Zeitlichkeit in der Textkommunikation
1113
2023
978-3-8233-9612-3
978-3-8233-8612-4
Gunter Narr Verlag
Steffen Pappert
Kersten Sven Roth
10.24053/9783823396123
Kategorien der Wahrnehmbarkeit wurden als Textualitätsdimensionen lange Zeit vernachlässigt. Erst in jüngeren Arbeiten wird dezidiert darauf abgehoben, dass sie als sinnstiftende Performanzphänomene zur Erfassung von Textbedeutung und -funktion vor allem von Texten und Textsorten im öffentlichen Raum unerlässlich sind. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl textlinguistischer Arbeiten, die sich etwa mit den Aspekten Materialitäts-, Medialitäts- und Ortsgebundenheit auseinandersetzen. Dagegen spielen zeitliche Aspekte (bislang) eine nur marginale Rolle in der Textlinguistik. Das verwundert insofern, als wir in unserer mediatisierten Textwirklichkeit mit zahlreichen Texten und Textsorten täglich zu tun haben, die nicht nur orts-, sondern auch zeitgebunden sind. Die Beiträge des vorliegenden Bandes zeigen anhand unterschiedlicher Textsorten und Handlungsbereiche, dass es geradezu unerlässlich ist, sich mit der Zeitlichkeit in der Textkommunikation zu befassen.
<?page no="0"?> Europäische Studien zur Textlinguistik Steffen Pappert / Kersten Sven Roth (Hrsg.) Zeitlichkeit in der Textkommunikation <?page no="1"?> Zeitlichkeit in der Textkommunikation <?page no="2"?> Europäische Studien zur Textlinguistik herausgegeben von Steffen Pappert (Duisburg-Essen) Nina-Maria Klug (Duisburg-Essen) Georg Weidacher (Graz) Band 24 <?page no="3"?> Steffen Pappert / Kersten Sven Roth (Hrsg.) Zeitlichkeit in der Textkommunikation <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. DOI: https: / / www.doi.org/ 10.24053/ 9783823396123 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. 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Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach CPI books GmbH, Leck ISSN 1860-7373 ISBN 978-3-8233-8612-4 (Print) ISBN 978-3-8233-9612-3 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0506-4 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Inhalt Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ulrich Schmitz Können Texte altern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Ina Pick & Claudio Scarvaglieri Zeitlichkeit beim Handeln mit Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Niklas Simon Zeitliche Dimensionen der Textbedeutung - Ein Modell für die analytische Praxis der angewandten Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Dorothee Jahaj Wissenschaftliche Politikberatung in der Corona-Pandemie - eine diskursive Momentaufnahme? Eine qualitativ-hermeneutische Textanalyse der Ad-Hoc-Stellungnahmen der Leopoldina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Monika Messner Zwischen Alltagszeit und Urlaubszeit, zwischen Imagination und Zurückerinnern - Zeitlichkeit in der Destinationswerbung . . . . . . . . . . . . 111 Diana Walther Zur Bedeutung von Zeit(lichkeit) in Kalenderbüchern älterer Schreiber: innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Mark Döring „ Schon Pläne für Donnerstag? “ - Zeitlichkeitshinweise in Social-Media-Postings von Hochschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Florian Busch Präsentisches Erzählen im mediatisierten Alltag: Zeitlichkeit von Small Storys in mobiler Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 <?page no="7"?> Zur Einleitung Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbsten nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann. Die Zeit ist also a priori gegeben. In ihr allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich. (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft) Kategorien der Wahrnehmbarkeit wurden als Textualitätsdimensionen lange Zeit vernachlässigt. Erst in jüngeren Arbeiten wird dezidiert darauf abgehoben, dass sie als sinnstiftende Performanzphänomene zur Erfassung von Textbedeutung und -funktion vor allem von Texten und Textsorten im öffentlichen Raum unerlässlich sind. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl textlinguistischer Arbeiten, die sich mit den Aspekten Materialitäts-, Medialitäts- und Ortsgebundenheit auseinandersetzen (wegweisend: Fix 2008). Doch was ist mit Zeitgebundenheit? Folgt man Ehlichs Diktum, dass Texte als sprachliche Handlungsinstrumente dazu dienen, „ die Flüchtigkeit des sprachlichen Handelns zu überwinden “ (Ehlich 2007: 541), wundert es kaum, das Zeitlichkeit (bislang) eine nur marginale Rolle in der Textlinguistik spielt. Denn wenn man Ehlichs Kriterium zum Standard erhebt, ist die Vollzugswirklichkeit des Texthandelns situationsentlastet und zeitlos. Das mag auf eine Vielzahl ortsungebundener Texte zutreffen, die auf Überlieferung und Verdauerung angelegt sind. Aber gilt dies ebenso für die mediatisierte Textwirklichkeit des Alltags? Kennen wir nicht eine Vielzahl von Texten und Textsorten, die nicht nur orts-, sondern auch zeitgebunden sind? So zeigt Domke (2013: 113) die hier angesprochene Zeitgebundenheit am Beispiel einer Abfahrtsanzeige am Bahnsteig, von der die meisten wissen, dass sich ihre Gültigkeit schlagartig ändern kann. Ganz prinzipiell ist somit mit Hausendorf et al. (2017: 8) davon auszugehen, dass Textkommunikation „ als sozialer Prozess auf sinnlich wahrnehmbare Erscheinungsformen angewiesen “ ist, die wiederum als solche analysiert werden können. Und dazu gehört neben Materialität, Medialität und Lokalität eben auch die Zeit, die nicht nur die Wahrnehmung in unterschiedlicher Weise beeinflusst. Vielmehr ist bei einer Reihe von Textsorten davon auszugehen, dass <?page no="8"?> ihre Funktion in einem spezifischen Zusammenhang mit zeitlichen Aspekten steht. So weist Liedtke (2009) vor einem sprechakttheoretischen Hintergrund zu Recht darauf hin, dass in der Textkommunikation nicht nur Produktions- und Rezeptionszeitpunkt in der Regel auseinanderliegen, sondern auch die mit dem Text verbundenen Folgehandlungen. Folgerichtig unterscheidet er Inskriptions-, Rezeptions- und Obligationszeitpunkt. Daran anschließend entwirft Beißwenger (2020: 301 f.) ein noch differenzierteres Modell mit fünf Zeitpunkten, mit dem Ziel, die Zeitlichkeitsbedingungen internetbasierter Kommunikation adäquat beschreiben zu können. Ein weiterer Aspekt wäre die Flüchtigkeit von Texten, wobei zu unterscheiden wäre zwischen Texten, die nur für einen (kurzen) Zeitraum verfügbar (z. B. Laufschriften), und solchen, die für einen (kurzen) Zeitraum rezipierbar sind (z. B. Plakate an Autobahnen). Ebenso sind die Funktionen einer Reihe von Texten, wie beispielsweise ‚ Wegwerftexte ‘ (z. B. Einkaufszettel) oder Kalendereinträge, in der Regel zeitgebunden. Fälle wie die dargelegten sind in unserer Hochgeschwindigkeitswirklichkeit eher die Regel als die Ausnahme. Wir finden sie sowohl in der analogen als auch in der digitalen Welt. Die hier nur exemplarisch angedeutete Zeitgebundenheit der Textkommunikation ist aber weitaus vielschichtiger. Das zeigen die in diesem Band versammelten Aufsätze eindrucksvoll, indem sie das Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven im Zusammenhang mit verschiedenen Textsorten bzw. Kommunikationsformen ausleuchten. Wir danken allen Beiträgerinnen und Beiträgern für ihr mit uns geteiltes Interesse am Thema und ihre Bereitschaft, die in der Sektion Textlinguistik und Stilistik im Rahmen der Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL e. V.) 2022 gehaltenen Vorträge zu den nun vorliegenden Artikeln auszuarbeiten. Insbesondere bedanken wir uns bei Tillmann Bub und Iris Steinmaier vom Narr-Verlag für die vorzügliche Unterstützung in allen den Band betreffenden Belangen. Essen und Magdeburg, im Herbst 2023 Steffen Pappert & Kersten Sven Roth Erwähnte Literatur Beißwenger, Michael (2020). Internetbasierte Kommunikation als Textformen-basierte Interaktion: ein neuer Vorschlag zu einem alten Problem. In: Lobin, Henning/ Marx, Konstanze/ Schmidt, Axel (Hrsg.). Deutsch in sozialen Medien. Interaktiv, multimodal, vielfältig (Jahrbuch 2019 des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache). Berlin, Boston: de Gruyter, 291 - 318. 8 Zur Einleitung <?page no="9"?> Ehlich, Konrad (2007). Zum Textbegriff. In: Ders. Sprache und sprachliches Handeln. Band 3: Diskurs - Narration - Text - Schrift. Berlin, New York: de Gruyter, 531 - 550. Domke, Christine (2013). Ortsgebundenheit als distinktives Merkmal in der Textanalyse. Zeitschrift für germanistische Linguistik 41 (1), 102 - 126. Fix, Ulla (2008). Nichtsprachliches als Textfaktor: Medialität, Materialität, Lokalität. Zeitschrift für germanistische Linguistik 36 (3), 343 - 354. Hausendorf, Heiko/ Kesselheim, Wolfgang/ Kato, Hiloko/ Breitholz, Martina (2017). Textkommunikation. Ein textlinguistischer Neuansatz zur Theorie und Empirie der Kommunikation mit und durch Schrift. Berlin, Boston: de Gruyter. Liedtke, Frank (2009). Schrift und Zeit. Anmerkungen zu einer Pragmatik des Schriftgebrauchs. In: Birk, Elisabeth/ Schneider, Jan Georg (Hrsg.). Philosophie der Schrift. Tübingen: Niemeyer, 75 - 94. Zur Einleitung 9 <?page no="11"?> Können Texte altern? 1 Ulrich Schmitz Abstract: Materiell altern Texte wie alle Objekte mit dem chronologischen Ablauf der Zeit. Die Aktualität ihres Sinns jedoch folgt komplexeren kulturellen Dimensionen. Je unabhängiger der Text vom Kontext verstanden werden kann, desto weniger altert er. Umgekehrt: Je empraktischer der Text, desto flüchtiger seine Bedeutung. Oder anders: Der Text altert dadurch und in dem Maße, dass bzw. wie sein ursprünglicher Kontext verschwindet. Das wird an verschiedenen Textsorten in der Reihenfolge ihrer durchschnittlichen Mindesthaltbarkeit (von vielen Jahrhunderten bis zu weniger als einer Sekunde) illustriert. Eine der wichtigsten kulturellen Leistungen besteht in der guten Unterscheidung zwischen dem, was vergessen werden kann, und dem, was nicht vergessen werden soll. 1 Aus alt mach neu Können Texte altern? Hier einige Beispiele zunächst nur aus dem öffentlichen Raum (Abb. 1 - 3): Abb. 1: Graffito in Pompeji (verschüttet 79 n. Chr.) 2 1 Ich danke Kersten Sven Roth und Steffen Pappert. Ohne deren Einladung zur textlinguistischen GAL-Sektion 2022 in Würzburg wäre der folgende Text nie geboren worden. 2 Quelle: https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Pompeii-graffiti.jpg (Stand: 15.1.2023) <?page no="12"?> Abb. 2: Writing mit Tag in Dortmund-Nordstadt (2013) 3 Abb. 3: Bahnhof Bergen auf Rügen (3. April 2022) 4 3 Metropolenzeichen-Datenbank (http: / / metropolenzeichen.uni-due.de), Bild 8773 4 Der Bahnhof wurde eröffnet am 1. Juli 1883 lt. Wikipedia. - Alle Abbildungen ohne Quellenangabe stammen aus dem Privatarchiv des Verfassers. 12 Ulrich Schmitz <?page no="13"?> Alle drei Beispiele stammen aus verschiedenen Jahren. Doch was heißt eigentlich „ alt “ bei Texten? 5 Natürlich altert das Material, das Texte trägt: Grabsteine verrotten, Papier vergilbt, digitale Daten müssen gepflegt und umgespeichert werden. 6 Das chronologische Alter von Texten ist häufig leicht zu ermitteln oder zu schätzen. Viele Kommunikationsformen (z. B. Bücher, Zeitungen, Briefe, E-Mails, Social Media) sind an bestimmte Epochen gebunden und bringen entsprechende Konventionen mit sich. Standardmäßig werden oft sogar Jahr, Datum oder der Zeitpunkt der Entstehung genannt. Wenn im Text historische Fakten erwähnt werden, kann das häufig, aber nicht immer, als Indiz für den mutmaßlichen Schreibzeitpunkt dienen. Völlig unabhängig vom Inhalt geben oft auch die jeweils benutzten technischen Grundlagen Hinweise auf das chronologische Alter der Texte: Dienten als Schriftfläche z. B. Tafel, Papier oder Bildschirm, als Schreibmaterial Kreide, Tinte, Licht oder Pixel, als Schreibgerät Ritzstein, Griffel, Feder, Farbstift oder Tastatur? Und schließlich kann man meist auch vom Design der Sehfläche (Layout, Typographie, ggf. zugehörige Bilder) auf die Epoche oder gar das Jahrzehnt schließen, in dem der Text geschrieben oder gedruckt wurde. Bei den obigen drei Beispielen ging das recht leicht. Etwas mehr kulturellen Hintergrund braucht man bei diesen beiden Geschwisterbeispielen im Abstand von etwa zehn Jahren (Abb. 4): Abb. 4: Zwei WMF-Kaufquittungen (ca. 1943 & 1952) 5 Hier geht es stets nur um schriftliche Texte. 6 Kurzüberblick: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Langzeitarchivierung (Stand: 15.1.2023). Können Texte altern? 13 <?page no="14"?> Das ist ähnlich wie bei der Architektur von Gebäuden: Design ist seine Zeit in Gestaltung erfasst. Wie aber steht es - ganz unabhängig vom chronologischen Alter, von materieller Grundlage und äußerer Erscheinungsform - um die Texte selbst: Kann ihr Wortlaut, ihr Sinn altern oder gar sterben? Auch hier wieder drei Beispiele aus unterschiedlichen Textsorten (Abb. 5 - 7): Abb. 5: Satz des Pythagoras (ca. 500 v. Chr.) 7 Abb. 6: Friedrich Schlegel: Sprache und Weisheit der Indier (1808) 7 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Satz_des_Pythagoras (Stand: 15.1.2023) 14 Ulrich Schmitz <?page no="15"?> Abb. 7: Strichcode Autowäsche (2022) Man sieht: Texte sind unterschiedlich lang beständig. Das heißt, sie gelten, werden anerkannt und/ oder gelesen über unterschiedlich lange Zeiträume. Und man kann sie, wie in dieser Einleitung, wieder aufwecken, indem man sie zitiert und in neue Kontexte setzt. 2 Textsorten betrachtet nach durchschnittlicher Lebenserwartung Im Folgenden gehe ich verschiedene Textsorten in der Reihenfolge ihrer durchschnittlichen Mindesthaltbarkeit durch (von vielen Jahrhunderten bis zu weniger als einer Sekunde). Der Übersichtlichkeit halber könnte man das Kontinuum durchschnittlicher Lebensdauer einteilen in langlebige Texte (2.1 bis 2.5), kurzlebige Texte (2.6 bis 2.9) sowie Gebrauchs- und Verbrauchstexte (2.10 bis 2.11). 8 Doch es gibt keine klaren Grenzen zwischen diesen drei Textsortengruppen. Vielmehr kann man einzelne Texte auf einer Verhältnisskala von langbis kurzlebig einordnen. 9 8 Gebrauchstexte (z. B. auf Verkehrsschildern) bleiben auch nach Gebrauch für spätere Situationen noch relevant, Verbrauchstexte (z. B. Einkaufszettel, Kalender) nicht. 9 Beispielsweise können Zitate aus langlebigen Klassikertexten nicht nur gebraucht, sondern unter Umständen auch so verbraucht werden, dass sie nicht mehr seriös genutzt werden (vgl. Blumenberg 1979: 19; dazu Zill 2020: 682, Anm. 18). Können Texte altern? 15 <?page no="16"?> 2.1 Zeitlose Texte? Gibt es zeitlose Texte? Vielleicht der Satz des Pythagoras, Naturgesetze, mathematische Beweise, nachdem sie überhaupt formuliert wurden. Sind auch immerwährend gültige Weltdeutungen möglich? Roland Barthes (2010: 252) meint dazu: „ Man kann sich sehr alte Mythen denken, doch ewige gibt es nicht; denn nur die menschliche Geschichte läßt das Reale in den Zustand der Rede übergehen, und sie allein bestimmt über Leben und Tod der mythischen Sprache. “ 10 Und wie steht es mit anderen (im Folgenden nur exemplarisch ausgewählten) Textsorten und Textsortengruppen? 2.2 Belletristik Hamlet, sagt man, sei durch Shakespeares Drama unsterblich geworden. Doch würden wir auch das Drama selbst unsterblich nennen? Zeitlos sicherlich nicht. Doch es wird bis heute immer wieder aufgeführt, vertont, verfilmt und bearbeitet. Biblische Texte sind rund zweibis zweieinhalbtausend Jahre alt und werden heute noch gelesen, 11 zumindest in Übersetzungen. (Übersetzungen dienen ja gerade dazu, Texte aus älteren Kulturen oder fremden Sprachen für eine Gegenwart lesbar zu machen, ihr Leben also zu verlängern.) Augustinus schrieb seine Confessiones vor gut 1600 Jahren. Sie werden bis heute ebenfalls gelesen - keineswegs nur von Wittgenstein, der ein Zitat daraus zum Ausgangspunkt seiner Philosophischen Untersuchungen machte (Wittgenstein 1960: 289), es damit in einen völlig neuen Kontext setzte und auf diese Weise neu belebte. Allerdings werden viele alte Texte später nur in Fragmenten wahrgenommen und oft nur als Zitat zum Ausweis von Belesenheit weitergegeben, so etwa das berühmte Augustinus-Zitat über die Zeit. 12 (Auch Zitate sind lebensverlängernde Maßnahmen an Texten.) Walther von der Vogelweides Lieder kann man mit ein wenig Mühe selbst 800 Jahre später noch im Original verstehen. Andreas Gryphius ’ Werke spielen auch nach knapp 400 Jahren jedenfalls im Germanistik-Studium eine gewisse Rolle. Bleiben wir bei Deutschen: Goethe, Schiller, Heine, Brecht, Böll, Grass und zahllose andere längst verstorbene Dichter werden auch weiterhin gelesen und gelten nicht unbedingt als anti- 10 Und an anderer Stelle: „ Es gibt mythische Objekte, die eine Zeitlang im Schlummer gelassen werden; solange sind sie nur vage mythische Schemata, deren politische Fracht beinahe gleichgültig erscheint. “ (Barthes 2010: 297) 11 „ Meine Lieblingslektüre? Sie werden lachen: die Bibel. “ (Brecht 1992: 248) 12 „ Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich ’ s, will ich ’ s aber einem Fragenden erklären, weiß ich ’ s nicht. “ (Augustinus 2004: 553 = Confessiones XI, 14) 16 Ulrich Schmitz <?page no="17"?> quiert. 13 Ein motivierter achtjähriger Junge stört sich nicht daran, dass die Sprache in Grimms Märchen, sogar in Fraktur geschrieben, ganz anders ist, als heute gesprochen wird: Der Wolf scheint *jetzt* zu leben. Matthias Claudius ’ Kriegslied 14 von 1778 ist seit dem 24. Februar 2022 aktueller denn je. Offenbar hängt es von den Umständen ab, ob ein literarischer Text zeitlos ist oder aktuell. 15 Als klassisch geadelte Texte können der Vergessenheit entrissen werden, wenn jemand sich darum kümmert. Anlässlich des 250. Geburtstages von Friedrich Schlegel zum Beispiel erklärt der Literaturwissenschaftler Klaus Birnstiel (2022): „ Wo Schlegel ist, ist Gegenwart. “ Darauf wäre man nicht unbedingt gekommen: Der Gegenwartsbezug muss erläutert oder in Szene gesetzt werden - eine Aufgabe für intensive Leser, Interpreten, Lehrer, Theaterregisseure (m/ w/ d). 2.3 Philosophie Hegel (1970: 26) zufolge ist Philosophie „ ihre Zeit in Gedanken erfaßt “ . Nimmt man diese Bemerkung aus dem Jahre 1821 wörtlich, so ist sie heute, über 200 Jahre später, veraltet, weil wir in einer anderen Zeit leben. Paradoxerweise kommt sie als allgemeingültige Definition daher, sollte also immerwährend gelten, jedenfalls solange Philosophie existiert. Wie steht es um Platon, Aristoteles, Kant, Peirce, Foucault, um nur wenige zu nennen? Mich überzeugt der Blumenberg-Biograph Rüdiger Zill (2020: 9), wenn er schreibt: „ Für einen analytischen Philosophen ist es gleichgültig, ob er mit einem Kollegen diskutiert oder einen Text von Aristoteles studiert. Er behandelt beide gleichermaßen als Gesprächspartner, an deren Argument er interessiert ist “ . 2.4 Wissenschaft Wissenschaft legt es geradezu darauf an zu altern, weil Hypothesen und Theorien widerlegt werden wollen. Oder auch mit Fleck (1980: 85): Alte Anschaungen „ sind überholt worden, nicht weil sie falsch waren, sondern 13 Allerdings weist Gadamer (1986: 9) auf das Altern sogar eminenter belletristischer Texte hin: „ Darüber hinaus wissen wir sozusagen im voraus, daß das, was uns ergreift, wenn es uns im Abstand geschichtlicher Ferne begegnet, als heutige Schöpfung unwahrhaftig wirken würde. Ganze Gattungen einer bewährten Tradition der Dichtkunst sind heute wie abgestorben und lassen keine Auferstehung erwarten. “ 14 „’ s ist leider Krieg - und ich begehre / Nicht schuld daran zu sein! “ (Claudius 1968: 236) 15 Oscar Wildes Roman (also selbst ein Kunstwerk) „ Das Bildnis des Dorian Gray “ von 1890/ 91 ist deshalb unsterblich, weil er die Idee inszeniert, dass ein Kunstwerk altert im Gegensatz zu der Realität, die es vermeintlich abbildet. Können Texte altern? 17 <?page no="18"?> weil sich das Denken entwickelt. “ Galilei ist nicht mehr up to date und nur noch historisch interessant. Wissenschaftlicher Fortschritt schlägt sich natürlich auch in Standardwerken und Lehrbüchern nieder, und zwar je nach Entwicklungstempo des Wissens und der Qualität des Buches. Große Teile der 1. Auflage von Brinkers „ Linguistischer Textanalyse “ aus dem Jahre 1985 sind in der jüngsten 9. Auflage 33 Jahre später (Brinker/ Cölfen/ Pappert 2018) fast unverändert erhalten geblieben. Dennoch wird mit den älteren Auflagen kaum noch gearbeitet. Weniger der alte Text als vielmehr das junge Publikum lässt den frühen Text alt aussehen. 2.5 Sachbücher Lexika, Sachbücher und Ratgeber veralten mit den Sachen, die sie behandeln. Nehmen wir Duden Band 9, der in den letzten fünfzig Jahren von verschiedenen Personen immer wieder aktualisiert wurde (Abb. 8). Die 8. „ vollständig überarbeitete “ Auflage erschien 2016 unter dem Titel „ Das Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle. Richtiges und gutes Deutsch “ (Hennig 2016; 1072 S.). Abb. 8: Duden Bd. 9, 8. Auflage 2016 18 Ulrich Schmitz <?page no="19"?> Ist die vorherige 7., von anderen Autoren ebenfalls „ vollständig überarbeitete “ Auflage von 2011 (Dudenredaktion 2011; 1064 S.) mit umgekehrter Reihenfolge der beiden Titelzeilen damit veraltet? Völlig veraltet, gar unbrauchbar vermutlich nicht. Wie aber steht es um die 1. Auflage von 1965 unter dem Titel „ Hauptschwierigkeiten der deutschen Sprache “ (Dudenredaktion 1965; 759 S.)? Wie stark haben sich der Sprachgebrauch und das, was die jeweiligen Bearbeiter: innen für gut und richtig hielten, in einem halben Jahrhundert verändert? Ist das frühere Buch damit antiquiert? Oder höchst lebendig für Forscher: innen, die gerade Sprachwandel untersuchen wollen? In der Wikipedia werden die Texte fortwährend geändert. Damit werden sie aktuell gehalten. Die jeweils früheren (aber noch einsehbaren) Versionen sind damit offensichtlich veraltet. Doch auch alte Sachtexte können heute noch frisch wirken. Hier der Anfang des Kapitels zum Feuer in der Originalausgabe von Comenius ’ „ Orbis Sensualium Pictus “ von 1658 (Abb. 9), einem genialen Lehrbuch für Übersetzung und zweisprachigen Unterricht, Abb. 9: Comenius (1658): Orbis Sensualium Pictus, S. 12 Können Texte altern? 19 <?page no="20"?> und zum Vergleich eine nachträglich kolorierte und neu typographierte Ausgabe in der Bibliotheca Augustana (Abb. 10): Abb. 10: Comenius (1658), S. 12 (koloriert und neu typographiert) 16 Trotz vieler Indizien in beiden Versionen dafür, dass es sich um einen alten Text handelt (Typographie, Wortlaut, Orthographie, Syntax), wirkt er - vor allem in der zweiten Fassung - auch heute noch sehr frisch auf den interessierten Leser. Dafür ist vor allem die Illustration verantwortlich. Die kunstvoll arrangierte kindliche Wahrnehmung von privatem und öffentlichem Raum in deren gegensätzlicher Entsprechung macht aus dem sachlichen Text ein spannendes Erlebnis, und zwar über die wechselseitigen Verweiszahlen in Text und Bild. Allmählich schält sich nun die Erkenntnis heraus, dass Texte (anders als Lebewesen) nicht unbedingt aus sich selbst heraus altern. Vielmehr können die Zeitläufte mehr oder weniger schnell über sie hinweggehen. Beispielsweise der Brockhaus aus dem Jahre 1908 ist nur historisch interessant (Abb. 11). 16 www.hs-augsburg.de/ ~harsch/ Chronologia/ Lspost17/ Comenius/ com_o004.html (15.1.2023) 20 Ulrich Schmitz <?page no="21"?> Abb. 11: Brockhaus (1908): Würzburg (Bd. 16: 870) Vor allem aber ist das zeit- und kontextbedingte Interesse von Institutionen, Leserinnen und Lesern dafür verantwortlich, als wie alt ein Text erscheint. Das gilt auch bei scheinbar objektivem Wissen, wie es etwa in unterschiedlichen Auflagen von Schulbüchern und Lehrwerken dargestellt wird: Was wird jeweils für relevantes Wissen gehalten, was ist neu, was gilt als alt? Darüber entscheiden - wie über die Aktualität von Texten überhaupt - Institutionen, Machtverhältnisse, Konventionen, mediale und alltägliche Diskurse. 2.6 Gesetze, Verträge, Formulare Kommen wir nun zu etwas verbindlicheren Texten, beispielsweise Gesetze, Verträge und Formulare. Das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) hat in den über 120 Jahren seines Bestehens zahlreiche Änderungen erlebt. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 ist in den ersten sechzig Jahren 54 Mal geändert worden. 17 Mit dem russischen Überfall auf 17 „ Durch die 54 Änderungsgesetze wurden insgesamt 109 Grundgesetzartikel geändert. Dabei sind 199 Einzeländerungen zu verzeichnen. Von den 109 geänderten Artikeln wurden wiederum 47 mehrfach geändert. “ (Wissenschaftliche Dienste 2009: 5) Können Texte altern? 21 <?page no="22"?> die Ukraine am 24.2.2022 ist das Budapester Memorandum vom 5.12.1994 abgetan, die Nato-Russland-Grundakte vom 27.5.1997 obsolet, das Minsker Abkommen (Minsk II) vom 12.2.2015 hinfällig und der Koalitionsvertrag der deutschen Ampelkoalition vom 7.12.2021 in großen Teilen nur noch ein historisches Dokument. Kauf- und Mietverträge können nach bestimmten Bedingungen gekündigt werden. Juristische Texte gelten nur so lang, wie eine Macht sie durchsetzen kann bzw. wie sie allseitig anerkannt werden. Bitte Ausfüllanleitung beachten ! Verwenden Sie bei mehr als 4 anzumeldenden Personen bitte weitere Meldescheine! ANMELDUNG bei der Meldebehörde Die nachstehenden Daten werden auf Grund des Bundesmeldegesetzes erhoben. Tag des Einzugs: Neue Wohnung (Straße / Platz, Hausnummer, Stockwerk) (PLZ, Ort, Gemeinde) Bisherige Wohnung (Straße / Platz, Hausnummer, Stockwerk) (PLZ, Ort, Gemeinde, Landkreis; falls Ausland: auch Staat angeben) Die neue Wohnung ist im Bereich des Bundesgebietes die alleinige Wohnung Hauptwohnung Nebenwohnung Haben Sie nicht „alleinige Wohnung” angegeben, füllen Sie bitte das Beiblatt aus. Gemeindeschlüssel/ -kennzahl Tagesstempel der Meldebehörde Gemeindeschlüssel/ -kennzahl Tag Monat Jahr Lfd. Die Anmeldung bezieht sich auf folgende Person/ en: Nr. Familienname Frühere Namen Vorname(n) (gebräuchlichen Vornamen = Rufnamen bitte unterstreichen) _______________________________________________________________________________________________________________________________________ 1 _______________________________________________________________________________________________________________________________________ 2 _______________________________________________________________________________________________________________________________________ 3 _______________________________________________________________________________________________________________________________________ 4 Lfd. Doktor- Ordens-/ Künstlername Geburtsdatum Geburtsort (wenn im Ausland, Angabe des Staates) Nr. grad _______________________________________________________________________________________________________________________________________ 1 _______________________________________________________________________________________________________________________________________ 2 _______________________________________________________________________________________________________________________________________ 3 _______________________________________________________________________________________________________________________________________ 4 Lfd. Geschlecht Derzeitige Öffentlich- Familienstand Tag u. Ort d. Eheschließung/ Begründung Nr. o. keine Eintragung Staatsangerechtliche der Lebenspartnerschaft (und Staat, hörigkeit(en) Religionswenn im Ausland) oder Auflösung der gesellschaft Ehe/ Lebenspartnerschaft oder Sterbedatum _______________________________________________________________________________________________________________________________________ 1 _______________________________________________________________________________________________________________________________________ 2 _______________________________________________________________________________________________________________________________________ 3 _______________________________________________________________________________________________________________________________________ 4 Pass- und Ausweisdaten: Personalausweis (PA) - Reisepass (RP) - Kinderreisepass (KRP) - Passersatzpapier (PEP) _________________________________________________________________________________________________________ Lfd. Art Seriennummer Ausstellungsbehörde Ausstellungs- Gültig bis Nr. datum _______________________________________________________________________________________________________________________________________ 1 _______________________________________________________________________________________________________________________________________ 2 _______________________________________________________________________________________________________________________________________ 3 _______________________________________________________________________________________________________________________________________ 4 Nur ausfüllen, wenn Ehegatte (E), Lebenspartner (L) minderjährige Kinder (K), gesetzlicher Vertreter (V) - z. B. ein oder beide Elternteile, Jugendamt, Betreuer o. a. - der oben genannten Personen nicht oder auf einem gesonderten Meldeschein gemeldet werden. E/ L/ K/ V Familienname (Geburtsname), Vorname Doktorgrad Geburtsdatum Geschlecht Anschrift _______________________________________________________________________________________________________________________________________ _______________________________________________________________________________________________________________________________________ Wegen der Möglichkeit, Datenübermittlungen in bestimmten Fällen zu widersprechen, beachten Sie bitte die Ausfüllanleitung. _______________________________________________________________________________________________________________________________________ Für Flüchtlinge nach Bundesvertriebenengesetz Wohnsitz am 01.09.1939 Mit Ihrer Unterschrift versichern Sie, dass Sie berechtigt sind, die Daten aller auf dem Meldeschein eingetragenen meldepflichtigen Personen entgegenzunehmen. Der unberechtigte Empfang von Daten unter Vorspiegelung einer Berechtigung ist eine Straftat, die gemäß § 202a des Strafgesetzbuches mit Freiheitstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft wird. Ort und Datum Unterschrift der/ des Anmeldenden _______________________________________________________ _______________________________________________________ zu lfd. Nr. Ehegatten, Lebenspartner und Familienangehörige mit denselben Zuzugsdaten sowie gleichen Wohnungen bitte nur einen Meldeschein aussfüllen. Wohnungsgeber: _____________________________________________ _ Wohnungsgeberbestätigung/ Eigenerklärung liegt bei wird nachgereicht Zuordnungsmerkmal des Wohnungsgebers bei elektronischer Bestätigung: _________________________________ Bei Zuzug aus dem Ausland, letzte Wohnung im Inland: Datum des Wegzugs aus dieser Wohnung: ______________________________ M W k. E. D M W k. E. D M W k. E. D M W k. E. D Bestell-Nr. 400 150 1001 403 2234 Tel. 0 89 / 3 74 36 - 0 · Fax 0 89 / 3 74 36 - 3 44 · service@juenglingverlag.de Lizenziert für Abb. 12: Anmeldung bei der Meldebehörde 18 18 www.wuerzburg.de/ rathaus/ formularcenter/ 521187.Formlarcenter.html? detID=505769 (Stand: 15.1.2023) 22 Ulrich Schmitz <?page no="23"?> Formulare aller Art (Abb. 12) bilden eine eigenartige Gruppe von Textsorten. Durch Standardisierung machen sie schriftliche Kommunikation effizienter. Die Zeichen im Symbolfeld 19 verantwortet der Sender; er hat sie routinisiert und vorgedruckt. Die Zeichen im Zeigfeld füllt der Empfänger aus. Die Senderzeichen haben in ihrem allgemeinen Charakter so lange Bestand, wie die Routine gilt. Die Empfängerzeichen hingegen sind individuell und gelten nur für einen bestimmten Zeitraum. 20 2.7 Werbung Produktwerbung spannt ein Feld auf zwischen zeitloser Solidität der Marke und jugendlicher Frische des Produkts: Alles soll neu und aktuell sein, doch der Kunde soll sich auf Qualität fraglos verlassen können. In den Texten führt das oft dazu, dass wesentliche Ankerpunkte wie äußeres Erscheinungsbild, Logo, Slogan der Firma über Jahre und Jahrzehnte gleich bleiben, während neue Produkte auch mit frischen und schnell vergänglichen Texten beworben werden, z. B. so (Abb. 13) oder so (Abb. 14). Abb. 13: BMW-Werbung 2022 21 19 Zu Zeig- und Symboldfeld s. Bühler 1934: 149 ff. 20 Anders verhält es sich bei Kreuzworträtseln. Hier gibt es kein Zeigfeld. Wenn das Formular ausgefüllt ist, ist der komplette Text erledigt und somit abgestorben. 21 bmw.de (Stand: 7.7.2022) Können Texte altern? 23 <?page no="24"?> Abb. 14: Edeka-Werbung 22 22 https: / / edeka-kels.de/ angebote/ #handzettel/ 432-1 (Stand: 7.7.2022) 24 Ulrich Schmitz <?page no="25"?> Abb. 15: BMW-Werbung 1960 23 Ehemalige Werbung für ein zehn oder 60 Jahre altes Auto (Abb. 15) wirkt heute eher belustigend, weil aus der Zeit gefallen. Wie alle Texte können natürlich auch alte Werbetexte wiederbelebt werden; das wirkt dann nostalgisch wie hier (Abb. 16). 23 www.pinterest.de/ pin/ 523473156681838305/ (Stand: 15.1.2023) Können Texte altern? 25 <?page no="26"?> Abb. 16: Blechschild Persil (2020) mit Slogan von 1913 24 2.8 Presse Konventionelle Pressemedien versammeln eine ungeheure Vielfalt von Textsorten, darunter auch einige aus den oben genannten Rubriken. Doch in der Regel werden sie höchstens so lange gelesen, bis die nächste Ausgabe erscheint und spätestens dann (also zum Beispiel nach einem Tag bzw. einer Woche) weggeworfen. 2.9 Social Media Der Rhythmus von Erscheinen, Wahrnehmen und Vergessen pulsiert bei Social Media (z. B. Facebook, Whatsapp, Twitter, Instagram, TikTok) noch schneller, und zwar je jünger die Plattform ist, desto mehr. Zwar lässt sich auch hier alles 24 www.ebay.de/ itm/ 282501472587? chn=ps&norover=1&mkevt=1&mkrid=707-134425-41 852-0&mkcid=2&itemid=282501472587&targetid=1268559018366&device=c&mktype= pla&googleloc=9043857&poi=&campaignid=10203814770&mkgroupid=119187069821- &rlsatarget=pla-1268559018366&abcId=1145991&merchantid=110551383&gclid=EAIaI QobChMI-eWv45Xp-AIVN4xoCR1H5gEREAQYBCABEgKX4_D_BwE (Stand: 7.7.2022) 26 Ulrich Schmitz <?page no="27"?> konservieren. Doch interessiert, was gestern gepostet wurde, heute kaum noch jemanden. 25 2.10 Öffentliche Texte Je nach Zweck leben öffentliche Gebrauchstexte unterschiedlich lang. Ein einmal angebrachtes Schild im öffentlichen Raum wird erst dann ersetzt, wenn es verwittert ist (s. o. Abb. 3) oder wenn sein Zweck obsolet geworden ist (z. B. bei aufgegebenen Geschäftsräumen oder bei geänderter Verkehrsführung; Abb. 17). Abb. 17: Verkehrsschild an der B 224 in Essen-Heidhausen (6.11.2018) Abb. 18: Stationshinweis im öffentlichen Personennahverkehr 26 25 Schweiger (2022) bemerkt dazu: „ Und es muss schnell gehen: Besonders Twitter- Debatten sind oft nach wenigen Stunden vorbei. Wer sich später zu Wort meldet, weil er zu lang nachgedacht hat, ist raus. “ 26 www.bayerische-staatszeitung.de/ staatszeitung/ kommunales/ detailansicht-kommunales/ artikel/ kostenfreier-oepnv-braucht-ortsspezifische-loesungen.html#topPosition (Stand: 15.1.2023) Können Texte altern? 27 <?page no="28"?> Dynamische öffentliche Texte hingegen (Abb. 18) sind fixiert an ihren Ort, doch beweglich in der Botschaft. Man denke an analoge oder digitale Uhren, an die automatische Mitteilung der nächsten Haltestelle in öffentlichen Verkehrsmitteln ( „ Nächste Station: Wittelsbacher Platz “ ) oder an Wetterberichte auf öffentlichen Bildschirmen. 2.11 Persönliche Alltagstexte Persönliche Alltagstexte sind meist nur für einen mehr oder weniger kurzen Zeitraum relevant und werden dann weggeworfen (wenn wir einmal von Tattoos absehen). Manche werden aber auch zweitverwertet, nämlich zur persönlichen Erinnerung aufbewahrt. Hier einige wenige Beispiele in der absteigenden Reihenfolge mutmaßlicher durchschnittlicher Lebensdauer: Tagebücher, Kalender, Briefe, E-Mails, To-Do-Listen, Terminzettel (Abb. 19), Einkaufszettel. Abb. 19: Terminzettel (2022) 28 Ulrich Schmitz <?page no="29"?> Abb. 20: TÜV-Plakette an Kfz (2022) Abb. 21: Mindesthaltbarkeit an Tagliatelle-Packung (2022) 3 Wie altern Texte? Wir haben gesehen: Texte können auf viele unterschiedliche Arten ergrauen, altern und sterben. In manchen Fällen dienen Zeitangaben in den Texten oder Paratexten (z. B. Abb. 19 - 21 oder auch Datumsangabe bei einer Tageszeitung) als Indizien für den Zeitraum, aus dem sie stammen oder für den sie gelten; danach sind sie oft hinfällig. Immer gilt aber die folgende Regel: Je unabhängiger der Text vom Kontext verstanden werden kann, desto weniger altert er. Umgekehrt: Je empraktischer (Bühler 1934: 155 - 159) der Text, desto flüchtiger seine Bedeutung. Oder anders: Der Text altert dadurch und in Können Texte altern? 29 <?page no="30"?> dem Maße, dass bzw. wie sein ursprünglicher Kontext verschwindet. Die Graffitis in Pompeji von 79 n. Chr. und in Dortmund-Nordstadt von 2013 sind nicht deshalb antiquiert, weil sie vor mehr oder weniger langen Jahren geschrieben wurden, sondern weil niemand mehr da ist, der den alten Wortlaut auf seine neue Situation beziehen kann, soll oder will. Texte bleiben so lange frisch, wie immer neue (nach einer Weile also jüngere) Leserinnen sie in immer neue aktuelle Kontexte setzen. Anderenfalls geraten sie in Vergessenheit. Nur was gebraucht wird, lebt. Damit wird auch klar, dass Texte nicht von sich aus alleine altern, sondern nur dadurch, dass ihr Bezug zur Lebenswelt der Leserinnen und Leser mit der Zeit vergeht (folglich niemand sie ohne speziellen Aufwand angemessen versteht). Altern von Texten ist eine zweistellige Relation zwischen mehr oder weniger fixem Text und mehr oder weniger vergänglichem aktuellem Kontext (insbesondere der Haltung, dem Interesse und dem Wissen der Leserschaft). Die oder der Verfasser hat mit einem bestimmten Verlangen dem Text einen bestimmten Sachverhalt eingeschrieben. Wenn der Text lesenswert sein soll, braucht es Leserinnen oder Leser, die Interesse daran haben. Der Text selbst ändert sich (normalerweise 27 ) nicht, aber die Leser und ihre Interessen. Der Kontext, in dem der Text gelesen wird, wandelt sich mehr oder weniger kontinuierlich im Laufe der Zeit. Ein Text kann, weil er fixiert ist, Situationen, Zeiträume, gar Epochen überbrücken und damit „ Überlieferung “ durch „ Sprechhandlungszerdehnung “ 28 ermöglichen. Je weniger er das kann, desto ältlicher ist er; wenn er das nicht mehr kann, ist er tot. Ob er das kann, hängt vom Ziel des Verfassers ab und vom Sachverhalt, den er behandelt, vor allem aber vom Interesse und der Arbeit des Lesers. Denn Textlektüre schafft Verbindung zweier Kontexte, eines älteren und eines aktuellen. Wie gut die Leserin oder der Leser den Text lebendig werden lässt, hängt von der jeweiligen historischen Konstellation zwischen der Sache des Textes und der Motivation des Lesers ab. Kurz: Texte altern nicht (wie Lebewesen) mit der Chronologie der Zeit, sondern mit der Relevanz für heutige Leserinnen und Leser. In Gadamers Worten: Es geht um „ die Resonanzfähigkeit 27 Außer in bestimmten digitalen Schreibzusammenhängen, die nicht nur manipulativ (Ehlich 2022: 46), sondern auch kooperativ grundiert sein können. 28 Ehlich (1996: 193). Der oft verwendete ältere Terminus „ zerdehnte Sprechsituation “ (Ehlich 2011: 542) suggeriert Dialogizität. Doch in der Dehnungszeit zwischen Verfassen und Lektüre des Textes geschieht in der Regel nichts zwischen Verfasser und Empfänger. Und es wird auch nicht im wörtlichen Sinne ,geantwortet ‘ . Die Reaktion wird eine Handlung sein, sei es durch bloße (monologische) Lektüre, sei es durch zusätzliche körperliche Bewegung (z. B. bei Abb. 7). Freilich gibt es schriftliche Dialogizität durchaus, und zwar in Brief- und Mailwechseln, in Social Media und gelegentlich (Schmitz und Ziegler 2016) im öffentlichen Raum. 30 Ulrich Schmitz <?page no="31"?> der Zeiten für einander “ , um die „ Stellung zwischen Fremdheit und Vertrautheit “ (Gadamer 1963: 71 bzw. 1972: 279). 4 Langlebige Muster Jeder einzelne Text altert, und zwar grundsätzlich (Ausnahmen bestätigen die Regel) je nach Textsortenzugehörigkeit unterschiedlich schnell. Denn erstens dient jede Textsorte speziellen Funktionen, deren Relevanz von unterschiedlicher Dauer ist. Eine Gesprächsnotiz kann schnell erledigt sein, ein Pflichtenheft nicht. Und zweitens werden viele dieser Funktionen nur in bestimmten Epochen gebraucht, so dass die Textsorte selbst allmählich ausstirbt. 29 Bänkellieder und Totenzettel sind Beispiele dafür. Wir wissen aber auch, dass jede Textsorte durch ganz bestimmte, immer wiederkehrende Muster 30 gekennzeichnet ist. Hier ein verblüffendes Beispiel aus TV-Nachrichtensendungen. 1978 hieß es in der deutschen „ Tagesschau “ : Auch am zweiten Tag der Haushaltsdebatte im Bundestag nahm die Opposition die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung aufs Korn. (25.4.1978) Zehn Jahre später hörte man: Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung ist heute von den Sozialdemokraten scharf kritisiert worden. (6.3.1988) 31 Solche Muster bilden sozusagen das Genom der jeweiligen Textsorte. Es ändert sich nur sehr langsam. Und auch innerhalb der (nicht-indexikalischen) variablen Teile der einzelnen Texte, die ihren höchst individuellen, oft auch kreativen Charakter ausmachen, gibt es Muster, die in zahlreichen anderen Texten unterschiedlicher Sorten so oder so ähnlich mehr oder weniger oft ebenfalls auftauchen. Das sind keineswegs nur einzelne Wörter, Wortgruppen, Konstruktionen oder Phraseologismen. Sondern es können Kookkurrenzen und Kollokationen sein, halbe oder ganze Sätze, unter Umständen auch halbe oder ganze Absätze (z. B. in Gedenkreden, Protokollen, Navigationssystemen 32 ). Meist nehmen wir sie nicht als Zitate, Paraphrasen oder gar Plagiate wahr. Vielmehr sind es tradierte Gewohnheiten, die gelernt und weitergegeben werden wie Sprache im Spracherwerb. Denn in solchen Mustern drücken sich Handlungsroutinen aus, die im gesellschaftlichen Leben in ähnlicher Weise 29 Vgl. Markewitz 2018. 30 Dazu Stein und Stumpf 2019. 31 Schmitz 1990: 213. Ähnliche Beispiele ebd. 213 - 222. 32 Z. B.: „ Die Route wird berechnet. “ Können Texte altern? 31 <?page no="32"?> immer wieder vorkommen. Und zugleich schlagen sich darin meist unhinterfragte kulturelle Eigenarten und Ideologien nieder, welche die Diskurse 33 einer Gesellschaft prägen. 34 Die Bedeutung eines Textes ist sein Gebrauch im Diskurs. Diskurse altern sehr viel langsamer als Texte. 35 Doch es können auch unberechenbare Mutationen auftauchen, wie seit dem bereits erwähnten 24.2.2022, oder wenn - in anderer Metaphorik - eingefahrene Gleise langweilig werden, Kreativität zur Geltung kommt, nicht mehr taugliche Stücke ausgemustert oder neue Weichen eingebaut werden. Was gestern en vogue war, muss es heute nicht mehr sein. (Meist passiert das am schnellsten zuerst mündlich, zum Beispiel in der Jugendsprache 2022: Nice ist das neue cool. 36 ) Hinterrücks setzen sich Moden durch, die aus den widersprüchlichen Bedürfnissen der vielen Einzelnen nach sozialer Anerkennung und individueller Differenzierung hervorgehen. 37 Neue Texte mit herkömmlichem Material sehen dann sofort alt aus, weil der junge Diskurs sich in anderen Bahnen bewegt. 5 Entsorgen, bewahren, wiederbeleben Frisch geschriebene Texte erfüllen zahllose unterschiedliche Funktionen. Je mehr Zeit vergeht, desto entweder nutzloser oder aber wertvoller werden sie. Nutzlos (und meistens entsorgt) werden sie, wenn ihr ursprünglicher Zweck erfüllt ist. Wertvoll werden sie, wenn jemand sie pflegt. Sie dienen dann (1) kreativer Auseinandersetzung über Zeiten und Generationen hinweg (z. B. Belletristik) und/ oder aber (2) historischer Dokumentation (z. B. als öffentliche 33 Zum Diskursbegriff s. Spitzmüller und Warnke (2011). Diskurse bilden „ virtuelle Kontexte “ von Texten (ebd.: 24). „ Der Diskurs resultiert aus einer Streuung, Überschneidung, Anhäufung und Selektion von Texten. “ (ebd.: 126 f.) Wesentliche Merkmale sind Themenspezifik, Intertextualität und Rekurrenz. 34 Deshalb sind solche Muster wichtige Quellen für empirische Diskursanalysen. - Barthes ‘ (1974: 61) Diktum: „ jede Sprache wird alt, sobald sie wiederholt wird “ scheint mir einem elitären Anarchismus entsprungen (vgl. ebd.: 62). 35 Das gilt für Diskurse in der genannten weiten Definiton, nicht für Kleindiskurse etwa über „ Zeitenwende “ (vgl. die am 16. 7. 2022 knapp 3 Millionen Suchergebnisse bei google. de) oder „ Übergewinne “ (vgl. Hickel 2022), deren Themen schnell verbraucht sind. 36 Aber auch schriftlich etwa in Mails: „ Guten Abend Herr Müller “ statt „ Sehr geehrter/ lieber Herr Müller “ . 37 Simmel (1895: 23) über Mode: „ Sie genügt einerseits dem Bedürfnis nach socialer Anlehnung, insoferne sie Nachahmung ist; sie führt den Einzelnen auf der Bahn, die alle gehen; andererseits aber befriedigt sie auch das Unterschiedsbedürfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung, Sichabheben “ . 32 Ulrich Schmitz <?page no="33"?> Archivalien). (3) Vergessen und/ oder lang genug aufbewahrt können vor allem private Texte auch nostalgische Erinnerungen wecken (Abb. 22). Abb. 22a+b: Ansichtskarte Hotel Pennsylvania, New York 1927 Können Texte altern? 33 <?page no="34"?> Diese Ansichtskarte z. B. schrieb mein Großvater an meinen damals 14jährigen Vater. Beide sind tot; durch diesen Text, den ich kaum entziffern kann, stehen sie mir klar vor Augen: Texte können Zeiten überbrücken. (Übrigens steht das Hotel auch heute noch. 38 Nur der Kontext hat sich geändert: ) Abb. 22c: Hotel Pennsylvania, New York 2020 39 38 Das Hotel Pennsylvania wurde 1919 eröffnet. Mit 2200 Betten war es damals das größte Hotel der Welt. 2021 hatte es noch 1705 Zimmer. Nach der Corona-Pandemie wurde es nicht wieder eröffnet. Gebäude altern anders als Texte, weil sie andere Aufgaben erfüllen und regelmäßig in Stand gehalten werden müssen. 39 https: / / pennsylvania-hotel-new-york-city.hotel-ds.com/ de/ #photo (Stand: 15.1.2023) 34 Ulrich Schmitz <?page no="35"?> Abb. 23a+b: Kinderwunschzettel Weihnachten 1955 Können Texte altern? 35 <?page no="36"?> Oder hier (Abb. 23a+b): mein eigener Wunschzettel aus dem Jahre 1955; ich war sieben Jahre alt. Jetzt belustigt er mich, er versetzt mich in meine Kindheit und rührt an 40 : Texte können Zeit still stellen. Doch nicht nur seltene Fundstücke (Textfossilien) kann man beleben, sondern alle Texte: durch lesen, rezipieren, wahrnehmen; anstreichen, kommentieren, ändern, erweitern, entgegnen, zustimmen, kritisieren, ablehnen, diskutieren, loben; nennen, erwähnen, zitieren, paraphrasieren, übersetzen - kurz: durch Anschlusskommunikation, indem man Texte in intertextuelle Zusammenhänge bringt. 41 6 Aus neu wird alt Texte altern, aber nicht wie Lebewesen, sondern wie jedes andere kulturelle Erzeugnis auch. Die Geschichte geht über sie hinweg: über alltagsferne langsamer, über empraktische sehr schnell. Es ist gut, dass viele Texte vergessen werden. Eine der wichtigsten kulturellen Leistungen besteht in der guten Unterscheidung zwischen dem, was vergessen werden kann, und dem, was nicht vergessen werden soll. Wie lang wird dieser Aufsatz haltbar sein? Abb. 24: Mindesthaltbarkeit wissenschaftlicher Aufsatz (2022) 40 Dazu Linke 2022. 41 Werden die Texte, die ich in diesem Beitrag erwähne, allein dadurch schon lebendig? Oder erkenne ich sie erst recht als veraltet an? 36 Ulrich Schmitz <?page no="37"?> Literatur Augustinus, Aurelius (2004). Confessiones - Bekenntnisse. Lateinisch-deutsch. (Sammlung Tusculum). Düsseldorf, Zürich: Artemis & Winkler. Barthes, Roland (1974). Die Lust am Text [frz. 1973]. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Barthes, Roland (2010). Mythen des Alltags [frz. 1957]. Berlin: Suhrkamp. Birnstiel, Klaus (2022). Der kritische Diktator Deutschlands. Ein von der Macht der Literatur überzeugter Geist: Zum 250. Geburtstag von Friedrich Schlegel. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. März 2022, 18. Blumenberg, Hans (1979). Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. Brecht, Bertolt (1992). Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe [Berliner Ausgabe]. 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Berlin: Suhrkamp. 38 Ulrich Schmitz <?page no="39"?> Zeitlichkeit beim Handeln mit Texten Ina Pick & Claudio Scarvaglieri Abstract: In unserem Beitrag untersuchen wir den Zusammenhang von Zeitlichkeit und Text mit einem handlungsanalytischen Zugang. Wir plädieren dafür, Texte als Teil von Handlungsprozessen zu betrachten und verstehen Zeitlichkeit als aus den Handlungszusammenhängen entstehend. Wir stellen diese Perspektive anhand verschiedener Beispiele dar und zeigen, dass sich Zeitlichkeit auf verschiedene Weisen für die Textkonstitution als relevant erweisen kann: sich verändernde Handlungszusammenhänge, in denen Texte nur zeitweise relevant sind; konstante Handlungszusammenhänge, in denen sich die Materialität oder Medialität von Texten im Lauf der Zeit wandelt; Texte, die sich mit dem Handlungsprozess selbst weiterentwickeln und Handlungsabfolgen, die mit mehreren aufeinanderfolgenden Texten realisiert werden. 1 Einleitung Texte dienen der Kommunikation zwischen Personen, die raumzeitlich getrennt sind (Ehlich 1983). Schrift (Ehlich 1994) ermöglicht die Konservierung von Kommunikaten und damit Kommunikation, die in gewisser Hinsicht zeitunabhängig ist: anders als stimmlich erzeugte Äußerungen, die, wenn sie nicht technisch gespeichert werden, nur im Moment ihres Produzierens rezipiert werden können, ist die Rezipierbarkeit von schriftlich verfassten Äußerungen im Grunde zeitlich unbegrenzt bzw. wird - wie unsere Beispiele zeigen (s. u. Kap. 2) - nur durch die materiale Verfasstheit des Trägermediums bzw. Schreibmittels begrenzt. Daher wurden schriftliche Texte lange als quasi ‚ überzeitlich ‘ angesehen - da ihr Zweck in der Loslösung von Äußerungen aus der Gleichzeitlichkeit diskursiv mündlicher Kommunikation besteht und ihre Form und Funktion über die Zeit hinweg (vermeintlich) konstant bleiben, wurden zeitliche Aspekte bei der linguistischen Analyse und Konzeption von Texten lange nicht berücksichtigt. Dies hat sich in den letzten Jahren zunehmend <?page no="40"?> verändert, zumal aus sprechakttheoretischen (Liedtke 2009), interaktionslinguistischen (Hausendorf et al. 2017) oder internetlinguistischen (Beißwenger 2020) Perspektiven darauf aufmerksam gemacht wurde, dass für die Textkonstitution auch Zeitlichkeit analytisch relevant ist, Texten also auch eine zeitliche Dimension zukommt. In diesem Artikel möchten wir diese Beiträge aufgreifen und handlungsanalytisch (s. auch Pick und Scarvaglieri 2021) weiterentwickeln. Dabei bauen wir, wie auch die genannten Arbeiten, auf der etablierten handlungstheoretischen Bestimmung von Konrad Ehlich (1983: 32) auf, der Texte als Mittel zur Überbrückung einer „ zerdehnten “ Sprechsituation fasst, aber auch darauf hinweist, dass es im Falle schriftlicher Vertextung auch zu einem „ Zerfallen “ (Ehlich 1994: 19) von Produktions- und Rezeptionssituation kommen kann. Indem sie Äußerungen konservieren, ermöglichen Texte die Kommunikation von Personen, die sich raumzeitlich in unterschiedlichen Handlungszusammenhängen befinden und einander weder sehen noch hören können. 1 In dieser Bestimmung ist der Zusammenhang zwischen Text und Zeit bereits angelegt, und zwar insofern, als Texte Ehlich (1983: 32) zufolge der „ sprechhandlungsaufbewahrenden Überbrückung zwischen zwei nichtidentischen unmittelbaren Sprechsituationen “ dienen. Unser Ziel ist es, die verschiedenen Aspekte von Zeitlichkeit beim Handeln mit Texten zunächst phänographisch zusammenzuführen und zu ordnen (Kap. 2), um darauf aufbauend eine weiterführende handlungsanalytische Konzipierung des Verhältnisses von Text und Zeit vorzulegen (Kap. 3). Zentral für unsere handlungsanalytische Herangehensweise an diesen Phänomenbereich ist die Annahme, dass Texte Zeitlichkeit im Handeln gewinnen. Texte lassen sich u. E. als Mittel des kommunikativen Handelns bestimmen (Pick und Scarvaglieri 2021), sie entstehen im Handeln, durch das Handeln und für das Handeln, daher entsteht auch ihre Zeitlichkeit im Handeln. Diese fundamentale Annahme gliedert auch unsere Darstellung und Diskussion des uns vorliegenden Datenmaterials. So werden wir zunächst Beispiele besprechen, die zeigen, dass Texte sich verändern bzw. verändert werden - und dadurch Zeitlichkeit gewinnen - , wenn sich der Handlungsprozess, in dem sie bestimmte Handlungen übernehmen, verändert (wenn z. B. Hygieneregeln nicht mehr beachtet werden müssen, werden die entsprechenden Texte entfernt oder ungültig gemacht; Kap. 2.1). Andere Texte (wie etwa Grabsteine) sind 1 Technische Entwicklungen wie Telefon oder Videokonferenz (vgl. Hausendorf 2022) haben dazu geführt, dass der räumliche Aspekt in dieser Hinsicht an Bedeutung verloren hat und dass vermehrt über die Differenz zwischen Gespräch bzw. Diskurs und Text diskutiert wird. 40 Ina Pick & Claudio Scarvaglieri <?page no="41"?> dagegen sehr stark auf Dauerhaftigkeit angelegt, was auf einen vergleichsweise konstant bleibenden Handlungsprozess - ein dauerhaftes Gedenken der verstorbenen Person - verweist (Kap. 2.2). Hier wird also gerade an dem Versuch, Texte zu schaffen, die überzeitlich lesbar sein und damit der Zeitlichkeit entzogen werden sollen, erkennbar, wie wichtig dieser Aspekt für diejenigen ist, die diese Texte verantworten. Ähnliches gilt für Archivierungen von Texten, die teilweise sehr aufwändig betrieben werden, etwa in Bibliotheken oder Archiven. Ein Gegenstück dazu sind Texte, die wiederholt verändert und bearbeitet werden, weil sie an verschiedenen Punkten im Handlungsprozess relevant werden (Kap. 2.3). Diese Texte gewinnen Zeitlichkeit, weil sie im Handeln verwendet werden, dadurch formal anwachsen und sich entwickeln und damit auch den Handlungsprozess, in den sie integriert sind, widerspiegeln. Darüber hinaus ist Zeitlichkeit dann relevant, wenn unterschiedliche Texte unterschiedliche Handlungen in einem Handlungsprozess vollziehen, also zeitlich und kommunikativ aufeinander folgen und Bezug nehmen (z. B. Einladung zur Geburtstagsfeier, Zusage teilzunehmen, Glückwunschkarte; Kap. 2.4). Bevor wir diese Dimensionen von Zeitlichkeit beim Handeln mit Texten materialgestützt entfalten, möchten wir an dieser Stelle kurz auf die vorliegenden Arbeiten eingehen, die sich mit dem Aspekt der Zeitlichkeit von Texten beschäftigt haben. Aus sprechakttheoretischer Perspektive unterscheidet Frank Liedtke (2009) bei Texten zwischen einem Inskriptionszeitpunkt, zu welchem die Äußerung produzentenseitig vollständig textuell ausgearbeitet ist, einem Rezeptionszeitpunkt, an dem die Äußerung gelesen wird, und einem Obligationszeitpunkt, an dem bestimmte Verpflichtungen, die aus Liedtkes sprechakttheoretischer Perspektive als Resultat der Lektüre der Äußerung entstehen, realisiert werden. Hier wird Zeitlichkeit also innerhalb des Produktions- und Rezeptionsprozesses von Texten verortet, der übergeordnete Handlungsprozesses, in dem Texte von Produzent: innen wie Rezipient: innen verwendet werden, wird dagegen weniger berücksichtigt. Zudem wird zwischen Rezeption und Obligation unterschieden und mit dem Obligationszeitpunkt ein Konzept eingeführt, das an die Perlokution der Sprechakttheorie erinnert (Searle 1969; Liedtke und Keller 1987; Weigand 2010). Damit wird die etwaige Reaktion der Rezipierenden aus dem Handlungsprozess heraus und in den Text selbst (bzw. in die in ihm realisierten Verpflichtungen) hinein verlagert. Liedtkes Unterscheidung verschiedener textbezogener Zeitpunkte entwickelt Beißwenger für die Analyse von Internettexten weiter, indem er zunächst zusätzlich zu Liedtke einen „ Intentionszeitpunkt “ ansetzt, „ zu welchem der bzw. die Produzierende beschließt, eine Textäußerung zu konzipieren “ (2020: 301). Während dieser Zeitpunkt für die Beißwenger interessierende Zeitlichkeit beim Handeln mit Texten 41 <?page no="42"?