Diese sind demnach die Edelsten in der Bevölkerung, die ihren Adel dem göttlichen Willen verdanken. Dieser Adel verpflichtet sie zu einem unbefleckten Leben und dem „ritterlichen Dienst“ 442 an Gott. Hält sich ein Geistlicher nicht an diese Regeln, kann Gott ihm seinen Adel aberkennen. Aber - und nun gilt es, sich an den verdrehten Standpunkt in den ersten beiden Büchern von DA zu erinnern - weil auch Geistliche nur Männer sind und als Männer sehr schwer ohne Fleischeslust leben können, dürfen sie, wenn sie sich nicht gegen die Versuchungen wehren können, den Liebeskampf aufnehmen. Wenn sie sich dafür entscheiden, sollen sie sich gemäß ihrem weltlichen Stand verhalten und sich hierfür an den Worten orientieren, die Andreas für die verschiedenen Stände zuvor beschrieben hat. Es sei den Geistlichen ja quasi zu verzeihen, dass sie sich verführen lassen, schließlich leben sie ein vergleichsweise luxuriöses Leben und haben viel Zeit, um nachzudenken bzw. auf falsche Gedanken zu kommen. 443 Auch Andreas selbst nennt sich einen Liebhaber (amator Andrea) 444 , obwohl er selbst ein Geistlicher ist. Die Nähe zur Garoza-Episode aus dem LBA ist hier mehr als deutlich, was es damit aber auf sich hat, wird weiter unten besprochen. Ganz anders scheint es sich aber mit den Nonnen zu verhalten - und hier ist nichts von dem heiteren und ironischen Ton zu vernehmen, den man sonst im ersten Buch von DA wahrnehmen kann. Sich mit Nonnen einzulassen ist das Schlimmste, was man tun kann. Wer es dennoch tut, soll geächtet werden bzw. beiden Seiten, den betreffenden Männern und Nonnen, droht im Falle von Lie‐ beshandlungen die Todesstrafe. Einem solchen Mann ist nicht zu trauen, denn er zieht den Lustgewinn seinem Ansehen vor Gott und seinen Mitmenschen vor. Tatsächlich wechselt plötzlich der Ton im Text wieder und es wird - in nun teils vielleicht ironischer, teils in ernster Absicht - oberflächlich davon erzählt, dass Nonnen geliebt werden dürfen, aber es werden keine weiteren Details vermittelt, da es sich bei dieser Liebe um eine mehr als verwerfliche Tat handelt. Der Erzähler berichtet nun kurz von einer Begebenheit mit einer Nonne, 138 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="139"?> 445 Cf. ibid., I,viii,1-6. 446 Cf. LBA, cc. 1255, 1258. 447 Cf. DA, I,vi,415 unter Bezug auf 1Kor 7,32 sqq. 448 1Kor 7,32-36. 449 Cf. DA, I,ix,1-x,7. 450 Cf. ibid., I,xii. von deren Liebe er sich nur schwer wieder loseisen konnte, sich aber trotzdem besinnt, als ihm klar wird, was er angerichtet hat. Nonnen selbst sind leicht zu verführen, daher muss sich ein anständiger Mann am besten gänzlich von ihnen fernhalten. 445 Bei diesem Kapitel denkt man unweigerlich an die Nonnen, die in der Gefolgschaft Don Amors und Don Carnals im LBA der weltlichen Liebe durchaus zugewandt sind. 446 Die Möglichkeit, dass Mann und Frau bzw. Erzpriester und Nonne sich auch auf rein geistiger Ebene lieben können, wie Don Polo und Doña Garoza, scheint für Andreas nicht zu existieren. Gott zu dienen, wird in DA als das höchste Gut bezeichnet, aber wer das wirklich tun will, sollte, wie Paulus es empfiehlt, der weltlichen Liebe entsagen. 447 So lesen wir es bei Andreas, beim Erzpriester (wenn auch, wie nun dargelegt, auf ironische Weise) und natürlich auch bei Paulus selbst 448 . Andreas warnt außerdem vor der Liebe zu habgierigen Frauen und gekaufter Liebe. Zwar sei es schwer, eine nicht habgierige Frau zu finden, aber anscheinend gibt es sie und diese helfen ihren Männern, ihren Reichtum und Ruhm zu vermehren, statt sich übermäßig beschenken zu lassen, um die Männer, wenn sie ausgebrannt und bankrott sind, fallen zu lassen. Geschenke sind laut Andreas nur in einem gewissen Rahmen und gewissen Situationen angebracht, z. B. wenn eine Frau ein Geschenkt braucht, um eine akute Not zu lindern. Ebenso ist von Frauen abzuraten, die Bitten von Männern allzu leichtfertig nachgeben. Sich auf Frauen, die anscheinend von Wollust geleitet werden und nicht treu sein können - denn dazu ist ihre Wollust viel zu groß - einzulassen, wirft auch kein gutes Licht auf die Männer. Diese verspielen ihren guten Ruf ebenfalls mit einer solchen Liebe. 449 Die Verbindung mit Dirnen wird kurz und knapp abgehandelt: Sie ist verwerflich und rufschädigend für den Mann, der sich ihr hingibt. 450 Im zweiten Buch geht es um das Bewahren der Liebe, z. B. indem man sie geheim hält, sich maßvoll und klug der Geliebten gegenüber zeigt, ihr beisteht, wenn sie in eine Notlage gerät, Einsichtigkeit, Großzügigkeit (auch anderen Personen als der Geliebten gegenüber) und Tapferkeit an den Tag legt. Man soll sich nicht verstellen, sondern die Gesellschaft guter Menschen suchen, höfisch sein und auch die körperliche Liebe angemessen ausführen, solange man der Dame damit nicht lästig wird. Die eigentlich schon vollkommene Liebe wird gesteigert, indem man sich selten oder unter schwierigen Umständen sieht oder IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar 139 <?page no="140"?> 451 Cf. ibid., II,i,1-vi,39. 452 Cf. Ralph V. Turner: Eleonore von Aquitanien - Königin des Mittelalters, München: C.H.Beck 2012, pp. 11 sq. Turner steht dem Ruf Eleonores als Liebesrichterin zwar eher skeptisch gegenüber, erwähnt aber, dass sie als solche galt. Cf. ibid.; Theodore Evergates: Marie of France - Countess of Champagne, 1145-1198, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2018, exempli gratia pp. 34, 94, 101. Evergates sieht die Erwähnung Maries als Liebesrichterin in DA eher als parodistische Verwendung ihres Rufs als Kunstmäzenin. (Cf. ibid., p.-94.) 453 Cf. DA, II,vii,1-vi,51. Die einzelnen Urteile werden hier nicht wiedergegeben, weil das den Rahmen sprengen würde. ein bisschen Eifersucht ins Spiel bringt. Voneinander zu träumen, lässt die Liebe ebenso wachsen wie heimliche Blicke oder die leidenschaftliche Ausführung von Liebeshandlungen. Wenn sie doch eines Tages öffentlich gemacht wird und dennoch andauert, ist das eine große Steigerung. Schlecht für die Liebe ist es aber, wenn man sie zu leicht bekommt oder Armut von ihr ablenkt. Wer das Schamgefühl einer Frau missachtet oder dumm und unbeholfen wirkt, verliert sie schnell. Feigheit, Unnachgiebigkeit, Untreue (auch Freunden gegenüber), Habsucht, Streitsucht und Tücke lassen die Liebe ebenfalls rapide schwinden. Untreue gegenüber der geliebten Person, das (zu frühe) Veröffentlichen der Liebe, den/ die Geliebte/ n im Stich zu lassen, Arglist, sexuelle Unfähigkeit, ausgeprägte Wut und Furcht sind Gründe, um die Liebe auf jeden Fall enden zu lassen. Eine Rückkehr zur Liebe ist äußerst schwierig bis unmöglich. Nach weiteren Hinweisen, wie man herausfindet, ob man wirklich geliebt wird 451 , folgen 21 Liebesurteile. Königin Eleonore und ihre Tochter Marie, die Gräfin der Champagne, die tatsächlich als Förderinnen der Liebesdichtung galten 452 , werden in Briefen um ihre Meinungen zu verschiedenen Liebeskonstellationen gebeten, die sie auch darlegen. 453 Was darauf folgt, ist für diese Dissertation und v. a. für die Darstellung von Venus und Amor wichtig: In einer Art Artussage wird erzählt, wie sich ein Ritter auf Reisen macht, um König Arthur zu suchen, dabei ein Mädchen findet, das ihn durch einen Wald voller Abenteuer begleitet, um wiederum einen Liebespfand für seine Geliebte, einen Sperber aus dem Palast König Arthurs, zu erlangen. Im Zuge seiner Reise gelangt der Ritter zu einem Palast, wo er tapfer gegen den Torwächter kämpft, der ihm den Zutritt verwehren will. Der Ritter besiegt den Wächter und erstreitet sich einen Sperberhandschuh. Er reitet damit weiter und erreicht einen zweiten Palast, in dem er König Arthur findet. Der Ritter bittet um den Sperber, aber der König entgegnet, er müsse darum kämpfen. Natürlich gewinnt der Ritter und bekommt den Sperber. Bei diesem befindet sich aber ein Schriftstück, in dem die Regeln der Liebe festgehalten wurden. Auch dieses nimmt der Ritter an sich, denn darin heißt es, die Inhalte, die der König der Liebe 140 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="141"?> 454 Cf. ibid., II,viii,1-43. selbst verkündet habe, sollten allen Liebenden mitgeteilt werden. Er verlässt den Palast, reitet durch den Wald zurück, trifft die Dame wieder, die ihm den Weg gewiesen hatte, verabschiedet sich von ihr und verkündet nach seiner Heimkehr die 31 Liebesregeln 454 : I. Der Rechtsgrund der Ehe ist keine gültige Entschuldigung für die Ableh‐ nung der Ehe. II. Wer nicht eifersüchtig ist, kann nicht lieben. III. Niemand kann durch eine zweifache Liebe gebunden sein. IV. Es steht fest, daß die Liebe immer wächst oder abnimmt. V. Nichts Süßes ist es, was ein Liebender vom anderen gegen dessen Willen nimmt. VI. Der Mann pflegt erst bei voller Geschlechtsreife (plena pubertate) zu lieben. VII. Eine zweijährige Witwenschaft/ Witwerschaft wird nach dem Tode eines Liebespartners/ einer Liebespartnerin dem/ der überlebenden vorge‐ schrieben. VIII. Niemand soll ohne Verfehlung der Vernunft seiner Liebe beraubt werden. IX. Niemand kann lieben, wenn er nicht durch die Überzeugungskraft der Liebe (amoris suasione) dazu getrieben wird. X. Die Liebe pflegt immer aus den Behausungen der Habsucht verbannt zu sein. XI. Es geziemt sich nicht, Frauen zu lieben, mit denen man sich schämt eine Ehe anzustreben. XII. Der/ die wahrhaft Liebende begehrt aus Neigung ausschließlich die Um‐ armungen seines Liebespartners/ seiner Liebespartnerin, keines/ keiner an‐ deren. XIII. Die Liebe pflegt selten anzudauern, wenn sie öffentlich gemacht worden ist. XIV. Leichte Erlangung macht die Liebe verächtlich, eine schwierige läßt sie wertvoll erscheinen. XV. Jeder/ jede Liebende pflegt beim Anblick des Liebespartners/ der Liebespart‐ nerin zu erbleichen. XVI. Beim plötzlichen An[b]lick des Liebespartners/ der Liebespartnerin klopft das Herz des/ der Liebenden heftig. XVII. Eine neue Liebe nötigt die alte zu weichen. XVIII. Nur der innere Wert macht jemanden der Liebe würdig. XIX. Wenn die Liebe abnimmt, hört sie rasch auf und erholt sich selten wieder. XX. Ein Verliebter/ eine Verliebte ist immer voller Furcht. IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar 141 <?page no="142"?> 455 Ibid., II,viii,44-48. 456 Cf. ibid., II,viii,49-50. XXI. Durch wahre Eifersucht wächst immer das Gefühl der Liebe. XXII. Regt sich ein Verdacht gegen den Liebespartner/ die Liebespartnerin, so wachsen Eifersucht und Liebesgefühl. XXIII. Wen Liebesgedanken quälen, der schläft und ißt weniger. XXIV. Jede Handlung eines/ einer Liebenden mündet in das Denken an den Liebespartner/ die Liebespartnerin. XXV. Der/ die wahrhaft Liebende hält nur das für gut, was seiner Meinung nach dem Liebespartner/ der Liebespartnerin gefällt. XXVI. Liebe könnte der Liebe nichts verweigern. XXVII. Der/ die Liebende kann von den Liebesfreuden mit seinem Liebes‐ partner/ seiner Liebespartnerin (coamantis solatia) nie genug bekommen. XXVIII. Eine schwache Vermutung bringt den Liebenden/ die Liebende dazu, von dem Liebespartner/ der Liebespartnerin schlecht zu denken. XXIX. Wen allzu große Wollust quält, der pflegt nicht zu lieben. XXX. Der/ die wahrhaft Liebende wird ununterbrochen von der beständigen Vorstellung seines Liebespartners/ seiner Liebespartnerin (coamantis ima‐ ginatione) in Beschlag genommen. XXXI. Nichts verbietet einer Frau, von zwei Männern, und nichts dem Mann, von zwei Frauen geliebt zu werden. 455 Die Geliebte des Ritters nimmt den Sperber und somit auch den Ritter als ihren Geliebten an und verfügt, dass alle Liebenden an ihrem Hofe sich an die o. g. Regeln halten sollten, was diese auch zu tun geloben. 456 Mit dieser Erzählung endet das zweite Buch. Im dritten Buch werden alle Inhalte aus Buch I und II verworfen; nun folgen die wahren Lehren, die besagen, man solle sich lediglich der Liebe zu Gott unterwerfen. Wenn man sich der weltlichen Liebe widmet, dann nur im Rahmen der Ehe, die geschützt und bewahrt werden muss. Andere in Liebesdingen zu verletzen, widerspricht dem Gesetz der Nächstenliebe. Außerdem gefährden Liebschaften zuweilen Freundschaften und sind Schmutz für Seele und Körper. Die Liebe gefährdet die eigene Sicherheit, verursacht Leiden und ist oft Grund für Verbrechen aller Art. Sowohl Frauen als auch Männer schädigen ihren Ruf, indem sie sich auf die Liebe einlassen. Kleriker, die sich der weltlichen Liebe hingeben, verlieren all ihre Würden. Die Liebe schwächt den Körper und den Geist. Frauen sind von Grund auf schlecht und Ursprung allen Übels in der Welt, das begann schon mit Eva und ist bis „heute“ so geblieben. Zum Schluss fasst Andreas noch einmal zusammen: Wer sich an die Regeln aus Buch I hält, 142 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="143"?> 457 Cf. ibid., III. 458 Cf. ibid., I,vi,60. 459 Cf. Ibn Hazm al andalusi: Das Halsband der Taube - Von der Liebe und den Liebenden, transt. Max Weisweiler, Frankfurt a. M.: Insel-Verlag 1961, pp. 151-173. 460 Cf. Karl A. Ott: „Einleitung“, in: Guillaume de Lorris, Jean de Meun: Der Rosenroman, ed. et transt. Karl August Ott, München: Wilhelm Fink Verlag 1976, pp. 7-76, ibid. p.-7. gewinnt sicher die weltliche Liebe, verliert aber seinen guten Ruf sowie die Gesellschaft guter Männer und die Gnade Gottes. Die Verwerfung der Liebe in Buch III soll Walter, den Adressaten, auf den rechten Weg leiten. Insgesamt rät Andreas von der weltlichen Liebe ab, denn wenn der Bräutigam kommt, wird eine noch größere Hochzeit gefeiert 457 , womit auf die Ankunft Christi nach Mt 25,1-13 angespielt wird. Im Gegensatz zum LBA sind die Hinweise und Lehren über die weltliche Liebe in DA sehr schematisch und strukturiert: Es gibt vier Stufen der (weltlichen) Liebe (die Gabe der Hoffnung, einen Kuss, eine Umarmung, die Hingabe der ganzen Person 458 ), man erreicht sie anhand von sechs Zeichen, es gibt 21 Situationen, die diskutiert werden, 31 Regeln und zwölf Hauptvorschriften für die Liebe. Die meisten Regeln richten sich an Männer und Frauen. Die Topoi von Fesseln und Qualen der Liebe, Kampf um die Liebe, dem Liebespalast als locus amoenus, Traumsequenzen in Form von Abenteuern im Wald und im Auftrag der Liebe machen die ersten beiden Bücher des DA zu einem typisch mittelal‐ terlichen Werk über die weltliche Liebe. Der schematische Aufbau scheint den Irrungen und Wirrungen der Liebe zu widersprechen, andererseits sind die Ausführungen so detailliert, dass keine Konstellation in den Beschreibungen fehlt und somit die Gesamtheit der Liebeskonstellationen zu finden ist. Dass die Lehren über die weltliche Liebe am Ende verworfen werden, erinnert v. a. an das Halsband der Taube (HdT), bei dem Ibn Hazm ebenfalls plötzlich alles, was vorher erläutert wurde, zugunsten religiöser Lehren ablehnt und die Liebe zu Gott vor jede der weltlichen Liebe zugewandten Lebensweise stellt. 459 Die Allegorien der weltlichen Liebe in DA sollen später mit denen des LBA verglichen werden. Es soll aber auch ein weiteres Werk für die Erläuterungen zu Don Amor und Doña Venus herangezogen werden, nämlich Guillaume de Lorrisʼ und Jean de Meuns RR. - IV.2.1.2 Der Roman de la rose Um 1230 verfasste Guillaume den ersten Teil des RR. Das Werk blieb vorerst unvollendet und wurde von Jean ca. 40 Jahre später vervollständigt. 460 Es handelt sich um eine 21.780 Verse lange Dichtung, in dem ein Ich-Erzähler, ein zwanzigjähriger Mann, von einem Traum über die Liebe berichtet, weil Amor IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar 143 <?page no="144"?> 461 Hier erinnern die Allegorien, die mit- und gegeneinander in den Kampf ziehen an die Psychomachia des Prudentius (cf. Kapitel VII.4). Cf. Aurelius Prudentius Clemens: Die Psychomachie des Prudentius - Lateinisch-Deutsch, mit 24 Bildtafeln nach Handschrift 135 der Stiftsbibliothek zu St. Gallen, ed. et transt. Ursmar Engelmann, Basel: Herder 1959. 462 Cf. Guillaume de Lorris, Jean de Meun: Der Rosenroman, ed. et transt. Karl August Ott, München: Wilhelm Fink Verlag 1976. 463 Cf. RR, vv. 2990-3070. 464 Cf. ibid., v. 10360. ihm befiehlt, das Gesehene wiederzugeben. Die ersten 4.059 Verse stammen von Guillaume, der Rest von Jean. In dem Traum gelangt der Ich-Erzähler an eine Burg, in deren Inneren ein Rosengarten angelegt ist. Er verliebt sich in die schönste der Rosen dort, weil er bei ihrem Anblick von einem Pfeil Amors getroffen wurde, und strebt nun danach, sie zu pflücken, was ihm aber von den Wächtern der Rose verwehrt wird. Diese sind ein ganzes Heer aus Allegorien wie Scham und Widerstand. Daher benötigt der Ich-Erzähler Hilfe, die ebenfalls in Form von Allegorien zu ihm eilt. Seine Helfer sind z. B. der Schöne Empfang oder die Höflichkeit. 461 Amor unterrichtet ihn in Liebesdingen, indem er ihm seine Gebote darlegt: Man soll Verleumdung und Gemeinheiten ablegen, freundlich, verständig, sanftmütig und vernünftig sein; Beredsamkeit, gutes Handeln, eine gepflegte Erscheinung, Heiterkeit, Großzügigkeit und vornehmes Betragen sind für die Liebe förderlich, anders als Stolz und Geiz. Die völlige Hingabe an die Liebe und das Ertragen von Liebesqualen sind Pflicht für alle, die wirklich lieben wollen. Ein Freund, der in Liebesangelegenheiten berät, ist ebenfalls unerlässlich, wenn die Liebe zum Erfolg führen soll. Das einzige Ziel, das der Ich-Erzähler nun hat, da er nach der Verletzung durch Amors Pfeil nicht anders kann, ist, sein ganzes Streben auf die Rose auszurichten, trotz all der Widrigkeiten, die ihn davon abhalten wollen. Er begibt sich auf einen langen Weg, der gesäumt ist von Unterhaltungen mit den Allegorien, Liebesqualen, der gewaltsamen Trennung von seinem Freund und natürlich von der Rose. Er begegnet noch weiteren „Autoritäten“, die ihn von ihren Ansichten überzeugen wollen, nämlich Natur, Vernunft und Religion (vertreten durch den Priester Genius). Gespickt werden all diese Unterredungen und Anweisungen durch eine Vielzahl an Zitaten antiker Philosophen, römischer und griechischer Mythologie, Bibelpassagen und weiterer Vertreter der bis dahin veröffentlichten Literatur zur Untermauerung der jeweiligen Argumente. 462 Die Vernunft lehrt den Ich-Erzähler, den Müßiggang zu meiden und die Liebe zu vergessen, und warnt vor dem Verlust von Wissen und Können durch die Liebe. 463 Allerdings will er von all dem nichts wissen und schwört ihr ab. 464 Die Natur bittet den Priester Genius darum, ihr die Beichte abzunehmen, was 144 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="145"?> 465 Cf. ibid., vv. 16285-16706. 466 Cf. ibid., vv. 16707-19119. 467 Cf. ibid., vv. 19200-19390. 468 Cf. ibid., vv. 3410, 10750. 469 Cf. ibid., vv. 15770-21779. 470 Cf. ibid., vv. 9420-9442. 471 Cf. ibid., vv. 16630-16640. 472 Cf. ibid., v. 9860. er auch tut, aber zunächst ergreift er das Wort, bevor sie, die Königin der Welt, sprechen darf. Genius nennt Frauen einerseits gefährlich, andererseits soll man sie auch lieben und mit ihnen Verkehr haben, schließlich muss man das eigene Geschlecht vor dem Aussterben bewahren. Seine ganze Rede ist eine Aneinanderreihung von Argumenten für und gegen Frauen. 465 Als danach die Natur an der Reihe ist, besteht ihre Beichte aus ihrer Reue, den Menschen geschaffen zu haben, der sich gegen sie wendet und ihr Werk verunglimpft, indem er sich zuweilen nicht natürlich verhält und von den Gaben, die sie ihm in mühevoller Arbeit geschenkt hat, keinen Gebrauch macht oder sich gehen lässt, z. B. durch den übermäßigen Genuss von Speisen und Getränken, die einen frühzeitigen Tod herbeiführen. 466 V. a. klagt die Natur darüber, den lasterhaften Menschen geschaffen zu haben. Am schlimmsten aber sind diejenigen, die auch Amor schaden, weil sie den Tribut nicht zahlen, den sie Natur und Amor schuldig sind, d. h. sie grollt jenen, die sich der körperlichen Liebe enthalten und den Fortbestand der Menschheit nicht unterstützen. 467 Der Ich-Erzähler bekommt bei seinem Vorhaben, die Burg bzw. die Rose zu erobern, Unterstützung von Amor und seinem Heer sowie dessen Mutter Venus, die von dem Ich-Erzähler und ihrem Sohn als die mächtigste Waffe im Kampf um die Liebe zu Hilfe gerufen wird 468 . Nur durch ihr Eingreifen wird die Eroberung der Burg ein Erfolg. Der Roman endet mit dem Eindringen des Ich- Erzählers in den Garten, in dem er die Rose pflückt, wobei eindeutig zweideutige Anspielungen auf sexuelle Handlungen und Defloration den Abschluss der Erzählung bilden. 469 Besonders bezeichnend am RR, v. a. im Vergleich zu DA und LBA, ist die Deutlichkeit, mit der Jean von der Ebenbürtigkeit zwischen Mann und Frau schreibt: Die Liebe kann nur in einem freien Herzen wirklich aufblühen, keiner soll den anderen besitzen oder wie sein Eigentum behandeln. 470 Frauen sollen frei handeln und auch arbeiten dürfen. Allerdings soll man Frauen nicht zu viel Macht zugestehen, denn sonst wenden sie sich gegen ihre Männer. 471 Ebenso wie in DA und dem LBA ist es natürlich notwendig, die Liebe geheim zu halten; nur ein treuer Gefährte darf eingeweiht werden. 472 Zwar werden Frauen auch hier zuweilen als heimtückisch, habgierig und nicht IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar 145 <?page no="146"?> 473 Cf. Ott, Karl A.: Der Rosenroman, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980, pp. 128 sq. 474 Cf. RR, v. 9910. 475 Cf. exempli gratia ibid., vv. 17261-17266. 476 Cf. ibid., vv. 10620, 13120, 16830, 17500, 17570, 17720, 18540, 18570, 19170. Die Planeten bzw. Planetenkinder werden in Kapitel IV.3 ausgeführt. 477 Cf. RR., inter alia v. 11030. 478 Cf. ibid., vv. 4680-4692. 479 Cf. Fritz Peter Knapp ad locum, in: DA, ed. Fritz Peter Knapp, p.-167, Fußnote 205. vertrauenswürdig dargestellt, doch müssen diese Passagen in ihrem jeweiligen Kontext gelesen werden, um zu sehen, dass sie nicht oder nur zum Teil ernst gemeint sind. 473 Ein Beispiel hierfür sind die Verse 9900 bis 9910, in denen Frauen Unbeständigkeit unterstellt wird. Aber direkt im Anschluss wird gesagt, es gäbe auch gute Frauen, nur habe der Ich-Erzähler diese bisher nicht gefunden. 474 Auch im RR wird immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig der Einsatz der eigenen Vernunft ist, um zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. 475 Auch das Motiv der Planetenkinder, ihre Prädestination, aber auch die Macht Gottes über die Planeten spielen in RR eine Rolle. 476 Die Kritik an der heuchlerischen Lebensweise von Klerikern und Nonnen, die zwar behaupten, ein keusches, schlichtes Leben zu führen, und das Gegenteil tun, bleibt auch im RR nicht aus. 477 Besonders interessant ist aber die Erwähnung verschiedener Arten von Liebe, die im RR vorkommen: Die Vernunft beschreibt sie als die Liebe, die den Ich- Erzähler verändert, d. h. hier wird von der Liebe aus Leidenschaft gesprochen, und der Liebe, die auf Freundschaft und Nächstenliebe basiert. 478 Die Liebe Gottes bzw. die Liebe zu Gott wird nicht in der Form erwähnt, wie wir es aus DA und LBA kennen. Nachdem wir nun auch DA und den RR kennengelernt haben, sollen die unterschiedlichen Darstellungen von Amor und Venus analysiert werden. - IV.2.1.3 (Don) Amor und (Doña) Venus im Libro de buen amor, De amore und dem Roman de la rose im Vergleich Wir gehen chronologisch vor und beginnen daher mit dem ältesten der drei Werke, also DA. Zwar sagt Fritz Peter Knapp in Fußnote 205 des ersten Buches, dass nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, wer mit dem König der Liebe gemeint ist bzw. ob es sich wirklich um Amor handelt 479 , aber andererseits ist dieser König der Liebe mit vielen Attributen ausgestattet, die wir sonst nur von Amor kennen: Er taucht in einer traumähnlichen Erzählung auf, er hat ein Heer von Liebenden bei sich, er stellt Regeln für die Liebe auf, die Liebenden 146 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="147"?> 480 Cf. RR, inter alia vv. 1950-2060, 20670-21250. 481 Cf. LBA, cc. 181-575, 576-652. gehorchen ihm etc. Man kann also davon ausgehen, dass es sich um Amor handelt. Gleichzeitig kann auch die Königin der Liebe dann nur Venus sein, denn eine andere Frau, die den Liebenden vorsteht, kennen wir nicht. Demnach ist also auch hier ein Ehepaar für die Geschicke der Liebenden zuständig. Während der König ausführlich die Liebesregeln erläutert und befiehlt, man möge seine Regeln allen Liebenden mitteilen, ist in diesem Werk die Königin eigentlich nur Beiwerk. Im RR sind Venus und Amor ganz traditionell als Mutter und Sohn vertreten. Amor ist ein siegreicher Kriegsherr, der den Liebe suchenden Ich-Erzähler unterweist und ihn im Kampf um seine Liebe unterstützt. Allerdings braucht er dafür seine Mutter, die selbst entscheidet, ob und wann sie es für richtig hält, sich dem Kampf anzuschließen. Ohne sie kann die Schlacht aber auch nicht geschlagen werden. Amor und Venus gehören von Natur aus zusammen. Sie können zwar einzeln existieren, aber nur als Einheit sind sie erfolgreich. Amor wird sprichwörtlich vergöttert. Er hat die Macht, Menschen, die sich seinen Regeln widersetzen, zu exkommunizieren, er spricht Segen aus und er schenkt den Liebenden Hoffnung, womit ihm eigentlich schon Attribute des christlichen Gottes zugeschrieben werden. Seine Mutter ist die wissende, unabhängige, kluge Göttin, die die Schlacht am Ende entscheidet. 480 Im LBA werden die Götter der römischen Mythologie beim Namen genannt, aber nicht in ihrer eigentlichen Konstellation (als Mutter und Sohn), sondern eben als Ehepaar. Zieht man in Betracht, dass auch in DA und dem RR beide Figuren auftauchen, wenn es um Fragen der Liebe geht, scheinen sie für das Gesamtbild der Liebe notwendig zu sein. Warum aber ausgerechnet als Ehepaar und unter ihren richtigen Namen? Der Erzpriester hätte auch wie Andreas andere Namen wählen oder sie als Mutter und Sohn auftreten lassen können, wie Guillaume de Lorris bzw. Jean de Meun es getan haben. Während Don Amor vom Erzpriester geradezu (übertrieben) verteufelt wird, wird Venus von ihm angebetet 481 ; beide sind aber die Götter der weltlichen Liebe. An dieser Stelle ist das oben bereits erwähnte Streben noch einmal aufzugreifen. Das Streben muss nicht automatisch das Streben nach etwas Gutem bedeuten - ganz wie Augustin es beschrieben hat: Das Ziel entscheidet über die Qualität der Liebe. Begierde, Sehnsucht, Verlangen und andere Beispiele beinalten dieselbe Dynamik, mit der der Begehrende, Sehnsüchtige, Verlangende einem Objekt zustrebt. Bereits Diogenes Laertius hielt in Leben und Meinungen berühmter Philosophen (Vitae philosophorum) fest: IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar 147 <?page no="148"?> 482 Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, ed. et transt. Otto Apelt, 2 vol., Leipzig: Felix Meiner 1921, VII,113. In Kapitel IV.2.2 wird ausführlich über die Todsünden gesprochen. 483 Marcus Tullius Cicero: Vom Wesen der Götter. Liber Tertius - Lateinisch / Deutsch, edd. et transtt. Olof Gigon, Laila Straume-Zimmermann, Zürich: Artemis & Winkler 1996, III,59-60. 484 Cf. Dieter Blume: Regenten des Himmels - Astrologische Bilder in Mittelalter und Renaissance, Berlin: Akademie Verlag 2000 (Wolfgang Kemp, Gert Mattenklott, Monika Wagner, Martin Warnke edd.: Studien aus dem Warburg-Haus, vol. 3), p.-113. Ἡ δ’ ἐπιθυμία ἐστὶν ἄλογος ὄρεξις, ὑφ’ ἣν τάττεται καὶ ταῦτα· σπάνις, μῖσος, φιλονεικία, ὀργή, ἔρως, μῆνις, θυμός […] ἔρως δέ ἐστιν ἐπιθυμία τις οὐχὶ περὶ σπουδαίους· ἔστι γὰρ ἐπιβολὴ φιλοποιίας διὰ κάλλος ἐμφαινόμενον. Begierde ist ein unvernünftiges Verlangen, es werden ihr folgende Arten untergeordnet: Bedarfsverlangen (Bedürftigkeit), Haß, Ehrgeiz, Zorn, Liebe, Groll, Jähzorn. […] Liebe aber ist eine gewisse Begierde, die tugendhaften Männern nicht wohl ansteht; sie ist nämlich der Versuch einer Befreundung aus Anlaß der sich kundgebenden Schönheit. 482 Man könnte auch darüber nachdenken, ob Venus vielleicht eine Art zweite Natur des Don Amor darstellt. Von Cicero wissen wir, dass es von den Göttern mehrere „Varianten“ gab: Venus prima Caelo et Die nata, cuius Eli delubrum vidimus, altera spuma procreata, ex qua et Mercurio Cupidinem secundum natum accepimus, tertia Iove nata et Diona, quae nupsit Volcano, sed ex ea et Marte natus Anteros dicitur […]. […] Cupido primus Mercurio et Diana prima natus dicitur, secundus Mercurio et Venere secunda, tertius qui idem est Anteros Marte et Venere tertia. Die erste Venus ist Tochter des Uranos und der Dies; ich habe ihr Heiligtum in Elis besichtigt. Die zweite ist aus dem Meerschaum geschaffen, und von ihr und von Mercurius stammt der zweite Eros. Die dritte hat Iuppiter und Diona zu Eltern; sie heiratete Volcanus, und von ihr und Mars soll Anteros stammen. […] Der erste Eros ist Sohn des Mercurius und der ersten Diana, der zweite derjenige des Mercurius und der zweiten Venus, der dritte ist derselbe wie Anteros und ist Sohn des Mars und der dritten Venus. 483 Diese „Varianten“ der Götter sind allerdings oft als verschiedene Facetten ein und desselben Gottes bzw. derselben Göttin anzusehen und soll ihre zum Teil widersprüchlichen Wesenszüge aufzeigen, wie es z. B. auch bei Boccaccio in seiner Genealogia Deorum Gentilium (GDG) der Fall ist. Dort zerlegt Boccaccio die Götter und Kriegshelden in bis zu zehn Einzelfiguren, die er an verschie‐ denen Stellen seines Werkes behandelt. 484 Craig E. Stephenson erklärt, dass im Falle des Eros sein Alter Ego, der soge‐ nannten Anteros, mal als Kontrahent in Wettstreiten, mal als komplementäres 148 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="149"?> 485 Cf. Craig E. Stephenson: Anteros - A Forgotten Myth, East Sussex: Routledge 2012, pp. 7-13; Pausanias: Beschreibung von Griechenland, transt. Johann Heinrich Chr. Schubart, vol. 1, Stuttgart: Krais & Hoffmann 1860, Kap. XXX; id.: Beschreibung von Griechenland, transt. Johann Heinrich Chr. Schubart, vol. 3, Stuttgart: Krais & Hoffmann 1859, Kap. XXIII.3, 5; Matthias Becker: Eunapios aus Sardes - Biographien über Philosophen und Sophisten. Einleitung, Übersetzung, Kommentar, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013, V.2.1-7; Robert J. Penella ed. et. transt.: The Private Orations of Themistius, London: University of California Press 2000, pp. 132 sq., Oration 24. Eros und Anteros stehen hier für das Verhältnis von Rhetorik und Philosophie. Cf. ibid., p.-133, Fußnote 9; Phaidros, 255d-e. 486 Cf. DA, I,vi,268-269. Element zu seinem Wesen dargestellt wurde. Bei Pausanias tritt Eros als die Verkörperung der Liebe auf, Anteros hingegen ist der Rächer der verletzten Liebe; bei Eunapios taucht Eros als Allegorie des Lichts, Anteros als Allegorie der Dunkelheit auf; bei Themistius steht, Eros brauche seinen Bruder Anteros, um an ihm zu wachsen bzw. um sich an ihm zu messen, denn wenn Anteros groß ist, wächst Eros entsprechend, wenn Anteros klein ist, schrumpft Eros auf seine Größe; und Platon spricht im Phaidros von einer Allianz aus Eros und Anteros im Sinne der wechselseitigen Liebe unter den Liebenden. 