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Das Phantastische in der deutschsprachigen Literatur

E.T.A. Hoffmann (1776–1822)

0304
2024
978-3-8233-9613-0
978-3-8233-8613-1
Gunter Narr Verlag 
María Rosario Martí Marco
Jesús Pérez-García
10.24053/9783823396130

Der Meister der europäischen Phantastik E.T.A. Hoffmann ist zweihundert Jahre nach seinem Tod lebendiger denn je. Aus diesem Anlass ist ein Sammelband entstanden, der sich die Auseinandersetzung mit Werk und Erbe des bedeutenden Klassikers zur Aufgabe gesetzt hat. Renommierte Forscher:innen aus Deutschland, Spanien, Italien, der Türkei und Georgien bieten neuere Ansätze zur phantastischen Literatur an. An erster Stelle stehen neue Einsichten in die Erzählungen des romantischen Genies, das von seinen Zeitgenossen als ,Gespenster-Hoffmann' bezeichnet wurde: von den nuancierten Frauenfiguren über die Bearbeitung und Überwindung tief verwurzelter Stereotypen einer konservativen aber lesefreudigen Gesellschaft bis hin zu der kreativen Einarbeitung der Radierkunst in der Manier von Jacques Callot, der Commedia dell'arte und der Capriccio-Tradition. Ferner wird das Weiterwirken von Hoffmanns Kunst durch andersartige und neuere phantastische literarische Werke veranschaulicht, die an den Schnittstellen zur Psychoanalyse, zum Neoorientalismus oder zur Nachkriegs- und Gedächtnisliteratur stehen.

<?page no="0"?> Popular Fiction Studies 9 María Rosario Martí Marco / Jesús Pérez-García (Hrsg.) Das Phantastische in der deutschsprachigen Literatur E.T.A. Hoffmann (1776-1822) <?page no="1"?> Das Phantastische in der deutschsprachigen Literatur <?page no="2"?> Popular Fiction Studies edited by Eva Parra-Membrives (†) and Albrecht Classen volume 9 <?page no="3"?> María Rosario Martí Marco / Jesús Pérez-García (Hrsg.) Das Phantastische in der deutschsprachigen Literatur E.T.A. Hoffmann (1776-1822) <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823396130 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2197-6392 ISBN 978-3-8233-8613-1 (Print) ISBN 978-3-8233-9613-0 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0518-7 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Diese Veröffentlichung wurde vom Ministerium für Innovation, Universitäten, Wissen‐ schaft und digitale Gesellschaft der Regionalregierung der Comunitat Valenciana (Spa‐ nien) gefördert. Projekt CIAORG/ 2021/ 57: „Das Phantastische in der deutschsprachigen Literatur. E.T.A. Hoffmann und sein Beitrag zum Genre der Phantastik“. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> In Erinnerung an Prof. Dr. Eva Parra Membrives, eine passionierte Gelehrte und Erneuerin der Germanistik an der Universität Sevilla; und an Prof. Dr. Antonio Regales Serna, Gründer der Germanistik an der Universität Valladolid <?page no="7"?> 11 19 27 37 47 63 71 83 Inhalt Hans Richard Brittnacher „Seltsamer und wunderlicher kann nichts erfunden werden […]“ - einleitende Bemerkungen zum Phantastischen in der deutschen Literatur und zu E.T.A. Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jesús Pérez-García Die östlich-orientalische Verzweigung und Üppigkeit der Phantastik nach E.T.A. Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . María Rosario Martí Marco Die Topographie der Angst in der phantastischen Literatur. Eine Vermessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattungen und Motive Tamar Kiguradze Der Butt von Günter Grass. Die Phantasie und das Phantastische im historischen Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . María Rosario Martí Marco Das Motiv der Bibliothek in der deutschsprachigen phantastischen Literatur E.T.A. Hoffmann. Unheimliches im Spiegel eines selbstgefälligen Bürgertums Şebnem Sunar Eine schreckenerregende Dialektik: Die bürgerliche Familie als Ort und Quelle der Angst in E.T.A. Hoffmanns „Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf-Peter Janz Komische Verwirrungen in E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla . . . . . . . Berta Raposo Anselmus im Krieg. E.T.A. Hoffmanns Erzählung Erscheinungen und Dresdens doppeltes Gesicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> 97 109 121 137 151 171 185 197 207 Wahn, Wissenschaft, Okkultismus Inge Stephan Scharlatane. Grenzgänger zwischen Wahn und Wissenschaft in E.T.A. Hoffmanns Erzählungen Der Magnetiseur (1813) und Die Automate (1814) . Gianluca Paolucci Serapiontisches Prinzip und magnetische Anthropologie bei E.T.A. Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefania Acciaioli Die Nachtseite der Kunst und der Wissenschaften: E.T.A. Hoffmanns Nachtstücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologie und Orientalismus Ricarda Hirte E.T.A. Hoffmann, Sigmund Freud und die Phantastik - eine Verbindung am Beispiel der Novelle Der Sandmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jesús Pérez-García Gumiho (2012) und Christine Wunnickes Der Fuchs und Dr. Shimamura (2015). Die narrative Inszenierung der Füchsin/ Fuchses im Ost-West-Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frauengestalten Hans Richard Brittnacher Tödliche Mütter - eine Obsession . E.T.A. Hoffmanns in Cyprians Erzählung (Vampyrismus) (1821) und Die Bergwerke zu Falun (1819) . . . . . . . . . . . . . . . Lydia Schieth Die Funktion phantastischer Frauengestalten in ausgewählten Texten E.T.A. Hoffmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ana Muñoz Gascón Bertolt Brechts Faszination für die magische Anziehungskraft der Heldin Okichi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phantastik und die Herausforderungen der Moderne Rolf G. Renner Kafkas fantastischer Weg in die Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 217 227 241 255 269 271 Rosa Pérez Zancas „Wir wurden alle mit einer blauen Nummer am Arm geboren“. Nachgedächtnis und Fantastik in Doron Rabinovicis Roman Suche nach M. Loreto Vilar Phantasie, Wirklichkeit und sozialistischer Realismus. Zum Gespenster-Hoffmann von Anna Seghers und Franz Fühmann . . . . . . . . . . . Alternative Perspektiven: Jugendliteratur und Naturbewusstsein Marc Arévalo Sánchez Hoffmanns Spuren in Phantásien. Zur Beziehung zwischen realer und fantastischer Welt in E.T.A. Hoffmanns Der goldne Topf und Michael Endes Die unendliche Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Catalina Soto de Prado Otero Vom Thüringer Wald zu den Phantasiegemälden. Ökoliterarische Annäherung an Ludwig Bechsteins literarisches Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="11"?> „Seltsamer und wunderlicher kann nichts erfunden werden […]“ - einleitende Bemerkungen zum Phantastischen in der deutschen Literatur und zu E.T.A. Hoffmann Hans Richard Brittnacher Im Jahre 2022 war des 200. Todestages von E.T.A. Hoffmann (Königsberg 1776 - Berlin 1822) zu gedenken. Aus diesem Anlass hat die Goethe-Gesellschaft in Spanien vom 26. bis 28. Oktober 2022 an der Universität Alicante eine Tagung ausgerichtet, die sich die Auseinandersetzung mit Werk und Erbe dieses bedeutenden Klassikers und verwandte Themen zur Aufgabe setzte. Als Rahmenthema war das Phantastische / die Phantastik festgelegt worden. Es hat lange gedauert, bis sich auch im deutschsprachigen akademischen Bereich die literarische Phantastik als Forschungsgegenstand etablieren konnte. Goethes Aversion gegen die romantischen ‚Lazarett-Poeten‘ und den ‚Ge‐ spenster-Hoffmann‘ sind bekannt: Am 24. September 1827 äußerte Goethe gegenüber Eckermann seinen literarischen Unmut über die zeitgenössische literarische Produktion: Die Poeten schreiben alle, als wären sie krank und die ganze Welt ein Lazarett. Alle sprechen sie von dem Leiden und dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jenseits und unzufrieden, wie schon alle sind, hetzt einer den andern in noch größere Unzufriedenheit hinein. Das ist ein wahrer Mißbrauch der Poesie, die uns doch eigentlich dazu gegeben ist, um die kleinen Zwiste des Lebens auszugleichen und den Menschen mit der Welt und seinem Zustand zufrieden zu machen. Aber die jetzige Generation fürchtet sich vor aller echten Kraft, und nur bei der Schwäche ist es ihr gemütlich und poetisch zu Sinne. Ich habe ein gutes Wort gefunden,‘ fuhr Goethe fort, ‚um diese Herren zu ärgern. Ich will ihre Poesie die ›Lazarett-Poesie‹ nennen; <?page no="12"?> 1 Goethe, Johann Wolfgang von (1976). Gespräche mit Eckermann. Gedenkausgabe Bd.-24. Zürich: Artemis, S.-268. 2 Goethe, Johann Wolfgang von (1996). The Foreign quarterly Review. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchener Ausgabe). Bd. 18.2. Hg. v. Johanns John u.-a. München, 94-97. 3 Goethe, Johann Wolfgang von (1989). Den Vereinigten Staaten. In. Ders.: Hamburger Ausgabe Bd.