> WhatsApp-Kommunikation daran erkennbar ist, dass jemand mit dem Finger auf das entsprechende Feld tippt (ebd.: 310), ist er für die meisten der Texte, denen wir im Alltag und in der Wissenschaft begegnen, empirisch nicht zu ermitteln. Da der Intentionszeitpunkt also in die Analyse im Normalfall nicht einfließen kann, ist er analytisch u. E. auch von begrenzter Bedeutung. Zudem setzt Beißwenger einen „ Verfügbarkeitszeitpunkt “ (ebd.: 303) an, zu dem ein Text technisch übermittelt wurde und an sich also auf dem Endgerät abrufbar und damit lesbar ist. Dieser fällt empirisch häufig nicht mit dem Rezeptionszeitpunkt überein, was Bedeutung für das Handeln haben kann (so kann etwa eine Verabredung misslingen, weil Texte zu spät verfügbar oder nicht gelesen werden). Dass Verfügbarkeit und Rezeption von Texten auseinanderfallen können, gilt empirisch nicht nur für Internettexte, die quasi privatissime auf dem je eigenen Telefon sichtbar werden, sondern auch für ihr Gegenstück, Texte im öffentlichen Raum. Diese sind naturgemäß jederzeit lesbar - wenn sie nicht abgedeckt, abmontiert oder anderweitig manipuliert oder unsichtbar gemacht werden (Pappert 2017; Michel und Pappert 2018; Scarvaglieri und Luginbühl 2023) - , werden aber nur dann rezipiert, wenn sich Personen in räumlicher Nähe befinden, sich also zu diesen Texten hinbewegen, sie wahrnehmen und sie in ihren Handlungszusammenhang integrieren. Die Soziolinguistik hat mit der Untersuchung der „ Linguistic Landscapes “ ein eigenes Forschungsfeld zu diesen Texten entwickelt, das bisher in der deutschsprachigen Textlinguistik kaum rezipiert wurde (für einen Überblick s. Marten 2019; vgl. auch Ziegler und Marten 2021). Blommaert und Maly (2014: 4, Herv. i. O.) weisen explizit auf die Zeitlichkeit von Texten bzw. Schildern ( „ signs “ ) im öffentlichen Raum hin: (i) Signs point towards the past, to their origins and modes of production. Elements of material and linguistic make-up are indices of who manufactured the signs, under which conditions they were manufactured, which resources were used and, so, available and accessible to the producers of the sign. [ … ] (ii) Signs point towards the future, to their intended audiences and preferred uptake [ … ]: a nonsmoking sign is intended specifically for smokers and intends to prevent them from smoking (not from standing on their heads, for instance). (iii) Signs also point towards the present, through their “ emplacement ” (Scollon & Scollon 2003): their location is not a random given, and neither is their “ syntagmatic ” position relative to other signs. Texte bzw. Schilder im öffentlichen Raum sind Blommaert und Maly zufolge also in dem Sinne zeitlich verortet, dass ihnen die Bedingungen (Materialität, Medialität, Ressourcen), unter denen sie in der Vergangenheit produziert wurden, eingeschrieben sind, dass sie künftig bestimmte Handlungen hervorrufen sollen und dass sie sich gegenwärtig an einer bestimmten nichtzufälligen Position im (öffentlichen) Raum bzw. relativ zu anderen Texten 42 Ina Pick & Claudio Scarvaglieri <?page no="43"?> befinden. Deutlich wird, dass auch für Blommaert und Maly Texte innerhalb eines Handlungszusammenhangs zu verorten sind und durch diesen Zeitlichkeit gewinnen. Auf diesen Aspekt haben auch die konversationsanalytisch inspirierten Untersuchungen von Hausendorf et al. (2017) hingewiesen. So analysieren sie u. a. die Verortung einer Fahrkarte innerhalb eines Handlungsprozesses. Diese versprachlicht selbst den Zeitpunkt ihrer Gültigkeit (z. B. am 7.4.2023, von 11.10 bis 12.10), so dass es sich hier um einen Text handelt, der je nach Zeitpunkt des Handelns (Einsteigen in die Straßenbahn, Mitführen der Fahrkarte) durch seine sprachliche Form für das Handeln relevant bzw. irrelevant wird. Auf ähnliche Weise versprachlichen Fahrkarten auch den Ort, an dem sie gültig sind. Zudem wird eine Fahrkarte erst dann handlungsrelevant, wenn man das entsprechende Fahrzeug betritt und diese Fahrkarte dabei mitführt - bleiben Besitzende bzw. Fahrkarte zum Zeitpunkt ihrer Gültigkeit zu Hause, so kann diese ihre textlich realisierte Handlung (Ausweisen als gültiger Fahrausweis) nicht vollziehen und gewinnt keine Handlungsrelevanz (trotz etwaiger Gültigkeit). Dieses Beispiel - wie auch andere der von Hausendorf et al. (2017) analysierten Texte - zeigt nicht nur, dass Texte Zeitlichkeit innerhalb eines Handlungsprozesses (Mitführen im Fahrzeug zum angegebenen Zeitpunkt) gewinnen, sondern dass Zeitlichkeit auch vom Handlungsprozess her gedacht und analysiert werden muss, wenn das Ziel in der Rekonstruktion derjenigen Prozesse und Aspekte besteht, die die Zeitlichkeit von Texten bestimmen und strukturieren, und Zeitlichkeit als ein wesentliches Merkmal der Konstitution von Texten erkennbar werden soll (s. auch Pick und Scarvaglieri 2021). Mit diesen Zielen wenden wir uns nun den empirischen Belegen zu und versuchen zunächst, die verschiedenen Aspekte der Zeitlichkeit von Texten zu illustrieren und das Verhältnis von Handlungsprozess und Zeitlichkeit initial zu ordnen. 2 Dimensionen von Zeitlichkeit beim Handeln mit Texten 2.1 Zeitlichkeit durch Veränderung des Handlungsprozesses Wie beschrieben gehen wir davon aus, dass Texte in Handlungsprozessen Relevanz und Zeitlichkeit gewinnen. Wenn sich der Handlungsprozess also stark verändert, können Texte ihre Bedeutung für das Handeln verlieren. Ein Beispiel sind „ Frisch-gestrichen “ -Texte wie etwa in Abbildung 1, die davor warnen, mit einer Oberfläche in Kontakt zu kommen, deren Belag noch feucht ist. Sie dienen also der Verhinderung einer entsprechenden Handlung (Berühren, Hinsetzen), die sowohl die handelnde Person beschmutzen als auch das Zeitlichkeit beim Handeln mit Texten 43 <?page no="44"?> Ergebnis des Streichens beeinflussen würde. Mittels „ frisch “ wird in diesen Texten auf diese Gefahr hingewiesen, zugleich wird an „ frisch “ deutlich, dass diese Texte in dem Maße - und in Abhängigkeit von der Trocknungsgeschwindigkeit des jeweiligen Belags auf der gegebenen Oberfläche - an Handlungsrelevanz verlieren, in dem der Ausführungszeitpunkt der im Text versprachlichten Handlung (Streichen) zum Zeitpunkt des Lesens in der Vergangenheit liegt. Als Lesende müssen wir dann versuchen einzuschätzen, ob der Text noch von Bedeutung für unser Handeln ist. Anders als die meisten Texte dieser Art gibt daher unser Beispiel den Zeitpunkt des Handelns (Lasieren) an (29.9.2022, 13: 40 Uhr) - so kann der/ die Leser: in eher beurteilen, ob dieser Text noch aktuell und von Bedeutung für das Anschlusshandeln, die entsprechende Fläche also noch feucht ist. 2 Konkret sieht der Handlungsprozess also so aus, dass eine Fläche bearbeitet (gestrichen, lasiert u. ä.) wird und danach - bis zum Trocknen 2 Zusätzlich wird in diesem Beispiel versucht, auch die räumliche Ambiguität des Textes zu bearbeiten, indem mittels Pfeils auf die entsprechende Fläche, die bearbeitet wurde, verwiesen werden soll. Es fällt auf, dass wir es mit einem/ r Textersteller: in zu tun zu haben scheinen, dem/ der gelingende Anschlusshandlungen von besonderer Bedeutung sind. Abb. 1: Frisch gestrichen (Foto: Claudio Scarvaglieri) 44 Ina Pick & Claudio Scarvaglieri <?page no="45"?> der Farbe, Lasur - feucht ist. Ein Berühren dieser Fläche vor deren Trocknung würde bedeuten, dass sich die berührende Person beschmutzte und auf der Fläche Abdrücke sichtbar blieben (so dass sie erneut bearbeitet werden müsste). Daher versprachlichen Texte dieser Art die Ursprungshandlung ( „ gestrichen “ , „ lasiert “ ), deren Konsequenzen (Fläche feucht, Gefahr der Beschmutzung) von den Lesenden erschlossen bzw. gewusst werden müssen, da sie i. d. R. nicht versprachlicht werden. Da diese Konsequenzen jedoch mit der Zeit verschwinden - weil die Farbe, Lasur trocknet - und für das Handeln nicht mehr relevant sind, wird in diesem Fall der Zeitpunkt der Ursprungshandlung angegeben, so dass man als Leser: in beurteilen kann, ob der Text noch handlungsrelevant ist. Auf ähnliche Weise können Texte an Handlungsrelevanz verlieren, weil etwa eine Pandemie vorbei ist und die in ihnen versprachlichten Handlungsanweisungen - Tragen von Masken, Abstandhalten, Nicht-Begehen bestimmter Wege - als nicht mehr notwendig erachtet werden. Die entsprechenden Texte werden dann entfernt, anhand ihrer Überbleibsel lässt sich aber noch erkennen, dass sie einmal vorhanden und also von Relevanz waren. Dies lässt sich etwa an Hinweisen zu Verhaltensregeln nachvollziehen, wie sie in Zeiten der Covid- Pandemie häufig auf Fußwegen zu finden waren und beim Verlieren ihrer Handlungsrelevanz wieder entfernt wurden (Abb. 2a+b). Zeitlichkeit von Texten wird hier also sichtbar als Handlungsrelevanz innerhalb eines sich verändernden Handlungsprozesses - Bekämpfung der Pandemie - , der zu großen Teilen auch nicht-sprachlich vollzogen wird. Indem sich dieser Handlungsprozess verändert bzw. überhaupt nicht mehr vollzogen wird, lässt sich an den Texten ein Vorher - Bedeutung für das Handeln - und Nachher - ohne Handlungsrelevanz - unterscheiden. Zeitlichkeit von Texten wird durch das Handeln mit Texten konstituiert. Abb. 2a+b: Coronaschild und entferntes Coronaschild (Foto links: Claudio Scarvaglieri, Foto rechts: Ina Pick) Zeitlichkeit beim Handeln mit Texten 45 <?page no="46"?> Dieser Beobachtung entspricht, dass Texte nicht notwendigerweise dauerhaft an Handlungsrelevanz verlieren müssen. So wird z. B. ein „ Einfahrt Verboten “ nicht etwa abgebaut, wenn aufgrund einer Baustelle die Verkehrslage verändert ist und die Straße nun ausnahmsweise doch auch in dieser Richtung befahren werden kann, sondern das Schild wird zeitlich ungültig gemacht, in unserem Fall mittels eines orangenen schräg verlaufenden Balkens (Abb. 3). Dieses wird als Durchstreichen des Schildes verstanden, seine ‚ Proposition ‘ und ‚ Illokution ‘ sind zwar weiterhin rekonstruierbar, das Durchstreichen macht aber deutlich, dass sie das Handeln der Lesenden momentan nicht beeinflussen sollen. Dieses Phänomen verweist darauf, dass Texte zeitlich an Handlungsrelevanz verlieren und ihre Bedeutung wiedergewinnen können (in diesem Fall die Durchfahrt wieder zu verbieten), wenn die Ursache dieses Verlusts an Relevanz (die Baustelle) beseitigt und damit erneut ein anderes Handeln der Lesenden möglich bzw. erforderlich ist. Abb. 3: Abgedecktes Straßenschild (Foto: Ina Pick) Ein damit recht nah verwandtes Phänomen sind Texte, die nicht etwa kurzfristig außer Kraft gesetzt werden müssen, da sich der Handlungszusammenhang, in den sie integriert sind, verändert, sondern die per se bereits darauf ausgelegt sind, nur kurzfristig oder in bestimmten Situationen das Anschlusshandeln der Lesenden zu beeinflussen. Dazu gehören etwa elektronische Leuchttafeln an Autobahnen (s. auch Liedtke 2009), die je nach Uhrzeit bzw. 46 Ina Pick & Claudio Scarvaglieri <?page no="47"?> Verkehrsaufkommen eine andere Höchstgeschwindigkeit angeben (Abb. 4). Der jeweils dargestellte Text (eine Zahl) ist also immer von zeitlich begrenzter Gültigkeit und verändert sich in Abhängigkeit vom Verkehrsaufkommen, also dem Handlungszusammenhang, in den er regulierend eingreifen soll. Außerdem können die Texte auch ganz abgeschaltet werden, wenn das Verkehrsaufkommen (z. B. nachts) gar keinen Eingriff in das Handeln der Fahrenden nötig macht. Die materiale Realisierung dieser Texte auf elektronischen Leuchttafeln weist Veränderbarkeit und zeitlich limitierte Gültigkeit als ihr zentrales Merkmal aus und damit darauf hin, dass dieser je unterschiedliche Eingriff in den Handlungszusammenhang gerade die zentrale Leistung dieser Texte ist. Veränderlichkeit in Abhängigkeit vom Handlungszusammenhang, in den diese Texte integriert sind, erweist sich damit als eine Art ‚ Daseinsberechtigung ‘ dieser Texte - ein Befund, der der klassischen Beschreibung von Text als Mittel zur überzeitlichen formtreuen Konservierung von Kommunikaten deutlich widerspricht. Abb. 4: Elektronische Autobahnschilder (Foto: Ina Pick) Eine in gewisser Weise noch tiefere Integration in den Handlungsprozess wird mittels Texten realisiert, die auf das Handeln der lesenden Person reagieren und damit je unterschiedlich in deren Handlungsprozess eingreifen sollen. So zeigt das Schild in Abbildung 5 die Geschwindigkeit des Autos an, in dem der/ die Lesende sitzt, und versucht mit einem lächelnden (alternativ auch mittels „ Danke “ ) oder traurigen Emoji in das Handeln der Fahrenden einzugreifen. Das traurige Emoji soll zu langsamerem Fahren aufrufen, das lachende bzw. „ Danke “ die gegebene Handlungsweise stützen und damit nach Möglichkeit in die Zukunft fortschreiben. Die angezeigte Zahl variiert auf Schildern dieser Art je nach gemessener Geschwindigkeit, das Emoji variiert in Abhängigkeit davon, ob diese Geschwindigkeit über 50 km/ h (bzw. der lokal geltenden Zeitlichkeit beim Handeln mit Texten 47 <?page no="48"?> Höchstgeschwindigkeit) oder gleich bzw. darunter liegt. Auch hier ist also ein variables Eingreifen in den Handlungsprozess angezielt, dieses wird aber ganz konkret vom Handeln der jeweils lesenden Person abhängig gemacht. Damit verändert sich der Text in Abhängigkeit vom Handeln der Rezipierenden, in deren Handeln - nach Einschätzung der für den Text verantwortlichen Personen - jeweils unterschiedlich eingegriffen werden muss. Abb. 5: ‚ Reagierendes ‘ Straßenschild (Foto: Ina Pick) Vergleichbar damit gewinnt der Text in Abbildung 6 nur dann Bedeutung für das Handeln, wenn das Auto, auf dem er befestigt ist, auf der linken Spur einer mehrspurigen Straße hinter einem anderen Auto sichtbar wird. Erst dann kann die Anweisung „ move right “ nicht nur gelesen und verstanden, sondern auch in den Handlungsprozess der Beteiligten integriert werden. Wenn das Auto dagegen auf dem Parkplatz steht oder man damit auf der Dorfstraße zum Einkaufen fährt, wird der Text zwar verstanden, gewinnt aber keine Handlungsrelevanz, weil der entsprechende Handlungszusammenhang, in den er eingreifen könnte, fehlt. Das Beispiel steht also für Texte, die, bei fester sprachlicher und semiotischer Form, nur an bestimmten Stellen in einem ganz konkreten Handlungszusammenhang relevant werden, an denen bestimmte Handlungen in Texte ausgelagert werden. Zeitlichkeit entsteht hier also als Vorher-Nachher des angezweckten Eingriffs in einen je spezifischen Handlungszusammenhang, der durch die Handelnden jeweils herzustellen ist. 48 Ina Pick & Claudio Scarvaglieri <?page no="49"?> Abb. 6: Move right (Foto: Claudio Scarvaglieri) 2.2 Zeitlichkeit bei Konstanz des Handlungszusammenhangs Während wir bisher Texte diskutiert haben, die durch Veränderungen im Handlungszusammenhang Zeitlichkeit gewinnen, so lässt sich auch beobachten, dass Handlungszusammenhänge konstant bleiben und Texte bzw. ihr Substrat (Trägersubstanz) gerade dadurch Zeitlichkeit gewinnen. So sind Grabsteine auf Dauerhaftigkeit angelegt. Sie sollen über Jahre hinweg lesbar sein und lassen sich als Texte verstehen, die einen Ort schaffen, an dem der verstorbenen Person gedacht werden kann. Entsprechend wird mit Naturstein ein Substrat gewählt und bearbeitet, das den - dreidimensionalen - Text lange lesbar hält. Gleichzeitig sind auch Grabsteine ein Teil in einer Textkette, die mit einem einfachen Holzkreuz ihren Anfang nimmt. Dieses steht, da es deutlich einfacher und schneller herzustellen ist, als Platzhalter für den Stein und ist hinsichtlich seines Informationsgehalts noch weiter eingeschränkt als der Stein, da es i. d. R. lediglich Namen und Geburts- und Sterbedatum der verstorbenen Person angibt, ein das Leben der verstorbenen Person symbolisierender Sinnspruch oder eine Abbildung (einer Pflanze o. ä.) jedoch nicht vorhanden sind. Aufgrund unterschiedlicher Materialität übernehmen Holzkreuze also für einen beschränkten Zeitraum einige der Funktionen von Grabsteinen, deren Materialität einerseits ihre Bearbeitung erschwert, sie andererseits aber für ein jahrelanges Verdauern von Sprache geeignet macht. Zeitlichkeit zeigt sich hier dadurch, dass die Handlungsqualität gleich bleibt, aber unterschiedliches Material als Textsubstrat für je unterschiedliche Zwecke verwendet wird. Das Material des Textsubstrats zeigt damit auch an, über welche Zeitspanne ein Text jeweils konserviert werden soll und wie lange er lesbar bleiben soll. Zeitlichkeit beim Handeln mit Texten 49 <?page no="50"?> In ähnlicher Weise lassen sich Prozesse fassen, die traditionell als Textsortenwandel bezeichnet werden. So wurden bis vor kurzem Zollanmeldungen von eingeführten Gütern am Bahnhof Basel in Papierform vorgenommen, können inzwischen jedoch per Handyapplikation ausgeführt werden (Abb. 7). Ähnlich wie der Wechsel vom Holzkreuz zum Grabstein illustriert dies einen Fall, in dem das soziale Bedürfnis - hier Kontrolle, Regulierung und ggf. finanzielle Transaktionen, bei den Kreuzen Anzeigen der Grabstätte der verstorbenen Person - sowie die entsprechende sprachliche Handlung (Anmeldung der Güter/ Nennen von Namen und Geburtsbzw. Sterbedaten) konstant bleiben, sich jedoch die Materialität und Medialität der Mittel, mit denen diese Handlungen ausgeführt werden, verändern. Dies führt, so ist anzunehmen, auch zu Veränderungen der sprachlichen Details der jeweils auszuführenden Handlungen. Zeitlichkeit wird in diesem Fall also dadurch konstituiert, dass sich die Materialität und Medialität der textlich vollzogenen Handlungen verändert, die Handlung selbst jedoch vergleichsweise konstant bleibt. Textsortenwandel erscheint in diesem Fall v. a. als Wandel von Materialität und Medialität, der ephemer auch Veränderungen der sprachlichen Formen nach sich ziehen kann. Abb. 7: Zoll Basel (Foto: Ina Pick) 50 Ina Pick & Claudio Scarvaglieri <?page no="51"?> 2.3 Texte, die im zeitlichen Verlauf von Handlungsprozessen mehrfach relevant werden und sich verändern Neben Texten, die ihre Relevanz verlieren, weil sich Handlungszusammenhänge verändern, und solchen, die sich in konstant bleibenden Handlungszusammenhängen wandeln, gibt es weiter Texte, die sich selbst mit dem und in dem Handlungsprozess verändern, weil sie an verschiedenen Punkten im Handlungsprozess relevant werden. Dies möchten wir an einem Beispiel eines Aushangs in einem Wohnhaus diskutieren, der sich im Lauf der Zeit verändert (solche Prozesse sind in der Textlinguistik als Resemiotisierung untersucht worden u. a. Pappert 2017; Michel und Pappert 2018). Wir sehen in Abbildung 8 das Endergebnis eines sich über mehrere Wochen hinziehenden Handlungsprozesses. Nachträglich zur Anonymisierung wurden graue Felder eingefügt, in denen verzeichnet ist, was darunter steht. Zusätzlich wurden Nummern eingefügt, um die verschiedenen Stadien der zeitlichen Entwicklung des Aushangs zu verdeutlichen. Abb. 8: Schornsteinfegung 2017 (Foto: Ina Pick) Zeitlichkeit beim Handeln mit Texten 51 <?page no="52"?> Ausgangspunkt war der abgebildete Aushang, in dem die Adresse der Liegenschaft, das Datum ( „ Mittwoch 1.2.2017 “ ) und die Uhrzeit ( „ 7.30 - 9.30 “ ) sowie der Zusatz „ gilt nicht für 5.OG Hinterhaus Name “ handschriftlich ergänzt ist (in Abb. 8 mit 1 gekennzeichnet). Es handelt sich um eine Ankündigung eines Schornsteinfegers oder einer Schornsteinfegerin, der/ die an einer bestimmten Liegenschaft zu einer bestimmten Zeit (doppelt umrandetes Kästchen) bestimmte Handlungen (einfach umrandete Kästchen: „ Zur Abgaswegeüberprüfung “ usw.) durchführen möchte. Als Beteiligte im Handlungsprozess identifiziert sich der/ die Schornsteinfeger: in durch Nennung des Namens, der Adresse (oben links) sowie einer (humorvollen) ikonischen Abbildung (oben rechts). Zugleich werden die weiteren Beteiligten im Handlungsprozess durch die Anrede „ sehr geehrte Kundin, sehr geehrter Kunde “ in einer für einen formellen Brief typischen Form angesprochen (passend dazu auch die Grußformel am Ende). Auch die Lokalität ist hier wesentlich, da sich die „ Kund: innen “ über ihren Wohnort (Liegenschaft) identifizieren müssen, in dessen Hausflur oder Haustür der Aushang befestigt wurde. Der Aushang wird also vom/ von der Schornsteinfeger: in sozialräumlich überhaupt erst in den Handlungsraum der weiteren Beteiligten eingebracht, so dass er für diese lesbar werden kann. Mit dem Anbringen dieser Ankündigung setzt der/ die Schornsteinfeger: in den Start für einen Handlungsprozess, in dem sie berufliche Tätigkeiten durchführen muss und dabei darauf angewiesen ist, Zugang zur Arbeitsstätte durch die Bewohner: innen dieser Liegenschaft zu erhalten. Dass neben der Ankündigung auch eine Bitte um Beteiligung an diesem Handlungsprozess enthalten ist, wird einerseits an der Information unter dem Terminfeld „ Die Arbeiten werden auch in Ihren Wohnungen durchgeführt “ ersichtlich, ebenso wie an der Formulierung im Konjunktiv ( „ Es würde uns freuen, wenn wir die Arbeiten [ … ] durchführen könnten “ ), auch der Dank am Ende ist ein weiterer Hinweis, dass bestimmte Handlungen von den anderen Beteiligten erwartet werden. Interessanterweise wird nicht der Appell expliziert, dass am entsprechenden Termin die Wohnung zugänglich gemacht werden soll, sondern die Bitte, einen anderen Termin zu vereinbaren, falls jemand nicht anwesend sein kann. Diese wird im Vergleich zu den anderen beiden Hinweisen sogar fett gedruckt. Dies könnte sich aus dem Handlungszusammenhang erklären, denn die nächste für die Bewohner: innenseite erforderliche Handlung wäre (vor dem Aufsperren der Wohnungstür) das Vereinbaren eines neuen Termins, falls der angegebene nicht passt. Auch der Hinweis auf den für Terminvereinbarungen zuständigen Mitarbeiter und seine Telefonnummer (hier anonymisiert) ist fett gedruckt. Dass aber die Bewohner: innen auch am Termin vor Ort im Haus und in ihren Wohnungen anwesend sein sollten (sowie diese öffnen sollten), wird nicht als Appell und nicht im Fettdruck, 52 Ina Pick & Claudio Scarvaglieri <?page no="53"?> sondern als Information formuliert. Dass dies einen Handlungsschritt für die Bewohner: innen beinhaltet, müssen diese selbst erschließen und als Aufgabe für sich erkennen. Hier werden also die verschiedenen Anschlusshandlungen an diese Ankündigung bzw. Bitte als unterschiedlich priorisiert lesbar gemacht und zwar in ihrer zeitlichen Reihenfolge im Handlungsprozess (Termin vereinbaren, Arbeiten durchführen), nicht aber so sehr in ihrer Wichtigkeit für die Durchführung des gesamten Handlungsprozesses priorisiert (dafür scheint das Öffnen der Wohnungen zentral, weil die Arbeiten sonst nicht möglich sind, eine Terminvereinbarung wäre dazu lediglich eine Voraussetzung). Zeitlichkeit entfaltet sich nun auch in diesem Beispiel über den Fortschritt des Handlungsprozesses, der zunächst nicht in diesem Text manifeste Handlungsschritte umfasst, einerseits das telefonische Vereinbaren von Ersatzterminen, andererseits das Erscheinen und Durchführen der Arbeiten in den Wohnungen zum angekündigten Termin. Dieser Fortschritt im Handlungsprozess wird sodann am Zeitpunkt nach dem ersten Termin wieder auf dem ursprünglichen Aushang manifest, indem handschriftlich weitere Ergänzungen vorgenommen werden: Es wird der ursprüngliche Termin durchgestrichen, ebenfalls der ursprüngliche Zusatz „ gilt nicht für …“ , weil beide, ähnlich wie die in Kap. 2.1 diskutierten Beispiele, ihre Relevanz für den Handlungsprozess verloren haben. Es wird ein neuer Termin ergänzt ( „ Mittwoch, 8.2.17 10.00 - 11.00 “ ). Zusätzlich wird „ in ihren Wohnungen “ mehrfach und mit fest aufgedrücktem Stift unterstrichen und es wird die Telefonnummer für Terminvereinbarungen mit einer Unterstreichung (hier zwei sich kreuzende Striche) deutlich gemacht. Zudem wird eine Reihe von Namen jeweils mit Spiegelstrichen (unten rechts) ergänzt (in Abb. 8 jeweils mit 2 gekennzeichnet). Damit stellt sich nun heraus, dass der Handlungsprozess nicht reibungslos verlaufen ist, sondern offensichtlich einige Bewohner: innen nicht angetroffen werden konnten. Dies wird dadurch deutlich, dass die für die Durchführung der Arbeiten relevante Information ( „ in Ihren Wohnungen “ ) mehrfach unterstrichen wird. In der konkreten materialen Ausführung wird so wohl auch der Unmut der/ des Schornsteinfeger: in über den Verlauf des Handlungsprozesses lesbar. Gleichzeitig wird der Handlungsprozess nun in seinem weiteren Durchlauf an die nun aktuelle Situation angepasst. Diese neue Situation erfordert einen neuen Termin, der wiederum aufgrund der raum-zeitlichen Trennung der Beteiligten schriftlich auf dem Zettel fixiert wird. Auch werden die (noch) am Handlungsprozess beteiligten (also die nicht angetroffenen) Bewohner: innen nun einzeln namentlich erwähnt. Nur für diese ist der Text noch relevant. Im nächsten Schritt des Handlungsprozesses schaltet sich sodann eine weitere Beteiligte in den Handlungsprozess ein, die bisher nicht beteiligt und nicht adressiert war: die Hausverwaltung. Dadurch, dass der Text sozi- Zeitlichkeit beim Handeln mit Texten 53 <?page no="54"?> alräumlich in oder an einem Wohnhaus angebracht ist, wird er für alle Personen lesbar, die sich in diesem Raum bewegen. Insofern können all diese Personen von dem Handlungsprozess Kenntnis nehmen und sich potenziell daran beteiligen. Die Hausverwaltung erkennt nun hier die erforderlichen nächsten Handlungsschritte (das Aufschließen der Wohnungen) sowie die im Prozess bereits aufgetretenen Probleme. Da die Hausverwaltung zu diesem Handlungsprozess etwas beitragen kann, ergänzt sie nun ihrerseits eine Handlung in diesem Prozess, die Ankündigung aufzuschließen (auf dem Aushang unten). Mit der geschweiften Klammer neben den Namen der betroffenen Bewohner: innen macht sie lesbar, dass sie stellvertretend für alle dem Appell nachkommt, die Arbeiten des/ der Schornsteinfeger: in zu ermöglichen. Dies bekräftigt die Verwaltung zusätzlich mit der Ergänzung „ Verwalt. kommt “ , die sie direkt neben dem Termin platziert und damit den Bezug dazu herstellt (in Abb. 8 jeweils mit 3 gekennzeichnet). Für den Zusammenhang von Zeitlichkeit und Text ist hier relevant, dass verschiedene (Teil-)Handlungen des Handlungsprozesses zu verschiedenen Zeitpunkten innerhalb des Textes von den Beteiligten realisiert werden und sich der Text so im Handlungsprozess selbst verändert und weiterentwickelt. Aus Perspektive des Textes wird er resemiotisiert (Pappert 2017), aus Perspektive des Handlungsprozesses werden nach und nach verschiedene (Teil-) Handlungen auf demselben Trägersubstrat lesbar gemacht (Pick und Scarvaglieri 2021). In diesem Sinne könnte man in solchen Fällen von einer ‚ Repragmatisierung ‘ der Texte sprechen, da auf ihnen verschiedene, zunächst nicht vorgesehene Handlungen vollzogen werden (vgl. Scarvaglieri und Luginbühl 2023 für Abstimmungsplakate). Ähnliche Beispiele sind etwa Notizzettel mit Aufgaben, die nach Erledigung gestrichen werden oder die durch erst später anfallende Aufgaben ergänzt werden. Dies gilt sogar zum Teil auch für computerschriftliche Notizzettel oder Apps, die das Erledigen einer Aufgabe ebenfalls durch Streichen oder Haken anzeigen, obwohl ein Löschen technisch möglich wäre. Weitere Beispiele sind Formulare, die nach und nach ausgefüllt werden oder Akten, die mit der Zeit um neue Einträge ergänzt werden (z. B. Patientenakten bei/ nach jeder Behandlung). An diesem Beispiel lässt sich ebenfalls handlungsanalytisch Textsortenwandel nachverfolgen, der hier (anders als in den Beispielen in Abschnitt 2.2 durch sich verändernde Medialitäten) durch Optimierung der Durchführung der Handlungsprozesse auf sprachlich-kommunikativer Ebene bedingt ist. Vergleicht man die Ankündigung von 2017 mit einer Ankündigung derselben Schornsteinfeger: in aus dem Jahr 2023, fällt auf, dass sie sich an einigen Stellen verändert hat (Abb. 9). 54 Ina Pick & Claudio Scarvaglieri <?page no="55"?> Abb. 9: Schornsteinfegung 2023 (Foto: Ina Pick) Wir sehen in Abbildung 9 die Ankündigung zum ersten Zeitpunkt im Handlungsprozess. Hier werden nun einerseits die Adresse der Liegenschaft und der Termin computerschriftlich eingetragen und ausgedruckt, zudem ist die Uhrzeit in relativ großer Schriftgröße dargestellt. Andererseits - und das scheint Ergebnis des problematischen Verlaufs des Handlungsprozesses 2017 (und vermutlich weiterer problematischer Verläufe dieser Art) - ist nun auch in Form von Appellen expliziert, welchen Anteil die Bewohner: innen am Handlungsprozess übernehmen sollen ( „ Ermöglichen Sie bitte den Zutritt zu sämtlichen Räumen “ ). Diese Aufforderungen waren im Aushang von 2017, wie oben diskutiert, zuvor nicht expliziert und auch typografisch in ihrer Relevanz vergleichsweise zurückgestuft versprachlicht. Da es sich aber bei den Tätigkeiten der Bewohner: innen um für die Durchführung des gesamten Handlungsprozesses wesentliche Teilhandlungen handelt, die durchgeführt werden müssen, damit der Gesamtprozess durchlaufen werden kann, wurde hier von Zeitlichkeit beim Handeln mit Texten 55 <?page no="56"?> dem/ der Schornsteinfeger: in offenbar Optimierungsbedarf gesehen und die Appelle wurden nun expliziert. Daher finden sich nun unter jeder der genannten Aufgaben, die durchgeführt werden sollen, Hinweise darauf, welcher Anteil am Handlungsprozess jeweils von den Bewohner: innen übernommen werden soll. Weiter unten ist nun auch der Hinweis darauf, dass die Arbeiten in den Wohnungen durchgeführt werden, fett gedruckt. Dies wurde erweitert durch die Bitte um das Aufschließen auch von Kellern und Dachböden. Dass die verschiedenen Teilhandlungen, die von den Bewohner: innen verlangt werden, für jede der Arbeiten unterschiedliche sind, zeigt, dass es sich um eine relativ komplexe Gesamthandlung handelt. Insgesamt weist die aktuelle Version der Ankündigung wesentlich mehr konkrete und explizite Aufforderungen auf und verleiht damit nun auch dem Aufschließen (und nicht nur dem Terminvereinbaren) eine hohe Relevanz für das Durchführen des gesamten Handlungsprozesses. Damit zeigen sich also in der aktuellen Form der Ankündigung deutlich die Spuren der Probleme, die bei Verwendung der früheren Textversion aufgetreten sind, und die nun durch explizitere sprachliche Ausdrücke vermieden werden sollen. Dies wird besonders gut deutlich, wenn man Texte in ihrer Verwendung und als Teil ihrer Handlungsprozesse analysiert. Aus einer handlungsanalytischen Perspektive lassen sich also verschiedene Gründe für Textsortenwandel rekonstruieren (Wandel der Medialität, Optimierung des Handlungsprozesses), die in ihrem Zusammenspiel u. E. noch genauerer und systematischerer Analyse bedürfen. 2.4 Mehrere zeitlich aufeinanderfolgende Texte in einem Handlungsprozess Betrachtet man Zeitlichkeit von Texten von ihrem Handlungsprozess aus, so wie wir das hier an verschiedenen Beispielen expliziert haben, fallen auch Texte darunter, die in einem Handlungszusammenhang systematisch nacheinander realisiert werden. Aus einer handlungsanalytischen Perspektive lassen sich etwa Todesanzeigen und darauffolgende Kondolenzbekundungen sowie Dankesbriefe oder -anzeigen in einen solchen Zusammenhang bringen. Solche Texte realisieren jeweils verschiedene Handlungen eines Handlungsprozesses. Hier werden hochgradig konventionalisierte Handlungsprozesse und ebenso konventionalisierte Teilhandlungen Handlungsschritt für -schritt vollzogen und jeweils nacheinander anhand mehrerer aufeinander folgender Texte realisiert (s. zur genaueren Analyse von Todesanzeigen Pick und Scarvaglieri 2021). Die medialen Formen können dabei jeweils variieren (Todesanzeige als Zeitungsanzeige oder Onlineanzeige oder mündlich als Telefonanruf, vgl. Kap. 2.2). 56 Ina Pick & Claudio Scarvaglieri <?page no="57"?> Die genannten Zusammenhänge verschiedener Handlungen, die in einem Handlungszusammenhang nacheinander mit verschiedenen Texten realisiert werden, lassen sich an einer Einladung zu einem Kindergeburtstag und der Antwort darauf verdeutlichen (Abb. 10a+b). Abb. 10a+b: Einladung und Antwort (Fotos: Claudio Scarvaglieri) In diesem Einladungszusammenhang wird zunächst die Einladung als Papierkarte vom Einladenden an die Eingeladene überreicht. Schriftlich sind hier alle wesentlichen Eckdaten integriert (Zeit, Ort, geplante Aktivitäten und weitere Hinweise). Der Einladung folgt im Handlungsprozess nicht nur das Erscheinen am genannten Termin, sondern es ist eine Annahme der Einladung zwischengeschaltet, wie im Beispiel ersichtlich wird. Eine Annahme (bzw. Ablehnung) wird bereits auf der Einladung selbst als Folgehandlung eingefordert, dazu wird auch der entsprechende Kontakt mit angegeben (Name und Telefonnummer). Die Antwort erfolgt per Textnachricht mit einer Anrede der auf der Einladung angegebenen Person, einem Dank und der Annahme. Da es sich hier um einen Kindergeburtstag handelt, kommunizieren nicht Einladender und Eingeladene selbst miteinander, sondern deren Mütter/ Väter. Die Annahme der Einladung wird sodann von der einladenden Person mit einer weiteren daran anschließenden Nachricht ratifiziert und rückbestätigt. Hier entfaltet sich also der Handlungszusammenhang der Einladung zu einer Geburtstagsfeier zeitlich nacheinander anhand mehrerer aufeinander folgender Texte. Solche Zusammenhänge von Texten in einer zeitlichen Abfolge sind in der textlinguistischen Literatur vielfach untersucht und mit je etwas unterschiedlichem Fokus unter Begriffen wie Textsortenverkettungen oder -vernetzungen (Adamzik 2016: Kap. 8.2; Jakobs 2011; ähnlich auch Eraßme et al. 2017), Zeitlichkeit beim Handeln mit Texten 57 <?page no="58"?> Textsorten-Intertextualität (Klein 2000), Textsorten-in-Vernetzung (Janich 2008: 193 ff.) oder genre ecologies (u. a. Spinuzzi und Zachry 2000; Wall und Spinuzi 2018) beschrieben worden. Wir möchten diese Perspektive um eine handlungsanalytische ergänzen, die die Beziehungen zwischen Texten entlang eines Handlungsprozesses verortet. Eine solche Perspektive bedeutet, dass man analytisch erkennen kann, welche Texte in einem Handlungszusammenhang aufeinander bezogen realisiert werden und welchen Status im Handlungsprozess sie jeweils haben. So sind nicht etwa alle Texte, die an einem Ort oder im Tagesablauf einer Person vorkommen, innerhalb eines Handlungsprozesses aufeinander bezogen, wenngleich sie als Textsortennetze oder genre ecologies in einem Verhältnis zueinander stehen (z. B. müssen verschiedene Texte in einem Spital, mit denen Pflegekräfte oder Ärzt: innen in ihrem Tagesablauf in Berührung kommen, nicht unbedingt alle in denselben Handlungsprozess eingebunden sein). Ähnliches gilt auch für Hypertexte, die manchmal als Textsortennetze beschrieben werden, da ein wesentliches Merkmal von Hypertexten ihre nicht-lineare Vernetzung ist (s. bereits Storrer 2000). Aus einer handlungsanalytischen Perspektive steht hingegen nicht die Vernetztheit von Texten per se im Zentrum des Interesses, sondern es geht vielmehr darum, analytisch genau herauszuarbeiten, wie Texte entlang von Handlungsprozessen vernetzt bzw. verkettet werden. Die Analysen sollten also aus einer solchen Perspektive an den Handlungsprozessen ansetzen, um diejenigen Texte zu bestimmen, die dabei jeweils eine Rolle spielen. Für alltägliche und konventionalisierte Textabfolgen (die oben bereits erwähnte Todesanzeige und ihre Handlungsfolgen, aber auch Einladungsschreiben mit Annahmen und Dank oder Stellenausschreibungen mit Bewerbungsverfahren) sind solche Handlungsprozesse vergleichsweise einfach zu erkennen. Komplexer werden dagegen die Zusammenhänge von institutionellen Handlungsabläufen und deren textuellen Handlungsbestandteilen (z. B. Gerichtsverfahren, Soziale Fallakten und die sich daraus ergebenden Gespräche und etwaigen Maßnahmen). Aus unserer Sicht können Textanalysen wesentlich bereichert werden, wenn man solche Handlungsanalysen, wie wir sie hier vorschlagen, auf bisher etablierte textlinguistische Beschreibungskategorien, die weniger vom Handeln und stärker vom Text(exemplar) ausgehen, bezieht und beide Perspektiven kombiniert. 3 Zusammenfassung und Ausblick Wir haben in diesem Beitrag empirisch die Rolle von Zeitlichkeit bei der Textkonstitution und der Textanalyse untersucht. Dabei haben wir aus einer 58 Ina Pick & Claudio Scarvaglieri <?page no="59"?> theoretischen Perspektive dafür plädiert, dass Texte Zeitlichkeit aus den Handlungsprozessen gewinnen, in denen sie jeweils (Teil-)Handlungen übernehmen. In dieser Hinsicht betrachten wir mit einem handlungsanalytischen Zugriff Texte vom Handlungsprozess aus, in dem sie jeweils situiert sind. Wir rekonstruieren Zeitlichkeit als Phänomen, das nicht nur auf einen Text selbst bezogen ist, sondern das vor allem in und durch den jeweiligen Handlungsprozess entsteht. Dabei haben wir den Zusammenhang von Zeitlichkeit und Textkonstitution phänomenologisch betrachtet und gezeigt, dass Zeitlichkeit in verschiedenen Weisen für die Textkonstitution relevant werden kann: Zeitlichkeit ist bereits ein wesentliches Kriterium, weil Texte (in einem prototypischen Verständnis) auf Überdauerung und Überlieferung ausgerichtet sind. Dabei spielen Handlungsprozesse eine Rolle, die zeitlich und räumlich zerdehnt sind (Ehlich 1983). Weiter kann Zeitlichkeit relevant werden, wenn sich der Handlungsprozess um die Texte herum verändert (Kap. 2.1). Dann können Texte entweder ihre Gültigkeit im Handlungsprozess verlieren (z. B. Warnhinweise, abgedeckte Schilder) oder für bestimmte Handlungen unter bestimmten Gegebenheiten Gültigkeit gewinnen (z. B. aufleuchtende Verkehrsschilder). Ein weiterer Fall von Zeitlichkeit liegt vor, wenn sich Texte und Medien im Laufe der Zeit verändern, Handlungsprozesse aber weitgehend konstant bleiben (z. B. Wandel von Briefen zu Emails oder Papierformularen zu Apps) oder aber, wenn Texte bzw. deren Trägersubstrate bereits auf Dauerhaftigkeit angelegt sind (z. B. bei Grabsteinen) (Kap. 2.2). Eine zusätzliche Beziehung von Text und Zeitlichkeit ist zu erkennen, wenn sich Texte mit dem und im Handlungsprozess verändern, wenn Texte also an mehreren Punkten eines Handlungsprozesses relevant werden und dann jeweils verändert werden (z. B. Wahlplakatbusting, Notizzettel/ -apps, Ankündigungen von Schornsteinfegearbeiten) (Kap. 2.3). Zuletzt können auch mehrere zeitlich und kommunikativ aufeinanderfolgende Texte in einen Handlungsprozess eingebunden sein (Stellenausschreibungen und Bewerbungen, Gesetzgebungsverfahren etc.) (Kap. 2.4). Mit einer solchen handlungsanalytischen Perspektive betrachten wir Texte nicht nur als Exemplare (oder Sorten) und beschreiben deren Wandel (Stichwort: Textsortenwandel), Beziehungen (Stichworte: Intertextualität, Textsortennetze) oder semiotische Veränderungen (Stichwort: Resemiotisierung), wie das traditionell in der Textlinguistik der Fall war bzw. ist, sondern suchen einen handlungsanalytischen Zugang zu diesen Phänomenen. Wir beschreiben Texte daher als Teile von bestimmten Handlungsprozessen. Handlungsprozesse verstehen wir dabei sowohl sozialräumlich als auch zeitlich-interaktional situiert (Pick und Scarvaglieri 2021), Texte sind darin jeweils eingebunden und übernehmen bestimmte (Teil-)Handlungen. Wir gehen davon aus, dass Zeitlichkeit beim Handeln mit Texten 59 <?page no="60"?> Texte Zeitlichkeit durch ihre Position im Handlungsprozess gewinnen. Zu klären, welche Handlungen mit einem Text jeweils vollzogen werden, ist eine rekonstruktive und analytische Aufgabe. Zeitlichkeit verstehen wir damit nicht nur als an die Texte selbst gebunden, sondern untersuchen sie vom Handlungsprozess aus, wie wir analytisch an verschiedenen Beispielen gezeigt haben. Insofern ist auch die Analyse von Zeitlichkeit eine rekonstruktive Aufgabe. Dabei können sowohl die Produktionsbedingungen und -zeitpunkte lesbar sein (z. B. Entstehungsgeschwindigkeit, erwartete Gültigkeitsdauer von Handlungen) als auch die Rezeptionsbedingungen (kontextuelle Lesbarkeitsquellen sensu Hausendorf et al. 2017) analytische Ressourcen darstellen. Beide geben neben dem Textkommunikat selbst Hinweise auf den Handlungszusammenhang, dessen Teil ein Text ist, sowie auf die je spezifische (Teil-)Handlung und Funktion, die mit dem Text von den Beteiligten vollzogen wird. Mit einer solchen analytischen Perspektive verbinden wir den Anspruch, einerseits sprachlich-kommunikative Handlungsprozesse zu rekonstruieren und andererseits die Rolle von Texten und damit auch die Textkonstitution durch ihre Situiertheit im Handeln zu erklären. Dies bietet eine Perspektive auf Text und Textualität, die, wie in unseren Analysen gezeigt, verschiedene traditionelle Konzepte integrieren und sie aus einer neuen Perspektive betrachten kann. Eine solche Perspektive erlaubt es auch, die je spezifische Medialität (z. B. Trägersubstrat auf Überdauerung angelegt, Papiergröße, typografische Gestaltung) analytisch zu integrieren, weil so systematisch die Interdependenzen der Handlungsprozesse und ihrer Medialitäten adäquater interpretiert werden können (z. B. wenn Texte auf Überdauerung oder Beweglichkeit angelegt oder wenn sie an einem bestimmten Ort angebracht sind). Zudem erlaubt eine solche Perspektive, wie wir sie hier aufgezeigt haben, Beziehungen zwischen verschiedenen Texten sowie den Wandel von Texten nicht nur zu beschreiben, sondern bietet auch Erklärungsansätze, die Ursachen für Textsortenwandel oder die spezifischen Beziehungen, die Texte miteinander eingehen, zu ergründen. U. E. sind diese Ursachen in den jeweiligen Handlungsprozessen zu suchen, in denen die Texte situiert sind, und auf die jeweiligen Handlungserfordernisse (inklusive Wandel oder Konstanz) zurückzuführen. Eine solche Perspektive überwindet also eine Betrachtung, die ausschließlich am Text selbst ausgerichtet ist, und versteht Text grundlegend als in einem Handlungszusammenhang situiert. Damit würde sich als künftige Analyseperspektive auch umgekehrt die Frage danach stellen lassen, inwiefern man mit Texten und deren Gestaltung und Verwendung (versteht man sie wie wir hier als Teil von Handlungsprozessen) wiederum auf Handlungsprozesse einwirken kann, also sozialen Wandel (mit-) induzieren kann. Wir sehen hier Potenzial für Analysen, die einerseits Fragen 60 Ina Pick & Claudio Scarvaglieri <?page no="61"?> danach bearbeiten können, inwiefern sich neue Verwendungsweisen von Texten (z. B. Proteste mit leeren Blättern) auf die sie umgebenden Handlungsprozesse auswirken und damit auch Sozialität und Gesellschaft allgemein verändern. Andererseits wäre mit einer ähnlichen analytischen Perspektive auch zu fragen, wie sich vergleichbare Handlungsprozesse unterscheiden, in denen Teilhandlungen jeweils in unterschiedlichen Medialitäten realisiert werden. Dabei wäre ebenfalls die Frage zu bearbeiten, welche Einflüsse die Medialitäten jeweils auf die Handlungsprozesse haben. All dies wäre anhand empirischer Daten analytisch und rekonstruktiv zu beantworten. Eine handlungsanalytische Perspektive auf Texte bietet dafür theoretisch und methodisch einen sehr guten Ausgangspunkt. Literatur Adamzik, Kirsten (2016). Textlinguistik. Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. Berlin: de Gruyter. Beißwenger, Michael (2020). Internetbasierte Kommunikation als Textformen-basierte Interaktion: Ein neuer Vorschlag zu einem alten Problem. In: Marx, Konstanze/ Lobin, Henning/ Schmidt, Axel (Hrsg.). Deutsch in Sozialen Medien. Interaktiv - multimodal - vielfältig. Berlin, Boston: de Gruyter, 291 - 317. Blommaert, Jan/ Maly, Ico (2014). Ethnographic linguistic landscape analysis and social change: A case study. Tilburg: Tilburg Papers in Culture Studies. Ehlich, Konrad (1983). Text und sprachliches Handeln: Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung. In: Assmann, Aleida/ Assmann, Jan/ Hardmeier, Christof (Hrsg.). 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Anhand von Textbeispielen aus der Debatte um den Einsatz von Neonicotinoiden (einer Klasse von Pestiziden) zeige ich auf, wie anhand des Modells Einsichten in temporale Bedeutungsbedeutungsaspekte gewonnen werden können, die mit relevanten Fragestellungen der Angewandten Linguistik in Verbindung gebracht werden können - in diesem Fall der Frage nach der rhetorischen Wirkung. 1 Vorbemerkungen Ich möchte in diesem Aufsatz ein einfaches und handhabbares Modell zeitlicher Dimensionen der Textbedeutung für linguistische Textanalysen vorschlagen. Einfach in dem Sinne, dass es auf überschaubaren Vorannahmen beruht und in vielerlei Hinsicht erweitert und spezifiziert werden kann und soll. Handhabbar, weil es deshalb für verschiedene Zwecke der Angewandten Textlinguistik genutzt und mit bestehenden Modellvorstellungen relativ zu verschiedenen analytischen Zielen in Verbindung gebracht werden kann. Mein Ziel ist es nicht, eine Theorie der Temporalität für die Textsemantik o. ä. zu entwickeln, sondern eine Heuristik für die analytische Praxis, die Forschenden relevante zeitliche Bedeutungsaspekte beim Textverstehen (hermeneutisch) zugänglich machen kann. Es geht mir in diesem Aufsatz demnach um zeitliche Aspekte der <?page no="64"?> Textbedeutung, nicht um den Zusammenhang von Zeitlichkeit und Text im Allgemeinen. 2 Das Modell Zeitlichkeit ist ein relationales Phänomen und beruht auf dem (wahrgenommenen) Verhältnis von Ereignissen und Zuständen von Dingen, Personen und Sachverhalten relativ zu verschiedenen Situationen. Diesem Grundgedanken folgend, beruht das hier vorgeschlagene Modell zeitlicher Bedeutungsdimensionen von Texten auf Relationen von drei verschiedenen Situationstypen, die im Prozess der Bedeutungskonstitution beim Textverstehen zusammenspielen: • Der Rezeptionssituation, in welcher sich ein/ e Textrezipient: in befindet, die einen Text liest oder hört, • dem Kontextmodell, d. h. der abstrakten Repräsentation der Kommunikationssituation, das sich ein/ e Rezipient: in anhand textueller Hinweise erschließt, sowie • der Textwelt, d. h. der Repräsentation der Situation(en), in die die vom Text dargestellten Gegenstände und Sachverhalte eingebettet sind. Ich möchte zunächst das Zusammenspiel dieser drei Situationstypen bei der Bedeutungskonstitution kurz skizzieren, bevor ich auf die zeitlichen Relationen eingehe, die sich aus diesem Zusammenspiel ergeben. 2.1 Bedeutungskonstitution im Textverstehen als Zusammenspiel dreier Situationstypen Wenn man nach zeitlichen Dimensionen der Textbedeutung fragt, benötigt man eine Vorstellung davon, was Textbedeutung eigentlich sei bzw. wie Textbedeutung in der Textkommunikation entsteht. Ich folge in diesem Aufsatz der textlinguistisch (wie auch allgemein geisteswissenschaftlich) breit akzeptierten Annahme, dass Bedeutung (oder Sinn) nicht etwas dem Text Inhärentes ist, sondern etwas, das sich immer wieder neu im Prozess der Textkommunikation konstituiert, wenn ein/ e Rezipient: in sich die Bedeutung eines Textes erschließt (vgl. Gardt 2013: 34). Situationstyp 1: Die Rezeptionssituation Aus dieser Grundannahme wird unmittelbar einsichtig, dass als erster zu berücksichtigender Situationstyp die Rezeptionssituation, in der sich ein/ e 64 Niklas Simon <?page no="65"?> Rezipient: in beim Lesen oder Hören eines Textes befindet, ein wesentlicher Einflussfaktor für die Konstitution der Textbedeutung darstellt. Dies betrifft gerade auch den hier interessierenden Aspekt der Zeitlichkeit: Wie Hausendorf et al. (2017: 373 f.) hervorheben, ist der eigentliche Zeitpunkt der Textkommunikation die Lektüre eines Textes durch eine Leserin. Ein Merkmal der Kommunikation durch Texte ist dabei ihre Wiederholbarkeit bzw. Re-Aktualisierbarkeit (vgl. Adamzik 2016: 88). Dies macht klar, dass die sich immer wieder neu vollziehende Re-Konstruktion der Textbedeutung in Prozessen des Textverstehens immer auch relativ zur zeitlichen Verortung der Rezeptionssituation betrachtet werden muss. Die Rezeptionssituation kann differenziert aufgefasst werden - so unterscheidet etwa Busse (2015: 312 f.) die äußere/ materielle und die innere/ nicht-materielle Situation, wobei letzteres die epistemische Verfasstheit der Rezipientin zum Zeitpunkt der Rezeption bzw. während der Rezeption meint. Bei der analytischen Betrachtung der Rezeptionssituation können demnach objektiv-materielle Aspekte untersucht werden (in zeitlicher Hinsicht etwa der konkrete Rezeptionszeitpunkt/ -raum oder die Rezeptionsdauer) sowie subjektiv-epistemische Aspekte (in zeitlicher Hinsicht bspw. Wissensannahmen relativ zum aktuellen Rezeptionsstand, s. u.). Einschub: Zwei dominante Aspekte der Textbedeutung Neben der Rezeptionssituation, die gewissermaßen den Ausgangspunkt der Bedeutungskonstitution darstellt, spielen zwei weitere Situationstypen in die Bedeutungskonstitution hinein. Allerdings beziehen sich diese beiden Situationstypen nicht auf die situativen Umstände der Bedeutungsrekonstruktion, sondern auf die rekonstruierte Textbedeutung selbst. Um diesen Aspekt nachzuvollziehen, hilft es, sich vor Augen zu führen, dass bei der im Verstehensprozess erschlossenen Textbedeutung grundsätzlich zwischen zwei miteinander verbundenen übergeordneten Bedeutungsaspekten unterschieden werden kann, die von Polenz (2008: 101) als „ Handlungsgehalt “ und „ Aussagegehalt “ bezeichnet (vgl. auch Heinemann und Viehweger 1991: 123). Beide Bedeutungsaspekte lassen sich als eingebettet in abstrakt repräsentierte Situationen begreifen, wie ich im Folgenden kurz ausführen möchte. Situationstyp 2: Das Kontextmodell Der Handlungsgehalt bezieht sich darauf, dass ein/ e Textproduzent: in durch den Text eine an eine bestimmte Leserschaft adressierte kommunikative Handlung vollzieht, die in der Textlinguistik u. a. mit dem Begriff der Textfunktion erfasst wird (vgl. Brinker et al. 2018: 97 - 101). Wichtig für das hier Zeitliche Dimensionen der Textbedeutung 65 <?page no="66"?> entwickelte Modell ist, dass sich solche Texthandlungen immer nur relativ zu kommunikativen Situationen verstehen lassen, innerhalb derer sie sich vollziehen. Heinemann und Viehweger (1991: 115) stellen fest, dass ein/ e Rezipient: in beim Textverstehen „ zunächst ein Modell der Handlungssituation sowie der Handlungsbeteiligten “ konstruiere. Dabei werden die wahrgenommenen Situationen von einer Rezipientin unbewusst Situationsschemata zugeordnet, die bspw. durch die Textsorte bedingt sind (vgl. Spieß 2011: 149 - 153). Van Dijk (1980: 69) bezeichnet eine solche abstrakte Repräsentation der Kommunikationssituation als „ Kontext “ . Aus der hier vertretenen Perspektive sind solche Kontexte - wie auch in der interaktionalen Soziolinguistik (vgl. bspw. grundlegend Auer 1986) - Rekonstruktionsprodukte und somit Verstehensleistungen. Die Verwendung des Begriffs (situativer) Kontext innerhalb der Textlinguistik weicht von diesem Verständnis in Teilen ab. So unterscheidet bspw. Adamzik (2016: 114) nicht immer trennscharf zwischen der abstrakten Repräsentation eines rekonstruierten Kontexts und den tatsächlichen materiellen Umständen von Textproduzent und Rezipientin (also der Produktions- und der Rezeptionssituation) und den „ Situationseinschätzungen “ (ebd.), die diese darin vornehmen 1 . Ich werde deshalb hier zur besseren Abgrenzung den Begriff Kontextmodell verwenden. Solche Kontextmodelle beinhalten neben den Texthandlungen abstrakte Repräsentationen von Autor: in und Leser: in, deren Interaktionsrollen und soziale Beziehungen sowie (damit verbundene) Annahmen über Kommunikationsbereiche bzw. Domänen (vgl. Brinker et al. 2018; Adamzik 2016; van Dijk 1980). Versteht man Texte zudem als Diskurshandlungen (Spieß 2011), kann auch das Wissen um Diskurse Bestandteil des Kontextmodells sein. Situationstyp 3: Die Textwelt Der zweite wesentliche Bestandteil der Textbedeutung bezieht sich auf deren Aussagegehalt, der auch als darstellender oder propositionaler 2 Bedeutungsaspekt bezeichnet werden kann - also auf die Tatsache, dass bei der Text- 1 Hierin zeigt sich evtl. eine gewisse Problematik im textlinguistischen Umgang mit den Begriffen Kontext und Situation. So beruhen viele Diskussionen in diesem Zusammenhang auf der Analyse von Gesprächssituationen (vgl. z. B. de Beaugrande und Dressler 1980: 169 ff. zur Situationalität oder Heinemann und Heinemann 2002: 129 zur Situierung). 2 Ich gebrauche propositional hier im Sinne der Sprechakttheorie als Abgrenzungsbegriff zu funktional oder illokutionär und somit nicht im Sinne der psycholinguistischen Textverstehensforschung, die damit eine bestimmte mentale Repräsentationsebene der Textbedeutung meint (vgl. Johnson-Laird 1983: 156; Schnotz 2006: 225). 66 Niklas Simon <?page no="67"?> kommunikation (über) etwas informiert, geklagt, gedroht usw. wird. Es werden also Dinge und Sachverhalte dargestellt (im Bühler ’ schen Sinne), die sich vielfach ebenfalls nicht (unmittelbar) auf die Wirklichkeit beziehen, sondern auf abstrakte Repräsentationen davon. Diese Repräsentation wird innerhalb der Textlinguistik häufig als Textwelt(-modell) bezeichnet 3 (vgl. de Beaugrande und Dressler 1981: 88; Schwarz 2001: 18; Schwarz-Friesel 2004: 85, 2007: 36; Werth 1999: 86). Auch Textwelten repräsentieren Situationen (vgl. Werth 1999: 81). Sie können dabei unterschiedlich konkret und komplex sein: Die Textwelt einer Erlebniserzählung umfasst unter Umständen eine Vielzahl sehr konkreter (das heißt auch zeitlich und räumlich spezifizierter) Situationen (inklusive Orten, Lebewesen, Objekten, Ereignissen usw.), während die Textwelt einer Bedienungsanleitung eine abstrakte, eventuell zeitlich und räumlich weitestgehend unbestimmte Situation darstellt. Zusammenspiel der Situationstypen und Bedeutungskonstitution Diese drei Situationstypen - tatsächliche Rezeptionssituation, abstrakte Repräsentation der Kommunikationssituation (Kontextmodell) und Situationsmodell der dargestellten Gegenstände und Sachverhalte (Textwelt) - spielen bei der Konstitution der Textbedeutung zusammen. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Ein/ e Rezipient: in erschließt sich in einer tatsächlichen Rezeptionssituation (Situationstyp 1) ein Kontextmodell (Situationstyp 2), in dem über/ von eine/ -r Textwelt (Situationstyp 3) informiert/ gewarnt/ geschwärmt o. ä. wird. Das Verhältnis dieser drei Situationstypen zueinander ist dabei ganz wesentlich für die Konstitution der Textbedeutung. So kann ein/ e Rezipient: in bspw. zu der Feststellung gelangen, dass der rekonstruierbare Kontext des Textes unmittelbar mit seiner/ ihrer wahrgenommenen Rezeptionssituation übereinstimmt und sich dementsprechend vom Text angesprochen fühlen - genauso gut allerdings könnte auch das Gegenteil der Fall sein und der/ die im rekonstruierbaren Kontext adressierte Leser: in vom Selbstbild der Rezipientin deutlich abweichen (siehe hierzu die Beispiele am Ende des nachfolgenden Abschnitts 2.2). Das hier vorgeschlagene Modell des Zusammenspiels der drei relevanten Situationstypen in der Text-Bedeutungskonstitution lässt sich mit Annahmen aus der psycholinguistischen bzw. kognitiven Textverstehensforschung in Verbindung bringen. Hier wird vielfach davon ausgegangen, dass es im Prozess des Textverstehens zur mentalen Repräsentation der Textbedeutung auf ver- 3 Im Kontext sog. signifikativer (vs. denotativer) Semantiken spricht Ágel (2019: 282) von der Darstellung von Szenarios, womit er „ einzelsprachlich perspektivierte Sachverhalte “ meint. Zeitliche Dimensionen der Textbedeutung 67 <?page no="68"?> schiedenen Ebenen kommt (vgl. Schnotz 2006: 225 f.; Schwarz 2000: 40 - 46). Insbesondere ist hier die Repräsentation des darstellungsbezogenen Bedeutungsaspektes in Form eines mentalen Modells beachtet worden, das manchmal auch als situation model (van Dijk und Kintsch 1983) bezeichnet wird. Vernachlässigt wird dabei meist die Frage nach der mentalen Repräsentation des handlungsbezogenen Bedeutungsaspektes, den van Dijk (1997, 2001) als mentales context model beschreibt. 2.2 Zeitliche Relationen innerhalb und zwischen den drei Situationstypen des Modells Das systematische Zusammenspiel von Rezeptionssituation, Kontextmodell und Textwelt bei der Bedeutungskonstitution ist nach meiner Kenntnis textlinguistisch bislang eher wenig berücksichtigt. Ich werde im folgenden Abschnitt versuchen aufzuzeigen, dass eine Berücksichtigung dieses Zusammenspiels gerade für die Analyse zeitlicher Bedeutungsaspekte sehr gewinnbringend sein kann. Der hauptsächliche Gewinn liegt aus meiner Sicht darin, dass die Zergliederung des Modells in drei Situationstypen es erlaubt, Relationen sichtbar zu machen, die analytisch im Hinblick auf Temporalität genauer in den Blick genommen werden können. Das Modell ist in Abbildung 1 dargestellt. Abb. 1: Das Modell der drei Situationstypen und ihrer internen und externen zeitlichen Relationen 68 Niklas Simon <?page no="69"?