485 Nun rächt aber im LBA Doña Venus die Liebenden nicht, sie komplementiert die Rede des Don Amor auch nicht und es wird an keiner Stelle gesagt, dass Don Amor sie bräuchte, um zu wachsen. Daher ist sie nicht als eine Art Anteros zu betrachten. Sie stehen wie gleichberechtigte Partner nebeneinander, wobei sie angehimmelt, er aber bekämpft wird. Die Zerrissenheit des Arcipreste ist an dieser Stelle deutlich wahrzunehmen. Einerseits wehrt sich die (christlichasketische? ) Seite in ihm gegen die drohenden Sünden, die Don Amor mit sich bringt, andererseits ergibt er sich der Macht der Liebe, indem er sich ihrer Anführerin Doña Venus gänzlich unterwirft. Vergleicht man die Darstellung des Ehepaars Don Amor und Doña Venus im LBA mit dem König und der Königin der Liebe in DA fallen gewisse Parallelen auf: Auch hier ist es ein Ehepaar, das die Geschicke der Liebenden lenkt. Der König der Liebe unterweist den ratsuchenden Adeligen in Liebesdingen, indem er ihm zwölf Hauptregeln für den Liebesdienst darlegt. 486 Es ist also der König der Liebe, der für die Unterweisung zuständig ist. Die Rolle der Königin wird im Text selbst nicht weiter spezifiziert. Allerdings gehört es vielleicht dazu, dass der König der Liebe auch Ehemann ist, denn schließlich wäre das der Beweis dafür, dass er sowohl in der Brautwerbung als auch der Eheschließung erfolgreich gewesen und die Wirksamkeit seiner eigenen Ratschläge erwiesen wäre. Dies impliziert wiederum, dass der Erfolg in Liebesangelegenheiten nicht an der Zahl der Eroberungen gemessen wird, sondern an der Eheschließung, die als Ziel der Liebeswerbung gesehen werden kann. Dies könnte eine (humorvolle? ) IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar 149 <?page no="150"?> 487 Cf. 1Tim 3,2.12; Tit 1,6. 488 Cf. LBA, cc. 423-652. 489 Cf. Wilfried Stroh: „Sexualität und Obszönität in römischer ,Lyrik‘“, in: Theo Stemmler, Stephan Horacher edd.: Sexualität im Gedicht - 11. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik, Tübingen: Narr 2000 (Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik, vol. 11), pp. 11-49, ibid. pp. 12-14. 490 Cf. Amatorius, 756E-F, 759E-F. Anspielung auf Paulus sein, demzufolge Würdenträger auch in der Realität eine Ehe vorweisen können müssen, um als gute und verlässliche Männer wahrgenommen zu werden. 487 Ein König, der zudem auch noch die Belange der Liebenden regiert, braucht also umso mehr eine Frau, denn sonst könnte er kein gutes Beispiel für seine Anhänger sein. Nun bringt Don Amor seinem Schüler, dem Erzpriester, im LBA nur bei, wie man sich eine gute Frau aussucht und welche Wege man gehen muss; Venus als die edle Version der Liebe rät ebenfalls dazu, sich eine Geliebte zu suchen 488 --ob die Betonung hier jeweils auf „eine“ liegen muss, sei dahingestellt, schließlich - und da wird der Bezug zur eigentlichen Untersuchung in dieser Dissertation wieder deutlich - müssen wir den Text immer wieder auf seinen humorvollen Gehalt hinterfragen. Daher ist die Interpretation der Zerrissenheit hier wohl die treffendste: Der Erzpriester präsentiert sich seiner Leserschaft als Verzweifelten, der noch versucht, die böse weltliche Liebe von sich fernzuhalten, aber von einer gleichberechtigten, unwiderstehlichen Macht, nämlich der (Doña) Venus, am Ende doch davon überzeugt wird, den Weg der Brautwerbung einzuschlagen - und am Ende ist er ja auch erfolgreich und erreicht in der folgenden Episode sogar das, was sein Lehrer und seine Lehrerin ebenfalls erreicht haben, nämlich die Ehe, allerdings nicht auf christlich-tugendhafte, sondern auf unsittliche Weise. Da die beiden aber immer als Einheit auftauchen, müssen sie auf irgendeine Art und Weise zusammengehören. Wilfried Stroh sieht die Einheit der beiden Gottheiten folgendermaßen: Amor steht für das Verlieben bzw. Verliebtsein, Venus für die körperliche Liebe. 489 Somit wäre die weltliche Liebe nur gänzlich dargestellt, wenn beide zusammen sind, denn das Verliebtsein führt nirgend‐ wohin, wenn das Ziel der körperlichen Liebe nicht existiert. Ebenso kann diese Liebe gar nicht erst entstehen, wenn sie nicht mit dem Verlieben beginnt. Somit ergäbe die Ehe der beiden auch einen inhaltlichen Sinn. Eine Bestätigung hierfür findet man in Plutarchs Amatorius. Hier heißt es u. a. unter Bezug auf Aischylos, Eros sei Aphrodites Gehilfe, denn ohne seine Gegenwart entbehrt Geschlechtsverkehr sowohl Ehre als auch Freundschaft. Erst durch ihn wird die körperliche Liebe edel und schön. Nur durch seine Hilfe führt das Werk der Venus zu Verschmelzung und gegenseitiger Zuneigung. 490 Foucault sieht dies 150 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="151"?> 491 Michel Foucault: Sorge um sich, p.-259 unter Bezug auf Amatorius, 759E. 492 Michel Foucault: Sorge um sich, p.-264. 493 Cf. Friedrich von Bezold: Das Fortleben der antiken Götter im mittelalterlichen Huma‐ nismus - Neudruck der Ausgabe von 1922, Aalen: Otto Zeller Verlagsbuchhandlung 1962. ähnlich, wenn er sagt, bei Plutarch bzw. im Amatorius sei Eros „ein notwendiges Komplement Aphrodites: ohne ihn wäre das Werk Aphrodites weiter nichts als schiere Sinnenlust, und man könnte es für eine Drachme kaufen“ 491 . Im Gegensatz zur Päderastie finde man in der ehelichen Liebe eine harmonische Verbindung von Eros und Aphrodite, „in der das Band der Seelen mit der körperlichen Liebe verknüpft ist“ 492 . Eros und Aphrodite bzw. Amor und Venus stehen also für die vollkommene körperliche Liebe und Zuneigung zwischen Mann und Frau. Dies kann man auf das LBA sinnvoll übertragen. Allerdings verführen sie im LBA den Protagonisten zu einer nur halbwegs legitimen Braut‐ werbung, weil sie aufgrund ihrer heidnischen Natur die Regeln des christlichen Anstands missachten. So kommt zwar eine Ehe zustande, aber diese ist mehr eine Schadensbegrenzung als eine nach christlichen Vorstellungen anständig geschlossene Ehe. Somit stehen die beiden nicht als Vorbilder für Eheleute, sondern eher als eine Art Gegenbeispiel für die Ehe, also für die Art, wie sie eben nicht geschlossen werden sollte. Ein anderer denkbarer Interpretationsansatz liegt auf der Hand: Die Rezep‐ tion antiker Werke im Mittelalter und die Skepsis, mit der die Autoren der damaligen Zeit an diese herangegangen sind, sind hinreichend bekannt. Es gab unterschiedliche Wege des Umgangs mit der europäischen Vorgeschichte. 493 Der Erzpriester scheint hier eine Botschaft zu verstecken, die einen gläubigen Christen nicht überrascht: Wer sich an die Ratschläge antiker Götter, den Göttern der Heiden, der Götzen, hält, wird vom christlichen Glauben weg und zur Sünde geführt. Dies trifft sowohl auf den Gott des Begehrens, Amor, als auch auf die Göttin der Liebe zu. Beide führen die Menschen ins Verderben, indem sie zu unsittlichem Verhalten und zu cupiditas bzw. concupiscentia aufrufen. Wie sie das jeweils tun, zeigen die nächsten Kapitel. IV.2.2 Don Amor Der Erzpriester erzählt in den Strophen 181-574 von einem Streit zwischen ihm selbst und Don Amor, der ihm des Nachts erschienen sein soll. In einer Art Seelenkampf führt der Erzpriester ein Streitgespräch mit dem Gott der Liebe, worin er ihm in Form einer Invektive vorwirft, die Menschen zu sündhaftem Verhalten zu verleiten. IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar 151 <?page no="152"?> 494 Elizier Oyola untersucht zwar die Aufzählung der Todsünden beim Arcipreste, über‐ sieht allerdings den springenden Punkt, der hier im Folgenden erläutert wird, indem er zwar die Begriffe cupiditas, eros, agape sowie amor ordinatus und amor inordinatus verwendet, aber den augustinischen Hintergrund nicht berücksichtigt. Cf. Elizier Oyola: Los pecados capitales en la literatura medieval española, Barcelona: Puvill 1979, pp. 101-161. Ähnliches gilt auch für Robert Ricard, der zwar erläutert, dass cobdiçia (etymo‐ logische Herkunft von cupiditas/ *cupiditia) inhaltlich dem spätlateinisch-patristischen Terminus concupiscentia entspricht, aber die Beziehung zu Augustin nicht herstellt, für den die concupiscentia bekanntlich die von der Ursünde bewirkte grundlegende Fehlhaltung des Menschen ist. Cf. Robert Ricard: „Les péchés capitaux dans le Libro de buen amor“, Les Lettres Romanes, vol. 20 (1966), 26-31. 495 Acht der neun Sünden werden in c. 219 und in den cc. 1586-1600 noch einmal aufgezählt, hier fehlt vanagloria allerdings wieder. In c. 1598 wird Neid mit enbidia bezeichnet. Corominas hebt die separate Nennung von Begierde und Geiz nach Paulus hervor. Cf. Joan Corominas ad locum, in: LBA, ed. Joan Corominas, p. 122, Fußnote zu c. 217 sqq. Verwiesen wird auf Kol 3,5: „Mortificate ergo membra, quae sunt super terram: fornicationem, immunditiam, libidinem, concupiscentiam malam et avaritiam, quae est simulacrorum servitus.“ - „So tötet nun die Glieder, die auf Erden sind, Unzucht, Unreinheit, schändliche Leidenschaft, böse Begierde und die Habsucht, die Götzendienst ist.“ 496 Cf. Carolin Mischer: „Von Hauptlastern zu Todsünden. Vermittlung und Verweltlichung des Lasterkanons“, in: Stiftung Kloster Dalheim, LWL-Landesmuseum für Klosterkultur, Ingo Grabowsky edd.: Die 7 Todsünden - 1700 Jahre Kulturgeschichte zwischen Tugend Der Erzpriester spricht an dieser Stelle von den Todsünden, die Don Amor mit sich bringt. Diese werden in der Sekundärliteratur kaum berücksichtigt. 494 Es sei aber hier darauf hingewiesen, dass er neun Sünden anspricht, von denen auch nach heutiger Zählung nur sieben als die üblichen Todsünden gelten. Der Erzpriester verwendet die spanischen Bezeichnungen von cobdiçia (Begierde; cc. 217-225), sobervia (Hochmut; cc. 219; 230-236), avaricia (Geiz; cc. 219; 246-251), luxuria (Wollust, Ausschweifung; cc. 219; 257-269), invidia (Neid; cc. 219; 276-284), gula (Völlerei; cc. 219; 291-297), ira (Zorn; bereits c. 219), weiterhin vanagloria - eng mit dem Zorn verbunden - in der Fügung ira e vanagloria (Zorn und Ruhmsucht; cc. 304-310) sowie zuletzt acidia (Träg‐ heit, Lustlosigkeit; cc. 219; 317-320). 495 Nach jüngerer Definition gelten von diesen nur Hochmut, Geiz, Wollust, Völlerei, Neid, Zorn und Trägheit als die Todsünden. Warum der Erzpriester von der gängigen Liste der Todsünden abweicht, bleibt zunächst unklar. Denn es ist mehr als verwunderlich, dass einem Geistlichen weder der korrekte Katalog noch die Reihenfolge der sieben Todsünden gemäß dem mittelalterlichen Akronym SALIGIA geläufig sein soll. Dieses bezeichnet üblicherweise ab dem 13. Jahrhundert die sieben Todsünden in der Reihenfolge ihrer lateinischen Benennungen: Superbia, Avaritia, Luxuria, Ira, Gula, Invidia, Acedia (mitunter auch Acidia geschrieben). 496 Diese stehen schließlich seit dem IV. Laterankonzil (1215/ 1216) fest, in dessen Folge auch 152 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="153"?> und Laster. Katalog zur Sonderausstellung der Stiftung Kloster Dalheim, Münster: Ardey- Verlag 2015, pp. 38-47, ibid. p.-38. 497 Cf. Ingo Grabowsky: „Vom Tabu zur Tagesordnung. Einführung in die Sonderaus‐ stellung Die 7 Todsünden“, in: Stiftung Kloster Dalheim, LWL-Landesmuseum für Klosterkultur, Ingo Grabowsky edd.: Die 7 Todsünden - 1700 Jahre Kulturgeschichte zwischen Tugend und Laster. Katalog zur Sonderausstellung der Stiftung Kloster Dalheim, Münster: Ardey-Verlag 2015, pp. 10-18, ibid. p.-12. 498 Cf. Ingo Grabowsky: loc. cit., p. 12; Rudolf Brummer: „Die Vitia Principalia als Allegorische Gestalten bei einigen Autoren des XIII. Jahrhunderts - Huon de Méry, Rutebeuf, Ramon Llull, Bono Giamboni“, Estudis Romànics, 49 (1984-1986), 185-195, ibid. 186. 499 Cf. Johannes Cassian: Unterredungen mit den Vätern. Collationes Patrum - Teil 1: Collationes 1-10, Münsterschwarzach: Vier-Türme-Verlag 2 2018, Collatio 5. 500 Im Lateinischen sind es zwei Worte, im Spanischen nur eines. 501 Cf. Ingo Grabowsky: loc. cit., p.-12. 502 Die griechischen Begriffe, die bei Evagrius Ponticus verwendet werden, wurden der folgenden Quelle entnommen: Evagrius Ponticus: De octo vitiosis cogitationibus, in: Patrologia Graeca, ed. Jaques-Paul Migne, vol. 40, coll. 1271-1278, ibid. 1271-1276. der Begriff „Todsünden“ etabliert wurde. 497 Offensichtlich orientiert sich der Erzpriester hier an einer älteren Version des Lasterkatalogs. Im 4. Jahrhundert legten die Wüstenväter, beispielsweise Evagrius Ponticus, einen Katalog aus acht Lastern fest: Völlerei, Wollust, Geiz, Traurigkeit, Zorn, Trägheit, Ruhm‐ sucht und Hochmut. 498 Johannes Cassian übernimmt darauf aufbauend im 4./ 5. Jahrhundert diesen Katalog und lässt in seinen CP den Abt Serapion ausführen, welche acht Hauptlaster einen Mönch und dessen Seelenheil be‐ drängen. Diese sind: gastrimargia (Gefräßigkeit, Völlerei), fornicatio (Unzucht, Wollust), philargyria (Geiz), ira (Zorn), tristitia (Traurigkeit), acedia (Trägheit), kenodoxia (Ruhmsucht) und hybris (Hochmut). Laut Cassian bzw. laut dem Abt Serapion muss jeder Mensch für sich herausfinden, welches Laster ihm am gefährlichsten wird und dieses vorrangig bekämpfen, denn aus ihm entstehen die weiteren Laster. Meist handelt es sich um die Völlerei (gastrimargia), die der Ursprung weiterer Übel ist. 499 Papst Gregor der Große formuliert aus Cassians Katalog sieben Kardinalsünden, die allesamt aus der Wurzel des Hochmuts (superbia) hervortreten: Ruhmsucht (vana gloria  500 / inanis gloria), Neid (invidia), Zorn (ira), Traurigkeit (tristitia), Geiz (avaritia), Völlerei (gula) und Wollust (luxuria). 501 So werden zwar acht Laster genannt, aber eines ist die Ursache, der sieben Töchter folgen. Der Erzpriester nennt, wie wir oben gesehen haben, neun Todsünden. Um ihre Entwicklung aus den acht Hauptlastern, den Unterschied zwischen den jeweiligen Katalogen und die Besonderheit der Aufzählung des Arcipreste darzulegen, soll die nachfolgende Tabelle behilflich sein. Horizontal werden von links nach rechts fünf sukzessive Phasen in chronologischer Ordnung dargestellt (Evagrius Ponticus 502 , Cassians CP, Papst IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar 153 <?page no="154"?> Gregor der Große, das SALIGIA-Schema der Scholastik und LBA). Vertikal folgt die Anordnung grundsätzlich der Zählung des SALIGIA-Schemas wie es in der 4. Spalte repräsentiert ist. In den Spalten 1 bis 3 und 5 sind die jeweiligen Entsprechungen aufgeführt. Die erste Zeile ist reserviert für das Laster der Begierde (cobdiçia), welche im Gegensatz zu den anderen Katalogen nur im LBA als das Wurzelübel bewertet wird. Wir haben es also hier mit einem Sondergut der Todsünden-Konzeption beim Arcipreste zu tun. Evagrius Ponticus Cassians CP Papst Gregor der Große SALIGIA LBA - - - - Begierde als Wurzelübel (cobdiçia) Hochmut (hyperēphania) Hochmut (hybris) Hochmut als Wurzelübel (superbia) Hochmut (superbia) Hochmut (sobervia) Ruhmsucht (kenodoxia) Ruhmsucht (kenodoxia) Ruhmsucht (vana gloria) - Ruhmsucht (vanagloria) Geiz (philargyria) Geiz (philargyria) Geiz (avaritia) Geiz (avaritia) Geiz (avaricia) Unzucht, Wol‐ lust (porneia) Unzucht, Wol‐ lust (fornicatio) Wollust (luxuria) Wollust (luxuria) Wollust (luxuria) Zorn (orgē) Zorn (ira) Zorn (ira) Zorn (ira) Zorn (ira) Völlerei (gastrimargia) Völlerei (gastrimargia) Völlerei (gula) Völlerei (gula) Völlerei (gula) - - Neid (invidia) Neid (invidia) Neid (invidia) Trägheit (akēdia) Trägheit (acedia) - Trägheit (acedia) Trägheit (acidia) Traurigkeit (lypē) Traurigkeit (tristitia) Traurigkeit (tristitia inkl. acedia) - - Evagrius Ponticus und Cassian hatten also die Begierde nicht in ihrem Katalog, dafür waren Ruhmsucht und Hochmut sowie Traurigkeit und Trägheit noch vier getrennte Laster. Unter Papst Gregor dem Großen werden Traurigkeit und Trägheit zu einer Sünde zusammengefasst, außerdem nimmt er den Neid in seinen 154 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="155"?> 503 Ingo Breuer, Sebastian Goth, Björn Moll, Martin Roussell: „Einleitung: Die sieben Tod‐ sünden“, in: iid. edd.: Die sieben Todsünden, Paderborn: Wilhelm Fink 2015 (Günter Blamberger, Dietrich Boschung edd.: Morphomata, vol. 27), pp. 11-28, ibid. p.-19. 504 Cf. Jaques Joset ad locum, in LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p.-85., Fußnote zu c. 218a. 505 Cf. José María Aguado: Glosario sobre Juan Ruiz - Poeta castellano del siglo XIV, Madrid: Talleres Espasa-Calpe, S.A. 1929, p.-295. 506 Elizier Oyola betont den engen Zusammenhang von Ruhmsucht und Zorn. Er bezieht sich hierbei auf Strophe 304, in der der Erzpriester Don Amor, der hier repräsentativ für ruhmsüchtige Menschen steht, vorwirft, zornig zu werden, wenn seinem Willen nicht entsprochen wird. Cf. Elizier Oyola: op. cit., pp. 145 sq. Wie eng vanagloria und sobervia mit ira verbunden sind, zeigen u. a. die Fügungen „ira e vanagloria“ in Vers 304a sowie „sobervia e ira“ in Vers 219a. Beide Male geht es darum, dass aus der Überheblichkeit des Menschen Zorn erwächst. 507 Jaques Joset ad locum, in LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p.-85., Fußnote zu c. 218a. 508 Cf. Thomas von Aquin: Summa Theologiae - Textum Leoninum Romae 1888 editum (Edition, Lateinisch), https: / / bkv.unifr.ch/ de/ works/ sth/ versions/ summa-theologiae/ divis ions/ 2 [Stand: 25.1.2023], II a -II ae , Questio 162, Articulus 7. Thomas beruft sich auf den einschlägigen Bibelvers: „Initium omnis peccati est superbia.“ - „Hochmut treibt zu allen Sünden.“ (Sir 10,15.) 509 Cf. LBA, cc. 217-218. Begleitet wird die cobdiçia von der anbiçia (Ehrgeiz). Diese wird allerdings nur als Unterstreichung der Begierde und der falschen Art der Selbstliebe angesehen, nicht als eigene Todsünde. Laut José Maria Aguado ist die Erwähnung der anbiçia sogar lediglich dem Reim geschuldet. Cf. José María Aguado: op. cit., p.-239. Katalog auf und stellt die superbia als Wurzel der Hauptlaster dar. Superbia und vana gloria verschmelzen im Laufe der Zeit zu einem Laster, das dann ebenfalls mit superbia bezeichnet wird. 503 Den Neid behält auch das IV. Laterankonzil bei. Der Erzpriester schließlich nimmt erstmals die Begierde (spanisch cobdiçia, lateinisch concupiscentia oder auch cupiditas) als eigene Todsünde in seine Zählung auf und stellt sie noch dazu als Wurzel alles Bösen in den Vordergrund. 504 Wenn cupiditas hier mit Begierde übersetzt wird, meint dies sowohl die Liebe zur Welt, einschließlich des Strebens nach materiellem Besitz, als auch fleischliche Lust und sinnliche Befriedigung. 505 Auch Ruhmsucht und Hochmut (vanagloria und superbia) nennt der Arcipreste wieder getrennt voneinander und ordnet die vanagloria der ira zu. 506 Der Verdacht liegt also nah, dass Begierde und Ruhmsucht mit der törichten Liebe in direktem Zusammenhang stehen müssen, sonst hätte sie der Arcipreste nicht aufnehmen bzw. wieder einführen müssen. Die Lösung liegt in folgender Erklärung: In c. 218a nennt der Erzpriester die Begierde, also cobdiçia, als Wurzel aller weiteren Sünden 507 , er geht also vor wie Gregor der Große, der eine Wurzel und sieben Auswüchse identifiziert, nur nennt Gregor die superbia als eben diese Wurzel; dessen Position vertritt mit Hinweis auf Gregor auch Thomas von Aquin. 508 Im LBA sieht der Arcipreste hingegen die Begierde als Grundlage für loco amor. Laut dem Erzpriester steht cobdiçia als Ursache des loco amor dem Liebesgott Don Amor am nächsten. 509 Er schließt also der Sache IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar 155 <?page no="156"?> 510 Im Anschluss an Luther heißt es auch in der Elberfelder Bibel für lateinisch cupiditas (nach der Vulgata) „Geldgier“, was das griechische Wort philargyria des Neuen Testaments exakt wiedergibt. Die lateinischen Begriffe cupiditas und concupiscentia gehen über die bloße Geldgier hinaus und meinen Gier in einem weit umfassenderen Sinn, so auch bei Augustin. Darum wird hier in Entsprechung zum Verständnis des Begriffs im LBA das Wort „cobdiçia“ mit „Begierde“ übersetzt. 511 Dieser Gedanke ist angelehnt an die Abhandlung über die acht Geister der Bosheit des hl. Nilus des Älteren von Ankyra. Dieser beschreibt die Hoffart, also eigentlich superbia, als das Laster, das den Menschen am weitesten von Gott entfernt. Allerdings gründet sie auf der Eitelkeit: „Das Aufleuchten des Blitzes kündet das Krachen des Donners an, und auf die Hoffart weist hin das Vorhandensein der Ruhmsucht. […] An Hoffart krankt, wer sich von Gott entfernt und seiner eigenen Kraft die guten Taten zuschreibt.“ Stephan Schiwietz: Das morgenländische Mönchtum, vol. 2, Mainz: Verlag von Kirchheim & Co. 1913, p. 71. Auch Ramón Llull betrachtet die Ruhmsucht als Voraussetzung der supèrbia und betont, dass sie dem Menschen ein falsches Gefühl von Unabhängigkeit Gott gegenüber verleiht. Cf. Rudolf Brummer: loc. cit., 192. Bereits Evagrius Ponticus beschreibt den Hochmut als das Streben nach Unabhängigkeit von Gott. Cf. Paul Milleman: „Les sept péchés capitaux - Faut-il les traiter dans l’accompagnement individuel de la souffrance? “, La Revue réformée, 64/ 267 (2013/ 2014). nach nicht nur an Paulus an, der in 1Tim 6,10 sagt: „Radix enim omnium malorum est cupiditas“ („Die Wurzel alles Bösen ist die Begierde 510 “), sondern auch an Augustin, für den die concupiscentia bzw. cupiditas das Grundübel ist, welches den Menschen zum Bösen und zu einem verwerflichen Lebenswandel verführt. Somit wird die Erwähnung der cobdiçia als Wurzelsünde zum hervorragenden Beispiel für das paulinisch-augustinische Liebeskonzept im LBA, das sich also nicht nur dann zeigt, wenn der Erzpriester die Liebe beschreibt, sondern auch dort, wo von den Lastern bzw. Todsünden die Rede ist. Da die cobdiçia sowohl das übertriebene Streben nach Materiellem als auch nach fleischlicher Liebe repräsentiert, enthält sie auch folgende Konnotation in Liebesangelegenheiten: Ein: e Liebende: r könnte nach einem Abenteuer streben, weil er bzw. sie die Liebe oder die geliebte Person besitzen will bzw. er oder sie strebt nach möglichst vielen Abenteuern. Das wäre aus christlicher Sicht natürlich die völlig falsche Herangehensweise an die Liebe. Was die Erwähnung der Ruhmsucht betrifft, könnte man sagen, dass sie explizit genannt wird, weil sie es ist, die dem Menschen ein Gefühl von Autonomie Gott gegenüber verleiht. Der Mensch könnte sich Gott gleich fühlen, weil ihm Ruhm und Ehre in der Welt begegnen. Damit dies eintritt, konzentriert sich der Mensch auf weltlichen Besitz und gibt sich Eitelkeiten hin, was von Gott und caritas ablenkt - und vor allem den Menschen in sich selbst verliebt macht. 511 Damit rufen sie den falschen amor sui hervor, sozusagen einen amor sui perversus und eventuell sogar die libido dominandi, also die Lust daran, andere zu beherrschen, was - wie wir in Kapitel III.2.8.2 gesehen haben - dringend zu vermeiden ist. Durch die Nennung und Kategorisierung dieser Sünden und ihre Herleitung aus 156 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="157"?> 512 Cf. LBA, cc. 1370-1386. 513 Cf. Anthony N. Zahareas: op. cit., pp. 114 sq. 514 Spitzer verwendet den Begriff der Psychomachie auch in Bezug auf den Kampf zwischen Don Carnal und Doña Cuaresma. Cf. Leo Spitzer: „Kunst des Arcipreste“, pp. 267 sq., Fußnote 1. 515 Cf. Ursmar Engelmann: „Die Psychomachie - Inhaltsangabe“, in: Aurelius Prudentius, Clemens: Die Psychomachie des Prudentius - Lateinisch/ Deutsch, mit 24 Bildtafeln nach Handschrift 135 der Stiftsbibliothek zu St. Gallen, ed. et transt. Ursmar Engelmann, Basel: Herder 1959, pp. 12-20, ibid. p.-13. 516 Weitere Ausführungen zum möglichen Einfluss des Prudentius auf das LBA finden sich in Kapitel VII.4. der concupiscentia und aus der sündhaften Variante des amor sui wird also noch einmal das augustinische Fundament der Konzeption des LBA betont: Die Liebe zur Welt (cupiditas) und die Liebe zu sich selbst (der falsch gelebte amor sui) sind diejenigen Fehlhaltungen, die den Menschen von der wahren Liebe (caritas) und dem recht interpretierten, auf Gott ausgerichteten amor sui entfernen und somit der Nährboden für loco amor. Um hingegen die richtige Haltung darzustellen, dient Doña Garoza auch hier als Vorbild: Sie, die als Nonne nicht nur ein von fleischlicher Begierde freies Leben führt, sondern in ihrem Exempel von der Stadtmaus und der Landmaus sowie den nachfolgenden Erläuterungen erklärt, nur ein Leben in Armut und Bescheidenheit bewahre vor Unheil 512 , verkörpert den einwandfreien Lebenswandel. Da sie weder nach materiellem Besitz noch nach fleischlicher Liebe strebt, widersteht sie den Versuchungen der cobdiçia, sodass auch die daraus resultierenden Laster keinen Einzug in ihr Leben halten können. Somit ist sie erneut das ideale Vorbild in Liebesangelegenheiten. Die Schmährede an Amor ist eine einzige ironische Übertreibung voller lebendiger Namen für den Liebesgott und Umschreibungen seines Handelns, so‐ dass das Ziel der Invektive (absichtlich? ) verfehlt wird. 513 Auch die Tradition des Seelenkampfes wird vom Erzpriester zu humorvollen Zwecken umgewandelt. Diese geht zurück auf Prudentius und seine Psychomachia  514 , in der sich Laster und Tugenden des Christen miteinander streiten und damit sowohl den Kampf der Christenheit mit dem Heidentum als auch den inneren Kampf des Christen widerspiegeln. Die Unzucht ist hierbei der Weg des Menschen in die Qual und in den Tod 515 , was für die Untersuchung des LBA besonders interessant ist, schließlich sprechen wir auch hier von Liebesqualen und der engen Verbindung zwischen Leben/ Liebe und Tod. 516 Die Vorstellung des geistigen Kampfes gegen Satan ist ein häufig gewähltes Motiv im frühen Christentum und im Mittelalter. Foucault berichtet, dass Satan als Besetzer der menschlichen Seele gesehen wurde, sodass er als Feind im eigenen Körper Unheil anrichten konnte. Ihn seiner „Wohnstätte“ zu verweisen und eine IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar 157 <?page no="158"?> 517 Cf. Michel Foucault: Geständnisse, pp. 110-112. 518 Cf. LBA, cc. 583-607. 519 Die einzigen beiden Ausnahmen findet man erst sehr viel später, nämlich zum einen in c. 928b, wenn der Erzpriester von „Amor, mi señor e mi rey“ spricht. Im Streitgespräch mit Amor taucht eine solche Anrede nicht auf. Zum anderen wird Amor bei seinem und Carnals Einzug mit den Worten „Te, Amorem, laudamus“ besungen, was deutlich an den Kirchgesang „Te Deum laudamus“ erinnert, wie auch Joset kommentiert. Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 2, ed. Jaques Joset, p.-144, Fußnote zu c. 1237d. Die Parodie kirchlicher Bräuche im Zuge karnevalistischer Handlungen wird in Kapitel VII.3 näher erläutert. 520 Cf. LBA, cc. 181-188. 521 Cf. Anthony N. Zahareas: op. cit., pp. 114-120. 522 Cf. ibid., p.-152. Rückkehr zu verhindern, die er beständig zu unternehmen versucht, ist die Aufgabe eines jeden guten Christen. Hierbei wird Christus zu Hilfe gerufen, der sich der Schwächen des Christen annehmen soll. 517 Diese Beschreibungen passen ebenfalls zum Streitgespräch zwischen dem Erzpriester und Don Amor, wobei Amor in diesem Falle Satan ähnlich wäre. Allerdings wird im Anschluss an diesen Streit nicht Christus angerufen, damit er sich dem Sünder annehme, sondern Doña Venus. 518 Vordergründig könnte es also aussehen, als spräche der Erzpriester Don Amor wie Satan an, während Doña Venus wie Christus bzw. die Heilige Maria verehrt wird. 519 Dass Amor und Venus hier aber den guten Christen vom rechten Weg abbringen und er somit gewissermaßen auf sie hereinfällt, indem er sich von Venus am Ende doch dazu überreden lässt, die Verführungskünste der Kupplerin in Anspruch zu nehmen und Doña Endrina zu überlisten, sodass sie ihn heiraten muss, ist also als ein weiterer ironischer Streich zu sehen: Die Leser: innen glauben, nur weil Venus verehrt und angebetet wird, sei es richtig, ihr zu gehorchen. Doch die folgende Endrina-Episode dient als Lehrstück, um eben diesen Fehlschluss wieder aufzulösen. Schon zu Beginn des Streitgesprächs mit Don Amor beschwert sich der Erzpriester bei ihm, dass er in der Liebe erfolglos und darüber erzürnt sei. 520 Dass das sündige Leben schädlich ist, taucht quasi nur am Rande dieser Einleitung auf. Es geht also vornehmlich und auf ironische Weise um den persönlichen Misserfolg des Erzpriesters bei vorangegangenen Liebesabenteuern bzw. seiner Befürchtung, auch in Zukunft nicht ans Ziel gelangen zu können, sowie die Gefahren, die die weltliche Liebe für den Christen mit sich bringt. 521 Dass der Erzpriester Pamphilus, eine lateinische Komödie aus dem 12.-Jahrhun‐ dert, als Vorlage für das LBA verwendete, ist unumstritten, schließlich gibt er selbst in den Strophen 429, 698 und 891 konkrete Hinweise darauf. In dieser Erzählung berät Venus einen jungen Mann, der mit Hilfe einer Kupplerin um eine junge Frau wirbt. Die junge Frau, Galatea, gilt in der Literaturgeschichte und -wissenschaft als Vorbild für Doña Endrina. 522 Für die Untersuchung, die diese Dissertation zum 158 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="159"?> 523 Cf. Wilfried Stroh: loc. cit., pp. 12-14. 524 LBA, c. 429. 525 Ibid., c. 891. Gegenstand hat, ist aber v. a. wichtig, dass der Arcipreste seiner Vorlage Don Amor hinzugefügt hat. Warum er dies für notwendig hielt und nicht gänzlich der Vorlage folgte, soll uns nun interessieren. Die Antwort auf diese Frage könnte in dem bereits Gesagten gefunden werden: Das LBA thematisiert v. a. das bzw. warnt vor dem, was vor dem Geschlechtsakt und ggf. einer Ehe kommt, es geht also um das Verlieben und die Verführung. Hierfür steht Amor, wie wir bei Stroh gesehen haben. 523 Daher muss Amor im LBA in einem besonders langen Dialog vorkommen, bevor seine Gattin Venus das Wort ergreift und den Liebe Suchenden berät. Don Amor hat nicht nur den Autor des Pamphilus, sondern auch Ovid in Liebesdingen unterrichtet, sagt der Liebesgott von sich selbst: Si leyeres Ovidio, el que fue mi crïado, en él fallarás fablas que l’ ove yo mostrado, muchas buenas maneras para enamorado: Pánfilo e Nasón yo ove castigado. 524 Er hat ihnen also erklärt, wie Verführung und weltliche Liebe funktionieren. Am Ende der Endrina-Episode treffen wir noch einmal auf die beiden Autoren, wenn es heißt: Doña Endrina e Don Melón en uno casados son: alégranse las conpañas en las bodas con razón; si villanía he dicho, aya de vos perdón, que lo feo de la estoria dize Pánfilo e Nasón. 525 Man könnte annehmen, dass der Erzpriester damit die Schuld von sich weisen will, wenn seine Leser: innen an der Endrina-Episode Anstoß nehmen, und seine Vorlagen für das Gesagte verantwortlich macht. Dies ist vielleicht ebenfalls ein Hinweis darauf, dass alles, was u. a. von Ovid kommt, als sündhaft verurteilt wird, und seine Lektüre daher mit Vorsicht zu genießen sei. Die Gattin des Don Amor wiederholt im LBA eigentlich nur, was ihr Mann sagt, aber ihre Figur steht in einem etwas anderen Licht. IV.2.3 Doña Venus Venus ist eine Figur des LBA, die in mehreren Facetten dargestellt wird. Sie spielt eine zentrale Rolle, ist sie doch die Göttin der weltlichen Liebe. Im Gegensatz zu Don Amor wird sie vom Erzpriester geradezu angefleht, ihm in Liebesdingen IV.2 Don Amor und Doña Venus als einzelne Figuren und als Ehepaar 159 <?page no="160"?