-1: Gedichte und Epen. Hg. von E. Trunz, München, S.-333. dagegen die echt ‚tyrtäische‘ diejenige, die nicht bloß Schlachtlieder singt, sondern auch den Menschen mit Mut ausrüstet, die Kämpfe des Lebens zu bestehen. 1 Das Unbehagen am fehlenden Optimismus der schwarzen Romantik und an ihrer fast lüsternen Apathie ist schwerlich zu überhören. Goethe hatte auch zustimmend das vernichtende Urteil zur Kenntnis genommen, das Walter Scott in seinem Aufsatz On the Supernatural in Fictitious Composition; and particularly on the Works of Ernest Theodore William Hoffmann (1827) gefällt hatte, wo E.T.A. Hoffmanns Literatur als die eines Geistesgestörten charakterisiert wird und damit Goethe aus der Seele sprach. Gewiss besitze Hoffmann ein „talentreiches Naturell“, das jedoch beeinträchtigt werde durch „krankhafte Verirrungen“, die „krampfhaften Äußerungen eines vorzüglichen auf den Tod gefolterten Wesens“. Wer habe „nicht mit Trauer gesehen daß diese krankhaften Werke des leidenden Mannes lange Jahre in Deutschland wirksam gewesen und solche Verwirrungen als bedeutend fördernde Neuigkeiten gesunden Gemütern einge‐ impft worden“? 2 Fast beschwörend lesen sich Goethes insistierende Hinweise auf dem ‚Krankhaften‘ als dem Quell einer ihm befremdlichen poetischen Kreativität. Zu dem Unmut über das Pathologische, an dem die romantische Ge‐ neration so befremdliches Gefallen fand, gesellt sich das ästhetische Missfallen an jenen trivialen Stoffen, an Verbrechen und an gespenstischen Erscheinungen, an der Nachtseite der Welt, mit denen der Unterhaltungsroman des 18. Jahr‐ hunderts seine Leser gefunden hatte, darunter auch ein Roman aus der Feder von Goethes Schwager Christian August Vulpius über den Räuberhauptmann Rinaldo Rinaldini, der 1799 in Leipzig erschienen war. In seinen Den vereinigten Staaten überschriebenen Versen beglückwünscht Goethe die Amerikaner, sich nicht mit der Last einer jahrhundertealten Geschichte und ihrer verfallenen, von Schlossgespenstern heimgesuchten Relikte plagen zu müssen und schließt mit der Empfehlung: „Benutzt die Gegenwart mit Glück! / Und wenn nun eure Kinder dichten, / Bewahre Sie ein gut Geschick / Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.“ 3 Dass die von Goethe gescholtene Art von stoffhungriger Literatur keines‐ wegs den Dienstboten vorbehalten war, wie ein hartnäckiges Gerücht der 12 Hans Richard Brittnacher <?page no="13"?> 4 Vgl. dazu Arnold-de Simine, Silke (2000). Leichen im Keller. Zu Fragen des Gender in Angstinszenierungen der Schauer- und Kriminalliteratur (1790-1830). (Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft 22). St. Ingbert: Röhrig. 5 Kleist, Heinrich (1997). An Wilhelmine von Zenge, 14. September 1800. In Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 4: Briefe. Hg. von Klaus Müller-Salget u. Stefan Ormanns. Frankfurter Ausgabe. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1997, S. 121. 6 Zu den Aushandlungs-, Recycling- und Kanonisierungsprozessen, die die literarische Phantastik von der kulturellen Peripherie ins Zentrum befördern, vgl. exemplarisch Ruthner, Clemens (2004). Am Rande. Kanon, Kulturökonomie und Intertextualität des Marginalen am Beispiel der (österreichischen) Phantastik im 20. Jahrhundert. Basel, Tübingen: Francke. germanistischen Leseforschung gern behauptet, 4 illustriert die Anekdote, in der ein Bibliothekar der Würzburger Bibliothek den nach Lesestoff von Wieland, Schiller oder Goethe suchenden Kleist abschlägig bescheiden muss. Auf dessen Frage: „Was stehen denn also eigentlich für Bücher an diesen Wänden? “ lautet die Antwort: „ Rittergeschichten, lauter Rittergeschichten, rechts die Ritterge‐ schichten mit Gespenstern, links ohne Gespenster, nach Belieben.“ 5 Aber auch Goethes Vorbehalte gegen den zweifelhaften Geschmack des Le‐ sepublikums und die zweifelhafte Gesinnung der Literaten, die diesen bedienten, haben ihn nicht davon abgehalten, in seinem Faust ein phantastisches Thema par excellence, den Teufelspakt, als Motor der dramatischen Verwicklungen einzusetzen, die Leser in seinen Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten mit Gespenstergeschichten zu irritieren oder in seiner Braut von Korinth einer anmutigen Vampirin das Wort für eine Philippika gegen das sinnenfeindliche Christentum zu erteilen: Das Figuren- und Themeninventar der Phantastik ver‐ fügt offenbar über eine archetypische Evidenz, die anders für die Literatur kaum zu gewinnen ist. Auch Goethes zuverlässigster Kombattant in publizistischen und literaturstrategischen Fragen, ohnehin kein Freund des Romans, Friedrich von Schiller, hat mit seinen leider Fragment gebliebenen Roman Geisterseher, dessen Verfertigung er mit unzähligen Flüchen begleitete, im Ausland mehr Leser gefunden als mit allen anderen seiner Werke. Spätestens die literaturpolitische Frontbegradigung des romantischen Zeital‐ ters hat der lange verpönten, als trivial und sogar als pathologisch geschmähten Phantastik auch in der deutschsprachigen Literatur zum Anschluss an den Kanon verholfen: 6 Die Kunstmärchen der Romantik und schaurige Erzählungen des Biedermeier und des Realismus haben dem Phantastischen literarische Anerkennung erschrieben, in der Literatur des Fin de siècle und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts etabliert sich, vor dem Hintergrund der grundstürzenden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und der literarischen Innovationen der Avantgarde, die Phantastik mit ihren Themen als eine den Einleitende Bemerkungen 13 <?page no="14"?> 7 Eisner, Lotte (1955). Die dämonische Leinwand. Wiesbaden: Der neue Film. 8 Detaillierter dazu Brittnacher, Hans Richard/ May, Markus (2013): Phantastik-Theorien. In: Brittnacher Hans / May Markus (Hrsg.) Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Weimar: Metzler, 189-198. 9 Das gilt auch für die beiden grundlegenden Ansätze von Roger Caillois und Tzvetan Todorov, deren Übersetzungen ins Deutsche auch die hiesige Diskussion ausgelöst haben: Caillois, Roger (1980). Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction. In: Phaicon 1, hg. von Rein A. Zondergeld. Frankfurt a.M.: Insel, 44-83; Todorov, Tzvetan (1975). Einführung in die fantastische Literatur. Berlin, München: Ullstein. Eine Diskussion unterschiedlicher neuerer Phantastik-Ansätze bietet der Band: Ruthner, Clemens/ Reber, Ursula/ May, Markus (Hrsg.) (2004). Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur. Tübingen: Francke Verlag. 10 Vgl. dazu Grizelj, Mario (Hrsg.) (2010). Der Schauer(roman). Diskurszusammenhänge, Funktionen, Formen. Würzburg: Königshausen & Neumann. Zur Science Fiction: Innerhofer, Roland (2013): Science Fiction. In: Brittnacher/ May (Hrsg.) 318-327. Zur Fantasy: Rüster, Johannes (2013). Fantasy. In: Brittnacher/ May (Hrsg.) 284-293. literarischen mainstream mitbestimmende Gestaltungsweise. Der Siegeszug des Films, der auch die Literatur nicht unbeeindruckt ließ, war ohne das virtuose Spiel mit phantastischen Irritationen nicht zu denken. Die dämonische Leinwand hatte Lotte Eisner ihre große Monographie über den expressionisti‐ schen Stummfilm genannt. 7 Heute bedarf die Phantastik nicht länger jener akademischen Anerkennung, die ihr so lange verweigert wurde: sie lebt immer noch als Genreliteratur fort, hat sich aber längst auch in der mainstream-Kultur eingenistet. Die literarische Phantastik bestellt ihr Feld auf drei thematisch umfang‐ reichen und systematisch sehr heterogenen Bereichen, die man in grober Vereinfachung als Schauerphantastik, Science Fiction und Fantasy bezeichnen kann. 8 Gemeinsam ist den drei Bereichen ein Konflikt zwischen der realen, uns vertrauten, epistemisch zugänglichen und rational organisierten Welt einerseits und einer kontingenten, übernatürlichen oder unberechenbaren, dem Menschen tendenziell feindseligen Ordnung auf der anderen Seite. Dieser Konflikt kann unterschiedliche Gestalten annehmen. In seiner Einschätzung als Schlüsselkri‐ terium sind sich die unterschiedlichen Theoretiker der Phantastik einig, in den Modulationen dieses Konflikts, in der Bewertung seiner Erfahrung, in der Ge‐ staltung seiner Ausprägungen und der Bewertung seiner Implikationen herrscht hingegen fruchtbarer Dissens. 9 Die Schauerphantastik thematisiert massive Vorbehalte gegen eine allzu selbstverständliche Geltung des common sense und gegen ein allzu hochmütiges Selbstbewusstsein der Vernunft, die beim Leser - zumindest tendenziell - ästhetische Erfahrungen der Irritation produzieren, die von Unbehagen bis zu Entsetzen reichen. 10 Während die Schauerphantastik also verstörende Einbrüche in eine bekannte und vertraute Welt bilanziert, the‐ 14 Hans Richard Brittnacher <?page no="15"?