> Die drei Kästen in der Abbildung repräsentieren die im letzten Abschnitt eingeführten Situationstypen: Rezeptionssituation, Kontextmodell und Textwelt. Der gestrichelte Kasten um Kontextmodell und Textwelt soll verdeutlichen, dass es sich bei diesen beiden um abstrakte Rekonstruktionen einer Textrezipientin handelt, die von einer Textanalytikerin als textsemantische Potentiale rekonstruiert werden können. Die gestrichelten Pfeile stehen für die internen zeitlichen Relationen bzw. Strukturen der jeweiligen Situationstypen sowie die externen Relationen zwischen ihnen. Ich werde diese Relationen im Folgenden kurz einzeln besprechen und anschließend ihr Zusammenspiel bei der Bedeutungskonstitution am Beispiel einer Email illustrieren. Zeitliche Relationen zwischen Textwelt und Kontextmodell Viele linguistische Befunde und Konzepte zu temporalen Bedeutungsaspekten lassen sich im Sinne des hier vertretenen Modells auf das Verhältnis von Textwelt und Kontextmodell beziehen. In den Begriffen der Grammatikforschung betrifft dies die Relation von Sprechzeit, nach dem hier vertretenen Modell ist dies die zeitliche Situierung des Kontextmodells, und der Ereigniszeit, d. h. der zeitlichen Situierung von Ereignissen und Zuständen in der Textwelt bzw. einem Textweltabschnitt (vgl. Ballweg 1998: 44). Um Textweltereignisse zeitlich mit dem Kontextmodell in Verbindung zu setzen, stehen im Deutschen eine Reihe ‚ klassischer ‘ temporaler Deiktika zur Verfügung. Blühdorn (1994: 57) unterscheidet dabei Nahdeiktika (jetzt, nun, gerade, heute usw.) und Ferndeiktika (damals, dereinst usw.). Diese Unterscheidung (sowie die damit einhergehende Benennung) weist darauf hin, dass das zeitliche Verhältnis von Textwelt(-abschnitten) und Kontextmodell sich durch unterschiedliche Grade von temporaler Distanz 4 auszeichnet. Diesen Aspekt werde ich in den Beispielanalysen in Kapitel 3 aufgreifen. Die Verwendung von Temporaldeiktika zeigt an, dass die Textwelt relativ zum Kontextmodell zeitlich perspektiviert wird. Diese Funktion kann auch von bestimmten Tempusformen wie etwa dem Präteritum erfüllt werden. In den Begriffen der v. a. auf Tempusformen bezogenen Grammatikforschung kann davon gesprochen werden, dass die Zeit des Kontextmodells (die Sprecherzeit) als zeitlicher Interpretationskontext bzw. Beobachterzeit für die Zeit der Textwelt (die Ereigniszeit) fungiert (vgl. Ballweg 1998; Zifonun et al. 1997: 1714). 4 Mit dieser Bezeichnung ist hier die - vermutlich grundsätzliche konzeptuelle - metaphorische Erschließung zeitlicher durch räumliche Relationen angesprochen (vgl. Lakoff 2006: 200 ff.). Sie steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der ebenfalls auf einer Raummetapher beruhenden Bezeichnung sozialer Nähe vs. Distanz bei Koch und Oesterreicher (1985). Zeitliche Dimensionen der Textbedeutung 69 <?page no="70"?> Zeitliche Relationen innerhalb der Textwelt Die zeitlichen Relationen und Strukturen innerhalb von Textwelten können unterschiedlich komplex sein. In - im Hinblick auf den textuellen Komplexitätsgrad! - ‚ einfachen ‘ Fällen bezieht sich das etwa auf die von der Verbsemantik bestimmte zeitliche Struktur und Perspektivierung von den als Bestandteile der Textwelt dargestellten Ereignissen oder Zuständen (vgl. hierzu u. a. die ausführliche Diskussion temporaler Aspekte von Verbbedeutungen bei Leiss 1992: 30 - 53). Expliziert werden kann dies bspw. durch temporale Adverbiale wie stundenlang, kurz usw. Überdies können Ereignisse und Zustände innerhalb der Textwelt durch Zeitangaben an zeitlichen Positionen relativ zu einem temporalen Referenzsystem (Kalender, Jahr, Jahreszeit, Woche, Tag usw.) verortet werden (im Jahr 1995, eines Morgens o. ä.). Da Textwelten in vielen Fällen aus mehreren Situationen bestehen, können diese durch entsprechende Zeitangaben zeitlich zueinander in ein Verhältnis gesetzt werden. Häufig geschieht diese relative Anordnung von Ereignissen bzw. Zuständen innerhalb der Textwelt durch temporal-textdeiktische Ausdrücke wie daraufhin, dann, 5 Minuten später usw. (vgl. Zifonun et al. 1997: 1718). In solchen Fällen werden Textwelten aus der Sicht von Personen, Objekten oder sogar Orten zeitlich perspektiviert. In der Grammatikforschung wird hier zumeist davon gesprochen, dass eine Ereigniszeit (also die zeitliche Dimension einer Situation innerhalb der Textwelt) zur Beobachterzeit für eine andere Ereigniszeit innerhalb der Textwelt wird (vgl. Ballweg 1998: 48 f.; Zifonun 1997: 1713 f.). Neben temporalen Adverbialen nehmen hierbei Tempusformen wie bspw. das Plusquambzw. Präteritumperfekt eine wichtige Indizierungsfunktion ein (vgl. Ballweg 1998: 49). Der zeitliche Beobachtungspunkt kann dabei im fortlaufenden Prozess des Textverstehens dynamisch voranschreiten. Zeitliche Relationen innerhalb des Kontextmodells Die bisherigen Ausführungen betrachten das Kontextmodell im Hinblick auf die zeitliche Strukturierung der Textbedeutung vor allem als primäres origonales Zentrum temporaler Deixis. Allerdings kann auch das Kontextmodell als abstrakte Repräsentation einer „ zerdehnte[n] Sprechsituation “ (Ehlich 1989: 91) zeitliche Strukturen aufweisen, die weiter ausdifferenziert werden können, wenn man sich an Modellen der Zeitlichkeit des sprachlichen Handelns orientiert. So gliedert Beißwenger (2020: 301 f.) in Erweiterung des Modells von Liedtke (2009) das sprachliche Handeln in die folgenden relevanten Zeitpunkte: 70 Niklas Simon <?page no="71"?> • „ Intentionszeitpunkt “ 5 , d. h. der Zeitpunkt, zu dem ein/ e Textproduzent: in die Absicht fasst, eine sprachliche Handlung auszuführen bzw. „ eine Textäußerung zu konzipieren “ , • „ Inskriptionszeitpunkt “ , d. h. der Zeitpunkt, zu dem ein/ e Textproduzent: in die aus dieser Absicht resultierende Äußerung ausformuliert bzw. verschriftlicht hat, • „ Verfügbarkeitszeitpunkt “ , d. h. der Zeitpunkt, ab dem der von der Textproduzentin verfasste Text für einen Rezipienten zugänglich ist, • „ Rezeptionszeitpunkt “ , d. h. dem Zeitpunkt, zu dem ein/ e Rezipient: in einen Text rezipiert, und • „ Obligationszeitpunkt “ , d. h. der Zeitpunkt, zu dem aus der Sprachhandlung resultierende Anschlusshandlungen oder Zustände realisiert sind. Diese Zeitpunkte können so auch in das von einem Rezipienten/ einer Rezipientin rekonstruierte Kontextmodell eingehen. Allerdings gilt hier die Maxime von van Dijk (1980: 70), dass das Kontextmodell diejenigen Kontextelemente enthält, die für eine Interpretation einer Sprachhandlung bzw. Textfunktion relevant sind. So ist es bspw. bei bestimmten Textsorten wie Mahnungen und Ankündigungen für eine Rezipientin von großer Bedeutung, sich das zeitliche Verhältnis eines wahrgenommenen/ vermuteten Inskriptions-, Rezeptions- und Obligationszeitpunktes zu erschließen, um die Gültigkeit der Sprachhandlung zu rekonstruieren. Ich werde darauf im nächsten Punkt weiter eingehen. Zeitliche Relationen zwischen Rezeptionssituation und Kontextmodell Eine interessante Beobachtung, die aus der zeitlichen Strukturierung des Kontextmodells folgt, ist, dass Texte in diesem Sinne recht offensichtlich veralten oder ablaufen können. Diese Phänomene werden dann analytisch beschreibbar, wenn man die Relation von Kontextmodell und Rezeptionssituation in die Beschreibung miteinbezieht. Lese ich bspw. eine Mahnung, die gerade in meinem Briefkasten lag, dann verstehe ich (möglicherweise), dass sich die zeitlichen Parameter des Kontexts, d. h. der vom Text repräsentierten (abstrakten) Kommunikationssituation, in der sich ein Appell von der Autorin an die Leserin/ den Leser vollzieht, mit den zeitlichen Parametern der aktuellen Rezeptionssituation deckt. Der im Kontextmodell repräsentierte Rezeptionszeitpunkt (der relativ zu Inskriptions- und Obligationszeitpunkt bestimmt wird) 5 Alle Bezeichnungen für Zeitpunkte im Original kursiv. Zeitliche Dimensionen der Textbedeutung 71 <?page no="72"?> deckt sich in einem solchen Fall mit den zeitlichen Parametern der tatsächlichen Rezeptionssituation. Identifiziere ich mich dann noch mit dem vom Text adressierten Leser, kann ich mich vom Text angesprochen fühlen und den Appell in seiner Gültigkeit als solchen akzeptieren (wodurch bspw. ein bestimmter perlokutionärer Effekt bei mir eintritt). Sehe ich aber, dass der Text bereits vor mehreren Jahren geschrieben wurde, verstehe ich (womöglich), dass der rekonstruierbare Kontext relativ zur tatsächlichen Rezeptionssituation bereits einige Zeit zurückliegt - der darin eingebettete Appell besitzt dann u. U. im ‚ Heute ‘ der Rezeptionssituation keine Gültigkeit mehr. Für die Textinterpretation spielt also die zeitliche Relation von Rezeptionssituation und Kontextmodell eine wesentliche Rolle. Zeitliche Relationen innerhalb der Rezeptionssituation Die Textrezeption stellt einen Prozess dar, der selbst Zeit verbraucht. Zu dieser tatsächlichen bzw. materiellen Zeitlichkeit der Rezeptionssituation tritt, wie Busse (2015) bemerkt, auch eine zeitliche Dimension der inneren bzw. epistemischen Rezeptionssituation hinzu: Die wahrgenommene Rezeptionssituation beinhaltet demnach eine Vorgeschichte, einen Jetztzeitpunkt und eine „ prospektive Nachgeschichte “ (vgl. ebd.: 325). Diese Elemente beziehen sich nach Busse allerdings hauptsächlich auf die zu einem Zeitpunkt innerhalb des Rezeptionsprozesses bereits etablierten und antizipierten Wissenselemente (vgl. zur epistemischen Dynamik der Textrezeption auch Fritz 2017: 135). Bezieht man die epistemische Rezeptionssituation auch auf das verstehensrelevante Wissen einer Rezipientin, dann kann im Hinblick auf den Aspekt der Zeitlichkeit auch die historische Verfasstheit der Rezipientin, ihrer Wissenshintergründe und möglicher Rezeptionspraktiken sowie deren ebenfalls historische Gebundenheit an Diskurse als zeitlicher Parameter der Rezeptionssituation analytisch in den Blick genommen werden. Zeitliche Relationen von Rezeptionssituation und Textwelt Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass das Modell auch potenzielle zeitliche Relationen von Rezeptionssituation und Textweltmodell als mögliche Aspekte der Textbedeutung erkennen lässt. Dies kann bspw. dann der Fall sein, wenn ein/ eine Rezipient: in einen evtl. veralteten Text liest, dessen Textwelt ihm/ ihr aus Sicht der aktuellen Rezeptionssituation als eine historische Zukunftsvision erscheint, so etwa der folgende Textausschnitt aus dem berühmten Report The Limits to Growth des Club of Rome aus dem Jahr 1972, der bei einem/ einer heutigen Leser: in durchaus die Frage aufwerfen kann, inwiefern die 72 Niklas Simon <?page no="73"?> aktuelle globale Situation zeitlich mit derjenigen Textwelt übereinstimmt, vor der der Text warnt. (1) Every day of continued exponential growth brings the world system closer to the ultimate limits to that growth. [ … ] We cannot say with certainty how much longer mankind can postpone initiating deliberate control of his growth before he will have lost the chance for control. [ … ] Again, because of the delays in the system, if the global society waits until those constraints are unmistakably apparent, it will have waited too long. (Meadows et al. 1972: 183) Zum Zusammenspiel der zeitlichen Relationen - Ein Beispiel Ich möchte das Zusammenspiel der im Modell dargestellten zeitlichen Relationen bei der Bedeutungskonstitution am Beispiel einer Email illustrieren: (2) Di 21.02, 16: 21 Liebe Angehörige der TU Darmstadt, vor einigen Tagen hatten wir Sie zur Mobilitätsbefragung 2023 eingeladen. Bisher haben daran schon ca. 2.500 Befragte teilgenommen. Vielen Dank dafür! Um zu aussagekräftigen Ergebnissen über alle Gruppen an der TU-Darmstadt zu kommen, ist es allerdings erforderlich, dass möglichst alle Eingeladenen den Fragebogen komplett ausfüllen. Da Sie ja schon begonnen haben, den Fragebogen auszufüllen, bitten wir Sie, sich die Zeit zu nehmen bis zum 25.2.2023 den Fragebogen nun auch zu beenden. Das Verstehen der Email führt - nach dem hier skizzierten Verständnis - zum Aufbau einer Textwelt, die mehrere vom Text dargestellte Ereignisse enthält: Darunter die (vergangene) Einladung zur Teilnahme, die (bisherige) Teilnahme, das begonnene Ausfüllen und das (erbetene) Beenden des Ausfüllens. Diese Ereignisse werden auf unterschiedliche Weise in ein zeitliches Verhältnis zueinander gesetzt: Die Einladung und die Teilnahme von 2.500 Befragten werden durch temporaldeiktische Ausdrucksformen wie bisher und schon und die Tempusformen Präteritumsperfekt und Präsensperfekt in die zeitliche Relation ‚ Vorzeitigkeit ‘ zum Kontextmodell gesetzt. Gleiches gilt für den dargestellten Sachverhalt des ‚ Schon-begonnen-habens ‘ . Das (erbetene) Beenden wird zum einen ebenfalls temporaldeiktisch an das Kontextmodell gebunden (nun), zudem aber auch in einem festen zeitlichen Referenzsystem verortet (bis zum 25.2.2023). Das von einer Rezipientin rekonstruierbare Kontextmodell beinhaltet die dominante Texthandlung BITTE ETWAS ZU TUN sowie weitere Teilhandlungen wie ÜBER ETWAS BERICHTEN. Der Text selbst gibt dabei Hinweise auf die zeitlichen Parameter des Kontextmodells: Der Inskriptionszeitraum ist über die Datumsangabe rekonstruierbar (21.2.2023) und auch der Obligationszeit- Zeitliche Dimensionen der Textbedeutung 73 <?page no="74"?> punkt (bzw. -raum) ist aus einer Datumsangabe (bis zum 25.2.2023) ableitbar. Daraus lassen sich auch Schlussfolgerungen über weitere relevante Zeitpunkte im Kontextmodell ableiten: So liegt etwa der erschließbare Rezeptionszeitpunkt zwischen Inskriptions- und Obligationszeitpunkt - also zwischen dem 21. und 25.2.2023. Man kann erkennen, dass unterschiedliche Elemente (also Sachverhalte und Ereignisse, Personen usw.) der Textwelt in ihrer Bindung an verschiedene Teiltexthandlungen wie ÜBER ETWAS BERICHTEN oder BITTEN ETWAS ZU TUN mit verschiedenen zeitlichen Punkten des Kontextmodells verbunden sind - bspw. der ‚ zukünftige ‘ Teil des Textweltmodells mit dem Obligationszeitpunkt. Die Interpretation der Textbedeutung beruht in dieser Hinsicht also klar auf den im Rahmen des Modells beschreibbaren zeitlichen Relationen. Dies zeigt sich auch, wenn man die Rezeptionssituation berücksichtigt, in der ein/ e Leser: in die Mail möglicherweise liest. Wenn diese (tatsächliche) Rezeptionssituation zwischen dem 21. und 25.2.2023 liegt (bzw. gelegen hat), dann deckt sie sich mit dem im Kontextmodell abstrakt repräsentierten Rezeptionszeitraum und die Texthandlung ist noch gültig bzw. der Text noch aktuell. Liegt die Rezeptionssituation jedoch nach dem 25.2.2023 - also außerhalb der zeitlichen Parameter des rekonstruierbaren Kontextmodells - so ist dieser spezifische Text veraltet. Das bedeutet natürlich nicht, dass er außerhalb seiner so verstandenen Aktualität nicht mehr gelesen und interpretiert werden kann - bspw. als Untersuchungsobjekt einer textlinguistischen Analyse. Das Beispiel sollte verdeutlichen, dass die bei der Textinterpretation unmittelbar relevanten zeitlichen Dimensionen der Textbedeutung sich im Spannungsfeld von drei Situationstypen verorten lassen, innerhalb derer und zwischen denen dann zeitliche Relationen analytisch bestimmt werden können. Im nachfolgenden Kapitel 3 möchte ich anhand eines Beispiels aufzeigen, wie ein Modell, das diese zeitlichen Dimensionen der Textbedeutung abbildet, in Analysen der Angewandten Linguistik zum Einsatz kommen kann. 3 Anwendungsbeispiele: Temporale Bedeutungsaspekte und rhetorische Textstrategien Nachdem das Modell zur Analyse bzw. Beschreibung der zeitlichen Dimensionen der Textbedeutung nun eingeführt wurde, möchte ich im Folgenden ein Beispiel dafür geben, wie es in Textanalysen zu interessanten Befunden führen kann. Die Beispiele, die ich dafür wähle, stammen aus einem Forschungsprojekt, in dem rhetorische Strategien von Akteuren aus der Debatte um die Schädlichkeit der sogenannten Neonicotinoide (einer Klasse von Pestiziden) 74 Niklas Simon <?page no="75"?> untersucht wurden (vgl. Simon i. Dr.). Die Grundidee der Untersuchung ist dabei, dass sich die rhetorische Wirkung von Texten auf die durch sie angeleitete Bedeutungskonstitution im Textverstehen zurückführen lässt. Dabei werden auch temporale Aspekte der Textbedeutung wichtig für die rhetorische Wirkung - insbesondere im Hinblick auf das emotive Potenzial der Texte, das sogenannte rhetorische Pathos. 3.1 Beispiel 1: Verbote dringend notwendig Als erstes Beispiel möchte ich den Text eines sogenannten Factsheets von Greenpeace (Greenpeace 2014) betrachten, das aus dem Publikationsarchiv der offiziellen Greenpeace-Homepage als PDF heruntergeladen werden konnte und dort zudem per Download-Link auf mehreren Artikelseiten mit Bezug zur Neonicotinoid-Debatte eingebettet war. In dem 6-seitigen Dokument (nur Fließtext) informiert Greenpeace die Leserschaft über die damals aktuelle Situation der Populationsentwicklung von Bienen und weiteren Bestäubern, Ergebnisse aus Studien zu möglichen Risiken des Pestizideinsatzes sowie damals aktuelle politische Ereignisse auf europäischer Ebene und leitet daraus bereits zu Textbeginn sowie erneut textfinal Forderungen nach vor allem regulatorischen Maßnahmen ab. Ich werde die Konstitution von zeitlichen Bedeutungsaspekten anhand einiger Textausschnitte herausarbeiten und die Konsequenzen für die rhetorische Wirkung des Textes aufzeigen. (3) Die Bienenpopulationen gehen weltweit zurück. In den USA ist das Phänomen seit dem Jahr 2004 als „ Völkerkollaps “ (Colony Collapse Disorder, CCD) bekannt und mitverantwortlich für einen Rückgang kommerziell gehaltener Bienenvölker von 30 bis 40 Prozent. Auch in Mitteleuropa geht die Zahl der Völker zurück, seit 1995 um geschätzte 25 Prozent. Die Sterberate lag in den vergangenen Wintern im europäischen Durchschnitt bei 20 Prozent. In Deutschland waren es teilweise sogar 30 Prozent. Neben den weltweit beobachteten Populationsrückgängen verschlechtert sich der allgemeine Gesundheitszustand der Bienen und ihrer Völker zunehmend. (Greenpeace 2014: 1) (4) Akut gefährdet werden Insekten durch die allgegenwärtige und global weiter zunehmende Nutzung von Pestiziden, insbesondere von in der Landwirtschaft verwendeten Giften gegen Unkräuter, Schadinsekten und Pflanzenkrankheiten. Ihr Anteil am Bienensterben scheint lange unterschätzt worden zu sein. (ebd.: 2) Zeitliche Dimensionen der Textbedeutung 75 <?page no="76"?> (5) Einer Gruppe von Insektiziden ist in jüngerer Vergangenheit vermehrte Aufmerksamkeit zuteil geworden: es handelt sich um die systemisch wirkenden sogenannten „ Neonicotinoide “ . Die hochwirksamen Nervengifte haben sich in den vergangenen Jahrzehnten zu den am häufigsten eingesetzten Insektiziden entwickelt. (ebd.: 3) (6) Erst im Jahr 2012 konnte gezeigt werden, dass Arbeiterinnen, die das Neonicotinoid Thiamethoxam in niedrigen Dosen aus Pollen oder Nektar aufnahmen, vermehrt den Weg in ihren Stock nicht mehr fanden. Das Volk wird so entscheidend geschwächt, das Risiko seines Kollapses erhöht sich. (ebd.: 4) Der Text schildert v. a. in (3) die aktuelle Situation der Populationsentwicklung von Bienenvölkern und bringt diese in (4), (5) und (6) mit dem Einsatz von Pestiziden in Verbindung. Die somit aufgebaute Textwelt zeichnet sich durch mehrere anhaltende progressive Prozesse aus, die semantisch eindeutig negativ konnotiert sind (gehen weltweit zurück, verschlechtert sich zunehmend, weiter zunehmende Nutzung). Zeitlich werden diese Prozesse der Textwelt mit der Autorinnenperspektive des Kontextmodells durch temporaldeiktische Ausdrücke in Relation gesetzt, wodurch die Geschehnisse der Textwelt relativ zu den zeitlichen Parametern des Kontextmodells perspektiviert werden (seit dem Jahr 2004, seit 1995, in den vergangenen Wintern, in jüngerer Vergangenheit, in den vergangenen Jahrzehnten, erst im Jahr 2012). Im Text finden sich einige Hinweise für die Rekonstruktion der zeitlichen Parameter des Kontextmodells: Der Bezug auf die Monatsposition Mitte Juli in (7) in Verbindung mit dem Präsensperfekt legt nahe, dass sich die Sprechzeit des Kontextmodells nach dem Monat Juli innerhalb des selben Jahres befindet. Diese Annahme wird durch die Zeitangaben von 2014 an in (7) und zum 1. Dezember 2013 in (8) auf das Jahr 2013 hin spezifiziert. Der Vergangenheits- Bezug auf eine Pestizidausbringung im Herbst 2013 in (8) grenzt die zeitliche Verortung des rekonstruierbaren Inskriptionszeitpunkts weiter auf den späten Herbst bzw. frühen Winter 2013 ein. (7) Mitte Juli hat die EU über ein weiteres Gift entschieden und sich erneut für ein beschränktes Verbot ausgesprochen. Das Insektizid Fipronil darf von 2014 an nicht mehr zur Behandlung von Mais und Sonnenblumensaatgut eingesetzt werden. (ebd.: 4) (8) Das Inkrafttreten des Neonicotinoid-Verbotes zum 01. Dezember 2013 bedeutet zudem: bei der Aussaat von Raps, in der Regel als Winterung angebaut, konnte im Herbst 2013 nochmals auf Neonicotinoide zur Imprägnierung des Saatgutes ( „ Beizung “ ) zurückgegriffen werden. (ebd.: 5) 76 Niklas Simon <?page no="77"?> Bemerkenswert ist allerdings auch, dass sich im Text weitere Hinweise finden, die dieser Rekonstruktion widersprechen, wie in Beispiel (9) deutlich wird: (9) Dass den Firmen ihre Profite wichtiger sind als ein vorsorglicher Schutz von Bienen, anderen Bestäubungsinsekten und die Zukunft einer produktiven Landwirtschaft, bewiesen sie Ende 2013 durch das Einleiten rechtlicher Schritte: alle drei Konzerne haben gegen die Europäische Kommission geklagt und strengen unabhängig voneinander Verfahren gegen die verhängten Verbote an. (ebd.: 5) Die Zeitangabe Ende 2013 in Verbindung mit der Tempusform Präteritum legt es nahe, dass das entsprechende Textwelt-Ereignis hier von einem Kontextmodell aus perspektiviert wird, das zeitlich später als im Jahr 2013 anzusiedeln ist. Tatsächlich gibt die Fußzeile des Dokuments das Veröffentlichungsdatum mit dem Mai 2014 an. Diese Widersprüchlichkeit bzw. Inkohärenz der rekonstruierbaren Zeitlichkeitsbezüge lässt sich analytisch dadurch erklären, dass das Factsheet in der Form von 2014 eine überarbeitete Version eines im Juni 2013 veröffentlichten PDFs (Greenpeace 2013) darstellt, bei dessen Überarbeitung einige zeitliche Bezüge lediglich an der grammatischen Oberfläche angepasst wurden, wie Beispiel (10) - die Ursprungsversion von Beispiel (8) oben - zeigt: (10) Das Inkrafttreten zum 01. Dezember 2013 bedeutet zudem: bei der Aussaat von Raps, in der Regel als Winterung angebaut, kann im Herbst nochmals auf Neonicotinoide zur Imprägnierung des Saatgutes ( „ Beizung “ ) zurückgegriffen werden. (Greenpeace 2013: 4) Diese Inkohärenzen stellen also ein Beispiel dafür dar, wie die - möglicherweise inkohärente - Konstruktion von Zeitlichkeit bei der Bedeutungskonstitution mit der Veröffentlichungshistorie eines Textes zusammenhängen kann. Damit sie allerdings zu einem Element der Textbedeutung werden, müssen sie als Unstimmigkeiten von einer Rezipientin wahrgenommen werden. Für die hier interessierende Frage nach der rhetorischen Funktion zeitlicher Bedeutungsaspekte sind sie somit nur unter bestimmten Zusatzannahmen relevant. Lässt man die Frage, ob ein/ e Rezipient: in die Inkohärenzen bemerkt, zunächst außen vor, kann der rekonstruierbare Inskriptionszeitraum dennoch relativ eng und konkret anhand textlicher Indikatoren bestimmt werden. Über die im Kontextmodell repräsentierte Texthandlung FORDERN werden zukünftige Maßnahmen in die Textwelt eingeführt (Beispiele 11 - 15). Der zeitliche Horizont der Textwelt orientiert sich somit im Hinblick auf deren ‚ zukünftige ‘ Ausdehnung an dem Obligationszeitpunkt des Kontextmodells - dem Zeitpunkt, an dem die FORDERUNG umgesetzt wird. Interessant ist, dass die Maßnahmen mit den als Nahdeiktika bestimmbaren Temporaladverbien Zeitliche Dimensionen der Textbedeutung 77 <?page no="78"?> dringend, sofort und umgehend ausgezeichnet werden. Der zeitliche Horizont von Textwelt und Kontextmodell wird somit eng an den Inskriptionszeitpunkt des Kontextmodells gebunden. (11) Verbote dringend erforderlich (Greenpeace 2014: 1) (12) Verbote bienengefährlicher Pestizide sind ein dringend notwendiger erster Schritt und sofort umsetzbarer Beitrag, um das in ganz Europa beobachtete Bienensterben auch in Deutschland zu stoppen. (ebd.: 1) (13) Schnelles Handeln ist hier nicht nur möglich, sondern dringend geboten. (ebd.1) (14) Greenpeace identifiziert im aktuellen Report sieben bienengefährliche Pestizide, die umgehend verboten werden müssen. (ebd.: 1) (15) Greenpeace fordert: Ein sofortiges, europaweites Verbot der bienengefährlichsten Agrargifte. (ebd.: 6) Fasst man diese Befunde zusammen, zeigt sich das folgende Bild: Die zeitliche Struktur des Kontextmodells zeichnet sich durch eine große Nähe von Inskriptionszeitpunkt und Obligationszeitpunkt aus. Über die Bindung und Parallelführung von Textwelt und Kontextmodell überträgt sich diese Nähe auch auf die zeitliche Struktur der Textwelt, die überdies temporaldeiktisch eng an die zeitlichen Parameter des Kontextmodells gebunden ist. Somit sind die zeitlichen Relationen sowohl innerhalb von Textwelt und Kontextmodell als auch zwischen Textwelt und Kontextmodell äußerst eng bzw. nah. Nach Plantin (1998) bzw. Polo et al. (2017: 318) stellt eine solche konzeptuelle Nähe - sowohl räumlich wie zeitlich - einen wesentlichen Aspekt der emotiven Perspektivierung bzw. Emotionalisierung dar (vgl. Luppold 2015: 195 f.; Schwarz-Friesel 2007: 211 f.; auch Fries 1996: 57). Die im Prozess der Bedeutungskonstitution erzeugte zeitliche Nähe führt demnach zu einem gesteigerten emotiven Potential. Eine Orientierung am hier vorgeschlagenen Analysemodell lässt diese zeitlichen Aspekte der Emotionalisierung recht klar hervortreten und ermöglicht deren systematische Beschreibung. Eine Berücksichtigung der zeitlichen Relationen zur Rezeptionssituationen ermöglicht es einem/ einer Analytiker: in zudem, weitere Hypothesen über das emotive Potential des Textes abzuleiten: So besteht bspw. die Möglichkeit, dass der auf zeitlicher Nähe basierende emotive Effekt an Stärke verliert, je mehr sich die tatsächliche Rezeptionssituation von den recht klar fixierten zeitlichen Parametern des Kontextmodells (Winter 2013 bis Frühjahr 2014) entfernt. 78 Niklas Simon <?page no="79"?> 3.2 Beispiel 2: Seitdem hat sich vieles getan Als zweites Beispiel möchte ich einen Text der Gegenposition aus derselben Debatte einführen, nämlich eine Infobroschüre, die der Industrieverband Agrar (IVA), die Lobbyorganisation der Pestizidhersteller in Deutschland, im Jahr 2016 unter dem Namen Faktencheck Biene veröffentlicht hat (Klockgether/ Hefner 2016). Hierin findet sich u. a. der folgende Textausschnitt: (16) Seit dem Frühjahr 2008 steht der Pflanzenschutz im Fokus einer politischen Debatte über dessen Auswirkungen auf Bienen. Damals waren bei einem Unfall, der durch insektizidhaltigen Staub von schlecht aufbereitetem Mais-Saatgut ausgelöst wurde, Bienenvölker im badischen Oberrheingebiet massiv geschädigt worden [ … ] Inzwischen sind die Gründe für die damals entstandenen hohen Staubwerte bekannt. Die betroffenen Unternehmen haben darauf reagiert: Primär wurden die Beizverfahren so weiterentwickelt, dass die Staubabriebwerte heute nur einen Bruchteil der damals gemessenen Werte betragen. Zudem wurden Zusatztechnologien für Sägeräte entwickelt, die den Eintrag des Beizstaubes in die Umwelt und die Kontaktmöglichkeit für Bienen nochmals um 90 Prozent und mehr verringern. (Klockgether und Hefner 2016: 11) Die grammatischen und lexikalischen Mittel im Textausschnitt geben erneut Hinweise auf relevante zeitliche Aspekte der Bedeutungskonstitution. Auch hier erfolgt die zeitliche Strukturierung der Ereignisse, die als Elemente der Textwelt dargestellt werden, durch temporaldeiktische Ausdrücke relativ zur origonalen Perspektive des Kontextmodells. Allerdings zeigen sich hier deutliche Unterschiede zum oben besprochenen Beispieltext von Greenpeace. Im ersten Satz des Abschnittes wird die zeitliche Struktur der Textwelt aus der Sicht des Kontextmodells in die Vergangenheit erweitert (seit dem Frühjahr 2008) und dort der Start eines bis heute anhaltendes Prozesses verortet, nämlich der politischen Debatte über die Konsequenzen des Pestizideinsatzes. Im Fortlauf des Textes wird dann aber diese Debatte nicht weiter geschildert. Stattdessen wird das Ereignis ‚ Bienenverluste am Oberrhein ‘ an die bereits als vorzeitig markierte zeitliche Position in der Textwelt (nämlich das Frühjahr 2008) eingeführt und dann durch das Ferndeiktikum damals nochmals ausdrücklich in eine zeitliche Distanz zum Sprecherzeitpunkt des Kontextmodells gerückt. Die negativ konnotierte und potenziell emotionalisierende Schilderung des Ereignisses wird somit von der gemeinsamen Perspektive von Autor: innen und Leser: innen entfernt. Diese zeitliche Distanzierung wird im Fortlauf des Textausschnittes durch die Kontrastierung mit deutlich positiver konnotierten Textweltereignissen verstärkt, die durch nahdeiktische Ausdrücke (inzwischen, heute) unmittelbar mit dem Sprecherzeitpunkt des Kontextmodells verbunden werden. Zeitliche Dimensionen der Textbedeutung 79 <?page no="80"?> Die zeitlichen Strukturen der Textwelt im Textausschnitt sind somit deutlich weniger eng an das Kontextmodell und die darin realisierten Texthandlungen gebunden. Im übrigen Text der Broschüre finden sich zwar durchaus nahdeiktische Temporaladverbiale, allerdings beziehen sich diese stets auf die Debatte, in der der Text sich selbst verortet, wie im folgenden Beispiel: (17) In der aktuellen Diskussion hat sich das Bild verfestigt, wonach sich durch ein Verbot des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln und besonders der Neonikotinoide negative Effekte auf die Bienenvölker deutlich vermindern ließen. Um die Argumente richtig einordnen zu können, muss man sich mit der Entwicklungsdynamik eines Bienenvolkes im Jahresverlauf und dem Begriff „ Bienensterben “ befassen. (Klockgether und Hefner 2016: 7) (18) In der aktuellen Diskussion wird auch der langsame Bodenabbau von Neonikotinoiden kritisiert. Demnach zerfielen sie im Boden nur sehr langsam und die Halbwertszeit betrüge mehr als 1000 Tage. Somit reicherten sie sich von Aussaat zu Aussaat im Boden weiter an. (ebd.: 22) Diese zeitliche Nähe der dargestellten Debatte führt im Text jedoch nicht zu einer emotiven Perspektivierung der darin diskutierten Themen bzw. Sachverhalte. Im Gegenteil: Die Debatte, an der der Text selbst teilhat, wird dadurch objektiviert. Diskussionsinhalte werden einem/ einer Leser: in als Annahmen von Debattenakteuren präsentiert und somit nur mittelbar (d. h. durch eine andere Lokutorinstanz) verfügbar gemacht, wie bspw. die Wiedergabeform der indirekten Rede in (18) zeigt. Der Industrieverband Agrar kann sich somit im Rahmen des Texthandlungsmusters AUFKLÄREN kompetent und wohlwollend gegenüber einem/ einer Leser: in inszenieren und zudem eine räumliche wie auch zeitliche Distanz zu potenziell emotionalisierenden Themen schaffen, die stattdessen mit einem nüchternen, ‚ wissenschaftlichen ‘ Blick betrachtet werden. Die im obigen Textausschnitt geschilderte zeitliche Distanzierung negativ konnotierter Textweltereignisse passt somit in ein Gesamtschema der aufklärenden Distanzierung und Objektivierung. Im Hinblick auf die temporalen Aspekte der Textbedeutung kommt hinzu, dass sich im gesamten Fließtext keine klaren Hinweise auf eine konkrete zeitliche Fixierung des Kontextmodells finden - weder im Hinblick auf einen Inskriptions- (lediglich nach dem Frühjahr 2008) noch auf einen Obligationszeitpunkt. Die einzigen konkreten Hinweise auf den Inskriptionszeitpunkt liefern die Datumsangabe August 2016 im Impressum auf der letzten Seite des PDFs, die Beschriftungen von Zeitachsen in abgebildeten Graphen sowie einzelne Jahreszahlen bei der Angabe wissenschaftlicher Studien als Quellen. Gerade die Gegenüberstellung mit dem Greenpeace-Text zeigt, dass hier über den Gesamttext betrachtet statt zeitlicher Nähe eher temporale Distanz bei der 80 Niklas Simon <?page no="81"?> Bedeutungskonstitution aufgebaut wird, was eher zu einer Form der De- Emotionalisierung führt. Interessanterweise verliert der IVA-Text durch die weitestgehende Unbestimmtheit der zeitlichen Parameter seines Kontextmodells deutlich weniger als der ÖKO-Text an Aktualität. Dies könnte die Hypothese aufwerfen, dass er auch weniger an rhetorischer Wirkung einbüßt, wenn sich die Rezeptionssituation vom tatsächlichen Veröffentlichungszeitpunkt entfernt. Dies hat aus meiner Sicht durchaus bedeutsame Konsequenzen für die rhetorische Analyse: Zum einen könnte der Schluss nahegelegt werden, dass die gesamte ‚ Plausibilisierungskraft ‘ des Textes - nicht nur bezogen auf das Pathos, sondern auch auf die eng damit verwobenen Wirkdimensionen Logos und Ethos - länger aufrechterhalten bleibt. Zum anderen kann dieser Unterschied in der Aktualität der rhetorischen Wirkung auch kritische Urteile über die rhetorische Qualität der Texte verändern, je nachdem wie sich der Analysezeitpunkt zum Kontextmodell verhält. 4 Abschließende Bemerkungen: Zum Nutzen des Modells Abschließen möchte ich den vorliegenden Aufsatz mit einigen Anmerkungen zum Nutzen des hier vorgeschlagenen Modells. Ich hoffe mit dem Beispiel der knapp skizzierten rhetorischen Textanalysen in Abschnitt 3 gezeigt zu haben, dass eine Orientierung am Modell auf temporale Aspekte der Textbedeutung hinweisen kann, die möglicherweise relevant für Befunde auf verschiedenen Ebenen sein können. Dabei ist es wichtig anzumerken, dass das Modell für Zwecke der Angewandten Linguistik nicht für sich stehen muss, sondern besonders dann wirksam wird, wenn es in bestehende Analysemodelle integriert wird. Im Fall der Beispiele aus Abschnitt 3 handelte es sich dabei um ein rhetorisch erweitertes Modell der sogenannten Textwelttheorie (Werth 1999; Gavins 2007), das im Forschungsparadigma der Kognitiven Semantik (Ziem 2013) verortet werden kann und im hier präsentierten Forschungskontext vorrangig zur Analyse von Argumentationen, Selbst- und Fremddarstellungen und Emotionalisierungsaspekten genutzt wurde. Grundsätzlich meine ich, dass sich das Modell unabhängig von möglichen innerdisziplinären Verortungen und damit verbundener Vorannahmen in textlinguistische Analyseraster integrieren lässt, die textpragmatische und -semantische Aspekte berücksichtigen und miteinander in Beziehung setzen. In seiner grafisch abbildbaren Form stellt das Modell ein Grundgerüst dar, das, wie ich hoffe, einen orientierenden Zugang zu verschiedenen temporalen Phänomenen der Textbedeutung liefert und als erster Ordnungsrahmen gut Zeitliche Dimensionen der Textbedeutung 81 <?page no="82"?> vermittelbar ist. Wie ich versucht habe aufzuzeigen, kann dieses Grundgerüst durch die Integration etablierter Befunde und Modelle aus verschiedenen linguistischen Forschungsbereichen zum Zusammenhang von Sprache/ Text und Zeitlichkeit, wie der Grammatikforschung und der Theorie des sprachlichen Handelns, weiter ausdifferenziert werden, was seine Leistungsfähigkeit für detaillierte Textanalysen erhöht. Das Modell ist aufgrund dieser Integrationskraft für verschiedene Zwecke der Angewandten Linguistik auch nach dem jeweils angemessenen Detail- und Schärfegrad erweiterbar, sodass zeitliche Aspekte der Textbedeutung für das übergeordnete Forschungsinteresse einbezogen werden können. Einen besonderen Nutzen des Modells sehe ich für Textanalysen im Kontext einer „ praktische[n] Hermeneutik “ 6 (Hermanns 2012: 71), da es eine systematische Einbeziehung von Rezeptionssituationen und deren Verhältnissen zu Kontextmodellen und Textwelten erlaubt. Dabei könnte auch der v. a. für historisch-textsemantische Analysen relevante Einfluss verschiedener Rezeptionspraktiken auf die Konstitution der Textbedeutung reflektiert werden (vgl. Hilgert 2010). Eine weitere Erweiterungsmöglichkeit des Modells, die im vorliegenden Aufsatz bislang nicht besprochen wurde, aber zu solchen Analysezwecken sehr sinnvoll sein könnte, betrifft etwa eine stärkere Miteinbeziehung der Wissensbzw. Verstehenshintergründe der Rezipierenden. In der analytischen Praxis könnten bspw. alle drei Situationstypen mit historischen Bezugswelten (vgl. Adamzik 2016: 116) und deren Wissensordnungen bzw. Epistemen (vgl. Busse 2015: 342) in Verbindung gesetzt werden, um so auch die historisch-epistemische Bedingtheit des Textverstehens noch stärker der hermeneutischen Reflexion zugänglich zu machen. Literatur Adamzik, Kirsten (2016). Textlinguistik. Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. 2., völlig neu bearbeitete, aktualisierte und erweiterte Neuaufl. 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Politische Entscheider: innen sind hier auf möglichst gesicherte Expertise angewiesen, die die Wissenschaft jedoch nicht immer liefern kann. Wo Wissenschaftler: innen gezielt mit Unsicherheiten ihrer Erkenntnisse arbeiten, fordern gesellschaftliche Fragestellungen aussagekräftige Legitimation. Zeitlichkeit, die gerade in der Wissenschaft eine einflussreiche Variable des Wissens darstellt - man bedenke den stetigen Fluss neuer Erkenntnisse und das Veralten bestehenden Wissens - , lässt sich auch hier als relevanter Faktor für Form und Funktion der Texte erwarten. Die Ad-Hoc-Stellungnahmen zur Corona-Pandemie der Nationalen Akademie Leopoldina sollen daher für diesen Beitrag als Analysegrundlage dienen, um den Einfluss der Zeitlichkeit auf die Beratung und insbesondere auch deren wissenschaftlichepistemische und politisch-legitimatorische Funktion zu untersuchen. 1 Wissenschaftliche Politikberatung zwischen epistemischer und legitimatorischer Funktion Die wissenschaftliche Politikberatung, die bisher vornehmlich Untersuchungsgegenstand der Sozialwissenschaften war (vgl. etwa Kropp und Wagner 2008; Weingart und Lentsch 2015; Schrögel und Humm 2020), verknüpft unterschiedliche kommunikative Praktiken und Konventionen miteinander: Wissenschaftliche Fachdisziplinen stellen in diesem Kontext ihren Forschungsstand und ihr <?page no="88"?> Wissen zu gesellschaftsrelevanten Fragestellungen für politische Entscheidungsträger: innen, gleichermaßen aber auch für die interessierte Öffentlichkeit, zur Verfügung. Insbesondere in Krisensituationen wie der Corona-Pandemie zeigt sich die Relevanz wissenschaftlicher Unterstützung bei der politischen Entscheidungsfindung und der Legitimation bereits beschlossener Maßnahmen. Dabei wird jedoch auch das funktionale Dilemma deutlich, mit dem sich die wissenschaftliche Politikberatung konfrontiert sieht. Sie soll eben nicht nur der klassischen wissenschaftlichen Aufgabe des Generierens von fachlichem Wissen nach wissenschaftlichen Maßstäben (epistemische Funktion) nachkommen, sondern dieses zudem auch für Politik und Gesellschaft (legitimatorische Funktion) nutzbar machen (vgl. Schützeichel 2008: 16). Im Rahmen der legitimatorischen Funktion werden belastbare wissenschaftliche Grundlagen und möglichst gesichertes Wissen erwartet, aus denen sich klare Handlungsanweisungen ableiten lassen und die somit der Operationslogik der Politik entsprechen (vgl. Weingart und Lentsch 2015: 16 f.). Während innerwissenschaftlich möglichst transparent mit Unsicherheiten, Wahrscheinlichkeiten und Forschungsdesideraten gearbeitet wird (oder zumindest werden sollte), zeigen politische Entscheidungsträger: innen nur begrenzt Verständnis für epistemische Relativität und Unsicherheiten, die mit Szenarien- und Modellrechnungen einhergehen. Dass diese immer nur auf Annahmen basieren und somit höchstens mögliche oder wahrscheinliche Zukünfte vorhersagen können - Grunwald (2018) nennt dies szenarische Orientierung, die plausiblere von weniger plausiblen Zukünften abgrenzt (ebd.: 241 ff.) - , erschwert das politische Gestalten und Handeln. Die in diesem Artikel beschriebenen Analysen wurden im Rahmen des DFG- Projekts „ Wissenschaftliche Politikberatung zwischen epistemischer und legitimatorischer Funktion. Textprozeduren der Relevanz-, Zuständigkeits- und Verantwortungszuschreibung “ durchgeführt. 1 Dieses befasst sich mit dem beschriebenen Dilemma zwischen legitimatorischer und epistemischer Funktion in der wissenschaftlichen Politikberatung und nutzt dabei entsprechende Stellungnahmen und Gutachten, die öffentlich frei zugänglich sind, als Analysegrundlage. Die folgenden Ergebnisse nehmen besonders den Einfluss von Zeitlichkeit bzw. zeitlicher Begrenztheit in den Stellungnahmen in den Blick, um dem vermuteten Ringen der wissenschaftlichen Politikberatung um wissenschaftliche Glaubwürdigkeit bei gleichzeitiger politischer Wirkkraft auf den Grund zu gehen. Dabei ist zu erwarten, dass die Wissenschaft sich hierfür 1 Laufzeit von 2021 bis 2024, Leitung: Prof. Dr. Nina Janich, Technische Universität Darmstadt, in Kooperation mit Prof. Dr. Armin Grunwald, Karlsruher Institut für Technologie. 88 Dorothee Jahaj <?page no="89"?> immer auch aus ihrem konventionellen Funktionsbereich hinausbewegen muss: wissenschaftlichepistemisch politischlegitimatorisch Abb. 1: Funktionale Spannweite der wissenschaftlichen Politikberatung Dass es hierbei regelmäßig auch zu Konflikten kommt, die schlimmstenfalls in einem Vertrauensverlust in Politik und Wissenschaft resultieren können, zeigen vorangegangene Studien (Jahaj und Janich 2022) und Krisensituationen, wie etwa der Umgang mit der BSE-Krise durch die britische Regierung, innerhalb derer wissenschaftliche Ergebnisse manipulatorisch veröffentlicht wurden, um die öffentliche Meinung zugunsten politischer Pläne zu beeinflussen (vgl. Weingart und Lentsch 2015: 15). Ziel des Projekts und auch der vorliegenden Analyse ist es zu untersuchen, ob und wie sich ebendieses Dilemma in konkreten sprachlichen Äußerungen innerhalb politikberatender Texte niederschlägt. Im Folgenden werden daher zunächst die Ad-Hoc-Stellungnahmen der Leopoldina als Fallbeispiel vorgestellt und ihre besondere Eignung als Artefakte der Politikberatung unter gesellschaftlichem Handlungsdruck herausgearbeitet (Kapitel 2). Daraufhin folgt eine kurze Beschreibung der Analysemethodik (Kapitel 3), gefolgt von den Erkenntnissen aus den Analysen auf Makro- und Mikroebene (Kapitel 4). Der Beitrag schließt mit einem Fazit (Kapitel 5). 2 Wissenschaftliche Politikberatung in der Ausnahmesituation: die Ad-Hoc-Stellungnahmen der Leopoldina Von März 2020 bis November 2021 veröffentlichte die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina insgesamt zehn als solche betitelte „ Ad-Hoc-Stellungnahmen “ . 2 Thematisch und disziplinär sind diese breit gefächert: Diese [die Ad-Hoc-Stellungnahmen, DJ] befassen sich mit den medizinischen, psychologischen, sozialen, ethischen, rechtlichen, pädagogischen, wirtschaftlichen und gesundheitssowie bildungspolitischen Aspekten der Pandemie. Insgesamt waren mehr als 90 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den entsprechenden Fachrichtungen an den Veröffentlichungen beteiligt. (Leopoldina 2021a) 2 Zugänglich unter https: / / www.leopoldina.org/ presse-1/ nachrichten/ ad-hoc-stellungnahme-coronavirus-pandemie/ (Stand: 10.03.2023). Eine weitere Stellungnahme, die sich mit den ökonomischen Konsequenzen der Pandemie befasst, wird ebenfalls dort zur Verfügung gestellt. Da diese von der Leopoldina jedoch nicht als Ad-Hoc-Stellungnahme bezeichnet wird, wurde sie in der vorliegenden Analyse nicht berücksichtigt. Wissenschaftliche Politikberatung in der Corona-Pandemie 89 <?page no="90"?> Es ist dabei davon auszugehen, dass diese Veröffentlichungen unter Bedingungen von hoher Dringlichkeit und steigendem Handlungsdruck erarbeitet wurden und durch die rapide Dynamik des Corona-Diskurses geprägt sind. Weltweit galt es die steigenden Infektionszahlen und damit verbundenen Todeszahlen möglichst schnell einzudämmen und realistische Strategien zum Schutz der Öffentlichkeit und besonders gefährdeter Risikogruppen zu entwickeln. Wie sich in der folgenden Analyse zeigen wird, werden innerhalb dieses Diskurses stetig neue Erkenntnisse gewonnen, die das vorhandene Wissen modifizieren oder auch falsifizieren. Der Bedarf an möglichst gesicherten und wirksamen Handlungsempfehlungen stößt somit hier - unter anderem wegen des kurzfristigen Bedarfs - auf instabile Wissensstände und unsichere Zukunftsprognosen. Im Gegensatz zu den relativ entzerrten Diskursen, die konventionell durch die wissenschaftliche Politikberatung behandelt werden - etwa das Thema Bioenergie als mögliche alternative Energiequelle für Deutschland, das vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) 2008 zum ersten Mal ausführlich behandelt wurde und durch die Leopoldina erst 2012 aufgegriffen wird - , kann hier also von besonderen (v. a. zeitlichen) Beratungsbedingungen ausgegangen werden, die die Stellungnahmen in ihrer Form maßgeblich beeinflussen. Aus diesen ergeben sich für die hier beschriebene Analyse die folgenden Ausgangshypothesen: 1. Die hohe Dynamik des Corona-Diskurses führt zu einem hohen Grad an epistemischer Unsicherheit und starker zeitlicher Begrenztheit der Aussagekraft und Funktionalität der Ad-Hoc-Stellungnahmen. 2. Diese Unsicherheit und die zeitlichen Rahmenbedingungen erschweren die Empfehlung, Begründung und Legitimation politischer Maßnahmen durch die wissenschaftliche Politikberatung. 3. Das Ringen zwischen der wissenschaftlich-epistemischen und der politischlegitimatorischen Funktion wissenschaftlicher Politikberatung beeinflusst daher die Ad-Hoc-Stellungnahmen in besonderem Maße. 4. Dieses Ringen lässt sich mithilfe hermeneutisch-textlinguistischer Analysen sprachlich in den Texten untersuchen und verorten. Ausschlaggebend für diese Wirkzusammenhänge scheint die zeitliche Dringlichkeit innerhalb der globalen Krisensituation zu sein. Beißwenger (2020) verdeutlicht den idealtypischen zeitlichen Verlauf des sprachlichen Handelns mit Texten anhand des folgenden Modells: 90 Dorothee Jahaj <?page no="91"?> Abb. 2: Zeitlichkeitsbedingungen beim sprachlichen Handeln mit Texten nach Beißwenger (2020: 302) Beißwenger (2020: 301 f.) geht hier davon aus, dass die Produktionszeit eines Textes mit einem Intentionszeitpunkt beginnt, zu dem die Produzent: innen den Entschluss fassen, einen spezifischen Text zu verfassen. Auf diesen folgt der Inskriptionszeitpunkt, zu dem der Text vollständig niedergeschrieben ist. Die Produktionszeit findet somit zwischen Intentions- und Inskriptionszeitpunkt statt. Ist der Text fertiggestellt, muss er an den intendierten Rezipienten übermittelt bzw. für diesen zugänglich gemacht werden. Zum Verfügbarkeitszeitpunkt hat dieser somit die Möglichkeit, den Text zu rezipieren. In der Rezeptionszeit nimmt der Rezipient den Text dann zum Perzeptionszeitpunkt wahr und zum Obligationszeitpunkt werden zuletzt die mit der sprachlichen Handlung in Form des Textes intendierten Reaktionen fällig. Die zeitliche Problematik der Ad-Hoc-Stellungnahmen der Leopoldina wird anhand der folgenden Anpassung des Modells auf die Kommunikationssituation, in der diese entstanden, deutlich: Wissenschaftliche Politikberatung in der Corona-Pandemie 91 <?page no="92"?> Abb. 3: Darstellung der zeitlichen Problematik der Ad-Hoc-Stellungnahmen nach dem Modell von Beißwenger (2020) Im Gegensatz zu der im Modell dargestellten zeitlichen Reihenfolge einer sprachlichen Handlung hinkte - in Abb. 3 dargestellt mit einem Pfeil - der Inskriptionszeitpunkt, teilweise vielleicht sogar der Intentionszeitpunkt, in der Pandemie-Situation immer hinter dem Obligationszeitpunkt der Stellungnahmen her. Die in den Texten geforderten Maßnahmen wurden bereits zu diesem Zeitpunkt, oft sogar davor, als notwendig und dringlich erkannt. In jedem Fall waren Einschränkungen und Maßnahmen also bereits während des Produktionsprozesses fällig. Die Ad-Hoc-Stellungnahmen stellen damit Ausnahmen für Publikationen der Leopoldina dar. In der Regel erstellt sie redaktionell überarbeitete Stellungnahmen und Diskussionspapiere in einheitlichem Format, die inhaltlich von temporär zusammengestellten Beratungsgremien - bestehend aus einschlägigen Wissenschaftler: innen, die nach Kriterien wissenschaftlicher Kompetenz gewählt wurden - bespielt und abschließend vom Präsidium als Leopoldina- Veröffentlichungen freigegeben werden. Ein uneinheitliches Format, wie es die hier behandelten Texte aufweisen (vgl. Tab. 1), deutet auf Kürzungen innerhalb dieses standardisierten Publikationsprozesses hin. Gemeinsam mit der Veröffentlichung der letzten Ad-Hoc-Stellungnahme erklärt die Leopoldina zudem: Daher bildet auch die vorliegende Stellungnahme die Perspektiven der beteiligten Wissenschaftsdisziplin ab. Entscheidungen zu treffen und dabei die Interessen der zahlreichen anderen Stakeholder zu berücksichtigen ist Aufgabe der demokratisch legitimierten Politik. (Leopoldina 2021b) 92 Dorothee Jahaj <?page no="93"?> Mit dieser Aussage zieht die Leopoldina eine klare Grenze zwischen dem Funktionsbereich der Wissenschaft, dem die Stellungnahmen zuzuordnen sind, und dem der „ demokratisch legitimierten Politik “ . Ähnlich explizite Einschränkungen des eigenen Funktionsbereichs beobachten auch Rhein und Lautenschläger (2022), die Äußerungen von eingeladenen Wissenschaftler: innen in Polit-Talkshows während der Corona-Pandemie untersuchen, in denen diese immer wieder unterstreichen, „ dass sie lediglich beratende Funktion haben, keine Politiker*innen sind und daher auch keine politischen Maßnahmen beschließen oder bewerten “ (Rhein und Lautenschläger 2022: 36). Trotz der kommunikativen Nähe zur Politik scheint sich hier somit auch die Leopoldina weiterhin klar der Wissenschaft und ihren Werten und Methoden zuzuordnen. Ob und inwieweit sie dabei allerdings noch wissenschaftssprachlichen Konventionen folgt, ist unter anderem Untersuchungsgegenstand der folgenden Analyse. 3 Methode Bereits eine erste Betrachtung der Ad-Hoc-Stellungnahmen zeigt eine hohe formal-strukturelle Varianz. Um diese in der Analyse einzufangen, wurde daher zunächst ein intertextueller und thematischer Vergleich der Stellungnahmen vorgenommen (Makroebene). Darauf folgte eine detaillierte qualitative Textanalyse mithilfe der Datenanalysesoftware MAXQDA (Mikroebene): Um der beschriebenen zeitlichen Dimension der Ad-Hoc-Stellungnahmen auf den Grund zu gehen, wurden im Rahmen der Textanalyse sprachliche Markierungen von Temporalität identifiziert und ihr Kotext qualitativ untersucht. Hierbei lag das Augenmerk insbesondere auf Temporalitätsmarkern im Zusammenhang mit der Thematisierung von Wissensbeständen sowie auf der Analyse von Situationsanalysen (diagnostischer Vergangenheits- und Gegenwartsbezug) und Prognosen (Zukunftsbezug) (vgl. Janich 2022: 221; Jahaj und Rhein 2023). Diagnosen und Prognosen sind fester Bestandteil der wissenschaftlichen Politikberatung (vgl. Jahaj und Janich 2022). Im Zuge der Betrachtung der behandelten Wissensbestände wurde zudem eine Analyse der epistemischen Praktiken innerhalb der Texte vorgenommen. Hierfür wurde nach Unsicherheitsmarkierungen und Versprachlichungen von (Nicht-)Wissen gesucht. Janich (2018) bietet hier eine Kategorien-Liste, die als Ausgangspunkt genutzt wurde: Neben grammatischsyntaktischen Phänomenen, wie Tempus (markiert etwa durch Temporaladverbien, die ein Noch-nicht- oder Niemals-Wissen-(Können) aufzeigen), Modus (Konjunktiv, Modalverben und -wörter, Fragesatzkonstruktionen) und Nega- Wissenschaftliche Politikberatung in der Corona-Pandemie 93 <?page no="94"?> tionen, zählt sie auch Wortbildungsphänomene zum Ausdruck von Negation (un-, -los) oder Modalität (-bar) sowie lexikalische Phänomene, die explizit, kontextabhängig oder in Form rhetorischer Figuren auf Nichtwissen und Unsicherheit referieren (können) (unsicher, unbekannt, strittig, Zweifel, Frage, blinder Fleck), zu den sprachlichen Unsicherheitsmarkierungen (vgl. Janich 2018: 563 f.). Da es sich bei den Verfasser: innen der Stellungnahmen hauptsächlich um Wissenschaftler: innen handelt, bietet es sich zudem an, die Texte mit den klassischen Konventionen der Wissenschaftssprachlichkeit zu vergleichen (vgl. Drescher 2003; Czicza und Hennig 2011; Janich 2016). Schließlich wurden vereinzelt auch Begründungs- und Argumentationsstrukturen analysiert (vgl. Schröter 2021), insbesondere dort, wo für oder gegen Maßnahmen argumentiert wurde. Ziel war es hier, jeweils die (Weiter-)Entwicklungen von behandelten Wissensbeständen und ihre legitimatorische Funktion als Begründung oder Rechtfertigung für bestimmte Maßnahmen nachzuvollziehen. 4 Erkenntnisse aus den Analysen 4.1 Makroebene Im intertextuellen Vergleich zeigte sich eine hohe Varianz entlang einiger formeller Publikationsparameter, welche in Tabelle 1 aufgelistet sind: Nr. Seiten Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung Abbildungen Wissenschaftliche Quellen Literaturverzeichnis 1. 3 - - - 1 - 2. 3 - - 1 6 - 3. 19 + + - - - 4. 8 - + - 1 - 5. 19 - + - 26 + 6. 12 - + 1 20 + 7. 7 - - 3 3 - 8. 23 + + - ~95 + 9. 29 - - 2 ~53 - 10. 5 - - - 5 - Tab. 1: Varianz der Ad-Hoc-Stellungnahmen in Form und Struktur ( „ + “ steht für „ vorhanden “ , „-“ für „ nicht vorhanden “ ) Die Seitenanzahl der Ad-Hoc-Stellungnahmen schwankt zwischen 3 und 29 Seiten, wobei die Textlänge nicht mit dem Vorhandensein eines Inhaltsver- 94 Dorothee Jahaj <?page no="95"?> zeichnisses oder einer Zusammenfassung zu Beginn des Dokuments zu korrelieren scheint. So weist etwa die dritte Stellungnahme mit 19 Seiten beides auf, während die gleichlange fünfte Stellungnahme nur eine Zusammenfassung beinhaltet und die zehn Seiten längere neunte Stellungnahme keines von beidem aufweist. Auch die Bezugnahme auf wissenschaftliche Quellen wird in den Stellungnahmen in unterschiedlichem Maße genutzt. Teilweise wird die entsprechende Literatur dabei in einem Literaturverzeichnis zusammengefasst, teilweise aber auch nur in Fußnoten aufgelistet. Diese ersten formalen Unterschiede lassen darauf schließen, dass in den Publikationen mit Konventionen unterschiedlicher Fachdisziplinen gearbeitet wurde und keine einheitliche redaktionelle Überarbeitung der Texte stattgefunden hat, bevor diese veröffentlicht wurden. Die Tatsache, dass andere Publikationen der Leopoldina sehr wohl klaren Formatvorgaben folgen, lässt vermuten, dass auf eine redaktionelle Vereinheitlichung der Ad-Hoc-Stellungnahmen zugunsten der schnellen Veröffentlichung verzichtet wurde. Ein Einfluss der zeitlichen Dringlichkeit der Pandemiesituation liegt hier somit nahe. Auch thematisch wird ein breites disziplinäres Feld abgedeckt: Nr. Titel Datum 1. Herausforderungen und Interventionsmöglichkeiten 21.03.2020 2. Gesundheitsrelevante Maßnahmen 03.04.2020 3. Die Krise nachhaltig überwinden 13.04.2020 4. Medizinische Versorgung und patientennahe Forschung in einem adaptiven Gesundheitssystem 27.05.2020 5. Für ein krisenresistentes Bildungssystem 05.08.2020 6. Wirksame Regeln für Herbst und Winter aufstellen 23.09.2020 7. Die Feiertage und den Jahreswechsel für einen harten Lockdown nutzen 08.12.2020 8. Kinder und Jugendliche in der Coronavirus-Pandemie: psychosoziale und edukative Herausforderungen und Chancen 21.06.2021 9. Antivirale Wirkstoffe gegen SARS-Cov-2: Aktueller Stand und Ansätze zur verbesserten Vorbereitung auf zukünftige Pandemien 10.11.2021 10. Klare und konsequente Maßnahmen - sofort! 27.11.2021 Tab. 2: Titel und Erscheinungsdatum der Ad-Hoc-Stellungnahmen In den Stellungnahmen 1, 2, 3, 6, 7 und 10 geht es vor allem um Maßnahmen, die einer Verschlimmerung der Pandemie und ihrer Folgen entgegenwirken sollen. Diese sind mal mehr und mal weniger ausführlich diskutiert und decken Themen wie Schutz gefährdeter/ systemrelevanter Personengruppen, Diagnostik, Wissenschaftliche Politikberatung in der Corona-Pandemie 95 <?page no="96"?> Identifikation von Kontaktpersonen, Entwicklung von Medikamenten/ Impfstoffen und später auch Distribution der Impfstoffe, und Aufklärung der Bevölkerung ab. Die Stellungnahmen 4, 5, 8 und 9 haben jeweils einen spezifischen thematischen Schwerpunkt, der im Detail behandelt wird: das Gesundheitssystem, das Bildungssystem, die Folgen für Kinder und Jugendliche sowie der Forschungsstand zu antiviralen Medikamenten. Dass sich eine Mehrzahl der Stellungnahmen mit dem Vorschlagen und Begründen von Maßnahmen befasst, weist auf den Handlungsdruck innerhalb der Pandemiesituation hin, der sich zugunsten der legitimatorischen Funktion auswirkt. Entscheidungs- und handlungsbezogene Auseinandersetzungen mit dem aktuellen Wissensstand und mit gesellschaftlichen Entwicklungen scheinen hier zunächst Vorrang vor informativ-erklärenden Sprachhandlungen zu haben. 