> 526 Cf. ibid., cc. 585 sq. 527 Ibid., c. 576b. 528 Cf. Dimitri Scheludko: „Die Marienlieder in der altprovenzalischen Lyrik“, Neuphilologi‐ sche Mitteilungen, vol. 36/ 1 (1935), 29-48, ibid. 46 sq. 529 Cf. LBA, c. 153. 530 Cf. Anthony N. Zahareas: op. cit., pp. 193-195. Rat zu erteilen und zur Seite zu stehen. Die Art, in der sich der Erzpriester an sie wendet, ähnelt fast schon der Marienverehrung, bezeichnet er sich doch als ihren Diener und sie als diejenige, der alle Adeligen der Welt gehorchen. 526 Dieser Eindruck wird noch verstärkt, indem der Arcipreste auf die Tageszeit verweist, zu der die „Unterhaltung“ mit Venus stattfindet, nämlich als es nach dem Streitgespräch mit Amor Morgen wird („desque vino el alba“ 527 ). „Alba“ bzw. „aurora“ waren die Beinamen, die sowohl die Kirchenväter als auch die Troubadours für Maria verwendeten, weil sie die Morgenröte darstellte, auf die der Tag, also Christus, folgte. 528 Dass der Erzpriester Venus mit einem dieser Beinamen versieht, der legitimerweise der Gottesmutter zusteht, ist also ein weiterer Baustein im Verwirrspiel zwischen loco amor und buen amor. Aber Venus taucht nicht nur als Ratgeberin des Erzpriesters auf, sondern spielt auch noch auf einer anderen Ebene eine wichtige Rolle für das LBA, nämlich im astrologischen Kontext. Der Erzpriester glaubt, im Zeichen der Venus geboren worden zu sein, sodass er gar nicht anders kann, als den Frauen treu zu dienen. 529 Die Astrologie ist in dieser Darstellung sogar eine so machtvolle Instanz, dass sie das Handeln des Menschen jenseits dessen eigener Vernunft und Ideen steuert. Wenn ein Mann unter dem Zeichen der Venus geboren wurde, kann er sich seiner Prädestination, sich der Liebe zu den Frauen zu widmen, nicht erwehren. Die Frage nach der Unumstößlichkeit der Astrologie bzw. das Paradoxon des für sich selbst verantwortlichen Menschen, der aber in einem vorbestimmten Universum lebt, beschäftigte diverse Gelehrte des Mittelalters. Zahareas erläutert, dass einerseits die Meinung vertreten wurde, der Mensch könne sich mit Vernunft und freiem Willen dem Einfluss der Sterne entziehen, andererseits wurde die Macht der Astrologie aber auch manchmal als Ausrede verwendet, um sich den weltlichen Gelüsten hinzugeben. Dass der Erzpriester den freien Willen an dieser Stelle mit keinem Wort erwähnt, zeigt bereits, auf welcher Seite er steht bzw. er unterstreicht damit ein weiteres Mal auf humorvolle Weise, wie der Sünde zugewandte Menschen vielleicht ihre vermeintliche Ohnmacht gegenüber der Welt und ihren verführerischen Elementen rechtfertigen, indem er sich selbst als einer von ihnen und damit als ein der Verführung Ausgelieferter beschreibt. So gibt es kein Mittel gegen die Sterne und ihre Einflüsse auf den Menschen. 530 160 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="161"?> 531 Cf. LBA, cc. 71-76. Laut Zahareas ist Aristoteles eine der Quellen des Erzpriesters, aber nicht wie bisher angenommen die Politiká, sondern die Animalia. Dies macht er an der Wort- und Themenwahl des Erzpriesters fest, wenn er davon spricht, dass der Mensch, ebenso wie die Tiere, an Fortpflanzung und Nahrung interessiert ist. Der Arcipreste transformiert Aristotelesʼ Ansichten so, dass aus der Notwendigkeit der Paarung eine lustvolle Vereinigung von Mann und Frau wird. Cf. Anthony N. Zahareas: op. cit., pp. 183, 187. 532 Cf. LBA, cc. 152-153. 533 Cf. Annett Klingner: Die Macht der Sterne - Planetenkinder: ein astrologisches Bildmotiv in Spätmittelalter und Renaissance, Berlin: ARTE Verlag 2018, pp. 8, 18. Eine der wenigen Ausnahmen stellt die Erläuterung Hildegards von Bingen in Causae et curae dar, in der die Wirkweise andersherum erläutert wird: Für Hildegard reagieren die Planeten auf die großen, die Sterne auf die kleinen Taten der Menschen. Es handelt sich dabei nicht um individuelle Erfahrungen, sondern um Geschehnisse, die für das Kollektiv der Menschen von Bedeutung sind. Gott will mit dieser Zurschaustellung den Menschen ihre eigenen Taten vor Augen führen. Verhalten sie sich nicht gottesfürchtig, provozieren sie damit z.-B. Unwetter und Dürren. Einzige Ausnahme ist der Mond. Auf ihn haben die Menschen keinen Einfluss, viel mehr wird seine Wirkung auf die Menschen hervorgehoben. Cf. Hildegard von Bingen: Ursprung und Behandlung der Krankheiten - Causae et curae, ed. Abtei St. Hildegard, Rüdesheim/ Eibingen, Beuron: Beuroner Kunstverlag 2011, pp. 39-44. Von Natur aus ist der Mensch ein Wesen, das nach Fortpflanzung strebt 531 , schon allein deswegen kann man sich nicht gegen die weltliche Liebe wehren. Zudem bestimmen die Sterne die Neigungen des Menschen. Somit kann er nicht mehr aus seiner Haut und muss sich quasi diesen beiden Instanzen unterwerfen. An dieser Stelle lohnt sich ein genauerer Blick auf die mittelalterliche Wissenschaft der Sternenkunde und die sogenannten Planetenkinder. IV.3 Die Planetenkinder Wenn der Arcipreste geradezu beiläufig erwähnt, er sei im Zeichen der Venus geboren 532 , fragen sich Leser: innen des 21.-Jahrhunderts wohl, was er damit meint, schließlich ist die Venus als Planet bekannt, aber warum das Zeichen der Venus, das ja kein Sternzeichen ist, einen Einfluss auf ihn haben soll, wirkt im ersten Moment unklar. Tatsächlich bezieht er sich hier auf eine jahrhundertealte Wissenschaft. Die Theorie, dass Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, Merkur und Mond das Geschick und den Charakter des Menschen bestimmten, gab es bereits in der Antike und lebte bis in die Renaissance fort. Dies war u. a. möglich, weil sie nicht im Widerspruch zur christlichen Dogmatik stand, sondern sie ergänzte, indem sie von manchen Klerikern instrumentalisiert wurde. 533 IV.3 Die Planetenkinder 161 <?page no="162"?> 534 Cf. Annett Klingner: op. cit., p.-15. 535 Cf. LBA, c. 124. 536 Annett Klingner: op. cit., p.-34. 537 Cf. ibid., p.-32. 538 Cf. Viktor Stegemann: Aus einem mittelalterlichen deutschen astronomisch-astrologi‐ schen Lehrbüchlein - Eine Untersuchung über Entstehung, Herkunft und Nachwirkung eines Kapitels über Planetenkinder, Hildesheim: Verlag Dr. H. A. Gerstenberg 1973 (Prager Deutsche Studien, vol. 52), p.-12. 539 Cf. De civitate Dei, V,5. 540 Cf. Dieter Blume: op. cit., pp. 8 sq. IV.3.1 Entstehung der Theorie über die Planetenkinder Die sieben Planeten galten als Teil des göttlichen Universums, blieben aber stets Gottes Willen unterlegen und dienten ihm als Instrumente. Somit wurde auch die Sterndeutung zu einem Mittel, um den Willen Gottes zu erfahren. Dieser Einsatz der Astrologie genoss so hohes Ansehen, dass sogar Päpste sich Rat bei Astrologen einholten oder selbst in der Astrologie bewandert waren. 534 Den Ursprung nahm sie u. a. bei Claudius Ptolemäus (90-168), den auch der Erzpriester als eine seiner Quellen zitiert 535 , und seinem Sphärenmodell. Ptolemäus integrierte die sieben Planeten in sein geozentrisches Weltbild. Die Erde als Mittelpunkt wird nach diesem System von unsichtbaren konzentrischen Sphären umgeben. […] Ptolemäusʼ Sphärenmodell bildete bis in die Neuzeit die Grundlage für astrologische Theorien von der Beeinflussung des Menschen durch die Gestirne. 536 Weitere Vorreiter der Theorie von den Planetenkinder stammten ebenfalls aus dem arabischen Raum, z. B. verfasste Abū Ma’šar das Introductorium in astronomiam  537 , das häufig rezipiert wurde und ebenfalls als eines der Grundla‐ genwerke der Astrologie galt. In der westlichen Welt stammt der Glaube an die Macht der Sterne und ihren Einfluss auf den Menschen aus dem Hellenismus und der Spätantike. Im 5./ 6. Jahrhundert bekämpfte die Kirche die Astrologie und Schicksalslehre im Westen des Imperium Romanum, dennoch bestanden sie - bis auf wenige Ausnahmen - im Verborgenen weiter fort. 538 V. a. Augustin und seine Ablehnung der Astrologie als „vana scientia“ 539 , Dämonenkult und Bündnis mit dem Teufel war für die Verurteilung der Sternenkunde ausschlaggebend. 540 Wo sie weiter‐ bestanden, wurden die antiken Theorien weitestgehend vereinfacht und die Astrologie nur noch für die sogenannte Tagewählerei oder Stundenbestimmung 162 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="163"?> 541 Cf. Viktor Stegemann: Lehrbüchlein, p. 12; Wilhelm Gundel: „Die lateinische Astrologie des Mittelalters“, in: Franz Boll, Carl Bezold, Wilhelm Gundel edd.: Sternglaube und Sterndeutung - Die Geschichte und das Wesen der Astrologie, Darmstadt: Wissenschaft‐ liche Buchgesellschaft 6 1974, pp. 183-187, ibid. p.-185. 542 Cf. Viktor Stegemann „Planeten“, in: Hanns Bächtold-Stäubli, Eduard Hoffmann-Krayer: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, vol. 7, Berlin: Walter de Gryter 1987, coll. 36-294, ibid. col. 50. 543 Cf. Dieter Blume: op. cit., p.-17. Hartmann Schedel: Das buch der Cronicken vnd gedechtnus wirdigern geschichte[n], Bild 34 von 603, Bayerische Staatsbibliothek München, 2 Inc.c.a. 2922, fol. 5v. verwendet, d. h. zur Bestimmung des richtigen Zeitpunkts für Handlungen wie Aderlass, Feldarbeit, Reisen o.-ä. 541 Ab dem 10. Jahrhundert lebt die Astrologie wieder auf. Kontakte mit der arabischen und byzantinischen Kultur über Spanien und Süditalien trugen im 12.-Jahrhundert maßgeblich zur Entwicklung der Astrologie in Westeuropa bei, schließlich wurden in diesen „fremden“ Kulturen die antiken astrologischen Quellen gepflegt und kultiviert. Astrologie und Astronomie waren eng verbunden und wurden z. B. in Toledo gemeinsam unterrichtet. Die Übersetzertätigkeiten in Spanien trugen zur Erfolgsgeschichte dieser Wissenschaften maßgeblich bei. Einer der ersten Übersetzer war Johannes Hispalensis, der sich im Auftrag des Erzbischofs Raimund in der Zeit von 1135-1153 mit arabischer Literatur zum Thema Astrologie beschäftigte. 542 Laut Dieter Blume interessierten sich ab dem 12. Jahrhundert nicht nur Kleriker für die Sternenkunde, sondern das neu entdeckte Wissen wurde nun auch an den Kathedralschulen und Höfen un‐ terrichtet, wo sich Laienkulturen bil‐ deten. 543 Die Übersetzer waren trotzdem noch Kleriker, die ihre Werke oft Bischöfen widmeten, wie es den damaligen Ausbildungstraditionen entsprach. Allerdings verlegten sich Studien und Diskussionen um diese Werke in das säkulare Milieu, z. B. an die Kathedralschulen in Frankreich. Auch die neu gewonnene soziale Mobilität IV.3 Die Planetenkinder 163 <?page no="164"?> 544 Cf. ibid., pp. 20-22. 545 Cf. Annett Klingner: op. cit., p.-32. 546 Cf. Viktor Stegemann: „Planeten“, col. 37. 547 Annett Klingner: op. cit., p.-7. 548 Cf. Dieter Blume: op. cit., p.-23. 549 Diese Schrift wurde zwar erst ca. 1371 verfasst und um 1472 verbreitet (cf. ibid., p. 112.), also nach dem LBA, aber dennoch ist es sinnvoll, sie hier anzuführen, denn Boccaccio ordnet in seinem Werk das Wissen über die antiken Götter in einer Art, die auch weitere Fragen über das LBA sozusagen im Nachhinein klären. dieser Zeit erfuhr eine neue Dimension, indem bestimmte Lehrer Schüler aus ganz Europa inspirierten, ihre Lebensmittelpunkte an den jeweils besten Studienort zu verlegen. Die Kenntnisse, die nun studiert wurden, regten auch die Entwicklung der Naturwissenschaften an, da man glaubte, bestimmte Vorkommnisse in der Natur auf logische Gesetze zurückführen zu können. An dieser Stelle muss noch einmal Abu Ma’šar angeführt werden, der mit seinen Verweisen auf aristotelische Natur‐ philosophie eine neue Ära für die Sternenkunde einläutete. Gleichzeitig muss man aber auch erwähnen, dass seine Schriften erst mit 300 Jahren „Verspätung“ in der westlichen Welt ankamen. 544 V. a. aber durch die Übersetzerschulen, die auf Geheiß Alfonsʼ X. eingerichtet wurden, erfuhren das Wissen über die arabische Kultur und damit auch die Ster‐ nenkunde eine maßgebliche Erweiterung. Neben dem oben bereits erwähnten Introductorium in astronomiam Abū Ma’šars gehörte auch der sogenannte Pi‐ catrix zu den Standardwerken der Astrologie, spätestens nachdem er auf Anwei‐ sung Alfonsʼ X. hin ins Spanische übersetzt wurde. 545 Seit dem 14. Jahrhundert gewann die aus dem arabischen Raum überlieferte Lehre von der höheren Astrologie immer mehr an Einfluss und wurde mit erneuertem Gedankengut, basierend auf den Lehren der griechisch-römischen Zeit, kombiniert. 546 Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit war die Theorie der sogenannten Plane‐ tenkinder aus dem Leben und Denken der Menschen nicht mehr wegzudenken: Jeder Mensch galt als von einem Gestirn geprägt, unter dessen Einfluss er geboren wurde und der bestimmte, wie dieser Mensch körperlich und charakterlich beschaffen war, welchen Beruf er ausübte und welche gesellschaftliche Stellung er erwarten durfte. Der Geburtsmoment sorgte für eine lebenslange, familiäre Verbindung zum Gestirn, man wurde quasi zu dessen „Kind“. 547 Die Planeten folgen lediglich dem göttlichen Plan, wenn sie z. B. den Kreislauf der Natur, inklusive Entstehung und Verfall des Lebens kreieren. 548 Zu den wichtigsten Sternenkundigen des Mittealters zählen Ándalo di Negro und sein Schüler Giovanni Boccaccio, der im 14. Jahrhundert sein Werk GDG verfasste. 549 Für ihn spielen die Parallelen zwischen dichterischen Darstellungen 164 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="165"?> 550 Ibid., p.-113. 551 Cf. ibid. 552 Cf. Viktor Stegemann: Lehrbüchlein, pp. 12-16. 553 Cf. LBA, c. 151. 554 Die Beschreibungen der Planetenkinder stammen u. a. von Annett Klingner. Cf. Annett Klingner: op. cit., pp. 19-27. Die Abbildungen aus der Handschrift M III 36 tauchen zwar bei Klingner auf (cf. ibid., Abb. 7.56-7.62), sind aber nur Beispiele dafür, wie Darstellungen der Planeten ausgesehen haben. Sie wurden ausgewählt, weil viele Details darauf wegen der Einfachheit der Bilder gut zu erkennen sind. Auch wenn sie ca. 100 Jahre jünger sind als das LBA, vermitteln sie einen deutlichen Eindruck davon, wie man sich im Mittelalter Planetenkinder vorgestellt hat. 555 Cf. Annett Klingner: op. cit., p.-19. der Götter und das astrologisch beschriebene Wirkspektrum der Planeten eine zentrale Rolle. Die mythischen Überlieferungen dienen als „poetische Aus‐ kleidung komplexer astrologischer Zusammenhänge“ 550 . Die durch Boccaccio inspirierte Kombination aus Astrologie, antiker Literatur, zeitgenössischer Wis‐ senschaft und humanistischer Lektüre wird im 14.-Jahrhundert lebendig. 551 Die Vorstellung von den Planeten und ihren Kindern lebte noch lang weiter. Nach und nach gelangten diese Lehren im 15.-Jahrhundert, teilweise sogar noch im 16.-Jahrhundert, auch in den Rest Europas und erreichten so großes Ansehen, wie es zuletzt im Hellenismus und in der Spätantike der Fall war. 552 Auf eine detaillierte Darstellung dieser Entwicklung nach dem 14. Jahrhundert wird hier allerdings verzichtet. Wichtig für die vorliegende Arbeit ist lediglich, dass der Arcipreste sich der damals weitverbreiteten Theorie über die charakter- und schicksalsgebundenen Planetenkinder bediente, auch wenn er behauptet, von der Astrologie und dem Astrolabium nicht viel zu wissen 553 . Auf welche Art er dies macht und welchen Zweck er damit verfolgt, wird weiter unten in diesem Kapitel erläutert. Zunächst werden aber die einzelnen Planeten vorgestellt, um darzulegen, wie sie wirken und welche Rolle die Venus in diesem Gefüge einnimmt. IV.3.2 Die sieben Planeten In verschiedenen Werken werden die Charaktereigenschaften, Berufe, Vorlieben etc., die die Planeten ihren Kindern mit auf den Weg geben, ähnlich beschrieben: 554 Saturn wird u. a. eine trockene, kalte, bittere, heftige Natur zugesprochen. Er steht für den Ackerbau, Landgutbesitz, Vermögen und Reichtum ebenso wie Geiz und Armut, ein hartes Leben, Gefangenschaft usw. Aber auch Ei‐ genschaften wie Besonnenheit, Verstehen, Prüfen und Erwägen gehören zu ihm. Die Kinder des Saturn werden oft als böse dargestellt, ihnen wird ein entbehrungsreiches Leben zugeschrieben. 555 IV.3 Die Planetenkinder 165 <?page no="166"?> 556 Cf. Viktor Stegemann: „Planeten“, coll. 121-122. 557 Cf. Annett Klingner: op. cit., p.-20. 558 Cf. ibid., p.-21. 559 Cf. ibid., pp. 40-41. 560 Cf. LBA, cc. 181-576. 561 Cf. Annett Klingner: op. cit., p.-22. 562 Cf. Silke Ackermann: Sternstunden am Kaiserhof - Michael Scotus und sein Buch von den Bildern und Zeichen des Himmels, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2009, p. 271, Abschnitt E, Teil III, [38]. 563 Cf. Annett Klingner: op. cit., p.-22. Jupiter hingegen steht für Gerechtigkeitsliebe. 556 Seine Eigenschaften sind u. a. Wärme, Feuchtigkeit, Milde und Mäßigung, er gilt als ein wahrer Liebender, Freund des Guten und Feind des Übels. 557 Die oben genannte Gerechtigkeitsliebe wird wohl der Grund sein, aus dem der Erzpriester in den Strophen 199-216 Don Júpiter als Richter der Frösche einsetzt. Die Erwähnung der Venus als ein Planet, dessen Eigenschaften Einfluss auf den Menschen haben, ist also nicht die einzige im LBA. Mars steht - wie schon in der Antike - für Krieg und Gewalt. Das ihm zugehörige Element ist das Feuer. Seine Natur ist heiß und trocken, seine Kinder gelten als cholerisch und böse. Verderben, Pest und Tod werden mit ihm assoziiert. 558 Annett Klingner wusste ebenfalls, dass der Erzpriester im LBA das Thema Planetenkinder anspricht. Sie versteht allerdings Don Amor als Mars 559 , was einerseits verständlich ist, schließlich sind in der antiken Mythologie Mars und Venus ein Ehepaar. Allerdings kann Klingners Interpretation hier nicht übernommen werden, denn es gibt keine Hinweise darauf, dass der Erzpriester Mars gemeint haben könnte und ihn Don Amor genannt hätte. Amor und Mars haben zwar gemeinsam, dass sie mit Krieg und Feldherrentum assoziiert werden, aber der Erzpriester unterstreicht in seinem Streit mit Don Amor deutlich die Weisheiten des antiken Liebesgottes. Auch gäbe es wenig Grund für den Erzpriester, den Gott Mars der teuflischen Machenschaften und Verführung der Menschen zur weltlichen Liebe zu bezichtigen. 560 Der Verehrung der Sonne liegt der Apollo-Kult aus Kleinasien zugrunde. 561 Apollo steht für das Eine, das höchste Prinzip und wird wegen seiner Einzig‐ artigkeit als „Sol“ bezeichnet (lat. „solus“). Außerdem geht die Sonne tageintagaus (lat. „solite“) auf und unter. 562 Die Sonne nimmt eine mittlere Position in der Reihe der sieben Planeten ein und bewirkt laut Ptolemäus die vier Jahreszeiten ebenso wie Tag und Nacht. Sonnenkinder gelten als reich, mildtätig und selbstbewusst. Ihnen wird ein ausgesprochen gutes Leben zuteil, in dem sie hohe Positionen in der Gesellschaft innehaben, z. B. sind sie Könige oder Generäle. 563 166 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="167"?> 564 Cf. Annett Klingner: op. cit., p.-25. 565 Cf. Joan Corominas ad locum, in: LBA, ed. Joan Corominas, pp. 550-552; Kapitel III.3.3. 566 Cf. Gundolf Keil: „Humoralpathologie“, in: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner edd.: Enzyklopädie Medizingeschichte, vol. 1, Berlin: Walter de Gruyter 2007, pp. 641-643, ibid. p. 642. Merkur gilt als vielgestaltig. Er ist der Herold der Götter und in der Lage, ihre Worte zu deuten. Seine Schnelligkeit zeichnet ihn aus. Ihm ist das Prinzip der Vermittlung zu eigen, daher sind seine Kinder auch häufig auf Gebieten anzutreffen, die mit Kommunikation in Verbindung gebracht werden, z. B. Kleriker. Auch Handel und Warentransfer gehören zu den Aufgabengebieten der Merkurkinder, aber ebenso trifft man sie in den sieben freien oder bildenden Künsten an. 564 Der Erzpriester hätte also eigentlich ein Kind des Merkur sein müssen. Allerdings erinnert die Beschreibung der äußeren Erscheinung des Arcipreste in der Garoza- Episode eher an einen Sanguiniker 565 , dem wiederum Jupiter zugeschrieben wäre, denn im Hochmittelalter entwickelte sich folgendes Schema für die Humorallehre: 566 elementa aer ignis terra aqua qualitates calidum et humidum calidum et siccum frigidum et siccum frigidum et humidum humores sanguis cholea melancholia phlegma temperamenta sanguinicus cholericus melancholicus phlegmaticus membra cor hepar splen cerebrum colores rubeus citrinus niger albus aetates iuvenis vir senex infans tempora anni ver aestas autumnus hiems genera vir - - mulier planetae Iuppiter Mars Saturnus Luna Wenn sich der Erzpriester aber dennoch als Kind der Venus bezeichnet und damit behauptet, sich den Liebesabenteuern widmen zu müssen, karikiert er vielleicht die Theorie über die Planetenkinder. IV.3 Die Planetenkinder 167 <?page no="168"?> Abb. 1 - Abb. 2 - Abb. 3 - Abb. 4 - 168 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="169"?> Abb. 5 - Abb. 6 - Abb. 7 - Unbekannter Künstler: Planetenkinder, 2. Viertel des 15. Jh., Universitätsbibliothek Salzburg, Sondersammlungen, Handschrift M III 36. - Abb. 1: Saturn mit den Sternzeichen Stein‐ bock und Wassermann. Abb. 2: Jupiter mit den Sternzeichen Schütze und Fische. Abb. 3: Sonne mit dem Sternzeichen Löwe. Abb. 4: Mars mit den Sternzeichen Widder und Skorpion. Abb. 5: Venus mit den Sternzeichen Stier und Waage. Abb. 6: Merkur mit den Sternzeichen Jung‐ frau und Zwillinge. Abb. 7: Mond mit dem Sternzeichen Krebs. IV.3 Die Planetenkinder 169 <?page no="170"?> 567 Cf. Annett Klingner: op. cit., pp. 26 sq. 568 Cf. ibid.: op. cit., pp. 22-24. 569 Cf. Giovanni Boccaccio: Genealogy of the Pagan Gods, vol. 1, Books I-V, ed. et transt. Jon Solomon, Cambridge: The I Tatti Renaissance Library 2011, III,22,3 und 14-16. Boccaccios Werk ist neben dem Ovide moralisé (cf. Kapitel IV.1) eines der Werke, das hinsichtlich der Möglichkeit einer Verbindung antiker Mythologie mit dem Christentum bis in die Frühe Neuzeit hineingewirkt hat. Er deutet die Göttergestalten euhemeristisch, d.-h. er sieht sie als durch ihren Ruhm verewigte Götter an. Für Boccaccio gab es schon immer eine monotheistische Urreligion, die alle Menschen gemeinsam haben, weil sie vom para‐ diesischen Menschenurpaar abstammen. Ihm zufolge ist diese Urreligion in heidnischen Kreisen lediglich getrübt worden, aber nie abhandengekommen. Mythologie ist für ihn eine weitere Form göttlicher Mitteilung, die Erinnernswertes und Verehrungswürdiges durch ihre Verschleierung schützt und zugleich die Leser: innen herausfordert, mit Scharfsinn zu lesen. Cf. Jörg J. Berns: loc. cit., pp. 97-98. Dem Mond werden u. a. die Eigenschaften Milde und Hilfsbereitschaft zuge‐ schrieben. Seine wechselnde Gestalt im Zuge der Mondphasen haben ihm die Schirmherrschaft über Werden und Vergehen, Wachstum und Fruchtbarkeit ein‐ gebracht. Seine Kinder gelten als wankelmütig, leichtgläubig und unstet. Sie sind oft als Magier, Marktschreier oder Vogelfänger tätig, d. h. sie haben eine niedrige soziale Stellung. Auch wird der Mond oft als Verursacher von Geisteskrankheiten angesehen. 567 Dies erklärt auch die Etymologie des spanischen Wortes „lunático“ (dt. launisch, verrückt), des englischen Ausdrucks „lunatic“ (dt. verrückt, wahnsinnig) oder des italienischen Wortes „lunatico“ (dt. launenhaft, unbeständig, wunderlich). Venus und ihre Kinder stehen für Fröhlichkeit und Vergnügen, Sinnlichkeit und Fruchtbarkeit. Liebe, Schönheit, Kunst und Geselligkeit - alles, was die Lust weckt, gehört zu ihr. Die Attraktivität der antiken Liebesgöttin überträgt sich auch auf ihre Kinder. Sie trägt eine Art Krone, die sowohl für ihren Scharfsinn als auch für ihre Fröhlichkeit steht. Die langen Haare symbolisieren Liebesfreuden, die Rose, die sie in der Hand trägt, steht für Sinnenfreude. Besonders interessant ist aber Folgendes: Ihr Gewand und Schmuck sind Zeichen ihrer Tugend, die auf andere anziehend wirkt. Ihre Feinfühligkeit befähigt sie, andere mit Liebe zu durchdringen. Dennoch ist sie ein Sinnbild für Zügellosigkeit. 568 Ein weiteres ihrer Attribute ist die Taube. 569 Der Legende nach wetteiferten Cupido und Venus darum, wer mehr Blumen auf einem Feld pflücken konnte. Cupido lag zunächst vorn, weil er mit seinen Flügeln schneller war, Venus holte sich aber Hilfe durch die Nymphe Peristera, die Cupido aus Wut darüber in eine Taube verwandelte. Venus nahm sich der Verwandelten an. Peristera galt zuvor als Prostituierte und ihr Name περιστερά bedeutet „Taube“ auf Altgriechisch. Außerdem sagt man Tauben nach, sie vermehrten sich fortlaufend und brüteten das ganze Jahr über. Daher ist die Venus auch die Herrin über die Menschen, die über eine ausgeprägte Libido und Laszivität verfügen. Häufig sieht man sie mit Schwänen, die ihren Wagen ziehen, 170 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="171"?> 570 Cf. GDG, III,22,14-17. 571 Cf. ibid., III,22,17. 572 Cf. Annett Klingner: op. cit., pp. 23 sq. 573 Cf. CP, Collatio 5,3-4; Kapitel IV.2.2. wie es Boccaccio in der GDG beschreibt. Der Wagen steht für die kontinuierliche Bewegung des Planten, die Schwäne können laut Boccaccio zwei verschiedene Bedeutungen haben: Ihr weißes Gefieder könnte für die weibliche Pracht stehen. Oder ihr süßer Gesang, den sie v. a. dann erklingen lassen, wenn sie dem Tode nahe sind, könnte auf Liebende anziehend wirken. Liebende sagen häufig, sie stürben vor Liebesqualen, und zeigen dies in Liedern. 570 Hier sieht man also die enge Verbindung zwischen Liebe und Tod, die in Kapitel V.3 noch behandelt wird. Die Pflanzen, die mit Venus assoziiert werden, sind die Myrte und die Rose, beide wegen ihres betörenden Duftes. Die Myrte wächst außerdem an Küsten und ist daher eine maritime Pflanze, die Frauen guttut. Von der Venus heißt es, sie sei ebenfalls im Meer geboren, deshalb wird ihr dieses Gewächs zugeschrieben. Die Myrte kann außerdem zu einem Aphrodisiakum verarbeitet werden, wie Boccaccio berichtet. 571 Ihre Kinder sind Liebende, Tänzer und Musiker, die häufig mit Saiteninstru‐ menten dargestellt werden. Das Badehaus ist ebenfalls ein oft verwendetes Motiv in Bildern, die Venus und ihre Kinder zeigen. Aber auch die Völlerei und jede Art von fleischlichem Genuss gehören ebenfalls zu ihr. 572 Dass die Völlerei (gastrimargia) ein Tor zur Sünde und das Hauptlaster ist, das sich am schwersten unterbinden lässt, lehrt Cassian. Vor allem gehören gastrimargia und fornicatio eng zusammen. 573 Francesco del Cossa: April, der Triumph der Venus, Saal der Monate, c. 1468-69, Palazzo Schifanoia, Ferrara. IV.3 Die Planetenkinder 171 <?page no="172"?> 574 Andalò di Negro hatte ausgesprochen großen Einfluss auf Boccaccio und die GDG. Cf. inter alia Peter R. Schwertisk: Die Erschaffung des heidnischen Götterhimmels durch Boccaccio - Die Quellen der „Genealogia Deorum Gentilium“ in Neapel, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2014, pp. 455-459. Somit könnte man sagen, über die Venus kommt zunächst die Völlerei und damit die weiteren Laster ins menschliche Leben, v. a. aber die sexuelle Begierde. An dieser Stelle fällt auf, dass die mythologische Figur der Venus mit den astrologischen Erkenntnissen des Mittelalters verschwimmt. Man benannte Planeten nach den heidnischen Göttern und schrieb ihnen gleichzeitig deren Attribute, Fähigkeiten, aber auch Defizite und Laster zu. Besonders deutlich wird dies bei Boccaccio, der die Aussagen der Poeten der Mythologie und der Astrologen über die Venus miteinander in Beziehung setzt. Er sagt, er beziehe sich auf Abū Ma’šar und Andalò di Negro 574 , wenn er die Charakteristika und Fähigkeiten der Venus beschreibt: Volunt igitur Venerem esse feminam complexione flegmaticam atque nocturnam, apud amicos humilem et benignam, acute meditationis in compostitionibus carminum, periuria ridentem, mendacem, credulam, liberalem, patientem et levitatis plurime, honesti tamen moris et aspectus, hylarem, voluptuosam, dulciloquam maxime, atque aspernatricem corporee fortitudinis et animi debilitatis. Est huius insuper signifi‐ care pulchritudinem faciei, et corporis venustatem, rerumque omnium decorum, sic et usum preciosorum unguentorum, aromatum fragrantium, alearum ludos et calculorum, seu latronum, ebrietates preterea et commesationes, vina, mella et quecunque ad dulcedinem et calefactionem pertinere videntur, eque omnis generis fornicationes atque lascivias et coitus multitudinem, magisteria circa statuas et picturas, sertorum compositiones et vestium indumenta, auro argentoque contexta, delectationem plurimam circa cantum et risum, saltationes, fidicinas, et fistulas nuptiasque et alia multa. Sie wollen daher, dass Venus eine Frau von phlegmatischem und nächtlichem Tem‐ perament sei, gegenüber Freunden demütig und gütig, voll scharfsinniger Gedanken bei der Komposition von Gedichten; die über Meineide lacht, die lügt, vertrauensselig, großzügig, geduldig und von höchster Leichtlebigkeit ist, die aber dennoch ehrbar wirkt in ihrem Benehmen und in ihrer äußeren Erscheinung; sie ist heiter, sinnlich; von höchstem Liebreiz ist ihre Rede, sie verachtet körperliche Stärke ebenso wie geistige Schwäche. Ihres ist es, die Schönheit eines Antlitzes zu bezeichnen, die Anmut eines Körpers und alles, was schmückt, weiterhin bezeichnet sie den Gebrauch kostbarer Salben und wohlriechender Duftstoffe, Würfel- und Brettspiele mit Steinen oder Figuren; Zechgelage und lärmende Fackelzüge, Weine, Honigspeisen und alles, was zum Wohlbefinden und zu behaglicher Wärme beitragen kann, gleichermaßen 172 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="173"?> 575 GDG, III,22,5. Eigene Übersetzung. 576 Cf. ibid., III,22,6-7. 577 Cf. LBA, cc. 583-649. 578 Cf. ibid., cc. 151-155. 579 Cf. ibid., cc. 152-153. 580 Cf. ibid., c. 153. bezeichnet sie unzüchtige Handlungen und Ausschweifungen jedweder Art sowie häufigen Geschlechtsverkehr; sie besitzt Meisterschaft in der Herstellung von Stand‐ bildern und Gemälden, im Flechten von Blütenkränzen und in der Fertigung von mit Gold und Silber gewirkten Gewändern; das meiste Vergnügen findet sie an Gesang und Tanz, an Saiten- und Flötenspiel, an Hochzeitsfesten und an vielem anderen dieser Art. 575 Anschließend sagt Boccaccio, er wolle den Deckmantel von den Fiktionen der Poeten abziehen. Er erläutert u. a., dass die Sterne von Gott geschaffen und von ihm mit der Fähigkeit ausgestattet wurden, Einfluss auf den Kreislauf des Lebens, die Jahreszeiten und die Geschicke der Menschen zu nehmen. Andalò di Negro habe dargelegt, dass die Venus für alles zuständig sei, was mit Liebe, Freundschaft, Freude, Verbundenheit zwischen Lebewesen und der Zeugung von Nachkommenschaft zusammenhängt. Laut Boccaccio werden also alle Freuden der Menschen von der Venus hervorgebracht. 