> 11 Vgl. zum expliziten Modernismus der Phantastik die Monographie von Wünsch, Mari‐ anne (1991). Die fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890-1930). Definition. Denkgeschichtlicher Kontext. Strukturen. München: Fink; sowie, mit Konzentration auf die slawische Tradition, Lachmann, Renate (2022). Erzählte Phantastik: Zu Phanta siegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 12 Zum Unheimlichen als der Zentralkategorie der Schauerphantastik vgl. den Beitrag von Geisenhanslüke, Achim (2013). Das Unheimliche. In. Brittnacher/ May (Hrsg.) 579-583. matisiert die Science Fiction die Begegnung mit einem fremden, unbekannten Realitätsprinzip auf anderen Planeten, in fremden Galaxien oder in einer noch fernen Zukunft. Der Ordnungskonflikt ist für diese Spielart des Phantastischen so selbstverständlich, dass er gleichsam seinen verstörenden Charakter einbüßt: Die Aufhebung der Schwerkraft im Weltraum mag erstaunlich wirken, stellt aber kein skandalöses Phänomen dar. Im dritten Fall, der sogenannten Fantasy, ist die verstörende Dimension des Ordnungskonflikts nahezu aufgehoben, hier wird oft sogar auf die für die Phantastik an sich verbindliche Abgrenzung vom Wunderbaren des Märchens verzichtet: An einem zumeist am Mittelalter orientierten Schauplatz erleben die Helden und Heldinnen dieser Literatur, die oft mit ungewöhnlichen körperlichen und magischen Kräften ausgestattet sind, turbulente Abenteuer. Sword and sorcery, Schwert und Hexerei, geben dem Genre in der angelsächsischen Welt seinen treffenden Namen. Während die Schauerphantastik auch in der deutschen Literatur namhafte Vertreter gefunden hat und mehrere literaturgeschichtliche Konjunkturen erlebte, sind die Science Fiction (früher oft unter dem Begriff „Zukunftsro‐ mane“ aufgefasst) eher marginal und die Fantasy überwiegend im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur vertreten. Aber auch dort, wo die Phantastik eher peripher als zentral und eher populär als anerkannt erscheint, verdankt ihr die Literaturgeschichte gewichtige poetische Einsprüche und die Markierung politischer und philosophischer Krisen: Sie hat maßgeblich nonkonformistische ästhetische Positionen formuliert, fundamentale Irritationen der Epistemik und des Bewusstseins beschrieben, Verlusterfahrungen zu markantem Ausdruck verholfen, die Geltung von Normen befragt, 11 Begriffe wie Fremdheit oder Unheimliches neu kalibriert und auch das Unwahrscheinliche (un)erschrocken zu denken versucht. 12 Maßstäbe gesetzt hat in dieser Hinsicht das Werk des Romantikers E.T.A. Hoffmann, der zwar zu Lebzeiten als Dichter und Komponist einige Erfolge feiern konnte, doch nach seinem Tod bei den jüngeren Zeitgenossen bald in Vergessenheit geriet und erst über seine Rezeption bei Edgar Allan Poe und Charles Baudelaire auch in seiner Heimat die verdiente Anerkennung gefunden Einleitende Bemerkungen 15 <?page no="16"?> 13 Einen Überblick zum Forschungsstand liefert Lubkoll, Christine/ Neumeyer, Harald (Hrsg.) (2015). E.T.A. Hoffmann Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler. hat. 13 Sein 200. Todestag gibt Anlass, über eine wesentlich von ihm inspirierte Phantastik und ihre innovative Leistung zu diskutieren. Hoffmann hat nicht nur kernromantische Themen wie Nacht, Traum und Wahnsinn ins Zentrum seiner Texte gestellt, er hat der Begegnung seiner Helden mit Elementargeistern zu beängstigendem und betörendem literarischen (und, man denke an Undine, auch zu musikalischem) Eindruck verholfen, er hat über die Nachtseiten der Wissenschaften (Magnetismus, Somnambulismus, Hellsehen etc.) als Korrektiv eines aufklärerischen Hochmuts nachgedacht, hat mit Themen wie Satanismus, Doppelgänger und Identitätsverlust (in kaum glaublicher Konzentration in Die Elixiere des Teufels) markante Stichworte der modernen Angst vor Selbst‐ entmächtigung benannt und in seinen Nachtstücken, vor allem in der bis zur Erschöpfung interpretierten Erzählung Der Sandmann, der Angst vor einer seelenlosen Welt des Künstlichen ein überzeugendes Szenario geliefert. E.T.A. Hoffmann bleibt, weit über den deutschen Sprachraum und weit über die phantastische Literatur hinaus, eine bestimmende Größe der Literaturge‐ schichte. Die Referate der XVII. Tagung der Goethe-Gesellschaft in Spanien haben sich vorgenommen, dies auszumessen, auch und gerade indem sie sich nicht auf die Person Hoffmann und dessen Werk im engen Sinne beschränken. Die hier versammelten Beiträge blicken zurück auf eine nach Hoffmann üppig prosperierende Literaturlandschaft, und viele unter ihnen liefern eigenwillige Stellungnahmen zu einer lange missachteten Tradition. Sie demonstrieren die Produktivität unterschiedlicher methodischer Zugänge zu Hoffmanns Werken, die bei aller Differenz doch darin übereinkommen, Hoffmann als eine Schlüs‐ selfigur am Übergang von Aufklärung und Romantik zu begreifen, dessen polyphone Texte die konfligierenden Diskurse von Tradition und Moderne exemplarisch aushandeln. Die Stellung Hoffmanns im literarhistorischen Kon‐ text des Goethezeitalters, aber auch der Romantik, im Vergleich mit anderen Solitären der Sattelzeit (Kleist, Hölderlin, Jean Paul), in seinen Beziehungen zu den Berliner ‚Serapionsbrüdern‘ (Fouqué, Contessa oder Chamisso) und schließlich seine vielfältige Tätigkeit als Dichter, Gerichtsrat, Komponist und Zeichner runden diese vielgefächerte Thematik ab. Mehrere Beiträge tragen der Relevanz genderorientieter Fragestellungen Rechnung und untersuchen die Gestaltung von Frauen in der literarischen Phantastik. Frauen treten nicht nur als Protagonistinnen oder Schlüsselfiguren des Phantastischen auf, sie haben auch als Autorinnen, besonders im 19. Jahr‐ hundert, für die moderne Entwicklung der Gattung Entscheidendes geleistet, 16 Hans Richard Brittnacher <?page no="17"?> man denke an Ann Radcliffe oder Mary Shelley. Die neuen Erkenntnisse der women´s studies erlauben es heute, der in patriarchalischen Gesellschaften häufigen Ausblendung oder Zurückdrängung der Frau wissenschaftlich entge‐ genzuwirken. Auch in dieser Hinsicht zeigen Hoffmanns Werke trotz ihrer vordergründigen Bekräftigung überlieferter Geschlechterdichotomien oft auch eine verblüffende, irritierende Modernität. In der aktuellen Perspektive einer kritischen Germanistik dürfen auch erin‐ nerungskulturelle und ökokritische Dimensionen des Phantastischen nicht un‐ berücksichtigt bleiben. Das Thema des Waldes und der Konsens der deutschen Selbstwahrnehmung als einer für Fragen der Naturverbundenheit sensiblen Nation gelten seit je als feste Bestandteile der deutschen Kultur und haben immer wieder in der Literatur und den Künsten Ausdruck gefunden. Das aktuell verstärkte ökologische Bewusstsein setzt diese Entwicklung mit neuen Formaten - Kino, Serien oder Videospiele (Gaming) - fort. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang eine Studie zu Michael Ende Die unendliche Geschichte, einem Werk, das auch als Film außerordentlich erfolgreich war - ohne E.T.A. Hoffmann wäre dieser literarische und filmische Meilenstein der modernen Phantastik kaum zu verstehen. Schließlich musste auch die Einzigartigkeit des österreichischen Kulturraums und seiner Literatur bedacht werden, die etwa in dem Beitrag zu Doron Rabinovici hervorgehoben wird. Es war mir eine große Freude, mein bescheidenes Wissen zur literarischen Phantastik mit Kollegen aus Spanien und aus aller Welt nach Alicante An‐ gereisten teilen und in einer einmaligen, sachlich so leidenschaftlichen wie persönlich freundschaftlichen Atmosphäre diskutieren zu können. Ihnen allen gilt mein Dank für eine wunderbare Kooperation, die - dessen bin ich mir sicher - neue Horizonte erschießen wird. Literaturverzeichnis Arnold-de Simine, Silke (2000). Leichen im Keller. Zu Fragen des Gender in Angstinsze‐ nierungen der Schauer- und Kriminalliteratur (1790-1830). (Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft 22). St. Ingbert: Röhrig. Brittnacher Hans Richard / May Markus (Hrsg.) (2013). Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Weimar: Metzler Brittnacher, Hans Richard/ May, Markus (2013). Phantastik-Theorien. In: Brittna‐ cher/ May (Hrsg.) 189-198. Caillois, Roger (1980). Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction. In: Phaicon 1, hg. von Rein A. Zondergeld. Frankfurt a.M.: Insel, 44-83 Eisner, Lotte (1955). Die dämonische Leinwand. Wiesbaden: Der neue Film. Einleitende Bemerkungen 17 <?page no="18"?> Geisenhanslüke, Achim (2013). Das Unheimliche. In. Brittnacher/ May (Hrsg.) 579-583. Goethe, Johann Wolfgang von (1976). Gespräche mit Eckermann. Gedenkausgabe Bd. 24. Zürich: Artemis 1976, S.-268. Goethe, Johann Wolfgang von (1989). Den Vereinigten Staaten. In. Ders.: Hamburger Ausgabe Bd.