4.2 Mikroebene Nachdem die Analyse auf der Makroebene bereits zeigen konnte, dass sich sowohl thematische und disziplinäre Streuung als auch der starke Handlungsdruck in der Pandemiesituation auf Form und Struktur der Ad-Hoc-Stellungnahmen auswirken, soll eine Analyse auf der Mikroebene der Texte den Einfluss der Dringlichkeit und Diskursdynamik genauer untersuchen. Ein besonderes Augenmerk liegt hierbei auf dem Zusammenhang zwischen den behandelten (sicheren, unsicheren) Wissensbeständen und den in Handlungsempfehlungen angewandten Legitimationsstrategien sowie auf sprachlichen Hinweisen für Wissenschaftlichkeit bzw. Politisierung. Hierfür werden jeweils anschauliche Textbeispiele für vier Dimensionen dieses Zusammenhangs ausgewählt und analysiert: für die Entwicklung von Wissensbeständen, die Entwicklung von Legitimationsstrategien, das Nutzen wissenschaftlicher Begründungskraft sowie für die Politisierung. Die so ausgewählten Beispiele sind das Ergebnis einer detaillierten, durch die Datenanalysesoftware MAXQDA gestützten Analyse, innerhalb welcher jeweils alle relevanten Textpassagen zu den Diskursthemen ‚ Schutzmaßnahmen ‘ , ‚ Entwicklung und Administration eines Impfstoffes ‘ und ‚ Eigenschaften des Virus COVID-19 ‘ innerhalb der Ad- Hoc-Stellungnahmen identifiziert und diachron betrachtet wurden. Diese drei Themenfelder sowie Überschneidungen zwischen ihnen stellen hinsichtlich ihres Umfangs (gemessen an themenspezifischer Wortzahl/ Gesamtwortzahl) besonders intensiv behandelte Schwerpunkte der Stellungnahmen dar, wobei das Thema ‚ Schutzmaßnahmen ‘ mit einem Wortanteil von knapp 20 % der gesamten Stellungnahmen das mit Abstand am umfangreichsten diskutierte Thema bildet. Diese Erkenntnis unterstreicht die in Kapitel 4.1 bereits erkannte thematische Festlegung der meisten Ad-Hoc-Stellungnahmen auf die Emp- 96 Dorothee Jahaj <?page no="97"?> fehlung konkreter Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Ihnen kommt somit in der Pandemieberatung durch die Leopoldina eine besondere Rolle zu, während etwa die kritische Betrachtung der Folgen der Maßnahmen oder auch detaillierte Ausführungen darüber, wie und warum sie als wirksam erachtet werden, eher in den Hintergrund rücken. Die Leopoldina verfolgt somit dem Anschein nach mit ihren Ad-Hoc-Stellungnahmen eher direktive Ziele als assertiv zu agieren. 4.2.1 Entwicklung von Wissensbeständen Unsicherheit über die Beschaffenheit des SARS-CoV-2-Virus und seiner unterschiedlichen Varianten sowie über die Wirksamkeit der eingeleiteten Maßnahmen prägen den Diskurs seit Beginn der Pandemie. Dank laufender Forschung werden immer wieder neue Studienergebnisse publiziert, die so gesellschaftliche Wissensbestände modifizieren. Auch innerhalb der Ad-Hoc- Stellungnahmen lassen sich Veränderungen und Erweiterungen des behandelten Wissens nachweisen, die auch die Aussage- und Legitimationskraft der Publikationen beeinflussen. Beispielhaft soll dies hier anhand von Aussagen zur Wirksamkeit eines Mund-Nasen-Schutzes verdeutlicht werden: (1) Unklarheit besteht über die Wirksamkeit kurzfristig installierter politischer Maßnahmen und deren Befolgung durch den individuellen Bürger. (1. Ad-Hoc- Stellungnahme, 21.03.2020: 1) 3 Die hier noch sehr allgemein gehaltene Aussage aus der ersten Stellungnahme wird durch eine lexikalische Unsicherheitsmarkierung ( „ Unklarheit “ ) eingeleitet. Die Adjektivattribute ( „ kurzfristig installierter politischer “ ) verweisen auf die zeitliche Dringlichkeit, unter welcher die entsprechenden Maßnahmen ergriffen wurden. So wird deutlich, dass die Wirksamkeit ebendieser zu diesem Zeitpunkt nicht durch wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt ist und auch keine Daten über deren „ Befolgung durch den individuellen Bürger “ vorliegen. Bereits knapp zwei Wochen später wird die Wirksamkeit eines Mund-Nasen- Schutzes in der zweiten Ad-Hoc-Stellungnahme als erwiesen dargestellt: 4 (2) Mund-Nasen-Schutz reduziert die Übertragung von Viren, v. a. durch eine Reduktion der Tröpfcheninfektionen. 2 (2. Ad-Hoc-Stellungnahme, 03.04.2020: 1) Es wird hier nicht spezifisch die Reduktion der Übertragung von SARS-CoV-2 versichert, sondern von „ Viren “ insgesamt. Auch die Art und Weise, wie die 3 Kursivierungen innerhalb der Beispiele dienen der Hervorhebung der relevanten und im Text genauer diskutierten Sequenzen und stammen stets von der Autorin des vorliegenden Beitrags. 4 Fußnoten in den Textbeispielen wurden aus den Originaltexten übernommen, um die dort verwendete wissenschaftliche Zitationsweise zu verdeutlichen. Wissenschaftliche Politikberatung in der Corona-Pandemie 97 <?page no="98"?> Übertragung reduziert wird, bleibt durch das das Modaladverbial einleitende „ v. a. “ vage. Gesichert scheint hier nur - ausgedrückt durch den Indikativ ( „ reduziert “ ) - das Wissen darüber zu sein, dass der Mund-Nasen-Schutz bei Viren im Allgemeinen zu einer „ Reduktion der Tröpfcheninfektion “ führt, welches in Form einer Fußnote auch belegt wird. Bei dieser handelt es sich um eine Stellungnahme der Österreichischen Gesellschaft für Infektionskrankheiten und Tropenmedizin (ÖGIT), die sich wiederum auf Studien zur Wirksamkeit von korrekt genutzten Masken im Falle von Influenzaviren bezieht. Es wird hier also noch von Übertragungsraten anderer Viren auf COVID geschlossen, was die Vermutung nahelegt, dass Studienergebnisse zu diesem selbst noch nicht vorliegen. (3) Virionen mit einem Durchmesser von ca. 0,15 μ m werden in der Regel als Teil größerer Partikel in der Atemluft, sogenannter Tröpfchen (klassische Definition: > 5 μ m) und Aerosole (klassische Definition: < 5 μ m), verbreitet. (6. Ad- Hoc-Stellungnahme, 23.09.2020: 5) Die Ausführung in (3) findet sich in einem Infokasten der sechsten Ad-Hoc- Stellungnahme mit dem Titel „ Box 1: Luftübertragung von SARS-CoV-2 “ . Auch hier werden zunächst die Eigenschaften von allen „ Virionen “ beschrieben. Die in (2) genannte „ Tröpfcheninfektion “ wird hier unter Verwendung von Fachtermini ( „ Virionen “ , „ Aerosole “ ) und fachspezifischer Definitionskonventionen ( „ klassische Definition: > 5 μ m “ , „ klassische Definition: < 5 μ m “ ) präzisiert und ausdifferenziert. (4) Bezüglich der Bedeutung von Aerosolen im Infektionsgeschehen gibt es allerdings noch wissenschaftliche Unsicherheiten. 7 In Krankenhauszimmern von infizierten Personen konnten in Aerosolen auch im Abstand von mehr als 2 m vermehrungsfähige Viren nachgewiesen werden. 8 Die Viren werden innerhalb einiger Stunden in der Luft vollständig inaktiviert. 9 Es ist nicht eindeutig geklärt, wie viele infektiöse Viruspartikel für eine folgenreiche Infektion eingeatmet werden müssen. (6. Ad-Hoc-Stellungnahme, 23.09.2020: 5) Die in (3) behandelten Informationen über Virionen werden in (4) in den Kontext der COVID-Pandemie eingeordnet. Beispiel (4) zeigt auch, dass zu diesem Zeitpunkt zwar relevante Forschung vorliegt ( „ konnten … nachgewiesen werden “ ), einige wichtige Variablen im Pandemiegeschehen jedoch weiter ungeklärt sind ( „ wissenschaftliche Unsicherheiten “ , „ Es ist nicht eindeutig geklärt “ ). Fast alle Aussagen werden zudem mit einer klassischen wissenschaftlichen Quelle belegt. Zuletzt werden die im Infokasten bereitgestellten Informationen durch konkrete Aussagen über die Wirksamkeit des Mund-Nasen-Schutzes und regelmäßigen Stoßlüftens ergänzt: 98 Dorothee Jahaj <?page no="99"?> (5) Auch wenn es nach wie vor noch Unsicherheiten gibt, kann ein korrekt getragener Mund-Nasen-Schutz 10 in Verbindung mit regelmäßigem Luftaustausch das Risiko der Übertragung des Virus reduzieren: Berechnungen zeigen, 11 dass das Infektionsrisiko durch regelmäßiges Stoßlüften etwa um die Hälfte, durch zusätzliches Maskentragen sogar um einen Faktor fünf bis zehn gesenkt werden kann. (6. Ad-Hoc-Stellungnahme, 23.09.2020: 5) Es werden erneut noch vorhandene Unsicherheiten betont ( „ nach wie vor noch Unsicherheiten “ ), aber auch konkrete Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit der entsprechenden Maßnahmen thematisiert (Fußnoten, „ Berechnungen zeigen “ ). Obwohl zu diesem Zeitpunkt im September 2020 zwar bereits Studienergebnisse vorliegen, weitere Forschung aber in Arbeit ist, sind die in diesem Infokasten behandelten Informationen zur Virenverbreitung in der Luft und zu den entsprechenden Schutzmaßnahmen die detailliertesten, die die Leopoldina in allen vorliegenden Ad-Hoc-Stellungnahmen bereitstellt. Statt also etwa an anderer Stelle und mit neuen Ergebnissen die Wirksamkeit des Tragens eines Mund-Nasen-Schutzes erneut zu belegen oder präzisere Zahlen als hier ( „ etwa die Hälfte “ , „ um einen Faktor fünf bis zehn “ ) zu nennen, folgen in den späteren Ad-Hoc-Stellungnahmen lediglich Forderungen zum verpflichtenden Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes an unterschiedlichen öffentlichen Orten, jedoch keine weiteren legitimierenden wissenschaftlichen Befunde dazu. Zusammengefasst wird der Wissensbestand Wirksamkeit des Mund-Nasen- Schutzes in den Leopoldina-Stellungnahmen somit wie folgt dargestellt: Da in den ersten Ad-Hoc-Stellungnahmen allgemein noch wenig Wissen über die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen zur Verfügung steht, kann hier (nur) von der Effektivität des Mund-Nasen-Schutzes bei Viren im Allgemeinen auf den entsprechenden Schutz gegen SARS-CoV-2 geschlossen werden. Die Maske reduziert Tröpfcheninfektionen, wobei Tröpfchen nur die größten der möglichen in der Luft enthaltenen Partikel, die Viren transportieren können, darstellen. Spätere Stellungnahmen beziehen sich auch darauf, dass sich kleinere Aerosole weit in geschlossenen Räumen ausbreiten, nach einigen Stunden jedoch unschädlich werden. Daraus folgt, dass der Mund-Nasen- Schutz in Verbindung mit regelmäßigem Lüften die Infektionsgefahr maßgeblich verringern kann. Warum die Ausführungen zur Wirksamkeit des Maske-Tragens in den Stellungnahmen damit enden und nicht etwa noch Informationen über die Schutzfunktion unterschiedlicher Materialien (Schals/ Tücher, selbstgenähte Masken, OP-Masken, FFP2-Masken) oder die Dauer behandelt werden, während der eine einzelne Maske getragen werden kann, bis sie gewechselt werden muss, lässt sich mit Blick auf die Texte nur spekulieren. Möglich wäre beispielsweise, dass solche Erkenntnisse zu den entsprechenden Zeitpunkten Wissenschaftliche Politikberatung in der Corona-Pandemie 99 <?page no="100"?> in der Pandemie bereits ausreichend medial kommuniziert worden sind und entsprechend für die Legitimierung einer Maskenpflicht nicht mehr als nennenswert eingeschätzt wurden. 4.2.2 Entwicklung von Legitimationsstrategien Da sich die Wissensbestände, wie das vorangehende Kapitel zeigt, innerhalb der Pandemie stetig weiterentwickelten, liegt der Schluss nahe, dass auch die von der Leopoldina verwendeten Legitimationsstrategien für einzelne Maßnahmen und politische Entscheidungen diachron durch Veränderungen geprägt sind. Auch dies soll am Beispiel der Legitimation des Mund-Nasen-Schutzes gezeigt werden: (6) Mund-Nasen-Schutz reduziert die Übertragung von Viren, v. a. durch eine Reduktion der Tröpfcheninfektion.² Da sich eine große Zahl unerkannt Erkrankter ohne Symptome im öffentlichen Raum bewegt, schützt ein Mund- Nasen-Schutz andere Menschen, verringert damit die Ausbreitung der Infektion und senkt somit mittelbar das Risiko, sich selbst anzustecken. Ein Mund-Nasen- Schutz dient eingeschränkt auch unmittelbar dem Eigenschutz. Eine schrittweise Lockerung der Einschränkungen sollte daher mit dem flächendeckenden Tragen von Mund-Nasen-Schutz einhergehen. (2. Ad-Hoc-Stellungnahme, 03.04.2020: 1) Im teilweise bereits bekannten Textausschnitt (6) zeigt eine Analyse der Argumentation (vgl. Schröter 2021) die folgende Legitimationsbegründung: Quaestio: Wie lässt sich eine schrittweise Lockerung der Einschränkungen sicher umsetzen? Präskriptiver Standpunkt: Im öffentlichen Raum sollte flächendeckend ein Mund- Nasen-Schutz getragen werden. Komplexe Argumentation: 1. Der Mund-Nasen-Schutz dient unmittelbar dem Selbstschutz DENN er reduziert die Tröpfcheninfektion 2. Der Mund-Nasen-Schutz dient mittelbar dem Selbstschutz DENN es gibt eine große Anzahl symptomloser Erkrankter im öffentlichen Raum UND mit dem Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes schützt man andere Menschen DADURCH verringert sich insgesamt die Ausbreitung der Infektionen im öffentlichen Raum SOMIT verringert sich auch das Risiko sich im öffentlichen Raum selbst anzustecken Der Nachvollzug der in (6) formulierten Argumentationsstruktur zeigt so, dass hier insbesondere mit dem Selbstschutz durch den Mund-Nasen-Schutz argu- 100 Dorothee Jahaj <?page no="101"?> mentiert wird. Es scheint hier also vorerst davon ausgegangen zu werden, dass insbesondere der Selbstschutz zur Motivation des Befolgens der Maßnahme beiträgt. Der Schutz anderer wird hier zwar thematisiert ( „ schützt … andere Menschen “ ), jedoch auch nur als Teilargument pro Eigenschutz. Wenige Tage danach wird in der dritten Ad-Hoc-Stellungnahme zur Motivation für eine generelle Maßnahmenbefolgung zudem folgendermaßen Position bezogen: (7) Grundsätzlich werden Normen dann am ehesten befolgt, wenn sie klar, eindeutig und nachvollziehbar sind. Die Motivation zu ihrer Einhaltung ist dann besonders hoch, wenn sie intrinsisch ist, also aus der Einsicht in das eigene Interesse oder die Fürsorge für Andere resultiert. Demgegenüber sind Androhungen von Sanktionen weniger effektiv. (3. Ad-Hoc-Stellungnahme, 13.04.2020: 8) Eine „ intrinsisch[e] “ Motivation wird hier als wirksamer betrachtet als eine extrinsische durch „ Androhungen von Sanktionen “ . Angaben, die diese Tatsachen-Behauptung belegen, werden in der Stellungnahme allerdings keine geboten. Demgegenüber steht folgende Argumentation aus der sechsten Stellungnahme einige Monate später: (8) Die Missachtung verbindlicher Anordnungen zum Tragen eines Mund-Nasen- Schutzes ist überall mit einem Bußgeld zu belegen, um solchen Anordnungen den gebotenen Nachdruck zu sichern. Eine aktuelle Studie zeigt, dass im Falle einer bloßen Empfehlung nur 77 % der Befragten, dagegen im Fall einer verbindlichen Pflicht 97 % bereit wären, eine Maske zu tragen. 17 (6. Ad-Hoc- Stellungnahme, 23.09.2020: 6) Anders als in (7) wird hier die Forderung durch Bezug auf eine „ aktuelle Studie “ gestützt, bei der Wissenschaftler: innen aus Gesundheitskommunikation und Psychologie eine empirische Befragung durchführten. Während Sanktionen wie das hier geforderte „ Bußgeld “ in (7) noch als „ weniger effektiv “ beschrieben werden, liegen in (8) also wissenschaftliche Daten vor, die eine größere Handlungsmotivation bei der extrinsischen „ verbindlichen Pflicht “ belegen als bei einer „ bloßen Empfehlung “ (bei der noch eine intrinsische Motivation hinzukommen müsste). Diese verbindliche Pflicht ( „ Anordnung “ ) wird hier durch die Verordnung einer entsprechenden Sanktion bei Missachtung doppelt abgesichert, um ihr „ den gebotenen Nachdruck “ zu verleihen. Der Bevorzugung einer intrinsischen Motivation in (7) steht - vermutlich wegen des wachsenden Handlungs- und Infektionsdrucks - in (8) die Forderung nach extrinsischer Motivation entgegen, mit entgegengesetzten Legitimationsstrategien. Eine ähnliche Entwicklung ist auch in Bezug auf die in (6) sichtbare Dominanz des Selbstschutzes zu beobachten: Wissenschaftliche Politikberatung in der Corona-Pandemie 101 <?page no="102"?> (9) (Bedingt) vorsätzliche oder fahrlässige Infektion Anderer zu vermeiden entspricht einer Rechtspflicht: dem Verbot der Verletzung Dritter, und nicht nur, wie in der öffentlichen Debatte häufig behauptet, einem moralischen Gebot zur Solidarität mit anderen. (6. Ad-Hoc-Stellungnahme, 23.09.2020: 6) Statt erneut den Selbstschutz als Begründung (= intrinsische Motivation) zu nutzen, wird auch hier auf extrinsische Motivation in Form des „ Verbot[s] der Verletzung Dritter “ gesetzt. Diese „ Rechtspflicht “ steht im Kontrast zu der in (6) noch sehr nebensächlich erwähnten „ Fürsorge für Andere “ . Die beschriebenen Entwicklungen bei den verwendeten Legitimationsstrategien lassen eine interpretative Rekonstruktion des Pandemieverlaufs zu: Während zu Beginn der Pandemie dem Anschein nach noch die Hoffnung bestand, dass ein Plädoyer für ,gesunden Menschenverstand ‘ und Solidarität eine ausreichende Motivation für die Bürger: innen darstellen würde, sich an die Maßnahmen zu halten, scheint sich dies im Verlauf der anhaltenden Krisensituation als ungenügend entpuppt zu haben. Dies sowie die fortschreitende Forschung zu pandemiebedingten Verhaltensmustern scheinen daher zu einer Verstärkung normativer Legitimationsstrategien geführt zu haben. Ein Einfluss der Zeitlichkeit lässt sich hier somit kaum leugnen: Offensichtlich hängt die Verwendung bestimmter Legitimationsstrategien stark mit dem Diskursmoment zusammen, in dem sie zeitlich zu verorten sind (und hier ganz speziell auch mit der Dauer, während der man verschiedene Maßnahmen und Motivationsstrategien konkret erprobt hat). 4.2.3 Nutzen wissenschaftlicher Begründungskraft Die in Tabelle 1 dargestellte Varianz in der Verwendung wissenschaftlicher Quellen geht innerhalb der Stellungnahmen auch mit unterschiedlichen Graden der Wissenschaftssprachlichkeit einher. Wie sich an den folgenden und im nächsten Teilkapitel behandelten Textstellen zeigen lässt, reicht das sprachlichstilistische Spektrum der Ad-Hoc-Stellungnahmen von ‚ hochgradig wissenschaftlich und fachspezifisch ‘ bis hin zu ‚ allgemeinsprachlich und eher politisierend-legitimatorisch ‘ . Die beiden folgenden Beispiele veranschaulichen, wie unterschiedlich die Stellungnahmen in Bezug auf wissenschaftssprachliche Konventionen formuliert sind: (10) Wenn diese Maßnahmen konsequent umgesetzt werden, können viele zusätzliche Todesfälle und schwere Krankheitsverläufe vermieden werden. Dann gibt es am Ende dieses Pandemiejahres gute Gründe, hoffnungsvoll auf das kommende Jahr zu blicken, in dem Impfstoffe helfen werden, bei der Eindämmung der Pandemie ein großes Stück weiterzukommen. (7. Ad-Hoc-Stellungnahme, 08.12.2020: 5) 102 Dorothee Jahaj <?page no="103"?> (11) Coronaviren sind umhüllt und besitzen ein einzelsträngiges RNA-Genom, das eine Länge von ca. 30.000 Nukleotiden hat. Die Virushülle enthält zahlreiche Spike-Protein-Moleküle, die für die Bindung an den zellulären Rezeptor des Wirtes verantwortlich sind (siehe Abbildung 1). Der zelluläre Hauptrezeptor ist das ACE2-Protein, daneben kann das Virus in Zellkultursystemen aber auch andere Rezeptoren auf der Zelloberfläche nutzen; allerdings ist die biologische Relevanz dieser Rezeptoren bisher nicht geklärt. 19 Zielzellen von SARS-CoV-2 sind v. a. Epithelzellen des Atemtraktes, aber auch andere Zellen, die insbesondere ACE2 besitzen, 20 [ … ]. (9. Ad-Hoc-Stellungnahme, 10.11.2021: 9) In (10) werden vage Formulierungen wie „ können viele zusätzliche Todesfälle [ … ] vermieden werden “ oder „ ein großes Stück weiterzukommen “ ohne wissenschaftliche Belege für diese Aussagen verwendet. Beispiel (11) hingegen weist zahlreiche fachliche Termini wie „ Nukleotiden “ , „ Spike-Protein-Moleküle “ oder „ Epithelzellen “ auf, die Teil der spezifischen naturwissenschaftlichen Taxonomie sind, welche Viren und ihre Bestandteile klassifiziert. Diese werden in der neunten Stellungnahme nicht für Laien erklärt. Stattdessen wird hier seitens der Leser: innen ein komplexes fachliches Vorwissen vorausgesetzt. Auch wissenschaftliche Bezugnahmen in Form von Fußnoten treten in dieser Ad-Hoc-Stellungnahme vergleichsweise häufig auf. Affektive Sprache wie etwa das Modaladverbial „ hoffnungsvoll “ in (10) finden sich in (11) nicht. Insgesamt scheinen wissenschaftssprachliche Konventionen in den einzelnen Stellungnahmen zu unterschiedlichem Maße befolgt zu werden, wie im Folgenden noch detaillierter untersucht wird. 4.2.4 Politisierung Die Beispiele (10) und (11) zeigen deutlich, wie unterschiedlich die sprachliche Ausrichtung der Leopoldina Ad-Hoc-Stellungnahmen sein kann. Hier wird ein interner Konflikt deutlich, dem sich die wissenschaftliche Politikberatung immer wieder stellen muss: Politisch rationale Entscheidungen lassen sich nicht durch ausschließlichen Rekurs auf wissenschaftliches Wissen garantieren. (Bogner 2021: 109) Denn … Der typisch wissenschaftliche Traum von einer Rationalisierung der Politik [ … ] läuft darauf hinaus, der Politik das typisch Politische auszutreiben, nämlich die Aushandlung von Interessenskonflikten und das mühsame Ringen um tragfähige Kompromisse. (ebd.: 119) Bogner (2021) plädiert mit diesen und weiteren Beobachtungen dafür, dass Wertefragen, also solche, die nicht allein auf Basis wissenschaftlicher Befunde geklärt werden können, durch eine demokratisch gewählte Politik beantwortet Wissenschaftliche Politikberatung in der Corona-Pandemie 103 <?page no="104"?> und Probleme kompromissorientiert gelöst werden sollten und eben nicht durch die Wissenschaft und rein auf der Basis von Evidenz. Statt sich auf das Expertisefeld der Wissenschaft zu beschränken, befasst sich die Leopoldina in ihren Ad-Hoc-Stellungnahmen (und nicht nur dort) auch explizit mit ebensolchen Wertefragen: (12) [Absatz-Überschrift: ] Wertfragen [ … ] Wenn die Unterzeichner dieser Ad-hoc-Stellungnahme vor dem Hintergrund der skizzierten Wertfragen für Freiheitseinschränkungen in Form von Impfpflichten und drastischeren Kontaktbeschränkungen plädieren, dann geschieht dies in der Überzeugung, dass die hierzu führenden Abwägungen im Einklang mit Grundwerten und Prioritäten stehen, die von der Mehrheit der Bevölkerung mit guten Gründen geteilt werden. Auch die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht ist unter den aktuellen, vor einem Jahr so nicht vorhersehbaren Umständen ethisch und rechtlich gerechtfertigt: als letzte Maßnahme, um eine Impflücke zu schließen, die sich augenscheinlich anders nicht beheben lässt. Nur so können die Bürgerinnen und Bürger unserer Gesellschaft vor weiteren desaströsen Folgen bewahrt werden. (10. Ad-Hoc- Stellungnahme, 27.11.2021: 4) Es handelt sich bei (12) um einen Ausschnitt des letzten Absatzes der 10. und letzten Ad-Hoc-Stellungnahme, der mit „ Wertfragen “ übertitelt ist. Bei den hier genannten „ Unterzeichnern dieser Ad-Hoc-Stellungnahme “ handelt es sich ausschließlich um Professor: innen, unter ihnen auch der Präsident und der Vizepräsident der Leopoldina. Alle sind somit dem Titel und der Ausbildung nach Wissenschaftler: innen, die hier jedoch „ vor dem Hintergrund der skizzierten Wertfragen für Freiheitseinschränkungen [ … ] plädieren “ und diese für „ ethisch und rechtlich gerechtfertigt “ befinden. Da sich unter den Autor: innen auch ein Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie sowie eine Direktorin eines Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin finden, ist davon auszugehen, dass der beschriebene Appell tatsächlich „ ethisch und rechtlich “ geprüft wurde. Statt hier jedoch Mittel der wissenschaftlichen Begründungskraft wie wissenschaftliche Belege zu nutzen, erinnert die Argumentation eher an politische Kommunikation. Girnth und Hofmann (2016) beschreiben politisches Argumentieren als durch „ Begründungsschemata für die Rechtfertigung von Handlungen “ (ebd.: 12) gekennzeichnet: Politische Handlungen werden durch Ziele (Finaltopos) begründet und durch Situationsbewertungen (Motivationstopos) motiviert. Den Situationsbewertungen wiederum liegen bestimmte Annahmen über die Situation (Datentopos) und deren Konsequenzen (Konsequenzentopos), andererseits aber auch Prinzipien und Werte (Prinzipientopos) zugrunde. (Girnth und Hofmann 2016: 12) 104 Dorothee Jahaj <?page no="105"?> Alle hier als typisch-politisch identifizierten Handlungstopoi finden sich auch in (12): • Finaltopos: „ Bürgerinnen und Bürger [ … ] vor weiteren desaströsen Folgen “ bewahren • Motivationstopos: „ unter den aktuellen, vor einem Jahr so nicht vorhersehbaren Umständen “ - Datentopos: „ um eine Impflücke zu schließen, die sich augenscheinlich anders nicht beheben lässt “ - Konsequenzentopos: „ desaströse Folgen “ - Prinzipientopos: „ im Einklang mit Grundwerten und Prioritäten stehen, die von der Mehrheit der Bevölkerung mit guten Gründen geteilt werden “ , „ ethisch und rechtlich gerechtfertigt “ Die unter dem Datentopos angegebene Begründung für die Verschärfung der Maßnahmen bietet zudem eine Erklärung für das in Kapitel 4.2.2 behandelte Wechseln der Legitimationsstrategien von einer intrinsischen Motivation zu einer eher extrinsisch-normativen. Das Nicht-Befolgen der Maßnahmen, explizit das Verweigern der Schutzimpfung, wird hier als Rechtfertigung für die Einführung einer Impfpflicht und damit klarer „ Freiheitseinschränkungen “ verwendet. Im späteren Verlauf der Pandemie scheint so die Entwicklung des Infektionsgeschehens zur Erkenntnis geführt zu haben, dass nur striktere normative Maßnahmen Bürgerinnen und Bürger ausreichend zu ihrer Befolgung motivieren können. Auch an anderer Stelle finden sich Formulierungen, die nicht den wissenschaftlichen Konventionen, etwa der Affektlosigkeit und Sachlichkeit der Wissenschaftssprache (Drescher 2003) oder den Geboten der Ökonomie und Präzision (Czicza und Hennig 2011), folgen: (13) Die aktuelle Entwicklung der Coronavirus-Pandemie gibt Anlass zu großer Sorge. Trotz Aussicht auf einen baldigen Beginn der Impfkampagne ist es aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig, die weiterhin deutlich zu hohe Anzahl von Neuinfektionen durch einen harten Lockdown schnell und drastisch zu verringern. (7. Ad-Hoc-Stellungnahme, 08.12.2020: 1) In (13) finden sich mehr Temporal- und Modaladverbiale (temporal: „ Die aktuelle Entwicklung “ , „ weiterhin “ , „ schnell “ ; modal: „ unbedingt notwendig “ , „ drastisch “ ) oder auch Adjektivattribute ( „ große Sorge “ , „ deutlich zu hohe Anzahl “ , „ harten Lockdown “ ), als es das wissenschaftliche Gebot der Ökonomie erwartbar macht (vgl. Czicza und Hennig 2011). Die Nominalphrase „ große Sorge “ etwa lässt sich als affektiv werten, was in der Wissenschaft ebenfalls als unüblich gilt (vgl. Drescher 2003). Das Gebot der Präzision (vgl. Czicza und Wissenschaftliche Politikberatung in der Corona-Pandemie 105 <?page no="106"?> Hennig 2011; bei Janich 2016 auch Gebot der Exaktheit/ Deutlichkeit) besagt zudem, dass innerhalb der Wissenschaftssprache tendenziell präzise Termini verwendet werden, die fachlich klar definiert sind, und Aussagen, deren Bedeutungen und Bedeutungsreichweite exakt angegeben werden. Beispiel (13) zeigt im Gegensatz dazu eher vage Angaben ( „ Aussicht auf einen baldigen Beginn “ , „ deutlich zu hohe Anzahl “ , „ schnell und drastisch “ ). Die Forderung, „ die deutlich zu hohe Anzahl von Neuinfektionen durch einen harten Lockdown schnell und drastisch zu verringern “ , die den wesentlichen Appell der 7. Ad-Hoc-Stellungnahme darstellt, wird weder im Textbeispiel noch im Rest der Stellungnahme mit Zahlen konkretisiert. 5 Die hier beschriebene Politisierung der Texte fiel auch Wissenschaft und Öffentlichkeit auf, wie etwa dieses Zitat des Historikers Caspar Hirschi in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zeigt: Am 8. Dezember veröffentlichte die Leopoldina eine Stellungnahme, die einen harten Lockdown „ aus wissenschaftlicher Sicht “ für „ unbedingt notwendig “ erklärte. Das Papier hat nicht den Stil und Aufbau einer Expertise mit einer Darlegung des Erkenntnisstandes, gefolgt von Empfehlungen. Es ist ein Aufruf an die Politik und ähnelt im Ton einem Manifest, wie es Intellektuelle aufsetzen, um Machtträger eines Unrechts anzuklagen oder zur Bekämpfung eines Missstands aufzufordern. Maßnahmen werden nicht vorgeschlagen, sondern ultimativ gefordert. (Hirschi 2021; Herv. D. J.) Auch Hirschi verweist hier explizit auf die Diskrepanz zwischen „ Stil und Aufbau einer Expertise “ und dem Ton der Stellungnahme, der eher „ einem Manifest “ ähnele. 5 Fazit Die beschriebenen Analysen machen deutlich, dass Form und Funktion wissenschaftlicher Politikberatung durchaus ambivalent gesehen und genutzt werden. Es scheint so, als führe gerade die zeitliche Dringlichkeit in der Corona- Pandemie zu einer starken Inkonsistenz innerhalb der Ad-Hoc-Stellungnahmen: Die in ihnen behandelten Wissensbestände erweisen sich in ihrem Geltungsbereich als zeitlich begrenzt und führen so zu sehr heterogenen Entwicklungen in den verwendeten Legitimationsstrategien, was wiederum 5 Nur während der Behandlung der wirtschaftlichen Folgen eines Lockdowns wird das Anstreben einer „ Reproduktionszahl im Bereich 0,7 - 0,8 “ (7. Ad-Hoc-Stellungnahme, 08.12.2020: 4) vorgeschlagen. Der für das Verständnis dieses Zahlenbereichs notwendige Referenzrahmen von aktuellen Zahlen und der Anzahl der zum Erreichen dieser Referenzzahl nötigen Reduktionen fehlt jedoch. 106 Dorothee Jahaj <?page no="107"?> in Wissenschaft und Medien für Kontroversen sorgt. Auch die Frage, wie wissenschaftlich die wissenschaftliche Politikberatung eigentlich sein sollte, scheint hier noch gänzlich unbeantwortet. Sowohl hochgradig wissenschaftliche Texte als auch von stärker politischer Argumentation gekennzeichnete werden unter demselben Titel der „ Ad-Hoc-Stellungnahme “ und der Autorschaft der Leopoldina veröffentlicht. Die in Kapitel 2 genannten Ausgangshypothesen haben sich somit bestätigt: Die hohe Dynamik und zeitliche Dringlichkeit des Corona-Diskurses führen tatsächlich zu einer zeitlich begrenzten Funktionalität der Ad-Hoc-Stellungnahmen und heben das Ringen zwischen wissenschaftlich-epistemischer und politisch-legitimatorischer Funktion in der wissenschaftlichen Politikberatung in besonderem Maße hervor. Es scheint starke Unsicherheit darüber zu herrschen, wo genau auf der in Abbildung 1 dargestellten Achse sich die Leopoldina hier verorten will. Ob sich dieses Dilemma in ähnlicher Form auch in zeitlich entzerrten Politikberatungssituationen linguistisch nachweisen lässt, gehört zu den Fragestellungen, die im genannten Forschungsprojekt genauer untersucht werden. Quellen Leopoldina (21.03.2020). 1. Ad-Hoc-Stellungnahme. Herausforderungen und Interventionsmöglichkeiten. Leopoldina (03.04.2020). 2. Ad-Hoc-Stellungnahme. Gesundheitsrelevante Maßnahmen. Leopoldina (13.04.2020). 3. Ad-Hoc-Stellungnahme. Die Krise nachhaltig überwinden. Leopoldina (27.05.2020). 4. Ad-Hoc-Stellungnahme. Medizinische Versorgung und patientennahe Forschung in einem adaptiven Gesundheitssystem. Leopoldina (05.08.2020). 5. Ad-Hoc-Stellungnahme. Für ein krisenresistentes Bildungssystem. Leopoldina (23.09.2020). 6. Ad-Hoc-Stellungnahme. Wirksame Regeln für Herbst und Winter aufstellen. Leopoldina (08.12.2020). 7. Ad-Hoc-Stellungnahme. Die Feiertage und den Jahreswechsel für einen harten Lockdown nutzen. Leopoldina (21.06.2021). 8. Ad-Hoc-Stellungnahme. Kinder und Jugendliche in der Corona-Pandemie: psychosoziale und edukative Herausforderungen und Chancen. Leopoldina (10.11.2021). 9. Ad-Hoc-Stellungnahme. Antivirale Wirkstoffe gegen SARS- CoV-2: Aktueller Stand und Ansätze zur verbesserten Vorbereitung auf zukünftige Pandemien. Leopoldina (27.11.2021). 10. Ad-Hoc-Stellungnahme. Klare und konsequente Maßnahmen - sofort! Alle abrufbar unter: https: / / www.leopoldina.org/ presse-1/ nachrichten/ ad-hoc-stellungnahme-coronavirus-pandemie/ (Stand: 13.03.2023) Wissenschaftliche Politikberatung in der Corona-Pandemie 107 <?page no="108"?> Literatur Beißwenger, Michael (2020). Internetbasierte Kommunikation als Textformen-basierte Interaktion: ein neuer Vorschlag zu einem alten Problem. In: Lobin, Henning/ Marx, Konstanze/ Schmidt, Axel (Hrsg.). Deutsch in sozialen Medien: interaktiv, multimodal, vielfältig. Jahrbuch 2019 des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache. Berlin, Boston: de Gruyter, 291 - 318. Bogner, Alexander (2021). Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet. Stuttgart: Reclam. Czicza, Dániel/ Hennig, Mathilde (2011). Zur Pragmatik und Grammatik der Wissenschaftskommunikation. Ein Modellierungsvorschlag. Fachsprache. International Journal of Specialized Communication 33.1 - 2, 36 - 61. Drescher, Martina (2003). 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Weingart, Peter/ Lentsch, Justus (2015). Wissen - Beraten - Entscheiden: Form und Funktion wissenschaftlicher Politikberatung in Deutschland. Weilerswirst: Velbrück. Wissenschaftliche Politikberatung in der Corona-Pandemie 109 <?page no="111"?> Zwischen Alltagszeit und Urlaubszeit, zwischen Imagination und Zurückerinnern - Zeitlichkeit in der Destinationswerbung Monika Messner Abstract: Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der diskursiven Kodierung von Zeitlichkeit - in Korrelation mit Räumlichkeit - in print- und online-Destinationswerbeanzeigen, d. h. in statischen und dynamischen Bild-Text-Gefügen. Im Mittelpunkt der Analyse stehen sowohl sprachliche Mittel, wie z. B. die lexikalische Wiedergabe von Zeit, adverbiale und deiktische Marker, Ikonizität sowie Metaphorik als auch visuelle und ikono-/ typographische Codes. Ziel des Beitrags ist es aufzuzeigen, wie die für touristische Werbeanzeigen charakteristischen zeitlichen Dimensionen prä-, on- und post-trip auf expliziter und impliziter Ebene zum Ausdruck kommen und wie durch das gezielte Zusammenspiel semiotischer Ressourcen verschiedene Zeitebenen - reale Zeit, besprochene Zeit, fiktive Zeit - sinnhaft hergestellt und verständlich vermittelt werden. „ Zeit dehnt und krümmt sich um Planeten und Sonnen, ist in den Bergen anders als in Tälern, ist Teil desselben Stoffes wie der Raum, der sich wölbt und anschwillt wie das Meer. “ Aus Der Gesang der Flusskrebse, Delia Owen (2020: 235) 1 Einleitung Im Zentrum dieses Beitrags steht die multimodale Betrachtung von Destinationswerbeanzeigen im Hinblick auf die Vermarktung von touristischer Zeit. Werbeanzeigen für Urlaubsdestinationen arbeiten mit mehreren Modalitäten (etwa Sprache, statisches/ dynamisches Bild, Typographie, Musik), um dem potenziellen Gast ein zeitliches und gleichzeitig auch räumliches Urlaubserlebnis <?page no="112"?> näher zu bringen. Sie spielen mit dem Bedürfnis von Reisenden, eine Pause vom Alltag zu suchen und eine besondere Zeit zu erleben, die von ihrem gewohnten Lebensrhythmus abweicht (vgl. Urry 1990: 16; Dann 1996: 49). Das heißt, Alltagszeit wird als ordinär, gewöhnlich und mit Routinen verknüpft dargestellt, während Urlaubszeit mit Traum, Außergewöhnlichkeit, Entdeckung und Abenteuer in Verbindung gebracht wird (vgl. Brucculeri 2009: 34). Dabei steht touristische Zeit immer in Verbindung zu touristischem Raum - oder anders ausgedrückt: Wird in einer Destinationswerbeanzeige ein Zeiterlebnis verkauft, wird gleichzeitig auch ein Raumerlebnis vermittelt. Es kommt demnach zu einer Stilisierung von Zeit und Raum zum touristischen Produkt (vgl. ‚ Touristifizierung ‘ bei Wöhler 2011). Wenn etwa die Schlagzeile J ’ ai besoin de séjours de courte durée ( ‚ Ich brauche einen kurzen [Urlaubs-]Aufenthalt ‘ ) vor dem Hintergrund einer Gondelseilbahn, die sich der Bergstation nähert, in einer Werbeanzeige für die Schweiz titelt (vgl. Abb. 1), 1 so wird sowohl auf textueller als auch auf visueller Ebene das Zeit-Raum-Erlebnis in den Vordergrund gestellt: Abb. 1: Suisse. J ’ ai besoin de séjours de courte durée. / Schweiz. Ich brauche Kurztrips. 2 Die Werbung weckt zeitliche Assoziationen und Inferenzen: sprachlich durch die Ausdrücke séjours ( ‚ Aufenthalt ‘ ), courte durée ( ‚ von kurzer Zeit ‘ ) und durch das Verb avoir besoin ( ‚ brauchen ‘ ), das die Notwendigkeit unterstreicht, den Alltag hinter sich zu lassen; bildlich durch den Verweis auf ein potenzielles (zeitliches) Urlaubserlebnis auf einem Berg in der Schweiz, im Kanton Luzern, 1 Für die verwendeten Bilder in diesem Beitrag wurden die Bildrechte eingeholt. 2 Quelle: https: / / www.myswitzerland.com/ fr-ca/ nous-avons-besoin-de-suisse/ jai-besoinde-sejours-de-courte-duree/ (Stand: 09.03.2023); Credits: Luzern Tourismus. 112 Monika Messner <?page no="113"?> sowie die Mystifizierung des Ortes (vgl. die in Nebel getauchte Seenlandschaft im Hintergrund), die in Verbindung zu einer Ausflucht aus dem Alltag steht. In dieser Destinationswerbung kommen explizit und implizit drei zeitliche Abschnitte des Urlaubserlebnisses zum Ausdruck: 3 prä-trip (Vorbereitung der Reise, Alltag vs. Urlaub), on-trip (eigentliches Urlaubserlebnis, Sammlung von Erfahrungen) sowie post-trip (Erinnerungen, Rückkehr in den Alltag). Die posttrip Dimension kann auch bereits vor dem Urlaub eintreten, u. a. durch das Zurückerinnern an einen bereits vergangenen Urlaub. Tourismus zeichnet sich also durch seine Zirkularität aus: nach dem Urlaub ist gleichzeitig vor dem nächsten Urlaub. Diese drei Zeitspannen sind eingebettet in die drei Zonen der menschlichen Erfahrung (vgl. Brucculeri 2009: 34): identitaria ( ‚ identitätsorientiert ‘ , bezieht sich auf das Hier und Jetzt), prossima ( ‚ bevorstehend ‘ , steht in Bezug zu unmittelbar Naheliegendem) und distante ( ‚ entfernt ‘ / ‚ fern ‘ , bezieht sich auf Zukünftiges, Mögliches, Imaginäres, Utopisches). Das heißt, Reise- und Urlaubszeit können und werden auf der Grundlage dieser Gegensätze diskursiv konstruiert, zwischen einer Welt, die die eigene, reale, selbstverständliche ist (identitaria), und einer Welt, die per definitionem eine andere ist, und zwar gemäß der Abstufung, die von einer nahen Zone (prossima), die sich - wenn auch nur teilweise - vom Alltag unterscheidet zu einer fern(er)en, gar schon irrealen Zone (distante). Hier vermischen sich die semiotische und die kognitive Ebene: Destinationswerbung ruft durch den Einsatz semiotischer Mittel Entwürfe, Imaginationen, Vorstellungen und Visionen im Gedächtnis der potenziellen Tourist: innen hervor, sie bringt das Dort zum Hier, Fernräume werden zu Nahräumen. Gleichzeitig bewegt sich Destinationswerbung imaginativ zwischen dem realen, alltäglichen Zeiterlebnis und dem noch unwirklichen, bevorstehenden Urlaubserlebnis (vgl. Wöhler 2011: 74). Laut Wöhler (2011: 71 f.) aktiviert die Vorstellung eines realen (Zeit-)Erlebnisses zu Handlungen und lässt dabei Realität, d. h. einen beobachtbaren und erlebbaren Raum entstehen. Diese Verbindung zwischen Zeit und Raum wird auch in dem eingangs angeführten Zitat von Delia Owen aus ihrem Roman „ Der Gesang der Flusskrebse “ angedeutet, in dem die Autorin die Marsch, ein Sumpfland, in dem es vieles zu erkunden und entdecken gibt, beschreibt. Köller (2004: 423) spricht von einer Koordination unserer Zeitvorstellung mit unserer Raumvorstellung, Zeit und 3 Dann (1996: 135 - 170) teilt touristische Texte typologisch nach pre- (z. B. Werbung), on- (z. B. Zeitschriften) und post-trip (z. B. Postkarten) ein. Außerdem verknüpft er die drei Zeiträume mit den Begriffen emancipation (prä, Motiv der Ausflucht), rebirth / animation (on, Akzent auf Erneuerung) und reincorporation / repatriation (post, Wiedereingliederung in den Alltag) (vgl. Dann 1996: 140). Zwischen Alltagszeit und Urlaubszeit, zwischen Imagination und Zurückerinnern 113 <?page no="114"?> Raum verschwimmen und gehen ineinander über. Dieses wechselseitige Verständnis von Zeit und Raum (oder auch umgekehrt) geht zum einen zurück auf Kant (vgl. Köller 2021: 40), der Raum und Zeit als apriorische Voraussetzungen des menschlichen Denkens und Wahrnehmens eingestuft hat. Das heißt, aus diesem philosophisch-anthropologischen Verständnis heraus gehören beide Phänomene eigentlich nicht zur Natur der empirisch fassbaren Welt selbst, sondern es handelt sich vielmehr um Denkformen, durch die Menschen die Welt wahrnehmen und eine konkrete Beziehung zur Welt entwickeln können - hier spielt also vor allem die Selbstwahrnehmung von Zeit (und Raum) eine Rolle (vgl. auch das Konzept der Eigenzeiten bei Köller 2021). Zum anderen hat auch Piaget (1955: 14) auf die Verknüpfung von Zeit und Raum hingewiesen: „ Der Raum ist eine Momentaufnahme der Zeit, und die Zeit ist der Raum in Bewegung. “ Nach Piaget lassen sich Raum und Zeit konzeptuell in eine metaphorische Beziehung setzen, wofür auch die Allgegenwart der konzeptuellen Metapher Z EIT IST R AUM spricht (vgl. auch Lakoff und Johnson 1980). Wöhler (2011: 69) verweist implizit auf die zeitliche Komponente von Raum, wenn er Raumwirklichkeit als das Ergebnis von (zeitlichen) Handlungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Modellen und Entwürfen beschreibt. In der vorliegenden Studie soll, ausgehend von dieser Wechselwirkung zwischen touristischer Zeit und touristischem Raum als diskursive Größen (s. Abschnitt 2), der Schwerpunkt auf die Vermittlung von Zeitlichkeit in Destinationswerbeanzeigen gelegt und untersucht werden, welche stilistischen, lexikalischen, syntaktischen, visuellen Mittel zum Einsatz kommen, um ein touristisches Zeiterlebnis zu inszenieren (s. Abschnitt 4). Als Korpus dienen Print- und online-Werbeanzeigen von Destinationen (s. Abschnitt 3), d. h. sowohl statische als auch dynamische Kombinationen von Bild und Sprache, die explizit - und auch implizit - auf Zeitlichkeit verweisen. Da die Studie in einem romanistischen Fokus steht, sind die Sprachen der Anzeigen Französisch, Italienisch und Spanisch. Im Mittelpunkt der Analyse steht die Frage, auf welche Weise und in welchen Formen Zeitlichkeit durch sprachliche und nicht-sprachliche Zeichen objektiviert bzw. intersubjektiv verständlich gemacht werden kann. 2 Destinationswerbung: die Vermarktung von Zeit und Raum 2.1 Was ist Destinationswerbung? Werbeanzeigen für Destinationen können als multimodale Kommunikate bzw. Texte beschrieben werden, die einen imaginären Raum bzw. ein touristisches 114 Monika Messner <?page no="115"?> Urlaubsziel und gleichzeitig auch imaginäre Zeit, d. h. ein touristisches Urlaubserlebnis verkaufen wollen. Destinationswerbung hat die Aufgabe bzw. Funktion, Länder, Regionen und Orte als potenzielles Reiseziel zu vermarkten (vgl. Held 2008a: 151). Dafür greift sie beispielsweise auf lexikalische und grammatische Mittel, adverbiale und deiktische Marker, Indexikalität, Ikonizität und Symbolik sowie auf Metaphern, Metonymien und Analogien, aber auch auf visuelle und ikono-/ typographische Codes zurück. Auf diese Weise nährt Destinationswerbung die Fantasie und die Sehnsucht der potenziellen Reisenden und verstärkt den touristischen Blick, der aus Zeichen und Bildern besteht, die als Indizien für die Qualität eines touristischen Ortes aufgefasst werden (vgl. den tourist gaze bei Urry 1990, 2002). In der Destinationswerbung spielen auch Idealisierung und Emotionalisierung eine wichtige Rolle: Eine touristische Destination muss einen emotionalen Mehrwert für den/ die potenzielle/ n Urlauber: in vermitteln. 4 Es geht demnach weniger um Information, als vielmehr um Imagination: Das touristische Raum- Zeit-Erlebnis soll sprichwörtlich zum Traum transformiert werden (vgl. Held 2008a: 152). Den potenziellen Tourist: innen wird auf sprachlich-visueller Ebene ein Bild bzw. eine Vorstellung vermittelt, die sowohl für das „ ersichtliche “ (sichtbare) Abbild (immagine) eines Raums und einer Zeit als touristisches Ziel steht, als auch die ‚ imaginäre ‘ (vorstell-bare) Idee (immaginazione) dieses Raums und dieser Zeit als spezifischer Genuss- und Aktivitätsbereich evoziert (vgl. Held 2019: 150). Destinationswerbung hat damit einen starken kognitiven Effekt: Die Aufmerksamkeit der Rezipierenden wird auf die Destination gelenkt und ein Interpretationsprozess wird aktiviert (vgl. auch die sog. Sympraxis bei Stöckl 1997). Gleichzeitig wirken touristische Werbeanzeigen auf der affektiven (der Wunsch wird geweckt, das Urlaubsland auszutesten) sowie auf der konativen Ebene (der/ die Konsument: in entscheidet sich, das Urlaubsland zu bereisen). Touristische Werbeanzeigen spiegeln darüber hinaus Trends, Haltungen und Überzeugungen der (Tourist: innen-)Masse, an die sie gerichtet sind, und tragen dazu bei, nicht nur Bedürfnisse, sondern auch Lebensstile und Werte zu erzeugen (vgl. Antelmi 2022: 8). Damit ist Destinationswerbung Teil des touristischen Diskurses und der touristischen Kommunikation (vgl. z. B. Jaworski und Pritchard 2005; Thurlow und Jaworski 2010; Antelmi 2022), die über den Bereich der Werbung hinausgehen (auch wenn Tourismusdiskurse insgesamt vorwiegend persuasiv sind, vgl. Maci 2020: 81) und auch andere Textgattungen (etwa Broschüren, Rezensionen, Guides, Infotafeln, Fotos, Urlaubskarten, Blogs usw.) mit einschließen (vgl. Antelmi 2022: 8; Brucculeri 2009: 14). 4 Vgl. die UPP (= unique perception proposition), die in der Destinationswerbung an die Stelle der USP (= unique selling proposition) tritt (vgl. Held 2008a: 151). Zwischen Alltagszeit und Urlaubszeit, zwischen Imagination und Zurückerinnern 115 <?page no="116"?> Der touristische Diskurs kann als soziale Praxis beschrieben werden, in der es darum geht, durch verschiedene semiotische Ressourcen (z. B. Sprache, Bilder) sowohl die Tourist: innen als auch die jeweilige Zielkultur - und mehr noch, Visionen von globalen Ideologien - zu gestalten und zu konstruieren (vgl. Antelmi 2022: 7; Thurlow und Jaworski 2010). Dabei wird Tourismuskommunikation immer stärker dominiert von visuellen Elementen, sie wird extrem ‚ semiotisiert ‘ - was mitunter mit der Verlagerung des Diskurses in den digitalen Raum zusammenhängt - und eröffnet dadurch ein wichtiges Feld zur Untersuchung der verschiedenen Formen und Funktionen der multimodalen Rekonstruktion von touristischer Zeit und touristischem Raum (vgl. u. a. Antelmi et al. 2007; Antelmi 2022). Werbeanzeigen für touristische Orte - sowohl gedruckt als auch digital - zeichnen sich durch ein Layout aus, das aus folgenden wesentlichen Bausteinen besteht (vgl. Antelmi 2022: 89; Janich 2010: 55 ff.): • Visual: Bild, das das Produkt bzw. die Destination repräsentiert; • Headline/ Slogan: Textelement, das die Aufmerksamkeit und das Interesse der Rezipierenden wecken soll, fungiert als ‚ sprachlicher Aufmacher ‘ (vgl. Janich 2010: 55), ist typographisch meist hervorgehoben; der Slogan kann auch abweichend von der Schlagzeile sein, wenn es sich dabei um ein kurzes, knappes Textelement handelt, das in verschiedenen Anzeigen und Anzeigentypen wiederholt wird (z. B. der Slogan Ho bisogno di Svizzera, ‚ Ich brauche Schweiz ‘ , der sowohl auf den Twitterals auch auf den Youtube-Accounts und auf der Homepage von Schweiz Tourismus zum Einsatz kommt); • Bodycopy: Fließtext bzw. Textblock der Anzeige, der die Funktion hat, die Schlagzeile der Anzeige thematisch aufzugreifen und zu präzisieren; den Rezipierenden sollen im Falle von Destinationswerbung die Vorzüge des Urlaubslandes/ -ortes vor Augen geführt werden; • Logo: Marke, Logo, die/ das für das Urlaubsland/ den Urlaubsort steht; häufig in der rechten unteren Ecke platziert, da diese Stelle von den Rezipierenden als letztes wahrgenommen wird, also am besten in Erinnerung bleibt, wenn es an dieser Stelle steht (bei online-Formaten von Werbeanzeigen kann sich diese Stelle auch verlagern, vgl. Abb. 1). 5 Die sprachlichen und visuellen Elemente einer Werbeanzeige werden so verarbeitet, dass ein schlagkräftiges Raum-Zeit-Bild vermittelt wird und dass Argumente visualisiert werden, die für den zeitlichen und räumlichen Konsum der Destination sprechen (vgl. Held 2019: 154). 5 Daneben können auch noch packshot, signature line, payoff sowie standing details als Bestandteile der Werbeanzeige hinzukommen (vgl. Held 2019: 154; Antelmi 2022: 89). 116 Monika Messner <?page no="117"?> Die vorliegende Studie soll einen wichtigen und innovativen Beitrag in der Erforschung von Destinationswerbung leisten, indem sie sich auf einen bisher noch nicht eingehender untersuchten Aspekt konzentriert: die diskursive Konstruktion von Zeitlichkeit (und Räumlichkeit) in touristischen Werbeanzeigen ( ‚ Zeitraum ‘ / ‚ Raumzeit ‘ ). 2.2 Zeitlichkeit in der Destinationswerbung Zeitlichkeit (Temporalität) und Räumlichkeit (Spazialität) bilden die Grundlage jedes menschlichen Weltbildes. Sie bestimmen Denken und Handeln in Form ineinandergreifender Strukturen, Dimensionen und Relationen, die subjektiv erlebt und je nach kommunikativer Perspektive im Diskurs unterschiedlich ausdifferenziert werden. Während Räumlichkeit als diskursive Dimension in Arbeiten zur Tourismuskommunikation bereits behandelt wurde (vgl. z. B. Edensor 2001; Held 2008b; Wöhler et al. 2010), sind Studien, die sich dezidiert mit Zeitlichkeit in der Tourismuskommunikation und spezifisch in Destinationswerbeanzeigen auseinandersetzen, bis dato rar. 6 Dann (1996: 49 - 55) beschäftigt sich mit Zeit-Strategien in der Sprache des Tourismus und erarbeitet ein Inventar, in dem er u. a. time as standing still / eternal time, pointing to the future / escaping into the future oder temporal contrast als mögliche Strategien listet, um „ to maximize the more agreeable characteristics of quality time “ (Dann 1996: 50). Allerdings beschränkt sich Dann ausschließlich auf sprachliche Praktiken, durch die die zeitliche Komponente in der Tourismuskommunikation zum Ausdruck kommt. Text und Bild werden in Fehses (2017) Studie zum Metapherngebrauch in der Anzeigenwerbung und in der Gegenwartskunst verknüpft. Fehse (2017: 619 ff.) setzt sich auf zwei Seiten mit dem Thema ‚ Urlaubszeiten ‘ in einer Werbeanzeige für Portugal auseinander und behandelt sprachliche Orientierungsmetaphern (z. B. DER H IMMEL IST DAS M EER ) im Zusammenhang mit den graphischen Ressourcen der Bildgestaltung. Die Autorin stellt plausible Überlegungen zu den Möglichkeiten des graphisch-bildlichen Mediums an, Zeit metaphorisch zu strukturieren (z. B. durch Bildkomposition, Perspektive, Linie/ Pfeil, Farbe, Typographie), wobei sie unterstreicht, „ dass in multimodalen kommunikativen Artefakten Bilder Kontext für sprachliche Metaphern und Bildbegleittexte Kontext für visuelle Metaphern sein können “ (Stöckl 2018: 42). 6 Gudrun Held schneidet das Thema Zeitlichkeit in ihren Untersuchungen zur Destinationswerbung zwar an (vgl. z. B. Held 2007: 238 - 239, 282 - 284), allerdings ohne es weiter zu vertiefen. Zwischen Alltagszeit und Urlaubszeit, zwischen Imagination und Zurückerinnern 117 <?page no="118"?> Nach Antelmi (2022: 8) können Werbeanzeigen unter jene Genres innerhalb des Tourismusdiskurses eingeordnet werden, die - aus der Perspektive eines Senders - eine prä-trip Vermarktung anstreben (wie z. B. auch Broschüren, Guides, Filme, Rezensionen). Allerdings schwingen für den Rezipienten auch immer die Vorstellung des Urlaubserlebnisses an und für sich (on-trip) sowie bereits gemachte Urlaubserfahrungen (post-trip) mit. Diese Ansicht vertritt auch Held (2008a: 164): Ideell sind alle drei Zeit-Dimensionen von Bedeutung und werden zu den gängigsten Topoi der DW [Destinationswerbung, M. M.] verarbeitet: zum einen geht es um die Gegenwart des aktuellen Erlebnisgenusses, zum anderen um die Zukunft als Erwartung, Wunsch und Vorfreude und schließlich um die Vergangenheit als - wenn möglich ewig bleibende - Erinnerung. Basierend auf den Beobachtungen dieser Studien, die Zeitlichkeit als Textualitätsdimension in Tourismuskommunikation in den Vordergrund stellen, soll im vorliegenden Beitrag eingehender untersucht werden, wie sich Zeitlichkeit in Werbeanzeigen für Urlaubsdestinationen im Zusammenspiel von Text und Bild metaphorisch äußert. Außerdem soll erörtert werden, ob und welche zeitlichen Strategien in den Anzeigen zum Einsatz kommen und inwiefern diese mit jenen von Dann (1996) vergleichbar sind. Nicht zuletzt ist von Interesse, wie die Formung des touristischen Blicks, des tourist gaze (vgl. Urry 1990), in Bezug auf die drei zeitlichen Dimensionen prä-, on- und post-trip in Text und Bild von Destinationswerbungen geschieht. Für die Herausbildung dieses Blicks bzw. dieser diskursiven Größe ist mitunter die affektive Komponente von Destinationswerbung von Bedeutung: „ Since the contemporary world is in many respects unattractive and materialistic, the resulting alienation can bring about not only a ‚ Fernweh ‘ [ … ] but also a ‚ Zeitweh ‘ , a yearning for far off times “ (Dann 1996: 49). Ziel dieses Beitrags ist es, ein umfassende(re)s Bild der Inszenierung von Zeitlichkeit in der Tourismuskommunikation zu erarbeiten. 2.3 Die Wechselwirkung zwischen Zeit und Raum Für die vorliegende Studie von Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen Zeit und Zeitlichkeit. Köller (2004) grenzt einen chronometrisch-quantifizierenden Zeitbegriff (Zeit ist ein unabhängig vom Bewusstsein des Menschen existierendes Phänomen) von einem psychologisch-qualifizierenden Zeitverständnis ab (Zeit ist ein Erlebnisinhalt im Bewusstsein des Menschen). In diese Differenzierung können die Begriffe Zeit und Zeitlichkeit eingeordnet werden: Zeit bezieht sich auf die messbare Dauer zwischen Ereignissen und ist eine objektive physikalische Größe, die in Einheiten wie Sekunden, Minuten oder 118 Monika Messner <?page no="119"?> Stunden gemessen wird; Zeitlichkeit hingegen bezieht sich auf die subjektive Erfahrung von Zeit und umfasst auch Aspekte wie Wahrnehmung, Erinnerung, Emotionen und kulturelle Kontexte. Im vorliegenden Beitrag soll dieser Trennung Rechnung getragen werden, indem von Zeit als quantitativer Größe gesprochen wird und Zeitlichkeit in Verbindung zur Art und Weise gesetzt wird, wie Menschen Zeit erleben und interpretieren, d. h. als qualitative Größe aufgefasst wird. Die geeignetste Behandlung von Zeit und Zeitlichkeit findet sich bei Köller (2021) in einer Studie zu sprachlichen Objektivierungsmitteln für menschliche Zeiterfahrungen, in der er anthropologische, semiotische, kulturelle und kognitive Perspektiven auf das Zeitphänomen vereint. Köller (2021: Kap. 2, 3 und 4) stellt die Frage, was Zeit überhaupt ist, gelangt aber schnell zu dem Schluss, dass diese erkenntnistheoretische, aber zugleich auch anthropologische und zeichentheoretische Frage abschließend kaum zu beantworten ist, da Zeit nicht direkt wahrgenommen, sondern nur medial bzw. semiotisch vermittelt werden kann. Mit dem Substantiv Zeit wird ein sehr abstraktes Denkkonzept bezeichnet, „ mit dessen Hilfe wir uns sehr komplexe Ordnungszusammenhänge begrifflich zu vergegenwärtigen versuchen, die sich einer unmittelbaren sinnlichen Erfahrungskontrolle weitgehend entziehen “ (Köller 2021: 47). Laut Köller (2021: 30) ist Zeit keine eigenständige handlungsfähige Größe, sondern sie kann eher als Relationsbegriff aufgefasst werden, da sie sich darüber definiert, wie wir uns Zeit als Phänomen theoretisch vorstellbar machen können und wie wir uns begrifflich bzw. intersubjektiv nachvollziehbar über die Zeit verständigen. Damit einher geht die Frage, mit welchem Konzept von Zeichen bzw. mit welcher Semiotik das Zeitphänomen am besten erfasst werden kann. Für Köller liegt die Antwort auf diese Frage in der natürlichen Sprache, die als Medium bzw. „ lebender Spiegel “ (Köller 2021: 427) für die semiotische Objektivierung von Zeit sowie zur Erschließung des vielgestaltigen Erfahrungsphänomens Zeit dient. Bei der sprachlichen Bewältigung des Zeitphänomens stoßen wir allerdings mit einem rein begrifflichen Sprachgebrauch immer wieder an Grenzen und sind deshalb auch auf einen ergänzenden metaphorischen angewiesen (vgl. Köller 2021: 133). Denn Zeit ist und bleibt ein schwer fassbares Konzept: „ Die Vergangenheit ist nur mental als Erinnerung zugänglich, die Zukunft besteht ebenfalls nur mental als Wunschbild oder Vorhersage, und selbst die Gegenwart verflüchtigt sich von einem Moment zum anderen in die Vergangenheit “ (Radden 1997: 430). Dabei ist die metaphorische Begriffsbildung die fundamentalere, da sie unverzichtbar ist, wenn wir neue Erfahrungen sprachlich abbilden und begreifen möchten. Wenn wir über Zeit reden, verwenden wir notwendigerweise immer wieder Metaphern, wie z. B. Zeitpunkt, Zeitfluss, Zeitraum Zwischen Alltagszeit und Urlaubszeit, zwischen Imagination und Zurückerinnern 119 <?page no="120"?