576 IV.3.3 Der Planet Venus im Libro de buen amor und der Arcipreste als Kind der Venus Die Erwähnung der Venus im LBA einerseits als Göttin, die die Geschicke der Liebenden lenkt 577 , andererseits als Planet und Schicksalsstifterin für ihre Kinder 578 war für das zeitgenössische Publikum des Erzpriesters also keine Überraschung. Dass er sich selbst als Kind der Venus bezeichnet bzw. glaubt, ein Kind der Venus zu sein 579 , resultiert aus einer schon damals jahrhunderte‐ alten Tradition, die keineswegs dem christlichen Glauben widerspricht. Ob die Tatsache, dass der Erzpriester sagt, er „glaube“, er sei im Zeichen der Venus geboren 580 , könnte entweder der Auftakt zur Karikatur der Theorie sein, denn als Erzpriester hätte er auch ein Kind des Merkur sein können, oder es ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Erzählungen im LBA nur frei erfunden und eben nicht biographisch sind, d. h. hier würde dieser Ausdruck des Glaubens lediglich bedeuten, dass sich der Arcipreste vorstellt, ein Venuskind würde so handeln und denken, wie er es im Verlauf seines Werkes darstellt. Falls doch biographische Elemente im LBA verarbeitet werden, wäre diese Erwähnung vielleicht ein Hinweis darauf, dass sein Geburtsdatum nicht dokumentiert IV.3 Die Planetenkinder 173 <?page no="174"?> 581 Cf. Kapitel II.1. wurde und ihm selbst nicht bekannt ist, weswegen er nur aufgrund seiner Veranlagung davon ausgeht, er sei ein Venuskind und im Sternzeichen des Stiers oder der Waage geboren. Andererseits könnte es auch eine Art ernstgemeinte Rechtfertigung sein, sich zur weltlichen Liebe zu äußern. Schließlich ist er als Venuskind für dieses Thema prädestiniert und indem er Venus in cc. 585-607 um ihren Rat bittet, richtet er seine Rede auch auf einen Teil seines eigenen Wesens, der qua Geburt mit dem Planeten Venus und der Liebesgöttin verbunden ist und bleibt. Was genau den Erzpriester zu dieser Sequenz motiviert hat, kann nicht endgültig beantwortet werden, da die Frage nach seiner Identität und dem biographischen Anteil im LBA nach wie vor nicht geklärt ist. 581 Es wäre auch möglich, dass der Erzpriester ein weiteres Mal seinen Humor durchscheinen lässt, wenn er sich als Kind der Venus bezeichnet, das aufgrund allgemeiner Schicksalslehre leider keine andere Wahl hat, als sich auf sündhafte Liebes‐ abenteuer einzulassen. Damit hätte der Erzpriester hier erneut eine Methode aufgegriffen, um sich über die „hilflosen“ Menschen, die nur eine Ausrede suchen, um Sünden begehen zu können, lustig zu machen und sein Publikum zum Lachen zu bringen - und er hätte Kritik an der Astrologie als Ergänzung zur Religion und richtigen Lebensführung geübt. Dieser Eindruck wird verstärkt, wenn es in c. 161 heißt: „[…] el amor sienpre fabla mintiroso.“ Dieser Satz ergänzt die Erläuterungen über den Einfluss der weltlichen Liebe, die angeblich aufgrund der astrologischen Prädisposition auf die Venusgeborenen einwirkt und diese sich dann ihrem Drang nach Sünde nicht erwehren können. Es ist also zu vermuten, dass hinter der kurzen Erwähnung des Planeten Venus im LBA doch mehr steckt als auf den ersten Blick erkennbar. Aber zurück zu Venus und ihrer Symbolik: Gerade der spannungsreiche Widerspruch der Göttin, sich zwischen Tugend und Zügellosigkeit zu bewegen, verstärkt noch einmal die Verwirrung, die einem Christen auf dem Weg zur rechten Liebe begegnen kann. Sie symbolisiert hier zwei völlig unterschiedliche Qualitäten. Eine Unterscheidung, wann und wo die eine anfängt und die andere aufhört, ist in Venus und auch in der Liebe manchmal schwer zu sehen, wie uns der Erzpriester deutlich vor Augen führt. Während also Don Amor im LBA als Verführer betrachtet wird, steht hinter der Figur der Doña Venus eine längere und traditionsreichere Geschichte im Sinne ihrer „Mutterschaft“ zu ihrem Planetenkind, dem Erzpriester. Auch wenn der Arcipreste zu ihr eine friedlichere und sogar von Zuneigung geprägte Beziehung zu haben scheint, ist sie hier doch die Ehepartnerin des Don Amor 174 IV Allegorien der weltlichen Liebe <?page no="175"?> und eine Repräsentantin der weltlichen Liebe, die stets mit Vorsicht zu genießen ist. Zusammenfassend lässt sich also sagen, Amor und Venus werden als Ehe‐ paar dargestellt, weil Amor als verheirateter Mann seine „Führungsqualitäten“ beweist, beide als Einheit von Verliebtsein sowie Liebesakt die Gesamtheit der törichten Liebe repräsentieren und sozusagen mit vereinten Kräften den Christen weg von der caritas hin zur cupiditas leiten wollen. Weitere Beispiele für die Ehe werden im Folgenden erläutert, denn obwohl die Liebesabenteuer des Erzpriesters scheinbar im Vordergrund stehen, spielt die Ehe im LBA ebenfalls eine größere Rolle als wohl bisher wahrgenommen. IV.3 Die Planetenkinder 175 <?page no="177"?> 582 Cf. LBA, cc. 77-81. 583 Cf. ibid., cc. 112-122. 584 Cf. ibid., cc. 166-180. 585 Cf. ibid., cc. 910-923. 586 Cf. ibid., cc. 950-1042. 587 Cf. ibid., cc. 1318-1320. 588 Cf. ibid., cc. 1321-1330. 589 Cf. ibid., cc. 1331-1507. 590 Cf. ibid., cc. 1508-1512. 591 Cf. ibid., cc. 1618-1625. V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor Wie bereits zuvor beschrieben, sind die Liebesbeziehungen bzw. der Wunsch nach einer solchen das, worum es im LBA vordergründig geht. Allerdings scheitern die meisten Annäherungsversuche des Erzpriesters: Die erste Dame, in die er sich verliebt, erwidert seine Gefühle schlichtweg nicht 582 ; die zweite wird von dem Boten Ferrand Garçia verführt 583 ; die dritte weist ihn ab, weil sie sich nicht versündigen will 584 . Die vierte Dame im LBA ist Doña Endrina, die hier gesondert und u. a. als Beispiel für die Ehe untersucht werden soll. Die fünfte Dame ist die Dame in der Estrade, mit der aber ebenfalls keine Beziehung entsteht, weil sie verstirbt 585 . Die nachfolgenden vier Frauen sind alles andere als Damen: Es handelt sich um die vier Gebirglerinnen, die sowohl äußerlich als auch charakterlich eher Monstern ähneln als liebenswerten Ge‐ schöpfen 586 . Der nächste Versuch, die Liebe zu finden, richtet sich erneut an eine Witwe, allerdings erreicht die Kupplerin nichts, denn es fehlt seitens des Erzpriesters an Anstrengung. 587 Die Dame, die er beim Gebet beobachtet, heiratet einen anderen. 588 Darauf folgt die Garoza-Episode, die im Folgenden gesondert analysiert werden soll. 589 Auch die Verkupplungsversuche mit einer Araberin scheitern. 590 Der letzte Bote, den sich der Erzpriester sucht, Don Furón, zitiert die Gedichte seines Auftraggebers, die dieser für eine Doña Fulana - also keine bestimmte Dame, denn „fulana“ bedeutet so viel wie „XY“ - geschrieben hat, öffentlich, d. h. hier wurde noch ein letzter Versuch unternommen, eine Liebesbeziehung zu finden, aber sie scheitert an der Unfähigkeit des Boten. 591 Bis auf die Garoza-Episode sind die meisten Liebesabenteuer des Erzpriesters auf loco amor gegründet und müssen daher scheitern. Auch die Endrina-Episode ist, wie oben bereits geschildert, ein Beispiel für loco amor, wobei sie wenigstens ein vermeintlich gutes Ende nimmt, indem die beiden Liebenden heiraten, und somit gerade noch als vertretbare, erfolgreiche Variante der weltlichen Liebe gesehen <?page no="178"?> 592 Cf. ibid., cc. 950-992. 593 Cf. ibid., cc. 1331-1507. werden kann. In der Garoza-Episode wird loco amor überwunden, indem Glaube und agape sich als stärker als cupiditas erweisen. Dennoch ist das LBA weit davon entfernt, die Verbindung von Mann und Frau als gänzlich verwerflich einzustufen. Die christliche Leibfeindlichkeit wird hier nicht verteidigt. Viel eher geht es darum, den Leser: innen zu vermitteln, wie auch im Zuge der weltlichen Liebe eine gute, gottgefällige Variante gelebt werden kann. Dass Mann und Frau füreinander geschaffen sind, wird mehrmals deutlich gesagt, z.-B. in Strophe 109: Si Dios, quando formó el omne, entendiera que era mala cosa la muger, non la diera al omne por conpañera nin d’él non la feziera; si para bien non fuera, tan noble non saliera. Diese Strophe, die nicht nur eine Rechtfertigung für das Zusammenleben von Mann und Frau ist, sondern auch erläutert, dass Frauen nicht nur schlecht sind und durchaus Gutes an sich haben, weist bereits darauf hin, dass im LBA die Liebe zwischen den Geschlechtern auch als eine Option für die richtige Lebensführung angesehen wird, nur soll diese nach den christlichen Regeln der Ehe gelebt werden. Welche dies sind, zeigt das folgende Kapitel. V.1 Ehe Bei genauerer Betrachtung der Liebesabenteuer fällt etwas auf, was in den bisherigen Interpretationen des LBA scheinbar übersehen wurde: Sie zielen in den meisten Fällen auf eine Eheschließung, nicht auf kurzfristige Freuden ab. Die einzigen, die dies nicht im Sinn haben, sind die erste und zweite Gebirglerin 592 , weil sie raue und ungehobelte Frauen sind, und Doña Garoza 593 , die als Nonne ihrem Gelübde folgt und ihren „Liebhaber“ mit Gebeten um‐ sorgt, anstatt sich der weltlichen Liebe hinzugeben oder eine Ehe einzugehen. Bei allen anderen Damen geht es ums Heiraten. Bereits in c. 97 erkennt die Angebetete, dass ihr Verehrer die Ehe im Sinn hat, dennoch wehrt sich die Dame gegen seine Avancen. In c. 1316 sendet der Erzpriester seine Botin aus, damit sie ihm eine Frau sucht, weil er sich nach den Freuden der Ehe sehnt. Auch die Kupplerin weiß um den Wunsch ihres Auftraggebers, sich zu verheiraten, und rät den Damen dazu. So sagt sie z. B. in c. 761b zu 178 V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor <?page no="179"?> 594 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p.-294, Fußnote zu c. 840b. 595 Cf. LBA, cc. 474-489. 596 Cf. ibid., cc. 394-397. Endrina: „[T]omad aqueste marido por omne e por velado.“ Es sei an dieser Stelle an Corominasʼ These erinnert, die in Kapitel III.3.3 erwähnt wird, dass es sich bei der Heirat zwischen Endrina und Melón nicht um eine legitime Ehe handeln könne, weil man sonst von „velados“, nicht von „casados“ gesprochen hätte. Aber an dieser Stelle wird von „velado“ gesprochen und dieselbe Personenkonstellation gemeint, was „velados“ und „casados“ zu Synonymen macht. Somit scheint Corominasʼ These ein weiteres Mal als widerlegt erwiesen zu sein. Auch in c. 840 versucht die Kupplerin, Doña Endrina die Ehe schmackhaft zu machen. Die Frage, die sich nun stellt, lautet, warum eine Ehe nicht durchgängig als eine weltliche Variante von buen amor angesehen wird, sondern die Damen skeptisch, ja sogar ablehnend reagieren, wenn die Ehe doch etwas Gutes ist. Joset kommentiert zu c. 840b, dass er hier neben dem Lobpreis einer Ehe auch eine Anspielung auf törichtes Verhalten sieht. 594 Eine Erklärung hierfür liegt wohl darin, dass auch die Ehe gewisse Risiken birgt. Zum einen können Ehen auf unsittlichem Wege entstehen, wie in den Kapiteln III.3.3 und V.1.1 am Beispiel der Endrina-Episode gezeigt wird, zum anderen können auch innerhalb geschlossener Ehen törichte Handlungen die weltliche Liebe zu einer Sünde machen. Der Erzpriester verdeutlicht das Fehlverhalten von Eheleuten an verschiedenen Stellen, z. B. vernachlässigt Pitas Payas seine junge Frau, indem er sie zu lang allein lässt und ihr somit Anlass zum Ehebruch gibt 595 . Dieses Exempel wird zwar von Don Amor erzählt, um die lügnerischen Tendenzen von Frauen zu erläutern, denn Pitas Payasʼ Frau entkommt mit einer List, aber sie enthält dennoch den Hinweis, sich seiner Frau nicht entziehen zu dürfen. Laut dem Erzpriester ist es Don Amors Schuld, wenn Frauen sich trotz Ehe in andere Männer als ihre Ehegatten verlieben 596 , also muss auch die Ehe vor cupiditas bewahrt werden. Sie schützt also nicht vor törichter Liebe, sondern muss ebenfalls entsprechend den christlichen Richtlinien entstehen und gelebt werden. Grundsätzlich ist das Suchen bzw. Finden einer Ehefrau für einen Mann ein erstrebenswertes Ziel, denn „wer eine Frau gefunden hat, der hat etwas Gutes gefunden und Wohlgefallen erlangt vom Herrn“ (Spr 18,22). Die grundlegenden Richtlinien für eine gottesfürchtige Ehe findet man bei Paulus. Der Apostel schreibt in 1Kor 7,1-9, wie sich Christ: innen in der Ehe verhalten sollen bzw. wie er die Ehe im Verhältnis zur Ehelosigkeit und Enthaltsamkeit sieht: V.1 Ehe 179 <?page no="180"?> 597 Cf. inter alia Gerd Häfner: „Ehe und Familie im Zeugnis des Neuen Testaments“, in: Konrad Hilpert, Bernhard Laux edd.: Leitbild am Ende? Der Streit um Ehe und Familie, Freiburg: Herder 2014, pp. 59-72, ibid. pp. 63-65; id.: „Ehelosigkeit ,um des Himmelreiches willen‘ - der neutestamentliche Befund“, in: Erich Garhammer ed.: Zölibat zwischen Charisma und Zwang, Würzburg: Echter 2011, pp. 19-34, ibid. pp. 24-27. 598 Cf. Anders Nygren: Eros und Agape, vol. 1, pp. 111 sq. Wovon ihr aber geschrieben habt, darauf antworte ich: Es ist gut für den Mann, keine Frau zu berühren. Aber um Unzucht zu vermeiden, soll jeder seine eigene Frau haben und jede Frau ihren eigenen Mann. Der Mann leiste der Frau, was er ihr schuldig ist, desgleichen die Frau dem Mann. Die Frau verfügt nicht über ihren Leib, sondern der Mann. Ebenso verfügt der Mann nicht über seinen Leib, sondern die Frau. Entziehe sich nicht eins dem andern, es sei denn eine Zeit lang, wenn beide es wollen, damit ihr zum Beten Ruhe habt; und dann kommt wieder zusammen, damit euch der Satan nicht versucht, weil ihr euch nicht enthalten könnt. Das sage ich aber als Erlaubnis und nicht als Gebot. Ich wollte zwar lieber, alle Menschen wären, wie ich bin, aber jeder hat seine eigene Gabe von Gott, der eine so, der andere so. Den Ledigen und Witwen sage ich: Es ist gut für sie, wenn sie bleiben wie ich. Wenn sie sich aber nicht enthalten können, sollen sie heiraten; denn es ist besser zu heiraten, als sich in Begierde zu verzehren. Man sieht in diesem Zitat also, dass Paulus keinen allgemein verpflichtenden Zölibat fordert, sondern durchaus berücksichtigt, dass Enthaltsamkeit nicht allen Menschen möglich ist. Lediglich diejenigen, die Gott dazu geschaffen hat, enthaltsam zu sein, sollen sich auch daran halten. 597 Innerhalb der Ehe ist die Ausübung sexueller Handlungen wohl nicht nur erlaubt, sondern eine Pflicht, die man sich gegenseitig „schuldig“ ist. Nygren geht sogar so weit zu sagen, dass laut Paulus die Ehegatten verpflichtet seien, auf Askese zu verzichten, wenn einer der Ehepartner körperliche Liebe wünscht, denn auch das wäre Teil der christlichen Nächstenliebe im Sinne von agape unter Bezug auf Röm 9,3. 598 Dies ist also der Fehler, den Pitas Payas begeht: Er lässt seine Frau zu lang allein. Auffällig ist an dem oben genannten Zitat aber v. a. die Gleichberechtigung: Mann und Frau haben dieselben Rechte und Pflichten. Welche Wirkkraft die Ehe hat, findet sich überraschenderweise dort, wo der Apostel von einer möglichen Ehescheidung spricht, nämlich in 1Kor 7,10-16: Den Verheirateten aber gebiete ich nicht, sondern der Herr, dass die Frau sich nicht von ihrem Manne scheiden soll - hat sie sich aber geschieden, soll sie ohne Ehe bleiben oder sich mit ihrem Mann versöhnen - und dass der Mann seine Frau nicht verstoßen soll. Den andern aber sage ich, nicht der Herr: Wenn ein Bruder eine ungläubige Frau 180 V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor <?page no="181"?> hat und es gefällt ihr, bei ihm zu wohnen, so soll er sich nicht von ihr scheiden. Und wenn eine Frau einen ungläubigen Mann hat und es gefällt ihm, bei ihr zu wohnen, so soll sie sich nicht von ihm scheiden. Denn der ungläubige Mann ist geheiligt durch die Frau und die ungläubige Frau ist geheiligt durch den gläubigen Mann. Sonst wären eure Kinder unrein; nun aber sind sie heilig. Wenn aber der Ungläubige sich scheiden will, so lass ihn sich scheiden. Der Bruder oder die Schwester ist nicht gebunden in solchen Fällen. Zum Frieden hat euch Gott berufen. Denn was weißt du, Frau, ob du den Mann retten wirst? Oder du, Mann, was weißt du, ob du die Frau retten wirst? Dass die Zugehörigkeit zum Christentum sogar auf ungläubige Ehe‐ partner: innen abfärbt und hierbei ebenfalls kein Unterschied zwischen Männern und Frauen gemacht wird, beinhaltet ein hohes Maß an Gleichberechtigung und verleiht der Ehe eine heilende, ja sogar errettende Wirkung. Auch in 1Kor 7,25-38 unterrichtet Paulus seine Anhänger: innen über sitt‐ liches Verhalten, indem er erneut auf die Wahl zwischen Zölibat und Ehe hinweist: Über die Jungfrauen habe ich kein Gebot des Herrn; ich sage aber meine Meinung als einer, der durch die Barmherzigkeit des Herrn Vertrauen verdient. So meine ich nun, es sei gut um der kommenden Not willen, es sei gut für den Menschen, ledig zu sein. Bist du an eine Frau gebunden, so suche nicht, von ihr loszukommen; bist du nicht gebunden, so suche keine Frau. Wenn du aber doch heiratest, sündigst du nicht, und wenn eine Jungfrau heiratet, sündigt sie nicht; doch werden solche in äußere Bedrängnis kommen. Ich aber möchte euch gerne schonen. Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht. Ich möchte aber, dass ihr ohne Sorge seid. Wer ledig ist, der sorgt sich um die Sache des Herrn, wie er dem Herrn gefalle; wer aber verheiratet ist, der sorgt sich um die Dinge der Welt, wie er der Frau gefalle, und so ist er geteilten Herzens. Und die Frau, die keinen Mann hat, und die Jungfrau sorgen sich um die Sache des Herrn, dass sie heilig seien am Leib und auch am Geist; aber die verheiratete Frau sorgt sich um die Dinge der Welt, wie sie dem Mann gefalle. Das sage ich zu eurem eigenen Nutzen; nicht um euch einen Strick um den Hals zu werfen, sondern damit es recht zugehe und ihr stets und ungehindert dem Herrn dienen könnt. Wenn aber jemand meint, er handle unrecht an seiner Jungfrau, wenn sie erwachsen ist, und es kann nicht anders sein, so tue er, was er will; er sündigt nicht, sie sollen heiraten. Wenn einer aber in seinem Herzen fest ist, weil er nicht unter Zwang ist und einen freien Willen hat, und beschließt in seinem Herzen, seine V.1 Ehe 181 <?page no="182"?> 599 Cf. Summa Theologiae, II a -II ae , Questio 154, Articuli 1-10. 600 Cf. ibid.: II a -II ae , Questio 153, Articulus 3. Jungfrau unberührt zu lassen, so tut er gut daran. Also, wer seine Jungfrau heiratet, der handelt gut; wer sie aber nicht heiratet, der handelt besser. Es bleibt also dabei: Wer kann, soll unverheiratet und damit auch enthaltsam bleiben. Wer das nicht kann, soll (eine Jungfrau) heiraten, denn an sich ist nichts Schlimmes daran, eine Verbindung einzugehen. Aus Bibelversen wie den hier genannten entstanden später und v. a. durch Thomas von Aquin und Augustin Regeln für das sittliche Verhalten vor, während und - sollte ein Ehegatte versterben - auch nach einer Ehe. Thomas beschreibt, welche sexuellen Handlungen nicht geduldet werden, besonders außerhalb einer Ehe. In Questio 154, Articuli 1-10, der Summa Theo‐ logiae heißt es, der Geschlechtsverkehr zwischen einem ungebundenen Mann und einer ungebundenen Frau, die nicht mehr Jungfrau ist, sei nicht gestattet (fornicatio soluti cum soluta); ebenso wenig ist der Verkehr zwischen einem ungebundenen Mann und einer ungebundenen Frau, die noch Jungfrau ist, geduldet (stuprum soluti cum soluta); die Vergewaltigung einer ungebundenen Jungfrau durch einen ungebundenen Mann ist ebenfalls schändlich (raptus soluti cum soluta); Ehebruch wird als sündhaft betrachtet (adulterium), genauso wie der Verkehr mit einer nahen Verwandten (incestus). 599 Das schlimmste Vergehen ist aber das sacrilegium, also der Verkehr mit einer Person geistlichen Standes. Auch in der Ehe selbst soll der ordo rationis eingehalten werden, d. h. Geschlechtsverkehr ist nur zum Zwecke der Zeugung von Nachkommen erlaubt. 600 Angewandt auf das LBA ergeben diese Regeln des Aquinaten nun folgendes Bild: Sowohl mit als auch ohne Kuppler(innen) zielen die Verführungsversuche des Liebenden in den meisten Fällen zunächst auf fornicatio bzw. stuprum hin, was zwar mit einer Ehe - wie bei Endrina - noch geheilt werden könnte, aber dennoch unsittlich ist. Gegen diese Vergehen wehren sich die Damen also. In Endrinas Fall geht die christliche Argumentation sogar noch weiter. Sie ist eine Witwe und fällt damit laut Paulus unter eigene Regeln. In 1Tim 5,3-14 lesen wir: Ehre die Witwen, die allein sind. Wenn aber eine Witwe Kinder oder Enkel hat, so sollen diese lernen, zuerst im eigenen Hause fromm zu leben und sich den Eltern dankbar zu erweisen; denn das ist wohlgefällig vor Gott. Das ist aber eine rechte Witwe, die alleinsteht, die ihre Hoffnung auf Gott setzt und beharrlich fleht und betet Tag und Nacht. Eine aber, die ausschweifend lebt, ist lebendig tot. Dies gebiete, damit 182 V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor <?page no="183"?> 601 Cf. LBA, c. 582. 602 Cf. ibid., cc. 871-891. 603 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p.-295, Fußnote zu c. 845a. sie untadelig seien. Wenn aber jemand die Seinen, besonders seine Hausgenossen, nicht versorgt, hat er den Glauben verleugnet und ist schlimmer als ein Ungläubiger. Es soll keine als rechte Witwe anerkannt werden unter sechzig Jahren; sie soll eines einzigen Mannes Frau gewesen sein und ein Zeugnis guter Werke haben: wenn sie Kinder aufgezogen hat, wenn sie gastfrei gewesen ist, wenn sie den Heiligen die Füße gewaschen hat, wenn sie den Bedrängten beigestanden hat, wenn sie allem guten Werk nachgekommen ist. Jüngere Witwen aber weise ab; denn wenn sie sich wegen ihres Begehrens von Christus abwenden, so wollen sie heiraten. Sie stehen dann unter dem Urteil, dass sie die erste Treue gebrochen haben. Daneben sind sie faul und lernen, von Haus zu Haus zu laufen; und nicht nur faul sind sie, sondern auch geschwätzig und vorwitzig und reden, was nicht sein soll. So will ich nun, dass die jüngeren Witwen heiraten, Kinder zur Welt bringen, den Haushalt führen, dem Widersacher keinen Anlass geben zu schmähen. In 1Kor 7,8.9 heißt es, dass Witwen heiraten sollen, wenn es ihnen nicht gelingt, enthaltsam zu bleiben und auch in 1Kor 7,39.40 spricht der Apostel von den Witwen: Eine Frau ist gebunden, solange ihr Mann lebt; wenn aber der Mann entschläft, ist sie frei zu heiraten, wen sie will; nur dass es in dem Herrn geschehe! Seliger ist sie aber, nach meiner Meinung, wenn sie ledig bleibt. Ich meine aber: ich habe auch den Geist Gottes. Indirekt heißt dieses letzte Zitat, dass es keine Verhaltensregeln für Männer gibt, deren Frauen versterben - und im Übrigen auch keine Trauerzeit, wie es später christlicher Brauch wurde. Insgesamt besagen diese Bibelverse aber alle dasselbe: Wenn eine Witwe, v. a. eine junge, nicht enthaltsam bleiben kann, darf sie wieder heiraten, um sich vor einem Leben voller Begierde und unsittlichem Verhalten zu schützen. Doña Endrina ist eine junge Witwe 601 , somit darf sie wieder heiraten. Aber ganz ohne Makel ist sie nicht, denn, wie wir in 1Tim 5,12 gesehen haben, brechen Witwen, die wieder heiraten, die erste Treue; dennoch ist ihnen die Wiederheirat erlaubt, sozusagen um größeren Schaden abzuwenden. Endrina dürfte also heiraten, macht sich aber der fornicatio soluti cum soluta schuldig, als sie mit Don Melón allein ist, was nur durch eine Heirat geheilt werden kann 602 . Das happy end, von dem bereits in Kapitel III.3.3 gesprochen wurde, ist also nur eine Notlösung und fällt damit in die Kategorie loco amor. 603 V.1 Ehe 183 <?page no="184"?> 604 Cf. LBA, cc. 993, 1028. 605 Cf. Summa Theologiae, II a -II ae , Questio 153, Articulus 3. 606 Cf. Michel Foucault: Geständnisse, pp. 23-24, 27. 607 Cf. inter alia ibid., pp. 30-78. Zwei andere Frauen wollen hingegen heiraten, kommen aber nicht als Bräute infrage: die dritte und vierte Gebirglerin. 604 Dies könnte daran liegen, dass sie nicht keusch sein wollen und daher die Gefahr besteht, dass sie ihre Leidenschaften auch in der Ehe ausleben würden, was nicht mit christlichen Vorgaben vereinbar wäre. Auch in der Ehe soll man sich seinen Leidenschaften nicht völlig hingeben, sondern die körperliche Liebe möglichst zügeln bzw. lediglich zur Zeugung von Kindern nutzen, wie z. B. Thomas von Aquin es beschreibt. 605 Wie nun aber nach Paulus mit den Themen Ehe und Sexualität umgegangen wurde, schildert z. B. Michel Foucault in Die Geständnisse des Fleisches. Laut Foucault stammen die Regeln zur Verdammung bzw. der Ersatz der Lust durch einen respektvollen Umgang in der Ehe von nichtchristlichen Philosophen und Führern, die dann von den Kirchenvätern übernommen wurden. Im frühen Christentum sind diese Regeln - außer bei Paulus - nicht zu finden. Foucault berichtet zu Beginn seiner Abhandlung von den Schriften Justins und Athenagorasʼ. Letzterer griff z. B. auf die Lehren der Stoa zurück, wenn er beschreibt, dass eine zweite Ehe unrechtmäßig sei. Dies tat er, so Foucault, um die Christen von ihrem schlechten Ruf unmoralischen Handelns zu befreien, indem sie Verhaltensregeln befolgten, die heidnischen Gelehrten bereits bekannt waren. Foucault bezieht sich auch auf Clemens von Alexandrien und dessen Paidagogos, in dem es nicht um eine reine Verurteilung der Sexualität geht. Die von Foucault zitierten Passagen besagen eigentlich etwas Ähnliches wie Paulusʼ Verhaltensregeln: Ehe und Enthaltsamkeit bringen gleichermaßen „Lasten und Pflichten“ mit sich. Wer sich der Verantwortung stellt, eine Familie zu gründen, wird von Clemens sogar besonders für seine Verdienste gelobt. 606 Neben der Zügelung der sexuellen Triebe dient die Ehe auch der Zeugung von Kindern 607 , wobei die Reihenfolge dieser zwei Aspekte je nach Autor unterschiedlich ausfällt. Zeugung und Fortpflanzung von Kindern werden nicht explizit als der hauptsächliche Zweck der Ehe angesehen, wie dies in späteren Jahrhunderten der Fall war und im Kirchenrecht festgelegt wurde, so wie es beispielsweise noch im Kanon 1013 des Codex Iuris Canonici von 1917 dokumentiert ist, in dem drei fines matrimonii wie folgt bestimmt werden: 184 V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor <?page no="185"?> 608 Codex Iuris Canonici online: https: / / www.codex-iuris-canonici.de/ cic17_lat_liber3.htm [Stand: 20.1.2023], III.VI.VII.Can. 1013 §1. 609 Cf. Michel Foucault: Geständnisse, pp. 360-362; Johannes Chrysostomus: „Homélie sur le Mariage“ de Saint Jean Chrysostome, http: / / site-catholique.fr/ index.php? post/ Homelie-s ur-le-Mariage-3-de-Saint-Jean-Chrysostome [Stand 25.1.2023]; id.: Vom jungfräulichen Stande - De virginitate, in: Ausgewählte Schriften des heiligen Chrysostomus, Erzbischof von Konstantinopel und Kirchenlehrer, transt. Chrysostomus Mitterrutzner, Kempten 1890 (Bibliothek der Kirchenväter, 1 Serie, vol. 3), 39. Chrysostomus bezieht sich wiederum auf Paulus und den ersten Brief an Timotheus sowie den ersten Brief an die Korinther. Somit kann auch hier festgehalten werden, dass die Lehren des Paulus eine ausschlaggebende Rolle spielen. Die paulinischen Lehren scheinen allgegenwärtig, wenn es um Liebe und Ehe im Christentum geht. Auf diese Weise wird erneut ein klarer Bezug zwischen Paulus und dem Erzpriester sichtbar. Michel Foucault erwähnt auch den Bezug zu Augustin, allerdings ohne genaue Angabe eines Textes. Vielleicht könnte er De nuptiis et concupiscentia I,8 gemeint haben, wo es u.-a. heißt: „Da nun das Gut der Ehe durch die Hinzufügung dieses Übels nicht verloren gehen kann, so meinen manche Unvorsichtige, dies sei kein hinzugefügtes Übel, sondern etwas, das zum ursprünglichen Gut gehöre. Aber nicht nur der feinsinnigen Vernunft, sondern auch dem gewöhnlichen natürlichen Urteil fällt ein Unterschied ein, der sowohl bei dem ersten Manne und der ersten Frau offensichtlich war als auch bei den heutigen Eheleuten noch gilt. Was sie später in der Vermehrung bewirkten, das ist das Gute der Ehe; was sie aber zuerst durch Scham verhüllten, das ist das Übel der Konkupiszenz, die überall den Anblick scheut und in ihrer Scham das Private sucht. Da nun die Ehe auch aus diesem Übel heraus etwas Gutes bewirkt, so hat sie sich dessen zu rühmen.“ (Eigene Übersetzung.) Cf. Aurelius Augustinus: On marriage and concupiscence. In two books, ht tps: / / ccel.org/ ccel/ schaff/ npnf105/ npnf105.xvi.v.html [Stand: 25.1.2023], I,8. Ebenso bezieht sich Foucault auf Clemens von Alexandrien und dessen Paidagogos, I,VII,60,2 sowie I,X,95,1 und I,XI,96,3. Allerdings muss hier ein Fehler unterlaufen sein, denn unter den angegebenen Textstellen finden sich keine Stellungnahmen zur Ehe oder gar zur Zeugung von Nachkommen. Wie sich Mann und Frau begegnen sollen, wird aber in I,IV,10,2 und I,IV,10,3 geschildert. Diese Stellen besagen, dass die Ehe sittsam und keusch geführt werden soll. In III,XI,57,3 steht zudem, die Frauen sollen den Männern durch Sittsamkeit Vorbilder sein und deren Triebe abschwächen. Dieser Punkt wird für das Verhältnis zwischen Don Polo und Doña Garoza noch einmal wichtig. Cf. Kapitel V.1.2. Matrimonii finis primarius est procreatio atque educatio prolis: secundarius mutuum adiutorium et remedium concupiscentiae. Erstrangiger Zweck der Ehe ist die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft; zweitrangiger die gegenseitige Hilfe und die Heilung des Begehrens. 608 Dagegen stellen Clemens von Alexandrien und Johannes Chrysostomus die Zeugung von Kindern nur an zweite Stelle, wenn es darum geht, die Gründe für eine Eheschließung zu benennen. Für sie dient die Ehe in erster Linie der möglichst reduzierten Ausübung des sexuellen Verlangens. Bei Augustin tritt die Frage der Nachkommenschaft deutlicher in den Fokus der Ehe. 609 An dieser V.1 Ehe 185 <?page no="186"?> 610 Michel Foucault: Geständnisse, p. 428. In einer Ehe sind sexuelle Handlungen quasi legitimiert. Erfolgen sie zum Zwecke der Zeugung von Kindern, sind sie frei von Sünde; unternimmt man sexuelle Handlungen, um weitere Unzucht zu vermeiden, gelten sie als „verzeihliche Verfehlungen“ (ibid.). Generell ist die Ehe aber noch kein Freifahrtschein für Sexualität. Auch Eheleute sollen keusch sein und nur dann körperlich werden, wenn einer der oben genannten Gründe zutrifft. Andererseits tragen sie aber auch Verantwortung für den jeweils anderen und dessen sittlichen Lebenswandel, d. h. weder Mann noch Frau sollen sich dem Ehepartner verwehren, damit er bzw. sie nicht seiner bzw. ihrer Natur zum Opfer fällt und Unzucht betreibt. Cf. ibid., pp. 366-368, 427-430 unter Bezug auf Augustin De bono conjugali 6, 10, 11. Cf. Aurelius Augustinus: De bono conjugali, Christian Classics Ethereal Library, https: / / ccel.org/ ccel/ schaff/ npnf103/ npn f103/ Page_399.html [Stand: 25.1.2023]; 1Kor 7,1-9; Röm 9,3. 611 LBA, cc. 1592 sq. 612 Cf. Michel Foucault: Geständnisse, pp. 336-337, 339-342, 421. Auf p. 421 beschreibt Foucault das Beispiel der Ähnlichkeiten zwischen Ordination und Ehe, denn beides gilt für die Ewigkeit. Wer einmal ordiniert wurde, bleibt es, egal ob er sein Amt ausübt oder nicht; ebenso bleiben Eheleute verheiratet, bis der Tod sie scheidet. 613 Cf. ibid., pp. 260 sq. Stelle sollte darauf hingewiesen werden, dass auch in dem oben zitierten Brief an die Korinther die Fortpflanzung als Grund für eine Ehe nicht genannt wird - ebenso wenig übrigens im LBA: Es geht lediglich um das Entstehen der Liebe zwischen Mann und Frau im Gegensatz zur Liebe des Menschen zu Gott. Gewiss könnte man sowohl bei Paulus als auch beim Arcipreste davon ausgehen, dass die Zeugung von Nachkommen innerhalb einer Ehe so selbstverständlich ist, dass sie nicht eigens thematisiert werden muss; dies wäre allerdings ein - bekanntermaßen problematisches - argumentum e silentio. Da die Endrina- und die Garoza-Episode die einzigen Liebesabenteuer sind, die im LBA „erfolgreich“ verlaufen, gilt es, sie genauer zu untersuchen. Schließ‐ lich zeigen sie die einzig legitimen Wege auf, für die eine Verbindung von Mann und Frau frei von Sünde ist bzw. die höchstens „verzeihliche Verfehlungen“ 610 aufweisen. Der Erzpriester erwähnt, ähnlich wie der Apostel Paulus, die Keuschheit als eine Art Waffe gegen die Sünde der Ausschweifung. Aber auch Heirat und Ehe sind legitime Mittel, um einem sündhaften Leben entgegenzuwirken. 