-1: Gedichte und Epen. Hg. von E. Trunz, München, S.-333. Goethe, Johann Wolfgang von (1996). The Foreign quarterly Review. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchener Ausgabe). Bd. 18.2. Hg. v. Johanns John u.-a. München, S.-94-97. Grizelj, Mario (Hrsg.) (2010). Der Schauer(roman). Diskurszusammenhänge, Funktionen, Formen. Würzburg: Königshausen & Neumann. Innerhofer, Roland (2013): Science Fiction. In: Brittnacher/ May (Hrsg.) 318-327. Kleist, Heinrich von (1997). Sämtliche Werke und Briefe. Bd.-4: Briefe, hg. von Klaus Müller-Salget u. Stefan Ormanns. Frankfurter Ausgabe. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. Lachmann, Renate (2022). Erzählte Phantastik: Zu Phantasiegeschichte und Semantik p hantastischer Texte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lubkoll, Christine/ Neumeyer, Harald (Hrsg.) (2015). E.T.A. Hoffmann Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler. Rüster, Johannes (2013). Fantasy. In: Brittnacher/ May (Hrsg.) 284-293 Ruthner, Clemens (2004). Am Rande. Kanon, Kulturökonomie und Intertextualität des Marginalen am Beispiel der (österreichischen) Phantastik im 20.-Jahrhundert. Basel, Tübingen: Francke. Ruthner, Clemens/ Reber, Ursula/ May, Markus (Hrsg.) (2004). Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur. Tübingen: Francke Verlag 2004. Todorov, Tzvetan (1975). Einführung in die fantastische Literatur. Berlin, München: Ullstein. Wünsch, Marianne (1991). Die fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890-1930). Definition. Denkgeschichtlicher Kontext. Strukturen. München: Fink. 18 Hans Richard Brittnacher <?page no="19"?> 1 „Ahora [en el siglo XIX] que el universo del hombre se ha convertido casi en un lugar de encuentro, la novela de aventuras explorará nuevos caminos por lo ignoto: la vuelta al pasado de las novelas históricas (Walter Scott), la exploración del futuro en las novelas de anticipación ( Jules Verne), ‚el viaje a través del tiempo‘ (H. G. Wells), son tan sólo algunos de los nuevos espacios conquistados para la aventura.“ (Rodríguez Rivero, Manuel (1985 [1982]). Introducción a la novela de aventuras. In: Pushkin, Alexander S. La hija del Capitán. Madrid: Ediciones Generales Anaya, 7-34, hier S.-24).‘‘ Die östlich-orientalische Verzweigung und Üppigkeit der Phantastik nach E.T.A. Hoffmann Jesús Pérez-García Als die napoleonischen Kriege und das damit einhergehende revolutionäre Getümmel ausklangen, erhob sich die Romantik triumphierend. In Großbri‐ tannien erfolgte der Durchbruch der Romantik mit einem Siegeszug seines Kolonialreichs, das sich im 19. Jahrhundert unangefochten über den Globus erstreckte und den einheimischen legendären Stoff mit den kolonialistisch herausgefilterten Nachrichten von Beamten, Missionaren, Seeleuten und Sol‐ daten aus Indien und anderswo erweiterten. Das pure Erzählen mit mittelal‐ terlichem Schwerpunkt im Stil eines Walter Scott (1771-1832) gesellte sich zu den abenteuerlichen Berichten aus den fernliegenden Welten, die unter die verheißungsvolle Obhut der britischen Zivilisatoren geraten waren. 1 Die Kulturgeschichte Frankreichs verlief im 19. Jahrhundert weitgehend parallel zu derjenigen Englands. Auch den kontinentalgeprägten Deutschen gewährte die Romantik einen freien Flug, Blüte und Entfaltung des Phantasierens, wobei das orientalistische Konstrukt der überseeischen Unternehmen der Briten und Franzosen fehlte oder nur indirekt vorhanden war und das Triviale den Zwängen des formelleren deutschen Idealismus, der eng an die anspruchsvolle Philosophie gekoppelt war, unterzogen wurde. Ein Ventil für die Zwänge, denen die hohe Literatur unterlag, boten die phantastischen Geschichten von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776- 1822), der sich kreativ den internationalen Trends anschloss und aus inneren <?page no="20"?> 2 Mikanowski, Jacob (2023). Goodbye, Eastern Europe. An Intimate History of a Divided Land. London: Penguin Random House. (Deutsche Fassung: Adieu, Osteuropa. Kultur‐ geschichte einer verschwundenen Welt. Berlin: Rowohlt. 2023). Kräften eine neue mitteleuropäische phantastische Tradition hervorbrachte. Waren die geheimnisvollen Inhalte zunächst an ein ominöses Mittelalter und Lokalsagen gebunden, brauchte es nicht lange, um den Anschluss an wunder‐ same unerklärbare Stoffe und Motive aus ferner, exotischer und orientalistischer Tradition zu erlangen, die im Falle des deutschen Raums schon vor ihren Pforten vorzufinden war. Der Vampirismus aus Osteuropa beflügelte nämlich zu jener Zeit die Fantasie der irischen und britischen Insulaner, auch wenn manche von ihnen, wie Bram Stokers (1847-1912), Autor von Dracula, die bunte Vielfalt des Balkans nie vor Ort erlebt hatten, wo Byzanz, die magyarische und slawische Welt, Griechen, Rumänen, Nachfahren der venezianischen und genuesischen Tuch-, Gewürz und Sklavenhändler, die aus Zentralasien und Indien stammenden Tataren und Sinti und Roma sowie die sich nun langsam zurückziehenden Osmanen zusammenlebten, wo Europa auf Asien aufeinandertrafen. Osteuropa, wie Mikanowski es heute begreift, war und ist kein genau zu verortender Raum, es ist weder das Baltikum oder die Steppe noch der Balkan, sondern vielmehr ein imaginäres Konstrukt und ein Sammelsurium aus Mythen, Texten und kulturellem Gedächtnis. 2 E.T.A. Hoffmann, der selbst aus östlichen (und nördlichen) Gegenden Eu‐ ropas stammte, war in den Bann dieser Mythen und Themen geraten. Die Zeichnungen und Illustrationen seiner ersten märchenhaften Publikationen lassen eher an ein durch Italien herausgefilterten Orientalismus denken, wie dieser sich in der Commedia dellʼarte und den Opern des 17. und 18. Jahrhunderts ausdrückte. Vielleicht polterte es nicht so sehr in den deutschen Burgen und Schlössern, wie in den von untergegangen Kelten bestimmten maisons hantées oder haunted houses der Franzosen und Briten, doch das hinderte Hoffmann nicht daran, gespenstische dämonische Urkräfte heraufzubeschwören, an denen die Legendenwelt des nach Osten und Süden hinreichenden deutschen Kultur‐ raums auch nicht fehlten, der desto vielfältiger und kulturell undurchsichtiger wurde, je weiter von seinem geographischen Schwerpunkt entfernt lag. Es ist kein Wunder, dass die wundersamen Erzählungen Hoffmanns, so komplex und polyphon, in der Lage waren, eine sofortige Resonanz jenseits des deutschen Sprachraums zu erreichen. Und dabei waren sie auch elastisch und facettenreich genug, um eine Kettenreaktion literarischer innovativer Schöpfungen in Gang zu setzen. 20 Jesús Pérez-García <?page no="21"?> Mehrere Beiträge in diesem Band veranschaulichen dieses Potenzial und die Entwicklung der hoffmannschen Welt, auf die in den nächsten Seiten hingewiesen werden soll. Nicht besprochen werden in dieser Einleitung sonstige Einzeldarstellungen dieses Buchs, die weiteren höchst interessanten Aspekten der von Hoffmann neu angestoßenen phantastischen Tradition gewidmet sind, die jedoch im Vorwort von Hans Richard Brittnacher und in der Einleitung von Rosario Martí ausgiebig erörtert werden. Ein gutes Beispiel der hoffmanschen Kreativität ist die Verbindung von Ghoul und Frauenfiguren. Der Ghoul ist ein Dämon der arabischen Folklore, der bösartig seine Feinde heimsucht und menschliches Aas verzehrt. Solche Vorstellungen mögen auch die Geisterwelt von E.T.A. Hoffmann bevölkert haben. Wie wiederholt von der Kritik herausgestellt worden ist, schilderte der preußische Erzähler die Frau vornehmlich als Quell des Schreckens, eine Furie im Leben und ein Ghoul im Tod. Hans Richard Brittnacher reflektiert in seinem Beitrag diesem Sachverhalt, hinterfragt jedoch die offensichtliche Botschaft und erkundet versteckte Hintergedanken. Weibliche Stereotypen, die einer alten weit verbreiteten Tradition angehörten, spiegeln nicht so sehr eine misogyne Voreingenommenheit des Autors wieder, sondern signalisieren einen Zeitgeist, und zwar jenen der Romantik als Zeitalter der Entfremdung und eines grundsätzlichen Zweifels an der menschlichen Brüderlichkeit. Lydia Schieth analysiert ebenfalls die Frauenbilder im Detail und stimmt in vieler Hinsicht mit Brittnacher überein. Frauen weisen bei Hoffmann selten ein außergewöhnliches Profil auf, wie das in Der goldne Topf, Meister Floh oder Der Sandmann festzustellen ist. Dabei spielten Frauen eine besondere Rolle im Literaturbetrieb der Zeit, der die Aufträge, Publikation und Vermarktung der hoffmannschen Geschichten ermöglichte. Um 1800 waren die Lesegewohn‐ heiten ohne die eifrige Lektüre von Almanachen und Taschenbüchern, die bevorzugt an Frauen gerichtet waren, nicht zu verstehen. Hoffmann verzerrte demgemäß nicht die weiblichen Charakteure nach eigenem Antrieb, sondern fügte sich exakt in das Frauenbild der Spätaufklärung und in die gewünschten Schemata der gängigen Frauentaschenbücher ein. Frauen sind zwar ein zentrales Thema bei E.T.A. Hoffmann. Im Geiste der patriarchalischen Gesellschaft und der westlichen Tradition sind weibliche Stilisierungen immer wieder im Kontext der magischen okkulten Kräfte gestellt worden, die die gesellschaftliche Ordnung aus dem Ruder zu bringen drohen. E.T.A. Hoffmann blieb, obschon er auch italienische und orientalistische (Orient im Sinne des Mittleren Osten) Motive einblendete, einer westlichen Dimension verbunden. Westlich im Sinne einer weitgefassten kulturgeschichtlichen Auf‐ fassung, die nicht nur die westeuropäischen und byzantinisch-osteuropäischen Die östlich-orientalische Verzweigung und Üppigkeit der Phantastik nach E.T.A. Hoffmann 21 <?page no="22"?