> (vgl. Köller 2021: 133). Von einer metaphorischen Zeitvorstellung geht auch Radden (1997) aus, wobei diese Auffassung von Zeit auch immer mit Raum korreliert: Zeit wird metaphorisch als Raum konzipiert und mithilfe räumlicher Ausdrücke versprachlicht (vgl. etwa den metaphorischen Ausdruck Zeitraum). In der Kognitiven Linguistik (vgl. Lakoff und Johnson 1980; Lakoff 1993) wird (konstruierte) Zeit als Bewegung durch den Raum begriffen. Zeit und Raum sind ähnlich denkbar und lassen dadurch Metaphern (z. B. DIE Z EIT IST EIN F LUSS ) entstehen (vgl. Kruse et al. 2011: 81; vgl. auch Abschnitt 3). Aus dieser metaphorischen Sichtweise geht ein vektorielles Verständnis von Zeit hervor, d. h. Zeit wird mit Bewegung in Verbindung gebracht, sie bewegt sich aus der Vergangenheit durch die Gegenwart bis in die Zukunft (vgl. Radden 1997). Dieses objektive Verständnis von Zeit geht zurück auf Aristoteles, der bereits im Hellenismus die Auffassung vertrat, „ dass wir Zeit im Kontext von Bewegungsabläufen erfassen und deshalb als ‚ Maß der Bewegung ‘ im Raum bestimmen können “ (Köller 2004: 423). Demgegenüber steht Einsteins Vorstellung von Zeit, nach der Zeit und Raum zwei Größen sind, die nicht voneinander getrennt werden können und durch deren Wechselwirkung sich die Zeit ausdehnen und zusammenziehen kann (vgl. Fehse 2017: 386). Diese Wechselseitigkeit von Zeit und Raum ist auch für den vorliegenden Beitrag von Bedeutung, sind die beiden Phänomene in Destinationswerbeanzeigen doch sehr eng miteinander verwoben, wie etwa auch der Slogan Repubblica Dominicana infinitamente ( ‚ Dominikanische Republik. Unendlich. ‘ ) zeigt. Die Werbung spielt mit der Polysemie des Ausdrucks infinitamente. Während das Substantiv Repubblica Dominicana auf den Urlaubsort verweist, deutet das als Attribut gebrauchte Temporaladverb infinitamente ( ‚ unendlich ‘ ) auf eine spezifische zeitliche Eigenschaft der Urlaubszeit hin, die als typisch für das Urlaubsland dargestellt wird. Das Merkmal ‚ Unendlichkeit ‘ wird auch auf den Raum projiziert, indem im Bild der Werbeanzeige ein Mann gezeigt wird, der vor dem Hintergrund eines weiten (gar ‚ unendlichen ‘ ) Meereshorizonts Golf spielt. Auch Lefebvre (2000) versteht in seiner Raumtheorie 7 die Ebene der Zeit mit der Ebene des Raums verknüpft und beschreibt Zeit - so wie Raum - als gesellschaftlichen Prozess, als „ produit social “ (Lefebvre 2000: 35). Aus einer phänomenologischen und semiotischen Perspektive werden bei Lefebvre die 7 Mit dem Spatial Turn im 20. Jh. erwachte ein sozialwissenschaftliches Interesse an ‚ räumlichen ‘ Fragestellungen und führte gleichzeitig zu einer Reflexion der Dimensionen Zeit und Raum (vgl. Schmid 2010: 62; Rössel 2014: 20). Der französische Philosoph und Soziologie Henri Lefebvre fungierte als eine der Hauptfiguren dieses Spatial Turn. Er schlug eine neue Perspektive auf Raum als Forschungsgegenstand vor, die sich dadurch auszeichnet, dass der Raum im Prozess seiner Produktion betrachtet wird (vgl. Lefebvre 2000). 120 Monika Messner <?page no="121"?> beiden Dimensionen als dynamische Prozesse behandelt: 8 Zeit und Raum werden durch Handlungen von Subjekten hervorgebracht, die gleichzeitig kollektiv und individuell sind (vgl. Schmid 2010: 300). Das heißt, Zeit und Raum ‚ an sich ‘ existieren nicht, sondern sie sind das Ergebnis eines Produktionsprozesses, der auf mentalen und materiellen Aspekten sowie auf individuellen und kollektiven Subjekten (Individuum, Gruppe) basiert (vgl. Rössel 2014: 24). Für die Produktion von Raum stehen laut Lefebvre drei Dimensionen zur Verfügung: a) die materielle Produktion, aus der räumliche Praxis hervorgeht, die einen wahrgenommenen Raum produziert; b) die Wissensproduktion, die Repräsentationen von Räumen und damit konzipierten Raum schafft; c) die Bedeutungsproduktion, die Räume der Repräsentation, d. h. gelebte oder erlebte Räume entstehen lässt (vgl. Lefebvre 2000: 48). Diese drei Produktionsformen konstituieren soziale Räume, die eine materielle Dimension (wahrgenommener, sinnlich erfasster Raum), mentale Konzeptionen (konzipierter, mental erfasster Raum) sowie Erfahrungen und Bedeutungen umfassen (gelebter, erlebter Raum) (vgl. Rössel 2014: 38; Schmid 2008: 41). Lefebvres Produktion von Raum lässt sich auch auf Destinationswerbung anwenden. Ein Urlaubsort stellt einen realen, geographischen, wahrgenommenen Raum dar, der durch Destinationswerbung diskursiv in einen Werbebzw. einen mental erfassten Raum transportiert wird. Die Destinationswerbung selbst löst in der Vorstellung der potenziellen Tourist: innen einen imaginären, erlebten Raum aus, der Träume, Erwartungen, Erlebnisse und Erfahrungen mit einschließt (vgl. auch Held 2009: 146). 9 Diese ‚ räumliche Imagination ‘ beruht auf konkreten räumlichen Praktiken, „ die diese Imagination hervorbringt und durch sie wiederum verändert wird “ (Schmid 2010: 66). Reist der/ die Tourist: in an den beworbenen Ort, so entsteht dort ein erneuter realer, sinnlich zu erfahrener Raum, der vom/ von der Reisenden mit produziert wird und in dem Zeit als „ Entfaltungszeit “ erlebt wird (vgl. Wöhler 2011: 62 - 65). Das heißt, der/ die Tourist: in lernt das touristische Produkt erst kennen, wenn er/ sie sich handelnd in den Raum begibt und einbringt (vgl. Wöhler 2011: 65). 8 Vgl. auch die dynamische und performative Beschreibung von Tourismusräumen bei Wöhler (2011: 79), der feststellt, dass ein Tourismusraum etwa durch Ereignisse existiert, „ die durch leibliche Kopräsenz der an den Handlungen Beteiligten zustande gekommen sind und dadurch eine Wirklichkeit hervorbringen “ . 9 Vgl. auch das Konzept des blended space aus der Kognitiven Semantik bei Dancygier (2006), nach dem Elemente aus vorhandenen Wissensstrukturen, den sogenannten Inputräumen, selektiv in einen neuen mentalen Raum, den blended space, projiziert werden: „ Blending involves the establishment of partial mappings between cognitive models in different spaces in the network, and the projection of conceptual structure from space to space “ (Coulson und Oakley 2000: 178). Zwischen Alltagszeit und Urlaubszeit, zwischen Imagination und Zurückerinnern 121 <?page no="122"?> Dabei spielt Tourismuswerbung immer mit der Dichotomie zwischen dem Heimatraum als alltägliches Territorium und dem fremden, touristischen Raum als außeralltägliches Territorium (vgl. Wöhler 2011: 61). Andere Räume werden als ‚ bessere Orte ‘ dargestellt, zu denen eine zeitliche und räumliche Nähe fingiert wird, die sich wiederum in die Differenz ‚ potenziell/ virtuell ‘ vs. ‚ aktuell ‘ einbettet: „ Diese Vorstellung von Alterität und Kontingenz ist demzufolge die kognitive Operation, nach der Menschen einen Tourismusraum imaginieren und aktualisieren “ (Wöhler 2011: 74). Das bedeutet, Tourismuswerbung erzeugt ein Bild von einem abwesenden Fremdraum, das in der Vorstellung der potenziellen Tourist: innen präsent wird und seine Wirkung im touristischen Blick entfaltet. Dieser mediatisierte tourist gaze ist - laut Wöhler (2011) - kein flüchtiger Blick, sondern ein konzentrierter, fokussierender Blick der Tourist: innen, die sich den Objekten des in der Werbeanzeige präsentierten Fremdraumes zuwenden. Destinationswerbung selektiert also bereits für potenzielle Reisende: „ [ … ] there is a machinery of discursive, regulatory and practical norms which direct tourists ’ performances and often support their own understandings of how to behave “ (Edensor 2001: 74). Wöhler (2011: 64) spricht auch von der Produktion von ‚ Tourismusraumidentitäten ‘ , d. h. „ [ … ] den Räumen werden Strukturen auferlegt, die der Tourist dann auch tatsächlich erfahren bzw. erleben kann “ . Der touristische Blick, der u. a. auch durch Destinationswerbeanzeigen vermittelt und auferlegt wird, spielt also für die touristische Erfahrung von Raum (und auch Zeit) eine wesentliche Rolle, da er sich dadurch bestätigt, dass Tourist: innen das aufsuchen bzw. in den Blick nehmen, was in ihren Vorstellungen präsent ist (vgl. Wöhler 2011: 78). 3 Korpus und Methode Die Textsorte ‚ Destinationswerbung ‘ gehört in die Gruppe jener Werbeanzeigen, die sowohl in gedruckter als auch in digitaler Form verfügbar sind. Das Korpus, das diesem Beitrag zugrunde liegt, besteht aus solchen Print- und online-Destinationswerbeanzeigen, die in den letzten 50 Jahren von Gudrun Held und mir gesammelt wurden. Diese Anzeigen sind oft Teil von (meist sogar global angelegten) Multisujet-Kampagnen, die über einen längeren Zeitraum hinweg in unterschiedlichen Medien gleichzeitig geschaltet werden (vgl. Held 2019: 162). Um das Korpus für die vorliegende Studie zu erstellen, wurden in einem ersten Schritt aus der Fülle an gedrucktem Werbematerial 10 (insgesamt 10 Die Print-Werbungen sind folgenden Zeitschriften entnommen: die italienischen Anzeigen stammen aus Qui Touring und Panorama, die französischen aus GEO, Télérama und dem Nouvel Observateur. 122 Monika Messner <?page no="123"?> umfasst die Sammlung einige tausend Werbeanzeigen) jene Anzeigen gefiltert, die auf explizite (etwa durch einen direkten Verweis auf Zeitlichkeit [endlich ankommen]) oder auch auf implizite Art und Weise (etwa durch die Anspielung auf eine Zukunft, in der man die Effekte des Urlaubs spüren wird [ein unvergessliches Erlebnis]) Zeitlichkeit ausdrücken. Diese Zusammenstellung erfolgte zunächst auf der Grundlage eines intuitiven Zeitverständnisses. In einem zweiten Schritt wurden die Anzeigen hinsichtlich bestimmter ‚ zeitlicher ‘ Kategorien eingestuft, etwa Zeitmetaphorik, zeitliche Kontiguität, Topos der Ewigkeit. Aufbauend auf dieser Kategorisierung wurde das Korpus (und wird auch noch weiterhin) mit Werbeanzeigen aus dem Internet erweitert und aktualisiert. Diese Anzeigen wurden und werden aus Startseiten von Homepages sowie Twitter- und Instagram-Accounts von Tourismusorganisationen (z. B. Österreich Werbung) entnommen; mit aufgenommen in die Sammlung wurden auch persuasive Youtube-Videos, die ein bestimmtes Land oder einen bestimmten Ort bewerben. Neben dem ‚ Zeit ‘ -Kriterium liegt allen Anzeigen auch ein sprachliches Kriterium zugrunde: Die Sprachen im Werbematerial sind Französisch, Italienisch und Spanisch. Insgesamt umfasst das daraus entstandene Subkorpus ca. 200 Destinationswerbeanzeigen, die die genannten Kriterien erfüllen. Für diesen Beitrag wurden Beispiele aus diesem ‚ Zeit ‘ - Subkorpus ausgewählt, an denen gezeigt werden kann, wie Zeitlichkeit auf textueller (lexikalisch, syntaktisch, stilistisch) und visueller Ebene ausgestaltet und wie dabei touristische Zeit mit touristischem Raum verwoben wird. Woran kann man nun erkennen, dass ein persuasives Text-Bild-Gefüge einen zeitlichen Gehalt hat? Kann man das einem Bild ansehen oder aus seinem Text herauslesen, noch bevor Text und Bild en détail analysiert wurden (vgl. Fehse 2017: 375)? Ein sicheres Indiz dafür, dass eine Werbeanzeige etwas mit Zeitlichkeit zu tun hat, sind auf sprachlicher Ebene Wortbildungen, die offensichtlich und direkt auf Zeit Bezug nehmen (z. B. ital. tempo ‚ Zeit ‘ , senza tempo ‚ zeitlos ‘ , sempre ‚ immer ‘ ; franz. avant ‚ vorher ‘ , bientôt ‚ bald ‘ ; span. más tarde ‚ später ‘ usw.). Unter implizite sprachliche zeitliche Verweise fallen Wörter, die sich nur mittelbar auf das Zeitphänomen beziehen (z. B. franz. souvenir ,Erinnerung ‘ , mythe ‚ Mythos ‘ ; ital. indimenticabile ‚ unvergesslich ‘ ; oder auch Verben, die konnotative zeitliche Eigenschaften in sich bergen, z. B. span. evadirse ‚ flüchten ‘ [etwa aus dem Alltag]) (vgl. Köller 2021: 43). 11 Auf bildlicher Ebene ist die Unterscheidung zwischen explizit und implizit schwieriger, da Zeit im Bild (immer) mit Raum korreliert und auch bestimmte zeitliche Urlaubsaktivitäten 11 Köller (2021: 64) hält fest, dass Zeit ein anthropologisches Grundphänomen ist, deshalb haben fast alle menschlichen Erfahrungsinhalte Zeitimplikationen in einem engeren oder weiteren Sinne. Zwischen Alltagszeit und Urlaubszeit, zwischen Imagination und Zurückerinnern 123 <?page no="124"?> (z. B. in der Sonne liegen, am Strand spazieren gehen) immer in eine räumliche Umgebung (das Urlaubsland, den Urlaubsort) eingebettet sind. Zeitlichkeit im Bild äußert sich also in einem Kontinuum zwischen explizit und implizit. In der folgenden Analyse (s. Abschnitt 4) wird auf die Unterscheidung zwischen explizit und implizit mit Bezug auf Sprache zurückgegriffen - wobei auch hier die Grenze nicht immer ganz eindeutig ist. Die methodische Basis für die Analyse von Destinationswerbung bilden mehrere unterschiedliche Zugänge. Destinationswerbeanzeigen sind multimodale Kommunikate, in denen sowohl die Modalität ‚ Bild ‘ als auch die Modalität ‚ Sprache ‘ zur zentralen ‚ Verbildlichung ‘ von Zeit und Raum beitragen (vgl. Held 2019: 155). Aus einer funktional-linguistischen Perspektive (vgl. z. B. Halliday 1994) erfolgt multimodale Bedeutungskonstruktion anhand von Informationen, die auf verschiedene Zeichenmodalitäten bzw. modes aufgeteilt sind, sowie durch logisch-semantische Bezüge, die sprachanalog mit der Struktur komplexer Sätze erklärt werden (vgl. Klug und Stöckl 2015: 250). Der funktional-linguistische Ansatz ist in der Beschreibung von Text-Bild- Gestalten hilfreich, „ weil er auf allgemeine semantische Prozesse abhebt, die von der Intention des Kommunikats bestimmt werden “ (Klug und Stöckl 2015: 250). In der (multimodalen) Sozialsemiotik (vgl. z. B. Kress und van Leeuwen 1996) rücken das Bild und dessen Funktionsweisen noch stärker in den analytischen Vordergrund. Es wird auf die Unterschiedlichkeit der medial-semiotischen Struktur von Bildern und Sprache und auf deren Bedeutungspotenzial hingewiesen sowie eine systematische Analyse der Verbindungsmöglichkeiten zwischen beiden Zeichenmodalitäten vorgestellt (vgl. Klemm und Stöckl 2011: 9). Während Sprache auf semiotischer Ebene linear-syntagmatisch fassbar und arbiträr, d. h. wahrnehmungsfern ist, geben Bilder als Konfigurationen wahrnehmungsnaher, ikonischer Zeichen Auskunft über das Aussehen von Elementen und deren räumliche Konfiguration (vgl. Stöckl 2011: 48 f.). Hinzu kommen noch typographische Elemente (Schriftbilder, Layout), die konnotativmetaphorisch oder bildlich gedeutet werden können; sie gliedern aber auch den Textraum und verstärken verbale und/ oder bildliche Aussagen. Daraus resultiert, dass Modalitäten grundverschieden sind, sich durch ein eigenes Ausdruckspotenzial auszeichnen und daher im multimodalen Text jeweils spezifische Aufgaben übernehmen (vgl. Stöckl 2011: 50). Aus einer soziosemiotischen Herangehensweise heraus wird in diesem Beitrag nun untersucht, wie verschiedene semiotische Ressourcen in einem Text zusammenwirken und eine Bedeutung konfigurieren, die über die Summe der Bedeutung der einzelnen Bestandteile hinausgeht. Die Grundannahme ist, dass ein multimodales Kommunikat semantisch essentiell multiplikativ, kohä- 124 Monika Messner <?page no="125"?> rent und komplementär konstruiert wird (vgl. Klug und Stöckl 2015: 249), d. h. die verschiedenen Modalitäten sind wechselseitig aufeinander angewiesen. Generell können sich Zeichenmodalitäten additiv verstärken, komplementär ergänzen und modifizieren, gegenseitig dominieren oder divergent und konfliktiv in Opposition zueinander treten (vgl. auch Barthes 1964/ 1977). Die modes gehen untereinander Verknüpfungen ein und treten in eine intermodale Kohärenz, die sich sowohl auf inhaltlich-konzeptueller als auch auf formalsyntaktischer und funktional-pragmatischer Ebene widerspiegelt. Ziel der Sozialsemiotik ist es, eine Theorie der sozialen Bedeutungskonstruktion aufzuzeigen, d. h. „ eine übergreifende Grammatik verschiedener Zeichenmodalitäten [ … ] zu entwerfen, die ihre sozialen Funktionen systematisch inventarisiert “ (Klug und Stöckl 2015: 252). Dafür orientiert sich der sozialsemiotische Ansatz an drei bedeutungskonstituierenden Ebenen: Darstellung, Interaktion und Komposition (vgl. Stöckl 2011: 51; Klug und Stöckl 2015: 253). Sprache- Bild-Komplexe repräsentieren Weltausschnitte, indem sie Objekte und Handlungen darstellen (ideational - Darstellungsebene); außerdem gestalten sie eine soziale Interaktionsbeziehung zwischen Produzent: in und Rezipient: in (interpersonal - Interaktionsebene); und schließlich komponieren Sprache und Bild formal kohäsive und inhaltlich kohärente Textstrukturen (textual - Kompositionsebene). Für diese Ebenen hat die Sozialsemiotik klare Beschreibungskategorien entwickelt, die darauf abzielen, das symbiotische (d. h. kohäsions- und kohärenzbildende) Zusammenspiel zwischen verschiedenen Modalitäten zu fokussieren (vgl. Klug und Stöckl 2015: 252 f.). Nicht zuletzt ist aus methodischer Hinsicht für die vorliegende Studie auch der kognitiv-linguistische Ansatz (vgl. Lakoff und Johnson 1980) von Bedeutung. Destinationswerbeanzeigen spielen (oft) mit zeitlichen und räumlichen Metaphern, die sich nicht nur in sprachlichen Ausdrücken, sondern auch in anderen Zeichenmodalitäten (Bilder, bildliche Metaphern; vgl. z. B. Forceville und Urios-Aparisi 2009) manifestieren können. Durch Metaphern werden zwei unterschiedliche konzeptuelle Domänen (target und source) miteinander verknüpft, d. h. bekannte Erfahrungen, Wissensbestände und Einstellungen des bildspendenden Bereichs (source) werden auf den bildempfangenen Bereich (target) übertragen (vgl. Kruse et al. 2011: 72). Für den vorliegenden Beitrag sind vor allem Strukturmetaphern, als eine der insgesamt vier verschiedenen Metaphernarten, die von Lakoff und Johnson (1980) entwickelt wurden, von Bedeutung. 12 Strukturmetaphern strukturieren eine Zieldomäne, es handelt 12 Neben den Strukturmetaphern listen Lakoff und Johnson (1980) auch noch Orientierungsmetaphern, ontologische Metaphern und Personifikationen als Metaphernarten auf. Zwischen Alltagszeit und Urlaubszeit, zwischen Imagination und Zurückerinnern 125 <?page no="126"?> sich also um Metaphern, in denen ein Konzept auf ein anderes übertragen wird, wie z. B. die Metapher U RLAUB MACHEN IST EINTAUCHEN , die sich aus dem Zusammenspiel von Slogan (Portugal - Tauchen Sie ein) und einer im Bild dargestellten tauchenden Familie, die ‚ am Meeresgrund ‘ einen typischen Ausschnitt der Natur oder Kultur Portugals entdeckt (vgl. Abb. 2), ergibt (vgl. Fehse 2017: 620; Held 2008b: 109): Abb. 2: Portugal. Tauchen Sie ein. 13 13 Quelle: Zeitschrift GEOSAISON, 2006, Ausgabe Nr. 6, S. 69. 126 Monika Messner <?page no="127"?> 4 Analyse 4.1 Expliziter Verweis auf Zeitlichkeit 4.1.1 Beispiel 1: Endlich. Österreich. Abb. 3: L ’ Austria … finalmente. I professionisti delle vacanze. / Endlich … Österreich. Die Profis für den Urlaub. 14 In diesem ersten Beispiel, das einer Sommer-Werbekampagne für das Urlaubsland Österreich aus dem Jahr 2004 entstammt, wird sowohl im Text als auch im Bild explizit auf Zeitlichkeit verwiesen. Textkonstituierende Elemente dieser printmedialen Darstellung sind die beiden Pinguine, 15 die auf einer Almhütte in Österreich (endlich) ankommen, der Slogan der Kampagne (L ’ Austria … finalmente, ‚ Endlich … Österreich ‘ ) - der auch gleichzeitig das Logo des Urlaubslandes in sich vereint - links oben im Bild sowie das Logo der Destination (mit dem Zusatz i professionisti delle vacanze, ‚ die Profis für den Urlaub ‘ ) in der rechten unteren Ecke der Anzeige. Im Slogan sind Zeit, durch die Verwendung des Zeitadverbs finalmente ( ‚ endlich ‘ ), das für ein Zeitverlaufsergebnis steht, 14 Quelle: Zeitschrift Qui Touring, Mai 2004, Ausgabe Nr. 5, innere Umschlagseite. 15 Die beiden Pinguine heißen Joe und Sally. Ihr geistiger Vater ist Willy Puchner, Fotograf und Autor aus Niederösterreich. Sein Buch „ Die Sehnsucht der Pinguine “ , erstmals erschienen im Jahr 1992, stand Pate bei der visuellen Konzeption der Österreich- Kampagne (vgl. Rolling pin 2015). Zwischen Alltagszeit und Urlaubszeit, zwischen Imagination und Zurückerinnern 127 <?page no="128"?> und Raum, durch die Angabe des Urlaubslandes Österreich, miteinander verknüpft. Außerdem beinhaltet der bildliche Hintergrund, auf dem der Slogan abgedruckt ist, einen Intertextualitätshinweis auf ein (Zug-, Bus-, Flug-)Ticket. Interessant in diesem Text-Bild-Element, das in der Werbeanzeige u. a. auch durch die farbliche Akzentuierung hervorsticht, ist die Anordnung der verbalen Elemente: oben das Urlaubsland L ’ Austria, das die Richtung vorgibt, unten das Zeitadverb finalmente, das auf den Weg verweist und rechts das Österreich- Logo, das das Ziel der Reise darstellt. Hier kann von einer Orientierungsmetapher gesprochen werden, die eine Oben-unten-Orientierung an eine Rechts-links-Orientierung koppelt und dadurch Zeit - das Reisen ins und das Ankommen im Urlaubsland - und Raum - das Urlaubsland Österreich - auf der prä-trip Ebene miteinander verknüpft. Die Idee des Ankommens wird auch im Bild repräsentiert: Die Pinguine stehen metonymisch als Repräsentant: innen für die Sehnsucht nach dem Urlaubsland Österreich; gleichzeitig personifizieren sie potenzielle Urlaubsgäste, die den Wunsch verspüren, nach Österreich zu reisen. Außerdem wird das Fehlen eines Verbs im Slogan durch die Handlung im Bild gezeigt (endlich im Urlaubsland ankommen), d. h. der elliptische Slogan findet im Bild seine Erweiterung. Sprache und Bild verhalten sich auf inhaltlicher Ebene also komplementär zueinander. Auf formaler Ebene wird eine bildzentrierte Lesart nahegelegt, da sprachliche Elemente in dieser Werbung rar sind. Graphische Kohäsion bzw. Konnektivität entsteht durch die Farbe Rot, die den Slogan und das Logo verbindet und die durch die oben-unten und links-rechts-Strukturierung von Sprache und Bild verstärkt wird (vgl. Klug und Stöckl 2015: 260). 16 Text- und Bild-Elemente gemeinsam setzen den/ die Betrachter: in der Werbung in eine interaktionale Beziehung zum Dargestellten/ Beschriebenen (vgl. Klug und Stöckl 2015: 253) und projizieren Sehnsucht und Reiselust auf das Urlaubsland. 4.1.2 Beispiel 2: Toskana. Endlose Renaissance. Während in Beispiel 1 der Schwerpunkt auf prä-trip, also auf Reisevorbereitung und Projektion (Sehnsucht, Reiselust) gelegt wird, kommen in diesem Beispiel 16 Auch die Positionierung der einzelnen Elemente auf der Sehfläche kann in Bezug zu Zeitlichkeit stehen. Nach Kress und van Leeuwen (1996) wird durch unsere für westliche Gesellschaften typische Leseweise (von links nach rechts, Zeile für Zeile) ein Informationssystem aufgebaut, bei dem links bereits bekannte Informationen (Gegebenes, Vergangenheit), rechts neue Informationen (Imaginäres, Zukunft), oben die Welt, wie sie sein sollte (Ideales) und unten, was und wie die Welt ist (Reales), angeführt werden (vgl. auch die Orientierungsmetaphern bei Lakoff und Johnson (1980), z. B. D IE V ER- GANGENHEIT IST LINKS , D IE Z UKUNFT IST RECHTS ). 128 Monika Messner <?page no="129"?> alle drei zeitlichen Abschnitte des Urlaubserlebnisses (prä, on und post) in Text und Bild zum Ausdruck: Abb. 4: Scoprirsi padroni del tempo e dello spazio in un istante che sa di eternità. Toscana. Rinascimento senza fine. / Sich selbst als Herr über Zeit und Raum entdecken, in einem Augenblick, der wie eine Ewigkeit wirkt. Toskana. Endlose Renaissance. 17 Diese Werbeanzeige für die Toskana, die aus dem Jahr 2020 stammt und einen post-Covid-Trip in die italienische Region vermarktet, vereint auf sprachlicher Ebene Ausdrücke, die das gemeinsame semantische Merkmal ‚ Zeit ‘ aufweisen: tempo ( ‚ Zeit ‘ ), istante ( ‚ Moment ‘ ), eternità ( ‚ Ewigkeit ‘ ), rinascimento 18 ( ‚ Renaissance ‘ , ‚ Wiederaufleben ‘ ) sowie senza fine ( ‚ endlos ‘ ). Solchen Isotopieketten kann die Funktion zugeschrieben werden, Interesse und Wünsche bei den Betrachtenden der Anzeige zu wecken (vgl. Janich 2010: 188). Die Toskana- Werbung spielt mit diesem Interesse, das auf der prä-trip-Ebene angesiedelt werden kann (Urlaubsvorbereitung, Wünsche, Versprechen, Werbung). Gleichzeitig suggeriert sie ein on-trip-Erlebnis (emotionale Unmittelbarkeit), das sowohl versprachlicht ( ‚ ein Augenblick, der sich anfühlt, wie eine Ewigkeit ‘ ) als auch verbildlicht wird (das catch visual der Werbeanzeige könnte ein Schnappschuss sein, den ein Gast im Toskana-Urlaub tätigt). Nicht zuletzt 17 Quelle: http: / / www.toscanapromozione.it/ magazine/ wp-content/ uploads/ 2020/ 07/ Rinascimento-senza-fine-slides.pdf (Stand: 09.03.2023); Credits: Toscana Promozione Turistica. 18 Dieser Ausdruck stellt gleichzeitig eine Analogie zwischen historischer Renaissance und Wiederentdeckung des Individuums, der Zeit, des Raums und der Natur her. Zwischen Alltagszeit und Urlaubszeit, zwischen Imagination und Zurückerinnern 129 <?page no="130"?> spielt die Anzeige auch mit Erinnerungen: auf sprachlicher Ebene mit dem Ausdruck eternità ( ‚ Ewigkeit ‘ [von Erinnerungen]), auf bildlicher Ebene mit dem catch visual, das ein Zurückdenken an ein Urlaubserlebnis (Sonnenuntergang, Fotoalbum) evoziert. Darüber hinaus enthält die Werbung eine sprachliche Raum-Zeit-Metapher, die auch im Bild präsent ist: H ERR ÜBER Z EIT UND R AUM WERDEN . Durch diese Metaphorisierung des Raum-Zeit-Erlebnisses wird die Vorstellung eines Urlaubs im Zielland für die Rezipierenden in eine bestimmte Richtung gelenkt sowie eine spezifische emotionale und ästhetische Wirkung erzielt (vgl. auch Köller 2021: 133). Diese Destinationswerbung ist also sehr auf Suggestion und Imagination ausgelegt: Sie schafft einen Imaginationsraum, innerhalb dessen sich die statische Raumverortung in einen dynamisch dehnbaren Raumablauf wandelt, der (metaphorisch) für das Urlaubserleben steht: „ so kann die im Moment sichtbare, gegenwärtige Nutzung als Produkt aus Vergangenheit (Urlaubssehnsucht) und Zukunft (möglichst ewige Urlaubserinnerung) mit den verschiedensten semiotischen Mitteln dargestellt [ … ] “ (Held 2009: 148) und subjektiv hervorgerufen werden. 4.1.3 Beispiel 3: Aostatal. Zeit hier wiederfinden. In der Destinationswerbung für das Aostatal aus dem Jahr 2022 kommt ein filmisches Medium (Youtube) zum Einsatz, das Sprache und Bild dynamisch kombiniert. In dem Beispiel wird Zeit verlebendigt, personifiziert: Abb. 5: Valle d ’ Aosta / Vallée d ’ Aoste. Il tempo ritrovalo qui. / Aostatal. Zeit hier wiederfinden. 19 Abbildung 5 steht hier stellvertretend als abschließende Sequenz für ein ganzes Werbevideo für das Aostatal, das auf Youtube abrufbar ist. Das Video arbeitet 19 Quelle: https: / / www.youtube.com/ watch? v=H-lbHUMGo7o (Stand: 07.03.2023); Credits: Regione Autonoma Valle d ’ Aosta. 130 Monika Messner <?page no="131"?> mit bewegten Bildern, die den Urlaubsort Aostatal repräsentieren, mit einem Off-Sprecher, der im Einklang mit den gezeigten Bildern Eigenschaften des Phänomens Zeit auflistet, mit Hintergrundgeräuschen (z. B. das Ticken einer Uhr; Wasser, das von einem Stein herabtropft; das Rascheln von Gras unter Wanderschuhen; das Rauschen des Baches) und mit Hintergrundmusik. Tabelle 3 schlüsselt die ersten 16 Sekunden (des insgesamt 30-sekündigen) Werbevideos nach Modalitäten auf: Zeit/ Sek. 00: 00 - 00: 05 00: 05 - 00: 07 00: 07 - 00: 10 00: 10 - 00: 11 00: 12 - 00: 16 Off- Sprecher il tempo racconta la nostra storia ( ‚ die Zeit erzählt unsere Geschichte ‘ ) da ritmo alla vita ( ‚ [sie] gibt dem Leben einen Rhythmus ‘ ) il tempo da sapore alle cose ( ‚ die Zeit verleiht den Dingen Geschmack ‘ ) Bilder Bilder von Burgen und Schlössern Wasser, das von einem Stein herabtropft; Füße eines Mountainbikers, der auf einer Wiese fährt Füße eines Wanderers, der über einen Steig den Berg hochgeht Kletterer, der in einer Wand hängt und einen Karabinerhaken schlägt Käseleibe, die übereinander gestockt in einem Regal reifen; aufgehender Teig; Weinrebe Geräusche Ticken einer Uhr Plätscherndes Wasser Ticken einer Uhr; Rascheln von Gras unter Wanderschuhen Schlagen eines Hammers auf einen metallischen Gegenstand Ticken einer Uhr Musik Klaviermusik Klaviermusik Klaviermusik Klaviermusik Tab. 3: Video-Teil-Transkript der Destinationswerbung für das Aostatal Aus dem Transkript wird ersichtlich, dass Zeit im Zentrum des Videos steht: auf verbaler Ebene durch die Wiederholung des Substantivs tempo; auf auditiver Ebene entweder durch das Ticken einer Uhr im Hintergrund oder durch andere Geräusche, die das Ticken imitieren (z. B. das Wasser, das von einem Stein herabtropft); auf visueller Ebene durch Bilder von Burgen und Schlössern, die auf die Geschichtsträchtigkeit des Tals anspielen, oder auch durch die Visualisierung der Tick-Geräusche und des Gärprozesses eines Teiges, die auf das Vergehen von Zeit verweisen. Auf diese Weise kommt es zu einer Personifikation von Zeit, die in der abschließenden Aussage gipfelt: Valle d ’ Aosta. Il tempo ritrovalo qui ( ‚ Aostatal. Zeit hier wiederfinden ‘ ). Zeit und Raum werden also am Ende des Videos explizit miteinander verknüpft, im Video selbst wird Zwischen Alltagszeit und Urlaubszeit, zwischen Imagination und Zurückerinnern 131 <?page no="132"?> Raum denotativ (re)präsentiert, konnotativ wird touristisches Handeln (z. B. Wandern / Mountainbiken im Aostatal) in einem dynamischen Ablauf evoziert (vgl. Held 2019: 163). Diese Dynamik kommt auch im Verb ritrovare zum Ausdruck: das Präfix ri steht für Wiederholung, für ein oftmaliges Ausführen der Verbhandlung. Interessant ist die unterschiedliche Syntax, die die drei Aussagen über die Zeit am Beginn von jener am Ende des Videos unterscheidet. Die Aussage il tempo ritrovalo qui zeichnet sich durch eine Linksdislokation auf. Der Off- Sprecher im Video baut außerdem eine kurze Pause zwischen il tempo und ritrovalo qui ein, wodurch die (touristische) Zeit zusätzlich hervorgehoben wird und ein Urlaub in dem beworbenen Tal an Überzeugungskraft gewinnt. Außerdem wird die Kohärenz zwischen Text und Bild in dieser Schlusssequenz des Videos per deiktischer Referenz (Ortsadverb qui, ‚ hier ‘ ) hergestellt und gleichzeitig verstärkt. Held (2009: 151) spricht im Falle von (orts-)deiktischen Ausdrücken auch von „ versprachlichten Gesten “ , die Subjektivität und eine entsprechende Verortung auslösen. Nicht zuletzt beinhaltet die Werbung eine affektive Komponente durch die Abbildung eines Herzens (vgl. Abb. 5). Diese Affektivität bzw. Emotionalität ist auch in weiteren Varianten der Werbekampagne beobachtbar: • ital. la felicità ritrovala qui ( ‚ hier findest du Glück/ Freude ‘ ) - Anspielung auf eine Emotion, die im Urlaubsland spürbar wird; hedonistischer Wert wird angeführt, der die Lebensqualität des/ der Einzelnen betrifft (vgl. Janich 2010: 143); • span. el encanto existe ( ‚ der Zauber existiert ‘ ) - Mystifizierung / Exklusivität der Destination; • franz. blanc paradis ( ‚ weißes Paradies ‘ ) - Gleichsetzung des Urlaubsortes mit dem Paradies; Hyperbel. Durch solche affektiven Argumentationsstrategien wird - laut Janich (2010: 145) - bei den Rezipient: innen „ eine emotionale Gestimmtheit und eine Verbindung des Produkts [hier: der Destination] mit diesen positiven Werten “ bezweckt. Mit einher geht auch die vorstellungsaktivierende Funktion von Werbung, d. h. die Gestaltungsweise der Destinationswerbung für das Aostatal schafft es, die Möglichkeiten, die den potenziellen Tourist: innen bei einer Reise an den Urlaubsort offen stehen, anschaulich vor Augen zu führen: Zeit und Raum ‚ wiederfinden ‘ und den Alltag hinter sich lassen (vgl. auch den Imperativ in ritrova, der eine Verhaltensweise oder Handlung ausdrückt, die der/ die Tourist: in ausführen soll [vgl. Maci 2018: 35]). 132 Monika Messner <?page no="133"?> 4.1.4 Beispiel 4: Was werden Sie aus Andorra mitnehmen? In den bisher betrachteten Beispielen lag der Fokus sprachlich gesehen auf Zeitadverbien (z. B. finalmente in Abb. 3) und auf Substantiven, die Zeitlichkeit ausdrücken (z. B. eternità in Abb. 4). Daneben kann Zeitlichkeit in Destinationswerbungen mithilfe von Verb-Tempusformen - und hier vor allem durch den Gebrauch des Futurs 20 - dargestellt werden, wie Abb. 6 zeigt: Abb. 6: Et vous, que ramènerez-vous de l ’ Andorre ? / Und Sie, was werden Sie aus Andorra mitbringen? 21 Die Werbung spielt in Text (durch die Verwendung des Futurs im Verb ramener [ ‚ mitnehmen, nach Hause zurückbringen ‘ ]) und Bild (eine Touristin, die in Erinnerungen schwelgt; Einkaufstaschen, auf denen Urlaubsaktivitäten abgebildet sind) auf Urlaubserinnerungen für einen bestimmten Urlaubsort (Andorra) an, d. h. sie kann auf der post-trip-Ebene angesiedelt werden. Das durch die Verbform angezeigte Tempus Futur I unterstreicht diese zeitlich-diskursive 20 Dass die Verwendung des Futur I in Destinationswerbeanzeigen beliebt ist, zeigen auch weitere Slogans aus dem Korpus, beispielsweise Vous aimerez Madère autant que moi ( ‚ Sie werden Madeira genauso lieben/ mögen wie ich ‘ ) oder Irlanda - Il viaggio che sognerai sempre ( ‚ Irland - Die Reise, von der du immer träumen wirst ‘ ). 21 Quelle: Zeitschrift Télérama, April 2007, Ausgabe Nr. 2986, S. 41. Zwischen Alltagszeit und Urlaubszeit, zwischen Imagination und Zurückerinnern 133 <?page no="134"?> Dimension der Werbung. Laut Weinrich (2001) sind Futurformen pragmatisch dazu bestimmt, die jeweiligen Rezipient: innen einer Aussage zu einer gespannten und reaktionsbereiten Reaktion auf das Gesagte hinzuführen. Mit Futurformen sind immer ganz bestimmte Sprachhandlungen verbunden, etwa Voraussage, Vermutung, Behauptung. In der Werbeanzeige werden solche Sprechakte visuell dargestellt, z. B. die Voraussage, dass der/ die Tourist: in viele Eindrücke ( ‚ in Einkaufstaschen verpackt ‘ ) mit nach Hause nehmen wird. Diese Voraussage ist zwar hinsichtlich ihres Realitätsgehalts nicht direkt verifizierbar (vgl. Köller 2021: 260), allerdings wird zwischen dem jeweiligen Jetzt und dem Dann ein ‚ Erwartungsschnitt ‘ gelegt (vgl. auch Brinkmann 1971). Köller (2021: 241 f.) hält fest, dass sich Tempusformen, wie beispielsweise die Zukunftsform, als Mittel ansehen lassen, die nicht nur dem Inhaltsaspekt von Kommunikationsprozessen Ausdruck [ … ] geben, sondern auch dem Beziehungsaspekt, insofern durch sie implizit ganz unterschiedliche Mitteilungsintentionen signalisiert werden können. Das bedeutet, dass man Tempusformen nicht nur als chronologisch orientierte Seinskategorien ins Auge fassen kann, sondern auch als psychologisch orientierte Interpretationskategorien [ … ]. Damit greifen Tempusformen im Sinne der Sozialsemiotik auf der interaktionalen Ebene: Sie setzen den/ die Betrachter: in der Werbeanzeige in eine interaktionale Beziehung zum Dargestellten, die sich hier in dem Appell äußert, (schöne) Urlaubserinnerungen im Urlaubsland Andorra zu sammeln. Darüber hinaus impliziert das Verb ramener einen Richtungswechsel: aus dem Urlaub mit in den Alltag. Dieser Richtungswechsel startet von einem Zeitpunkt, der in der statischen Werbeanzeige dargestellt wird (ein Urlaubsschnappschuss), geht über in eine Zeitrichtung, die sich auch im Futur ausdrückt (Voraussage, Projektion) und gipfelt in einem dynamischen Zeitwechsel (Erinnerungen aus dem Urlaub mit in den Alltag nehmen). 4.2 Impliziter Verweis auf Zeitlichkeit 4.2.1 Beispiel 5: Ich brauche Schweiz. Neben dem Futur I als Tempusform, die sehr explizit auf Zeitlichkeit verweist, kann in Destinationswerbeanzeigen auch die Aktionsart eines Verbs genutzt werden, um Zeit als diskursive Größe mit ins Spiel zu bringen. Durch die Aktionsart können der Anfang, der Verlauf und die Ergebnisorientierung von Prozessen näher gekennzeichnet werden. Auf impliziter Ebene spielt auch die Aktionsart der Verben scoprire ( ‚ entdecken ‘ ) in Bsp. 2 (vgl. Abb. 4) und ritrovare ( ‚ wiederfinden ‘ ) in Bsp. 3 (vgl. Abb. 5) eine Rolle, wenn es darum geht, 134 Monika Messner <?page no="135"?> Zeitlichkeit in den Mittelpunkt der Werbeanzeige zu stellen. Beide Verben drücken sog. achievements (vgl. Vendler 1957) aus, 22 d. h. Ereignisse, punktuelle Zustandswechsel, auf die die Attribute +dynamisch, +telisch, -durativ zutreffen. Sie sind in der Anfangsphase eines Ereignisses anzusiedeln - hier, ein bevorstehendes Urlaubsereignis - und fallen demnach unter prä-trip, Reisevorbereitung, Urlaubserwartungen und Voraussicht. Auch die Bedeutung, die im Verb im folgenden Beispiel angelegt ist, steht in Zusammenhang mit prätrip: Abb. 7: J ’ ai besoin de Suisse. / Ich brauche Schweiz. 23 Diese Werbeanzeige steht hier stellvertretend für eine global angelegte Kampagne des Urlaubslandes Schweiz (die Kampagne startete im Sommer 2020), in der die Bedeutung der Verben franz. avoir besoin, ital. avere bisogno und span. necesitar 24 ( ‚ brauchen ‘ , und auch noch in anderen Sprachen) ausgeschöpft wird. Diese drücken das Bedürfnis aus, sich das zu beschaffen, was zur Erreichung eines materiellen oder moralischen Zustands als nützlich erachtet wird sowie die Möglichkeit, eine Handlung zu vollziehen (vgl. Treccani online 2023). Die Destinationswerbungen von Schweiz Tourismus, die auf unterschiedlichen Plattformen (z. B. Homepage, Twitter, Youtube) zum Einsatz kommen und mit 22 Neben der Klasse der achievements (Erreichen, Erlangen, Leistung) unterscheidet Vendler (1957) auch noch zwischen activities (Aktivitäten), accomplishments (Vollendung) und states (Zustände). 23 Quelle: Schweiz Tourismus, 2020; Bild zur Verfügung gestellt von Schweiz Tourismus. 24 Vgl. auch Abb. 1. Zwischen Alltagszeit und Urlaubszeit, zwischen Imagination und Zurückerinnern 135 <?page no="136"?> diesen Trigger-Verben arbeiten, sind auf ähnliche Art und Weise aufgebaut. Sowohl im linken oberen Eck als auch im rechten unteren Eck der Anzeige findet sich eine Aussage, in die das Verbum in der jeweiligen Sprache eingebettet ist. Die Aussage links oben bezieht sich dabei auf ein touristisches Erlebnis im Urlaubsland, das auch gleichzeitig im Bild vermittelt wird (in Abb. 7 etwa ein Ausflug in die Stadt Zürich, in der sich - ganz im Sinne des Nachhaltigkeitsanspruchs von Schweiz Tourismus - Stadt und Natur verbinden, vgl. J ’ ai besoin de nature en ville, ‚ Ich brauche Natur in der Stadt ‘ ); die Aussage rechts unten verweist direkt auf die Urlaubsdestination. Außerdem schafft der Sinngehalt der Verben in Verbindung mit dem Subjekt ( EGO ) eine Identifizierung, eine unmittelbare Nähe mit dem Urlaubsland Schweiz. Zwar trifft auf die drei Trigger-Verben nicht eindeutig eine Aktionsart zu, allerdings ist deren konnotatives Spektrum auf einen Zustandswechsel ausgelegt: Zustand I (aktuell) - Alltag vs. Zustand II (zukünftig) - Urlaub (in der Schweiz). Im Bild wird dieser Zustandswechsel noch einmal aufgegriffen, indem den potenziellen Tourist: innen Aktivitäten vor Augen geführt werden, die das Urlaubsland bietet. Auch im nächsten Beispiel werden dem Gast, anhand von bewegten Bildern, Vorschläge für Urlaubstätigkeiten geliefert, die Headline dazu lautet dt. Vielfalt leben. 136 Monika Messner <?page no="137"?> 4.2.2 Beispiel 6: Innsbruck - Vielfalt leben. Abb. 8: Innsbruck. Vivir la variedad. / Vivre la variété. / Vivere la varietà. / Vielfalt leben. 25 Die Stadt Innsbruck wirbt auf den Landing Pages ihrer spanischen, französischen und italienischen Internetauftritte mit den Headlines vivir la variedad, vivre la variété und vivere la varietà (vgl. etwa https: / / www.innsbruck.info/ es/ , Stand: 09.03.2023). 26 Diese Homepage-Auftritte der Stadt Innsbruck können der on-trip-Ebene zugeschrieben werden. Durch die Verwendung von bewegten Bildern auf den Landing Pages (z. B. das [alltägliche] Treiben in der Stadt vor dem Hintergrund der für Innsbruck typischen bunten Bürgerhäuser und der von Schnee bedeckten Nordkette [vgl. auch Abb. 8]) in Verbindung mit den imperfektiven, atelischen Verben span. vivir, franz. vivre und ital. vivere, die eine Art zeitliche Unbegrenztheit ausdrücken, wird der/ die Betrachter: in dieser Desti- 25 Quelle: Innsbruck Tourismus, Broschüre 2022/ 23, S. 27. 26 An dieser Stelle können aus Urheberrechtsgründen keine Bilder/ Screenshots der Landing Pages angeführt werden. Abb. 8 fungiert hier stellvertretend, der Broschürentext wird nicht eingehender behandelt. Zwischen Alltagszeit und Urlaubszeit, zwischen Imagination und Zurückerinnern 137 <?page no="138"?> nationswerbung direkt in das Urlaubserlebnis hineingezoomt. Die Semantik des Verbs ‚ leben ‘ wird auch in anderen Destinationswerbungen ausgeschöpft, so etwa auf der Landing Page von suedtirol.info, wo ebenfalls das Verb ital. vivere in der Headline Alto Adige da vivere ( ‚ Südtirol erleben ‘ ) zum Einsatz kommt (auf dieser Homepage wird ebenfalls mit bewegten Bildern gearbeitet). 27 Zeitlichkeit wird also sowohl visuell, durch eine Bewegung im Bild, als auch textuell, durch die Aktionsart des Verbs, die die Attribute +dynamisch, -grenzbezogen vereint, vermittelt. Im nächsten Beispiel wird ein Verb verwendet, das einen Effekt ausdrückt, den das Urlaubsland auf die Tourist: innen hinterlässt. 4.2.3 Beispiel 7: Spanien prägt dich. Abb. 9: La Spagna ti segna. / Spanien prägt dich. 28 Dieses Beispiel stammt aus einer Werbekampagne für Spanien aus 2003/ 04, die mit der zwischen Generalisierung und Spezifizität oszillierenden Semantik der 27 Vgl. auch weitere Headlines aus Printwerbungen, wie z. B. Guyane. Où vivre une expérience unique ? , Hongkong. Vivre … c ’ est découvrir de nouveaux points de vue oder Valencia. Vive tu tiempo, vive tu espacio. 28 Quelle: Zeitschrift Panorama, 2004; Ausgaben- und Seitennummer nicht mehr nachvollziehbar. 138 Monika Messner <?page no="139"?> resultativen Verben dt. prägen, ital. segnare, engl. mark arbeitet (vgl. Held 2008a: 159). Das in Abb. 9 verwendete Verb ital. segnare / ti segna eröffnet ein Kontiguitätsverhältnis zwischen der eigentlichen Urlaubserfahrung (on-trip) und den Urlaubserinnerungen und -eindrücken (post-trip), die sich - wie im Bild verdeutlicht - buchstäblich auf die Haut tätowieren (vgl. auch die Headline ital. La Spagna ti impregna, ‚ Spanien durchdringt dich ‘ in der Anfangsphase der Kampagne). Durch das resultative Trigger-Verb in der Headline werden die Wirkung des Raums und der Urlaubszeit auf die Person ikonifiziert (vgl. Held 2008a: 159). Im Mittelpunkt der Destinationswerbung steht also der ‚ geprägte ‘ Mensch, der von Spanien veränderte Genussmensch, auf den Urlaubseindrücke auch post-trip, nach dem Urlaub noch wirken. 29 5 Schluss Im vorliegenden Beitrag wurde anhand ausgewählter Beispiele gezeigt, dass Zeitlichkeit - in Verbindung mit Raum - auf vielfältige Weise in Destinationswerbeanzeigen multimodal realisiert und inszeniert werden kann. Dies kann explizit geschehen, auf sprachlich-textueller Ebene etwa durch Ausdrücke wie finalmente, il tempo, eternità, senza fine oder durch die Ausbeutung von Tempusformen (z. B. Futur I). Implizit äußert sich Zeitlichkeit in Aktionsarten, d. h. in der eingeschriebenen Semantik von Verben, die gezielt in Destinationswerbung eingesetzt werden. Für die Inszenierung von Zeitlichkeit spielt neben dem Text auch das Bild eine wesentliche Rolle. Text und Bild ergänzen sich in den betrachteten print- und online-Anzeigen komplementär (vgl. Abb. 6) oder es kann auch vorkommen, dass die Bedeutung von sprachlichen Äußerungen durch visuelle Elemente erweitert wird (vgl. Abb. 3). Text und Bild fungieren insgesamt als sich ergänzende Gesamtkommunikate, die touristische Zeit - auf einem Kontinuum zwischen prä-, on- und post-trip - in einem touristischen Raum bewerben. Aus der Analyse geht außerdem hervor, dass Destinationswerbung mit rhetorischen Mitteln arbeitet, beispielsweise mit Metaphern und Personifizierungen (vgl. etwa Abb. 3 und 4), aber auch mit sog. Topoi, d. h. mit Werten, verbreiteten Meinungen, Vorlieben, die in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben sind (vgl. auch Antelmi 2022: 90). Unter solche Topoi fallen die Einzigartigkeit (diese äußert sich in allen Beispielen), die Vielfalt (vgl. Abb. 8), 29 Auf ähnliche Weise verfährt auch eine Kampagne für die Provinz Trentino in Italien aus dem Jahr 2002, die anhand des Slogans effetto Trentino ( ‚ Trentino Effekt ‘ ) in Verbindung mit der visuellen Darstellung einer verblüffenden Alltagsszene eine Kontiguitätsbeziehung zwischen einem Vorher (Ursache, Ausbruch aus dem Alltag) und einem Nachher (Wirkung, Erinnerung) aufzeigt (vgl. auch Held 2008a: 164 f.). Zwischen Alltagszeit und Urlaubszeit, zwischen Imagination und Zurückerinnern 139 <?page no="140"?> die Geschichte, Kultur und Natur eines Urlaubslandes (vgl. Abb. 4), aber auch Emotionen, die das jeweilige Urlaubsland oder der Urlaubsort in den potenziellen Tourist: innen weckt (vgl. Abb. 5). Zu den Topoi hinzugezählt werden kann auch die Text-Bild-Gestaltung, durch die Zeit und Raum sprichwörtlich ‚ in Szene gesetzt ‘ werden (vgl. auch Antelmi 2022: 94), etwa durch die spezifische Anordnung der textuellen und visuellen Elemente (vgl. etwa Abb. 3), durch die Hervorhebung bestimmter Bestandteile der Werbung (vgl. etwa Abb. 5 und 9) sowie durch die Herstellung isotopischer Ketten zwischen Text und Bild (vgl. etwa Abb. 4). Die untersuchten Beispiele zeigen, dass Destinationswerbung dazu beiträgt, sog. „ immaginari turistici “ ( ‚ touristische Vorstellungswelten ‘ , Antelmi 2022: 85) zu aktivieren und zu formen. In Bezug auf Zeitlichkeit spielen dabei mehrere zeitliche Ebenen ineinander: Abb. 10: Zeitmodell für Destinationswerbung (angelehnt an das Raummodell von Lefebvre) Die Konzeptualisierung und entsprechende Semiotisierung von Zeitlichkeit umfasst auf der Seite des Senders die Dimensionen der realen Zeit I (tatsächliche Zeit), innerhalb der die Vermarktung von Zeit geschieht (prä-trip) sowie die Werbezeit (ideelles Verkaufsprodukt, spielt auf prä-, on- und post-trip an), die daraus resultiert. Die Werbezeit korreliert mit der realen Zeit II und der imaginären Zeit I auf der Seite des Empfängers: Der/ die potenzielle Urlauber: in befindet sich noch im Alltagserlebnis, in dem er/ sie auf Destinationswerbung stößt und sich davon ausgehend das Urlaubserlebnis vorstellt (prä-trip, im Sinne einer blended time in Anlehnung an Dancygier 2006). Auf diese Weise entsteht ein Spannungsfeld zwischen Alltagszeit und (eventuell) bevorstehender tou- 140 Monika Messner <?page no="141"?> ristischer Zeit, 30 in dem sich prä-trip (Reisevorbereitung), on-trip (das Bild des tatsächlichen Urlaubs) und post-trip (Erinnerungen an vergangene Urlaube) überlagern. Im besten Fall folgt auf die Urlaubsvorstellung eine reale Zeit II, innerhalb der es zum tatsächlichen Urlaubserlebnis (on-trip) kommt. Der Kreislauf schließt auf der Rezipient: innen-Ebene mit der Rückerinnerung an das Urlaubserlebnis (post-trip); allerdings geht post-trip auch gleichzeitig wieder über in prä-trip, in die Vorbereitung auf ein neues touristisches Erlebnis, in der vorausgegangene Urlaubserfahrungen nachwirken. Der zeitlich-touristische Prozess beginnt also wieder von neuem und dreht sich ständig weiter. Das hier aufgestellte Zeitmodell für Destinationswerbung vereint die Zeitebenen des Senders und die Zeitebenen des Empfängers von Destinationswerbung und unterstreicht gleichzeitig die bereits in der Einleitung dieses Beitrags beschriebene zirkuläre Eigenschaft von Tourismus. Das Schema impliziert außerdem den Übergang von einem statischen zu einem dynamischen zeitlichen Zustand: ausgehend von einem Zeitpunkt (Werbung, prätrip und gleichzeitige Aktivierung von post-trip Erinnerungen) wird eine Zeitrichtung, ein Weg (von der Alltagsin die Urlaubszeit, zwischen prä-trip und on-trip) vorgegeben, woraufhin es zu einem Zeitwechsel kommt, der zu einem Ziel führt (Reise in das Urlaubsland, on-trip). Nicht zuletzt geht aus dem Modell hervor, dass Destinationswerbung diskursiv vorgibt, wie der/ die potenzielle Tourist: in seine/ ihre Urlaubszeit verbringen und wahrnehmen soll, d. h. sie indiziert einen spezifischen touristischen Blick. Auf diese Weise wird und soll die Illusion vermittelt werden, die Urlaubszeit bereits zu erleben, bevor sie tatsächlich ‚ gelebt ‘ wird (vgl. Maci 2018: 39), womit das Ziel von Destinationswerbung und Tourismuskommunikation ganz allgemein erreicht sein dürfte. Literatur Antelmi, Donella (2022). Il turismo come discorso. Generi e testi dal racconto al Web. Roma: Dino Audino. Antelmi, Donella/ Held, Gudrun/ Santulli, Francesca (2007). Pragmatica della comunicazione turistica. Roma: Editori Riuniti. Barthes, Roland (1964/ 1977). The rhetoric of the image. In: Barthes, Roland. Image, Music, Text, translated by Stephen Heath. London: Fontana, 32 - 51. Brinkmann, Hennig (1971). Die Deutsche Sprache. Gestalt und Leistung. Düsseldorf: Schwann. Brucculeri, Maria Claudia (2009). Semiotica per il turismo. Roma: Carocci. 30 Vgl. auch Edensor (2001: 61): „ [ … ] tourism is never entirely separate from the habits of everyday life, since they are unreflexively embodied in the tourist “ . 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Am Beispiel zweier älterer Schreiberinnen wird gezeigt, wie Kalendernotizen funktional, formal, inhaltlich und sprachlich strukturiert sind und wie sich das Kalenderschreiben in seiner Prozesshaftigkeit charakterisieren lässt. 1 Einleitung Zeit ist ein kostbares Gut, dessen Organisation uns das gesamte Leben lang täglich vor Herausforderungen stellt. Private und berufliche Aktivitäten müssen koordiniert werden, was nicht nur unseren Alltag während der Schul- und Ausbildungsphase, sondern v. a. während der Erwerbsphase prägt. Aber auch ältere Menschen müssen nach Eintritt in die Rente ihre neu gewonnene Zeit nach Wegfall einer Erwerbstätigkeit strukturieren und koordinieren. Mit Hilfe von Einträgen in Kalender behalten sie dabei den Überblick über ihr Leben, notieren wichtige Termine (z. B. für Arztbesuche), verschiedene Aufgaben (z. B. die Betreuung der Enkelkinder) und Freizeitaktivitäten. Kalendernotizen tragen damit wesentlich zur Strukturierung des Alltags bei und sind stark im Leben (nicht nur) älterer Menschen verankert. Wie McKenzie und Davies (2016: 152) festhalten, dienen Kalender nicht nur administrativen Zwecken, sondern häufig <?page no="146"?> auch sozialen. Obwohl - oder gerade weil - Kalender so alltäglich sind, verwundert es doch sehr, dass sie bisher als Gegenstand textlinguistischer Forschung stark vernachlässigt wurden. Mit Kalenderbüchern sind hier alle Kalender im Hoch- und Querformat gemeint, die formale und inhaltliche Orientierung zur Eintragung von Terminen geben. Hierunter fallen nicht nur Wochenquerkalender, sondern v. a. Kalenderbücher im A5-Hochformat sowie im A4-Hochformat. 1 Diese bieten somit unterschiedlich viel Platz: Einige Kalender geben pro Seite einen Wochentag vor, andere fassen zwei oder mehrere Wochentage auf einer Kalenderseite zusammen, andere wiederum bilden eine ganze Woche pro Seite ab. Der vorgegebene - teils sehr limitierte - Platz, der eine Möglichkeit für Notizen bietet (Textmöglichkeit), jedoch keinen Zwang zum Eintragen eines Textes vorgibt, kann individuell, aber nach einem durch das Medium vorgegebenem inhaltlichen und formalen Muster gefüllt werden. Das Ziel des vorliegenden Beitrags besteht darin, Kalenderbücher älterer Schreiber: innen unter textlinguistischen Aspekten zu beschreiben und dabei verschiedene Perspektiven von Zeit und Zeitlichkeit miteinander zu verbinden. Mit Blick auf Zeit werden die Texte zunächst als Produkt analysiert, das auf formaler, inhaltlicher und sprachlicher Ebene verschiedene temporale Strategien zeigt. Zeitlichkeit fasst die Prozesse des Schreibens und Lesens sowie deren wechselseitige Beeinflussung, was sich wiederum im Produkt des Kalenderbuches zeigt. Unter soziologischer und gerontologischer Perspektive wird zunächst auf Konzepte von Zeit im Alter eingegangen und herausgearbeitet, welche Rolle dabei das Führen von Kalendern einnimmt. Aus textlinguistischer Perspektive liegt der Fokus auf funktionalen Aspekten und der Frage, warum wir Kalender führen. Aus formaler Sicht wird beschrieben, wie sich Zeit im Medium Kalenderbuch tatsächlich zeigt, denn Kalender sind per se auf verschiedene Weise eng mit Zeit und Zeitlichkeit verknüpft. Der Fokus des Beitrags liegt darauf aufbauend darin, Kalenderbücher zweier älterer Schreiberinnen exemplarisch hinsichtlich des inhaltlichen und sprachlichen Spektrums zu analysieren und aufzuzeigen, wie Zeit in den Notizen relevant gesetzt wird. Abschließend wird ein Blick auf die Prozesse von Produktion und Rezeption von Kalenderbucheinträgen geworfen, denn auch hier spielt Zeitlichkeit eine Rolle und ist wiederum mit formalen, inhaltlichen und sprachlichen Aspekten verknüpft. 1 Payne (1993: 83) hält Folgendes zur Terminologie fest: „ The term calendar [ … ] reflects the American meaning of the word. For British and European readers, calendar is used in American English to refer to any booklet or electronic device in which appointments are noted. In British English, the name appointment diary is preferred. ” (Herv. i. O.). 146 Diana Walther <?page no="147"?> 2 Soziologische und gerontologische Aspekte von Zeit im Alter Die dritte Lebensphase nach Austritt aus dem Erwerbsleben - der sog. Ruhestand - wird nach Prahl und Schroeter (1996: 142) in drei Phasen unterteilt: 1) die Phase der Neuorientierung (ca. 55 bis 69 Jahre), in der erste Gedanken an ein Ausscheiden aus dem Berufsleben aufkommen, neue Lebensziele festgelegt werden und letztlich das Ende der Berufstätigkeit folgt; 2) die Phase der Konsolidierung (70 bis 79 Jahre), in der sich Ältere mit ihrem neuen Leben nach Ende der Arbeitszeit einrichten; und 3) die Altersphase (ab 80 Jahren). Nach Eintritt in die Rente steht älteren Menschen mehr Zeit zur Verfügung: Die Arbeitszeit fällt weg (oder reduziert sich erheblich), Alltagszeit nimmt zu, während die verbleibende Lebenszeit stetig abnimmt (vgl. Lang et al. 2022: 116 f.). Nach Münch (2014: Abs. 1) bringt der Wegfall der Erwerbsarbeit ca. sechs Stunden mehr Zeit pro Tag, 2 womit Rentner: innen ihren Alltag neu organisieren müssen. Zeit wird damit nach Burzan (2004: 127) „ ein wichtiger Aspekt im Konzept der alltäglichen Lebensführung “ . Allerdings ist die neu gewonnene Zeit nicht ausschließlich Freizeit, wie Prahl und Schroeter (1996: 147) festhalten, sie muss von Nicht-Freizeit getrennt werden, in der ein ritualisierter Alltag mit regelmäßig wiederkehrenden Aktivitäten, die Aufgaben- und Pflichtcharakter haben, gelebt wird, z. B. mit Haus- und Gartenarbeit, Besorgungen oder der Wahrnehmung von Terminen. Um Freizeit i. e. S. rechtfertigen zu können, wird die freie Zeit im Rentenalter häufig mit Erwerbsarbeitssubstituten (vgl. Münch 2014: Abs. 17) gefüllt, z. B. einem Ehrenamt, Enkelbetreuung oder kleineren bezahlten Tätigkeiten. Ich verwende hier nachfolgende Zeitkonzepte: Mit gebundener Zeit meine ich Arbeitszeit i. e. S., wenn Rentner: innen einer geregelten, wenn auch weniger umfangreichen Erwerbstätigkeit nachgehen, z. B. Fahrdienste erledigen oder Zeitungen verteilen. Mit gebundener freier Zeit sind alltägliche Aktivitäten gemeint, die routinisiert im Haushalt zu erledigen sind, aber auch die Wahrnehmung von Terminen oder verschiedenes Engagement. Schließlich meint Freizeit die freie Ausgestaltung der restlichen freien Zeit, in der Ältere ihren Hobbys nachgehen, Freunde und Familie treffen oder verreisen. Die abnehmende Lebens-, aber zunehmende Alltagszeit spiegelt sich auch im Schreibverhalten wider. Im beruflichen Alltag war das Schreiben für viele der von mir untersuchten 2 Das Statistische Bundesamt führt ca. alle zehn Jahre Zeitverwendungserhebungen durch. In den Altersgruppen bis 64 Jahre liegt die Zeit für Erwerbsarbeit bei ca. 8 Stunden täglich (im Vergleichszeitraum 2001/ 2002 vs. 2012/ 2013), in der Altersgruppe ab 65 liegt sie bei ca. 4,5 Stunden (vgl. 2015: 127 - 144). Zur Bedeutung von Zeit(lichkeit) in Kalenderbüchern älterer Schreiber: innen 147 <?page no="148"?