611 Michel Foucault zeigt, wie nah sich die Regeln des Ordenslebens und der Ehe in Sachen Keuschheit und Mäßigung stehen. Er beschreibt, dass im frühen Christentum die Prinzipien des mönchischen Lebens entstehen und diese im Laufe der Zeit auch außerhalb der Klöster Anwendung fanden. 612 Zwar wird Jungfräulichkeit hierbei als die beste aller Lebensweisen bezeichnet, weil diese der einzige Weg ist, dem Tod bereits auf Erden zu entgehen und den Engeln ähnlich zu werden 613 , aber die Ehe wird ebenfalls als gottgerecht erachtet, denn somit wird denjenigen, die nicht für die Enthaltsamkeit geschaffen 186 V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor <?page no="187"?> 614 Cf. ibid., exempli gratia pp. 70, 356, 363-364, 404 sq. 615 Cf. Gerd Häfner: „Ehelosigkeit“, pp. 27-28. An dieser Stelle sei noch einmal auf Kapitel IV.2.1.3 verwiesen, in dem erörtert wird, ob Amor als verheirateter Mann dargestellt wird, um sich als Ratgeber in Sachen Brautwerbung zu qualifizieren. 616 Johannes Chrysostomus: Adversus oppugnatores vitae monasticae, in: Patrologia Graeca, ed. Jaques-Paul Migne, vol. 47, coll. 319-386, ibid. 372. 617 Michel Foucault: Geständnisse, pp. 339 sq. 618 Foucault beschreibt mehrere Ansichten aus dem frühen Christentum hinsichtlich der Frage, ob Adam und Eva Geschlechtsverkehr hatten oder nicht. Schließlich befiehlt Gott ihnen „Seid fruchtbar und mehret euch“ (Gen 1,28) bereits vor dem Sündenfall. In welcher Form sich diese beiden ersten Geschöpfe Gottes im Paradies mehren hätten sollen, hat v. a. unter den frühen Christen zu verschiedenen Spekulationen geführt. Cf. Michel Foucault: Geständnisse, pp. 257-259, 362-364, 403-407. Einig sind sich aber wohl alle darin, dass es sich um einen legitimen, gottgefälligen Weg gehandelt haben muss. Im Zuge dieser Beschreibungen ist Foucault ein Fehler unterlaufen. Er behauptet, laut Chrysostomus habe Gott seinen Befehl, fruchtbar zu sein und sich zu mehren, bereits ausgesprochen als Adam noch allein im Paradies war. Cf. ibid., p. 363. Tatsächlich steht allerdings in Gen 1,27.28: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. Und Gott segnete sie und sprach sind, eine Möglichkeit gegeben, ein weltliches, aber dennoch gottgefälliges Leben zu führen. Durch die Zeugung von Nachkommen wird die Menschheit verbunden und man überwindet den Tod, indem die Menschheit und damit die göttliche Schöpfung immer weiter fortbestehen. Gleichzeitig regulieren eheliche Verbindungen die Zucht unter den Menschen, wodurch die Seelenruhe aufrechterhalten bleibt. 614 Bereits in der christlichen Urgemeinde war die Ehe Voraussetzung, um bestimmte Ämter wahrnehmen zu können, z. B. Episkopen, Diakone und Presbyter sollten als Vorbilder für gute Eheführung verheiratet sein, allerdings nur einmal; eine Scheidung und Wiederheirat wurde nicht geduldet (1Tim 3,1-17; Tit 1,6-9). 615 Auch die Verantwortung, die mit einer Ehe einhergeht, wird bei Chrysostomus mit den Pflichten zölibatär lebender Mönche gleichgesetzt und erhält damit einen Ritterschlag: Σφόδρα ἀπατᾷς σαυτὸν καὶ σφάλλεις, εἰ ἄλλα μὲν οἴει τὸν βιωτικὸν, ἕτερα δὲ ἀπαιτεῖσθαι τὸν μοναχόν ἡ γὰρ διαφορὰ τούτοις ἐν τῷ γαμῆσαι καὶ μὴ, τῶν δὲ ἄλλων ἕνεκεν ἁπάντων κοινὰς ὑπέχουσι εὐθύνας. 616 Ihr irrt euch gewaltig und macht einen schweren Fehler, wenn ihr glaubt, dass von einem Mann der Welt und einem Mönch anderes verlangt wird; der Unterschied zwischen beiden ist, dass der eine verheiratet ist und der andere nicht; beim Rest sind sie den gleichen Pflichten unterworfen. 617 Die sogenannte Paradiesehe soll als Vorbild für Eheleute dienen, schließlich war die Verbindung von Adam und Eva zu Beginn frei von Begierde. 618 Scham, V.1 Ehe 187 <?page no="188"?> zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch […]“. Die Erläuterung, dass Eva aus der Rippe Adams geschaffen wurde, findet man in Gen 2, 21-23, dies scheint aber eine detaillierte Beschreibung dessen zu sein, was in Gen 1,28 bereits angedeutet wurde. Verwunderlich ist dieses Missgeschick vor allem deshalb, weil Foucault zuvor bereits Bezug auf beide Bibelstellen genommen hat und dort die Reihenfolge richtig wiedergegeben wird. Cf. Michel Foucault: Geständnisse, pp. 255 sq. Auf welche Textstelle Foucault sich bei Chrysostomus hier bezieht, ist leider nicht belegt. 619 Cf. Gerd Häfner: „Ehelosigkeit“, pp. 27-28. 620 Therese Fuhrer: „Augustinus von Hippo“, in: Christoph Riedweg, Christoph Horn, Dietmar Wyrwa edd.: Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike, Basel: Schwabe 2018, pp. 1672-1750, ibid. p. 1723. Fuhrer bezieht sich auf Gerald Bonner: „Augustinus (uita)“, in: Cornelius Mayer, Erich Feldmann u. a. edd.: Augustinus-Lexikon, vol. 1, Basel: Schwabe 1986-1994, coll. 519-550. 621 Cf. Aurelius Augustinus: Reply to Faustus the Manichaean - Contra Faustum Mani‐ chaeum. Libri XXXIII, transt. Richard Stothert, Bombay: Aeterna Press. 2014, XXIII,8. 622 Therese Fuhrer: loc. cit., p. 1723. Fuhrer bezieht sich auf Augustins De bono conjugali 5 und Confessiones IV,2. Begierde und Sünde entstanden erst nach dem Sündenfall; Adams und Evas Zusammenleben war bis dahin ein Vorbild für die Verbindung von Mann und Frau. 619 Laut Augustin war zwar der Zölibat nicht einmal für Mönche zwingend notwendig für ein gottesfürchtiges Leben, aber die einzige Möglich‐ keit, „dem prälapsarischen, also begierdelosen Zustand des Menschen näher zu kommen“ 620 . Treue und das kirchliche Sakrament sind hierfür die notwendigen Voraussetzungen. Bleibt die Ehe aber ebenfalls begierdelos, gilt sie für Augustin als eine Paradiesehe und stellt das Ideal des Zusammenlebens von Mann und Frau dar. 621 Obwohl er dem Konkubinat eigentlich ablehnend gegenübersteht, akzeptiert Augustin es dennoch als eheähnlichen Zustand, wenn sich die Konkubinatspartner: innen ein Leben lang treu sind. Augustin selbst erzählt in den Confessiones von seinem Konkubinat mit einer Frau und rechtfertigt dieses Leben mit ihr eben durch die treue Lebensweise. 622 Wie eine keusche Ehe auch aussehen kann, berichtet Hieronymus in seiner Erzählung Leben und Gefangenschaft des Mönches Malchus (Vita Malchi). Er berichtet darin, dass er in Maronia den Greis Malchus und dessen Frau traf, ein Paar, das ein vorbildlich keusches, christliches Leben führte. Auf die Frage, ob sie verheiratet oder verwandt seien, antwortet ihm der Mann, der in dieser Geschichte keinen Namen hat, er habe sein Elternhaus verlassen, weil Vater und Mutter ihn in die Ehe zwingen wollten, er aber hätte Gott zuliebe jungfräulich bleiben wollen. Nach vielen Jahren fernab seines Elternhauses, wollte er seine inzwischen verwitwete Mutter besuchen, sei aber auf einer Reise ausgeraubt und in die Sklaverei verkauft worden. Er fügte sich seinem Schicksal und arbeitete hart, weswegen sein Herr ihm eine Frau zur Belohnung geben wollte, ebenfalls 188 V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor <?page no="189"?> 623 Cf. Hieronymus: Leben und Gefangenschaft des Mönches Malchus - Vita Malchi, in: Des heiligen Kirchenvaters Eusebius Hieronymus ausgewählte Schriften, ed. et transt. Ludwig Schade, Kempten/ München, J. Kösel/ F. Pustet 1914 (Des heiligen Kirchenvaters Hieronymus ausgewählte Schriften, vol. 1; Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, vol. 15), Kapitel 2-6. 624 Ibid.: Kapitel 6. 625 Cf. ibid.: Kapitel 6-9. 626 Ibid.: Kapitel 9. 627 Cf. ibid.: Kapitel 9-10. eine Sklavin, die ihrem Mann bei dem oben genannten Raub entrissen wurde. Der Mann habe dies eher als Strafe empfunden, wäre er ja nun nicht nur dazu gezwungen gewesen, sich mit einer verheirateten Frau zu vereinen, sondern auch seine Jungfräulichkeit aufzugeben. Als er sich deswegen lieber umbringen wollte, gesteht ihm die Sklavin, es ginge ihr genauso, und sie schlägt ihm vor, wie Bruder und Schwester miteinander zu leben: 623 Ich bitte dich um Jesu Christi willen und beschwöre dich bei der Not dieser Stunde, vergieße nicht dein Blut und verübe meinetwegen kein Verbrechen! Gilt es aber zu sterben, dann zücke zuerst gegen mich den Dolch! Auf diese Weise wollen wir uns vereinigen. Auch wenn mein Gatte zu mir zurückkehrte, würde ich die Keuschheit bewahren, wie ich es in der Gefangenschaft gelernt habe. Ja ich wollte lieber umkommen, als sie verlieren. Warum willst du sterben? Etwa um dich nicht mit mir vereinigen zu müssen? Ich würde ja selbst in den Tod gehen, wenn du dieses versuchen solltest. Nimm mich an als Gemahlin der Jungfräulichkeit, pflege mit mir eine geistige Vereinigung statt der körperlichen. Unsere Herren mögen denken, du seiest mein Mann. Christus weiß, daß du mein Bruder bist. Von unserem Ehebund werden wir sie leicht überzeugen. 624 Der Mann ist von diesem Vorschlag erstaunt, nimmt ihn aber trotzdem an. Beide halten sich an das Versprechen und leben eine Zeit lang gemeinsam so in der Gefangenschaft weiter. Eines Tages aber fliehen sie doch. Auf der Flucht werden sie von ihrem Herrn verfolgt, verstecken sich in einer Höhle mit mehreren Gängen, von der sie nicht wissen, dass darin eine Löwin mit ihrem Jungen lebt. Als der Herr und sein Sklave ihnen in die Höhle folgen, werden diese beiden von der Löwin gerissen. Obwohl der Mann und seine Frau Gefahr laufen, denselben Tod wie ihre Verfolger zu sterben, schützt sie ihr keusches Leben: 625 „In all diesen Gefahren schützte uns nur das Bewusstsein, die Keuschheit gerettet zu haben, wie eine Mauer.“ 626 Tatsächlich werden sie von der Löwin verschont und können ihre Flucht fortsetzen, bis sie in Sicherheit sind und ihr vorbildliches Leben weiterführen können. 627 Diese Erzählung des Hieronymus rühmt nicht V.1 Ehe 189 <?page no="190"?> 628 Susanna Elm: „Syneisakten“, in: Hans D. Betz ed.: Religion in Geschichte und Gegenwart, http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2405-8262_rgg4_SIM_025906 [Stand: 26.1.2023]. 629 Cf. Gabriela Signori: Von der Paradiesehe zur Gütergemeinschaft - Die Ehe in der mittelalterlichen Lebens- und Vorstellungswelt, Frankfurt: Campus 2011, pp. 23-51. 630 In Kapitel V.2 wird näher auf die Kupplerin(nen) eingegangen. nur dieses eine Beispiel, sondern zeigt den Leser: innen, dass eine enthaltsame Ehe durchaus möglich ist und sogar einen Schutz vor größten Gefahren darstellt. Des Weiteren wurden im 3. Jahrhundert zum ersten Mal die sogenannten Syneisakten erwähnt, eine Askesepraxis, die u. a. auf Paulus bzw. auf Gal 3,28 zurückgeht und das begierdelose Zusammenleben von Mann und Frau unter einem Dach bezeichnet. Diejenigen, die sich für diese Lebensweise entschieden, gelobten Enthaltsamkeit. Es wird vermutet, dass Frauen in dieser Konstellation die finanziell besser gestellten Personen waren. 628 Was das soziale Gefüge zwischen Mann und Frau im Mittelalter betrifft, dachte man lange Zeit, Frauen seien Männern unterlegen gewesen. Gabriela Signori aber geht von einer anderen Sichtweise aus: Im Mittelalter galten Mann und Frau als gleich. Diese Gleichheit war die Grundvoraussetzung für Freundschaft und Liebe, ohne die eine gute Ehe nicht möglich schien. Sowohl Theologen als auch Philosophen teilten diese Ansicht, obwohl sie sie unter‐ schiedlich begründeten, d. h. die Theologen sahen den Ursprung der Gleichheit in der Schöpfungsgeschichte geschildert, weil Eva aus der Rippe des Mannes geschaffen sei, was die enge Verbindung der beiden und damit eine Freundschaft symbolisiere. Dass Eva aus der Rippe nahe Adams Herzen geschaffen wurde, steht in diesem Bild für Liebe; dass sie nicht aus seinem Haupt und auch nicht aus seinen Füßen stammt, zeigt, dass sie weder über noch unter ihm steht, sondern an seiner Seite; das Material, also der Knochen, steht für Stärke. Philosophen beriefen sich u. a. auf Aristoteles und seine Schriften. Zwar erfüllten Mann und Frau aufgrund ihrer unterschiedlichen, naturgegebenen Fähigkeiten ebenso unterschiedliche Aufgaben, aber keine davon wurde als mehr oder weniger wert angesehen. Wie respektvoll ein Mann mit seiner Frau umging, war u. a. ein Zeichen von Ehre für einen Mann. Dennoch wurde der Mann als das Haupt der Frau angesehen, wie es auch in 1Kor 11,3 geschrieben steht. So entsteht eine gewisse Rangordnung, wobei Unterordnung und Gleichheit keine Gegensätze sind. Da der Ehestand zuerst mit Adam und Eva im Paradies geschaffen wurde, genießt er im Mittelalter hohes Ansehen. 629 Beide Lebensweisen, eine sexuell zurückhaltende, langfristige und treue Verbindung von Mann und Frau sowie v. a. die Jungfräulichkeit sind also mit christlichen Werten vereinbar. Die „erfolgreichen“ Verbindungen im LBA spiegeln Varianten dieser beiden Lebensstile wider. Die Kupplerin 630 verwendet 190 V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor <?page no="191"?> 631 Leo Spitzer: „Kunst des Arcipreste“, p.-265. 632 Cf. LBA, c. 582. 633 Die Schilderungen zu Don Melón und Doña Endrina beziehen sich auf die sogenannte Endrina-Episode, d.-h. LBA, cc. 653-891. 634 Cf. ibid., c. 681. 635 Cf. ibid., c. 445. 636 Cf. ibid., c. 575. viel Zeit und Mühe darauf, die ehrenwerten Damen Endrina und Garoza von Don Melón bzw. Don Polo zu überzeugen. Beide Episoden beginnen mit dem Wunsch des Mannes, eine Ehe einzugehen. Trotzdem ist für die Damen Vorsicht geboten, schließlich laufen sie Gefahr, ihren guten Ruf zu verlieren, sollte eine solche Verbindung öffentlich gemacht werden oder gar schiefgehen - oder im Falle von Doña Garoza überhaupt entstehen. V.1.1 Doña Endrina und Don Melón Spitzer nennt Don Melón einen „feiste[n] Priester, der auf Liebeswegen wandelt“ 631 . Allerdings ist unklar, warum Don Melón ein Priester sein soll. Schließlich wird das nirgends im LBA gesagt und auch in anderen Quellen der Sekundärliteratur wurde kein Hinweis darauf gefunden, dass Don Melón - solange man ihn als eine vom Erzpriester getrennte Figur ansieht - ein Geistlicher sein soll. Über ihn erfahren die Leser: innen verhältnismäßig wenig. Eigentlich wissen wir nur, dass er in Endrinas Nachbarschaft lebt 632 und sich in sie verliebt hat. 633 Aber im Umkehrschluss gibt es auch keinen Hinweis darauf, dass er eine schlechte Wahl für Doña Endrina gewesen wäre. Sie hingegen wird ausführlich beschrieben als die schöne, elegante Witwe, die sich ganz den gesellschaftlichen Regeln entsprechend lang gegen die Schliche der Kupplerin wehrt, dann aber doch einknickt und sich auf ein Treffen mit ihrem Verehrer einlässt, obwohl sie weiß und sogar sagt, dass ein Treffen zu zweit schädlich für ihren Ruf sei. 634 Zwar wissen wir nicht, wie ähnlich Endrina dem von Don Amor gemalten Bild einer idealen Frau ist, z. B. wird nicht gesagt, ob sie blond ist und feuchte Achselhöhlen hat 635 , aber sie wird als besonders schön gezeichnet. Eine Frau, die genauso wäre, wie Don Amor sie beschreibt, gibt es anscheinend gar nicht, wie der Erzpriester selbst sagt. 636 Aber es ist davon auszugehen, dass sie sehr nah an das Ideal herankommt. Obwohl die Episode „gut“ endet, nämlich mit einer Heirat, dient sie doch als Beispiel für loco amor. Eine gänzlich mit den christlichen Regeln vereinbare Ehe hätte ohne eine Kupplerin und deren Überredungskünste entstehen müssen. Endrina als Witwe, die eine angemessene Trauerzeit bereits hinter sich hat, hätte V.1 Ehe 191 <?page no="192"?> 637 Mehr zu Don Melóns und Doña Endrinas Rollen im moralischen Kampf findet man in Kapitel VI.2. 638 Cf. LBA, cc. 892-909. 639 Cf. Dorothy C. Clarke: „Juan Ruiz as Don Polo“, in: HR, vol. 40, 3 (1972), 245-259. 640 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 2, ed. Jaques Joset, p.-178. Fußnote zu c. 1331c. 641 Cf. LBA, exempli gratia cc. 598, 672, 821, 939. 642 Cf. National Geographic: https: / / www.nationalgeographic.de/ geschichte-und-kultur/ marco-polo-der-ewig-reisende [Stand: 28.2.2022]. sich neu vermählen dürfen. Weder aus gesellschaftlichen noch aus religiösen Gründen wäre den beiden Liebenden eine Ehe verwehrt gewesen. Allein das Eingreifen der Kupplerin und ihre so gesehen fast unnötige Überredung zu unmoralischem Verhalten bringen diese zwei an sich sehr anständigen und durchaus füreinander geeigneten Verliebten dazu, am Ende heiraten zu müssen. Unter diesem Gesichtspunkt ist das unsittliche Handeln, das letztendlich zur Ehe führt, ein reiner Auswuchs fleischlicher Lust. Die Endrina-Episode ist sozusagen die Umsetzung dessen, was Don Amor und Doña Venus zuvor erläutert haben, was durch die Eheschließung noch zum Teil geheilt wird. Endrina und Melón machen sich mit ihren Handlungen lächerlich, schließlich hätten sie mittels ihres Verstands den Verführungen widerstehen können und müssen. 637 Eine unter guten Voraussetzungen entstandene Ehe wäre hier auch kaum möglich gewesen, schließlich soll die Endrina-Episode den Leser: innen bzw. v. a. den Leserinnen 638 aufzeigen, wann und wo die Gefahren der törichten Liebe einen guten Menschen zu Fall bringen können. Die Schilderung einer geglückten, gänzlich ehrenvollen Heirat zwischen Don Melón und Doña Endrina hätte wohl kaum Spielraum für eine Warnung oder Ironie gelassen, die doch erwiesener‐ maßen des Erzpriesters liebstes Mittel ist, um seine Rezipient: innen zu erreichen. V.1.2 Doña Garoza und Don Polo Der Name Don Polo, mit dem die Botin ihren Auftraggeber in c. 1331 anspricht, wurde in der bisherigen Sekundärliteratur wenig beachtet. Dorothy Clotelle Clarke versteht Don Polo als eine Abwandlung für Apollo 639 , Joset widerspricht ihr allerdings, liefert selbst aber keine Erklärung für diese Namensgebung 640 . Die Anrede taucht nur in c. 1331 auf, als die Kupplerin ihn lachend begrüßt und ihm eine Nonne vorschlägt. Dass sie dabei lacht, könnte auch auf einen Scherz hindeuten. Vielleicht ist „Don Polo“ nur ein Spitzname. Die Versuche, ihm eine Frau zu vermitteln, werden als „Abenteuer“ bezeichnet, schließlich verwendet der Erzpriester den Ausdruck „aventura“ bzw. „aventurar“ häufig. 641 Vielleicht ist die Anrede also eine Anspielung auf Marco Polo, der damals bereits als großer Abenteurer bekannt ist. 642 Beim ersten Gespräch zwischen Doña Garoza und 192 V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor <?page no="193"?> 643 Cf. LBA, c. 1345a. 644 Cf. Leo Spitzer: „Kunst des Arcipreste“, p.-265, Fußnote 1. 645 Cf. Kapitel III.3.1. 646 Joset wiederum sieht in „Endrina“ einen weiteren humorvollen Zug, denn der Schleh‐ dorn soll bittersüß sein - wie auch die entsprechende Episode. Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p.-224, Fußnote zu c. 596a. 647 Cf. Leo Spitzer: „Kunst des Arcipreste“, p.-265. 648 LBA, c. 64. 649 Die Verbindung von Don Polo und Doña Garoza beziehen sich auf die sogenannte Garoza-Episode. Cf. LBA, cc. 1332-1507. der Botin erklärt die Kupplerin, sie diene einem Erzpriester 643 , seinen Namen nennt sie aber nicht - weder nennt sie ihn Juan Ruiz noch Don Polo. Ebenso verwendet sie keinen Namen, wenn sie später von seinem Aussehen spricht. Die Beschreibung des Don Polo wurde in Kapitel III.3.3 bereits analysiert. Der Name „Garoza“ soll an dem arabischen Wort für „Braut (des Herrn)“ ange‐ lehnt sein. 644 Dies wäre der passende Name für eine Nonne, auch wenn er einem nicht-christlichen und vielleicht sogar verfeindeten Kulturkreis entstammt. Eventuell kann genau das ein weiteres Zeichen für arabische Einflüsse sein, was wiederum der Ansicht Lida de Malkiels entsprechen würde. 645 Spitzer hält diese Deutung des Namens aber für unwahrscheinlich, schließlich verwende der Erz‐ priester in der Endrina-Episode für seine Angebetete sowie ihre gesamte Familie Namen aus dem Bereich der Flora. 646 Daher liegt es für Spitzer nahe, „Garoza“ mit „carozo“ („Hülse des Mais“) in Verbindung zu bringen, was wiederum ein Bild für etwas Wertloses wäre. 647 Allerdings scheint Spitzer übersehen zu haben, dass es im Europa des 14. Jahrhunderts noch keinen Mais gab, weshalb der Arcipreste diese Bedeutung sicher nicht im Sinn hatte. An dieser Stelle sollen weitere Überlegungen die Diskussion um Doña Ga‐ rozas Namen ergänzen. Als der Erzpriester den Lesern (hier ist das Maskulinum tatsächlich angebracht, denn die Passage richtet sich an männliche Leser) verspricht, sie würden eine schöne Freundin bekommen, wenn sie sich an die Weisungen des LBA halten, spricht er von einer „dueña garrida“ 648 . Zumindest phonetisch sind sich „garrida“ und „Garoza“ etwas ähnlich, so als wäre der Name der Superlativ des Adjektivs. Vielleicht spielt der Erzpriester mit dieser Namensgebung auf die besondere Schönheit der Nonne und die Besonderheit ihrer Liebe an. Wie in Kapitel III.3.3 bereits erläutert wurde, ist Garoza klüger als Endrina und trifft ihren Verehrer nicht allein, wodurch sie die Gefahr meidet, sich auf unsittliches Handeln einzulassen. 649 Die Liebe, die Don Polo und sie miteinander teilen, bleibt frei von jeglicher weltlichen Verfehlung, auch wenn der Verehrer V.1 Ehe 193 <?page no="194"?> 650 Cf. ibid., c. 1499-1501. 651 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 2, ed. Jaques Joset, p.-229, Fußnote zu c. 1491c. 652 Cf. Joan Corominas ad locum, in: LBA, ed. Joan Corominas, p.-554, Fußnote zu 1491ab. 653 LBA, cc. 1500, 1501. 654 Ibid., c. 1503. 655 Cf. Hans Ulrich Gumbrecht ad locum, in: LBA, ed. Hans Ulrich Gumbrecht, p.-399. beim Anblick seiner Geliebten kurzzeitig von Begierde ergriffen wird 650 . Damit ist er aber wohl nicht allein: In c. 1491 sagt die Kupplerin noch, dass die „clérigos“ die Schönen begehren. Joset hält diesen Vers für einen Ausdruck der Kraft der Liebe, die eine natürliche Notwendigkeit darstellt. 651 Corominas scheint an dieser Stelle keinen Anstoß zu nehmen und ergänzt in seinem Kommentar lediglich, dass mit den Schönen Nonnen gemeint seien. 652 Doch wirkt der Vers zu vielsagend, um über ihn hinwegzugehen. „Los clérigos“ würde bedeuten, dass diese Aussage auf alle Kleriker bezogen werden kann. Daher könnte man fragen, ob es sich hierbei um einen weiteren Trick handelt, den die Klosterrennerin anwendet, um die Nonne von der Harmlosigkeit einer Liebschaft zu überzeugen, nach dem Motto, es sei ganz normal, dass Nonnen und Erzpriester bzw. Kleriker sich annähern, oder ob hier Kritik am Klerus geäußert wird, indem unterschwellig darauf hingewiesen wird, dass Kleriker ständig auf der Suche nach Geliebten wären. Die Antwort auf diese Frage könnte wohl nur der Erzpriester selbst geben. Die Verbindung mit einer Person geistlichen Standes wäre, wie wir bereits gesehen haben, mit Thomas von Aquin als sacrilegium, also als Vergehen gegen Gott, zu bezeichnen. Don Polo ist dies durchaus bewusst, wenn er sagt: ¡Valme, Santa María! , mis manos me aprieto; ¿quién dió a blanca rosa ábito, velo prieto? Más valdrié a la fermosa tener fijos e nieto que atal velo prieto nin que ábitos çiento. Pero que sea errança contra Nuestro Señor pecado de monja a omne doñeador ¡ay Dios! , ¡e yo lo fuese aqueste pecador, que feziese penitencia d’este fecho error! 653 Obgleich er um die schwere seiner Sünde weiß, wäre er bereit, sie zu begehen. Dass es so weit nicht kommt, liegt einzig und allein an Garozas Standhaftigkeit. Dank ihrer bleibt die Verbindung rein und keusch, sodass die einzigen Liebes‐ beweise zwischen den beiden Gebete und „linpio amor“ 654 bleiben. In c. 1504 sagt Don Polo noch: „[C]on la su abstinençia mucho me ayudava“, wobei Gumbrecht „abstinençia“ mit „Fasten“ übersetzt. 655 In Kapitel IV.2.2 wurde bereits über 194 V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor <?page no="195"?> 656 Cf. Kapitel V.1. 657 Codex Iuris Canonici online: https: / / www.codex-iuris-canonici.de/ cic17_lat_liber3.htm [Stand: 20.1.2023], III.VI.VII.Can. 1013 §1. das Laster der gastrimargia gesprochen, und dass es für Cassian der Ursprung weiterer Übel gewesen ist. Hier könnte gemeint sein, dass die Abstinenz von übermäßigen Speisen auch vor Ausschweifung bewahrt. Allerdings könnte sich die Abstinenz auch auf mehr beziehen, denn der Text gibt keinen Hinweis darauf, dass allein die Einhaltung von Speisevorschriften gemeint wäre. Daher soll Gumbrechts deutsche Version hier infrage gestellt und „abstinença“ mit „Abstinenz“ auch im Sinne der Keuschheit übersetzt werden. Die Hilfe, die Don Polo durch Garozas Keuschheit erfährt, wäre somit die Unterstützung, die die Nonne ihm bietet, indem sie ihn dazu bringt, von unsittlichem Handeln abzusehen und ihm somit dabei behilflich ist, eine wirklich reine Liebe zu erfahren. Diese reine Liebe wurde in Kapitel III.3.3 bereits als agape identifiziert, woran nach wie vor festgehalten wird. Erinnert man sich an die Erzählung des Hieronymus 656 , kommt die Liebe zwischen Garoza und Polo diesem Beispiel nahe, abgesehen von dem ursprünglichen Wunsch des Erzpriesters, mit der Nonne zu sündigen. Dass die beiden sich der törichten Liebe eben nicht hin‐ geben, schützt sie vor weltlichen Gefahren und hilft ihnen, ein gottesfürchtiges Leben zu führen. Somit wird diese Episode zum Beispiel für die einzig wahre Liebe, die den weltlichen Gelüsten standhält, sodass agape am Ende über die törichte Liebe siegt. Diese Verbindung erfüllt also zwei der drei o. g. fines matrimonii, nämlich mutuum adiutorum und remedium concupiscentiae  657 . Da es in diesem Fall die Frau ist, die standhaft und den christlichen Werten treu bleibt, während der Mann anfangs noch der törichten Liebe nachhängt und nur durch die keusche Liebe der Dame gerettet wird, verändert diese Sequenz auch das Frauenbild im LBA. Anders als Endrina, die auf die Kupplerin hereinfällt, weil sie im Grunde schwach ist, verkörpert Garoza die wahre Liebe und ist ihrem Verehrer an Tugenden so überlegen, dass sie ihm die Erfahrung der agape auf Erden zuteilwerden lässt. Hier ist also die Frau die Trägerin der Tugend und zugleich Vorbild für den Mann, den sie vor einem sündhaften Leben bewahrt. Dass die Frau durch ihre Sittsamkeit die Triebe des Mannes abschwächen und ihn somit zu einem guten Christen machen soll, beschreibt auch Clemens von Alexandrien in seinem Paidagogos, wenn er erläutert, wie sich Frauen zu verhalten haben: Mir freilich wäre es lieber, wenn sie nicht auf ein schönes Aussehen des Körpers Wert legten, sondern ihre Männer durch sittsame Gattenliebe dieses wirksame und rechtmäßige Mittel, an sich fesselten. Da es indessen ihre Männer vorziehen, bei ihrem V.1 Ehe 195 <?page no="196"?> 658 Paidagogos, III,XI,57,3. 659 LBA, Prosaprolog, linn. 118-120. unglücklichen Wesen zu verharren, sollen sich die Frauen, wenn sie wirklich sittsam sein wollen, vornehmen, die unvernünftigen Triebe und Begierden ihrer Männer allmählich abzuschwächen. 658 Dieser Text bezieht sich auf Ehegatten. Zwar sind Doña Garoza und Don Polo nicht verheiratet, aber sie werden als Paar dargestellt, was einer verbindlichen Beziehung gleichkommt. Doña Garoza tut genau das, was Clemens von Ale‐ xandrien fordert: Sie ist ihrem Verehrer ein Vorbild und veranlasst ihn durch ihren Anstand dazu, von der Sünde abzulassen. Außerdem verkörpert Garoza noch einen äußerst wichtigen Punkt, der auch bei Augustin als entscheidend in Sachen rechter Lebensführung gilt: Sie steht für amor sui, noch dazu für die Va‐ riante der Selbstliebe, die ebenfalls dem summum bonum zustrebt, denn Garoza liebt den göttlichen Teil in sich mehr als die Verführung der Welt. Sie hat das Konzept der richtigen Selbstliebe begriffen, denn sie handelt gänzlich selbstlos, fordert kein Lob von ihren Mitmenschen ein, unterstützt ihren Verehrer bei der Suche nach Gott und bleibt sich selbst treu. Sie pflegt damit sich selbst ausgezeichnet, denn sie verliert Gott nie aus den Augen. Sie ist also nach wie vor das glänzende Beispiel für den richtig interpretierten amor sui und die agape unter den Menschen. Dass dieser Punkt auch für die Darstellung der rechten Liebe im LBA ausschlaggebend ist, beweist das Zitat aus dem Prosaprolog: E querrán más amar a sí mesmos que al pecado; que la ordenada caridad, de sí mesmo comiença: […]. 659 „Caridad“ verweist mit seinem seltenen Gebrauch vielleicht auf die Wichtigkeit dieser Zeilen. Fügt man diese mit der Garoza-Episode zusammen und behält die Bedeutung dieses „Abenteuers“ im Hinterkopf, wird dieser Eindruck sogar verstärkt. Außerdem eröffnet dieses Zitat aus dem Prosaprolog noch eine weitere Perspektive: Der Ausdruck „ordenada caridad“ kann als direkter Bezug auf die in Kapitel III.2.8.2 beschriebene ordinata dilectio des Augustin gelesen werden, womit erneut erwiesen wäre, dass der Erzpriester auch hier Augustins Thesen als richtungsweisend für das LBA verstanden hat. Gleichzeitig könnte der Erzpriester sich hier auch auf Hld 2,4 beziehen, wo es heißt: „[I]ntroduxit me in cellam vinariam ordinavit in me caritatem“. Zwar wurde dieser Vers später mit „Er hat mich ins Weinhaus hineingeführt, und sein Zeichen über mir ist Liebe“ übersetzt, aber man darf davon ausgehen, dass sowohl Augustin als auch der Erzpriester den Ausdruck „ordinavit in me caritatem“ wie folgt verstanden haben könnten: „Er brachte die Liebe in mir in die rechte Ordnung“ bzw. „er 196 V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor <?page no="197"?> 660 Cf. CCC, III 7. 661 Spitzer bezieht sich auf Günther Müller: loc. cit., pp. 681-720. 662 Cf. Leo Spitzer: „Kunst des Arcipreste“, pp. 250 sq., Fußnote 1. 663 Cf. Günther Müller: loc. cit., p.-695. 664 Cf. ibid., pp. 681-720. Müller bezieht seine These v. a. auf die altdeutsche Literatur des 11. bis 13. Jahrhunderts, betont aber auch die Parallelität der unterschiedlichen Kulturen des mittelalterlichen Europas und schließt nicht aus, dass „gegenüber den ordnet in mir die Liebe“. Auch Origenes verstand den Vers in dieser Weise und verband damit das Konzept einer angemessenen und maßvollen Liebe. 660 Somit repräsentieren also Hld 2,4, Origenes sowie Augustin eine Auslegetradition, in deren Horizont auch der Erzpriester steht, wenn er seinen Leser: innen rät, sich der rechten Liebe zu befleißigen. Noch dazu ist die Liebesverbindung zwischen Doña Garoza und Don Polo auch als Sieg über die sündhaften Einflüsse zu sehen: Don Melón fällt auf Don Amors und Doña Venusʼ Ratschläge herein und zieht damit auch noch Doña Endrina mit ins Verderben. Don Polo aber, der seiner Beschreibung nach ein Kind der Venus ist, somit für den sündigen Lebenswandel prädestiniert wäre und sogar einige Ratschläge der römischen Liebesgötter befolgt, indem er z.