> 3 Busch, Werner (1977). Piranesis »Carceri« und der Capriccio-Begriff im 18. Jahrhundert. Wallraf-Richartz-Jahrbuch 39, 209-224, hier 216. 4 Eine weitere Eingrenzung des Begriffs „capricho“ bei Goya liefern Jacobs, Helmut C./ Preyer, Nina (2019). Goya für alle. Einführung in die Caprichos. Kögnishausen & Neumann: Würzburg, hier S. 9: „Zu Goyas wichtigsten und am häufigsten rezipierten Werken zählen die 1799 erschienenen Caprichos, 80 Aquatinta-Radierungen, in denen die zeitgenössische spanische Gesellschaft in ihren unterschiedlichen Facetten in sozialkritischer und satirischer Absicht dargestellt wird. Der Zyklus sollte zunächst den Titel Sueños (Träume) tragen […]. In der Epoche der spanischen Aufklärung war der Sueño in Spanien eine weitverbreitete literarische Gattung mit meist satirischen Inhalten, die sich beispielsweise in den moralischen Wochenzeitschriften der zweiten Hälfte des 18.-Jahrhunderts oft findet.“ zwei Hälften und Seelen Europas, sondern auch, und insbesondere, den Mittel‐ meerraum und die arabisch/ persisch und muslimisch geprägten Zivilisationen des Nahen Ostens und Mittelmeerraums umfasste, die in der griechischen Antike, während der Kreuzzüge und der italienischen Renaissance - oder auch im Zeitalter der romantisch-wissenschaftlichen Orientexpeditoinen des 19. Jahrhunderts - nie aufhörten, wichtige und innovative Impulse aus der Märchen- und Legendenwelt in die europäische Kultur zu vermitteln. Der Beitrag von Rolf-Peter Janz zu E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla. Ein Capriccio nach Jakob Callot (1820) veranschaulicht den Bezug zu einer nahen europäischen Exotik. Näher betrachtet werden Jacques Callots Radierungen aus dem Jahr 1622, die Szenen der Commedia dell’arte darstellen. Dass Hoffmann mehrere dieser Illustrationen, die einen spielerischen karnevalistischen Hauch orientalischer Inspiration haben, für seine Erzählung wählte, weist sein Faible für die Exotik nach. Der Beitrag greift auf die Ursprünge der Capriccio-Gattung des 16. Jahrhunderts zurück, die in den bildenden Künsten, in architektonischen Skizzen und in der Musik beheimatet war und die Lebensrealität mit dem Wun‐ derbaren konfrontierte. Der Capriccio sollte auch während der Aufklärung zu einem zentralen Begriff avancieren, als die Annahme einer alles überdeckenden Rationalität nie einen vollen Sinn ergab. 3 Schon Edmund Burkes Traktat aus dem Jahr 1756 zur Unterscheidung des Sublimen und des Schönen („The Sublime and the Beautiful“) stellte das Primat der Räson in Frage. Und genauso die Capriccio-Zeichnungen von Giovanni Batista Tiepolo (1743), welche die Größen der klassischen Zeit, aber gleichzeitig auch eine in Dekadenz begriffener Welt evozierten. Später sollte dieser Keim des Capriccios bei Francisco de Goya (Los caprichos, 1799) und bei Hoffmann verstärkt aufgehen. 4 Die immer noch nicht gelöste fundamentale Grundfrage der Phantastik-Studien, etwa eines inhärenten, sich widersprechenden Dualismus, wie sich Realität und Phantasie zueinander verhalten, wird bei diesem Beitrag hinterfragt. Spuk und Hexen der 22 Jesús Pérez-García <?page no="23"?> 5 „[…] Zukunftsromane [=Science-Fiction] verweisen in eine vorstellbare Zukunft, wäh‐ rend sich Phantastik auf eine imaginäre Welt bezieht […]. Sci-Fi ist vorwärtsgerichtet, bei ihr stehen soziale und wissenschaftliche Fragestellungen im Vordergrund. Phan‐ tastik, oder die im anfänglichen 21 Jahrhundert populären Formen Fantasy oder Heroic Fantasy, erschaffen jedoch imaginäre regressive Welten mit der Vergangenheit als Kulisse. An die Stelle der Wissenschaft tritt hier die Magie“, in Pérez-García, Jesús (2021). Hans Dominiks Zukunftsroman Die Spur des Dschingis-Khan. Reisen und Siedlung in Zentralasien mit einer Klimautopie im Hintergrund. In Raposo, B./ Prado- Wohlwend, C. (Hrsg.) Reisen in der deutschen Literatur: Realität und Phantasie. Peter Lang: Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford et al., 147-158, hier S.-148-149. 6 Exemplarisch dafür steht Harari, Yuval Noah (2014). A Brief History of Mankind. London: Harvill Secker. Romantik erscheinen erheblich sinnvoller, wenn sie aus dieser Kontextualisie‐ rung betrachtet werden. Tamara Kiguradze kombiniert eine Bestandsaufnahme der Definitionen zum Phantastischen mit einer Studie zum Roman Der Butt (1977) des Nobelpreis‐ trägers Günter Grass. Sie geht von den maximalistischen Ansätzen aus, die eine Überschneidung der realistischen Ebene mit Elementen des Irrealen, Sur‐ realen, Wunderbaren, Bizarren, Grotesken und allgemein Geheimnisvollen und Okkulten voraussetzen, bis hin zu den minimalistischen Herangehensweisen, die konkrete Gattungen, wie Märchen, Phantastik oder Sci-Fi abzugrenzen ver‐ suchen. 5 Mit Prägnanz bietet dieser Beitrag einen Einblick in eine faszinierende und kontroverse Literaturdiskussion. Das gewählte Corpus und Paradebeispiel ist ein visionärer Roman der Gegenwartsliteratur. In Der Butt besitzt ein Ich- Erzähler die phantastische Eigenschaft, sich in Figuren der Vergangenheit zu versetzen. Dadurch entsteht eine Weltgeschichte, die in gewisser Hinsicht mit dem jüngsten Trend der weltumspannenden Überblicke, die im 21. Jahrhundert die Globalisierungsphänomene heute und gestern neu betrachten, und das Wirken und Einwirkung der Menschheit als ein holistisches jahrtausendüber‐ greifendes Phänomen umfassen. 6 Die Erweiterung der heimischen kulturellen Horizonte war bei der Phantasie seit jeher eine Verpflichtung und ein Drang. Die Unzulänglichkeit des Heimi‐ schen war immer ein oft anzutreffendes Gefühl unter den Phantasten und Schwärmern. Davon gibt der Beitrag von Ana Muñoz Gascón Zeuge, der sich auf den fernen Osten richtet. In den Mittelpunkt rückt ein Werk von Bertolt Brecht, das als verschollen galt: Die Judith von Shimoda, erstmals in Suhrkamp-Verlag im Jahr 2006 erschienen. Es handelte sich um eine Bearbeitung des Stücks Chink Okichi des japanischen Dramatikers YAMAMOTO Yūzō, für das Brecht kurz nach seiner Veröffentlichung die Rechte erwarb. Die Opferbereitschaft der Die östlich-orientalische Verzweigung und Üppigkeit der Phantastik nach E.T.A. Hoffmann 23 <?page no="24"?> Protagonistin, der eine historische Figur aus der Meiji-Ära in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorausgeht, wies Parallelen zu Giacomo Puccinis Oper Madama Butterfly auf, die 1904 im Mailänder Teatro alla Scala aufgeführt wurde, und vereinte den Geschmack an einem künstlichen Orientalismus und die Japan- Bewunderung oder Japonisme, die erst in Paris, Barcelona und Norditalien entstand und spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts den ganzen Westen eroberte. Auch fernöstlich eingestimmt ist der Beitrag von Jesús Pérez-García, der sich mit der Gumiho, oder (chinesisch)-koreanischen Fuchsgeistern, und ihrer japanischen Entsprechung auseinandersetzt, wie sie in Christina Wunnickes Der Fuchs und Dr. Shimamura (2015) bearbeitet wird. Die Irrungen und Verwir‐ rungen eines japanischen kaiserlichen Stipendiaten um 1900 lassen allerlei hexenartige Frauen, (Aber)glauben der japanischen Folklore und kaum ver‐ standene psychologische Zustände und Scheinkrankheiten Revue passieren. Die Grauzone zwischen Realem und Irrealem wird hier in der Hysterie kon‐ kretisiert. Die Hysterie wurde bekanntlich zum Schlagwort des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als der rasante Fortschritt der Wissenschaften und der Technik die letzten festen Glaubenssätze zum Wanken zu bringen drohte. Und als die Wissenschaft zu kurz kam, wie das oft bei den neuformulierten neurologischen Wissenschaften der Fall war, griff man ungehemmt in die alte Kiste des tiefst sitzenden Aberglaubens, nämlich der Phantastik. Eine fein nuancierte psychologische Fundierung bietet die Analyse von Ricarda Hirte. Die unbewusste Phantasie ist „quasi ein Vorläufer der hysteri‐ schen Symptome“, die in Verbindung zu den Tagträumen steht, wie Hirte hervorhebt. Zwar lieferte der österreichische Arzt Sigmund Freud (1886-1939) keine selbständige Definition des Phantastischen, jedoch verschob er den Begriff in die Nähe der psychoanalytischen Interpretation. Die Phantasie wurde dann im Reich des Unbewussten angesiedelt, und dadurch bahnte man den Weg für neue literartheoretische Ansätze an. Loreto Vilar befasst sich mit der Literatur und den Bildungseliten der DDR. Untersucht werden Texte und Essays von Anna Seghers (1900-1983) und Franz Fühmann (1922-1984), die für ein Realismuskonzept plädierten, das sozialistischen Instanzen gerecht, aber gleichzeitig offen für Träume und das Wunderlich-Phantastische war. Die literaturtheoretischen und zeit‐ geistkritischen Darstellungen von Seghers und teilweise auch von Fühmann werden verglichen mit phantastischen Werken von Gogol, Kafka und E.T.A. Hoffmann, die ihr Schaffen unter einem strengen Druck aufblühen ließen. Nikolai Gogol (1809-1852) fühlte sich von der religiösen Aufsicht der bigotten Popen bedroht. Franz Kafka (1883-1924) war eher von einem diffusen Unbe‐ 24 Jesús Pérez-García <?page no="25"?