> Proband: innen notwendiges Mittel zur Ausübung ihres Berufs, z. B. als Stenotypist: in, Journalist: in, Sekretär: in oder Lehrer: in. Für privates Schreiben blieb oft keine Zeit. Nach Renteneintritt ist Schriftlichkeit nun nicht mehr nur bloßes Niederschreiben von Erlebnissen, es ist vielmehr eine soziale Praxis (Bachmann 2014), die nun stärker als vorher im Alltag verankert ist. Wird Schreiben als bloßes Hobby ausgeübt, ordne ich es der Freizeit zu. Werden Texte z. B. im Rahmen einer Schreibgruppe produziert und veröffentlicht, dann ordne ich das der gebundenen freien Zeit zu, da der regelmäßige Besuch einer Schreibgruppe dann über Freizeit i. e. S. hinausgeht. Die neu gewonnene Zeit, die vorher stark von außen (v. a. durch Arbeitgeber oder Kindererziehung) strukturiert wurde, muss mit Beginn der Rentenphase selbst organisiert werden, ein neuer Zeitrhythmus muss gefunden werden (vgl. Prahl und Schroeter 1996: 145 f.). Die Koordination und Strukturierung der vielfältig anfallenden Aufgaben kann mit Hilfe eines Kalenders vorgenommen werden, wie auch Köller (2006: 186) für die von ihr befragten Proband: innen festhält: „ Es zeigt sich, dass die Hälfte der Personen, die während ihres Erwerbslebens die Lebensbereiche Arbeit und Leben mit einander (sic) verknüpft haben, ihr Leben im Ruhestand stark strukturieren und planen und zwar anhand eines Terminkalenders. “ Auch in der Studie von Ekerdt und Koss (2016: 1303) verweisen einige Befragte auf Kalender, wenn sie in Bezug auf die Zeitgestaltung im Alter nach den Aktivitäten des vorhergehenden Tages befragt wurden. Mit Hilfe eines Kalenders kann der Überblick über alle Aktivitäten behalten und Zeit koordiniert werden. Alle hier referierten Studien setzen sich ausführlich mit Zeit im Rentenalter auseinander und halten u. a. als Ergebnis fest, dass Rentner: innen ihren Tag mit verschiedenen Aktivitäten füllen und ihn dadurch klar strukturieren, Arbeitszeit von freier Zeit trennen, damit souverän Zeit aushandeln und Aktivitäten koordinieren und synchronisieren. Keine der Studien aber schaut genauer auf konkrete Hilfsmittel, die die Befragten verwenden, um Zeit zu koordinieren, obwohl es in den Interviews auch Aussagen zu Kalendern gibt. Meine Studie setzt dort an und schaut auf ebendiese Hilfsmittel - Kalender bzw. Kalenderbücher, die hier unter textlinguistischer Perspektive beschrieben werden sollen. Kalender können in Anlehnung an Burzan (2004) als Mittel der Zeitgestaltung fungieren, als Mittel der Koordinierung und Synchronisierung von Zeit. 3 Der Kalender als Medium zur Organisation von Zeit Im vorliegenden Beitrag werden verschiedene Termini verwendet, die zunächst definiert werden müssen. Das Kalenderbuch als physische Einheit bildet das 148 Diana Walther <?page no="149"?> Medium. Der hier verwendete Begriff des Mediums orientiert sich an der Art und Weise, wie ein Kalenderbucheintrag übermittelt wird, nach der Klassifikation von Adamzik (2016) ist das die Publikationsform des (Kalender)Buches. 3 Das Führen eines Kalenders als eigentliche Aktivität wird mit Bezug auf Fiehler (2009) und Stein (2011) als kommunikative Praktik bezeichnet, die Schreiber: innen zur Verfügung steht, um kommunikative Probleme zu bewältigen, hier das Strukturieren und Koordinieren von Zeit. In Bezug auf die kommunikative Praktik des Kalenderführens muss zwischen der Produktionsebene (dem Schreiben in einen Kalender) und der Rezeptionsebene (dem Lesen eines Kalenders) unterschieden werden. In Kap. 6 wird später aufgezeigt, wie beide Ebenen miteinander verwoben sind. Das Mittel zur Bewältigung der kommunikativen Probleme des Strukturierens und Koordinierens von Zeit ist die Textsorte 4 des Kalenderbucheintrages, die wiederum aus verschiedenen durch das Medium vorgegebenen formal-inhaltlichen Elementen und aus durch die Schreiber: innen flexibel auffüll- und gestaltbaren Kalendernotizen besteht. Somit ergibt sich für die Verbindung aus Medium, kommunikativer Praktik und Textsorte folgende Begriffsmatrix: 5 Kalender(buch) - Kalenderführen - Kalenderbucheintrag - Kalendernotizen. 3.1 Forschungsüberblick Die historische Entwicklung von Kalendern seit der Frühen Neuzeit ist bereits gut nachgezeichnet, ein kompakter Überblick findet sich in Walther (2019: 305 f.). Es liegen bislang aber nur wenige Studien vor, die sich dem zeitgenössischen Kalenderführen unter textlinguistischen Aspekten widmen. Payne (1993) untersucht anhand von 20 Interviews berufliches Kalenderführen bei US-amerikanischen Wissenschafler: innen. McKenzie und Davies (2016) analysieren private Kalender (Wandkalender, Taschenkalender, elektronische Kalender) unter dem Aspekt des Lesens (reading) und erneuten Lesens (rereading) und zeigen für vier kanadische Schreiberinnen „ codes, abbreviations, symbols, or shorthand that would be accessible to them as future readers, but not necessarily to others ” (ebd.: 155). Symes (1999) beschreibt Funktionen und formalen Aufbau von Kalendern australischer Arbeiter, allerdings ohne empirische Basis und ohne sprachliche Analysen. Später untermauert Symes 3 Zur Auseinandersetzung mit dem Begriff Medium siehe auch Fix (2008: 345 ff.). 4 Ich orientiere mich an der Definition von Textsorten an Stein (2017: 300 f.) und Brinker et al. (2018: 132). 5 Die Verwendung der Begriffe unterscheidet sich hier teils zur Verwendung bei Walther (2019). Dort wurde der Kalenderbucheintrag als Ganzes noch als kommunikative Praktik bezeichnet, das wird im vorliegenden Beitrag nun weiter ausdifferenziert. Zur Bedeutung von Zeit(lichkeit) in Kalenderbüchern älterer Schreiber: innen 149 <?page no="150"?> (2012) am Beispiel von Schulkalendern australischer Kinder (school diaries) die formale Struktur und die Funktionen, allerdings wieder ohne empirische Basis und Analysen sprachlicher Phänomene. Ein paar wenige Ausführungen zur sprachlichen Ausgestaltung von Tagebucheinträgen ihrer Großmutter in Kalenderbüchern macht Schrader (2018: 47), allerdings liegt hier kein wissenschaftlicher Beitrag vor. Schrader hält fest, dass die Großmutter Kinofilme oder Theaterstücke „ mit maximal zwei Adjektiven “ kommentiert, die Entwicklung ihrer Kinder und Enkelkinder „ beschreibt sie stichpunktartig “ . Cyra et al. (2016) gehen zwar der Frage nach, wie Studierende, Senioren und Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen Termineintragungen in elektronische Stundenplankalender vornehmen, auf sprachliche Merkmale gehen sie nicht ein. Textlinguistische Studien, die sich dem (handschriftlichen) Kalenderschreiben älterer Menschen widmen, liegen bisher also keine vor. Einzig Walther (2019 und 2021) konnte anhand einer ganzheitlichen textlinguistischen Beschreibung erste Ergebnisse zeigen, die auch Grundlage des vorliegenden Beitrags sind. 3.2 Besonderheiten des Mediums 6 Kalenderbücher können durch eine besondere Kommunikationssituation charakterisiert werden, die im Medium selbst begründet liegt: Sie sind nicht für fremde Rezipient: innen bestimmt, die schreibende Person ist Produzent: in und zukünftige(r) Rezipient: in zugleich, richtet die Kalendernotizen also an sich selbst (vgl. McKenzie und Davies 2016: 155). Damit gibt es eine personale Einheit von schreibender und lesender Person, obwohl Produktion und spätere Rezeption als zeitlich zerdehnte Handlungen auseinanderfallen. Mit Rolf (1993) handelt es sich um Gebrauchstexte - und das im wahrsten Sinne, denn Kalenderbücher werden von den von mir untersuchten älteren Schreiber: innen tagtäglich genutzt. Nach McKenzie und Davies (2016: 152) kann man von handlungsorientierten Texten sprechen, die als externe Erinnerungshilfe für die Zukunft (Planungsfunktion) und die Vergangenheit (Nachschlagefunktion) dienen, auch wenn Kalendernotizen i. d. R. auf Zukünftiges bezogen sind, weil sie Termine oder geplante Aktivitäten festhalten. Während das Textualitätskriterium der Materialität nach Fix (2008) später in Kap. 5.1 unter formal-temporalen Aspekten näher betrachtet wird, soll nachfolgend zunächst das Kriterium der Lokalität diskutiert werden. Mit Lokalität meint Fix (2008: 345) den Ort der Publikation, dem sie verschiedene Funktionen zuordnet. So kann der Ort u. a. „ Bedingung für eine Textsorte an sich sein 6 Der erste Absatz dieses Kapitels entstammt in weiten Teilen Kap. 5.2 aus Walther (2019: 307). 150 Diana Walther <?page no="151"?> (usueller Gebrauch) “ (Fix 2008: 350, Herv. i. O.), was auf Kalenderbuchnotizen zutrifft. Hausendorf et al. (2017: 95) fassen den Lokalitätsbegriff enger und meinen den „ Ort der Rezeption des Textes in einer konkreten Lektüresituation “ , was für Kalender(bücher) aber irrelevant ist, denn das Medium kann überall rezipiert werden. Alle Einträge können eindeutig zugeordnet und verstanden werden, solange sie im Medium enthalten, also lokalisiert sind und nicht losgelöst davon betrachtet werden. Beispielsweise ist eine herausgerissene Kalenderseite ohne das sie umgebende Medium nicht eindeutig und damit nur teilweise verständlich. Auch wenn Kalendernotizen keinen wirklichen Publikationsort im Sinne von Fix (2008) haben, da sie nicht veröffentlicht werden, sollte der Ort als Textualitätskriterium dennoch unter temporalen Aspekten nicht vernachlässigt werden. Das Medium Kalenderbuch kann als Ganzes als Ort für jede einzelne enthaltene Notiz angesehen werden, denn diese ist nur im Rahmen des Mediums zu verstehen. Eine Kalenderbuchnotiz bekommt ihren eindeutigen Sinn erst durch den konkreten Zeitbezug, also durch die Zuordnung zu einer spezifischen Kalenderwoche, einem Monat, einem Jahr. Die chronologische Reihenfolge der verschiedenen Zeitabschnitte verleiht dem Ort Kalenderbuch also seine charakteristische temporale Funktion. Nur im korrekten Nacheinander der einzelnen Tage, Wochen und Monate ist das Kalenderbuch vollständig und jeder einzelne Eintrag eindeutig rezipierbar. „ Time can be brought under our control. It can be put into place, and that place is the diary. ” , so fasst Symes (2012: 165, Herv. i. O.) das Verhältnis von Zeit und Lokalität von Texten zusammen. 3.3 Funktionen von Kalendern Kalender werden dazu verwendet, die Zukunft zu planen, indem z. B. Termine für Aktivitäten eingetragen werden und Schreiber: innen damit ihre zeitlichen Verpflichtungen im Blick behalten (vgl. Symes 1999: 361 f.). Die formale Gestaltung von Kalenderbüchern, die später in Kap. 5.1 beschrieben wird, führt nach Symes (1999: 369) dazu, dass Schreiber: innen „ their own temporal identities “ ausdrücken können, indem sie ihr Zeitbudget organisieren und Informationen zu ihrem beruflichen und privaten Leben sammeln. Des Weiteren kann Zeit mit Hilfe eines Kalenders unter Kontrolle gebracht werden. Die enthaltenen Notizen zeigen, „ what has to be done and when, not what has been done “ (Symes 2012: 165, Herv. i. O.). Notizen in den von Symes untersuchten Schülerkalendern dienen also nicht dazu, die Vergangenheit festzuhalten, sondern die Zukunft zu organisieren. Die von mir untersuchten Kalender älterer Schreiber: innen zeigen aber nicht nur die bei Symes (1999 und 2012) beschriebene Planungsfunktion, diese kann gleichermaßen für Kalender von Zur Bedeutung von Zeit(lichkeit) in Kalenderbüchern älterer Schreiber: innen 151 <?page no="152"?> Schüler: innen, Berufstätigen und Rentner: innen festgehalten werden. Für ältere Schreiber: innen kann ein erweitertes Funktionsspektrum für Kalender beschrieben werden, das neben der Planungsfunktion weitere Funktionen umfasst: 7 1. Planungsfunktion: Kalender sind in ihrer eigentlichen Funktion dazu gedacht, zukünftige Termine und Ereignisse festzuhalten, womit sie eine prospektive Funktion einnehmen. Sie dienen der Vorschau, werden genutzt, um den Alltag zu koordinieren und zu strukturieren und sich an Bevorstehendes zu erinnern. Unter textlinguistischen Aspekten kann konstatiert werden, dass Kalendernotizen zunächst in ihrer ursprünglichen Verwendung Informationsfunktion (Brinker et al. 2018) bzw. Darstellungsfunktion (Hausendorf und Kesselheim 2008) aufweisen. Gleichzeitig kann ihnen aber auch eine Appellfunktion zugeordnet werden, denn sie erinnern die Leser: innen an bevorstehende Termine und steuern sie damit. Nach Rolf (1993) können die Kalendernotizen als assertiv (genauer: transmittierend) betrachtet werden; d. h., dass die Informationsvermittlung als solche im Vordergrund steht, nicht aber die Art und Weise der Übermittlung. Dass es aber dennoch verschiedene formale Möglichkeiten der Hervorhebung gibt, werden die Ausführungen in Kap. 5.1 später zeigen. Außerdem sind die Kalendernotizen mit Rolf (1993) direktiv bindend, denn die Schreiber: innen verpflichten sich mit dem Notieren von Terminen auch zu deren Einhaltung (vgl. die Obligationsfunktion bei Brinker et al. 2018). 2. Festhalte- und Nachschlagefunktion: Die von mir untersuchten älteren Schreiber: innen halten häufig auch rückblickend ihren Tag in vielen Details fest (Aktivitäten, Mahlzeiten, Anrufe, Wetter etc.) und geben ihrem Kalender damit eine zusätzliche retrospektive Funktion der Dokumentation in Form eines Gedächtnisprotokolls. Durch gezieltes Nachschlagen oder regelmäßiges Durchblättern der Kalender können sich die Schreiber: innen an Vergangenes zurückerinnern (Termine, Ereignisse, Erlebnisse, besondere Vorkommnisse) und ihr Leben damit gezielt nachverfolgen. Das rückblickende Erinnern ist hier also ein anderes Erinnern als das prospektive, planende Erinnern unter 1 (s. o.). Auch dienen zurückverweisende Notizen dem Beweis, dass bestimmte Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben und ermöglichen den Schreiber: innen damit Zugang zu ihrer eigenen, durch sie selbst dokumentierten Vergangenheit. Auch hier dominiert unter textlinguistischen Aspekten die oben beschriebene Informationsfunktion. 7 Die nachfolgenden Funktionen basieren auf den Ergebnissen aus Walther (2019: 318 ff.). 152 Diana Walther <?page no="153"?> 3. Kontrollfunktion: Die unter 2. beschriebenen rückblickenden Notizen halten nicht nur detailliert den Tagesverlauf fest, womit ältere Menschen gezielt Kontrolle über ihre täglichen Aktivitäten behalten. Anhand der Notizen können sie auch gezielt nachschlagen und kontrollieren, wann sie bestimmte Aktivitäten zuletzt ausgeführt haben und damit die unter 1. beschriebenen planenden Notizen gezielter eintragen. Mit Bezug auf das Ertragsmodell nach Adamzik (2016) kann festgehalten werden, dass die Notizen in Kalenderbüchern zwar zunächst in ihrer Informationsfunktion dominieren, im Laufe der Zeit aber eine veränderte Funktion für ihre Schreiber: innen einnehmen können, nämlich die der hier beschriebenen impliziten Kontrolle. 4. Sammelfunktion: Einige Proband: innen nutzen ihre Kalender auch als eine Art Sammelalbum, das Merkmale eines klassischen Kalenders mit denen eines Tagesbuches verbindet. So werden zusätzliche Dinge in den Kalender eingeklebt (z. B. Eintrittskarten, Todesanzeigen, Restaurantrechnungen) oder lose hinzugefügt (z. B. Flyer für Ausstellungen). 4 Forschungsdesign Das Ziel des Beitrags besteht darin, Kalenderbücher älterer Schreiber: innen unter dem Aspekt von Zeit und Zeitlichkeit detailliert zu beschreiben und dabei soziologische und textlinguistische Perspektiven miteinander zu verbinden. Weiterführende Analysen zu inhaltlichen und sprachlichen Phänomenen sollen exemplarisch anhand der Texte von zwei Probandinnen im Vergleich als Querschnittstudie vorgenommen werden. Die für die Analyse relevanten Grundlagen zu Kalenderbüchern werden im Folgenden aus empirischer Perspektive näher beleuchtet. Die vorliegende Studie greift auf Textmaterial zurück, das im Jahr 2018 im Rahmen meines Forschungsprojekts „ Schriftlichkeit im Alter “ unter 32 Schreiber: innen im Alter von 63 bis 90 Jahren aus dem Raum Leipzig gesammelt wurde. Das Projekt verfolgt das Ziel, für ein kleines, regional begrenztes Korpus das Textsortenspektrum älterer Menschen zu erfassen und zu beschreiben und damit einen tieferen Einblick in Schreibaktivitäten nach Eintritt in die Rentenphase zu erhalten. Mit 30 Personen wurden zudem halbstrukturierte Leitfaden-Interviews geführt (vgl. Bortz und Döring 2016: 361), in denen sie ihre Schreibbiographie reflektieren, Schreibgewohnheiten und Motive für das Schreiben darlegen und erklären, wie sie spezifische Themen, die sie im Alltag beschäftigen, in ihren Texten verarbeiten. Neben Kalenderbüchern konnten weitere Texte gesammelt werden: Tagebücher, Reiseberichte, biographische Texte, Familienchroniken, Kurzgeschichten, Gedichte, Briefe, Kinderbücher, E-Mails, WhatsApp-Nachrichten und Blog- Zur Bedeutung von Zeit(lichkeit) in Kalenderbüchern älterer Schreiber: innen 153 <?page no="154"?> einträge. Inhaltlich ist ebenso eine thematische Breite zu beobachten: Familie (Kinder, Enkel), Reisen, Erlebnisse, Vergangenheit (Kriegserlebnisse, Vertreibung), Alltägliches (Gedanken, Termine), Krankheiten, Sterben und Tod. Von den 32 Proband: innen sind es elf (sieben Frauen und vier Männer), die regelmäßig Kalender schreiben bzw. sie zu Lebzeiten regelmäßig führten (zwei Personen waren zum Zeitpunkt der Datenerhebung bereits verstorben). Der Fokus liegt nachfolgend exemplarisch auf zwei Schreiberinnen, die ihre Kalender in unterschiedlichem Umfang füllen. Die Schreiberin ES war zur Zeit der Datenerhebung 83 Jahre alt. Sie füllt ihre Kalender nur spärlich und notiert hauptsächlich Termine, womit sie die in Kap. 3.3 genannte Planungsfunktion erfüllt. Die Schreiberin RM war zum Zeitpunkt der Erhebung 79 Jahre alt. Sie füllt ihre Kalender in mittlerem Umfang, hält dabei aber weniger Termine, sondern vielerlei verschiedene andere Notizen fest, sodass bei ihr die Kontrollfunktion, aber auch die Festhalte- und Nachschlagefunktion dominiert. Von den Probandinnen wurde je ein Kalenderjahrgang ausgewählt, daraus wurden exemplarisch je zwei Monate (Januar, Dezember) in die Analysen einbezogen. In den Interviews hat sich vor Sichtung der Texte bereits gezeigt, dass sich bei allen Schreiber: innen eine Routine des Kalenderführens über viele Jahre entwickelt hat und somit zu erwarten ist, dass alle Monate im Kalender inhaltlich und formal gleich strukturiert sind (dazu auch Walther 2019: 318 ff.). Der Kalender von Probandin ES stammt aus dem Jahr 2013, RM stellte ihren Kalender aus dem Jahr 2017 zur Verfügung. Die Kalender sind vergleichbar hinsichtlich ihres Formats (A5- Hochformat mit je einem Tag pro Seite), hinsichtlich der konkreten Auffüllung sind sie aber verschieden, sodass nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden gefragt werden kann, die sich auf den nachfolgend dargelegten Analyseebenen zeigen. Als Analysemethode wird eine holistische Textsortenanalyse in Anlehnung an Adamzik (2016), Bachmann-Stein (2004 und 2006) sowie Brinker et al. (2018) durchgeführt, wonach textinterne und textexterne Kriterien sowie deren Wechselverhältnis betrachtet werden. Die qualitativen Analysen werden durch eine deskriptiv statistische Beschreibung in Form von Häufigkeitsverteilungen ergänzt. Als übergeordnete Hypothese gilt: Es besteht eine enge Verknüpfung verschiedener Aspekte von Zeit und Zeitlichkeit in den Kalenderbüchern der zwei Schreiberinnen, die sich auf formaler, inhaltlicher, sprachlicher und prozessualer Ebene zeigen. Folgende Fragestellungen und Hypothesen werden im Fokus der Analysen stehen: 1. Es wird untersucht, auf welchen formalen Ebenen Zeit im Kalenderbuch verankert ist. Dazu wird der prototypische Aufbau beschrieben (Kap. 5.1). 154 Diana Walther <?page no="155"?> 2. Unter inhaltlichen Aspekten wird in Kap. 5.2 der Frage nachgegangen, wie sich Zeit in den Notizen widerspiegelt. Walther (2019) konnte bereits zeigen, dass nicht nur anstehende Termine und regelmäßig wiederkehrende Haushaltsaktivitäten als vorausweisende Notizen in Kalender eingetragen werden, sondern auch, dass einige Schreiber: innen rückblickend ihren Tagesablauf im Kalender festhalten. Darauf aufbauend konnte Walther (2021) zeigen, dass einige Schreiber: innen auch notieren, wenn jemand verstorben ist, sodass sog. Todesnotizen bereits als eine inhaltliche Besonderheit in Kalenderbucheinträgen herausgearbeitet werden konnten. Es soll für die zwei Schreiberinnen hier nun weiterführend aus quantitativer Sicht bestimmt werden, welche Arten von Notizen unterschieden werden können und welchen Anteil diese bei beiden im Verhältnis zur Gesamtzahl der Eintragungen haben. Es wird vermutet, dass die Schreiberin ES, die im Vergleich zu RM nur wenige Eintragungen vornimmt und den Kalender nur minimal füllt, die ursprüngliche Planungsfunktion von Kalenderbüchern wahrnimmt und überwiegend Termine einträgt. Für die Schreiberin RM, bei der eine höhere Auffüllung ihrer Kalender zu beobachten ist, werden nicht nur Notizen mit Planungsfunktion, sondern weitere Notizen zu beobachten sein, die auch rückblickenden Charakter haben. 3. Für die unter 2. herausgearbeiteten Arten von Notizen soll unter sprachlicher Perspektive in Kap. 5.3 untersucht werden, ob Konstruktionsmuster mit obligatorischen und fakultativen Elementen bestimmt werden können. Mit Blick auf die Ergebnisse aus Walther (2019: 313 ff.) wird für beide Schreiberinnen vermutet, dass deren Termineintragungen aus zwei Komponenten bestehen: Uhrzeit und Benennung der geplanten Aktivität. Für rückblickende Eintragungen wird kein festes Muster zu erwarten sein, da die Notizen inhaltlich zu divers sind. Der Fokus soll weiterführend auf lexikalischen und morphosyntaktischen Aspekten liegen und es soll untersucht werden, welche temporaldeiktischen Mittel die Probandinnen in ihren Notizen verwenden. 4. Aus prozessualer Perspektive werden in Kap. 6 die Prozesse des Schreibens in Kalender (Produktion) und des Lesens von Kalenderbucheinträgen (Rezeption) nachgezeichnet. Es wird danach gefragt, welche Mittel die im Rahmen des gesamten Projektes untersuchten Schreiber: innen nutzen, um Zeit formal zu markieren und die formalen Vorgaben, die das Medium Kalenderbuch bereits aus sich selbst heraus macht, für ihre Zwecke zu erweitern. Dass Schreiber: innen graphische Mittel einfügen, um v. a. erledigte Termine zu markieren, konnte bereits bei Walther (2019: 312) gezeigt werden. Hier soll dann noch einmal der Zeitlichkeitsaspekt genauer in den Blick genommen werden, indem ein Modell entworfen wird, das die Prozesse von Produktion Zur Bedeutung von Zeit(lichkeit) in Kalenderbüchern älterer Schreiber: innen 155 <?page no="156"?> und Rezeption des Kalenderbuchschreibens sowie deren wechselseitigen Einfluss musterhaft darstellt und dieses von einer dialogisch ausgerichteten Textproduktion und -rezeption abgrenzt. 5 Qualitative und quantitative Aspekte von Zeit in Kalenderbüchern Anfangs wurde bereits festgehalten, wie in diesem Beitrag zwischen Zeit und Zeitlichkeit unterschieden wird. Das soll im Folgenden aus verschiedenen Perspektiven näher betrachtet werden. Formale, inhaltliche und sprachliche Aspekte von Zeit werden in den Kalenderbucheinträgen der älteren Schreiber: innen aufgezeigt. Der Prozess des Schreibens und Lesens von Kalenderbuchnotizen wird unter dem Aspekt der Zeitlichkeit nachgezeichnet. 5.1 Formale Gestaltung von Zeit Nach Fix (2008: 347) beschreibt das Textualitätskriterium der Materialität die Gestaltung des Textträgers, die ebenso wie sprachliche Zeichen Bedeutung vermittelt. Die typographische Konstellation von Texten kann demnach konstitutiv für eine Textsorte sein. Für Kalenderbücher kann eine solche charakteristische Konstellation zweifelsohne beschrieben werden. Der formale Aufbau von Kalenderbüchern ist per se eng mit dem Aspekt Zeit verknüpft. 8 Dies zeigt sich bereits darin, dass das Jahr entweder auf der Deckseite oder auf dem Buchrücken des Kalenderbuches aufgedruckt ist. Die folgenden Seiten beinhalten dann i. d. R. zunächst eine Übersicht zu gesetzlichen Feiertagen (in Deutschland, Österreich und der Schweiz), Schulferien aller deutschen und österreichischen Bundesländer sowie eine kompakte Jahresübersicht. Erst danach beginnt das eigentliche Jahr mit den verschiedenen Zeitabschnitten (Wochentage, Wochen, Monate). Das Kalenderbuch endet mit einer kompakten Übersicht für das nachfolgende Jahr und je nach Verlag finden sich am Ende noch weitere Informationen (z. B. europäische Feiertage, Übersichten zu Messen und Ausstellungen im Kalenderjahr, KFZ-Kennzeichen) sowie Platz für das Eintragen von Adressen und Telefonnummern. Für jeden Wochentag geben 8 Die nachführenden Erläuterungen beziehen sich alle auf Kalenderbücher im A5-Hochformat, da die hier analysierten Texte der zwei Probandinnen diesem Format entstammen. Für Wochenquerkalender und Kalender im A4-Hochformat kann aber ein ähnliches formales Muster beschrieben werden. Die formale Charakterisierung habe ich in weiten Teilen so bereits in Kap. 6 in Walther (2019: 308 - 313) sowie in Kap. 4 in Walther (2021: 97 ff.) beschrieben. 156 Diana Walther <?page no="157"?> Kalenderbücher eine spezifische Textarchitektur vor, die auch Payne (1993: 87 f.) und Symes (1999: 367, 2012: 158 - 163) beschreiben. Die Tage sind chronologisch aneinandergereiht, damit stehen alle Einzeleinträge in unveränderlicher Reihenfolge. Jeder Tageseintrag kann zwar zunächst für sich allein betrachtet werden, gleichzeitig steht er aber durch die Chronologie immer in fester formaler Verbindung zu allen anderen Tageseinträgen eines Jahres. Die formale Struktur für die einzelnen Wochentage lässt sich folgendermaßen charakterisieren: Jede Kalenderbuchseite besteht aus einer zeitlichen Gliederung, lässt aber zugleich auch inhaltliche Vorgaben erkennen, wie das nachfolgende Beispiel einer Doppelseite des Kalenderbuches der Schreiberin RM zeigt: Abb. 1: Seite eines Kalenderbuches im A5-Hochformat mit einem Tag pro Kalenderseite Die Schreiber: innen sind im Umfang ihrer Texte zunächst Beschränkungen unterworfen, da das Medium Kalenderbuch bereits feste formale Grenzen für mögliche Notizen zieht (dazu McKenzie und Davies 2016: 154; zu Gliederungshinweisen Hausendorf et al. 2017: 150 - 158). Tersch (2008: 9) hält fest, dass das gedruckte Medium ein enges Korsett vorgibt, das „ eine relativ hohe Schreibdisziplin “ abverlangt und eine sehr enge Verbindung des gedruckten Mediums mit den handschriftlich eingefügten Notizen zur Folge hat. So enthalten Kalenderbücher bestimmte vorausgefüllte, spezifisch angeordnete und zeitlich konstituierte Teiltexte (Fandrych und Thurmair 2011: 267), die zunächst losgelöst voneinander stehen, aber in ihrer Gesamtheit betrachtet werden müssen, auch wenn sie (zunächst) nicht von den Schreiber: innen bearbeitet werden Zur Bedeutung von Zeit(lichkeit) in Kalenderbüchern älterer Schreiber: innen 157 <?page no="158"?> können: Angabe des Monats und des Wochentages (auf Deutsch und verschiedenen Fremdsprachen), Angabe des Datums (Sonntage sind immer rot gedruckt), Nummer der Kalenderwoche, weitere Angaben (Zinstage, Zeiten und Symbole für Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Mondphasen), gesetzliche Feiertage, eine Übersicht zum Gesamtmonat. Alle diese Teiltexte sind im oberen Teil der Seite angesiedelt. Das Feld mit den vorgezogenen Linien kann als Textmöglichkeit angesehen werden, es bietet Platz für Kalendernotizen, der von den Schreiber: innen beliebig gefüllt werden kann, aber nicht muss. Jede Seite kann beliebig viele Kalendernotizen umfassen. Alle Notizen stehen aber in einem engen temporalen Verhältnis zu den anderen Teiltexten, denn sie konstituieren zusammen den Kalenderbucheintrag als Ganzes und ordnen ihn im Rahmen des Mediums Kalenderbuch exakt chronologisch ein. Der Kalenderbucheintrag kann aufgrund dieser formalen Vorgaben und gestalterischen Begleiter nicht als monomodale, d. h. rein sprachliche Textsorte bezeichnet werden, sondern mit Schmitz (2018) als multimodale. Die Multimodalität zeigt sich auch in zusätzlichen pikturalen Begleitern: Viele Kalender geben zu den vorgezogenen Zeilen eine weiterführende temporale, aber auch inhaltliche Gliederung vor. Durch Uhrzeiten auf der linken und verschiedene Symbole auf der rechten Seite (hier: Telefon, Brief, Bleistift) wird der potenzielle Eintrag nicht nur zeitlich-formal vorstrukturiert, vielmehr wird auch ein Muster vorgegeben, wie die Kalenderseite inhaltlich gefüllt werden kann. So hat jede Notiz ihren spezifischen Ort im Kalender mit seiner chronologischen und inhaltlichen Struktur. Schreiber: innen können aber auch von dieser Struktur abweichen: Entweder, weil sie sich der Gliederung nicht bewusst sind oder weil sie mehr notieren wollen und damit ihrer eigenen Aufteilung folgen. So fügen sie ihre Notizen auch außerhalb der Ränder ein, manchmal auch in oder über die anderen Teiltexte, wie Abb. 1 oben zeigt. Schreiberin RM kann ihre Notizen zum Wetter offenbar nicht in die vorgegebene Struktur einordnen, also lagert sie diese aus den Textgrenzen aus und fügt sie am oberen Rand ein: kalt (- Grade nachts). Die Schreiberin weicht aber nicht nur nach oben aus, sondern auch nach unten und hält dort Informationen zum Gesundheitszustand (Blutdruck) ihres Mannes fest (#Vorname#: BD pegelt sich wieder ein). Andere Schreiber: innen notieren auch spezifische Ereignisse außerhalb der formalen Grenzen, z. B. den Tod einer Person, die häufig an den oberen Rand gerückt und damit formal aus der Tageschronologie herausgestellt werden (dazu ausführlicher Walther 2021: 97 ff.). Farbliche Markierungen, Unterstreichungen, Einrahmungen, Pfeile, Einrückungen oder Zeichnungen belegen ebenso den multimodalen Charakter der Kalendernotizen (dazu auch Payne 1993: 87). Die untersuchten Schreiber: innen nutzen graphische Elemente (i. S. v. indexikalischen Zeichen) aber auch, um eingetragene Notizen nachträglich zu 158 Diana Walther <?page no="159"?> verändern. So werden absolvierte Termine oder geplante Aktivitäten entweder durchgestrichen, mit einem Häkchen versehen oder durch die Abkürzung erl. als erledigt markiert. Die Schreiberin ES kombiniert zwei Varianten, wie das nachfolgende Beispiel zeigt: Abb. 2: Markierung einer vorausweisenden Kalendernotiz mit Häkchen und als erledigt (erl.) Ausgefallene Termine oder Aktivitäten werden ebenfalls entweder durchgestrichen oder anderweitig verbal markiert (z. B. verschoben / ausgefallen). Das nachfolgende Beispiel der Schreiberin ES zeigt, dass eine für einen Mittwoch geplante Aktivität durchgestrichen und auf den nächsten Tag (Donnerstag) verschoben wird, was sie in Klammern mit (Do) notiert. Am nächsten Tag findet sich der Eintrag dann auch wieder. Abb. 3: Markierung eines ausgefallenen bzw. verschobenen Termins Mit diesen graphischen Elementen hinterlassen die Schreiber: innen sichtbare Spuren in ihren Texten, die diese damit in ihrer ursprünglichen Gestalt verändern. Dass dies nachträglich geschieht, spiegelt sich nach Aussage einiger Proband: innen manchmal auch in einer anderen Kugelschreiberfarbe oder einer veränderten Schrift wider. Damit zeigt sich, dass die Einträge nicht konstant sind (obwohl sie schriftlich fixiert sind), sondern im Prozess des Schreibens und erneuten Lesens immer wieder verändert werden können (dazu auch Kap. 6). Dass Schreiber: innen graphische Mittel einfügen, um v. a. erledigte Termine zu markieren, konnte bereits bei Walther (2019: 312) gezeigt werden. Je nach Vorgaben des Mediums Kalenderbuch steht den Schreiber: innen unterschiedlich viel Platz zur Verfügung, ich bezeichne das als Textmöglichkeit. Wird der teils wenige Platz mit Notizen gefüllt, erfüllt der eingetragene Text alle Merkmale, die Hausendorf (2009: 6) für sog. kleine Texte ansetzt: Kalenderbuchnotizen nehmen wenig Platz ein, sie bestehen häufig nur aus einem oder wenigen Wort(en) oder Wortgruppen (vgl. Kap. 5.3), sie sind funktional „ praktisch “ (vgl. Kap. 3.3), schablonenhaft in ihrer formalen und sprachlichen Gestaltung sowie wenig ambitioniert, d. h. sie sind lexikalisch und morpho- Zur Bedeutung von Zeit(lichkeit) in Kalenderbüchern älterer Schreiber: innen 159 <?page no="160"?> syntaktisch einfach gestaltet. Sie sind in weiterführenden Merkmalen, die Pappert und Roth (2022: 30) ergänzen, multimodal und kontextabhängig. Multimodal in dem Sinne, dass z. B. ein Pfeil genügt, um eine geplante Aktivität anzuzeigen (siehe Kap. 5.3). Der Kontext ist im Rahmen des Kalenderbuchs so eindeutig und klar, dass ein einzelnes Substantiv genügt, um (in Verbindung mit einer Uhrzeit) Eindeutigkeit zu schaffen. Wird der zur Verfügung stehende Platz hingegen nicht genutzt und freigelassen, obwohl er als Ort für den Text bereitsteht, dann kann mit Pappert und Roth (2022) davon gesprochen werden, dass es sich um keinen Text handelt, der aber von einer Textmöglichkeit umgeben ist. Wird keine Notiz im Kalender eingetragen, dann kann darauf geschlossen werden, dass der/ die Schreiber: in keinen Termin wahrnehmen oder keine sonstige Aktivität durchführen möchte (oder mit Blick auf das erweiterte Funktionsspektrum von Kalendernotizen keine Aktivität durchgeführt hat) und der vorgesehene Platz deshalb nicht ausgefüllt wird. 5.2 Inhaltliches Spektrum der Kalendernotizen Nachdem die enge Verknüpfung formaler und inhaltlicher Aspekte anhand der vorgegebenen Struktur von Kalenderbüchern aufgezeigt wurde, soll nun das inhaltliche Spektrum der Kalendernotizen exemplarisch für die Schreiberinnen ES und RM betrachtet werden. Auf Grundlage der Analyse von Kalendern elf älterer Schreiber: innen konnte Walther (2019) bereits zeigen, dass in den Kalendern Termine, Geburtstage, Veranstaltungen, Familienbesuche, Urlaube, geplante Mahlzeiten, regelmäßige Haushaltsaktivitäten notiert oder To-do- Listen beigefügt werden. Einige Proband: innen notieren auch rückblickend ihren Tagesablauf: Wann sie morgens aufgestanden und abends zu Bett gegangen sind, was sie gegessen haben, wer angerufen hat oder zu Besuch gekommen ist, wo sie einkaufen waren, was sie im Fernsehen geschaut haben, wie das Wetter war. Auch werden teilweise Dinge notiert, die mit dem privaten Alltag wenig zu tun haben, aber dennoch für die Schreibenden so wichtig sind, dass sie schriftlich festgehalten werden, z. B. terroristische Anschläge, Wahlergebnisse, Rücktritte von Politiker: innen, Sportergebnisse. Bei den detaillierteren Analysen der Kalender von ES und RM konnte das genannte inhaltliche Spektrum beobachtet werden, allerdings in unterschiedlicher Verteilung. Die folgenden vier inhaltlichen Kategorien lassen sich unterscheiden: 1. Termine: Es handelt sich hier um Eintragungen, die der regulären prospektiven Funktion von Kalenderbüchern, der Planungsfunktion, entsprechen (dazu Kap. 3.3). Termine werden immer in Kombination mit festen Uhrzeiten notiert (z. B. 16 Uhr Dr. #Name# Untersuchung / 12 Uhr Familienessen). 160 Diana Walther <?page no="161"?> 2. vorausverweisende Eintragungen: Hierzu zählen Notizen, die mit Planungsabsicht, aber ohne Uhrzeit eingetragen werden. Sie sind keine fest vereinbarten Termine, dienen aber ebenso der Planungsfunktion (z. B. Bettwäsche wechseln / Blumen gießen). 3. rückverweisende Eintragungen: Zu dieser Kategorie zählen Eintragungen, mit denen retrospektiv der Tagesablauf festgehalten wird. Durch diese ‚ irregulären ‘ Notizen wird das Funktionsspektrum von Kalenderbüchern um die in Kap. 3.3 beschriebene Festhalte- und Nachschlagefunktion sowie die Kontrollfunktion erweitert (z. B. 12 00 altes Sofa von Caritas abgeholt / Einkauf Aldi 4, - ). 4. sonstige Eintragungen: Notizen zum Wetter, Gesundheitszustand der Probandinnen oder sonstige Anmerkungen zu politischen Ereignissen etc. sind weder vorausnoch rückverweisend i. e. S. und können daher keiner der anderen Kategorien zugeordnet werden. Auch diese Kategorie erweitert das Funktionsspektrum von Kalenderbüchern um die Festhalte- und Nachschlagefunktion sowie die Kontrollfunktion (z. B. Wind, etwas Regen (wie das Gemüt) / US-Wahl Trump ist die Nachricht in allen Medien / familiäres Stimm. tief). Abb. 4 zeigt, wie sich die vier Kategorien auf die untersuchten Kalendermonate der Schreiberinnen ES und RM im Vergleich verteilen: Abb. 4: inhaltliches Spektrum der untersuchten Kalendereinträge von ES und RM im Vergleich Zur Bedeutung von Zeit(lichkeit) in Kalenderbüchern älterer Schreiber: innen 161 <?page no="162"?> Es lässt sich ein interessanter Gegensatz beobachten: Während ES überwiegend Termine und prospektive Eintragungen vornimmt, macht RM fast ausschließlich retrospektive Notizen. ES nutzt ihren Kalender damit fast ausschließlich in der Planungsfunktion. In Kap. 4 wurde die Hypothese formuliert, dass bei ES hauptsächlich Termineintragungen zu erwarten sind, weil sie ihren Kalender im Vergleich zu RM nur minimal füllt. Mit Blick auf Abb. 4 kann das bestätigt werden, denn bei ES überwiegen im Mittel die vorausverweisenden Einträge mit fast 60 %, Termine nehmen ca. 35 % aller Notizen ein. Die oben genannten inhaltlichen Kategorien 1 und 2 bilden mit fast 95 % aller Einträge also den größten Anteil, rückverweisende und sonstige Einträge (Kategorie 3 und 4) umfassen zusammen nur ca. 5 % aller Einträge. Für Probandin RM wurde die Hypothese formuliert, dass bei ihr sowohl vorausverweisende als auch rückverweisende Notizen gleichermaßen beobachtet werden können. Die Analysen zeigen aber ein anderes Bild: RM macht zu 86,5 % retrospektive Einträge, zu ca. 13 % sonstige Notizen und nur minimal (zu 0,6 %) prospektive Einträge, Termine trägt sie keine ein. Es überwiegt damit die Festhalte- und Nachschlagefunktion sowie die Kontrollfunktion von Kalenderbuchnotizen. Ein Blick in das Interview mit RM zeigt den Grund: Sie erläutert, dass sie mehrere Arten von Kalendern besitzt: einen für ihre persönlichen Termine und die des Ehemannes, und einen zweiten, in dem sie ihren Tagesverlauf und weitere Notizen festhält. Dieses zweite Kalenderbuch, das die Probandin für die vorliegenden Analysen zur Verfügung gestellt hat, trägt aus funktionaler Perspektive Züge eines Tagebuchs, da es teils auch bewertenden Charakter hat. Die Einordnung als Tagebuch lehnt RM selbst aber ab. Auf die Frage, ob sie ihre Notizen in vollständigen Sätzen einträgt, antwortet sie: „ Nein, dann wäre es ja ein Tagebuch, aber dafür hab ich keine Zeit. “ Damit liegt aus subjektiver Sicht ein Kalender i. e. S. vor, aus funktionaler Sicht ist es eine Mischform aus Kalender- und Tagebuch. Nichtsdestotrotz können die oben genannten inhaltlichen Kategorien von Kalenderbuchnotizen (ausgenommen der Termineintragungen) auch bei RM beobachtet werden. Nachfolgend werden die vier inhaltlichen Kategorien nun etwas detaillierter analysiert. Schaut man zunächst genauer auf die Termineintragungen von Probandin ES (n= 26), ergibt sich folgendes Bild zum inhaltlichen Spektrum: Mit Blick auf die in Kap. 2 dargelegten Zeitkonzepte im Rentenalter kann für ES festgehalten werden, dass die gebundene freie Zeit mit ca. 73 % aller Termineintragungen dominiert, Eintragungen für Freizeittermine nehmen mit ca. 27 % nur einen geringen Teil ein. Die Probandin verplant die gebundene freie Zeit überwiegend mit Haushaltsaktivitäten (34,6 %), es folgen die Betreuung der Enkelkinder (30,8 %) und Arzttermine (7,7 %). Ihre Freizeit verplant ES mit Kulturveranstaltungen (7,7 %) und Bildungsangeboten (3,8 %), Treffen mit 162 Diana Walther <?page no="163"?> Personen des näheren Umfelds (Familie, Freunde, Bekannte) nehmen einen Anteil von 15,4 % ein. Auch die vorausverweisenden Notizen (n= 44) machen deutlich, dass bei ES die Alltagszeit durch gebundene Zeit ausgefüllt ist: Das Notieren von Geburtstagen als private Anlässe nimmt mit 13,6 % nur einen geringen Teil der Einträge ein, alle anderen prospektiven Notizen beziehen sich auf gebundene freie Zeit (insgesamt 86,4 %), die mit Haushaltsaktivitäten (9 %), Einkäufen (16 %), sonstigen Erledigungen (16 %), Finanz- (25 %) und Gesundheitsangelegenheiten (6,8 %) sowie der Zubereitung von Mahlzeiten (13,6 %) gefüllt ist. Dass es sich hier größtenteils um prospektive und nicht wie bei RM um retrospektive Notizen handelt, zeigen die graphischen Elemente: ES hakt alle Notizen nach deren Erledigung ab oder markiert sie zusätzlich als erledigt, wie Abb. 2 gezeigt hat. Mit den Notizen, die der inhaltlichen Kategorie 1 und 2 zuzuordnen sind (Termine, vorausverweisende Eintragungen), erfüllen die Kalenderbücher von ES also die reguläre Planungsfunktion. Es konnte bereits an anderer Stelle gezeigt werden, dass einige Proband: innen ihre Kalender mit erweiterten Funktionen versehen (dazu Walther 2019). Die entsprechenden Notizen erfüllen dann Festhalte- und Nachschlagefunktion sowie Kontrollfunktion. Probandin RM füllt ihr Kalenderbuch mit solchen Notizen. Das inhaltliche Spektrum der rückverweisenden Notizen, die bei RM den überwiegenden Teil aller Notizen einnehmen (n= 308), ist breit gefächert: Mit Bezug auf die Zeitkonzepte im Rentenalter kann festgehalten werden, dass ihr Alltag - ebenso wie der von ES - durch gebundene freie Zeit (insgesamt 62,4 %) geprägt ist. Sie verbringt ihre Zeit hauptsächlich mit Haushaltsaktivitäten (14,6 %), Einkäufen (11,7 %), Zubereitung von Mahlzeiten (18,6 %), Gesundheitsangelegenheiten (11,7 %) und sonstigen Aktivitäten (5,8 %). Ihre Freizeitaktivitäten (Spaziergänge, Ausflüge, Erholung, Fernsehen) spiegeln sich dagegen nur zu 7,8 % in den Notizen wider. Mit 29,8 % aller retrospektiven Notizen hält RM ihre Kommunikationsaktivitäten fest. Sie notiert detailliert, mit wem sie telefoniert hat oder mit wem sie per WhatsApp in Kontakt war, wer Briefe oder Pakete geschickt hat. Nicht immer lassen sich die Notizen zur getätigten Kommunikation eindeutig der gebundenen freien Zeit oder der Freizeit zuordnen. Notizen wie bei #Vorname# für 1.2. angemeldet lassen auf ein privates Treffen schließen, Notizen wie Anrufe v. #Vorname# + #Vorname# oder Brief an #Vorname Nachname# können hingegen nicht eindeutig zugeordnet werden. Abschließend soll noch ein Blick auf die inhaltliche Kategorie 4 der Kalenderbuchnotizen geworfen werden. Die Probandin RM trägt in ihr Kalenderbuch sonstige Notizen ein, die weder klassisch prospektiv noch retrospektiv sind (n = 46). Die Analysen zeigen folgendes inhaltliche Spektrum: RM trägt überwiegend Notizen zum Wetter ein (37 %) und hält ebenso gesundheitliche Zur Bedeutung von Zeit(lichkeit) in Kalenderbüchern älterer Schreiber: innen 163 <?page no="164"?> Aspekte fest (28,3 %), die häufig auch mit dem Wetter einhergehen (z. B. schl. Wind beeinflußt wieder Rücken negativ). Die anderen Notizen werden zu den Bereichen Haushalt (10,9 %), Politik und Stadtgeschehen (6,6 %) sowie Sonstiges (17,4 %) angefertigt. Ähnliche Notizen lassen sich auch bei anderen Proband: innen beobachten, die rückblickend ihren Tagesablauf detailliert festhalten. Wie bereits gezeigt wurde, kann den sonstigen Notizen weder klassisch vorausweisender noch rückverweisender Charakter i. e. S. zugeschrieben werden. Dennoch erfüllen sie für die Proband: innen eine wesentliche Funktion im Rahmen des Kalenderbuches, denn mit ihnen behalten sie Übersicht und Kontrolle über ihren Alltag und sonstige Ereignisse oder Zustände, v. a. können anhand der Notizen gesundheitliche Veränderungen nachverfolgt werden, sodass hier v. a. die in Kap. 3.3 beschriebene Kontrollfunktion erfüllt wird. 5.3 Sprachliche Relevantsetzung von Zeit in Kalendernotizen älterer Schreiberinnen Nachdem die inhaltlichen Analysen der Kalender der Schreiberinnen ES und RM ein breites Spektrum an Notizen gezeigt haben, die auf unterschiedliche Art mit Zeit verbunden sind, soll nun die Analyse sprachlicher Mittel folgen, mit denen die verschiedenen inhaltlichen Kategorien der Notizen gefüllt werden. Der Fokus liegt hier hauptsächlich auf temporalen Mitteln, um den Aspekt Zeit auch unter sprachlicher Perspektive näher zu betrachten. Termine, die in Kap. 5.2 als inhaltliche Kategorie 1 für die eingetragenen Notizen herausgearbeitet wurden, können durch folgendes Konstruktionsmuster charakterisiert werden: X U HR Y A KTIVITÄT . Dieses Konstruktionsmuster kann für alle Termineintragungen beobachtet werden und besteht aus zwei obligatorischen Elementen: der Angabe der Uhrzeit und der geplanten Aktivität. Die Uhrzeit wird entweder selbst eingetragen oder im Kalenderbuch eingekreist. 100 % aller Termineinträge von Probandin ES sind mit einer Zeitangabe versehen und können damit allesamt zeitlich exakt zugeordnet werden. Für die notierten Aktivitäten lässt sich folgende Ausgestaltung aufzeigen: 1. einteilige Konstruktionen: Die Aktivität wird nur mit einem Namen, einem Ort, einer Institution oder der eigentlichen Aktivität, bestehend aus einem Substantiv, notiert (z. B.: 16 Uhr Dr. #Nachname# / 12 Uhr Familienessen / 18 Uhr VHS). 2. zweiteilige Konstruktionen: a) Der Eintrag besteht aus einem Namen, einem Ort oder einer Institution, es folgt die Angabe der Aktivität bestehend aus einem oder mehreren 164 Diana Walther <?page no="165"?> Substantiven, teils in Kombination mit Präpositionen (z.B: 11.30 Uhr Dr. #Nachname# Untersuchung / 19 Uhr Silvester-Gala Opernhaus / 14 Uhr #Vorname# zum Kaffee). b) Eine zweite Möglichkeit besteht darin, dass die Aktivität elliptisch mit Substantiv und Infinitiv notiert wird (z. B.: 8 Uhr Kaninchen abholen / 11 Uhr Gans abholen). Die Rekonstruktion bzw. Auflösung der elliptischen Infinitivstrukturen lässt in Kombination mit der konkreten Uhrzeit grammatisches Futur erkennen (z. B. Ich werde um 11 Uhr die Gans abholen.) und folgt damit der Planungsfunktion von Kalendern. Unter dem Aspekt von Zeit kann für Termineintragungen, die hier exemplarisch an den Kalendernotizen der Schreiberin ES untersucht wurden, festgehalten werden, dass die Angabe der Uhrzeit als obligatorisches Element eine wesentliche Rolle im Kalenderbuch spielt, denn nur so kann die geplante Aktivität zeitlich exakt zugeordnet und in den Tagesverlauf eingeplant werden. Für die inhaltliche Kategorie 2 der Notizen kann in den untersuchten Kalendereinträgen von ES keine Zuordnung zu einer konkreten Uhrzeit festgestellt werden. Alle Einträge sind in der rechten Spalte der jeweiligen Kalenderbuchseite notiert, die vom Medium bereits für Notizen vorgesehen ist (vgl. Kap. 5.1). Es lassen sich in den Eintragungen zunächst keine temporaldeiktischen Mittel, wie z. B. Temporaladverbien oder temporale Konnektoren erkennen, die darauf schließen lassen, dass es sich um vorausverweisende Notizen handelt. Wie in Kap. 5.2 aber festgehalten wurde, sind es die graphischen Mittel (Häkchen) oder sprachlichen Zusätze, die darauf schließen lassen, dass die Notizen mit fester Planungsabsicht eingetragen wurden und nachträglich als erledigt markiert werden. Für die prospektiven Notizen kann in Anlehnung an die Termineintragungen folgendes Konstruktionsmuster bestimmt werden, das lediglich aus einem obligatorischen Element, nämlich der Angabe der Aktivität besteht: X A KTIVITÄT . Aus sprachlicher Perspektive lassen sich für die notierten Aktivitäten von ES folgende Ausgestaltungsmöglichkeiten aufzeigen: 1. einteilige Konstruktionen: a) Die Aktivität wird mit einem Namen, einem Ort, einer Institution oder der Aktivität selbst als Substantiv (teils in Kombination mit einer Präposition) notiert (z. B.: Hühnersuppe / Hausputz / Netto / zum Optiker). b) Es lassen sich auch Verben im Infinitiv bzw. substantivierte Infinitive beobachten (z. B.: Einkaufen). Versucht man, die ellipitischen Infinitivstrukturen aufzulösen, dann lässt sich im Vergleich zu den Termineintragungen kein grammatisches Futur erkennen, sondern Modalität (z. B. Ich will einkaufen gehen. oder Ich muss einkaufen gehen.). Damit ist zwar Zur Bedeutung von Zeit(lichkeit) in Kalenderbüchern älterer Schreiber: innen 165 <?page no="166"?> Planungsabsicht erkennbar, diese ist aber nicht in dem Maße verpflichtend wie fest vereinbarte Termine. Das bestätigen auch die Aussagen der Proband: innen in den Interviews: So erklärt ES, dass sie im Kalender festhält, was sie erledigen oder kochen will. Auch die Probandin EP erklärt, dass sie vorab einträgt, was sie im Haushalt zu machen hat, was sie essen will oder für spätere Mahlzeiten vorbereiten muss. 2. zweiteilige Konstruktionen: a) Zweiteilige Konstruktionen können aus der Aneinanderreihung mehrerer Substantive bestehen (z.B: Anzahlung Südfrankreich 300, - / Island (Nachzahlung) 65. - ). b) Es lassen sich auch elliptische Verbindungen aus Substantiven und Infinitiven beobachten (z. B.: Bettwäsche wechseln / Gans + 2 Keulen abholen). Die Rekonstruktion dieser elliptischen Strukturen lässt ebenso wie bei den einteiligen Konstruktionen Modalität und damit abgeschwächte Planungsabsicht erkennen (z. B. Ich muss Bettwäsche wechseln. oder Ich will Bettwäsche wechseln). c) Graphische Elemente (i. S. v. indexikalischen Zeichen) in Verbindung mit einem Namen, einem Ort oder einer Institution können verwendet werden, um die Aktivität in elliptischer Form zu notieren (z. B.: Ü → Frauenar. / Rampiril → Rezept). Pfeile ersetzen die eigentlich geplante Aktivität, die bei Auflösung der Konstruktion ebenso Modalität erkennen lässt (z. B. Ich will eine Überweisung bei Arzt X holen. oder Ich muss eine Überweisung bei Arzt X holen.). Mit Blick auf den Zeitaspekt kann für die vorausverweisenden Einträge festgehalten werden, dass sie im Vergleich zu den Termineintragungen aus sprachlicher Perspektive weniger exakt zeitlich eingeordnet werden können, da ihnen die Angabe einer konkreten Uhrzeit fehlt. Sie sind also sprachlich nicht temporal markiert, sind es aber inhaltlich und lassen abgeschwächte Planungsabsicht erkennen. Neben den vorausweisenden Einträgen und v. a. Termineintragungen, die in einem Kalender zu erwarten sind, erweitern einige der untersuchten Schreiber: innen das Spektrum an Funktionen für Kalenderbucheinträge um einen rückwärtsgewandten Blick, nämlich den des nachträglichen Festhaltens ihres Tagesablaufs. Dadurch, dass die Proband: innen das vermehrt auch in längeren, teils satzwertigen Notizen tun, können verschiedene sprachliche Mittel beobachtet werden, die sich auf Vergangenes beziehen. Die inhaltlichen Kategorien 3 und 4 der Notizen (rückverweisende und sonstige Notizen) von Probandin RM werden im Folgenden zusammen betrachtet, weil sie lexikalisch und morphosyntaktisch gleich gestaltet sind. Die Verwendung der Zeitformen 166 Diana Walther <?page no="167"?> lässt zunächst einen erweiterten Zeitbezug in den Notizen erkennen. In den 354 Einträgen lassen sich 74 Belege für Präsensformen beobachten (z. B.: #Vorname# genießt neues Sofa b. Mittagsschlaf / #Vorname# macht Steuererklärung / Gehen es heute in Ruhe an! ! ). In 89 Belegen finden sich Perfektformen (z. B.: #Vorname# hat angerufen / #Vorname# hat sich Arm gebrochen), überwiegend als elliptische Partizip-II-Formen (z. B.: gefaulenzt! / #Vorname# schmalen Schrank zerlegt u. entsorgt / zur Physio gelaufen unter gr. Beschwerden), die teils auch abgekürzt werden (z. B.: mit #Vorname# telef. / Mit #Vorname# gespr.). Schreiberin RM bettet ihre Notizen also zeitlich ein, indem sie die festgehaltenen Aktivitäten entweder als im Prozess befindlich oder als abgeschlossene Handlung notiert - und das, obwohl alle Notizen rückblickend, also nachträglich angefertigt werden. Lakonische, kurze Einträge konnte Meise (2005: 11) bereits in Kalendern der Frühen Neuzeit beobachten und das unabhängig vom Inhalt der Notizen. Auch Tersch (2008: 9) hält für historische Kalender fest: „ Lange ciceronianische Satzstrukturen sind in einem gängigen Notizkalender kaum möglich. “ Außerdem finden sich in den Einträgen der Kategorie 3 und 4 von Schreiberin RM temporale Bezüge (139 Belege), die ein breites Spektrum an sprachlichen Mitteln erkennen lässt, wie die folgende Übersicht zeigt: temporales Mittel Beispiele Angabe konkreter Tages- und Mahlzeiten (69 Belege) Nachmittag: WZ-Umbau begonnen Straßensperrungen mit Polizeiautos von mittags bis abends wegen Innenministerkonferenz u. Gegendemos na: Kälte (-31° i. #Region#) nachts: stechende Schm. i. li. Auge Mittagessen: Kaninchen mitt.: Resteessen Angabe von Uhrzeiten (10 Belege) 12 00 altes Sofa von #Name# abgeholt Schneefall ab 20.00 Spaziergang - wüste Knallerei schon 16 00 Angaben einer spezifischen Zeitdauer (7 Belege) Spaziergang 45´ Winterwetter! #Vorname#: Za.Arzt (2 Std.) ½ Std. bei Wind + Regen spaziert Angabe einer unspezifischen Zeitdauer (5 Belege) lg. Gespräch zwi. #Vorname1# u. #Vorname2# (neue Umzugspläne! ) ganztägig Schneefall bis 13 00 Klempner am Küchenabfluß Zur Bedeutung von Zeit(lichkeit) in Kalenderbüchern älterer Schreiber: innen 167 <?page no="168"?> temporales Mittel Beispiele Verweise auf ein konkretes Datum, einen (Feier)Tag oder Monat, teilweise intratextuell mit späterer Aufnahme im Kalender (16 Belege) bei #Vorname# für 1.2. angemeldet mit #Vorname# - ob noch Besuch bei uns vor Weihnachten? mysteriö. Anruf Smartphone (s. Silvester) Rückruf #Vorname1# alles o. k. ev. Besuch v. #Vorname2# i. Februar Temporaladverbien (31 Belege) #Vorname# ruft an → Akku streikt wieder! ! erneut bei Aug.Arzt wegen Lidentzündung → OP? letzte Nacht mit der guten alten (unbequemen Couch) endlich Wetterbesserung (Sonne), aber Na. noch Frost #Vorname# mistet immer noch aus temporale Konnektoren (1 Beleg) Ausflug z. Cafe #Name# i. #Ort# anschließend Spaziergang a. #Name See# Tab. 1: Übersicht temporale Mittel in den Kalendernotizen von Probandin RM Ein solches Spektrum an temporalen Phänomenen konnte auch Bachmann- Stein (2004) für die Textsorte Horoskop zeigen, Meier-Vieracker (2021) arbeitet ähnliche sprachliche Mittel für Krankheitserzählungen in Blogeinträgen heraus. Dass sich diese temporalen Phänomene in Kalenderbüchern zeigen, widerspricht zunächst der Textsorte Kalenderbucheintrag, denn diese nimmt eigentlich prospektive Planungsfunktion ein. Daher könnten Schreiber: innen auf vorwärts gerichtete, auf die Zukunft verweisende sprachliche Mittel verzichten, denn Kalenderbücher sind per se ein zukunfts- und kein vergangenheitsorientiertes Medium. Wie die sprachlichen Analysen der inhaltlichen Kategorien 1 und 2 (Termine und vorausverweisende Einträge) gezeigt haben, tun die Schreiber: innen das auch. Lediglich konkrete Uhrzeiten werden als temporale Mittel notiert, was im Rahmen des Kalenderbuchs aber auch zu erwarten und für eine eindeutige Zuordnung zwingend notwendig ist (zumindest für Termineintragungen). Für die Notizen der Kategorie 3 und 4 (rückverweisende und sonstige Einträge) kann hingegen ein neuer, untypischer temporaler Aspekt von Kalenderbucheinträgen aufgezeigt werden, der Zeit damit auf zusätzliche Art und Weise im Kalenderbuch zugänglich macht, nämlich rückwärtsgewandt, was für das Medium so i. e. S. nicht vorgesehen ist. 168 Diana Walther <?page no="169"?> 6 Produktion und Rezeption von Kalenderbuchnotizen - Ein Modell zur Zeitlichkeit der kommunikativen Praktik des Kalenderführens Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln das Produkt Kalenderbucheintrag hinsichtlich formaler, inhaltlicher und sprachlicher Komponenten mit besonderem Blick auf temporale Aspekte analysiert wurde, soll im Folgenden der Fokus auf dem Schreiben und Lesen von Kalenderbuchnotizen liegen und damit der prozessuale Aspekt von Zeitlichkeit näher betrachtet werden. Dazu wird ein Modell entworfen, das das zeitliche Wechselverhältnis von Produktion und Rezeption für Kalenderbuchnotizen aufzeigt. Das Modell basiert einerseits auf den Ausführungen von Liedtke (2009) und andererseits auf Beißwenger (2020), der Liedtkes Ansatz auf internetbasierte Kommunikation überträgt. Liedtke (2009: 76 f.) unterscheidet drei zeitliche Aspekte für klassische schriftliche Texte: Die Inskription ist der Zeitpunkt, „ an dem eine Bemerkung aufgeschrieben wird “ , der Zeitpunkt der Rezeption ist derjenige, „ an dem sie gelesen wird “ , der Obligationszeitpunkt ist derjenige, an dem die „ mit einem Sprechakt verbundenen Festlegungen, Berechtigungen und Verpflichtungen realisiert werden “ . Beißwenger (2020: 301) stellt in seinem Modell dem Inskriptionszeitpunkt einen Intentionszeitpunkt voran. Dieser bildet den Ausgangspunkt für die Produktion und schafft damit eine Produktionszeit als Zeitraum, der sowohl die Intention als auch die Inskription umfasst. Zwischen Produktions- und Rezeptionsphase fügt Beißwenger noch eine Phase der Übermittlung des Textes ein. Dieser Phase ordnet er einen Verfügbarkeitszeitpunkt zu, der den Zeitpunkt meint, „ ab welchem die inskribierte Textäußerung für die Rezipientin oder den Rezipienten - typischerweise nach einem vorangegangenen Übermittlungs- und Publikationsprozess - zugänglich ist “ (ebd.). Weiterhin hält Beißwenger (ebd.) fest, dass der Zeitpunkt der Verfügbarkeit aber nicht zwingend mit der Wahrnehmung eines Textes zusammenfallen muss, sodass er dem Obligationszeitpunkt noch einen Zeitpunkt der Perzeption voranstellt und damit das eigentliche Lesen des Textes meint, woraus sich dann erst die Obligation ergibt. Beide Zeitpunkte werden der Rezeptionsphase zugeordnet. Dass Inskriptions- und Rezeptionszeitpunkt bei Kalenderbuchnotizen auseinanderliegen, scheint klar zu sein. „ Die entscheidende Frage ist, wann die Obligation, die mit der illokutionären Kraft eines schriftlich vollzogenen Sprechakts verbunden ist, in ‚ Kraft ‘ tritt, das heißt, wann die Erfüllungsbedingungen eines schriftlichen Sprechakts gelten “ (Liedtke 2009: 76). Für die in Kap. 5.2 herausgearbeiteten retrospektiven Notizen (Kategorie 3), die alle nicht die klassische Planungsfunktion von Kalendern erfüllen, sondern eher der Zur Bedeutung von Zeit(lichkeit) in Kalenderbüchern älterer Schreiber: innen 169 <?page no="170"?