-B. eine Kupplerin engagiert, wird von Doña Garozas reiner Liebe (agape) angesteckt und gibt sich dieser hin, statt der weltlichen Liebe zu verfallen. Die christliche agape ist also stärker als die Sünde. Was die Legitimation der Liebesbeziehungen angeht, könnte man zusätzlich die unterschiedlichen Grade betrachten, auf denen sie sich bewegen: Spitzer sagt, dass es für das Verständnis des LBA ausschlaggebend sei, sich daran zu erinnern, was Günther Müller über Gradualismus und Dualismus im Mittelalter schrieb 661 , woraus er (Spitzer) folgende Schlüsse zieht: Die ethischen Gesetze haben im Mittelalter eine objektive Realität, dem Schöpfer zugeordnet wie sie sind - aber sie bestimmen nicht abstrakt, daß in allen Fällen dies gut, jenes böse sei, sondern es gibt verschiedene Stufen (gradus), indem auf dieser Stufe das gut ist, was auf einer anderen böse ist: es gibt kein modernes ‚Entweder - Oder‘ im Mittelalter, sondern ein sic et non: […]. 662 Müller sieht den mittelalterlichen Gradualismus u. a. bei Paulus begründet, der in seinem Gleichnis vom Körper und den Gliedern aufzeigt, dass sich eine Gesellschaft aus unterschiedlichen, aber gleichwertigen Elementen zusammen‐ setzt (1Kor 12,12-31). 663 Dualismus und Gradualismus sind laut Müller für das Mittelalter kennzeichnend, wobei er deutlich hervorhebt, dass es sich um einen epochenübergreifenden, nicht lokal beschränkten Begriff handelt, sodass dieser für das gesamte abendländische Mittelalter gilt. 664 Seine These lässt sich wie folgt V.1 Ehe 197 <?page no="198"?> übrigen Literaturen der Zeit ähnliche und auch gleiche Fragestellungen zuständig sind […]“. Ibid., p.-684. 665 Ibid., p.-688. 666 Müller führt Nonnen als Beispiel an, Mönche scheinen hierfür aber geeigneter, weil der Vergleich mit dem Ritter noch deutlicher wird, wenn man dasselbe Geschlecht betrachtet. Natürlich hätten auch Nonne und Burgfräulein miteinander verglichen werden können. 667 Cf. ibid., pp. 693-704. zusammenfassen: Das Mittelalter ist geprägt von dualistischem Denken, wobei Dualismus die Aufteilung der Wirklichkeit in „entgegengesetzte, aber einander ebenbürtige Prinzipien“ 665 bedeutet. Der Dualismus besteht, so Müller, allerdings nur in der realen Welt. Das Schöpfer-Geschöpf-Verhältnis ist seiner Meinung nach kein dualistisches Gegensatzpaar, sondern ein Beispiel für Überbzw. Unterordnung. Aber in der sinnlich erlebbaren Welt gibt es genügend Felder für Gradualität. V. a. die Sittengesetze werden von ihm eingehend betrachtet. Der Mensch hat demnach die Wahl, sich strengen Gesetzen zu unterwerfen oder auch nicht. Ziel ist die imitatio Dei, d. h. das Weltbild bleibt theozentrisch. Je nach Stand der Personen gibt es unterschiedliche Regeln, wie weit die imitatio ver‐ wirklicht werden muss, um den Gesetzen zu entsprechen. So müssen Mönche 666 z. B. strengere Gesetze einhalten, d. h. ein asketisches Leben führen, um den für ihren Stand vorgeschriebenen Grad an Sittlichkeit zu erreichen; ein Ritter befolgt aber ganz andere Gesetze und erreicht ebenfalls den für seinen Stand erwarteten Grad. Was dem Ritter erlaubt ist, ist dem Mönch z. T. nicht erlaubt, trotzdem führen beide Stände - sofern sie sich an die jeweiligen Sittengesetze halten - ein untadeliges Leben. Innerhalb der dualistisch betrachteten Welt besteht somit ein gradueller Unterschied auf der Seite der rechten Lebensweise, der sich am Stand der jeweiligen Person orientiert. 667 Angewandt auf das LBA würde dies nun bedeuten, dass die Figuren der einzelnen Erzählungen gewisse Grade an sittlichen Gesetzen einhalten müssen. Gelingt ihnen dies, kann ihr Verhalten als gut eingestuft werden. Die Damen, die sich nicht verführen lassen, sind eigentlich die, die ihrem Stand und ihrer gesellschaftlichen Stufe am besten entsprechen. Doña Endrina entspricht mit ihrer anfänglichen Skepsis und Keuschheit u. a. aufgrund ihrer Witwenschaft den Regeln, die für ihren Stand als edle Dame vorgesehen sind. Durch das voreheliche Vergehen stürzt sie kurz von ihrer gesellschaftlichen Stufe ab, kehrt aber durch die Heirat wieder darauf zurück. Doña Garoza hält die sittlichen Gesetze ein, die sie als Nonne zu erfüllen hat, indem sie der weltlichen Liebe entsagt. Daraus folgt, dass sowohl die Verweigerung als auch die Eheschließung (auch wenn sie nur eine Notlösung ist) als auch die Enthaltsamkeit dem gesellschaftlichen Stand der jeweils Beteiligten entspricht. Loco amor spielt sich 198 V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor <?page no="199"?> 668 Cf. LBA, cc. 1508-1512. 669 Cf. ibid., exempli gratia cc. 746-753, 766-781, 1348-1484. 670 Andreas erstellt in DA Unterkategorien, wie in Kapitel IV.2.1.1 gezeigt wird. - außer bei Endrina - um diese Abenteuer herum ab. Auffällig ist hieran, dass es die Damen sind, die die unterschiedlichen Grade repräsentieren. Der Erzpriester dient bei all diesen Erzählungen quasi nur als Aufhänger, an dem sich zeigt, wie die Damen handeln und wirken. Die Zerrissenheit des Menschen, die das LBA thematisiert, wird durch diese Ansicht noch verständlicher: Es ist der Stand, der dem Menschen vorgibt, wie weit er gehen darf, wenn es um die Liebe geht. Dennoch ist der Mensch ein natürliches Wesen, das - wie die Tiere auch - nach Vereinigung strebt. Das rechte Maß innerhalb seines Standes zu erlernen und es auch noch einzuhalten, ist eine Aufgabe, die jeden Menschen immer wieder herausfordert. Der Einsatz von entendimiento, memoria und voluntad ist hierbei unerlässlich. Welchem Teil der Gemeinschaft man sich anschließt bzw. zu was man geschaffen wurde, d. h. zu den Enthaltsamen oder zu den Nicht-Enthaltsamen, muss jeder Mensch - ganz in Paulusʼ Sinne - für sich selbst erkennen. Ent‐ scheidet man sich gegen die Keuschheit, muss man eine: n geeignete: n Partner: in finden, der/ die allen sozialen und moralischen Maßstäben entspricht und v. a. gottesfürchtig ist sowie bei der christlichen Lebensführung unterstützt, wie es Augustin erläutert hat. Sie/ er soll dem eigenen Kulturkreis entstammen (deswegen klappt auch die Verbindung zwischen der Araberin und dem Erz‐ priester nicht 668 ), ohne große Reden überzeugt werden können (deshalb sind die langen Ausführungen zwischen den Kupplerinnen und den geliebten Damen 669 so ironisch zu verstehen) und zu wenig Liebesqualen führen (denn diese zeugen von einem zu sehr auf das Weltliche beschränkte Liebesverhältnis). Ziel für die nicht für die Enthaltsamkeit Geschaffenen ist die Ehe, aber auch diese sollte möglichst frei von Begierde sein und trotzdem den Bedürfnissen der Ehepartner: innen gerecht werden. Weltliche Liebe ist also nicht gleich Sünde. Von Sünde bzw. loco amor kann man nur sprechen, wenn die Liebe ausschweifend, an rein weltlichen oder gar keinen Zielen orientiert verläuft. Für weitere Untersuchungen über diese Dissertation hinaus wäre es wohl empfehlenswert, nicht - wie bisher - buen amor mit der Liebe zu Gott und loco amor mit der weltlichen Liebe gleich‐ zusetzen. Die Bildung von Unterkategorien könnte hier Abhilfe schaffen 670 , indem wir sagen, loco amor ist die fehlgeleitete Liebe, die sich lediglich auf die Befriedigung fleischlicher Begierden bezieht, wobei es auch da unterschiedliche Grade gibt, d. h. die locura wird daran gemessen, wie weit man geht. Sich mit einer hässlichen, unwürdigen Gebirglerin und sogar auf außerehelichen V.1 Ehe 199 <?page no="200"?> 671 Die Anspielungen der ersten und zweiten Gebirglerin, die auf möglichen Geschlechts‐ verkehr hindeuten könnten, wurden in Kapitel IV.2.1.1 ausgeführt. 672 Cf. LBA, cc. 910-923. 673 Cf. Kapitel V.1. Geschlechtsverkehr 671 einzulassen, ist sicherlich ein extrem törichtes Verhalten, was sich zwar laut Zählung nicht unbedingt in der Anzahl der entsprechenden Begrifflichkeiten niederschlägt, aber dennoch durch die Beschreibungen der Frauen vor dem Hintergrund des außerhalb des LBA bestehenden Moralkodex klar ersichtlich wird. Sozusagen ein bisschen loco ist es, wenn man sich in eine Frau verliebt, mit der es keine gemeinsame Zukunft geben kann, wie z. B. die Dame in der Estrade 672 . Aber auch unter buen amor sollte es verschiedene Grade oder Stufen geben. Die Liebe zu Gott wäre dann sicherlich die höchstmögliche Stufe (linpio amor), die man erreichen könnte. Aber eine passende Frau zu finden und mit ihr die Ehe einzugehen, ist ebenfalls bien. Die weltliche Liebe an sich ist nichts Schlechtes. Im Gegenteil: Nur weil es auch Menschen gibt, die sich auf weltliche Liebe inklusive körperlicher Nähe einlassen, kann die göttliche Schöpfung fortbestehen. 673 Die weltliche Liebe sollte nicht automatisch mit Geschlechtsverkehr gleichgesetzt werden, wie man an dem Beispiel von Doña Garoza und Don Polo gesehen hat. In dieser Beziehung geht es um mehr als körperliche Anziehung, nämlich die gegenseitige Unterstützung v. a. in Sachen Gottesfurcht, Treue und Anstand. Daher müsste buen amor zunächst in die Unterkategorien „buen amor im religiösen Sinne“, also Gottesliebe bzw. „linpio amor und buen amor im weltlichen Sinne“, d. h. die Suche nach einem/ einer geeigneten Partner: in, eingeteilt werden. Unter „buen amor im weltlichen Sinne“ wären dann wiederum die unterschiedlichen Grade festzulegen, z. B. indem man sagt, eine anständige Ehe zu führen, ist auf einem relativ hohen Grad von bien angesiedelt, eine respektvolle, enthaltsame Liebesbeziehung ist aber noch mejor. Kurz gesagt: Schwierig ist es in der Liebe nur, wenn man sich an den Be‐ gierden (im LBA durch Don Amor und Doña Venus dargestellt) orientiert, statt seinen Verstand zu gebrauchen und eine salonfähige, solide Liebesbeziehung zu suchen, die sich nach den paulinischen Regeln richtet. Damit eine Ehe bzw. eine Beziehung zwischen Mann und Frau aber überhaupt erst entstehen kann, muss zwischen zwei potenziellen Partner: innen vermittelt werden. Hier kommt eine weitere Hauptfigur des LBA ins Spiel. 200 V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor <?page no="201"?> 674 Cf. LBA, c. 90. 675 Cf. ibid., cc. 436-453. 676 Cf. ibid., cc. 115-120. 677 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p.-54, Fußnote zu c. 117b. 678 Cf. LBA, cc. 436-453. 679 Cf. ibid., cc. 738, 845. 680 Der Begriff ist an Spitzers Ausführungen zu Trotaconventosʼ „Berufssolidarität“ und „-geheimnisse[n]“ angelehnt. Cf. Leo Spitzer: „Kunst des Arcipreste“, p.-263. V.2 Die Kupplerin(nen) Zu Beginn dieses Kapitels muss zuerst gesagt werden, dass es sich nicht nur um e i n e Kupplerin im LBA handelt. Trotaconventos, die Kupplerin aus der Endrina-Episode, ist wohl die bekannteste, aber tatsächlich führt eine genaue Lektüre zu dem Ergebnis, dass von mehreren Kupplerinnen die Rede ist. Die erste begegnet uns bereits in Strophe 80, die dort nur als „mensajera“ und später, in Strophe 96, als „vieja“ bezeichnet wird. Mehr erfährt man über sie nicht. Die Liebe, die sie einfädeln soll, scheitert daran, dass sie nicht geheim bleibt. 674 Aber ob dies die Schuld der Botin ist, wird nicht verraten. Allerdings könnte man davon ausgehen, dass diese „mensajera“ nicht dem Ideal einer Botin entspricht, schließlich erfährt der Erzpriester erst viel später von Don Amor, wie man diese auswählt 675 . Daher könnte es sein, dass das Bekanntwerden der Liebe auf die unzureichenden Fähigkeiten der Kupplerin zurückzuführen ist. Auch der nächste Bote erfüllt schon allein aufgrund seines Geschlechts seine Aufgabe nicht: Ferrand Garçia verführt die Dame, die der Erzpriester verehrt, sodass der Auftraggeber am Ende leer ausgeht. 676 Laut Joset ist der Name des Boten ein traditioneller, also ein geläufiger Name 677 , der mehr für „Jedermann“ steht als für eine spezifische Person. Wie oben bereits angedeutet, beschreibt Don Amor die richtige Kupplerin ausführlich: Sie soll entweder eine Verwandte oder eine Alte sein, die die Kirchen und Gassen der Stadt kennt. Auf jeden Fall aber soll die Botin viel Erfahrung haben und geschickt lügen können. Sie soll alle ihre Requisiten einsetzen, z. B. Rosenkränze, Öle, Pulver und alkoholische Gemische. Da man als Verliebter auf seine Botin angewiesen ist, soll man ihr stets Dankbarkeit und sogar buen amor entgegenbringen. 678 Was es mit diesem Ausdruck auf sich hat, wurde bereits in Kapitel III.3.3 analysiert. Erst nach dieser Beschreibung und Unterweisung findet der Erzpriester eine Botin, die ihr Handwerk versteht: Trotaconventos fädelt die Liebe zwischen Don Melón und Doña Endrina ein, die ebenfalls bereits in den Kapiteln III.3.3 und V.1.1 untersucht wurde. Erst im Gespräch mit Doña Endrina 679 wird aus der Berufsbezeichnung 680 „trotaconventos“ ein Eigenname. Nach der Endrina-Episode schreibt der Erzpriester bei der Schilderung seiner V.2 Die Kupplerin(nen) 201 <?page no="202"?> 681 LBA, c. 912. 682 Cf. ibid., c. 441. 683 Ibid., c. 945. 684 Cf. ibid., cc. 950-1042. 685 Cf. ibid., cc. 1067-1314. 686 Ibid., c. 1317. 687 Cf. ibid., cc. 1318-1320. 688 Cf. ibid., cc. 1321-1330. 689 Cf. ibid., cc. 1332-1507. 690 Cf. ibid., c. 1331. neuen Liebe, der Dame in der Estrade, von der Suche nach einer Botin: „busqué trotaconventos“ 681 . Joset kommentiert an dieser Stelle, es handle sich bei „trotaconventos“ nicht um einen Eigen-, sondern um einen generischen Namen, weswegen er kleingeschrieben wird. Dass dennoch der Begriff der „Klosterrennerin“ verwendet wird, liegt wohl daran, dass Don Amor sagte, die geeigneten Botinnen hießen nun einmal so 682 . Diese Kupplerin ist diejenige, die in den Strophen 924 bis 933 von den Namen spricht, die man seiner Botin geben soll, u. a. „buen amor“ - was hier noch kleingeschrieben wird. Nach dem Gespräch mit einer weiteren „vieja“ 683 macht sich der Erzpriester auf seine Reise ins Gebirge 684 . Ob es sich bei dieser Alten ebenfalls um eine Kupplerin handelt, wird zwar im Text nicht gesagt, aber die Bezeichnung „Alte“ wird in allen anderen Liebesabenteuern auch stets als Synonym für die Kupplerin verwendet, weswegen man davon ausgehen kann, dass ebenfalls eine Botin gemeint ist, die allerdings nicht mit einem Auftrag versehen wird. Erst nach der Erzählung vom Kampf zwischen Doña Cuaresma und Don Carnal 685 ruft der Erzpriester seine Botin erneut zu sich: Diesmal heißt sie wieder „Trotaconventos, la mi vieja sabida“ 686 . Ob sie dieselbe Botin ist, die bereits bei Doña Endrina Erfolg hatte, erfahren wir nicht im Text, aber das Gegenteil auch nicht. Daher könnte es sein, dass diese Kupplerin zweimal auftaucht. Bei diesem neuen Auftrag versagt sie allerdings, denn die Dame geht auf die Werbung nicht ein. 687 Bei dem nächsten Versuch 688 wird nurmehr von der „Alten“ gesprochen. Ob dies auch Trotaconventos oder eine andere Botin ist, bleibt unklar. Aber diese Botin ist diejenige, die sich Buen Amor nennt und die Garoza-Episode 689 einfädelt. Erst jetzt wird der Name der Botin als Eigenname großgeschrieben. 690 Diese Kupplerin namens Buen Amor initiiert die tatsächlich rechte Liebe, nämlich die zwischen Don Polo und Doña Garoza. Somit wird an dieser Stelle die Ironie auf die Spitze getrieben, denn die Kupplerin wollte eigentlich ihrem Beruf nachgehen und weltliche Liebe im Sinne von fleischlicher Liebe stiften. Was sie aber (ungewollt) kreiert, wird zum Beispiel für die einzig richtige und 202 V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor <?page no="203"?> 691 Cf. Kapitel III.3.3, V.1.2. 692 Cf. LBA, cc. 1508-1512. 693 Cf. ibid., cc. 1618-1625. 694 Leo Spitzer: „Kunst des Arcipreste“., p.-264. 695 Cf. ibid., p.-264. 696 Ibid., p.-265. tugendhafte Liebe. 691 Es ist aber gleichzeitig anzunehmen, dass es sich bei Buen Amor um d i e Trotaconventos handelt, schließlich wird zum einen kein anderer Name verwendet oder ein Hinweis auf eine neue Botin eingefügt, zum anderen wird Trotaconventos auch nach Doña Garozas Tod erneut erwähnt, wenn sie versucht, die Araberin für den Erzpriester zu gewinnen. 692 Außerdem wird ihr Name noch ein weiteres Mal ganz explizit direkt im Anschluss an diese Geschichte genannt: In Strophe 1518 erfahren wir, dass Trotaconventos nicht mehr lebt. Die Strophen 1520-1575 beginnen mit einer Klage über ihren Tod und münden in einer Invektive gegen ihn. Den Zusammenhang zwischen Tod und Liebe werden wir später in Kapitel V.3 untersuchen. Nachdem die beste aller Kupplerinnen gestorben ist, kann nur ein weiteres Scheitern folgen: Don Furón ist ein ebenso schlechter Bote wie der erste männliche Kuppler Ferrand Garçia und verliest die Liebesverse seines Auftraggebers laut in aller Öffentlichkeit, was natürlich ganz und gar nicht dienlich ist. 693 Da auch er nicht den Beschreibungen Don Amors entspricht, verwundert sein Versagen nicht. Nun sieht man also, dass es zwar mehrere Kuppler und Kupplerinnen im LBA gibt, Trotaconventos ist aber diejenige, die als einzige Erfolg hat - zumindest in der Endrina- und in der Garoza-Episode. Somit wird sie zu einer zentralen Figur, deren Namen und Funktion wir genauer untersuchen sollten. Spitzer sieht in dem Kompositum der Trotaconventos ein Zeichen für die „Verbindungsmög‐ lichkeit zwischen Kloster und Außenwelt“ 694 . Ob dies ein Hinweis ist, dass die wahre Liebe im Kloster gefunden werden kann und damit Doña Garoza gemeint ist? Laut Spitzer ist der Taufname der Kupplerin „Urraca“ 695 , wie sie in den Strophen 914 und 1326 genannt wird. Außerdem sagt er: Man sollte sogar nicht von der Trotaconventos (der Trotaconventos der Endrina- Episode) sprechen, da sie sich nicht unterscheidet von den früher gezeichneten Kupplerinnen und erst vor unseren Augen aus dem Appellativstadium sich in ein Ei‐ gennamenwesen entpuppt, höchstens von einer Urraca, die aber stets trotaconventos (mit Minuskel) bleibt. Wir sehen ein Herauswachsen des Exemplarisch-Individuellem aus dem Ständisch-Generellen vor uns. 696 V.2 Die Kupplerin(nen) 203 <?page no="204"?> 697 Cf. ibid., pp. 264-265. 698 Cf. Walter Haug: „Das literaturtheoretische Konzept Wolframs von Eschenbach: Eine neue Lektüre des Parzival-Prologs“, in: id.: Die Wahrheit der Fiktion - Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2003, pp. 145-159. 699 Cf. Leo Spitzer: „Kunst des Arcipreste“, pp. 263-265, praesertim 264-265, Fußnote 1. 700 Cf. Publius Ovidius Naso: Amores. Liebesgedichte - Lateinisch/ Deutsch, ed. et transt. Michael von Albrecht, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1997, I,XI,2, I,XII,4. Mit den „früher gezeichneten Kupplerinnen“ meint Spitzer die Vorbilder, derer sich der Erzpriester wohl bei der Kreation „seiner“ Kupplerin bedient hat, nämlich u. a. die Anus im Pamphilus, Vetula oder Baucis aus Baucis et Thraso. 697 Da wir aber bereits gesehen haben, dass sie auch im Text mit dem Namen Trotaconventos versehen wird, und das sogar häufiger als mit dem Namen Urraca, soll Spitzer hier zum Teil widersprochen werden. Es ist richtig, dass sie sich aus den Umschreibungen heraus entwickelt und im Verlauf der Geschichte zu einem Individuum wird, aber da der Erzpriester ihr selbst den Namen Trotaconventos gibt und dieser vielleicht sogar auf den Ort hinweist, wo der Erzpriester bzw. Don Polo die einzig wahre Liebe findet, soll sie weiterhin auch als Trotaconventos bezeichnet werden. Es wäre jedoch eine Überlegung wert, ob der Arcipreste mit „Urraca“, also „Elster“, noch eine weitere Bedeutungsebene aufmacht. In Wolframs von Eschenbach Parzival steht die Elster wegen ihrer Schwarz-Weiß-Färbung sym‐ bolisch für die Menschen, die sich zwischen Himmel und Hölle bewegen. Laut Walter Haug gibt es in diesem Werk drei Menschentypen: diejenigen, die sich nur dem Himmel zuwenden, diejenigen, die der Hölle zugeneigt sind, und diejenigen, die zwischen beiden ständig hin- und herschwanken. 698 Da die Urraca des LBA die weltliche Liebe initiieren will, die unter bestimmten Voraussetzungen ebenso gottgefällig sein kann wie die Liebe zu Gott, aber auch in eine sündhafte Variante abdriften kann, könnte man vielleicht die Symbolik aus dem Parzival auf das LBA übertragen und entsprechend anpassen: Die Kupplerin Urraca wäre dann zum einen diejenige, die selbst zwischen der rechten und der törichten Liebe schwankt, und zum anderen stünde sie für die zwei möglichen Wege, die die Menschen mit ihrer Hilfe einschlagen könnten. Spitzer sieht eine Parallele zwischen der Gestalt der Kupplerin - nicht nur im LBA, sondern auch in anderen literarischen Beispielen - und der biblischen Eva, die das Symbol der Verführung ist. 699 Allerdings standen dem Erzpriester, wie wir gesehen haben, diverse antike Vorbilder zur Verfügung: Neben Anus und Baucis kennen wir auch Nape, die Botin, aus Ovids Amores.  700 Ibn Hazm berichtet ebenfalls von den Vorteilen, die die Zuhilfenahme einer Botin bringt, wobei das entsprechende Kapitel mit der Beschreibung eines männlichen Boten 204 V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor <?page no="205"?> 701 Cf. HdT, pp. 47 sq. 702 Cf. LBA, cc. 924-927. 703 Leo Spitzer: „Kunst des Arcipreste“, p.-267. 704 Cf. LBA, cc. 943, 1506. Zwar kündigt der Erzpriester in c. 1507 an, er habe einen Trauergesang anlässlich Garozas Tod verfasst, aber die nachfolgende Episode kann beginnt und erst später Botinnen als geeignete Vermittlerinnen bezeichnet werden. 701 Dass diese Werke Eva nicht zum Vorbild nahmen, ist eindeutig. Es ist also eher anzunehmen, dass der Erzpriester einer literarischen Tradition folgt und wahrscheinlich auch gesellschaftliche Normen wiedergibt. Die Personen‐ konstellationen in den hier genannten Beispielen, v. a. in den antiken, sind so viel ähnlicher zu denen im LBA als die Schöpfungsgeschichte, daher wird Spitzers Aussage an dieser Stelle verworfen. Für Spitzer sind die 41 Namen der Kupplerin 702 Bezeichnungen für Fallstricke, die dem Menschen drohen, der recht handeln will. Es handelt sich hier also um einen Katalog an „Beschimpfungen des Bösen als der tätigen Macht, die um uns ist und die so gescheit uns einzufangen weiß“ 703 . Man könnte nun Spitzers Aussage ergänzen, indem man sagt, es handle sich um Fallstricke für diejenigen, die im Sinne der christlichen Liebe und in der gottgefälligen Variante der weltlichen Liebe recht handeln wollen. Die Rolle der Trotaconventos ist für das LBA zweifelsohne eine tragende. Sie ist es, die Don Amors (und Doña Venusʼ) Anweisungen umsetzt, indem sie Endrina erst zur Sünde, dann zur Heirat überredet. Ihr Handeln ist an dieser Stelle allerdings eine Frage der Bezahlung. In den Strophen 713-716, also im Gespräch mit ihrem Auftraggeber Don Melón, sagt sie, Doña Endrina sei eigentlich einem anderen Mann versprochen, der sie ebenfalls als Botin einsetzen wollte, aber dieser zahle nicht ausreichend. Daher nimmt sie den (besser bezahlten? ) Auftrag Don Melóns an und schreitet zur Tat, indem sie ihre Kunst des Verkuppelns zeigt, schließlich, so sagt sie, ist sie die Einzige, auf die Doña Endrina in Liebesdingen hört, weswegen kein Weg an der Kupplerin vorbeigeht. Dass Doña Endrina noch einen anderen Verehrer hat, scheint der Grund zu sein, aus dem sie verführt werden muss, damit sie sich nicht mehr für diesen Unbekannten entscheiden kann, was Trotaconventosʼ Werk eigentlich noch verwerflicher macht. Sie ist es aber auch, die Doña Garoza findet und so - auch wenn sie vielleicht einen anderen Ausgang für dieses Abenteuer geplant hatte - die wahre Liebe ermöglicht. Ihr Tod wird vergleichsweise ausführlich beklagt. Die verehrten Damen, die sterben, ja sogar Doña Garoza, werden vom Erzpriester nicht mit so vielen Versen betrauert wie sie. Im Gegenteil: Es wird nur kurz berichtet, dass die Damen verstorben seien und er traurig zurückbleibe. 704 Allein Trotaconventos verdient eine ausführliche Rede. Aber V.2 Die Kupplerin(nen) 205 <?page no="206"?> nicht gemeint sein, denn dabei handelt es sich um den Versuch, eine Araberin für ihn zu gewinnen (cc. 1508-1512); aber das zuvor Gesagte kann auch nicht gemeint sein, denn dies ist die Garoza-Episode. Ob ein Teil des Manuskripts hier fehlt, kann nicht abschließend geklärt werden. 705 Cf. Kapitel II.2.7. 706 „Sünden“, also Plural, sind für Paulus tatsächlich begangene, sündhafte Taten, die in Zitaten aus dem Alten Testament oder Gemeindeüberlieferungen auftauchen oder wenn Paulus „sich der Gemeindesprache anschließt“. Martin Dibelius, Werner G. Kümmel: op. cit., p.-101. 707 Cf. ibid. 708 Röm 5,12. auch das ist nachvollziehbar, denn mit ihr stirbt die Aussicht auf zukünftige, (rechte) Liebe. Mehr zum Tod von Trotaconventos folgt im nächsten Kapitel, in dem die Bedeutung des Todes im LBA insgesamt betrachtet wird. V.3 Tod versus Liebe Wie wir bereits bei Augustin gesehen haben, muss der Mensch, der nach dem Weltlichen strebt, immer damit rechnen, dass Tod und Verlust drohen, und er verliert, woran er sich im Diesseits klammert. 705 Dies mag auch der Grund sein, warum der Tod der weltlichen Liebe immer entgegensteht. Außerdem ist die Verbindung zwischen weltlicher Liebe und Tod auch dort besonders nah, wo die weltliche Liebe eventuell auch in Sünde münden kann. Die Sünde (im Singular) wird von Paulus wie ein lebendiges, tyrannisches Wesen dargestellt, das die Menschen beherrscht. 706 Der Mensch läuft ständig Gefahr, selbst während er nach dem Guten strebt, vom Weg abzukommen und dem Bösen anheimzufallen. Der Tod ist hierbei die Konsequenz aus der Sünde: 707 Deshalb, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben. 708 Sünde und Tod sind also auch bei Paulus der Gegensatz zu Leben und weltlicher Liebe, was wiederum daran erinnert, wie eng die Bezüge zwischen dem pauli‐ nischen Liebesbegriff und dem des Erzpriesters sind. Der Erzpriester verweist auffällig oft auf das Gegensatzpaar von Tod und Liebe. V. a. wird dies deutlich bei der Verehrung der Venus: Die Liebesgöttin entscheidet - wie Gott - über Leben und Tod; wo immer sie auftaucht, gehorcht 206 V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor <?page no="207"?> 709 Cf. LBA, cc. 584-586. 710 Cf. DA, III. 711 LBA, exempli gratia c. 855d. 712 Ibid., exempli gratia c. 452c. 713 Ibid., exempli gratia c. 591d. 714 Ibid., exempli gratia c. 788d. ihr die ganze Welt, und niemand kann sich ihrer Macht entziehen. 709 Die Liebe, verkörpert durch die antike Liebesgöttin, ist demnach eine lebenserhaltende bzw. todbringende Macht. Sie wird mit Gott gleichgesetzt, da ihr ähnliche Fähigkeiten zugeschrieben werden wie dem Allmächtigen. Nun muss man sich aber wieder vor Augen halten, um welche Art von Liebe es hier geht. Doña Venus steht gemeinsam mit ihrem Gatten Don Amor für die törichte Liebe. Das Törichte bedeutet auch hier, dass diese Liebe ins Verderben führt, also weg von Gott, weg von der ewigen Glückseligkeit. Die rechte Liebe überwindet den Tod, indem sie den Gläubigen zu Gott und ins Himmelreich führt. Nur wer der törichten Liebe verfällt, deren Qualen angeblich tödlich sind, läuft Gefahr, das ewige Leben nicht zu erreichen. Das Motiv der Liebesqualen wird an dieser Stelle vertieft und erweitert: Es geht nicht mehr nur allein um die Schmerzen, die man als (unglücklich) Verliebter empfindet, sondern die quälende Liebe wird der weltlichen Liebe zugeschrieben und fällt in die Kategorie des Übels (malum), womit sie sich von der rechten Liebe zu Gott abgrenzt. Die Liebe zu Gott, die gute Liebe, fügt dem Menschen keine Schmerzen zu, im Gegenteil: Sie erlöst diejenigen, die sich für die rechte Liebe entschieden haben, von allen weltlichen Leiden und führt zur Glückseligkeit. In diesem Licht könnten weitere Werke des Mittelalters betrachtet werden. Bei Andreas hören wir zum Beispiel ebenfalls von der weltlichen Liebe, die schmerzt und Leiden verursacht. Auch er verurteilt im dritten Buch seines Werkes DA die weltliche Liebe und spricht sich für die Liebe zu Gott aus. 710 Bei ihm wäre also die weltliche Liebe gleichfalls diejenige, die Schmerz und Qualen verursacht, während die göttliche Liebe von all dem befreit. Wann immer von Liebesqualen die Rede ist, handelt es sich um die weltliche Liebe, also um diejenige, die vom rechten Weg abbringt und am Ende aufgrund des sündhaften Handelns der Verliebten zum Tod führt, der wiederum nicht die Pforte ins göttliche Himmelreich ist, sondern in die Verdammnis. Es werden im LBA verschiedene Verben für das Ableben verwendet: „morir“ 711 , „falleçer“ 712 , „peresçer“ 713 - doch wie nah Liebe und Tod sich stehen, zeigt sich wohl am schönsten im Verb „amortesçer“ 714 , in dem die lateinische Wortfügung „ad mortem“ widerhallt. Dem Klang nach enthält dieses Verb für „sterben“ das Wort „amor“ und vermittelt somit genau die Verbindung zwischen Liebe und Tod, die hier untersucht wird. V.3 Tod versus Liebe 207 <?page no="208"?> 715 Cf. ibid., c. 943. 716 Cf. ibid., c. 1506. 717 Cf. ibid., cc. 1576-1578. 718 Cf. ibid., cc. 1520-1575. 719 Cf. ibid., cc. 181-422. 720 Cf. ibid., cc. 490-513, 1528, 1535-1539, 1543. 721 Cf. ibid., c. 1527. 722 Cf. ibid., cc. 184, 188, 391, 1521, 1545. Neben diesen Verben wird auch geschildert, wie die Liebe tötet, z. B. sagt Endrina zur Kupplerin in c. 839a: „El grand amor me mata…“. Und die Kupplerin erwidert in c. 841c, Don Melón hätte gesagt, Doña Endrina töte ihn („Doña Endrina me mata“), womit der metaphorische Tod durch Liebesqualen gemeint ist. Doch es „sterben“ im LBA nicht nur die Liebenden und Geliebten durch den Liebesschmerz. Der Tod verhindert bzw. beendet auch die Liebe zweier Menschen. So stirbt z. B. die Dame in der Estrade, in die sich der Erzpriester ver‐ liebt. 715 Aber auch die Garoza-Episode endet abrupt und mit dem Dahinscheiden der Geliebten. 716 Doch der Tod, der am meisten vom Erzpriester betrauert wird, ist der der Kupplerin. Nicht nur ein Epitaph wird ihr gewidmet 717 , sondern der Erzpriester beschimpft und verflucht den Tod aufs Bitterste 718 . Die Schimpfrede erinnert an die Vorwürfe, die er Don Amor gegenüber äußert. 719 Es ist nicht allein die direkte Anrede, die diese Erinnerung wachruft, sondern v. a. die Umkehrung einzelner Motive: Während Amor dem Erzpriester aufzeigt, wie wichtig Reichtum für die Liebe ist, wird in der Invektive gegen den Tod davon gesprochen, wie unwichtig weltliche Güter sind, schließlich kann man sie nicht mit ins Jenseits nehmen und sie verursachen lediglich Streit unter den Erben. 720 Amor verbindet die Liebenden, der Tod trennt sie 721 . Dennoch haben die beiden Beschimpften auch Gemeinsamkeiten: Sie schwächen die Menschen und sie machen vor niemandem Halt, weder vor Armen noch vor der Obrigkeit. 722 Doch in der Schimpfrede an den Tod fallen weitere Passagen auf, die für die Untersuchung der Liebe bzw. des Guten interessant sind. In c. 1533cd heißt es z.B.: „[A]migos, aperçebidvos e fazed buena obra, que, desque vienʼ la muerte, a toda cosa sobra.“ Mit dieser Mahnung, man solle zu Lebzeiten Gutes tun, um kein Unheil fürchten zu müssen, verwendet der Erzpriester ein seit jeher christliches Motiv. In c. 1549d werden erneut Leben und Liebe dem Tod gegenübergestellt, wenn es heißt: „[M]uerte, matas la vida, al amor aborresçes.“ Wie bereits durch die oben genannten Beispiele gezeigt wurde, sind die weltliche Liebe und das Leben eine Einheit, der Tod hingegen ist ihr Feind und eine konstante Bedrohung. In c. 1549d wird diese Feindschaft erneut deutlich. Hier tritt die bei Augustin bereits erwähnte Angst vor Verlust (metus amittendi) v.