> 7 Für diese Lesung ist der Vermittlung und Förderung des Foro Cultural de Austria / Ös‐ terreichisches Kulturforum in Madrid zu danken. hagen über die Missinterpretation seiner Werke von seiten der Nachwelt ergriffen. Und „Gespenster-Hoffmann“ trat ohne Angst auf und erschuf eine wundersame Welt, in der es an allen Ecken spukte und dadurch den Alltag des repressiv-diktatorischen Kontext in Europa unter der Herrschaft der Heiligen Allianz erfasste. Rosa Pérez Zancas widmet sich der unaufgearbeiteten Vergangenheit Öster‐ reichs, den Nachwirkungen der Shoah und dem unterschwelligen Antisemi‐ tismus der Alpenrepublik. Dafür wird Doron Rabinovicis Roman Suche nach M. (1977) gewählt, in dem phantastische Elemente eingesetzt werden, die als eine Seltenheit in der postmemorialen Literatur gelten. Dabei wird der Begriff „postmemory“ von Marianne Hirsch näher analysiert. Die außereuropäischen und orientalischen und insbesondere die fernöstli‐ chen Beiträge, die in der diesem Band vorausgehenden wissenschaftlichen Dis‐ kussion anlässlich einer Tagung in Alicante (26.-28. Oktober 2022) entstanden sind, wurden von Prof. Dr. Reinhard Emmerich (Universität Münster), Mitglied des wissenschaftlichen Beirats, und ZHANG Tao (Universität Frankfurt am Main) betreut. Ein besonderer Dank gilt auch Prof. Hans Richard Brittnacher, der diesen Sammelband betreut, gründlich durchgelesen und mit einsichtsreichen Kom‐ mentaren und seiner Expertise im Bereich der Phantastik bereichert hat. Die literarische Diskussion in Alicante wurde durch eine Lesung des Öster‐ reichers Christian Kössler, der Autor und Bibliothekar an der Uni Innsbruck in Tirol ist, aus seinem Buch Tiroler Teufelstanz. Sechzehn düster-schaurige Sagen aus Nord-, Ost- und Südtirol (2020) untermalt. 7 Lokale Sagen der Alpen aus bekannten Sammlungen werden in diesem Buch wiedergegeben und mit Neuerzählungen des Autors sowie Photographien von Silvia Kössler ergänzt, die im Zusammenspiel eines eifrigen Lesens und einer detektivischen skurrilen Inspizierung der Orte zustande kamen. Es wimmelte in der Lesung vor teufli‐ schen Gestalten, Höllenhunden, Hexentänzen, Totensteinen, Sensenmännern und Nachtwanderungen, die, trotz ihres gebirgigen und südlichen Ambientes E.T.A. Hoffmann, den preußischen Grübler von der Ostsee, vertraut unheimlich vorgekommen wären. Die östlich-orientalische Verzweigung und Üppigkeit der Phantastik nach E.T.A. Hoffmann 25 <?page no="26"?> Literatur Burke, Edmund (1756). A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and the Beaufiful. London. Busch, Werner (1977). Piranesis »Carceri« und der Capriccio-Begriff im 18. Jahrhundert. Wallraf-Richartz-Jahrbuch 39, 209-224. Harari, Yuval Noah (2014). A Brief History of Mankind. London: Harvill Secker. Jacobs, Helmut C./ Preyer, Nina (2019). Goya für alle. Einführung in die Caprichos. Kögnishausen & Neumann: Würzburg Mikanowski, Jacob (2023). Goodbye, Eastern Europe. An Intimate History of a Divided Land. London: Penguin Random House. (Deutsche Fassung: Adieu, Osteuropa. Kul‐ turgeschichte einer verschwundenen Welt. Berlin: Rowohlt. 2023). Pérez-García, Jesús (2021). Hans Dominiks Zukunftsroman Die Spur des Dschingis- Khan. Reisen und Siedlung in Zentralasien mit einer Klimautopie im Hintergrund. In Raposo, B./ Prado-Wohlwend, C. (Hrsg.) Reisen in der deutschen Literatur: Realität und Phantasie. Peter Lang: Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford et al., 147-158. Rodríguez Rivero, Manuel (1985 [1982]). Introducción a la novela de aventuras. In: Pushkin, Alexander S. La hija del Capitán. Madrid: Ediciones Generales Anaya, 7-34. 26 Jesús Pérez-García <?page no="27"?> Die Topographie der Angst in der phantastischen Literatur Eine Vermessung María Rosario Martí Marco Die Phantasie ist die größte Fähigkeit des Menschen, über die gegebene Rea‐ lität hinauszusehen und sich das Unmögliche vorzustellen oder zu erfinden. Seit ihren Anfängen verfügt die phantastische Literatur über die besten Mittel, um die Angst vor dem Unbekannten und vor allem, was die Vernunft übersteigt, auszudrücken. Auf diesen Elementen baut jede phantastische Erzählung auf. Das phantastische Phänomen erleichtert es, die Grenzen der Sprache zu überwinden, indem es in Ereignisse einbricht, die unerklärlich sind. Das Imaginäre kann unbeschreiblich werden, daher die Überschreitungen, die in diesem Genre auftreten, und die Ungewissheiten, die sie hervorrufen können. Eine unmittelbare Auswirkung auf den Leser ist die Angst, ein Gefühl, das unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Die Angst vor dem Unbekannten und dem Fremden ist vielleicht die radikalste und in der phan‐ tastischen Literatur immer präsent. Ihre Definition ist sicherlich nicht einfach. Angst als Sprache der Emotionen drückt einen negativen Gemütszustand aus, der die Gefühle beschreibt, die auftreten, wenn eine Bedrohung als Quelle von Schaden unmittelbar bevorsteht. Sie ist die emotionale Reaktion auf eine identifizierte Gefahr: ein konkretes, spezifisches und bestimmtes Objekt, das Unruhe auslöst. Sie ist eine Erfahrung der Vorwegnahme des Schlimmsten, der Anspannung angesichts einer Gefahr und wird so zu einem Einfallstor für psychosomatische Krankheiten. Andererseits beschreibt der Begriff Furcht die Gefühle, wenn die Quelle des Schadens ungewiss oder räumlich oder zeitlich weit entfernt ist. In beiden Fällen handelt es sich um die Befürchtung, dass etwas passieren wird, das im Gegensatz zu dem steht, was man sich wünscht, eine ängstliche Störung aufgrund einer realen oder eingebildeten Gefahr oder eines Schadens. Sie wird als eine reale Gefahr wahrgenommen, die sich nähert und die Beunruhigung, Unbehagen, Unsicherheit und Unruhe <?page no="28"?> hervorruft, so dass Abwehrstrategien entwickelt werden. Angst wird auch als das angesehen, was eine Person dazu bringt, eine Straftat zu begehen, indem sie das Entscheidungs- und Denkvermögen außer Kraft setzt, und ist daher immer ein entlastender Umstand. Die Intentionalität des Schriftstellers zeigt sich in Charakterisierungen, Schauplätzen und Suggestionen, die Angst ausdrücken. Es werden emotionale Räume von Winkeln, Biegungen, Abgründen in textlichen Sphären beschrieben, wie z. B. durch die nächtliche Atmosphäre und die Gewalt äußerer Kräfte (Stürme, Gewitter). Die Erfahrungsebenen werden mit einer Umgebung präsen‐ tiert, die die Introspektion von mentalen Zuständen der Traurigkeit und Melan‐ cholie begünstigt. Intensive Empfindungen wie Schüttelfrost, Halluzinationen, Träumen, usw. werden oft von pathetischer Musik und Gesichtsausdrücken der Figuren begleitet. Dies sind Elemente, die die narrative Diegese vorwegnehmen und Bedrohungen darstellen, die Angst, Schrecken und Furcht hervorrufen. Man lebt im Angesicht einer Gefahr, die deutlich identifiziert ist und emotionale Spannungen wie Angst und Leiden auslöst. Der Autor, der sich mit Psychologie und Sprachbeherrschung auskennt, versteht es, diese Situationen des Genres mit Spannung und Lebendigkeit zu erschaffen. Das Phantastische als erkenntnistheoretische Kategorie, die dem Realismus entgegengesetzt ist, unterliegt einem ständigen Wandel. Es werden Formen, Sprachen und Untergattungen erzeugt, die mehrdeutige Eigenschaften an‐ nehmen. Das Phantastische ist transgenerisch und anpassungsfähig, wie die folgenden Beiträge von untersuchten Erzählungen und Romanen zeigen. Der Raum: ein privilegierter Ort für die Entwicklung des Grauens Die Entwicklung des Phantastik-Genres seit seinen Ursprüngen im gotischen Roman ist durch die Suche nach neuen Wegen, dem Leser Angst zu vermitteln, gekennzeichnet. Obwohl es Erzählungen in der realen Welt des Alltags umfasst, versucht es immer diese Realität im physischen Raum des Phantastischen zu überschreiten und zu verlagern. An den phantastischen Orten manifestiert sich die Handlung der Figuren. Sie leben in ihnen und bewohnen sie. Der Raum kann zu einem unendlichen Äußeren, einem bedrohlichen Inneren oder einer erschreckenden Gegenwart werden, wenn auch der Tod immer über Raum und Zeit hinausgeht. Räume haben eine Wirkung auf Gefühle. Deshalb sind räumliche Metaphern nicht zufällig. Gerade das Ungewöhnliche wird in den Zwischenräumen der narrativen Diskursivität des Textes als Raum des Schreibens neu erschaffen. Dort lässt sich die Ätiologie der Angst deutlich aufspüren. Erinnerungen können Emotionen aufbringen. Räume können die 28 María Rosario Martí Marco <?page no="29"?