> in Kap. 3.3 benannten Festhalte- und Nachschlagefunktion, Kontrollsowie Sammelfunktion zuzuordnen sind, kann keine wirkliche Obligation benannt werden, denn die schreibende Person hält lediglich Informationen zum vergangenen Tag fest (Aktivitäten etc.) bzw. mit Notizen der Kategorien 4 sonstige Ereignisse oder Zustände, ohne damit aber eine Verpflichtung einzugehen. Liedtke (2009: 83) hält fest, dass Inskriptions- und Obligationszeitpunkt auseinanderliegen, aber Obligations- und Rezeptionszeitpunkt zusammenfallen können. Am Beispiel des Terminkalenders konstatiert er, dass sich eine Person mit dem Eintragen eines Termins selbst zu dieser Handlung verpflichtet und dass die Obligationszeit mit der Rezeptionszeit zusammenfällt (ebd.: 84). Ich stimme mit Liedtke insofern überein, als Inskriptions- und Obligationszeitpunkt bei Kalenderbuchnotizen auseinanderliegen. Dass allerdings die Zeitpunkte von Obligation und Rezeption zusammenfallen, muss mit Blick auf das vorliegende empirische Material differenzierter betrachtet werden. Wenn mit Obligation lediglich das sich Verpflichten zu einer Handlung im Sinne der Sprechakttheorie gemeint ist, dann stimme ich den Aussagen Liedtkes zu. Wenn mit Obligation aber in einer weiterführenden Bedeutung hier das tatsächliche Ausführen der Handlung, zu der man sich selbst verpflichtet hat, gemeint ist, dann liegen beide Zeitpunkte auseinander, denn vom Lesen eines Termineintrages bzw. des Eintrages einer zu erledigenden Aktivität (Kategorie 1 und 2 des inhaltlichen Spektrums) - und der damit einhergehenden Aktualisierung der selbst auferlegten Verpflichtung - bis zur tatsächlichen Wahrnehmung eines Termins bzw. zur Durchführung einer geplanten Aktivität kann eine unbestimmte Zeitdauer vergehen, je nachdem, wann der Eintrag gemacht wurde und wie viel Zeit bis zum Eintreten der Verpflichtung noch vorhanden ist. Eingetragene Termine oder Aktivitäten können damit mehrfach und immer wieder über einen längeren Zeitraum gelesen werden. Beispielsweise werden Arzttermine häufig lange im Voraus vereinbart und entsprechend lange im Voraus in den Kalender eingetragen. Bis zum eigentlichen Termin kann die Notiz beim Durchblättern des Kalenders also immer wieder gelesen werden. In Erweiterung zu Liedtke (2009) kann des Weiteren ein zweiter Inskriptionszeitpunkt bestimmt werden: Eingetragene Termine können nach deren Wahrnehmung als erledigt markiert werden. Es handelt sich hier i. e. S. zwar nicht um eine neue eigenständige Notiz, es wird nichts Neues aufgeschrieben, es ist aber eine inhaltliche Erweiterung des ursprünglichen Eintrags. Ein Häkchen trägt für sich gesehen auch keine eigenständige Bedeutung, muss daher also mit dem ursprünglichen Eintrag zusammen betrachtet werden. An einer bereits bestehenden Notiz wird eine Veränderung mit graphischen Mitteln vorgenommen. Termine können aber auch verschoben werden und müssen damit neu eingetragen werden, wie bereits in Kap. 5.1 170 Diana Walther <?page no="171"?> dargelegt wurde. Hier ist der zweite Inskriptionszeitpunkt klarer zu erkennen. Die Notiz an sich ist auch nicht neu, wird aber erneut an anderer Stelle im Kalender eingetragen. Auf Grundlage dieser Diskussion kann für die Textsorte Kalenderbucheintrag mit den darin enthaltenen Kalendernotizen nun folgendes Modell entworfen werden: Abb. 5: Prozess der Produktion und Rezeption von Kalenderbucheinträgen Das Modell umfasst zunächst eine Produktionsphase 1, die - wie bei Beißwenger (2020) - einen Intentionssowie einen Inskriptionszeitpunkt umfasst. Mit Intention meine ich hier, dass die schreibende Person einen Entschluss zum Eintragen einer Notiz in ihren Kalender fasst (so auch Payne 1993). Mit Inskription ist dann das tatsächliche Anfertigen der Notiz gemeint, bis sie letztlich im Kalenderbuch vollständig eingetragen ist. Für die Inskription können mit Blick auf das empirische Material und die Aussagen aus den Interviews zwei verschiedene Zeitpunkte festgehalten werden. Einerseits kann das Eintragen einer Notiz a) unmittelbar mit der Intention zusammenfallen, die Notiz wird also sofort eingetragen. Andererseits gibt es aber auch Schreiber: innen, die abends rückblickend ihren Tag notieren und damit b) ihre Gedanken erst weit nach der eigentlichen Intention festhalten. Bei einigen Schreiber: innen hat sich über viele Jahre hinweg eine Routine etabliert, jeden Abend den Kalender zu füllen. Eine Übermittlung i. e. S., wie Beißwenger (2020) sie beschreibt, gibt es bei Kalenderbüchern nicht, da der Text nicht an eine andere Person übermittelt Zur Bedeutung von Zeit(lichkeit) in Kalenderbüchern älterer Schreiber: innen 171 <?page no="172"?> wird, sondern schreibende und lesende Person identisch sind, wie bereits in Kap. 3.2 dargelegt wurde. Das Modell umfasst aber dennoch eine Phase der Übermittlung bzw. Speicherung, denn nach dem Eintragen einer Notiz wird diese im Medium Kalenderbuch gespeichert, bis sie irgendwann wieder gelesen wird und damit an Aktualität gewinnt. Dieser Perzeptionszeitpunkt fällt sodann in die Phase der Rezeption, der Inhalt der Notiz wird sich beim Lesen in Erinnerung gerufen. Es schließen sich hier nun zwei verschiedene Obligationszeitpunkte an. Obligationszeitpunkt 1 meint, dass die schreibende Person sich selbst mit dem Eintrag eines Termins oder einer durchzuführenden Aktivität zum Einhalten des Termins bzw. der Aktivität verpflichtet. Es handelt sich hier also um einen kommissiven Akt, der zu einer Anschlusshandlung auffordert. Der Obligationszeitpunkt 2 schließt dort an und umfasst dann das eigentliche Ausführen einer Handlung, also die Wahrnehmung eines Termins oder die Durchführung einer Aktivität. Nach Erledigung eines Termins bzw. nach Ende einer durchgeführten Aktivität werden diese Notizen dann häufig als erledigt markiert, womit sich eine zweite Produktionsphase mit Intentions- und Inskriptionszeitpunkt anschließt. Die Intention gleicht hier der aus Produktionsphase 1, die Inskription muss aber erweitert werden, denn Termine oder eingetragene Aktivitäten werden nicht nur als erledigt markiert (i), sondern die Schreiber: innen fügen den Notizen manchmal auch noch weitere Notizen hinzu (ii). So klebt ein Schreiber Traueranzeigen aus der Zeitung in sein Kalenderbuch ein, um sich an den Termin für die Beerdigung zu erinnern. Nach Teilnahme an der Beerdigung schreibt er dann zusätzliche Informationen in seinen Kalender, z. B. wer die Trauerrede gehalten hat und welche Gäste anwesend waren (dazu auch Walther 2021: 98). Wir haben hier nun gesehen, wie der Aspekt der Zeitlichkeit die Prozesse des Schreibens und Lesens in enge Verbindung zueinander bringt, beide Prozesse können mit Blick auf Eintragungen in Kalender demnach nicht losgelöst voneinander betrachtet werden, da sie sich - wie gezeigt - gegenseitig beeinflussen. 7 Zusammenfassung Die Textsorte Kalenderbucheintrag ist aufs Engste mit den Aspekten Zeit und Zeitlichkeit verknüpft - und das auf verschiedenen Ebenen. Der vorliegende Beitrag verfolgte das Ziel, die Relevantsetzung von Zeit in Kalenderbucheinträgen älterer Schreiber: innen aufzuzeigen und zwar aus funktionaler, formaler, inhaltlicher, sprachlicher und prozessualer Perspektive. Es konnten folgende Dimensionen in Verbindung mit Zeit und Zeitlichkeit gebracht werden: 172 Diana Walther <?page no="173"?> 1. Medium: Das Medium Kalenderbuch ist auf Dauerhaftigkeit angelegt, es wird teils über viele Jahre von den Schreiber: innen aufgehoben und konserviert somit ihr Leben. 2. Funktion: Kalender dienen dazu, gebundene Zeit und Alltagszeit zu planen und zu organisieren. 3. Form: Das Medium Kalenderbuch gibt auf jeder einzelnen Seite u. a. eine klare zeitliche Struktur vor, an der sich Schreiber: innen orientieren können. 4. Inhalt: Kalender enthalten eine prospektive Dimension, in der Termine und sonstige vorausverweisende Aktivitäten notiert werden, die von den Schreiber: innen geplant sind. Kalender können aber auch eine retrospektive Dimension einnehmen, nämlich dann, wenn Schreiber: innen rückblickend ihren Tagesablauf festhalten. 5. Sprache: Kalendernotizen sind in prospektiver Dimension temporal geprägt insofern, als sie Zukünftiges festhalten und Aktivitäten klar in die Zukunft einbetten (prototypisch durch das Notieren von Uhrzeiten für Termine). In retrospektiver Dimension sind Kalendernotizen aber ebenso temporal geprägt insofern, als sie bereits vergangene Aktivitäten festhalten, was sich an den Zeitformen der Verben oder an verschiedenen temporaldeiktischen Mitteln zeigt. 6. Prozess: Das Führen von Kalenderbüchern ist häufig ein mehrteiliger Prozess aus Aufschreiben, Lesen und erneutem Aufschreiben (genauer: Hinzufügen zu einer bereits bestehenden Notiz) und das über einen längeren Zeitraum hinweg. Wir haben an Kalenderbüchern älterer Schreiber: innen - hier v. a. exemplarisch an den Schreiberinnen ES und RM - gesehen, wie alle diese Dimensionen in enger Beziehung zueinander stehen und sich gegenseitig beeinflussen. So gibt die formale Gliederung des Mediums Kalenderbuch eine klare inhaltliche Struktur für die Eintragung von Notizen vor, das inhaltliche Spektrum der eingetragenen Notizen hat verschiedene Funktionen zur Folge, die das Medium Kalenderbuch einnehmen kann. Sprachlich sind die Einträge teils stark, teils gar nicht temporal geprägt - je nach ihrem Inhalt und ihrer Funktion. Es konnte gezeigt werden, dass die funktionale, formale, inhaltliche und sprachliche Ebene in Kalenderbüchern und den darin enthaltenen Kalenderbucheinträgen stark mit dem Aspekt Zeit verbunden ist, der sich im Text selbst (als Produkt) zeigt. Der Aspekt Zeitlichkeit wiederum zeigt sich im Prozess des Schreibens, Lesens und teils erneuten Schreibens und schlägt sich dadurch dann nochmals im Text als Produkt nieder. Was bleibt nun noch zu tun? Wie der Forschungsüberblick gezeigt hat, sind Kalender in der textlinguistischen Forschung bislang noch weitgehend unbe- Zur Bedeutung von Zeit(lichkeit) in Kalenderbüchern älterer Schreiber: innen 173 <?page no="174"?> achtet geblieben. Um den Status einer eigenständigen Textsorte zu untermauern, müssten Texte jüngerer Schreiber: innen in vergleichende, v. a. weiterführende quantitative Analysen einbezogen werden, um die Musterhaftigkeit in der inhaltlichen und sprachlichen Gestaltung der Kalendernotizen zu bekräftigen oder sie evtl. als alterstypisch zu beschreiben. Es kann dahingehend vermutet werden, dass das inhaltliche Spektrum bei jüngeren Schreiber: innen ähnlich ist, auch die sprachliche Gestaltung wird sich wenig zu der älterer Schreiber: innen unterscheiden. Auch müsste ein paralleler Gebrauch analoger und digitaler Kalender in die Betrachtung einbezogen werden, was bei den hier untersuchten älteren Proband: innen aufgrund der fast vollständig fehlenden Nutzung digitaler Formate nicht möglich war. Andererseits kann aus einer weiteren variationspragmatischen Perspektive geschaut werden, ob und wie sich Kalenderbuchnotizen einzelner Schreiber: innen über die Zeit hinweg verändern und welche Konstanten sich beobachten lassen. So bekäme der Aspekt Zeit für Kalenderbucheinträge eine weitere Komponente im Rahmen von Längsschnittstudien. Literatur Adamzik, Kirsten (2016). Textlinguistik. Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. 2. Aufl. Berlin, Boston: de Gruyter. Bachmann, Thomas (2014). Texte produzieren: Schreiben als soziale Praxis. In: Bachmann, Thomas/ Feilke, Helmuth (Hrsg.). Werkzeuge des Schreibens. Beiträge zu einer Didaktik der Textprozeduren. Stuttgart: Fillibach bei Klett, 35 - 61. Bachmann-Stein, Andrea (2004). Horoskope in der Presse. Ein Modell für holistische Textsortenanalysen und seine Anwendung. Frankfurt/ M. u. a.: Lang. Bachmann-Stein, Andrea (2006). Holistische Textsortenanalysen im Deutschunterricht - am Beispiel von Pressetexten. 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Mittels der Analyse solcher Hinweise mit Bezug auf die Zeitlichkeit werden in diesem Beitrag drei Lesbarkeitsprobleme von Social-Media-Plattformen herausgearbeitet: Die Nachvollziehbarkeit der Abfolge von Teiltexten in Postings, die Geltungsdauer von Texten und die Veränderung von Texten durch Editierung. Diese Probleme werden durch eine Verschränkung von systemseitigen und nutzerseitigen Lesbarkeitshinweisen gelöst. 1 Einleitung Anwendungen des Web 2.0 wie WhatsApp, Instagram oder Twitter ermöglichen einen raschen Austausch von schriftlichen Nachrichten. Trotz der häufig damit einhergehenden Sequenzialität und der Geschwindigkeit des Austausches handelt es sich um „ quasi-synchrone Kommunikation “ (Dürscheid 2003), es bleibt also immer ein minimaler zeitlicher Abstand zwischen den Nachrichten. Die Zeitlichkeitsbedingungen der internetbasierten Kommunikation ähneln daher laut Beißwenger eher dem sprachlichen Handeln mit Texten als mündlichen Gesprächen (vgl. Beißwenger 2020: 301). Die Zeitlichkeit der Textkommunikation erschöpft sich jedoch nicht in der Zerdehnung von Produktion und Rezeption. Das Posting einer Hochschule und die zugehörigen Kommentare in den Abbildungen 1a+b illustrieren das: Die Zeitstempel des Beitrags und der Kommentare zeigen deren Erscheinungszeitpunkt an, wobei durch Mausklick <?page no="178"?> auf die Zeitangaben auch die Uhrzeit zu ermitteln ist. Daraus ergeben sich zwischen den einzelnen Teiltexten unterschiedliche Größen der zeitlichen Zerdehnung, die für die Kommunizierenden jederzeit nachzuvollziehen sind. Im Text wird mit den Temporaladverbien „ heute “ und „ morgen “ zudem etwas über die Gültigkeit der Angaben gesagt, wobei der Zeitstempel als Referenzpunkt fungiert. Der Kommentar „ ich habs verpasst “ gibt Auskunft darüber, dass der im Posting geschilderte Sachverhalt von der Nutzerin zu spät erfasst wurde, der Äußerung liegt also bereits eine Auswertung zeitlicher Angaben und Relationen zugrunde. Die zeitlichen Hinweise beziehen sich offensichtlich auf ganz unterschiedliche Ebenen, z. B. auf die Relation einzelner Textteile zueinander (Zeitstempel) oder die Geltung der sprachlichen Handlung ( „ heute “ ). Abb. 1a+b: Ankündigung eines Mensa-Essens mit Reaktionen (Universität Bremen, Facebook, 07.11.2019) Die exemplarisch geschilderten Phänomene werden in diesem Beitrag als Lesbarkeitshinweise im Sinne von Hausendorf et al. (2015) verstanden, mit 178 Mark Döring <?page no="179"?> denen Probleme der Textkommunikation gelöst werden. Durch die Analyse von Lesbarkeitshinweisen können danach auch die kommunikativen Probleme rekonstruiert werden, die durch die Hinweise gelöst werden. Auch die Zeitlichkeit kann in der Textkommunikation dabei relevant gemacht werden. So weisen Hausendorf et al. (2015: 123) darauf hin, dass „ die Zeitpunktbindung der Textkommunikation ein Effekt von Lesbarkeitshinweisen ist “ . In diesem Beitrag soll daran anschließend untersucht werden, welche Probleme hinsichtlich der Zeitlichkeit sich in sozialen Medien wie Facebook und Twitter zeigen. Ziel meines Beitrags ist die Systematisierung von zeitlichen Bezügen in Social- Media-Postings am Beispiel der Facebook- und Twitter-Präsenzen sechs deutscher Hochschulen. Dabei wird auch untersucht, welchen Anteil jeweils die Systemarchitektur und die kommunizierenden Akteure (Hochschulen und User: innen) an der Lösung der Zeitlichkeitsprobleme haben. Zur Beantwortung der Fragen werden zunächst in Abschnitt 2 die bisherigen Erkenntnisse der Textlinguistik zur Zeitlichkeit von Texten dargelegt. Außerdem werden soziale Medien charakterisiert und hinsichtlich ihrer Klassifikation als Interaktionen oder Texte diskutiert. In Abschnitt 3 wird die Herangehensweise erläutert und das Untersuchungskorpus aus Facebook- und Twitter- Postings von deutschen Hochschulen kontextualisiert und beschrieben. Abschnitt 4 stellt schließlich die Ergebnisse strukturiert nach den ermittelten Problemen der Zeitlichkeit dar und zeigt an Beispielen aus dem Korpus die dafür spezifischen Lösungen. Die Ergebnisse werden schließlich in Abschnitt 5 zusammengefasst. 2 Zeitlichkeit in schriftlicher Social-Media-Kommunikation Sprachliches Handeln mit Texten zeichnet sich gegenüber mündlichen Gesprächen durch zeitliche Zerdehnung aus (Ehlich 1984): Die Textkommunikation ist nicht auf Ko-Präsenz angewiesen und der Text verselbstständigt sich gegenüber den Kommunizierenden. Ermöglicht wird dies durch die Gestaltkonstanz von Texten. Für den ersten Abschnitt dieses Kapitels wurde die textlinguistische Forschung dahingehend gesichtet, welche Konsequenzen diese Grundkonstellation für die Zeitlichkeit von Texten hat. Im zweiten Abschnitt wird dann erläutert, inwieweit auch die Kommunikation auf Facebook und Twitter unter den zeitlichen Bedingungen der Textkommunikation stattfindet. Zeitlichkeitshinweise in Social-Media-Postings von Hochschulen 179 <?page no="180"?> 2.1 Zeitlichkeit in der Textkommunikation In der Textlinguistik sind außersprachliche Aspekte von Texten wie die Orts- und Situationsgebundenheit sowie ihre Materialität und Medialität mittlerweile etablierte Kategorien der Textanalyse (vgl. u. a. Fix 2008, Domke 2014). In diesem Zusammenhang wird auch die Zeitlichkeit der Kommunikation mit Texten diskutiert, vor allem hinsichtlich der Zerdehnung der Kommunikation. Adamzik (2016) weist auf die Komplexität der zeitlichen Bedingungen gegenüber mündlichen Gesprächen hin. Bei gespeicherten Kommunikaten komplizieren sich [ … ] die Verhältnisse ganz erheblich, weil Produktion, Distribution bzw. Aufbewahrung, Re-Aktualisierung und Rezeption getrennt zu betrachten sind, so dass Angaben über die zeitliche und räumliche Situierung mindestens vierfach gemacht werden müssen. (Adamzik 2016: 152, Herv. i. O.) Die von ihr genannten Zeitpunkte finden sich in ähnlicher Form in einem Modell von Beißwenger (2020: 302; anschließend an Liedtke 2009). Er differenziert die zeitliche Struktur beim sprachlichen Handeln mit Texten in fünf Zeitpunkte: Auf Seiten der Produzent: innen nennt er den Intentionszeitpunkt und den Inskriptionszeitpunkt, deren Abstand die Produktionszeit zeigt. Abhängig von der Publikation bzw. der Übermittlung ist der Verfügbarkeitszeitpunkt. Auf Seiten der Rezipient: innen ergibt sich die Rezeptionszeit zuletzt aus der Relation des Perzeptions- und des Obligationszeitpunktes, in dem die Bedingungen des Sprechaktes erfüllt werden (vgl. Beißwenger 2020: 301 f.). Aus den genannten Zeitpunkten ergeben sich unterschiedliche Formen der Zerdehnung, die sich in der Literatur auch in Textsortenbeschreibungen wiederfinden. So ist der Abstand von Veröffentlichung und Rezeption bei Tabellen mit Börsenkursen laut Hundt (2000: 649) aufgrund ihrer Aktualität idealerweise möglichst gering, während Becker-Mrotzek und Scherner (2000: 633) bei der Verwaltungskommunikation wegen der Vielzahl an Akteuren und der Menge der zu bearbeitenden Informationen einen Vorteil in einer größeren zeitlichen Zerdehnung sehen. Burger (2000) betrachtet die zeitlichen Strukturen von Fernsehsendungen und macht insgesamt drei Relationen aus: 1. Die Produktion des Textes zu einem und die Ausstrahlung (und Rezeption) zu einem späteren Zeitpunkt; 2. die Vorproduktion des Textes und die mit der Rezeption zeitgleiche Verlesung; 3. die zeitgleich mit der Rezeption erfolgende Sendung (live). (vgl. Burger 2000: 618 f.) Ähnlich wie in Beißwenger (2020) wird bei Burger damit in Inskriptions-, Verfügbarkeits- und Perzeptionszeitpunkt unterschieden und zugleich gezeigt, 180 Mark Döring <?page no="181"?> welche spezifischen Relationen sich für bestimmte Textsorten und Kommunikationsbereiche ergeben. Ein interessantes Beispiel sind etwa Live-Sendungen: Ihnen liege zwar eine gewisse Planung zugrunde, ihre Ausstrahlung und Rezeption erfolge aber simultan, wobei diese Relation laut Burger (z. B. zu Werbezwecken) i. d. R. auch metakommunikativ durch den Hinweis „ live “ verdeutlicht werde (vgl. Burger 2000: 619). Solche Zeitverhältnisse sind jedoch nicht ausschließlich technischer Natur, sondern werden, wie Androutsopoulos (2007: 89) für neue Medien argumentiert, von Kommunizierenden miterzeugt. Bei einer Live-Sendung wäre beispielsweise denkbar, dass die Sendung später als Aufnahme in einer Mediathek rezipiert wird und so der Hinweis „ live “ in der Rezeptionssituation nicht mehr gültig ist. Diese Rolle der Kommunizierenden bei der Erzeugung von Zeitrelationen zeigt sich auch in Chats, in denen Pausen zwischen einzelnen Beiträgen gezielt als Ressource genutzt werden können, um z. B. Desinteresse am Gegenüber zu signalisieren (vgl. Jones 2013). Bei Instant- Messaging-Diensten wie WhatsApp wird zudem durch Lesebestätigungen der Perzeptionszeitpunkt signalisiert, was wiederum strategisch vermieden kann (etwa durch Verzögerung des Aufrufens der Nachricht oder das Abschalten der Lesebestätigungen). Ein weiterer Aspekt der Zeitlichkeit, den Adamzik (2016) aufführt, ist die Geltungsdauer von Texten, die sie als Zuschreibung versteht. Sie bringt dies in Zusammenhang mit der Dauerhaftigkeit und Haltbarkeit der Materialität des Zeichenträgers und macht eine Spanne von „ gänzlich ephemeren Erscheinungen “ bis zu „ in Stein gemeißelten Mitteilungen “ aus (Adamzik 2016: 156, Herv. i. O.). Die Materialität kann demnach als ein für die Rezipient: innen wahrnehmbarer Hinweis auf die Geltungsdauer eines Textes verstanden werden. Domke (2014) unterscheidet in ihrer Analyse von Kommunikaten an Bahnhöfen in ähnlicher Weise auf zwei Ebenen in dauerhaft und temporär sichtbare Texte sowie Gespeichertes und Übertragenes, wobei sie den Signal- Charakter der Materialität und Medialität miteinbezieht. Bei Aushängen aus Papier ist der Inhalt beispielsweise zwar gespeichert, sodass die fehlende Ko- Präsenz überbrückt werden könne, das Medien-Material verweise jedoch nur „ auf eine begrenzte Dauer der Kommunikation und damit inhaltlich auf eine eingeschränkte Gültigkeit des Mitgeteilten “ (Domke 2014: 238). Im Falle der temporär sichtbaren und übertragenen Textsorten, wie den digitalen Anzeigetafeln zu Abfahrtszeiten von Zügen, gälten medientypisch spezifischere Zeitspannen, die sprachlich auch durch Minutenangaben transparent seien ( „ 7 Minuten “ , vgl. Domke 2014: 252). Auch Adamzik (2016) führt sprachlich realisierte Hinweise für Kommunikate mit besonders engem Bezug zu Raum und Zeit an: Zeitlichkeitshinweise in Social-Media-Postings von Hochschulen 181 <?page no="182"?> Auf Fahrscheinen ist etwa das Datum und ggf. die Uhrzeit aufgedruckt. Dabei handelt es sich auf den ersten Blick um objektive Daten - selbstverständlich sind diese Angaben jedoch entsprechend einem Bezugssystem, dem gültigen Kalender, zu interpretieren. (Adamzik 2016: 162) Das verdeutlicht noch einmal, dass einige zeitliche Relationen erst in der Rezeption realisiert werden, auch wenn Texte einen bestimmten Rezeptionszeitpunkt nahelegen können (vgl. Hausendorf et al. 2015: 33). Adamzik nennt weiterführend Beispiele für die Geltungsdauer von Texten, z. B. bei Fahrscheinen 30 bis 90 Minuten und bei Tageszeitungen einige Tage (vgl. Adamzik 2016: 164). Klein (2000: 745) führt für Textsorten der Politik ebenfalls Zeitspannen dieser Art auf: Während Wahlprogramme nur für die nächste Wahlperiode gelten würden, seien etwa Grundsatzprogramme längerfristig gültig. Solche Zeitangaben können auch textsortenkonstitutiv sein: Luginbühl et al. (2022: 25) weisen beispielsweise darauf hin, dass die exakten Zeitangaben bei telegrafischen Meldungen ein prototypisches Element waren, das sie von nichttelegrafischen Meldungen unterschied. Wie der kurze Überblick zeigt, sind bisher vor allem die Zerdehnung der Kommunikation und die damit verbundene Geltungsdauer thematisiert worden. Signale für die Zuschreibung von Relationen und Geltungsdauer werden an der Medialität und Materialität, aber auch an sprachlichen Hinweisen festgemacht. 2.2 Zeitlichkeit in sozialen Medien Die Plattformen, die unter dem Label Social Media versammelt werden, sind relativ heterogen, etwa microblogs (Twitter), social network sites (Facebook u. a.), media-sharing sites (YouTube, Instagram) und instant messaging services (SMS, WhatsApp usw.) sowie Foren und Wikis (vgl. Dang-Anh et al. 2013: 68; Hoffmann 2017: 6). Gemein ist ihnen, dass sie „ das onlinebasierte Bearbeiten und Veröffentlichen von Inhalten aller Art sowie die Beziehungspflege und den Austausch zwischen Menschen “ ermöglichen (Schmidt 2018: 17). In diesem Beitrag werden mit Facebook und Twitter zwei der bekanntesten Plattformen untersucht, wobei Facebook als Netzwerkplattform und Twitter als Mikroblog klassifiziert werden können (vgl. dazu Schmidt 2018: 12 ff.). Ein wesentliches Merkmal von sozialen Medien ist die Ermöglichung von Partizipation, die als „ technological and interactional empowerment of Internet users “ (Hoffmann 2017: 5) definiert wird. Damit wird User: innen auf Web-2.0-Plattformen erheblich erleichtert, Beiträge online zu bearbeiten und einem mehr oder weniger großen Publikum bereit zu stellen. Das Format dafür ist auf den meisten Plattformen das Posting, laut Beißwenger „ eine Zeichenfolge, die en bloc 182 Mark Döring <?page no="183"?> verschickt, nach Aufbereitung durch das vermittelnde System als flächiges Ganzes am Bildschirm präsentiert und dort visuell gegen Einheiten gleichen Typs abgegrenzt wird “ (Beißwenger 2020: 305). Innerhalb der Postings finden sich z. B. bei Facebook Kommentarbereiche, in denen im Sinne der Partizipation andere User: innen direkt auf das initiale Posting reagieren können. Die Dichotomie von Schreibenden und Lesenden wird durch diese Partizipationsmöglichkeiten zugunsten eines „ Produsers “ (Bruns 2006: 275 f.) relativiert. Für soziale Medien und darunter vor allem für Chats wird seit ihrem Entstehen diskutiert, ob sie als Interaktionen, als Textkommunikation oder als eine dritte Form einzustufen sind. So verortet beispielsweise Imo (2013) viele Formen der internetbasierten Kommunikation im Bereich der Interaktion, da sie die Merkmale der Situationsgebundenheit und der sequenziellen Struktur erfüllten. Zum ersten Merkmal heißt es: „ Wann immer Interagierende gemeinsam über die Schrift Situationen erzeugen, definieren und fortführen, kann von Sprache-in-Interaktion gesprochen werden. “ (Imo 2013: 56) Die Kriterien scheinen mir für Chats zuzutreffen, für die in diesem Beitrag untersuchten Postings von Universitäten auf Facebook und Twitter kann das allerdings nicht immer angenommen werden. Gerade Institutionen wie Hochschulen kommunizieren eher monologisch, was zur Folge hat, dass es oft kaum Reaktionen auf ihre Beiträge gibt. So besteht zwar die durch die Software nahegelegte Möglichkeit der Sequenzialität, sie wird jedoch nicht immer genutzt. Einen textlinguistischen Standpunkt nehmen Hausendorf et al. (2015) ein und argumentieren, dass es sich bei internetbasierter Kommunikation um die „ Nachahmung von Interaktion mit Mitteln der Textkommunikation “ handelt (Hausendorf et al. 2015: 123). Die Anwesenheit der Kommunizierenden, die für sie ein zwingendes Kriterium von Interaktion ist, sei für die Kommunikation mit Texten nicht notwendig. Analog dazu verlagere sich auch die Zeitlichkeit auf eine „ im Text irgendwie lesbar gemachte, z. B. unterstellte Zeitlichkeit [ … ]. Analytisch relevant sind deshalb ausschliesslich die Lesbarkeitshinweise hinsichtlich der kommunizierten Zeit “ (Hausendorf et al. 2015: 122 f.). In diesem Ansatz, der auch für die folgende Analyse zugrunde gelegt wird, wird Zeitlichkeit also lediglich als ein an den Texten ablesbares Phänomen betrachtet. Ein Text kann demnach die Erwartung kommunizieren, zeitnah gelesen zu werden, ob dies tatsächlich geschieht, ist jedoch eine andere Frage. Internetbasierte Kommunikation ermöglicht es allerdings anhand der Kommentarabfolgen den tatsächlichen Rezeptionszeitpunkt zumindest näherungsweise nachzuvollziehen. Eine dritte Position nimmt Beißwenger (2020) ein: Er sieht in der internetbasierten Kommunikation „ eine Weiterentwicklung sequenziell intendierten sprachlichen Handelns unter den Bedingungen von Visualität, Persistenz, Flächigkeit und Multimodalität “ (Beißwenger 2020: 314) und spricht Zeitlichkeitshinweise in Social-Media-Postings von Hochschulen 183 <?page no="184"?> von Textformen-basierter Interaktion. Dabei geht er davon aus, dass die Persistenz von Postings wesentlich für die Ermöglichung eines sequenziell orientierten Austauschs in der Schriftlichkeit sei, da damit im Verlaufsprotokoll die Kommunikation nachlesbar werde und so auf einzelne Beiträge Bezug genommen werden könne. Diese Überwindung der Flüchtigkeit von Äußerungen ermögliche zudem in der Produktionsphase u. a. die Editierbarkeit der Inhalte (Beißwenger 2020: 303). M. E. führen die beiden letztgenannten Beiträge hinsichtlich der Zeitlichkeit in eine ähnliche Richtung: Wenn internetbasierte Kommunikation unter den zeitlichen Bedingungen der Textkommunikation verläuft, dann müssen zeitliche Bezüge in den Texten relevant gemacht werden. Insofern führt auch die Untersuchung dieser Bezüge methodisch nur über einen textlinguistischen Weg, unabhängig davon, ob in den Texten Interaktion imitiert oder intendiert wird. Ausgehend davon soll im Folgenden aus textlinguistischer Perspektive untersucht werden, welche Probleme der Zeitlichkeit sich auf Facebook und Twitter zeigen und wie diese signalisiert werden. 3 Methodik Die Zeitlichkeit der Textkommunikation wird in diesem Beitrag als ein kommunikatives Problem in unterschiedlichen Ausprägungen verstanden, das auf der Oberfläche des Textes lesbar gemacht wird. Der Begriff der Lesbarkeit geht auf die Theorie der Textkommunikation nach Hausendorf et al. (2017) zurück. Sie verstehen darunter in ihrer Neukonzeption der Textualitätsmerkmale eine grundlegende Kommunikationsbedingung der Textkommunikation: Da die Kommunizierenden sich nicht gegenseitig wahrnehmen, wie es in der Face-to-Face-Kommunikation der Fall ist, gibt es auf der Textoberfläche Lesbarkeitshinweise, die sich auf Lesbarkeitsmerkmale als typische Probleme der Textkommunikation beziehen. Die Hinweise speisen sich dabei einerseits aus der Lesbarkeitsquelle der Sprachlichkeit, können aber auch auf der Wahrnehmung der Situation oder auf der Vertrautheit mit der jeweiligen Art von Texten beruhen. Lesbarkeitshinweise seien dabei „ die Antworten auf die genuinen Probleme, die in und mit Texten kommunikativ gelöst werden müssen “ (Hausendorf et al. 2017: 112). Umgekehrt heißt das, dass die Hinweise auch auf die kommunikativen Probleme verweisen, die sie lösen. In dieser Arbeit wird daran anschließend davon ausgegangen, dass sich Lesbarkeitshinweise auch auf zeitliche Aspekte beziehen können. Ich spreche im Folgenden von Zeitlichkeitshinweisen, ohne damit die Existenz eines solchen Textualitätsmerkmals behaupten zu wollen. Vielmehr beziehen sich die Hinweise auf etablierte Merkmale, die in den gezeigten Fällen auch oder inhärent 184 Mark Döring <?page no="185"?> eine zeitliche Dimension haben. So ist ein Zitat ein intertextueller Verweis, der gleichzeitig deutlich macht, dass der zitierte dem zitierenden Text zeitlich vorausgeht. In „ Heute gibt es endlich wieder Grünkohl in der Mensa! “ im Eingangsbeispiel (Abb. 1a+b) wird dagegen mit dem Temporaladverb „ heute “ ein thematischer Hinweis gegeben, der die zeitliche Dimension der Äußerung betrifft und gleichzeitig Auswirkungen auf die Funktion hat. Das Korpus dieser Arbeit wird auf solche Lesbarkeitshinweise mit zeitlichem Bezug analysiert, aus denen sich entsprechende Lesbarkeitsprobleme erschließen lassen. Die Datengrundlage der Analyse bildet ein im Rahmen eines laufenden Dissertationsprojektes erhobenes Korpus von Facebook- und Twitter-Postings zwölf deutscher Hochschulen. Hintergrund der universitären Aktivitäten in sozialen Medien ist ein zunehmender Wettbewerb um Studierende und Forschungsgelder, infolgedessen von den Hochschulen erwartet wird, für sich zu werben und ein Profil herauszubilden. Soziale Medien werden dabei als geeigneter Kanal gesehen, um direkt mit den entsprechenden Zielgruppen in Kontakt zu treten (vgl. Metag und Schäfer 2017: 164 ff.). Für die Hochschulen als komplex organisierte Bildungsorganisationen kann es jedoch eine Herausforderung darstellen, sich dem Ton und der Geschwindigkeit der sozialen Medien anzupassen und für sich werben zu müssen. Entsprechend wird die Nutzung von sozialen Medien durch Hochschulen häufig als defizitär kritisiert (vgl. Metag und Schäfer 2019: 366 ff.). Das Korpus, das aus diesen Überlegungen heraus zusammengestellt wurde, umfasst Postings und Kommentare aus den Monaten November 2019 und März/ April 2020 sowie eine kleinere Stichprobe von drei Hochschulen aus dem November 2020. Es handelt sich um 492 Facebook-Postings und 540 Tweets, die in die Auswertung einfließen. 4 Ergebnisse Bei der Auswertung der Belege haben sich drei spezifische Probleme der Zeitlichkeit in der Social-Media-Kommunikation herauskristallisiert: Erstens stellt sich das Problem der Abfolge von Beiträgen, da auf Plattformen des Web 2.0 mehrere Autor: innen auf einer Fläche Beiträge veröffentlichen. Die Beiträge müssen als chronologische Abfolge lesbar gemacht werden, damit dem Verlauf des Austauschs gefolgt werden kann. Zweitens muss für einige sprachliche Handlungen verdeutlicht werden, wie lange sie gültig sind. Dieses Problem erwächst aus der Persistenz, die die dauerhafte Sichtbarkeit von Texten mit sich bringt. Drittens können auf Facebook Beiträge editiert werden, wodurch sich die eigentlich konstante Textgestalt im Laufe der Zeit ändern kann. Dies wird Zeitlichkeitshinweise in Social-Media-Postings von Hochschulen 185 <?page no="186"?> aber an den Texten häufig metakommunikativ markiert. Die Kategorien werden im Folgenden an Beispielen aus dem Korpus illustriert. 4.1 Das Problem der zeitlichen Abfolge von Beiträgen Postings lassen sich als Sehflächen (Schmitz 2011) betrachten, auf denen Beiträge von mehreren Autor: innen erscheinen können. Dabei stellt sich das Problem der Zuordnung. Bucher nennt in Bezug auf Hypertexte und hypermodale Kommunikationsformen zwei ähnliche Probleme, die durch das Textdesign gelöst würden: Das Hierarchisierungsproblem: Welche Unter-, Über- und Nebenordnungen bestehen zwischen den verschiedenen Elementen der Kommunikation? [ … ] Das Sequenzierungs- und Einordnungsproblem: Wie hängen die verschiedenen - relevanten - Elemente einer Kommunikation untereinander zusammen (funktional, strategisch, thematisch). (Bucher 2007: 62, Herv. i. O.) Die Herausforderungen im Web 2.0 sind dabei hinsichtlich der Zeitlichkeit anderer Art als bei Print-Tageszeitungen, bei denen Artikel schon durch die einzelne Ausgabe als textuelle Ganzheit zeitlich gebündelt werden. In Social Media erscheinen Beiträge auf einer Sehfläche dagegen zu unterschiedlichen Zeitpunkten und müssen dies auch zu erkennen geben. Dieses Problem wird gelöst, indem die Beiträge der einzelnen Akteure mit verschiedenen Abgrenzungs- und Gliederungshinweisen (vgl. Hausendorf und Kesselheim 2008: 39 ff.) als (Unter-)Einheiten lesbar gemacht werden und zusätzlich hierarchisch und nach zeitlicher Abfolge zueinander positioniert werden. Das folgende Beispiel eines Postings der Universität Hamburg auf Facebook (Abb. 2) illustriert, durch welche Lesbarkeitshinweise die Hierarchisierung und Sequenzierung in den hier untersuchten Plattformen erzeugt wird. Der abgebildete Beitrag besteht aus drei Teilen: Dem initialen Posting der Universität Hamburg (1), dem von ihr geteilten und im Posting integrierten Beitrag des Studierendenwerks Hamburg (2) und der Reaktion einer Userin im Kommentarbereich (3). Die Textteile werden jeweils durch eine Autorschaftsangabe und einen Zeitstempel gekennzeichnet, die durch ihre Zuordnung zu genau einem Beitrag als Einheitenhinweise (vgl. Hausendorf und Kesselheim 2008: 52 ff.) fungieren. Das initiale Posting der Universität Hamburg und der Kommentar enthalten zudem neben diesen Metadaten diverse Schaltflächen ( „ Gefällt mir “ , „ Teilen “ , „ Antworten “ ), mit denen auf die Beiträge reagiert werden kann. Auch die zugehörigen Statistiken ( „ 1 Kommentar “ ) sind immer nur einem Beitrag zugeordnet und weisen diesen im Umkehrschluss als eine Einheit aus. Der Kommentarbereich wird durch die Schaltflächen vom initialen 186 Mark Döring <?page no="187"?> Posting abgegrenzt, der Kommentar selbst farblich abgesetzt vor weißem Untergrund deutlich als eigene Einheit ausgewiesen. 1 Während Postings in Social-Media-Feeds ähnlich wie in Weblogs von neu nach alt sortiert werden (vgl. dazu Schildhauer 2016: 74 - 79), ist das Verhältnis von Postings und Kommentar-Threads umgekehrt: Wie in Diskussionsforen wird der Bezugsbeitrag ganz oben angeordnet und die später geposteten Antworten folgen darunter. Das initiale Posting steht dabei auch hierarchisch Abb. 2: Untereinheiten von Postings (Universität Hamburg, Facebook, 29.04.2019) 1 Auf Twitter sind die „ Antworten “ auf Tweets deutlich eigenständiger, sie können z. B. auch eigens geteilt werden. Allerdings sind sie erst über einen Mausklick auf den Beitrag sichtbar, sodass sie durch diesen zusätzlichen Schritt als Untereinheit zum initialen Posting erkennbar sind. Zeitlichkeitshinweise in Social-Media-Postings von Hochschulen 187 <?page no="188"?> über den Kommentaren, was an der größeren Darstellung und der deutlichen Abtrennung der Kommentare ersichtlich ist. Gleichzeitig werden diese eigentlich chronologischen Folgen zuweilen durchbrochen: Innerhalb von Postings kann wie in Abbildung 2 ein geteiltes Posting erscheinen, das eine Art Zitat und damit älter als das initiale Posting und die Kommentare ist. Dem Posting des Studierendenwerks (2) fehlen dabei auch die Reaktionsschaltflächen, so dass es als eigene Einheit weniger profiliert ist. Dieser Teiltext wird vor allem durch das Layout der Benutzeroberfläche als intertextueller Verweis ausgewiesen: Er ist nach rechts eingerückt (ähnlich wie längere Zitate in wissenschaftlichen Texten) und links mit einer vertikalen Linie versehen, wie es aus E-Mail- Programmen bekannt ist. Außerdem wird der Text in kleinerer und angegrauter Schrift dargestellt, was als ikonische Darstellung von verblassender Schrift gelesen werden kann. Gegenüber E-Mails, in denen z. B. zitierte Teile bearbeitet werden können (vgl. Severinson Eklundh 2010: 4), wird auf Facebook (und ebenso auf Twitter) die Zitierstruktur beim Teilen von Beiträgen vollständig vom System vorgegeben und die zitierten Textteile sind nicht veränderbar. Das initiale Posting ist auf Facebook wie erwähnt durch größere Schrift und die Voranstellung hierarchisch übergeordnet, die Kommentare beziehen sich darauf. Der Bezug wird durch die Anordnung unter dem initialen Posting nahegelegt, kann jedoch durch Verknüpfungsmittel unterstützt werden. Abbildung 3 zeigt exemplarisch den Kommentarbereich unter einem Posting der Universität Leipzig. Die Beiträge werden darin in Threads eingeteilt, so dass (je nach Einstellung der Anzeige) eine komplexe zeitliche und relevanzbasierte Struktur entsteht. Abb. 3: Threading in Kommentarbereichen (Universität Leipzig, Facebook, 02.02.2023) 188 Mark Döring <?page no="189"?> Die Kommentare werden bei Facebook zum Zeitpunkt des Verfassens als Textblöcke auf zwei Ebenen nach rechts eingerückt, so dass die Kommentare 1.1 und 1.2 als Antworten auf 1 bzw. 1.1 erkennbar werden. Dieser Gliederungshinweis fungiert gleichzeitig als temporaler Relationshinweis (Hausendorf und Kesselheim 2008: 88 f.), womit die Kommentare auch als zeitlich nachgeordnet ausgezeichnet werden. Zeitlichkeit wird in sozialen Medien demnach auch durch die räumliche Anordnung von Textteilen abgebildet (vgl. auch Dang-Anh 2019: 104; Frobenius und Harper 2015: 133 - 136). Kommentar 2 steht dagegen auf gleicher Ebene wie Kommentar 1. Aufgrund der Positionierung darunter lässt sich zwar vermuten, dass er zeitlich später erschienen ist (was der Zeitstempel bestätigt), das ist aber abhängig von der nutzerseitigen Einstellung bei der Darstellung der Kommentare. Wird die Default-Einstellung beibehalten, wird nach Relevanz sortiert. Die Abgrenzungs- und Gliederungshinweise sind Teil der Benutzeroberfläche und zeigen „ wie stark das System selbst als künstlicher Akteur an der Gestaltung der Postings beteiligt ist “ (Beißwenger 2020: 310). Mit ihnen wird das Posting gegenüber anderen Einheiten profiliert und in einzelne Untereinheiten eingeteilt. Ähnliche Verfahren zeigen sich auch auf anderen Web-2.0- Plattformen, wie auf den Diskussionsseiten der Wikipedia. Dort muss die Zuordnung allerdings manuell durch die Nutzer: innen vorgenommen werden, wie ein Blick auf die Hilfeseite zur Signatur zeigt: Es ist in der Wikipedia üblich und erwünscht, Diskussionsbeiträge zu unterschreiben, damit der Autor eines Beitrags für die anderen Leser einer Diskussionsseite erkennbar ist. In der Signatur werden außerdem das Datum und die Uhrzeit vermerkt, sodass die zeitliche Abfolge von Beiträgen auch noch später nachvollzogen werden kann. 2 An dem Zitat und der vorhergehenden Analyse wird deutlich, dass der Nachvollzug der zeitlichen Abfolge verschiedener Beiträge im Web 2.0 ein Problem darstellt, das in zwei Schritten gelöst wird: Es werden Einheiten gebildet, dies geschieht durch Farbflächen, Begrenzungslinien und diesen Beiträgen zugeordnete Schaltflächen sowie Autorschafts- und Zeitangaben. Die Chronologie der Abfolge dieser Einheiten wird durch die Zeitstempel, aber auch durch Einrückungen und Positionierungen wahrnehmbar. Der Unterschied zwischen Plattformen des Web 2.0 besteht u. a. darin, wie stark dieses Problem bereits vom System über die Benutzeroberfläche gelöst wird. 2 Abrufbar unter: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Hilfe: Signatur (Stand: 22.02.2023). Zeitlichkeitshinweise in Social-Media-Postings von Hochschulen 189 <?page no="190"?> 4.2 Das Problem der Geltungsdauer Im Korpus finden sich neben rein informierenden, relativ zeitlosen Postings auch zeitgebundene Texthandlungen, die jedoch aufgrund der Persistenz der Postings dauerhaft sichtbar sind. In der Folge haben sich eine Reihe von userseitigen Zeitlichkeitshinweisen wie Datumsangaben oder Temporaladverbien herausgebildet, die die Geltungsdauer der Illokution lesbar machen. Ein Beispiel dafür sind Ankündigungen von Veranstaltungen wie das Posting der Universität Bielefeld in Abbildung 4. Abb. 4: Posting mit Veranstaltungshinweis (Universität Bielefeld, Facebook, 05.11.2019) Das initiale Posting erschien laut Zeitstempel am 05.11.2019, einem Dienstag, leitet mit der Frage „ Schon Pläne für Donnerstag? “ ein und kündigt eine Veranstaltung für den 07.11.2019 an. Ähnliche Angaben finden sich wie oben erwähnt beispielsweise auch auf Fahrscheinen, wobei das Bezugssystem der Interpretation dabei der aktuelle Kalender ist (Adamzik 2016: 162). Für das abgebildete Posting lässt sich daran anschließend festhalten, dass sich die gesamte Geltungsdauer aus der Relation von Zeitstempel und Veranstaltungsdatum (bzw. Verfügbarkeits- und Obligationszeitpunkt) ergibt. Zudem wird durch den geringen Abstand zwischen den beiden Zeitpunkten signalisiert, dass eine zeitnahe Rezeption erwartet wird (sonst würde ein entsprechend größerer 190 Mark Döring <?page no="191"?> Abstand gewählt werden). Um die Geltung der Ankündigung zu überprüfen, muss jede: r Rezipient: in vom Datum der Lektüre als Referenzpunkt ausgehend überprüfen, ob rechtzeitig oder zu spät gelesen wird. Nach dem Datum der Veranstaltung (Obligationszeitpunkt) ist die sprachliche Handlung der Ankündigung zwar prinzipiell noch nachvollziehbar, muss aber als ‚ abgelaufen ‘ verstanden werden. Darüber hinaus sinkt mit fortschreitender Zeit die Wahrscheinlichkeit, die Ankündigung überhaupt wahrzunehmen, weil ältere Postings in den Feeds von sozialen Medien nach unten rücken und durch neuere verdrängt werden (siehe Abschnitt 4.1). Das Altern der Postings vollzieht sich also nicht materiell, wie es bei Plakaten im öffentlichen Raum geschieht und dort ebenfalls ein Hinweis auf die Geltung sein kann, sondern durch die Positionierung und die daraus folgende mangelnde Sichtbarkeit auf der Plattform. Bei Postings mit Aufrufen zeigt sich ein ähnliches Phänomen. Aufrufe haben die Funktion der Steuerung der Rezipient: innen, sich auf freie Stellen oder Stipendien zu bewerben, Personen für Preise vorzuschlagen, bei Preisen abzustimmen etc. Diese Texte werden teilweise mit einer Frist versehen, bis zu der der Aufruf gilt. Im Posting der Universität Leipzig in Abbildung 5a wird Abb. 5a+b: Postings mit Aufrufen (Universität Leipzig, Facebook, 06.11.2019 und Universität Hannover, Facebook, 23.03.2020) Zeitlichkeitshinweise in Social-Media-Postings von Hochschulen 191 <?page no="192"?> beispielsweise darauf hingewiesen, dass bis zum 31.12.2019 Vorschläge für den/ die „ Student/ in des Jahres “ eingereicht werden können. Bei jeder Rezeption des Postings muss anhand dieser Zeitlichkeitshinweise und abhängig vom Perzeptionszeitpunkt neu entschieden werden, ob der Aufruf noch gilt oder ob seine Geltungsdauer abgelaufen ist. Im Posting der Universität Hannover (Abb. 5b) wird auf einen Aufruf zur Bewerbung als Containment Scout seitens des Robert-Koch-Instituts Bezug genommen. Auf dieses Stellenangebot wurden, so lässt sich dem nachträglich eingefügten ersten Absatz entnehmen, „ mittlerweile mehrere tausend Bewerbungen “ eingereicht. Die Suche wird daher für beendet erklärt. Der nachstehende, typographisch durch drei Bindestriche abgetrennte Aufruf, der ursprünglich allein stand, wird durch einen darüber angebrachten Hinweis metakommunikativ außer Kraft gesetzt (vgl. zur Editierung auch den nächsten Abschnitt). Bemerkenswert ist, dass die Postings nach ‚ Ablauf ‘ der sprachlichen Handlung nicht einfach gelöscht werden. Das liegt möglicherweise darin begründet, dass die Anzahl der Beiträge von den Kommunizierenden als für den Algorithmus wichtig eingeschätzt wird, 3 potenzielle Studieninteressierte sich noch nachträglich über das Hochschulleben informieren können sollen oder der Löschvorgang schlicht als unpraktikabel empfunden wird. Neben zeitgebundenen Postings gibt es außerdem solche, die keine Zeitlichkeitshinweise hinsichtlich ihrer Gültigkeit aufweisen und insofern prinzipiell nicht eingeschränkt sind. Im Korpus betrifft das vor allem Postings, die auf Texte der Hochschulwebsite verweisen, z. B. Interviews mit Hochschulangehörigen und andere PR-Artikel. Eine zeitliche Einschränkung ihres Gebrauchswertes ergibt sich lediglich aus der Funktionalität des Hyperlinks und damit der Erreichbarkeit des verlinkten Artikels. Dass solche Postings von Rezipient: innen noch lange Zeit für gültig gehalten werden, zeigt ein Phänomen in sozialen Medien, bei dem ältere Postings geteilt und mit der Phrase „ schlecht gealtert “ rekontextualisiert werden. Ein Beispiel außerhalb des hier untersuchten Korpus zeigt Abbildung 6, in dem ein Tweet der Partei Bündnis 90/ Die Grünen geteilt wird. 3 Vgl. Bucher (2017) zu den Vorstellungen, die UserInnen vom Facebook-Algorithmus hegen. 192 Mark Döring <?page no="193"?> Abb. 6: Geteiltes Posting mit dem Hinweis „ Schlecht gealtert “ (Twitter, anonymisiert) Darin werden die Inhalte des geteilten Postings (Teilnahme der Partei an einem Protest gegen Kohleabbau im Jahr 2015) in Kontrast zu aktuellen Ereignissen gestellt (Abbau von Kohle in Lützerath mit Billigung einer Landesregierung unter Grüner Beteiligung 2023), vor deren Hintergrund sich aus Sicht des Autors Widersprüche ergeben. Die „ Alterung “ ergibt sich aus der Relation der Datumsangaben des geteilten und des aktuellen Tweets (2015 und 2023), wird aber mit dem sprachlichen Hinweis auf die Alterung auch explizit hervorgehoben, da sie sonst wohl nicht beachtet werden würde. Im Normalfall scheint es allerdings so zu sein, dass das geteilte und das teilende Posting in kurzem zeitlichem Abstand zueinander liegen. 4.3 Das Problem der Editierung Laut Domke (2014) trägt die Beschaffenheit des Medien-Materials von Texten dazu bei, wie lange ein Text den Inhalt bereitstellen bzw. wie lange er überhaupt existieren kann: „ Je robuster das Speichermedium, desto langfristiger kann in der Regel die mit ihm übermittelte Information rezipiert werden. “ (Domke 2014: 208, Herv. i. O.) Texten im Internet wird mit Sätzen wie „ Das Internet vergisst Zeitlichkeitshinweise in Social-Media-Postings von Hochschulen 193 <?page no="194"?> nichts “ zwar häufig ein gewisser Ewigkeitswert zugeschrieben, sie können jedoch auch kurzerhand gelöscht oder verändert werden (vgl. Marx und Weidacher 2014: 191 ff.), was die Dauerhaftigkeit der darin aufgeführten Informationen zu relativieren scheint. Diese Dynamik der Texte, so zeigt das hier untersuchte Korpus, hat Editierhinweise hervorgebracht, die deren Genese dokumentieren. Auch bei Textprodukten im digitalen Raum zeigt sich also die Erwartung an eine gewisse Stabilität. Darüber hinaus kann die nachträgliche Veränderung von Texten die Möglichkeit der Dialogizität beeinträchtigen, wie auch schon Beißwenger (2016) feststellt. Er beschäftigt sich mit der Praktik des Editierens und macht zwei Typen aus. Die nachträgliche Bearbeitung werde von User: innen genutzt, „ um dadurch entweder die in einer Plattform vorhandenen Interaktionsmöglichkeiten zu erweitern (Typ I) oder aber die sequenzielle Ordnung des am Bildschirm dokumentierten Interaktionsverlaufs strategisch zu hintergehen (Typ II) “ (Beißwenger 2016: 298). Typ I bezieht sich auf Editierungen, in denen innerhalb eines Forumpostings, das von mehreren Personen bearbeitet werden kann, ein Dialog erzeugt wird (vgl. dazu auch Lindemann et al. 2014). In diesem Fall werden laut Beißwenger (2016: 299 f.) die Beiträge der einzelnen Schreiber: innen durch unterschiedliche Farben, Grußformeln und metakommunikative Hinweise markiert. Im Folgenden ist jedoch nur Typ II relevant, bei dem ein schriftlicher Interaktionsverlauf so verändert wird, dass die nachträgliche Rekonstruktion des Interaktionsverlaufs erschwert wird. Das ist etwa dann der Fall, wenn Bezüge von nachfolgenden Beiträgen durch die Veränderung nicht mehr nachvollziehbar sind. Beißwenger zeigt an einer Wikipedia-Diskussion, dass die fehlende Markierung solcher Editierungen in der Community als unhöflich empfunden wird und stattdessen z. B. mit sichtbaren Durchstreichungen gearbeitet werden soll (vgl. Beißwenger 2016: 302 ff.). Für die Verweisstruktur auf solche Änderungen zeigt sich im Korpus ein zweistufiges Verfahren aus metakommunikativen Hinweisen, die in obligatorische systemseitige und fakultative nutzerseitige Hinweise differenziert werden können. Ein Beispiel demonstriert deren Form und Verwobenheit: 194 Mark Döring <?page no="195"?> Abb. 7a+b: Posting und vorherige Version davon im Bearbeitungsverlauf (Universität Düsseldorf, Facebook, 11.11.2019) Abbildung 7a zeigt ein Posting der Universität Düsseldorf auf Facebook, in dem Informationen zur Vergabe des Lehrpreises und zur anschließenden Feier gegeben werden. Der Bearbeitungsverlauf (Abb. 7b), der auf Facebook über die drei Punkte in der rechten Ecke eines Postings erreichbar ist, zeigt vorhergehende Versionen des Postings. So ist systemseitig, ähnlich wie bei der Wikipedia, sichergestellt, dass ältere Textversionen trotz Veränderungen nachvollzogen werden können. Vergleicht man die Texte, lässt sich bei gründlicher Lektüre feststellen, dass es in der dritten Kategorie „ ohne Lehrberechtigung “ heißt, in einer älteren Version jedoch „ ohne Venia Legendi “ (siehe meine Markierungen in den Abbildungen). Darüber hinaus findet sich in diesem Fall ein nutzerseitiger Editierungshinweis: In einem Kommentar wird auf die Formulierung des Postings Bezug genommen, worauf auch eine Antwort der Universität folgt (Abb. 8). Zeitlichkeitshinweise in Social-Media-Postings von Hochschulen 195 <?page no="196"?> Abb. 8: Kommentar zum editierten Posting aus Abb. 7a Der Nutzer kritisiert die Verwendung des Begriffs „ Venia Legendi “ und schlägt eine seiner Auffassung nach bessere Variante vor, die jedoch nicht übernommen wurde. Ohne den folgenden Kommentar der Hochschule wäre die Abfolge von Posting und Kommentar thematisch inkohärent, da die Themabeibehaltung durch Rekurrenz (vgl. Hausendorf und Kesselheim 2008: 119 f.) nicht mehr funktioniert. Der zweite Kommentar stellt die Kohärenz wieder her, indem die Anpassung zu „ ohne Lehrberechtigung “ , die sonst nur mühsam über den systemseitigen Hinweis zu erschließen wäre, transparent wird. Mit Blick auf die Zeitlichkeit der Textkommunikation stellen die Reflexionshinweise (vgl. Hausendorf und Kesselheim 2008: 160 f.) durch ihren metasprachlichen Bezug auf das Posting sicher, dass trotz Veränderungen innerhalb einzelner Beiträge die intratextuellen Bezüge der Beiträge untereinander nachvollziehbar bleiben. Änderungen von Postings und Kommentaren müssen jedoch nicht zwangsläufig die Kohärenz stören. Der Kommentar in Abbildung 9 bezieht sich auf ein Posting der Universität Bielefeld und wurde, wie der hier nicht abgebildete Bearbeitungsverlauf zeigt, nur hinsichtlich eines Tippfehlers verändert ( „ dassebe “ zu „ dasselbe “ ). Die Änderung wird gleichwohl vom System markiert, zu erkennen am Vermerk „ bearbeitet “ neben dem Zeitstempel (siehe Markierung). Durch das System wird so standardisiert jede Änderung dokumentiert und die Stabilität der Texte gesichert. Abb. 9: Editierter Kommentar mit Bearbeitungshinweis (Universität Bielefeld, Facebook, 27.11.2019) 196 Mark Döring <?page no="197"?> Wie oben besprochen, können Postings auch nachträglich editiert werden, um die Illokution eines Postings außer Kraft zu setzen. Das bereits besprochene Posting in Abbildung 5, in dem die Suche nach Containment Scouts in der Corona-Zeit nach einem Tag gestoppt wird, leitet den editierten Hinweis mit „ Aktualisierung am 24.03.2020 “ ein, so dass der Absatz durch den Reflexionshinweis klar als nachträglich eingefügt erkennbar wird. Zudem wird er, ebenso wie der Hinweis „ --- Veranstaltung abgesagt --- “ im Posting der Universität Bielefeld (Abb. 10), über dem betreffenden Text platziert. Abb. 10: Veranstaltungshinweis mit nachträglich eingefügter Absage (Universität Bielefeld, Facebook, 04.03.2020) Die Gliederungshinweise in Form einer typographischen Absetzung durch einen Absatz und die Hervorhebung mittels Bindestrichen separieren die Passagen vom ursprünglichen Text, wodurch eine Aufteilung in neue und alte Textteile erzeugt wird. Solche Verfahren sind u. a. auch in Diskussionsforen gängig, in denen nachträglich neu eingefügter Text unter dem ergänzten Teil mit „ Edit: “ angekündigt wird. Durch die Editierungshinweise wird sichergestellt, dass Veränderungen am Text als solche auch wahrgenommen werden können. Die reine Erinnerung an die Textgestalt reicht i. d. R. nicht aus, um Veränderungen bei wiederholter Lektüre zu bemerken. Gleichzeitig verhindern Editierungshinweise in sequenziell angelegten Textfolgen die Entstehung von Inkohärenzen zwischen initialem Posting und Kommentaren. Über die Hinweise wird so eine relative Gestaltkonstanz der Texte aufrechterhalten. Zeitlichkeitshinweise in Social-Media-Postings von Hochschulen 197 <?page no="198"?