-a. durch den Tod wieder in den Vordergrund, d. h. auch an dieser Stelle begegnet 208 V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor <?page no="209"?> 723 Die Einschränkung „die Liebe betreffend“ ist hier bewusst gewählt, weil der Tod auch in anderen Kontexten für den christlichen Glauben eine wichtige Rolle spielt. Zum Beispiel wird die Taufe als eine Art Tod verstanden: Im frühen Christentum wurden Taufbewerber, Postulanten, erst dann Katechumenen, wenn sie sich einem dreistufigen Reinigungsritus unterzogen, der mit der Taufe abgeschlossen wurde. Diese Taufe symbolisierte den Tod für den Sünder, der anschließend als Christ auferstand. Cf. Michel Foucault: Geständnisse, pp. 79-108. Der Zusammenhang zwischen Sünde, Tod und dem Finden des rechten Weges zu Gott ist hierbei mehr als offensichtlich und daher für diese Dissertation ein wichtiger Beitrag. Dennoch würde eine genauere Ausführung über die Taufe zu weit vom eigentlichen Thema abschweifen, weswegen der hier aufgeführte Hinweis genügen soll. 724 Cf. hierzu die Ausführungen zu Nygren in Kapitel III.1-III.2.10. 725 Cf. Martin Dibelius, Werner G. Kümmel: op. cit., p. 103. Die Autoren beziehen sich auf 1Kor 15,22: „Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden.“ Paulus betrachtet die menschliche Natur demnach sehr kritisch, während er die Kraft des Geistes hochschätzt. Cf. Martin Dibelius, Werner G. Kümmel: op. cit., p.-103. 726 Cf. Anders Nygren: Eros und Agape, vol. 1, pp. 96-103. uns augustinisches Gedankengut. Diese Angst befällt diejenigen, die sich für cupiditas entschieden haben. Doch kurz danach im Text spricht der Erzpriester von dem wahrscheinlich wichtigsten Aspekt des Todes in der christlichen Kirche die Liebe betreffend 723 : Durch seinen Tod am Kreuz befreite Jesus Christus die Menschheit von der Sünde. In den Strophen 1556, 1559, 1560, 1563 und 1564 kommt diese Verbindung besonders zum Ausdruck. In der christlichen Kirche steht der Tod am Kreuz für die Erlösung: In diesem äußersten Akt der Nächstenliebe überwindet Jesus Christus den Tod und eröffnet allen Menschen die Möglichkeit, im Jenseits das höchste Glück zu erleben, nämlich Gottes Liebe 724 - und dies ist doch das zentrale Motiv des LBA. Während in der Bibel Adam bzw. der Sündenfall für die menschliche Schwäche steht, die früher oder später mit dem Tod endet, steht Jesus Christus für das ewige Leben und die Liebe Gottes. 725 Nygren erläutert, wie wichtig auch für Paulus das Symbol des Kreuzes ist, denn in ihm zeigt sich Gottes Liebe. Ohne Christi Tod am Kreuz hätte die Menschheit nicht Zeuge dafür werden können, wie sehr Gott sie liebt, was er zeigt, indem er seinen Sohn opfert. Agape und Kreuz sind somit für Paulus ein und dasselbe. 726 So schließt sich der Kreis zwischen Tod und Liebe. Auch wenn er das diesseitige Leben beendet, ist er der Anfang der nach christlichem Glauben wahren Erfüllung, indem man in das Reich Gottes eintreten darf und dort das höchste Gut, das summum bonum, wie Augustin sagen würde, findet. Allerdings ist dies nur denjenigen gestattet, die auf Erden ein ehrliches, aufrichtiges und vor allem gottesfürchtiges Leben geführt haben. Dazu gehört eben auch die Einhaltung der christlichen Gesetze und das Bewusstsein für die richtige Lebensführung. V.3 Tod versus Liebe 209 <?page no="210"?> 727 Cf. Hans Ulrich Gumbrecht ad locum, in: LBA, ed. Hans Ulrich Gumbrecht, p.-411. Diese gebietet unter anderem das Streben nach der rechten Liebe, sei es nun die, die in die Ehe nach christlichen Regeln führt, oder die, die allein auf Gott gerichtet ist. Ob der Tod also als Unheil angesehen wird oder als Eintritt ins Himmelreich, hängt ebenfalls davon ab, ob man sein Streben auf caritas oder cupiditas ausrichtet. Außerdem sei das Augenmerk aber auch noch auf ein anderes Schlagwort gelenkt, das im Zuge dieser Schimpfrede an den Tod in den eben zitierten Strophen auftaucht: Joset verweist in c. 1559 in einer Fußnote auf S, in dem Vers c lautet: „[S]acónos de cabptivo la cruz en que l’ posiste.“ Hier spricht der Erzpriester wieder von der Gefangenschaft in der Sünde, aus der die Christenheit durch einen Tod, nämlich dem Jesu Christi, befreit wird. Auch in 1563ab wird die Gefangenschaft thematisiert, wenn es heißt: „Yo dezir non sabría quáles eran tenidos, quántos en tu infierno estavan apremidos […]“. „Tener“ bedeutet in diesem Zusammenhang „gefangen gehalten werden“ 727 , sodass hier erneut die Fesseln des Teufels bzw. der Sünde der christlichen Freiheit durch Christi Tod am Kreuz und Gottes Liebe entgegengesetzt werden. An dieser Stelle sei an Kapitel II.1 dieser Dissertation erinnert, in dem die anfangs erwähnte Gefangenschaft des Erzpriesters als ein Eingesperrt- und Gefesseltsein im Sündengefängnis gedeutet wird. Strophe 1563 könnte als ein weiterer Beweis für diese Interpretation angesehen werden. Nun wissen wir also, wonach sich der Mensch richten soll, wenn er ein gottgefälliges Leben führen will. Dennoch ist der Mensch schwach und defizitär, weshalb er immer wieder Gefahr läuft, trotz aller Mahnungen vom rechten Weg abzukommen - nicht nur in Liebesdingen, sondern auch im restlichen Leben, wobei diese Begebenheiten wiederum Einfluss auf sein Verhalten in Sachen Liebe nehmen und deswegen im LBA ebenfalls auftauchen. Diesen Einflüssen steht der Mensch bzw. der Christ im Kampf gegenüber, d. h. er muss sich immer wieder selbst, seine Umgebung, seine Festigkeit im Glauben und seine Quellen hinterfragen. Daher wollen wir im Folgenden die Situationen betrachten, in denen es zu Kämpfen im LBA kommt, und was diese für den Liebesbegriff bzw. für die Verhaltensregeln eines guten Menschen/ Christen zu bedeuten haben. 210 V Liebesbeziehungen im Libro de buen amor <?page no="211"?> 728 Cf. Kapitel III.3.2, III.3.3. 729 Cf. LBA, cc. 44-70. 730 Cf. Jaques Joset ad locum, in: LBA, vol. 1, ed. Jaques Joset, p.-25, Fußnote zu 44bc. 731 Cf. LBA, c. 44. VI Kämpfe im Libro de buen amor Das Thema „Kampf “ taucht häufig im LBA auf, allerdings immer in unterschied‐ licher Ausführung. Wie sich diese Kämpfe jedoch aufeinander beziehen, soll am Ende dieses Kapitels erläutert werden. Zunächst folgt eine Beschreibung der vier Kämpfe, und zwar in der Reihenfolge, wie sie im LBA stehen, wobei jeder eine neue Ebene aufmacht, auf der der Erzpriester seine Ansichten schildert. Der erste „Kampf “ unterstreicht die Wichtigkeit guter Bildung, aber auch des Verstandes. VI.1 Der Streit um das rechte Verständnis - Römer versus Griechen Verstand und das rechte Gottesverständnis sind für einen guten Christen weg‐ weisend, denn nur so versteht er Gottes Gesetze wirklich und kann sie in seinem Leben anwenden. Versteht er sie falsch, gibt er sich selbst der Lächerlichkeit preis und verfällt am Ende auch noch falschen Lehren. Davor muss dringend gewarnt werden. Im Zuge der Zählung 728 wurde bereits ausführlich auf den Wettstreit zwischen den Römern und den Griechen bzw. ihrer Stellvertreter 729 eingegangen, um den Gebrauch der Schlüsselbegriffe zu erläutern. Nun soll diese Sequenz noch inhaltlich betrachtet werden. Zu Beginn beweist der Erzpriester Ironie und Humor, indem er die Disticha Catonis  730 „zitiert“ und sich darauf beruft, dass Traurigkeit eine Sünde sei, die es mit „placeres“ und „alegre razón“ zu besiegen gelte. 731 Es handelt sich hier um einen äußerst humorvollen Hinweis an die Leser: innen, das LBA und seine Zeichen richtig zu verstehen. Allerdings kann man natürlich fragen, warum ausgerechnet ein Streit zwischen Römern und Griechen als Bild für diese Lehre ausgewählt wurde. Wie so oft können wir die tatsächliche Motivation des Arcipreste nicht mit Sicherheit benennen, aber wir können auch hier Vermutungen anstellen. <?page no="212"?> Diese Sequenz ist als eine Persiflage der translatio studii zu verstehen. Die Römer bitten die Griechen um Gesetze, denn sie selbst haben keine. Die Griechen wollen die Römer erst prüfen, indem beide Seiten jeweils einen Stellvertreter zu einem Disput schicken, der über die Eignung der Römer entscheiden soll. Aber der Grieche, der in diesem Wettstreit Gott, seine Macht und die Trinität als Themen wählt, also Interesse an einem intellektuellen „Gespräch“ zeigt, erscheint doch etwas lächerlich, da er die Drohgebärden des Römers vor lauter Weisheit gar nicht mehr erkennt. Der Römer wiederum, der die weisen Zeichen des Griechen nicht versteht, sieht erst wie der Verlierer aus, da es aber gelingt, den gelehrten Griechen mit drohenden Gesten zu beeindrucken, ist er am Ende doch Gewinner dieser Erzählung. Ihm ist es zu verdanken, dass die Römer die Gesetze erhalten - eine rundum verkehrte Welt, sozusagen. Es scheint also, als wolle uns der Erzpriester mitteilen, dass man auch nicht jedes Zeichen von einer hohen Warte aus beurteilen muss (wie der Grieche), sondern das Offensichtliche erkennen soll, auch wenn es noch so hässlich ist. Bildung allein ist nicht der Schlüssel zum Erkennen, sonst wäre der Grieche dem Römer nicht auf den Leim gegangen. Ein gewisses Maß an Bodenständigkeit gepaart mit Verstand hätte das vielleicht verhindert. Andererseits hätte auch der Römer die Zeichen des Griechen mit mehr Feingefühl erkennen können. Statt immer nur vom Schlechtesten auszugehen und mit Gewalt zu antworten, hätte es an ihm gelegen, zuerst an Gott zu denken und somit das Gute in den Zeichen seines Gegenübers zu erkennen. Somit kann man festhalten, dass beide Seiten falsch lagen. Der eine übertreibt mit seiner Bildung und verliert darüber den Sinn für die Realität, der andere verfügt über gar keine Bildung und hat deswegen keinen Zugang zu Feinsin‐ nigerem. Beide hätten ihre Defizite aber über den Einsatz ihres Verstandes ausgleichen können. Es geht also darum, die Zeichen sowohl im LBA als auch in der Welt allgemein mit Verstand zu betrachten, denn diese Gabe weist den Weg zur richtigen Entscheidung und letzten Endes zur Gottesliebe. Dort, wo der religiöse Aspekt angebracht ist, soll er erkannt werden; wo es um das echte Leben geht, darf man die Dinge einfach beim Namen nennen - und sei es auch nur, um Missverständnisse zu vermeiden. 212 VI Kämpfe im Libro de buen amor <?page no="213"?> 732 Cf. Kapitel III.3.3, IV.2.2. 733 Cf. Eph 6,16 sq. 734 Cf. 1Thess 5,8. 735 Cf. CP, Collatio 7. 736 Eph 6,12. VI.2 Der Streit um das Gewissen - Don Amor versus den Erzpriester Das Streitgespräch zwischen dem Erzpriester und Don Amor wurde ebenfalls schon thematisiert. 732 Während es bei den Römern und Griechen um den Ver‐ stand geht, der den Menschen befähigt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und das Leben so zu sortieren, dass er eine klare Sicht darauf hat, geht es bei dem nächsten „Kampf “ um das Gewissen und die Wünsche des Menschen bzw. des Christen, die angesichts „drohender“ Versuchung ins Wanken geraten können. Auch in Johannes Cassians CP, Collatio 7, finden wir den Kampf, den Christen bzw. Mönche mit den Dämonen führen müssen, die als Personifikationen für Laster und Sünden auftauchen. Unter Bezug auf die Paulusbriefe vergleicht Cassian den christlichen Glauben mit einem Schild gegen die brennenden Pfeile der Begierden und das Wort Gottes mit dem Schwert des Geistes, das das Gute vom Bösen scheidet 733 . Die Hoffnung auf das Heil ist der Helm, der das Haupt, d. h. Christus, schützt; das Panzerhemd der Liebe bewahrt den Christen vor dem Eindringen des Teufels. 734 Diese Rüstung des Gläubigen ist auch notwendig, denn in der Beschreibung Cassians dringen die Dämonen in die kleinsten Lücken der Gedanken ein und nisten dort, sodass der Mensch ihnen gänzlich verfällt, sofern er nicht gegen sie ankämpft. Nur die Güte Gottes hilft bei der Reinigung von den bösen Geistern und ihren Anfeindungen, derer sich unzählige finden: Es gibt Dämonen des Tags, der Nacht, des Mittags, sie nehmen die Gestalt von Tieren und Fabelwesen an, sie sind mal laut, mal leise, mal stumm, mal taub und sie sind v. a. schlecht zu fassen 735 , „denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel“ 736 . Aber nicht nur die Christen sind bewaffnet, wie wir von Origenes wissen. Auch die Dämonen tragen Waffen, die den Christen gefährlich werden können: Sciendum tamen est, quod, sicut sunt ista Dei iacula, quae animae habenti desiderium bonorum salutis uulnus infligunt, ita sunt et iacula maligni ignita, [Eph 6,16] quibus anima, quae non est scuto fidei protecta, uulneratur in mortem. De ipsis dicit propheta: „Ecce, peccatores tetenderunt arcum, parauerunt sagittas suas in pharetra, ut sagittent VI.2 Der Streit um das Gewissen - Don Amor versus den Erzpriester 213 <?page no="214"?> 737 CCC, III 8,16-18. 738 Cf. Kapitel III.2.7.1. 739 Cf. LBA, c. 183b. 740 Cf. LBA, c. 653. in obscuro rectos corde.“ [Ps 10(11),2] Hic peccatores de occulto sagittantes daemones inuisibiles dicit et ipsi sunt habentes quaedam iacula fornicationis, alia cupiditatis et auaritiae, quibus quamplurimi uulnerantur. Habent etiam spicula iactantiae et uanae gloriae. Sed ista ualde subtilia sunt, ita ut confixam se anima ab iis sauciatamque uix sentiat, nisi si induta est armis Dei [Eph 6,11] et stat uigilans et immobilis aduersus astutias diaboli scuto semet ipsam fidei [Eph 6,16] per omnia contegens et nullam prorsus corporis partem fide nudam relinquens. Quantacumque autem daemones fecerint tela, si inueniant mentem hominis fide munitam, etiamsi ignita sint, etiamsi cupiditatum flammis et incendiis ardeant uitiorum, fides plena cuncta restinguit. Man muss jedoch wissen, dass es so, wie es diese Pfeile Gottes gibt, die der Seele, die eine Sehnsucht nach dem Guten besitzt, eine Wunde des Heils zufügen, auch die feurigen Pfeile des Bösen [Eph 6,16] gibt, durch welche die Seele, die nicht durch den Schild des Glaubens geschützt ist, zu Tode verwundet wird. Über diese sagt der Prophet: „Siehe, die Sünder haben den Bogen gespannt, sie haben ihre Pfeile im Köcher vorbereitet, damit sie im Dunkeln die niederschießen, die rechten Herzens sind.“ [Ps 10(11),2] Hier nennt er die unsichtbaren Dämonen Sünder, die aus der Dunkelheit schießen, und die haben einerseits Pfeile der Unzucht, andererseits der Begierde und der Habsucht, von denen überaus viele verwundet werden. Sie haben auch Lanzen der Prahlerei und der eitlen Ruhmsucht. Doch die sind sehr dünn, so dass die Seele kaum merklich von ihnen gestochen und verletzt wird, wenn sie nicht mit der Waffenrüstung Gottes angetan ist [Eph 6,11] und wachsam und unerschütterlich den Anschlägen des Teufels widersteht, indem sie sich selbst überall mit dem Schild des Glaubens [Eph 6,16] bedeckt und überhaupt keinen Teil des Körpers vom Glauben entblößt lässt. Wie viele Geschosse die Dämonen aber auch gemacht haben mögen: Wenn sie auf einen im Glauben gefestigten Geist eines Menschen treffen, löscht der volle Glaube sie alle aus, auch wenn sie feurig sind, auch wenn sie in den Flammen der Begierden und in den Feuern der Laster glühen. 737 Im LBA trägt Don Amor, der zusammen mit Doña Venus als Dämonen identifi‐ ziert wurde 738 , zwar keine Speere, Dolche oder Schutzschilde, sondern schießt mit vergifteten Pfeilen auf seine Opfer 739 . Der Erzpriester ist - wie wahrschein‐ lich alle Opfer Amors - von der Liebe verwundet, die er angesichts Doña Endrina empfindet. 740 Don Amor und Doña Venus verwenden gefährliche Worte, um den Erzpriester zu sündhaftem Verhalten zu verleiten, was wohl ihre wirksamsten Waffen sind. Außerdem stehen sie für Laster und Sünden. Mit 214 VI Kämpfe im Libro de buen amor <?page no="215"?> 741 CCC, III 8,17. Es sei an dieser Stelle an die Erläuterungen zu den Todsünden in Kapitel IV.2.2 erinnert. 742 Cf. Kapitel IV.2.2. Origenes kann man daher sagen, sie seien bewaffnet, nennt er in dem oben zitierten Text doch die Hauptlaster als Waffen: „Pfeile der Unzucht, […] der Begierde und der Habsucht, Lanzen der Prahlerei und der eitlen Ruhmsucht“ („iacula fornicationis, […] cupiditatis et auaritiae, spicula iactantiae et uanae gloriae“) 741 . Im LBA werden eben diese Laster - und einige weitere - Don Amor zugeschrieben 742 , sodass man sagen kann, er bedroht damit das Seelenheil eines Christen. Im Falle der Endrina-Episode haben wir bereits erfahren, dass Don Amor und Doña Venus den Kampf gewinnen, da sich Don Melón an deren Ratschläge hält und Doña Endrina mit Hilfe der Kupplerin verführt. Anstatt standhaft zu bleiben, lässt sich Don Melón auf das Abenteuer der Eroberung Doña Endrinas ein. Nun könnte man behaupten, er sei das Opfer von Verführung geworden, weil er von Dämonen besessen deren Anweisungen gefolgt ist. Doch ihn trifft auch ein gewisses Maß an Eigenverschulden, denn als Christ hätte er sich seines Verstandes bedienen müssen, um sich den Überredungskünsten der römischen Götter zu widersetzen. Dass er ihn nicht einsetzt, sondern sich freiwillig für die Verführung entscheidet, und zwar mit allem, was Don Amor und Doña Venus ihm mit auf den Weg gegeben haben, lässt Don Melón als Inbegriff eines Sünders erscheinen. Aus dem bemitleidenswerten Verliebten, der doch nur Liebe erfahren und geben will, wird so der von Mächten der Torheit verführte Sünder, der alle Hebel in Bewegung setzt, um eine Frau für sich zu gewinnen und nicht einmal davor zurückscheut, sowohl seinen als auch ihren Ruf zu riskieren, um an sein Ziel zu gelangen. Er ist also Opfer und Täter zugleich. Andererseits ist aber auch Endrina nicht nur Opfer, sondern auch Täterin, schließlich hätte auch sie ihren Verstand einsetzen, die List der Kupplerin durchschauen und sich auf die christlich-gesellschaftlichen Regeln besinnen müssen. Beide verlieren also den Kampf gegen die „Dämonen“, denn es fehlt ihnen an den drei Dingen, die der Erzpriester im Prosaprolog als wegweisend bezeichnet: Sie hätten den Verstand (entendimiento) gebrauchen müssen, um die Zeichen richtig zu deuten; sie hätten sich an die christlichen Lehren erinnern müssen (memoria); und sie hätten von ihrem freien Willen (voluntad) Gebrauch machen müssen, um den rechten Weg einzuschlagen. Somit machen sie sich beide lächerlich und es bleibt ihnen nur der Ausweg, die Verführung möglichst schadenfrei auszubalancieren, indem sie heiraten. Die rechten Handlungen und das richtige Verhalten sind auch Themen des nächsten Kampfes. VI.2 Der Streit um das Gewissen - Don Amor versus den Erzpriester 215 <?page no="216"?> 743 Cf. LBA, cc. 1067-1172. 744 Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval - Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1990, p.-48. 745 Ibid. 746 Ibid., p.-49. 747 Cf. ibid., pp. 47-60. 748 Cf. LBA, cc. 1082-1087, 1103-1105, 1069-1076. 749 Cf. ibid., cc. 1120, 1127-1172. 750 Cf. ibid., cc. 1067-1314. 751 Cf. ibid., c. 1180d. VI.3 Der Streit um das rechte Verhalten - Don Carnal versus Doña Cuaresma Ein Teil der Auseinandersetzung zwischen Don Carnal und Doña Cuaresma ist eine Karnevalsepisode. 743 Diese ist geprägt von Elementen, die man bei Bachtin und seinen Beschreibungen karnevalisierter Literatur findet. Laut Bachtin ist „Karneval die umgestülpte Welt“ 744 , in der Gesetze und Verbote ausgesetzt werden und die hierarchische Ordnung, inklusive „Furcht, Ehrfurcht, Pietät und Etikette“ 745 , nicht mehr gilt. Das Zusammenkommen sonst streng vonei‐ nander getrennter Dinge bzw. Menschen nennt Bachtin die „karnevalistische Mesalliance“ 746 . Die Profanation u. a. heiliger Texte gehört ebenso zu typischen Karnevalsmerkmalen wie der Wechsel von Erhöhung und Erniedrigung, was sich am deutlichsten in der Krönung sowie dem Sturz des Karnevalskönigs zeigt. Insgesamt ist der Karneval eine Zeit der Veränderung, in der das Alte zerstört wird, um Neuem Platz zu schaffen. V. a. im Mittelalter lebte innerhalb der karnevalistischen Literatur die parodia sacra auf, die Parodie heiliger Texte und Bräuche. Auch die Exzentrizität, also der verkehrte Einsatz von Gegen‐ ständen trägt zur karnevalistischen Szenerie bei. 747 Diese Elemente sehen wir im LBA verwirklicht, wenn statt menschlicher Soldaten unter anderem Rebhühner, Kapaune und fette Gänse mit Bratspießen bewaffnet und Töpfen als Helmen gegen Sardinen, Tintenfische und Forellen in den Krieg ziehen, weil Doña Cuaresma ihren Widersacher Don Carnal herausfordert. 748 Don Carnal, der hier als der Karnevalskönig angesehen werden kann, wird am Ende der Schlacht von einem Wal besiegt und eingesperrt. 749 Eine Besonderheit im LBA ist vielleicht, dass die Zeit des Karnevals zwar genau benannt wird, ebenso wie die Fastenzeit, auf die - natürlich - die ebenfalls genau benannte Osterzeit folgt 750 , aber obwohl zur Fastenzeit sowie zu Ostern das Karnevalstreiben schon längst vergangen sein sollte, finden wir dort auch einige Elemente, die, mit Bachtin gesprochen, als karnevalistisch bezeichnet werden können. Don Carnal schmiedet nach Beginn der Fastenzeit Pläne, um „lachend“ 751 aus seiner 216 VI Kämpfe im Libro de buen amor <?page no="217"?> 752 Cf. Michail M. Bachtin: op. cit., pp. 53 sq. 753 Cf. LBA, cc. 1190-1197, 1204-1211. 754 Cf. Michail M. Bachtin: op. cit., p.-48. 755 Cf. LBA., c. 1237. 756 Cf. Félix Lecoy: op. cit., p.-247. 757 Cf. Kemlin M. Laurence: „The Battle between Don Carnal and Doña Cuaresma in the Light of Medieval Tradition“, in: G. B. Gybbon-Moneypenny ed.: ,Libro de buen amor‘ Studies, London: Colección Támesis 1970, pp. 159-176. 758 Cf. Joan Corominas ad locum, in: LBA, ed. Joan Corominas, pp. 410, 412, Fußnote zu c. 1067 sqq. Haft zu entfliehen. Das Lachen ist laut Bachtin ein typisches Merkmal für den Karneval sowie für die Verspottung höherer Instanzen und eine Reaktion auf Krisen im Leben, sodass es zu einer Umkehrung dieser Krisen kommt. 752 Ei‐ gentlich kehrt der Erzpriester in den Strophen 1173-1314 das Karnevalstreiben noch einmal um, indem nun Doña Cuaresma herausgefordert wird; darauf folgt ihr Sturz, indem sie vor ihrem mächtigen Feind flieht, bevor dieser und Don Amor zu Kaisern gekrönt werden. 753 Sodann feiert das ganze Land den Sieg über die Fastenzeit. Laut Bachtin gehört das gemeinschaftliche Feiern zum karnevalistischen Weltempfinden 754 , was sich in dieser allumfassenden Zeremonie zeigt. Ordensleute besingen Don Amor 755 , was als die o.-g. Parodie auf kirchliche Bräuche gelesen werden könnte. Wie man sieht, sprengt der Erzpriester also auch an dieser Stelle Grenzen und spielt mit Traditionen. Die Darstellung des Kampfes zwischen Karneval und Fasten ist nämlich nicht allein eine Erfindung des Erzpriesters. Laut Lecoy taucht das Motiv dieser Kampfszene zwischen den beiden Kontra‐ henten Fastenzeit und Fleischeslust häufig in der Literatur des mittelalterlichen Europa auf. 756 Auch Kemlin M. Laurence führt weitere Beispiele dafür an, dass der Erzpriester in dieser Episode auf bereits bestehende Beispiele der europä‐ ischen Literatur zurückgreift. 757 Ebenso unterstützt Corominas die These, dass dieses ein weitverbreitetes Motiv der europäischen Literatur des Mittelalters ge‐ wesen sei. Beide gehen davon aus, dass der Erzpriester sich auf die französische Erzählung La Bataille de Caresme et de Charnage bezieht. Corominas allerdings meint, der Erzpriester habe das Thema sehr viel kunstfertiger bearbeitet als der Verfasser der französischen Vorlage. Außerdem sagt er, der Erzpriester habe wohl auch andere Bearbeitungen des Themas gekannt. 758 VI.3 Der Streit um das rechte Verhalten - Don Carnal versus Doña Cuaresma 217 <?page no="218"?> 759 Es gibt zwar auch andere bildliche Darstellungen des Kampfes zwischen Karneval und Fasten. Die Entscheidung, das Werk Bruegels heranzuziehen, beruht zum einen auf der sehr farbenfrohen und detailreichen Darstellung, die Bruegel gewählt hat. Diese passt wohl am besten zu den überbordenden Beschreibungen des Erzpriesters. Zum anderen liefert Elke M. Schutt-Kehm bei ihrer Interpretation des Werks Aspekte, die für das LBA und wiederum seine Interpretation durchaus nützlich sind. Cf. Elke M. Schutt- Kehm: Pieter Bruegels d[es] Ä[lteren] „Kampf des Karnevals gegen die Fasten“ als Quelle volkskundlicher Forschung, Frankfurt a. M.: Verlag Peter Lang 1983. Der bzw. ein Kampf zwischen Don Carnal und Doña Cuaresma wurde z. B. auch von Pieter Bruegel dem Älteren im Jahr 1559 in seinem Gemälde Der Kampf zwischen Karneval und Fasten dargestellt. 759 Pieter Bruegel (d. Ä.): Der Kampf zwischen Karneval und Fasten, 1599, © KHM-Museums‐ verband. Betrachten wir an dieser Stelle das bruegelsche Gemälde bzw. die Interpretati‐ onen von Elke M. Schutt-Kehm etwas genauer. Obwohl das Bild im 16. Jahrhun‐ dert entstand, liefert es doch das ein oder andere Detail, das für das Verständnis der vom Erzpriester gewählten Bilder hilfreich ist. Im Vordergrund der linken Bildhälfte sieht man den personifizierten Karneval auf einem Fass reiten. Er ist umgeben von seinen Gefolgsleuten, die mit typi‐ 218 VI Kämpfe im Libro de buen amor <?page no="219"?> 760 Cf. Elke M. Schutt-Kehm: op. cit., pp. 18-24, 45 sq., 51, 54, 68. Die Nähe der Karnevals‐ traditionen zu den Attributen der Venus, wie sie in Kapitel IV.3.2 beschrieben werden, sind hier mehr als auffällig. 761 Cf. Elke M. Schutt-Kehm: op. cit., pp. 24-30, 80-82, 93. 762 Cf. ibid., pp. 38-41. 763 Cf. LBA, cc. 1255-1258. 764 Cf. ibid., cc. 1690-1709. schen Attributen ausgestattet sind: Fleisch und Wurstwaren, Krähenpastete (die der Karneval als Kopfschmuck trägt) stehen für Völlerei und Verschwendungs‐ sucht; das Kartenspiel, dem sich die Freunde des Karnevals widmen, galt seit dem 14. Jahrhundert als sündhaft, ebenso ist das Würfelspiel verpönt; Wein, Eier- und Milchprodukte sind strenggenommen während der Fastenzeit verboten und daher in dieser Jahreszeit umso beliebter; eine Theatervorführung vor dem Wirtshaus, Tanz und Reigen, Spiele und Weinkrüge zeigen die Ausgelassenheit, die hier vorherrscht. 760 Somit ist die linke Bildhälfte zum Großteil dem bunten Treiben der Fastnacht vorbehalten. Die rechte Bildhälfte zeigt die Fasten mit ihren Anhänger: innen, die ebenfalls ihrer Charakterisierung entsprechend gestaltet sind: Fisch und Meeresfrüchte, Gemüse, Honig und Brezeln stellen die magere, zurückhaltende Küche dar; die Austeilung von Almosen an Bettler und Menschen mit Behinderung steht für die christlichen Werte, die in dieser Zeit besonders gepflegt werden sollen; das Aschekreuz auf der Stirn der meisten Fastenden bezeugt die Hingabe an die Rituale der Fastenzeit; man sieht Ordensleute in dunklen Gewändern, die in die und aus der Kirche gehen. Bruegel scheint keiner der beiden Seiten mehr oder weniger zugetan, schließlich stellt der Karneval sündhaftes Leben dar und die Fasten sieht nicht gerade attraktiv aus. 761 Im Zuge ihrer Interpretation erwähnt Schutt-Kehm interessante Gedanken zur Kritik an der Kirche, die auch hier nicht fehlen dürfen. Dies ist Teil der Be‐ schreibung der als Nonne verkleideten Figur, die dem Karneval einen Tisch mit Fastnachtsleckereien hinterherträgt. Sich als Ordensperson zu verkleiden war schon damals beliebt und sollte auf die sündigen Ausschweifungen hinweisen, die in den Klöstern des Mittelalters durchaus gängig waren. 762 An dieser Stelle denkt man unweigerlich an die Nonnen, die im Gefolge Don Amors und Don Carnals als sündige Frauen bezeichnet werden. 763 Die Frage, ob es sich hierbei um „echte“ Nonnen handelt oder der Erzpriester ebenfalls auf eine Verkleidung anspielt, kann hier zwar nicht beantwortet, aber sicherlich als Gedankenanstoß gewertet werden. Oder man denkt an das Klagelied der Kleriker von Talavera, in dem die Ordensmänner sich über die Anweisung, in Zukunft im Zölibat zu leben, beklagen. 764 VI.3 Der Streit um das rechte Verhalten - Don Carnal versus Doña Cuaresma 219 <?page no="220"?> 765 Cf. Elke M. Schutt-Kehm: op. cit., p.-51. 766 Ibid., p.-36. 767 Cf. LBA, c. 1183. 768 Cf. ibid., cc. 1302-1314. Auffällig ist aber auch die Darstellung der Fastnachtshochzeit, die hier laut Schutt-Kehm auf Sünde und Unkeuschheit hinweist 765 , denen man in der Ehe wohl schnell verfällt. Die Ehe ist erlaubt, aber nur, wenn sie maßvoll und zum Zwecke der Fortpflanzung vollzogen wird. Außerdem sollen sich die Eheleute gegenseitig im Glauben unterstützen. Schutt-Kehm fasst die Botschaft des hier dargestellten Aufeinandertreffens der beiden Gestalten und ihrer Anhänger: innen wie folgt zusammen: Während dieser Zeit, in der sich der Einzelne mit Duldung der Kirche und der Behörden einem ausgelassen-ausschweifenden Treiben hingeben darf, leben die altrömischen Saturnalien und heidnisch-germanisches Brauchtum wieder auf. Die sonst von der Kirche so sorgsam unterdrückte Sinnenlust erhebt in diesen Tagen ungestraft ihr Haupt. 766 Diese Feststellung ist deswegen für das LBA wichtig, weil auf ein zentrales Thema Bezug genommen wird: Der Kampf zwischen heidnischem Brauchtum und christlichen Werten liegt auch dieser Passage des LBA zugrunde, in der der Erzpriester den Kampf zwischen Don Carnal und Doña Cuaresma beschreibt - wenngleich für eine gewisse Zeit im Jahr Ausnahmen gelten. Dass der Mensch in dieser törichten Welt mit einem anstrengenden und immerwährenden Kampf gegen die Versuchungen der Laster und Sünden konfrontiert ist, ist ein durchaus ernstes Thema der frühen Christen und im Mittelalter. Der Erzpriester übernimmt dieses Motiv, wandelt es aber mit seinen Überzeichnungen um in ein buntes Treiben, an dessen Ende - wie es auch sein soll - die Fastenzeit über den Karneval gewinnt. Den weltlichen Genüssen in Gestalt des Don Carnal gelingt die Flucht aus dem Kerker. 767 Don Carnal und Don Amor kehren gemeinsam zurück, aber sie bleiben nur kurze Zeit an einem Ort und ziehen jeweils dorthin, wo sie mehr Gefolgsleute und Diener erwarten. 768 Damit wird das Umherziehen und Kämpfen mit der Fastenzeit bzw. dem guten Glauben der Christen zu einem Kreislauf, der nie aufhört und immer wieder aufs Neue beschritten werden muss. So gesehen gibt es eigentlich keinen Gewinner, denn der Kampf wird jedes Jahr erneut geführt. Auch hier bleibt also die Botschaft des Paulus und der frühen Christen erhalten: Der Christ muss sich immer wieder gegen die Versuchungen wappnen, die allerlei Geschütz auffahren und so versuchen, den Christen für sich zu gewinnen. 220 VI Kämpfe im Libro de buen amor <?page no="221"?> 769 Cf. ibid., cc. 1579-1605. 770 Cf. ibid., c. 1582. 771 Cf. ibid., cc. 1583-1601. 772 Cf. Gaspar Astete: Los 3 grandes enemigos del Alma: Mundo, Demonio, Carne, https: / / es.catholic.net/ op/ articulos/ 64612/ los-3-grandes-enemigos-del-alma-mundo-demonio -y-carne.html [Stand: 25.1.2023]. An dieser Stelle sei noch einmal an die Ausführungen zu den Todsünden in Kapitel IV.2.2 erinnert. 773 Cf. LBA, cc. 1585-1587, 1590, 1593, 1599, 1601, 1604. Die ausführlichen Erläuterungen zur Ehe als Schutz vor der Sünde finden sich in Kapitel V.1. 774 Cf. LBA, cc. 1594, 1599, 1603. 