> Erinnerung an Orte stimulieren und einen Teil der dort erlebten Gefühle und Stimmungen aufnehmen und auf diese Weise die Vergangenheit aufleben lassen. Die üblichen Landschaften der Angst, des Terrors und des Wahnsinns sind in der Regel Spukorte, versteckte Räume, verfallene Schlösser und Häuser, geheime Bibliotheken, in denen sich u. a. Doppelgänger, Geister, Vampire, Monster, Hexen oder der Teufel manifestieren. Das Übernatürliche wird durch das Hyperbolische, durch die Übertreibung des bedrohlichen Raums, des Über‐ sinnlichen und des Unlogischen in bestimmte Bereiche verlagert. Unberührte Naturräume, dicht bewaldete Terrains, Grenzräume, Orte des Verfalls und der Antike, fraktale Räume, phantasievolle, magische und wundersame Geografien und klassische Literaturlandschaften, die sich erneuern. Räumliche Desorien‐ tierung manifestiert sich in komplexen Assoziationen mit sich überlagernden Strukturen in Ordnung-Unordnung-Spannung und Labyrinthbewusstsein, auch in Ortlosigkeit und Dazwischen. Beim Autor E.T.A. Hoffmann sind Räume oft psychologische Indikatoren, die die Handlung markieren, schlechte Vorzeichen vorwegnehmen und die Erzäh‐ lung poetologisch mit den Möglichkeiten des Phantastischen und Magischen leiten. Der Raum ist bei ihm der Rahmen, der das Unbehagen und die Angst des Subjekts hervorruft, ein Mikrokosmos, der die Schatten, das Unbeständige und das Irrationale zeigt. Der Autor verwendet verschiedene Schauplätze und eine Konstellation von architektonischen Vorbildern wie Türme, Schlösser, dekadente Häuser, Geisterhäuser, Kirchen, Klöster und reichliche Projektionen von Innenräumen, mit denen er eine Psychologisierung der Raumdarstellung mit Bibliotheken, Sälen, Kammern, Zimmern, Alchemielaboren und architekto‐ nischen Elementen wie Türen, Fenster, Stürze, Wände, Mauern, Säulen, Bögen, usw. vornimmt. In diesen Innenräumen wird „das optische Dispositiv der Camera obscura und deren apparative Weiterentwicklung in der Laterna magica eingesetzt“. Es sind aber alles Orte, die der Leser angesichts der Verdichtung der Alltäglichkeit von Hoffmanns Welt als seine eigenen wiedererkennt. Die räumliche Dimension spiegelt die Vielstimmigkeit des Gefühls der Angst in den verschiedenen räumlichen Strukturen wider, auch in Zaubergärten oder unterirdischen Galerien. Diese Ängste umfassen psychologische, kognitive, physiologische und soziale Verhaltensängste. Die Erscheinungsformen der räumlichen Kategorie Räume in der Phantastik-Literatur sind narrative Verfahren, die die hypothe‐ tische Realität formen. Sie sind nicht neutral, sondern der vitale Ort einer wunderbaren Metamorphose. Einige von ihnen sind mythische Räume, andere Die Topographie der Angst in der phantastischen Literatur 29 <?page no="30"?> öffnen sich zum Sakralen, und wieder andere werden auf einer traumhaften und unmöglichen Ebene dargestellt. Einige zeigen die Instabilität der Persön‐ lichkeit, wenn sie als obsessive Räume dargestellt werden, die Pathologien wie Wahnsinn hervorrufen, andere sind transgressiv und grenzen an den Tod. Der Horror entwickelt seine diskursive Dynamik und nutzt den Raum, um zwischen den Ängsten der Vorfahren und den Ängsten der Gegenwart zu vermitteln. Raum und Zeit sind Wirklichkeitskategorien, die es ermöglichen, Orte und Daten zueinander in Beziehung zu setzen, aber sie begrenzen sie auch, insofern räumliche und zeitliche Entgrenzungen gesucht werden. Die Phantasie eröffnet eine Dimension der Transzendenz und ist in der Lage, neue Wirklichkeiten zu erfinden und ausdenken zu können. Deshalb ist die phantastische Welt des Unbegrenzten, Unbestimmten und Unbekannten eine Antwort darauf. Einige der in diesem Werk enthaltenen Räume werden im Folgenden vorgestellt. Inge Stephan behandelt das Thema Wahn und Wissenschaft in zwei Hoff‐ manns Erzählungen Hoffmanns. Hier identifizieren sich die Figuren durch die Räume, mit denen sie in Beziehung stehen. In der Erzählung Der Magnetiseur taucht ein einsames und heruntergekommenes Schloss als ein „morsches Fami‐ liengebäude“ auf, das zum Einsturz gebracht wird. Es ist eine gespentische Szenerie, in der die phantastischen Wandmalereien „im gothischen Stil“ einen bedrohlichen Raum mit hyperbolischen Elementen akzentuieren. Als Kulisse werden Szenen im Inneren des Schlosses wie die Kamingespräche im Saal des Schlosses verwendet, wo die Familie des Barons Punsch und Tabak genießt. In Die Automate sind das Laboratorium und der Erfindungsraum das Bild der mechanischen Welt. Der Garten erscheint in der Erzählung als Kontrapunkt zur Natur. Şebnem Sunar weist darauf hin, dass Hoffmann seine Erkenntnisse prinzipiell in einer „bekannten bzw. anerkannten Umgebung“ ansiedelt. In diesem Fall findet die Bedrohung in einem bürgerlichen Alltag statt. Der Protagonist Spikher unternimmt eine Reise nach Italien und lässt Frau und Kind in Deutsch‐ land zurück, was eine komplexe Verbindung von Transformationen beinhaltet. Die Ehe mit den familiären Beziehungen ist von Rollenbildern und Ethos geprägt. Die Erscheinung einer femme fatale wird zu einem Ehebruch-Konflikt führen und Spikher wird sein Spiegelbild verlieren. Die Geschichte zeigt die Schwierigkeit, einen realen Raum zu bewohnen, der zu einer Quelle der Angst wird. Der Doppelgänger ist eines der zentralen Motive des phantastischen Universums, ebenso wie das Objekt des Spiegels. Indem er den Bruch des Selbst postuliert, wird das Selbst fremd, unbekannt, unverständlich und löst sich auf. 30 María Rosario Martí Marco <?page no="31"?> Stefania Acciaioli behandelt die Nacht als Schauplatz, Motiv und Hauptpro‐ tagonistin in der Malerei und den Wissenschaften bei E.T.A. Hoffmann. Die Nachtseite ist eine zeitliche Inszenierung und hat die Wirkung des Fehlens von Beleuchtung, außerdem stellt sie nach innen eine tiefere Dimension und eine magnetische dunkle Macht dar. Die Wahl der Autorin in der Erzählung Das öde Haus ist ein Beispiel für die Bedeutung des Raums in Hoffmanns Werk. Die Situation der Erstarrung vor einem Fenster des Hauses und die szenischen Kulisse des Inneren des Hauses einschließlich eines Spiegels als unheimliches Leitmotiv tragen zum Gefühl der Furcht bei. In Der Sandmann verweist sie auf die Experimente in den Innenräumen von Nathanaels Studienort, wo der Student nach einem Brand seinen Wohnort wechseln musste und so ein Zimmer bei Spalanzani bewohnt. Am Ende schaut Nathanael von der Spitze eines Turms herunter, ein vertikaler Ort, der eine symbolische Beziehung zwischen Himmel und Erde, eine spirituelle Erhöhung darstellt. Jedoch stürzt sich der Protagonist herab und wird in den Tod getrieben. Berta Raposo spricht den Stadtplan Dresdens mit geografischen Koordinaten im Herbst 1813 zur Zeit der Besatzung durch napoleonische Truppen an. Die Geschichte dieses historischen Moments deckt sich mit der tatsächlichen Kartografie der Räume in Hoffmanns Erzählungen Erscheinungen und Der goldne Topf. Der ortspezifische Raum ist hier durch die tatsächliche Geschichte der Ereignisse gekennzeichnet. Die Schrecken des Krieges in der Völkerschlacht bei Leipzig zeigen die belagerten Städte, wo Hungersnot und Krankheiten herrschten. Dresden hatte für Hoffmann ein doppeltes Gesicht: das Dresdener Märchen (mit Fiktionen von Zaubergärten, usw.) und die kriegsbedingten geplagten Folgen. Es werden stadtmorphologische Fragen, Kraftlinien und Vektoren wie die Meißner Berge, das Wasser der Elbe oder die Elbbrücke in Richtung Neustadt vorgestellt, wo französische Bataillonen marschierten und Kanonen und Pulverwagen rollten, sowie andere einzigartige architektonische Elemente mit ihren Konturen und Größen wie das Brühlsche Palais und das Kafeehaus am Altmarkt. Marc Arévalo verweist auf die Dualität des Zwei-Welten-Models, auf die Schwelle zwischen zwei Welten bei Hoffmann und Michael Ende, der realen oder primären Welt und der phantastischen oder sekundären Welt. Das Rennen der Studenten bei beiden Autoren am Anfang des Textes deutet auf ihre „wunder‐ volle Reise in andere Welten hin, die sich als Flucht vor der Realität verstehen“. Beide gleiten in Räume des Übergangs und der Begegnung. Anselmus rennt durch das Schwarze Tor in die Stadt Dresden. Bastian dringt ins Antiquariat ein, wo er Bücher stiehlt, die ihm die Reise nach Phantásien erlauben, und versteckt sich im Schullager, um Bücher zu lesen. Die Topographie der Angst in der phantastischen Literatur 31 <?page no="32"?