> 5 Fazit In diesem Beitrag wurden Lesbarkeitshinweise auf zeitliche Strukturen in Postings von Universitäten auf Facebook und Twitter untersucht. Dabei haben sich drei wesentliche Probleme der Zeitlichkeit gezeigt: 1. Auf Sehflächen des Web 2.0, auf denen mehrere Autor: innen aktiv werden, müssen die einzelnen Beiträge als (Unter-)Einheiten erkennbar werden und in eine chronologische Relation zueinander gesetzt werden. Dies geschieht auf Facebook und Twitter durch systemseitig erzeugte Flächen und Abgrenzungen sowie Autorschaftsangaben und Metadaten. Damit werden die Textteile als Einheiten von einzelnen Autor: innen lesbar gemacht und in eine temporale Relation zueinander gesetzt, so dass ein dialogischer Austausch auch in der zerdehnten Kommunikation als solcher lesbar wird. 2. Auf der Ebene der sprachlichen Handlungen stellt sich das Problem, dass Inhalte von Beiträgen veralten, infolge der Persistenz der Postings jedoch sichtbar bleiben, wenn sie nicht gelöscht werden. Das Ablaufdatum wird durch die Textproduzent: innen daher durch Datumsangaben und Temporaladverbien lesbar gemacht. Für die Interpretation der Hinweise muss jedoch zusätzlich das Rezeptionsdatum seitens der Leser: innen als situativer Faktor einbezogen werden. Zusätzlich sorgt die Verdrängung von neueren durch ältere Beiträge in der Feed-Struktur von sozialen Netzwerken dafür, dass veraltete Beiträge ohnehin seltener sichtbar sind. 3. Die Möglichkeit zur Editierung von Texten auf Facebook kann es erschweren, nachträglich die Zusammenhänge zwischen einzelnen Beiträgen nachzuvollziehen. Zur Wahrung der Kohärenz werden Editierungen daher auf Facebook auf zwei Weisen signalisiert: Systemseitig werden Änderungen im Verlaufsprotokoll dokumentiert und können so jederzeit nachvollzogen werden. Gehen die Änderungen jedoch über einzelne Tippfehler hinaus, gibt es in Postings seitens der Hochschulen metasprachliche Hinweise, um die Aktualisierungen besser sichtbar zu machen. Außerdem wird unter kritischen Kommentaren auf Änderungen hingewiesen. Das kann im Sinne des Hochschulmarketings die Nebenfunktion haben, Kritikfähigkeit und Transparenz zu demonstrieren und damit für den eigenen Social-Media- Auftritt zu werben. Insgesamt zeigt sich auf allen Ebenen eine Verschränkung von systemseitigen und nutzerseitigen Lesbarkeitshinweisen. Die Organisation der Kommunikation wird auf Facebook und Twitter weitestgehend vom System geleistet. Dies ist nicht bei allen Plattformen des Web 2.0 der Fall, wie das Beispiel Wikipedia zeigt. Die Geltungsdauer von Beiträgen ergibt sich aus der Realisierung 198 Mark Döring <?page no="199"?> bestimmter Textsorten mit Zeitangaben seitens der User: innen, ihre Erschließung wird zudem durch Zeitstempel im System und den Perzeptionszeitpunkt als Referenzpunkt unterstützt. Editierungen von Postings und Kommentaren werden vom System protokolliert, von den Akteuren im Korpus jedoch teils zusätzlich markiert. Das Ineinandergreifen der Lesbarkeitshinweise von System und User: innen zeigt auch auf der Ebene der Zeitlichkeit, dass das System als „ third author “ (Eisenlauer 2014) mit seinem Einfluss auf die Kommunikation nicht unterschätzt werden darf, die Möglichkeiten der Nutzer: innen aber gleichzeitig nicht determiniert werden. Literatur Adamzik, Kirsten (2016). Textlinguistik. Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. 2. Aufl. Berlin, Boston: de Gruyter. Androutsopoulos, Jannis (2007). Neue Medien - neue Schriftlichkeit? 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Insbesondere werden anhand empirischer Beispiele solche Erzählsequenzen in Mobile- Messenger-Interaktionen untersucht, in denen ein Ereignis schon kurz nach seinem Geschehen oder sogar simultan zu seinem Verlauf berichtet bzw. von den Beteiligten in Kollaboration erzählerisch inszeniert wird. In Rückgriff auf diskurspsychologische Small-Story-Forschung einerseits (vgl. Bamberg 2004) und narratologische Zeitforschung andererseits (vgl. Genette 2010) entwickelt der Beitrag einen Zugang zu den spezifischen Zeitlichkeitsbedingungen eines präsentischen Erzählens in smartphone-basierten Interaktionen. 1 Einleitung Dieser Beitrag geht der Frage nach, inwiefern mit der ständigen Einbindung in verschiedenste kommunikative Kontexte, die ein mobiles Medium wie das Smartphone herstellen kann, neue temporale Strukturen von Alltagserzählungen einhergehen. Im Zentrum der Diskussion wird also stehen, wie Akteur: innen mittels digitaler Medien aus neuen Positionen heraus erzählen - zum einen in einem übertragenden Sinne mit Blick auf die sozialen Positionen, die durch den Akt des Erzählens eingenommen und zugeschrieben werden, zum anderen in einem ganz buchstäblichen Sinne: Durch das Smartphone werden die Momente des Erzählens räumlich entgrenzt, es wird mitunter auf dem Weg <?page no="204"?> zur Arbeit, in der U-Bahn, auf der Straße, im Bett usw. mittels Textnachricht erzählt. Und schließlich zeichnet sich dieses Erzählen mittels portabler Mediengeräte zudem dadurch aus, dass nicht nur erzählt wird, was sich bereits zugetragen hat - teils wird schon erzählt, noch bevor die beobachteten Ereignisse überhaupt zu einem Ende gekommen sind. Smartphone-Nutzer: innen halten ihre kommunikativen Kontakte dann erzählerisch darüber auf dem Laufenden, was sich simultan in einer Offline-Situation zuträgt. Solchen präsentischen Erzählungen mittels mobiler Medien und ihren bemerkenswerten temporalen Strukturen wird der Beitrag im Folgenden auf den Grund gehen. Ausgangspunkt sind hierfür in Abschnitt 2 zunächst die Affordanzen des Smartphones als gegenwärtiges Schlüsselmedium mediatisierter Gesellschaften. Auf Basis der Portabilität sowie der daraus resultierenden potenziell andauernden Verfügbarkeit von Smartphones entstehen spezifische Rhythmen mediatisierter Kommunikationsalltage, die anhand eines exemplarischen Datensets aus dem SNF-Forschungsprojekt Texting in Time aufgezeigt werden. Deutlich wird dabei, wie das Smartphone seine Nutzer: innen in bestimmten temporalen Strukturen durch ihren Alltag begleitet und dabei immer wieder auch als Medium für Alltagserzählungen genutzt wird. Abschnitt 3 diskutiert diesbezüglich zunächst die Unterscheidung zwischen Berichten einerseits und Erzählungen andererseits, um dann mit Rückgriff auf interaktional-orientierte Erzählforschung insbesondere das Konzept der Small Storys (vgl. Georgakopoulou 2015) für die Analyse von Erzählungen in Mobile-Messenger-Interaktionen vorzuschlagen. Die verschiedenen narrativen Dimensionen, anhand derer sich Alltagserzählungen bzw. Small Storys in Anschluss an Ochs und Capps (2001) sowie König (2019) untersuchen lassen, werden zudem in Abschnitt 4 hinsichtlich der spezifischen temporalen Phänomene diskutiert, die sich in narrativen Interaktionen mittels Smartphones beobachten lassen. Um insbesondere der Praxis des präsentischen Erzählens auf den Grund zu gehen, nimmt Abschnitt 5 außerdem Bezug auf die Zeitkategorien nach Genette (2010) und rekonstruiert, wie Beteiligte in Mobile-Messenger-Interaktionen erzählte Zeit und Erzählzeit diskursstrategisch alignieren. Diese narrative Praxis wird dann in Abschnitt 6 anhand einer WhatsApp-Sequenz von zwei Jugendlichen analytisch exemplifiziert, bevor Abschnitt 7 abschließend die zentralen Befunde des Beitrags über Zeitlichkeit und Narration in Mobile- Messenger-Interaktionen bündelt und Wege zukünftiger Forschung aufzeigt. 204 Florian Busch <?page no="205"?> 2 Erzählen im Rhythmus mediatisierter Kommunikationsalltage Die zeitliche Spezifik des alltäglichen Erzählens mittels smartphone-basierter Messenger-Dienste ist an die grundlegenden temporalen Affordanzen des Smartphones als mobiles Medium gekoppelt. Als Affordanz versteht man medientheoretisch den Angebotscharakter eines Mediums, also das Spektrum an Handlungsmöglichkeiten, das Nutzer: innen offensteht bzw. von Nutzer: innen überhaupt als Handlungsangebot erkannt und angenommen wird (vgl. Hutchby 2001; Bucher und Helmond 2019). Grundsätzlich nimmt eine Affordanzanalyse die gesamthaften medialen „ Arrangements “ (Pentzold et al. 2013: 85) einer Gebrauchssituation in den Blick, die auf unterschiedlichen Ebenen liegen können: Zu fragen ist, welche Gebrauchspraktiken ermöglicht die Verfasstheit eines Mediums als technisch-materieller Gegenstand, welche Kommunikationsformen können mit Hilfe des Mediums hergestellt werden, welche Kommunikationsplattformen mit jeweils spezifischen Interfaces stehen den Nutzer: innen zur Verfügung und welche semiotischen Ressourcen können gebraucht und ggf. in multimodalen Ensembles textuell kombiniert werden. Für das Smartphone als Mediengerät lassen sich mit Schrock (2015) vier basale kommunikative Affordanzen erkennen: Portabilität, Verfügbarkeit, Multimedialität und Ortbarkeit (portability, availability, multimediality, locatability). Die temporale Dimension smartphone-basierter kommunikativer Praktiken steht dabei zunächst vor allem in Bezug zu zweien dieser Kategorien: Die Portabilität bzw. die Mobilität des Geräts, die sich aus seiner handlichen Größe einerseits sowie seinem Online-Zugang mittels Mobilfunk andererseits ergibt, ermöglicht es Nutzer: innen ihr Smartphone jederzeit bei sich zu haben und ist damit Voraussetzung für eine potenzielle Verfügbarkeit rund um die Uhr (vgl. Baron 2008; Vorderer 2015). Inwiefern Nutzer: innen von diesen medialen Angeboten aber auch Gebrauch machen und in welcher Weise sie sie in sozial geteilte Praktiken überführen, ist eine nachgelagerte Frage, die es empirisch zu beantworten gilt. So zeigt die Mediennutzungsforschung sowie die Medienanthropologie, dass die verbreiteten Vorstellungen einer andauernden Verfügbarkeit in der Regel nicht der Nutzungspraxis entsprechen und Praktiken der Nicht-Nutzung bzw. der „ Selbst-Absentierung “ (Stempfhuber 2015; vgl. auch Hartmann 2019; Prommer 2019) verschleiern. Die zeitliche Einbettung von Smartphone-Kommunikation in den Alltag von Menschen zeigt sich stattdessen eher in Form einer Rhythmisierung von Gebrauchsepisoden, die mal im dominierenden Fokus der Akteur: innen, mal parallel zu anderen Handlungsprojekten ablaufen (vgl. Lautenschläger 2022: 22; Oloff 2021). Das Smartphone wird also eingebettet in andere soziale Aktivitäten, durch die sich eine Person Präsentisches Erzählen im mediatisierten Alltag 205 <?page no="206"?> im Ablauf eines Tages bewegt, immer wieder aus der Tasche gezogen, für Kommunikation genutzt und dann wieder verstaut. Diesem Rhythmus mediatisierter Kommunikationsalltage geht das SNF- Forschungsprojekt Texting in Time: Kommunikative Praktiken der Smartphone-Interaktion im Prozess auf den Grund. 1 Anhand von authentischen Bildschirmaufzeichnungen untersucht das Projekt die smartphone-basierte Kommunikation von Proband: innen jeweils über einen Zeitraum von zwei Wochen. Durch eine solche umfängliche Erhebung wird es nicht nur möglich, den Prozess smartphone-basierter Kommunikationspraktiken ‚ durch die Augen der Beteiligten ‘ nachzuvollziehen, sondern auch die Rhythmen offenzulegen, die sich mit den verschiedenen Kommunikationspartner: innen jeweils etablieren und die das temporale Erleben von Smartphone-Kommunikation im Alltag der Proband: innen prägen. Zudem lässt sich in den Daten nachvollziehen, in welcher Weise Alltagserzählungen in den Rhythmus mediatisierter Kommunikationsalltage eingefädelt werden. Ein Beispiel hierfür lässt sich etwa an einem Erhebungstag der Probandin Cara beobachten, der in Abb. 1 visualisiert ist. 2 Cara ist 27 Jahre alt und kommt ursprünglich aus Deutschland. Sie ist vor sechs Jahren in die Schweiz gezogen, um dort einem Musikstudium nachzugehen. Die Grafik zeigt Caras Messenger-Interaktionen auf dem Zeitstrahl eines Dienstags an. Jede: r Kommunikationspartner: in wird in einer eigenen Zeile mit Pseudonym angegeben. Zudem wird für jeden Kontakt anhand eines App-Icons angezeigt, ob sich die Kommunikation über WhatsApp, Instagram-Messenger oder SMS bzw. iMessage entwickelt. In jeder Zeile sind weiterhin die Nachrichten eines Kommunikationsstranges zeitlich verortet: Rote Punkte repräsentieren Zeitpunkte, an denen Cara eine eingegangene Nachricht liest. Grüne Punkte repräsentieren Zeitpunkte, an denen Cara eine eigene Nachricht verschickt. Die grauen Balken, die roten Punkten voraus gehen, zeigen an, wie lange eine Nachricht bereits ungelesen auf Caras Smartphone wartet. Indem man sich nun an der gestrichelten Linie entlang bewegt, lässt sich nachvollziehen, wie Cara den Tag hindurch in verschiedene kommunikative Konstellationen eintritt und diese teils parallel zueinander in unterschiedlichen Rhythmen entfaltet. So zeigt sich, dass Cara ihrem Smartphone erst um 9: 38 Uhr Aufmerksamkeit schenkt. Vier Nachrichten auf WhatsApp und Instagram sind da schon bei ihr eingegangen und werden nun sukzessive abgearbeitet. In diesen ersten Nach- 1 Das SNF-Projekt hat die Fördernummer 100015_215094 und läuft von 2023 bis 2027 an der Universität Bern. 2 Die Namen aller Beteiligten sind pseudonymisiert. 206 Florian Busch <?page no="207"?> richten des Tages hat Cara vor allem Termine und Abläufe ihres Studiums zu organisieren. Die erste Nachricht stammt beispielsweise von Caras Kommilitonin Katharina in einer WhatsApp-Gruppe, in der Proberaum-Belegungen organisiert werden. Cara ist hier schweigende Mitleserin und lässt die Nachricht unkommentiert. Später werden die Nachrichten dann persönlicher. Caras Vater meldet sich und fragt, wann ihr ein für den heutigen Tag geplantes Telefonat passen würde. Es entfaltet sich eine kleine Terminfindungssequenz, die zudem nun auch Aufschluss über Caras Tag gibt. Bis 12: 30 Uhr habe Cara Freizeit, danach halte sie sich bis in den späten Nachmittag an der Hochschule auf, hat eine weitere Pause, um dann am Abend ihren Deutsch-Schüler zu unterrichten. Diesen Tagesablauf sehen wir mehr oder weniger in ihrer Smartphone-Nutzung abgebildet, indem sich aus Caras Terminen Zeitspannen der Nicht-Nutzung sowie der zeitlich verdichteten Kommunikation mit mehreren Kontakten ergeben. Nach der Interaktion mit ihrem Vater schaut sie noch einmal in die Chatgruppe - danach nimmt die Nutzung erst wieder am Nachmittag an Fahrt auf. Um 17.15 Uhr plant Cara dann etwa das Abendessen mit ihrem Freund Adam (Cara hatte vergessen, die benötigten Burger-Pattys einzukaufen), während sie sich bereits auf dem Weg nach Hause befindet. Sobald Cara in ihrer Wohnung ankommt, schreibt sie mittels iMessage eine Nachricht an ihre Freundin Katrin und erzählt von einer Beobachtung, die sie unmittelbar vorher auf dem Nachhauseweg gemacht hatte: Cara greift dabei Abb. 1: Visualisierung eines Tages aus dem Datensatz von Cara Präsentisches Erzählen im mediatisierten Alltag 207 <?page no="208"?> eine vergangene Unterhaltung mit Katrin auf, in der diese erzählt hatte, dass Katrins Bruder, der in derselben Stadt lebt, gelegentlich Bartschmuck trägt. Dies liefert für Cara nun den Anlass zu erzählen, dass sie gerade auf der Straße einem Mann mit Bartperlen begegnet sei, der Katrin noch dazu relativ ähnlich sah. Cara frage sich daher nun, ob das vielleicht Katrins Bruder gewesen sei. Katrin antwortet darauf nicht unmittelbar, aber um kurz nach acht bestätigt sie den Verdacht. Ihr Bruder wohne tatsächlich in der beschriebenen Straße und wird es wohl gewesen sein. Cara zeigt sich darüber entzückt und schreibt die letzte Nachricht dieses Tages um 20.11 Uhr: „ Achso wow! Wie lustig. “ Sie habe nun eine sehr spezifische Information über Katrins Bruder - obwohl die beiden nie ein Wort miteinander gewechselt hätten (vgl. Abb. 2). Abb. 2: Nummerierte Nachrichtensequenz zwischen Cara (dunkelgrau) und Katrin (hellgrau) in iMessage 208 Florian Busch <?page no="209"?> 3 Alltagserzählungen im Mobile-Messaging: Big Packages oder Small Storys? Nicht nur an diesem spezifischen Beispiel, sondern auch an einer Vielzahl anderer Sequenzen in Caras Daten der anderen Erhebungstage lässt sich beobachten, dass die Nachrichten, die Cara den Tag hindurch mit ihren Kontakten austauscht, aufs Engste mit ihrem alltäglichen Tun verbunden sind. Viele dieser Mitteilungen sind auf die Planung zukünftiger Aktivitäten ausgerichtet, viele Nachrichten beinhalten aber auch Statusmeldungen, die sich auf Caras Hier-und-Jetzt nach dem Muster ich bin gerade an Ort X und mache Y beziehen. In diesen Momenten macht Cara am deutlichsten von den Affordanzen der Portabilität und der Verfügbarkeit Gebrauch: Sie trägt das mobile Medium am Körper und ist somit stets in der Lage, ihr digitales Netzwerk wortwörtlich in Echtzeit auf dem Laufenden zu halten. Nachrichten(sequenzen) dieser Art können in Anschluss an Hoffmann (1984) wohl am treffendsten dem Handlungstyp des Berichtens zugeordnet werden: Vorgänge und Erlebnisse werden abstrahiert in Bezug auf eine bestimmte alltagspraktische Relevanz versprachlicht und in ihren Daten ohne viele Details fixiert (vgl. ebd.: 61) - etwa wann ein Proberaum an der Musikhochschule verfügbar wird, wann Zeit für ein Telefonat ist oder was und wann für das Abendessen eingekauft werden soll. In Abgrenzung zum Berichten beschreibt Hoffmann demgegenüber für den Handlungstyp des Erzählens, dass sprachlich dargestellte Handlungen und Sachverhalte typischerweise in einer Ausgangssituation etabliert und dann mit erzählerischen Mitteln bis zu einem bestimmten als relevant gesetzten Punkt temporal und kausal entwickelt werden. Die erzählten Handlungen werden so in einen übergeordneten Zusammenhang gebracht, es entsteht also narrative Kohärenz (vgl. ebd.: 62). Auch wenn viele der beobachteten Nachrichten in Caras Datenset diesen Top-Down-Definitionskriterien des Erzählens nicht genügen, lassen sich doch immer wieder auch Passagen identifizieren, die in diesem Sinne erzählerischer als die bloßen Nachrichtenberichte erscheinen - so etwa auch die Nachrichten rund um das Aufeinandertreffen mit dem Bartperlen-Mann. Die Begebenheit wird räumlich und zeitlich lokalisiert (nämlich auf dem Nachhauseweg gerade eben) und dann durch Cara evaluiert: Es könnte doch gewesen sein, dass das Katrins Bruder war. Das wiederum wäre ein einigermaßen interessanter Zufall, den es sich zu erzählen lohne. An klassischen linguistischen Modellen, was eine Narration ausmacht, wird das Bartperlen-Beispiel wohl dennoch scheitern. Folgt man etwa der Narrativen Grammatik von Labov und Waletzky (1967), dann formt sich eine Erzählung typischerweise in dem Nacheinander aus einer Verortung von Figuren in Raum Präsentisches Erzählen im mediatisierten Alltag 209 <?page no="210"?> und Zeit (in einer narrativen Orientierungsphase), von der aus dann eine linearisierte Verkettung von Ereignissen beschrieben wird, die auf eine Komplikation bzw. einen Erwartungsbruch zusteuert, der dann aufgelöst und evaluiert wird, bevor die Geschichte in einer Coda endet, in der die Zuhörenden aus der erzählten Welt entlassen werden. Die Bartperlen-Nachrichten enthalten diese narrativen Bausteine nur rudimentär. Zwar liegt eine Orientierung von Figuren in Raum und Zeit vor, eine lineare Abfolge von Ereignissen bzw. eine lineare Zustandsveränderung sowie auch eine Komplikation sind dabei aber nicht zu erkennen. Stattdessen steht die typographisch durch eckige Klammern angezeigte Fokussierung auf Bartperlen in Nachricht 1 im erzählerischen Mittelpunkt (siehe Abb. 2). Die offenbar außergewöhnliche Beobachtung wird von Cara interpretiert und in ihrer Besonderheit und Zufälligkeit als erzählenswert inszeniert (in Nachrichten 2 und 3). Die erzählerische Qualität wird also vor allem in einer evaluativen Phase hergestellt. Hier spielen zum einen Emojis eine Rolle - erst als Indizierung der belustigten Haltung von Cara gegenüber dem Erzählten (in Nachricht 3), dann von Katrin, die sich mit dieser Haltung aligniert (in Nachricht 4), schließlich zudem in der abschließendem Evaluation von Cara in Nachricht 5, die dort mit achso darüber hinaus ihr neu erlangtes Wissen dokumentiert (vgl. Heritage 1984), immerhin zwei Mal die Interjektion wow verwendet und das Erlebte auch ganz explizit als lustig bezeichnet. Das Erzählerische der Sequenz wird so in Kollaboration der zwei Beteiligten mithilfe sprachlich-semiotischer Mittel hergestellt, die sich in den eher berichtenden Nachrichten nicht in dieser Konstellation finden lassen. Auch wenn die geschilderte Begebenheit in ihrer Struktur gemessen an der Narrativen Grammatik, die Labov und Waletzky (1967) herausarbeiten, fragmentarisch bleibt, wird also doch deutlich, dass spezifische semiotische Ressourcen des Erzählens mobilisiert werden. Um diese narrative Praxis zu erfassen, lohnt sich der Anschluss an zwei weiterführende Gleise der linguistischen Erzählforschung: So lässt sich zunächst feststellen, dass Caras Erzählungen in smartphone-basierten Messengerumgebungen Narrative-in-Interaktion sind, wie sie in der Konversationsanalyse ausführlich anhand mündlicher Alltagsgespräche beschrieben sind (vgl. Sacks 1986; Quasthoff 1980; Kotthoff 2020). Cara und Katrin sind beide in die sequenziell organisierte Aktivität eingebunden, das Erlebnis von Cara performativ auszugestalten, zu bewerten und damit als eine Alltagserzählung im Strom ihrer gemeinsamen Interaktionsgeschichte zu verankern. Kennzeichnend für konversationsanalytische Arbeiten zu Alltagserzählungen ist allerdings auch, dass Erzählungen vor allem als „ big packages “ (Jefferson 1988) untersucht wurden, also als größere kommunikative Projekte, zu deren Durchführung sich eine erzählende Person das Rederecht für einen längeren Zeitraum sichern muss. Diese 210 Florian Busch <?page no="211"?> Perspektivierung geht bezüglich des vorliegenden Beispiels in zweierlei Hinsicht nicht auf: Zum einen entsprechen die erzählerischen Momente in Caras Messengerinteraktionen nicht der Ausgebautheit eines big package. Zum anderen ist grundsätzlich in Frage zu stellen, inwiefern die interaktionale Organisation von Alltagserzählungen in Face-to-Face-Kommunikation mit jener in schriftbasierter Messengerkommunikation zu vergleichen ist, liegen doch jeweils völlig andere Beteiligungsstrukturen vor, da in Messengerinteraktionen nicht in gleicher Weise um Rederecht bzw. Redezeit gerungen werden muss (vgl. Meiler 2021). Wer erzählen will, kann eine entsprechende, durchaus auch lange Nachricht tippen und abschicken, ohne sich dafür erst eine Versicherung der Rezeptionsbereitschaft des anvisierten Publikums einzuholen. Was den Charakter vieler erzählender Momente in der Messenger-Kommunikation hingegen besser zu treffen scheint, ist das in der interdisziplinären Identitätsforschung zwischen Diskurspsychologie, Sprachanthropologie und Soziolinguistik entwickelte Konzept der „ Small Stories “ (Bamberg 2004; Georgakopoulou 2015). Der Ansatz ist ebenfalls interaktional und rekonstruktiv ausgerichtet, verabschiedet sich dabei aber von der definitorischen Notwendigkeit der linearen Entfaltung von Ereignissen als big package. Stattdessen werden erzählerische Potenziale identifiziert, die Interaktionsbeteiligte einander signalisieren und die dann von Beteiligten aufgegriffen, weiterentwickelt, aber auch fallengelassen werden können. Georgakopoulou fasst zusammen, dass als Small Story die kommunikative Vermittlung von „ [n]onor multilinear, unfolding events & sequences in further narrative-making “ verstanden werden kann, häufig realisiert als ein „ telling of mundane “ (Georgakopoulou 2015: 260). Eine Small-Story-Analyse fragt danach, welche Räume, Zeiten, Figuren und Ereignisse in einer Interaktion aufgerufen werden und mit welchen Mitteln und Funktionen dieses „ world-making “ (ebd.) geschieht. Small Storys sind dabei dem Smalltalk insofern nahe, als sich ihre Gegenstände in der Regel aus dem unmittelbaren Interaktionskontext ergeben. Es sind Beobachtungen, die im unmittelbaren raum-zeitlichen Kontext geschehen oder zumindest mit dem unmittelbaren Kontext einer Interaktion so assoziiert sind, dass ihre Erzählung ohne viele Worte ermöglicht ist. Gerade auch in Kontexten digitaler Kommunikation hat sich das Small- Story-Konzept als heuristisches Werkzeug bewährt (Page 2010, 2013; Georgakopoulou 2016; König 2019). Page (2013), die Erzählungen auf Social-Media- Plattformen untersucht, und daran anknüpfend ebenso auch König (2019), die sich mit Erzählungen in Messenger-Interaktionen beschäftigt, beziehen sich darüber hinaus auch auf das Modell von Ochs und Capps (2001), das fünf Dimensionen der Erzählpraxis formuliert, die in Small Storys mehr oder weniger ausgeprägt sein können: Erzählwürdigkeit, Erzählerschaft, Eingebet- Präsentisches Erzählen im mediatisierten Alltag 211 <?page no="212"?> tetheit, Linerarität sowie moralische Haltung (tellability, tellership, embeddedness, linearity, moral stance). Im Raster dieser Dimensionen lassen sich Erzählhandlungen in ihrer Struktur sowie hinsichtlich ihrer kommunikativen und sozialen Funktion dynamisch nachzeichnen. König (2019: 37 f.) ergänzt mit Blick auf die Anwendung des Modells auf Erzählungen in digitalen Medien zudem die drei Dimensionen Öffentlichkeit, Multimodalität sowie Sequenzierung (publicness, multimodality, sequencing), um den spezifischen medialen Bedingungen des Erzählens Rechnung zu tragen. 4 Zeitlichkeit im Erzählen mittels smartphone-basierter Messenger Die Frage danach, wie Zeitlichkeit das Erzählen in smartphone-basierten Interaktionen strukturiert bzw. als Ressource der Beteiligten fungiert, liegt dabei quer zu den von Ochs und Capps (2001) sowie König (2019) genannten Dimensionen. So wird Erzählwürdigkeit hier etwa auch dadurch geschaffen, dass erzählt wird, was gerade war oder was jetzt ist. Für Small Storys kann also auf Grundlage der Portabilität des Mediums eine besondere Aktualität indiziert werden. Dieses Erzählen „ as the events are unfolding “ (Georgakopoulou 2015: 262) kann dabei mit einer besonderen Verteilung der Erzählerschaft auf die Beteiligten zusammengehen, da jeder responsive Einwurf das Potenzial hat, nicht nur die Geschichte, sondern auch die zugrundegelegten, zeitgleich ablaufenden Ereignisse zu verändern. Mit der zeitlichen Synchronisierung des Erzählens im Jetzt der Beteiligten geht zudem eine besondere Eingebettetheit in gegenwärtige Kontexte einher. Dies unterscheidet sich von solchen öffentlichen Small Storys, die in Form von Memes in Sozialen Netzwerken gepostet werden und geradezu darauf angelegt sind, weiterverbreitet und rekontextualisiert zu werden (vgl. Georgakopoulou 2013: 20). Stattdessen ergibt sich das Verständnis und die spezifische Bedeutung von Small Storys in privaten Messenger-Interaktionen häufig aus dem kontextuellen Wissen, das die Beteiligten teilen. Voraussetzung für ein solches Erzählen ist somit auch eine eingeschränkte Öffentlichkeit: Dass die (möglicherweise rudimentäre) Schilderung eines Ereignisses von den Beteiligten als Erzählpunkt in einer durch narrative Linearität geprägten Geschichte rekonstruiert werden kann, setzt Vertrautheit voraus. So liefern Small Storys oftmals einen Erzählpunkt - um diesen Punkt dann als Teil einer temporalen und kausalen Progression interpretieren zu können, braucht es einen zweiten Erzählpunkt (vgl. Meiler 2020). Dieser liegt in privaten Messenger-Interaktionen in der Regel in der interdiskursiven Vergangenheit (man könnte auch sagen: in der Vorgeschichte) der 212 Florian Busch <?page no="213"?> Beteiligten. Small-Story-Fragmente indizieren in diesem Sinne narrative Potenziale, die die Beteiligten mit entsprechenden Wissensvoraussetzungen dann zu Geschichten formen können. 3 Auch die moralischen Haltungen, die Beteiligte durch Bewertung zu einem erzählten Sachverhalt einnehmen, basieren schließlich auf der Grundlage geteilten Wissens. Was ein erzählter Moment den Beteiligten bedeutet und wie sie ihn moralisch bewerten, ergibt sich aus seiner Einbettung in vorausgehend etablierte Überzeugungen. Im Falle von Cara reiht sich beispielsweise die Beobachtung des Bartperlen-Mannes in dieser Weise in eine interdiskursive Geschichte ein: Dass der Bruder von Katrin Bartperlen trägt, war zwischen Cara und Katrin nämlich bereits Thema und damit Teil der Verkettung von Kommunikationsereignissen, die ihre Freundschaft konstituieren. Das Smartphone ermöglicht es hier, eine alltägliche Beobachtung unmittelbar in dieses etablierte Thema einzuspeisen und damit auch die freundschaftliche Beziehung der beiden weiterzuspinnen. Die Affordanz von Messenger-Anwendungen, die Kommunikationsgeschichte als fortlaufenden Nachrichtenstrom vorzuhalten, der jederzeit ein Zurückscrollen ‚ in die Vergangenheit ‘ ermöglicht, unterstützt dieses gemeinsame Fortschreiben sowie das Wissen um eine ‚ geteilte Vergangenheit ‘ . So ist im diskutierten Beispiel die zufällige Straßenbegegnung dann etwa auch ein willkommener Aufhänger, um das wiederkehrende Thema der Bartperlen zu aktualisieren. Die Erzählwürdigkeit des Ereignisses ergibt sich so neben seiner zeitlichen Aktualität auch auf einer interdiskursiven Ebene: Das, was in der Vergangenheit bereits einmal erzählwürdig war, kann nun weitererzählt werden. Weiterhin wird Erzählwürdigkeit an das Ereignis herangetragen bzw. mit kommunikativen Mitteln hergestellt. Dabei schöpfen die Beteiligten aus der Multimodalität ihres medial präfigurierten Zeicheninventars, das neben sprachlichen, interpunktorischen und bildlichen Mitteln darüber hinaus auch temporale Zeichenmittel enthält. So kann mit dem Rhythmus, in dem eine Erzählung in einzelnen Nachrichtenpostings entwickelt und über eine zeitliche Dauer hinweg verschickt wird, zum Beispiel die temporale Progression der Erzählung und damit ihr Echtzeit-Charakter inszeniert werden. Ein solches Erzählen als Praxis eines ‚ auf dem Laufenden halten ‘ liegt beim Bartperlen- Beispiel nicht vor, wenngleich auch hier die Aktualität des Ereignisses (kam gerade vom Campus zurück) als anfänglicher Aufhänger angeführt wird. 3 Ähnlich argumentiert auch Spreckels (2008): „ I argue that in close-knit groups of friends [ … ], narratives do not need an elaborate semantic and structural preparation due to the fact that the marking of stories in communities of practice works primarily via shared group knowledge [ … ] “ (Spreckels 2008: 409 f.). Präsentisches Erzählen im mediatisierten Alltag 213 <?page no="214"?> Besonders deutlich wird der Einsatz temporaler Ressourcen hingegen aber dann, wenn smartphone-basierte Erzählungen offenbar simultan zu den erzählten Ereignissen mitgeteilt werden (Abschnitt 6 wird hierfür ein Beispiel geben). Die spezifische Sequenzierung einer Narration kann sich dann einerseits aus dem Ablauf des Erzählten in der erlebten Umwelt ergeben, der sukzessive beobachtet und versprachlicht wird. Andererseits steht es den Erzählenden aber natürlich auch frei, durch Sequenzierung den bloßen Eindruck eines Erzählens in Echtzeit zu schaffen und damit diskursstrategisch Erzählwürdigkeit zu steigern. Zeitlichkeit ist dann nicht etwa eine physikalische Dimension, der die Beteiligten ausgeliefert wären, sondern ein kommunikativ hergestelltes Konstrukt, das Teil einer spezifischen Erzählpraxis ist. 5 Alignierung von erzählter Zeit und Erzählzeit Um diese temporalen Verhältnisse weiter aufzuschlüsseln, kann der Rückgriff auf literaturwissenschaftliche Konzeptualisierungen von Zeitlichkeit und Narration helfen: So geht nach Genette (2010) grundsätzlich jede Erzählung mit einer „ Zeitdualität “ (ebd.: 10) einher, nämlich der Dualität von a) „ erzählter Zeit “ und b) „ Erzählzeit “ (ebd.). 4 Die erzählte Zeit steht dabei der inszenatorischen Manipulation offen, indem Ereignisse zeitlich gerafft oder auch gedehnt entfaltet werden können (ein ganzes Leben wird in einem Roman dann etwa auf einer halben Buchseite zusammengefasst, während wenige Augenblicke möglicherweise gedehnt in größtmöglicher Detailliertheit und Komplexität über viele Buchseiten geschildert werden). Die Effekte der Dehnung und der Raffung gehen dabei immer aus der Relation der erzählten Zeit zur Erzählzeit hervor. Ist die Erzählzeit knapper als die erzählte Zeit liegt eine Raffung vor; geht die Erzählzeit über die erzählte Zeit hinaus, entsteht eine Dehnung. Je nach Medium, in dem erzählt wird, muss zudem aufseiten der Erzählzeit unterschieden werden, in welcher Dauer die Erzählung artikuliert wird und welche Rezeptionsdauer sich daraus ergibt. Während die Erzählzeit in Romanen etwa typischerweise in die Räumlichkeit von Buchseiten (nämlich in Textlänge) übersetzt wird, deren Lektüre je nach Leser: in sehr unterschiedliche Zeitdauern in Anspruch nehmen kann, sind Produktions- und Rezeptionszeiten beispielsweise in filmischen Erzählungen unhintergehbar gekoppelt. Zudem lässt sich neben erzählter Zeit und Erzählzeit drittens für jede Narration ein Erzählzeitpunkt feststellen, von dem aus auf das Erzählte geblickt wird, also eine „ temporale Position der ‚ Stimme ‘“ (Weixler und Werner 2015: 4) bzw. eine 4 Ursprünglich geht dieses Begriffspaar auf Müller (1974) zurück. 214 Florian Busch <?page no="215"?> „ Zeit des narrativen Aktes “ (ebd.: 5). Prototypisch ist dabei das Erzählen vergangener Ereignisse: Der Zeitpunkt des Erzählens liegt im Verhältnis zum Erzählten meist zeitlich nachgelagert. Die narrative Praxis des ‚ auf dem Laufenden halten ‘ mittels Small Storys in smartphone-basierten Interaktionen gibt Erzählenden nun jedoch die Möglichkeit, eine Alignierung der Zeitdualität durch Sequenzierung zu inszenieren. Erzählte Zeit und Erzählzeit erscheinen dann als annähernd deckungsgleich, indem die erzählten Ereignisse auf mehrere Nachrichten aufgeteilt werden, die jeweils zeitlich minimal versetzt zum Erlebten verschickt werden (so zumindest in der Inszenierung). Wenn außerdem alle Beteiligten simultan an ihren Geräten sind und dementsprechend in der Sequenzierung der Narration intervenieren können, kommt es zudem zu einer Alignierung von Produktions- und Rezeptionszeit. Diese sind zwar aufgrund der technisch-medialen Bedingungen niemals identisch (vgl. Beißwenger 2020: 303), die gleichzeitige Orientierung auf das sukzessive voranschreitende Bildschirmprotokoll, in dem die Erzählung entfaltet wird, sorgt aber für eine geteilte raum-zeitliche Erzählsituation. Schließlich ist drittens auch die Zeit des narrativen Aktes in der untersuchten Erzählpraxis spezifisch, weil nicht erzählt wird, was war, und ebenso wenig erzählt wird, was sein wird, sondern die Erzählung Ereignisse betrifft, die sind. Dementsprechend lässt sich diese temporale Konstellation auch als ein präsentisches Erzählen beschreiben. Mit Fokus darauf, dass die Relevantsetzung und Performanz einer solchen präsentischen temporalen Positionierung stets durch sprachliche Mittel hergestellt sind und damit durchaus von einer faktisch-temporalen Position zum Erzählten entkoppelt sein können, liegen hierbei durchaus Ähnlichkeiten zu Erzählungen im „ szenischen Präsens “ vor, das vor allem in mündlichen Alltagserzählungen genutzt wird, um eine Unmittelbarkeit und Lebendigkeit herzustellen (Hausendorf und Quasthoff 1996: 177). Während das szenische Präsens als rhetorisch-stilistisches Mittel allerdings für Beteiligte erkennbar Vergangenes vergegenwärtigt und der Erzählzeitpunkt dementsprechend dem Erzählten temporal nachgelagert ist, sind präsentische Erzählungen in Messenger-Interaktionen aus Beteiligtensicht in der Regel als simultan zum Erzählten positioniert. Deutlich wird damit, dass Smartphone-Nutzer: innen aus der grundlegenden medialen Affordanz der Portabilität und den Produktionsmöglichkeiten und Rezeptionserwartungen, die sich aus dieser Affordanz ergeben, temporal komplexe Praktiken des Erzählens ausbilden können. Gerade in beiläufigen Formaten, die sich in Anschluss an die interdisziplinäre Identitätsforschung als Small Storys beschreiben lassen, steht Interaktionsbeteiligten mittels Smartphones ein präsentisches Erzählen offen. Die temporalen Strukturen solcher Erzählungen des Gegenwärtigen lassen sich auf verschiedenen der durch Ochs Präsentisches Erzählen im mediatisierten Alltag 215 <?page no="216"?> und Capps (2001) sowie König (2019) formulierten narrativen Dimensionen nachzeichnen - betreffen vorwiegend natürlich die Dimension der Linearität, aber durchformen schließlich doch sämtliche Beschreibungsebenen. Wie Zeitlichkeit präsentischer Erzählungen in dieser Hinsicht durch die Beteiligten hergestellt wird, wird im Folgenden anhand eines Fallbeispiels konkretisiert. 6 Präsentische Small Story und soziale Positionierung: ein Fallbeispiel Das folgende Beispiel stammt aus einem Datenset von WhatsApp-Chats norddeutscher Jugendlicher (vgl. Busch 2021: 174 - 181). Die dort enthaltenen Messenger-Interaktionen laufen zwischen Freund: innen und engen Bekannten ab, die sich in der Regel aus der Schule kennen. Ähnlich wie in dem Datenset von Cara, das hier bereits exemplarisch vorgestellt wurde, durchziehen Momente des ‚ auf dem Laufenden halten ‘ auch den digitalen Kommunikationsalltag dieser jüngeren Proband: innen. Dabei handelt es sich ebenso vor allem um Statusberichte, die in vielen Fällen aktiv vom Gegenüber durch Nachrichten eingefordert werden, die lediglich den Initialismus wmd für was machst du? (teils auch wmds - was machst du so? ) enthalten (vgl. ebd.: 298 - 300). Dass sich die Praxis des Statusberichts derart kristallisiert, zeigt, wie zentral die Aktivität für die untersuchte soziale Population ist. Während viele Antworten auf wmd denkbar einsilbig ausfallen (etwa durch Nachrichten, die nur einzelne Wörter wie chillen oder nichts enthalten), hat die synchronisierte Fokussetzung auf das gegenwärtige Erleben einer oder eines Beteiligten immer auch das Potenzial, dass ein Statusbericht zur präsentischen Erzählung im oben skizzierten Sinne ausgebaut wird. Ein Beispiel hierfür lässt sich im WhatsApp-Chat zwischen Otto und Anne, die beide 14 Jahre alt sind, beobachten. Anne teilt im Präsens mit, dass sie ein Problem habe. In ihrem Zimmer sitze eine Spinne und sie wisse jetzt gerade nicht, wie sie diese entfernen könne: 01 21: 37: 36 Anne: Ich hab ein klitze kelines problem … nein … ich weiß nicbr was ich machen soll ich habe ja keine angst vor den fiechern aber an meiner wand klebt sooo ne riesen spinne …… ich habe keine angst vor den aber … ook ich habe ein bisschen … respekt … also ich weiß ketzt hgerade nicht wie ich die weck machen soll dir ist sooo eckelig … was mache ich denn jetzt 02 21: 38: 51 Otto: Besen und drauf auf das Monster 03 21: 39: 06 Anne: Jetzt gerade* 216 Florian Busch <?page no="217"?> 04 21: 40: 04 Anne: Ne dann fällt die ja auf mein bett und dann … rot möchte ich dir immer noch nicht anfassen … ok warte kurz bin gleich wieder da … geh kurz zu meinem bruder 05 21: 40: 13 Anne: Tot* 06 21: 40: 18 Anne: Die* 07 21: 41: 22 Otto: Hol nen Hand Feger 08 21: 42: 15 Anne: Ja aber … egal mein mutter macjt das jetzt … mein bruder schläft schon 09 21: 42: 32 Otto: Oh ok 10 21: 44: 21 Anne: Die spinne ist beseitigt … fast ………………………………………………………………… …………………………………………… …………………………………………… ……………………………………………… …………………………………………… …………………………………………… ………………………………………………… …………………………………………… …………………………………………… ……………………………………………… …………………………………………… …………………………………………… ………………………………………………… …………………………………………… …………………………………………… ……………………………………………… …………………………………………… …………………………………………… . ok die spinne ist beseitigt … jetzt können wir weiter schreiben 11 21: 44: 45 Anne: Sry wir schreiben ja schon 12 21: 45: 09 Otto: So ist es Anne liefert in Nachricht 1 eine Ausgangssituation, nimmt somit ein World- Making vor und positioniert sich selbst als zögerliche, ängstliche Person in diesem Szenario. Indem die Nachricht in der ersten Person sowie im Präsens verfasst ist, wird die Trennung zwischen der erzählten Anne und der erzählenden Anne aufgehoben. Dementsprechend gilt die ängstlich-zögerliche Haltung, die Anne unter Gebrauch graphischer Mittel für sich im erzählten Szenario indiziert (etwa durch Buchstabeniterationen wie in sooo oder ook und schließlich auch durch den intensiven Gebrauch von Auslassungspunkten), auch für jene Anne, die sich zeitgleich in der Interaktion mit Otto befindet. Diese Verzahnung des Erzählten mit der Erzählsituation wird zudem auch an der Einbindung Ottos ins Geschehen deutlich: Indem das Szenario als simultan Präsentisches Erzählen im mediatisierten Alltag 217 <?page no="218"?> zur Interaktion etabliert wird, steht nicht nur die Evaluation der geschilderten Ereignisse der Kollaboration offen, sondern Otto kann zudem selbst durch Anweisungen und Kommentare in die erzählte Situation eingreifen und somit gewissermaßen selbst mit der erzählten Welt interagieren. Sein Kommando in Nachricht 2 Besen und drauf auf das Monster erinnert in dieser Weise an frühe textbasierte Computerspiele, in denen durch einen eingetippten Befehl über den Fortgang einer Abenteuergeschichte entschieden werden konnte. Ähnlich scheint hier nun auch Otto in der Geschichte Annes zu intervenieren. Auch Otto wird damit zur Figur in der erzählten Welt und hat die Möglichkeit, innerhalb der Erzählung eine soziale Position einzunehmen, die dann wiederum auch für die soziale Konstellation der Interaktion Gültigkeit hat. Der ängstlichen Haltung Annes setzt er die eines ‚ furchtlosen Machers ‘ entgegen, der sich eine Waffe greift und die Spinne energisch bekämpft. In dieser Weise funktionalisieren beide Beteiligte die Erzählung auch als Mittel eines Gender- Displays (vgl. Busch 2020: 231 - 239). Die als problematisch inszenierte Ausgangssituation wird dann im Folgenden über mehrere Nachrichten weiterentwickelt und lässt Otto - offenbar in Echtzeit - circa acht Minuten an der Bearbeitung der Spinne in Annes Zimmer teilhaben, wobei etwa minütliche Aktualisierungen die Erzählung sequenziert über insgesamt zwölf Nachrichten tragen. Beide Beteiligte nutzen dabei durchgängig Verbalformen im Präsens sowie temporale Ausdrücke, um die erzählte Zeit und die Erzählzeit zu alignieren. Mit Blick auf die temporale Progression der Erzählung ist schließlich besonders Annes Nachricht 10 interessant, in der das Problem der Spinne eine Lösung erfährt. In dieser Nachricht tritt die Inszenierung von Simultanität deutlich hervor, da innerhalb des Postings eine narrative Linearität vorliegt, die in dieser Weise nur hergestellt werden kann, wenn die Erzählzeit der erzählten Zeit doch nachgelagert ist: So heißt es zu Beginn der Nachricht Die spinne ist beseitigt … fast . Durch die syntaktische Ausklammerung des Temporaladverbs ins Nachfeld und seine räumlich-lineare Verzögerung durch Auslassungspunkte konstruiert Anne eine dramaturgische Klimax. Das zentrale Problem der Geschichte stehe kurz davor aufgelöst zu werden. In dieser Weise macht Anne Zeitlichkeit relevant. Anstatt nun aber erneut abzusetzen und den nächsten Erzählpunkt in einer weiteren, zeitlich versetzten Nachricht zu übermitteln und so die Alignierung von erzählter Zeit und Erzählzeit durch Sequenzierung aufrechtzuerhalten, produziert Anne stattdessen 982 Punkte (gewissermaßen also eine übermäßig iterierte Form der Auslassungspunkte). Diese Punkte scheinen nun die zeitliche Dauer zu repräsentieren, in der Annes Mutter die Spinne ermordet. Zeitlichkeit wird hier als Räumlichkeit codiert und muss dementsprechend im Leseprozess de-codiert werden. Mit ok setzt Anne 218 Florian Busch <?page no="219"?> nach den Punkten dann erneut an. Die vorausgehende Handlung wird durch diesen Diskursmarker als abgeschlossen markiert, die Spinne ist nun endlich beseitigt - ohne temporaladverbiale Einschränkung. Nach einer weiteren Segmentierung durch Auslassungspunkte kommt es schließlich zu einer rudimentären Coda mit erneuter temporaladverbialer Aktualisierung, in der die erzählte Welt verlassen und der Fokus metakommunikativ auf die Chat- Aktivität zurückgelegt wird: jetzt können wird weiter schreiben. Die Konstruktion von Zeitlichkeit, die den Beitrag in Form der Temporaladverbien und der Auslassungspunkte durchzieht, ist insofern interessant, als die abgeschickte Nachricht ja nicht etwa nach und nach, sondern auf einen Schlag auf Ottos Smartphone-Bildschirm angezeigt wird. Die Zustandsbeschreibungen der Spinne als ‚ fast beseitigt ‘ und als ‚ beseitigt ‘ erscheinen also gleichzeitig auf dem Smartphone-Bildschirm Ottos und erst der Leseprozess besiegelt das Schicksal des Tieres in der Erzählung. Zeitliche Progression wird hier von Anne, obwohl zunächst eine Praxis des präsentischen Erzählens indiziert wird, sprachstilistisch konstruiert, dramaturgisch genutzt, und damit schließlich auch als zentrale Ressource zur Herstellung von Erzählwürdigkeit herangezogen. 7 Resümee und Ausblick Textnachrichtensequenzen wie jene um Caras Begegnung mit dem Bartperlen- Mann oder Annes Spinnen-Problem zeigen, dass die gewöhnlichsten und alltäglichsten Momente nicht nur jederzeit an Freund: innen und Bekannte, mit denen man mobil vernetzt ist, berichtet werden können, sondern dass solche Berichte stets auch Ausgangsmaterial liefern, das durch verschiedene semiotische Mittel zu Erzählungen ausgebaut werden kann. Die besondere Spezifik dieser Erzählpraxis in smartphone-basierten Interaktionen liegt dabei mithin in den Zeitlichkeitsbedingungen, die sich aus den Affordanzen mobiler Medien ergeben. So besteht für Nutzer: innen den Tag hindurch die Möglichkeit, mit Small- Story-Potenzialen des unmittelbar Erlebten an Inhalte anzuknüpfen, die in der sozial geteilten, kommunikativen Vorgeschichte von Interaktionspartner: innen bereits etabliert sind. Textnachrichten, die so zwar eine erzählte Welt aufrufen, denen aber mitunter eine erzählerische Progression zu fehlen scheint, reihen sich als Small-Story-Fragment dann doch in die Linearität einer sozial geteilten, interdiskursiven Erzählung ein. Weiterhin ist auch die kollaborative Durchführung einer Erzählung durch die temporalen Affordanzen des Smartphones berührt. Durch die Portabilität Präsentisches Erzählen im mediatisierten Alltag 219 <?page no="220"?> des Mediums eröffnet sich die Möglichkeit, eine Alignierung von erzählter Zeit und Erzählzeit zu inszenieren und dramaturgisch zu nutzen. Erleben und Erzählen werden dann in präsentischen Erzählungen als simultane Aktivitäten ausgewiesen, sodass auch erzählte Situation und Erzählsituation durchlässig werden. Dies führt mitunter dazu, dass alle Interaktionsbeteiligten in die erzählte Welt eingreifen können, etwa indem Zuhörende Erzählenden Handlungsempfehlungen für ihr Verhalten mitteilen. Von der Verschränkung von erzählter Zeit und Erzählzeit ist somit schließlich auch die soziale Positionierung betroffen, die mit Narrationen einhergeht (vgl. Bamberg und Georgakopoulou 2008): Die sozialen und moralischen Haltungen, die Figuren in der erzählten Welt einnehmen, färben noch direkter auf die soziale Konstellation der Interaktion ab, in der erzählt wird. Abschließend ist festzustellen, dass das präsentische Erzählen von erlebten Momenten mittels Smartphones eine gleichermaßen innovative wie zentrale Praxis mediatisierter Gesellschaften zu sein scheint, derer eine sozio-kulturell orientierte Erzählforschung sich annehmen sollte. Der vorliegende Beitrag hat diesbezüglich einen Anfang geliefert und nicht nur die spezifischen Zeitlichkeitsbedingungen des Erzählens aufgezeigt, die sich aus dem Gebrauch mobiler Medien ergeben, sondern zudem dafür argumentiert, dass Zeitlichkeit in smartphone-basierten Interaktionen nicht ‚ einfach da ‘ ist, sondern kommunikativ hergestellt und funktionalisiert wird. Zeitlichkeit wurde dementsprechend als kommunikative Ressource perspektiviert, derer sich Beteiligte diskursstrategisch bedienen können. Die Aufgabe zukünftiger Forschung kann es sein, hieran anzuschließen und die vielfältigen sozialen Funktionen aufzuzeigen, die temporale Praktiken des Erzählens im digitalisierten Kommunikationsalltag erfüllen können. Denn die Frage, was es für Erzählende und Rezipierende kommunikativ und sozial bedeutet, wenn erzählt wird, was zeitgleich ist, wurde bislang erst in Ansätzen beantwortet. Literatur Bamberg, Michael (2004). Talk, Small Stories, and Adolescent Identities. Human Development 47, 331 - 53. Bamberg, Michael/ Georgakopoulou, Alexandra (2008). Small stories as a new perspective in narrative and identity analysis. Text & Talk 28 (3), 377 - 396. Baron, Naomi S. (2008). Always on. Language in an Online Mobile World. Oxford: Oxford University Press. Beißwenger, Michael (2020). Internetbasierte Kommunikation als Textformen-basierte Interaktion: ein neuer Vorschlag zu einem alten Problem. In: Marx, Konstanze/ Lobin, 220 Florian Busch <?page no="221"?> Henning/ Schmidt, Axel (Hrsg.). 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Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Germanistik - Angewandte Linguistik am Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft, Technische Universität Darmstadt dorothee.jahaj@tu-darmstadt.de Dr. Monika Messner Universitätsassistentin Postdoc für französische und italienische Sprachwissenschaft, Universität Innsbruck monika.messner@uibk.ac.at Prof. Dr. Ina Pick Professorin für Germanistische Sprach- und Medienwissenschaft, Universität Innsbruck ina.pick@uibk.ac.at Prof. Dr. Claudio Scarvaglieri Professor für Germanistische Linguistik, Universität Lausanne claudio.scarvaglieri@unil.ch Prof. Dr. phil. habil. Ulrich Schmitz (i. R.) Professor (i. R.) für Germanistik/ Linguistik und Sprachdidaktik, Universität Duisburg-Essen ulrich.schmitz@uni-due.de <?page no="224"?> Dr. Niklas Simon Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft, TU Darmstadt niklas.simon@tu-darmstadt.de Dr. Diana Walther Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik, Universität Leipzig diana.walther@uni-leipzig.de 224 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren <?page no="225"?> Europäische Studien zur Textlinguistik herausgegeben von Steffen Pappert, Nina-Maria Klug und Georg Weidacher Die Europäischen Studien zur Textlinguistik sind ein Forum für alle Arbeiten, die Texte und Textsorten zum Gegenstand haben. Zugrunde gelegt wird dabei ein sehr weites Verständnis des Phänomens Text, das über traditionelle Textbegriffe hinausgehend Aspekte von Multimodalität und Hypermedialität, Kategorien der Wahrnehmbarkeit von Texten (Lokalität, Materialität, Medialität) oder ihre Bedeutung als sichtbare öffentliche Zeichen im urbanen Raum einschließt. Gefragt sind neben Beiträgen zur methodologischen Fundierung und terminologischen Präzisierung interdisziplinärer Textforschung vor allem empirische Beiträge quantitativer wie qualitativer Natur, die Einblicke in die Textwelten und textuellen Praktiken verschiedener gesellschaftlicher Domänen geben. Von besonderer Relevanz sind kontrastiv ausgerichtete Untersuchungen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen unterschiedlichen Textkulturen herausarbeiten. Dabei ist die Reihe nicht nur offen für die verschiedenen Strömungen der germanistischen Textlinguistik, sondern auch für Arbeiten anderer Philologien, die sich dem Gegenstand Text widmen. Bisher sind erschienen: Band 1 Kirsten Adamzik/ Wolf-Dieter Krause (Hrsg.) Text-Arbeiten Textsorten im fremd- und muttersprachlichen Unterricht an Schule und Hochschule 2005 255 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6155-8 Band 2 Maximilian Scherner, Arne Ziegler Hrsg.) Angewandte Textlinguistik Perspektiven für den Deutsch- und Fremdsprachenunterricht 2005, 274 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6169-5 Band 3 Georg Weidacher Fiktionale Texte - Fiktive Welten Fiktionalität aus textlinguistischer Sicht 2006, 165 Seiten €[D] 39,90 ISBN 978-3-8233-6254-8 Band 4 Sabine Schmölzer-Eibinger/ Georg Weidacher (Hrsg.) Textkompetenz Eine Schlüsselkompetenz und ihre Vermittlung 2007, 320 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6360-6 <?page no="226"?> Band 5 Sabine Schmölzer-Eibinger Lernen in der Zweitsprache Grundlagen und Verfahren der Förderung von Textkompetenz in mehrsprachigen Klassen 2011, 265 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-7649-1 Band 6 Marianne Grove Ditlevsen/ Peter Kastberg/ Christiane Pankow (Hrsg.) Sind Gebrauchsanleitungen zu gebrauchen? Linguistische und kommunikativ-pragmatische Studien zu skandinavischen und deutschen Instruktionstexten 2009, 166 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6406-1 Band 7 Katja Kessel Die Kunst des Smalltalks Sprachwissenschaftliche Untersuchungen zu Kommunikationsratgebern 2009, 291 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6473-3 Band 8 Peter Klotz/ Paul R. Portmann-Tselikas/ Georg Weidacher (Hrsg.) Kontexte und Texte Soziokulturelle Konstellationen literalen Handelns 2010, 346 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6490-0 Band 9 Heinrike Fetzer Chatten mit dem Vorstand Die Rolle der unternehmensinternen Kommunikation für organisatorischen Wandel im Unternehmen 2010, 387 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6574-7 Band 10 Raúl Sánchez Prieto Unternehmenswebseiten kontrastiv Eine sprachwissenschaftlich motivierte und praxisorientierte Vorgehensweise für eine kontrastive Analyse deutscher, spanischer und französischer Unternehmenswebseiten 2011, 140 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6622-5 Band 11 Magnus Pettersson Geschlechtsübergreifende Personenbezeichnungen Eine Referenz- und Relevanzanalyse an Texten 2011, 222 Seiten €€[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6623-2 Band 12 Jakob Wüest Was Texte zusammenhält Zu einer Pragmatik des Textverstehens 2011, 281 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6642-3 Band 13 Jan Engberg/ Carmen Daniela Maier/ Ole Togeby (Hrsg.) Encounters between Literature, Knowledge, and Emerging Communicative Conventions 2014, 232 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6817-5 Band 14 Vijay K. Bhatia/ Eleonora Chiavetta/ Silvana Sciarrino (Hrsg.) Variations in Specialized Genres Standardization and Popularization 2015, 293 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6833-5 <?page no="227"?> Band 15 Heike Ortner Text und Emotion Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele emotionslinguistischer Textanalyse 2014, 495 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-6910-3 Band 16 Susanne Göpferich Text Competence and Academic Multiliteracy From Text Linguistics to Literacy Development 2015, 321 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6934-9 Band 17 Marianne Franz Die katholische Kirche im Pressediskurs Eine medienlinguistische Untersuchung österreichischer und französischer Tageszeitungen 2017, 503 Seiten €[D] 49,99 ISBN 978-3-8233-8025-2 Band 18 Jakob Wüest Comment ils ont écrit l‘histoire Pour une typologie des textes historiographiques 2017, 434 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8178-5 Band 19 Kirsten Adamzik/ Mateusz Maselko (Hrsg.) VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik 2018, 336 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8203-4 Band 20 Kirsten Adamzik/ Mikaela Petkova- Kessanlis (Hrsg.) Stilwechsel und ihre Funktionen in Textsorten der Fach- und Wissenschaftskommunikation 2020, 408 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8223-2 Band 21 Susanne Kabatnik Leistungen von Funktionsverbgefügen im Text Eine korpusbasierte quantitativqualitative Untersuchung am Beispiel des Deutschen und des Polnischen 2020, 385 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8421-2 Band 22 Alessandra Alghisi Deutsche und italienische Verwaltungssprache im digitalen Zeitalter Textlinguistische Untersuchungen zu kommunikativen Praktiken der öffentlichen Verwaltung in der Schweiz 2022, 547 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8522-6 Band 23 Nina-Maria Klug/ Sina Lautenschläger (Hrsg.) True Love Sprache(n) der Liebe in Text und Gespräch 2024, ca. 350 Seiten €[D] ca. 88,- ISBN 978-3-8233-8598-1 Band 24 Steffen Pappert/ Kersten Sven Roth (Hrsg.) Zeitlichkeit in der Textkommunikation 2023, 224 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-8233-8612-4 <?page no="228"?> ISBN 978-3-8233-8612-4 Europäische Studien zur Textlinguistik 24 Kategorien der Wahrnehmbarkeit wurden als Textualitätsdimensionen lange Zeit vernachlässigt. Erst in jüngeren Arbeiten wird dezidiert darauf abgehoben, dass sie als sinnstiftende Performanzphänomene zur Erfassung von Textbedeutung und -funktion vor allem von Texten und Textsorten im öffentlichen Raum unerlässlich sind. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl textlinguistischer Arbeiten, die sich etwa mit den Aspekten Materialität, Medialität und Ortsgebundenheit auseinandersetzen. Dagegen spielen zeitliche Aspekte (bislang) eine nur marginale Rolle in der Textlinguistik. Das verwundert insofern, als wir in unserer mediatisierten Textwirklichkeit mit zahlreichen Texten und Textsorten täglich zu tun haben, die nicht nur orts-, sondern auch zeitgebunden sind. Die Beiträge des vorliegenden Bandes zeigen anhand unterschiedlicher Textsorten und Handlungsbereiche, dass es geradezu unerlässlich ist, sich mit der Zeitlichkeit in der Textkommunikation zu befassen.