775 Cf. ibid., c. 1603. VI.4 Der Streit um den rechten Glauben - Der „gute Kampf“ der Christen Das Kapitel „De quáles armas se deve armar todo cristiano para vençer el diablo, el mundo e la carne“ 769 könnte ebenfalls durch die Paulusbriefe inspiriert sein. Dies ist der einzige Kampf, in dem der Erzpriester auf Ironie verzichtet. An dieser Stelle spricht er über die Sünden, die den Menschen versklaven und gefangen halten wollen 770 - auch hier ist das Motiv des Gefangenen in der Sünde ein erneuter Hinweis auf das in Kapitel II.1 erwähnte Gefängnis des Erzpriesters, also die Welt und ihre Versuchungen. Es geht um die Todsünden 771 ebenso wie um die drei Feinde der Seele, nämlich das Fleisch, die Welt und den Teufel 772 . Aus diesen Sünden und Seelenfeinden entstehen die kleineren Sünden, sodass man sie alle mit den zur Verfügung stehenden Waffen des Christentums bekämpfen und besiegen muss. Dazu gehören neben Werten wie Mitleid, Hoffnung und Erbarmen auch Handlungen wie Wallfahrten und Stundengebete sowie heilige Sakramente, in diesem Fall die Taufe und die letzte Ölung ebenso wie Ehe und Heirat. 773 Aber natürlich darf eine weitere Waffe nicht fehlen, nämlich caridad bzw. caridat. 774 Im ersten Fall verhilft die caridad zur Einsicht, welch großen Schaden Zorn anrichten kann, im zweiten Fall ist sie ein probates Mittel gegen den Neid. Der Welt soll man mit Nächstenliebe (caridad) begegnen. 775 In diesem Kapitel wird „caridad“/ „caridat“ auffallend häufig verwendet. Im guten Kampf scheint dieser Begriff also unerlässlich zu sein. Vielleicht wird hier auf das Verwirrspiel verzichtet, um eine Verwechslung, wie sie Origenes beschrieben hat, zu vermeiden. Was der Arcipreste schildert, orientiert sich an dem „guten Kampf “, den Paulus in 1Tim 1,18 nennt: Diese Botschaft vertraute ich dir an, mein Sohn Timotheus, nach den Weissagungen, die früher über dich ergangen sind, damit du in ihrer Kraft einen guten Kampf kämpfst. VI.4 Der Streit um den rechten Glauben - Der „gute Kampf “ der Christen 221 <?page no="222"?> 776 Johannes Chrysostomus: Homilien über den I. Brief an Timotheus, in: Des heiligen Kirchenlehrers Johannes Chrysostomus Homilien über den ersten Brief an Timotheus, transt. J. Wimmer, Kempten 1883 (Bibliothek der Kirchenväter, 1 Serie, Band 74), 5,1. Chrysostomus beschreibt hier wohl - ähnlich wie in De sacerdotio - die richtigen Verhaltensweisen für Geistliche, was zum Beispiel an der Formulierung „Träger des Lehramtes“ zu erkennen ist, denn der Priester bzw. der Bischof ist „Verwalter, Lehrer und Redner zugleich“. Hermann Dörries: „Erneuerung des kirchlichen Amts im vierten Jahrhundert“, in: Bernd Moeller, Gerhard Ruhbach edd.: Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte - Kirchenhistorische Studien, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1973, p. 39. (Insgesamt zu den Begriffen „Priester“ und „Bischof “ cf. Michael Fiedrowicz: „Einleitung“, in: Johannes Chrysostomus: De sacerdotio - Über das Priestertum, ed. Michael Fiedrowicz, Fohren-Linden: Carthanasius Verlag 2013, pp. 9-119, ibid. pp. 53-103.) Dass es zwischen Priestern und Laien keinen oder kaum einen Unterschied gibt die rechte Haltung im Leben betreffend und v. a. in Sachen Keuschheit, wird in Kapitel V.1 genauer dargestellt. In seinen Homilien über den I. Brief an Timotheus geht Johannes Chrysostomus u. a. auf diese Bibelstelle ein und erläutert, dass ein Christ gegen die Sünde mit seinen Waffen ankämpfen muss: Ἵνα στρατεύῃ ἐν αὐταῖς τὴν καλὴν στρατείαν. Ἐκεῖναί σε εἵλοντο εἰς ὃ εἵλοντό σε, στρα τεύου τὴν καλὴν στρατείαν. Καλὴν εἶπεν· ἔστι γὰρ καὶ κακὴ στρατεία, περὶ ἧς φησιν· Ὥσπερ γὰρ παρεστήσατε τὰ μέλη ὑμῶν ὅπλα τῇ ἁμαρτίᾳ καὶ τῇ ἀκαθαρσίᾳ. Ἐκεῖνοι ὑπὸ τυράννῳ στρατεύονται, σὺ δὲ ὑπὸ βασιλεῖ. Διὰ τί δὲ καλεῖ στρατείαν τὸ πρᾶγμα; Δηλῶν ὅτι πόλεμος ἐγήγερται σφοδρὸς πᾶσι μὲν, μάλιστα δὲ τῷ διδασκάλῳ, ὅτι ὅπλων ἡμῖν ἰσχυρῶν δεῖ, ὅτι νήψεως, ὅτι ἐγρη γόρσεως, ὅτι διηνεκοῦς ἀγρυπνίας, ὅτι πρὸς αἷμα καὶ μάχας παρεσκευάσθαι ὀφείλομεν, ὅτι παρατάττεσθαι, καὶ μηδὲν ἔχειν χαῦνον. „Daß du in ihnen kämpfest den guten Kampf! “ Jene Prophezeiungen haben dich zu deinem Berufe erwählt: Kämpfe den guten Kampf! Den „guten“ Kampf heißt es. Es gibt nämlich auch einen schlechten Kampf, von dem der Apostel spricht: „Ihr habt euere Glieder zu Waffen hergegeben für die Sünde und Unreinigkeit.“ Diese Letztern kämpfen unter einem Tyrannen, du aber unter einem König. Warum aber nennt er das Ganze einen „Kampf “? Um zu zeigen, daß ein heftiger Krieg entbrannt ist, für alle Christen insbesondere aber für den Träger des Lehramtes, daß man starke Waffen braucht, Fasten, Wachen, unaufhörliche Behutsamkeit, daß wir zum Kampfe bis auf ’s Blut bereit sein, daß wir in der Linie stehen müssen und uns niemals schwach finden lassen dürfen. 776 Fasten, Wachen und unaufhörliche Behutsamkeit sind also die Waffen, die Chrysostomus seinen Leser: innen an die Hand gibt, um sich gegen die Widrig‐ keiten der Welt zu wappnen. Der Erzpriester ist hier, wie wir gesehen haben, 222 VI Kämpfe im Libro de buen amor <?page no="223"?> 777 LBA, Prosaprolog, linn. 141-151. deutlich ausführlicher, schlägt aber dieselbe Richtung ein. Chrysostomus weist auch auf die feindliche Seite hin, wenn er von dem „schlechten Kampf “ spricht, in dem die Menschen auf der falschen Seite stehen. Dass das gesamte LBA wie eine Waffe zu sehen ist, die seinen Leser: innen im „guten Kampf “ dienen soll, sagt der Erzpriester schon im Prosaprolog: E Dios sabe que la mi intençión non fue de lo fazer por dar manera de pecar ni[n] por maldezir, mas fue por reduçir a toda persona a memoria buena de bien obrar e dar ensienplo de buenas constunbres e castigos de salvaçión; e porque sean todos aperçebidos e se puedan mejor guardar de tantas maestrías como algunos usan por el loco amor. Ca dize sant Gregorio que menos fieren al onbre los dardos que ante son vistos e mejor nos podemos guardar de lo que ante hemos visto. 777 Wenn man die Pfeile („dardos“) der Dämonen kennt bzw. sieht, kann man ihnen besser ausweichen. Daher beschreibt der Erzpriester diese sowie die „Waffen“ anhand seiner Abenteuer. Die Kämpfe lassen sich zusammenfassend wie folgt darstellen: Der Verstand befähigt, zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht zu unterscheiden, daher ist er die wirksamste Waffe des Christen. Don Amor und Doña Venus sind Personifikationen der Sünde: Ihnen verfällt man, weil er teuflische Züge trägt und seine Versprechungen gar so süß sind; sie zeigt sich mütterlich und ihren Anhänger: innen zugewandt, sagt aber eigentlich nichts anderes als ihr Gatte und ist so ebenfalls für den moralischen Verfall der Menschen verantwortlich. Gemeinsam stehen sie für das sündhafte Handeln, das es zu verabscheuen gilt, weil es die Menschheit vom rechten Weg abbringt. Wie lächerlich es ist, ihm doch zu folgen, zeigen die vielen detaillierten Geschichten über die weltliche Liebe, v. a. aber die Endrina-Episode. Wenn Don Carnal und Doña Cuaresma gegeneinander ins Feld ziehen, stehen sich erneut - wie das obige Zitat von Schutt-Kehm bereits zeigte - heidnische Sitten und christlicher Lebenswandel gegenüber. Während der Karneval als unnötig überladen und verschwenderisch dargestellt wird, zeigt sich die Fastenzeit im LBA als solide Gegnerin, die den Karneval zunächst besiegt, bevor der Kampf von vorn beginnt. Der „gute Kampf “ der Christen, für den sie sich mit ihren „Waffen“ in Form von Tugenden gegen die Angriffe der Sünde, der Dämonen und der Laster wappnen müssen, zielt ebenfalls auf dasselbe Thema. Auch hier stehen die Dämonen und alles, was die Christen abwehren müssen, für das Heidnische, das Böse, das nicht Erstrebenswerte. VI.4 Der Streit um den rechten Glauben - Der „gute Kampf “ der Christen 223 <?page no="224"?> 778 Cf. Psychomachia: Praefatio: vv. 1-65, Psychomachia: vv. 1-20; LBA, cc. 11-19. 779 Cf. Psychomachia: Psychomachia: vv. 21-887. 780 Cf. ibid., v. 21. 781 Ibid., v. 715. 782 Cf. ibid., v. 240. 783 Cf. ibid., vv. 435-439. 784 Cf. ibid., vv. 640-644. 785 Ibid., v. 573. 786 Ibid., v. 762. 787 Cf. ibid., vv. 605-664. 788 Cf. ibid., vv. 888-916. 789 Ibid., vv. 890-892. Vergleicht man die beschriebenen Streit- und Kampfszenen fällt eines sofort auf: Es handelt sich immer um den Kampf des Christentums, das für das Gute, Erlösende, Heilbringende steht, gegen die sündenbeladene Welt, die mit ihren Verführungen auf den falschen Weg weg vom christlichen Gott lenken will. Es handelt sich also stets um die Wahl zwischen caritas und cupiditas, zwischen (summum) bonum und malum. Die oben bereits erwähnte Parallele zu Prudentiusʼ Psychomachia ist unver‐ kennbar: Ebenso wie der Arcipreste beginnt auch Prudentius sein Werk mit einer kurzen Veranschaulichung der Wirkmacht Gottes und der Bitte, der Allmächtige möge ihm zu Hilfe kommen. Auch die Bezeichnung des eigenen Werkes als Vorbild für alle Leser: innen fehlt in dieser Vorrede nicht. 778 Es folgen bei Prudentius die zum Teil blutigen und detailreich ausgeschmückten Kampfszenen zwischen Lastern und Tugenden. 779 Der Glaube (Fides) ist die erste Tugend, die den Kampf aufnimmt 780 und wird als „Königin der Tugenden“ 781 be‐ zeichnet. Die Planeten tauchen in Gestalt des Mars auf. 782 Amor flieht in diesem Kampf nach nur sehr kurzer Erwähnung vor der Nüchternheit (Sobrietas). 783 Gott und Christus stehen den Tugenden bei all den Schlachten gegen die Laster bei. 784 Die Liebe taucht einmal als „helfende Liebe (Opartio)“ 785 , einmal als „amor“ 786 auf. Natürlich gehen die Tugenden siegreich aus diesem Gefecht hervor. 787 Prudentius beendet sein Werk mit einem Dank an Christus 788 , in dem er betont: „du [sic] wolltest uns die Gefahren, die im Leib und in der kämpfenden Seele verborgen liegen, erkennen lassen.“ 789 Bei beiden Werken, der Psychomachia und dem LBA, geht es um den Kampf des Christen gegen die Verführungen des Lebens, die v. a. im Heidentum vertreten sind. Am Ende siegt Gott bzw. Christus bzw. die christliche Liebe über die weltlichen Verführungen. Nun könnte man sagen, dass manche Teile des LBA wie eine humorvolle Variante der Psychomachia zu lesen sind, schließlich ähneln sich sowohl Struktur als auch Inhalt der beiden Werke, auch wenn das eine sehr 224 VI Kämpfe im Libro de buen amor <?page no="225"?> 790 Cf. Kapitel IV.2.1.2, IV.2.2. ernst und blutig, das andere eher volksnah und heiter ist. Bezeichnenderweise wäre diese Parallele eine erneute Unterstreichung der eingangs aufgestellten These, dass das LBA eine quasi sekundäre Rezeption paulinischen Gedankenguts ist, schließlich ist Paulus auch eine Inspirationsquelle für die Psychomachia gewesen, wie wir weiter oben gesehen haben. 790 VI.4 Der Streit um den rechten Glauben - Der „gute Kampf “ der Christen 225 <?page no="227"?> VII Zusammenfassung Die wichtigsten Ergebnisse der durchgeführten Untersuchungen werden hier noch einmal zusammengefasst, bevor die Forschungsfragen im Fazit beant‐ wortet werden. Der Arcipreste, über dessen Leben wir verhältnismäßig wenig wissen, teilt uns in seinem Werk erstaunlich viel über seinen Bildungsstand und seine Sicht auf die Welt bzw. seine Haltung zur rechten Lebensführung eines Christen mit. Dies tut er, weil er den Menschen den Unterschied zwischen rechter und törichter Liebe beibringen will. Die Liebe zu Gott soll laut dem Arcipreste im Zentrum des Lebens stehen, gleichzeitig verleugnet er aber nicht, wie schwierig dieser Weg ist, da der Mensch durch seine natürliche Sexualität und verführe‐ rische Elemente der irdischen Welt leicht vom idealen Weg abzubringen ist. Sein Standpunkt speist sich einerseits aus biblischem Wissen, andererseits aus philosophischen und astrologischen Traditionen sowie literarischen Vorbildern, die wiederum die Liebe zwischen Mann und Frau thematisieren, sowie seiner Kenntnis vom „echten“ Leben. In dieser Mischung aus hoher Bildung und Geschichten mitten aus dem Leben scheint die Definition des Liebesbegriffs bzw. des Begriffs buen amor zu verschwimmen, sodass es einer genauen Analyse und v. a. dreier wichtiger Fähigkeiten bedarf, um ihn für seine Leser: innen zu dechiffrieren: entendimiento, memoria und voluntad. Wenn es um den christlichen Liebesbegriff an sich geht, zeigt uns Nygren, wie weitreichend und vielschichtig dessen Entwicklung ist. Im frühen Christentum versucht man sich mit dem Begriff agape von der hellenistischen Tradition und ihrem Erosbegriff zu distanzieren. Paulus schafft mit seinen Briefen eine richtungsweisende Grundlage, auf der die späteren Kirchenväter aufbauen. Im Laufe der Zeit findet aber auch eros zurück in die christliche Tradition, dem je nach Epoche mal mehr, mal weniger Gewicht zukommt. Origenes schließlich hält in seinem Hoheliedkommentar „nur noch“ eine zielgruppenorientierte Ver‐ wendung von eros und agape für nützlich, d. h. Gelehrte wissen, dass eros nicht den vulgären eros meint, sondern die göttliche Liebe; Laien gegenüber sollte man aber den Begriff agape verwenden, denn sie erkennen den Unterschied zwischen himmlischem und vulgärem eros nicht. Wenn nur von eros die Rede ist, laufen sie Gefahr, die christlichen Botschaften deswegen misszuverstehen. Augustin schafft in seinen Werken schließlich eine Synthese aus dem Eros- und dem Agapebegriff, den er mit caritas bezeichnet. Für ihn ist es die Aufgabe eines jeden Christen, sich seiner Fähigkeiten intellectus, memoria und desiderium <?page no="228"?> zu bedienen und zwischen caritas und cupiditas zu entscheiden. Caritas ist die Gottesliebe, cupiditas die Liebe zur Welt. Thomas von Aquin folgt dieser Ansicht und klassifiziert zudem die weltliche Liebe bzw. die Sünden so differenziert, dass ein Regelwerk entsteht, an dem sich weitere kirchliche Lehrer orientieren können. Pseudo-Dionysius, der ebenfalls der Meinung ist, man müsse die Un‐ gebildeten vor Missverständnissen bewahren, indem man ggf. unterschiedliche Begriffe für die Gottesliebe und die Liebe zur Welt verwendet, sieht eros als die Kraft an, die jedem Menschen und jeder Sache seinen angestammten Platz in der Weltordnung zuweist. Die Motivation zum guten Handeln wird dem Menschen von Gott verliehen. Wichtig daran ist, dass alle drei hier genannten Kirchenväter ihre Thesen v. a. auf Paulusʼ Botschaften aufbauen. Auf diesen fußt der mittelalterliche christliche Liebesbegriff, dessen sich der Arcipreste bedient, allen voran aber orientiert er sich an den augustinischen Regeln und der Unterscheidung zwischen caritas und cupiditas. V. a. das Motto, unter dem das gesamte LBA laut Prosaprolog zu verstehen ist, geht auf Augustin zurück: Der Mensch verfügt über intellectus, memoria und voluntas, die ihm die Fähigkeit verleihen, Gott und den rechten Weg zu ihm zu finden. Der Erzpriester baut diese Lehren in einen heiteren und zugleich lehrreichen Kontext ein. Die Zählung in Kapitel III sowie die Untersuchung der zusätzlichen Erwähnung von „buen amor“ zeigen, welche Passagen im LBA besonders intensiv untersucht werden müssen, um ein Bild vom Liebesbegriff des Arcipreste zu bekommen. Gleichzeitig werden die Standpunkte anderer Literaturwissen‐ schaftler: innen analysiert, präzisiert und kritisch hinterfragt, mit dem Ergebnis, dass Zahareas mit seiner These, der Erzpriester unterweise seine Leser: innen in Christian charity, den hier gestellten Forschungsfragen am nächsten steht, aber durch den Punkt, linpio amor mit agape nach paulinischem Vorbild gleich‐ zusetzen, ergänzt werden muss. Ebenso muss den bisherigen Standpunkten hinzugefügt werden, dass neben der weltlichen Variante von buen amor, also der maßvoll geführten Ehe, auch eine besonders vertretbare Version der weltlichen Liebe beschrieben wird, nämlich die, die auf linpio amor basiert und enthaltsam bleibt. In diesem Zuge sei noch einmal auf die (versteckten) Ratschläge des Erzpriesters zum Lebensstil eines guten Menschen hingewiesen. Hier verfolgt der Arcipreste ebenfalls die paulinischen sowie patristischen und v. a. augustinischen Grundprinzipien: Wenn möglich, soll der Mensch enthaltsam bleiben, kann er das aber nicht, soll er heiraten, wobei die Liebesverbindung die ehrenvollste ist, die monogam und keusch bleibt. Störgeräusche in diesem Ideal sind aber unchristliche, unsittliche Einflüsse, die im LBA in Gestalt der römischen Götter Don Amor und Doña Venus auftauchen. Amor steht, wie wir von Stroh erfahren haben, für das Verlieben, Venus für den Liebesakt, wobei es immer um das sünd‐ 228 VII Zusammenfassung <?page no="229"?> hafte Verlieben und den lustvollen Liebesakt geht, nicht um das im christlichen Sinne erlaubte aufeinander Einlassen und Zeugen von Nachkommen. Auch in DA und dem RR stehen Amor und Venus in ihrer jeweiligen Konstellation für die weltliche Liebe, inklusive der Sünde, vor der sich ein Christ schützen soll. Der Einfluss der Venus, dem sich ein Mensch nur schwer entziehen kann, wird durch die Erwähnung des Erzpriesters als ihr Planetenkind dargestellt. Die römischen Götter bringen die Kupplerin ins Spiel, die als verlängerter Arm dieser sündhaften Einflüsse die Liebesabenteuer initiiert. Mit Doña Endrina wird aufgezeigt, wie gefährlich die weltliche Liebe sein kann, schließlich laufen die Liebenden Gefahr, ihren guten Ruf und ihre gesellschaftliche Existenz zu verlieren, wenn sie sich auf die Verführungen einer Kupplerin einlassen, was nur noch geheilt werden kann, wenn sie nach begangener Sünde in eine Ehe einwilligen. Diese Heirat rettet die beiden, die Opfer und Täter: in zugleich sind, zwar noch, allerdings geben sie sich der Lächerlichkeit preis, weil sie weder entendimiento noch memoria noch voluntad eingesetzt haben, um den Verführungen durch Don Amor, Doña Venus und der Kupplerin zu entgehen. Die weiteren Damen im LBA lassen sich nicht verführen, allen voran Doña Garoza, die sich ihrem Verehrer zwar liebevoll zuwendet, aber vorbildlich keusch bleibt. Ihre Episode veranschaulicht das christliche Ideal, in dem Mann und Frau ohne fleischliche Liebe auskommen, sich aber dennoch treu ergeben sind. So wird agape zwischen den Menschen gelebt. Beachtlich ist hier vor allem die Rolle, die der Frau zukommt: Sie ist es, die den Mann, der zunächst auf eine sexuelle Erfahrung aus ist, zu dieser schicklichen Verbindung bringt. Sie steckt ihn quasi mit ihrer Gottesliebe an und übertrifft ihn in Sachen Tugend und Anstand. Zudem ist sie auch ein Beispiel für die richtig interpretierte Selbstliebe (amor sui), denn indem sich Doña Garoza selbst liebt und schützt, zeigt sie ihre Gottesliebe. Hier veranschaulicht sie sozusagen das, was im Prosaprolog bereits angedeutet wurde: Sie liebt sich selbst mehr als die Sünde, und die von Gott gewollte Liebe (caridad) beginnt beim Menschen selbst. Gleichzeitig veranschaulicht ihre Figur auch die infusio caritatis, denn da sie sich inneren Dingen zuwendet, gelingt es ihr, sich auf Höheres, also auf Gott, zu fokussieren. Das Ideal der christlichen Lebensführung muss man sich allerdings hart erkämpfen, wobei diese Kämpfe sowohl im Menschen selbst, also auf der Ebene des Verstands und des Willens, als auch mit der sündigen Welt ständig ausgefochten werden müssen. Am Ende eines jeden Lebens steht der Tod, doch was er für den Menschen bedeutet, wird ebenso über die rechte Entscheidung getroffen: Wählt man die caritas, wird der Tod zum Beginn der Erlösung im Jenseits; wählt man die cupiditas, wird der Tod zur Bedrohung und lässt den Menschen in ständiger Furcht und Liebesqualen leben. VII Zusammenfassung 229 <?page no="231"?> VIII Fazit Kommen wir nun zur Beantwortung der eingangs gestellten Fragen: Welchen Liebesbegriff verwendet der Erzpriester? Es handelt sich um einen durchaus klassischen christlichen Liebesbegriff, der seinen Ursprung bei Paulus hat und u. a. durch Origenes, Augustin, Thomas von Aquin sowie Pseudo-Dionysius weitergeformt wurde. Obwohl alle Schritte in diesem Entwicklungsprozess für den christlichen Liebesbegriff wichtig sind, erweisen sich Paulus und Augustin als die stärksten Einflüsse, die man beim Arcipreste finden kann. Paulus legte den Grundstein für die Liebesregeln zwi‐ schen Mann und Frau sowie den christlichen Liebesbegriff allgemein; Augustin prägte ihn mit seiner Caritassynthese und der Einführung der Begriffe caritas im Unterschied zu cupiditas, uti und frui, amor sui, appetitus, metus amittendi, aber v. a. der Einheit von intellectus, memoria und voluntas nachhaltig. All diese Begriffe finden sich in teils chiffrierter Form im LBA wieder und werden zur Grundlage bei der Unterscheidung zwischen buen amor und loco amor. Die Wahl zwischen diesen beiden „Welten“ geht also auf Augustin zurück; die agape, die unter den Menschen in Form von linpio amor weitergegeben wird, entnimmt der Erzpriester der paulinischen Tradition. Warum verwendet der Erzpriester den Begriff „amor“ bzw. „buen amor“? Es handelt sich um einen Kunstgriff, der veranschaulichen soll, wie schwer im Alltag die Unterscheidung zwischen caritas (buen amor) und cupiditas (loco amor) manchmal sein kann. Auch linpio amor, was hier als agape identifiziert wurde, kann nur von verständigen Leser: innen erkannt werden. Dadurch fordert der Arcipreste seine Leser: innen zum Einsatz ihres Verstandes heraus, indem sie selbst entscheiden müssen, welches Adjektiv sie der Liebe hinzufügen und somit in einem weiteren Schritt ihren eigenen Lebensweg definieren wollen. Nur durch die Verwendung eines Begriffs, der durch entsprechende Hinzufügungen variiert werden kann, gelingt es dem Erzpriester, diese Lehre zu erteilen. Handelt es sich bei der Definition der Liebe im LBA um den paulinischen Liebesbegriff? Da der Ursprung der Liebesregeln für Mann und Frau bzw. des christlichen Liebesbegriffs bei Paulus besonders ausdifferenziert wird und sich die späteren <?page no="232"?> Kirchenväter und christlichen Autoren deutlich auf den Apostel beziehen, kann man sagen, dass es sich um eine stark von Paulus geprägte Auffassung von Liebe und Lebensführung handelt. Allerdings ist es kein rein paulinischer Standpunkt, den der Erzpriester vertritt, sondern einer, der die christliche Entwicklungsge‐ schichte berücksichtigt. Somit kann man von einer Art sekundären Paulus- Rezeption beim Arcipreste sprechen. Augustin erweist sich als der Kirchenvater, dessen Lehren wir in der Hauptsache im LBA finden. V. a. die oben bereits genannte Kombination aus der paulinischen Lehre, also der Weitergabe der agape, und den augustinischen Lehren von der Unterscheidung zwischen caritas und cupiditas sowie der Einsatz von intellectus, memoria und voluntad machen es möglich, von einem paulinisch-augustinischen Liebeskonzept beim Arcipreste zu sprechen. Ist die weltliche Liebe im LBA überhaupt erlaubt? Ja, das ist sie und sie kann sogar ein Teil von buen amor sein, schließlich wurden Mann und Frau füreinander geschaffen. Der Erzpriester sagt an keiner Stelle, dass man sich zu keuschem Verhalten zwingen müsse, im Gegenteil. Er gesteht den Menschen zu, dass sie natürliche Triebe haben, die gelebt werden wollen, allerdings solle man einen moralisch einwandfreien Weg finden, um nicht der Sünde zu verfallen. Die Ehe wird zwischen den Zeilen als rettender Hafen für all diejenigen, die nicht zölibatär leben können, gesehen - eben genau so, wie Paulus es darlegte: Der Zölibat ist kein Muss, sondern ein Geschenk Gottes. Wer nicht in den Genuss dieses Geschenks gekommen ist, hat aber immer noch die Möglichkeit, ein gottgefälliges Leben zu führen, indem er heiratet und in einer maßvollen, treuen und hingebungsvollen Ehe seine Triebe im Zaum hält. Wer aber - außer den zölibatär Lebenden - besonders großes Glück hat, findet eine enthaltsame Liebe. Welche Rolle spielen Don Amor und Doña Venus im LBA? Als Götter der römischen Mythologie verkörpern sie die cupiditas. Sie verführen die Menschen zu unsittlichem Handeln, bringen sie vom rechten Weg ab und verhindern für die meisten Menschen die Lebensführung nach christlichem Vorbild. Don Amor steht zudem für die (neun) Todsünden, die den Menschen weg von Gott und der caritas hin zu cupiditas und dem falschen amor sui führen. Als Ehepaar stehen sie quasi mit vereinten Kräften dem Christen gegenüber, wobei einer nicht ohne den anderen kann: Amor initiiert das Verliebtsein, Venus ergänzt sein Werk, indem sie den Liebesakt vollziehen lässt. Sie beherrscht den Menschen in ihrer Doppelrolle als Göttin der (fleischlichen) Liebe, aber auch als astrologische Macht, derer sich ihre „Opfer“ nicht entziehen können. 232 VIII Fazit <?page no="233"?> Dennoch verlieren die beiden Gottheiten, wenn der rechte Glaube standhaft gelebt wird: Die mit Doña Garoza dargestellte agape ist stärker als die römischen Götter und ihre Einflüsse. Sie erhebt sich über die Schliche der Kupplerin, die diese negativen Einflüsse des Don Amor und der Doña Venus ausführen will, indem sie sich im Gegensatz zu Doña Endrina auf ihren Glauben sowie auf entendimiento, memoria und voluntad stützt und nur das Gute aus der Verbindung mit ihrem Verehrer zieht, wobei sie auch ihm als Vorbild für Anstand und Tugend dient. Somit wurden nun die gestellten Forschungsfragen beantwortet. Weitere Untersuchungen könnten noch zahlreiche Details über das Werk des Erzpries‐ ters ans Licht bringen. Denn wie Gariano bereits sagte, gibt es zwar schon viele Bücher über das LBA, aber noch einiges zu entdecken. Was die Definition des Liebesbegriffs betrifft, trägt diese Dissertation hoffentlich zu weiteren Diskussionen bei. VIII Fazit 233 <?page no="235"?> Danksagung Beim Verfassen dieser Doktorarbeit unterstützte mich mein Doktorvater Prof. Dr. Bernhard Teuber. Ihm gebührt mein herzlicher Dank für seinen fachkun‐ digen Rat, seine konstruktiven Vorschläge und seine Geduld. Auf der persönlichen Seite danke ich allen voran meinem Ziehvater Dr. Wolfgang Scheuer, meiner Ziehmutter Eva Scheuer († 2010) sowie meinem Vater Dr. Wolfgang Waldschütz. Christina Feucht stand mir nicht nur als Freundin mit Rat und Tat, sondern auch als Beraterin hinsichtlich der altphilologischen Texte stets zur Seite. Esther Schulten trug mit kritischem Scharfsinn und viel Humor inspirierende Gedanken bei. Des Weiteren danke ich meinen Freund: innen Jennifer Gdowiok, Anna von der Goltz, Florian und Katharina Günther, Luise Haslbeck, Pia Schnetgöcke und last but not least Dr. Ulrich Wahl für den Halt, den sie mir gegeben haben. München, im März 2023 Anna Waldschütz <?page no="237"?> IX Bibliographie IX.1 Primärliteratur Andreas aulae regiae capellanus / Königlicher Hofkapellan: De amore / Von der Liebe - Libri tres / Drei Brücher, ed. Fritz Peter Knapp, Berlin: Walter de Gruyter 2006. Anonymus: Das St. Trudperter Hohelied - eine Lehre der liebenden Gotteserkenntnis, ed. Friedrich Ohly, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1998 (Bibliothek des Mittelalters, vol. 2, Bibliothek deutscher Klassiker, vol. 155). Apuleius: Das Märchen von Amor und Psyche, ed. Kurt Steinmann, Stuttgart: Reclam 1978. Augustinus, Aurelius: Confessiones. Bekenntnisse - Lateinisch/ Deutsch, edd. 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Lectiones difficiliores - Vom Ethos der Lektüre 2019, 664 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8258-4 Band 12 Christoph Hülsmann Initiale Topiks und Foki im gesprochenen Französisch, Spanisch und Italienisch 2019, 329 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8301-7 Band 13 Mattia Zangari Tre storie di santità femminile tra parole e immagini Agiografie, memoriali e fabulae depictae fra Due e Trecento 2019, 150 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8360-4 Band 14 Manfred Bös Transzendierende Immanenz Die Ontologie der Kunst und das Konzept des Logos poietikos bei dem spanischen Dichter Antonio Gamoneda 2020, 395 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8340-6 Band 15 Johanna Vocht Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion 2022, 281 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8425-0 Band 16 Aurelia Merlan (Hrsg.) Romanian in the Context of Migration (noch nicht erschienen) ca. 350 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8467-0 Band 17 Felix Bokelmann Varianzphänomene der Standardaussprache in Argentinien Indizien aus Sprachproduktion und -perzeption 2021, 392 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8490-8 Band 18 Denis Heuring Verdrängen und Erinnern im Theater Bürgerkrieg und Diktatur im spanischen Drama nach 1975 2023, 445 Seiten €[D] 92,- ISBN 978-3-8233-8507-3 Band 19 Veit Lindner Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des ‚Essayistischen‘ in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz’ El mono gramático 2021, 314 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8529-5 Band 20 Sebastià Moranta Mas Discursos lingüísticos e identitarios en Mallorca y en la República de Moldavia Una investigación contrastiva de los conflictos entre catalán y español en Mallorca y entre rumano y ruso en Moldavia desde el enfoque del análisis crítico del discurso, la teoría sociolingüística y los estudios culturales (noch nicht erschienen) ca. 320 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8536-3 Band 21 Anke Grutschus Stimmenvielfalt im Monolog Formale und funktionale Aspekte von Redewiedergabe in spanischsprachigen Stand-up-Acts, Predigten und wissenschaftlichen Vorträgen 2022, 453 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8557-8 <?page no="251"?> Band 22 Daniel Graziadei / Florencia Sannders (Hrsg.) Macedonio Fernández: Nicht jedes Wachen ist das mit den offenen Augen Eine Übersetzung aus dem argentinischen Spanisch mit philologischer und philosophischer Einführung 2022, 197 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8555-4 Band 23 Martha Guzmán Morirse, salirse, comerse y otros pseudorreflexivos sin motivación argumental De su presente e historia en español y francés (noch nicht erschienen) ca. 440 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8574-5 Band 24 Anna Waldschütz Zwischen Eros und Agape Das paulinisch-augustinische Liebeskonzept beim Arcipreste de Hita 2023, 248 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8606-3 <?page no="252"?> ISBN 978-3-8233-8606-3 Diese Studie behandelt das Libro de Buen Amor im Horizont der christlichen Theologiegeschichte, wobei der Fokus sowohl auf der neutestamentlichen Exegese und der Patristik als auch auf der abendländischen Begriffsgeschichte von Eros und Agape liegt. Es wird dargelegt, wie der Liebesbegriff im autoritativen christlichen Schrifttum selbst polysem und damit zum hermeneutischen Problem wird. So kann das Verhältnis von buen amor und loco amor im Werk des Arcipreste neu bestimmt und über bisherige Deutungen hinausgegangen werden, indem die Herleitung aus einer patristisch-platonischen und dem lateinischen Westen bestens bekannten Tradition neu beleuchtet wird, die sich mit Paulus, Origenes, Dionysius Areopagita und insbesondere mit Augustinus sowie mit deren zahlreichen Nachfolgern bis ins Mittelalter hinein verbindet. Waldschütz Zwischen Eros und Agape Anna Waldschütz Zwischen Eros und Agape Das paulinisch-augustinische Liebeskonzept beim Arcipreste de Hita