> Gianluca Paolucci stellt die magnetischen Praktiken und mesmerische Psy‐ chotechnik bei Hoffmann in den Mittelpunkt der Serapionsbrüder, mit Umwer‐ tung der Figuren der Magier, Zauberer und Mesmeristen. Catalina Soto de Prado nähert sich uns von der Ökokritik zur natürlichen lite‐ rarischen Landschaft der Wälder mit einer Analyse des Beitrags der Novellen des Autors Bechstein. Die Natur und die kulturelle Ökologie dienen als Grundlage für die Literatur und erscheinen in Form von idyllischen Naturschilderungen, botanischen Namen und verschiedenen Vogel- und Tierarten. Die Namensym‐ bolik ist sogar für die sogenannten Dorfhexen charakteristisch. Der Wald wird als Zufluchtsort und locus amoenus betrachtet und die Natur als wichtigster Bestandteil der Kindererziehung. Die ländliche Umgebung der Heimat wird mit Fachkenntnissen in Forst- und Jagdwirtschaft imprägniert. Bei María Rosario Marti ist zweifellos die Bibliothek ein Schauplatz, der sich topographisch in eine Konstellation von Gebäuden, Räumen und Labyrinthen einordnen lässt. Sie ist ein privilegierter narrativer Raum für die phantastische Schwelle, die andere Welten verbindet, und sie gilt als ein Raum des Zugangs zur Anderswelt des Wissens, die eine sehr breite textuelle Kosmologie umschließt. Bibliotheken sind „Orte potentieller Zeitakkumulation, beherrscht von dem Willen, an einem Ort alle Zeiten, alle Epochen, alle Formen der Geschichte einzuschliessen“. Rolf G. Renner erläutert, dass Kafka den Raum wie bei einer Kamerafüh‐ rung beschreibt. Anhand von Details schildert der Autor die Wohnung, die Gegenstände des Lebens und die technischen Apparate. Seine phantastische Ansicht der Welt erweist sich als „Spiegelung einer deformierten Objektwelt im deformierten Subjekt“. Im Roman Amerika schildert er Bilder der Neuen Welt, die moderne Großstadt New York mit ihrer technokratischen Gesellschaft, ihre Hafenansicht aus dem 19. Jh. und die Szenarios der technischen Welt der Schiffahrt. Das Schiff ist die Heterotopie par excellence. In der phantastischen Literatur wird die räumliche Struktur von ihrer abso‐ luten Realität im aristotelischen Sinne in neue Realitäten umgewandelt, die subjektive, psychologische, relationale und ästhetische Konzepte einschließen. Daher gibt es einige Szenarien des Phantastischen, die in diesem Werk auftau‐ chen, von denen einige als Krisenverstärker des bedrohlichen raum-zeitlichen Zusammenhangs fungieren und andere als Entlastungsinstanz von Utopien und Erleichterungen entworfen werden, die das Subjekt wiederherstellen. 32 María Rosario Martí Marco <?page no="33"?> Literatur Arburg von, Hans-Georg (2015). Architekturen/ Topographien. In: Lubkoll, Chris‐ tine/ Neumayer, Harald (Hrsg.) E.T.A. Hoffmann Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler. Brittnacher, Hans Richard (2022). Horror oder: ästhetischer Ausnahmezustand in der Romantik. In: Brittnacher, H.-R. (Hrsg.) Horror. Handliche Bibliothek der Romantik. Berlin: Secession Verlag, 9-17. Eudave, Cecilia (2018). Hacia una clasificación del espacio en textos de horror fantástico. Revista Brumal de investigación sobre lo Fantástico, VI: 2, 57-73. Lehnert, Gertrud (2011). Raum und Gefühl. Der spatial turn und die neue Emotionsfor‐ schung. Bielefeld: Trascript Verlag. Warning, Rainer (2015). Utopie und Heterotopie. In: Dünne, Jörg/ Mahler, Andreas (Hrsg.) Handbuch Literatur & Raum. Berlin: De Gruyter, 178-187. Die Topographie der Angst in der phantastischen Literatur 33 <?page no="35"?> Gattungen und Motive <?page no="37"?> Der Butt von Günter Grass Die Phantasie und das Phantastische im historischen Erzählen Tamar Kiguradze Zusammenfassung: Günter Grass bedient sich im Roman Der Butt (1977) eines Erzählverfahrens, das es ermöglicht, die im historischen Faktenwissen bleibenden Offenheiten mit Phantasie auszufüllen. Der Romanprotagonist, der Butt, der sprechende Plattfisch, ist eine in der als Inbegriff der phantastischen Literatur zu verstehenden deutschen Romantik verwurzelte und dem alten Märchen Vom Fischer und seiner Frau entstammende Phantasiefigur. Ein weiteres phantastisches narratives Element ist die außergewöhnliche Eigenschaft des teilweise auktorialen Ich-Erzählers, sich in verschiedene Gestalten, sowohl historischen, als auch fiktionalen, zu versetzen und aus ihrer Perspektive die kultur- und sozialhistorischen Epochenbilder von der Jungsteinzeit bis in die Erzähl‐ gegenwart der 1970er Jahre zu gestalten. Schlüsselwörter: Grass, Märchen, Phantastik, Magischer Realismus, Er‐ zählweise Abstract: Günter Grass is using for his novel The Flounder (1977) a special method of storytelling, that makes possible to fill out with imagination the empty spaces of historical factual knowledge. The protagonist, the Flounder, a speaking flatfish, is a fantasy figure, which comes from the old fairy tale about the fisherman and his wife and is deeply rooted in the German Romanticism, the epitome of the fantastic literature. Another fantastic narrative element is the extraordinary ability of the partly authorial I-narrator, to put himself in different-historical and fictional characters and create from their point of view the cultural and social historical pictures of the different epochs from the Neolithic until the narrative present in 1970s. Keywords: Grass, fairy tale, fantasy, magic realism, storytelling <?page no="38"?> 1 Grass, Günter. (1987). Literatur und Mythos. In: Neuhaus, Volker/ Hermes, Daniela. (Hrsg). Grass, Günter. Essays, Reden, Briefe, Kommentare. Werkausgabe in zehn Bänden. Bd.-IX. Darmstadt: Luchterhand,-234-243. 2 Wilpert Gero von (1989). Sachwörterbuch der Literatur. 7.Aufl. Stuttgart: Alfred Kroener, 679. In seiner Rede über Literatur und Mythos auf dem Schriftstellertreffen, das 1987 im finnischen Lachti stattfand, sprach Günter Grass von der Schwierigkeit, die er bei der Gattungsbestimmung seines 1977 erschienenen und, vermutlich, neben der Blechtrommel bedeutendsten Romans Der Butt hatte. „Ich hätte es lieber ein Märchen genannt“, sagte damals der Schriftsteller. 1 Das Märchen, das der Romanfabel zugrunde liegt, ist kein Kunstmärchen und gehört demzufolge nicht zu jener Gattung, die E.T.A. Hoffmann, ein Schrift‐ steller, dessen Jubiläum durch eine Tagung der Spanischen Goethe-Gesellschaft in Alicante in 2022 geehrt wurde, zum Paradigma der modernen phantastischen Literatur erhob, sondern schlicht ein altes plattdeutsches Märchen Von dem Fischer un syner Fru , das Philipp Otto Runge, der Maler der deutschen Romantik, auf der Insel Rügen von einer alten Frau erzählt hörte und aufschrieb, das später die Brüder Grimm in ihrer Sammlung der Kinder- und Hausmärchen veröffentlichten. Dennoch gehört es als Volksmärchen, genauso dem Reich des Wunderbaren an wie seine edle Nebenformm das Kunstmärchen. Bekanntlich ist die literaturtheoretische Definition des Phantastischen und der Phantastik als Genre nicht homogen, obwohl das Märchen, sowohl Kunstals auch Volks‐ märchen fast immer als eine Nachbargattung der Phantastik betrachtet werden. Maximalistisch interpretiert ist die phantastische Literatur ein Sammelbegriff […] für alle Literatur außerhalb religiös-mythischen Kontexts, die die realistische Ebene beschreitet zugunsten des Irrealen, Surrealen, Wunderbaren, Übernatürlichen, Zauberhaften, Unheimlichen, Bizarren, Grotesken, Okkulten, Traumhaften, Unbe‐ wussten, Halluzinatorischen, Visionären, Gespenstisch - Geisterhaften oder deren verschiedenen Kombinationen. 2 Mehrere von den aufgezählten Kriterien des Phantastischen sind im Butt-Roman textuell nachweisbar, obwohl es nicht unsere Absicht ist, dieses erzählerische Meisterwerk in den strengen Rahmen der phantastischen Gattung einzusperren. Unser Anliegen ist es vielmehr zu verfolgen, wie das phantastische Element im Romantext es vermag, eine, in der Weichselmündung angefangene Lokalge‐ schichte zu einem universellen Geschichtsbild zu entfalten, sowie über eine Ernährungsgeschichte („Die Köchinnen in mir“) hinaus, das große Thema der Geschlechterrollen und - konflikte in einem Gesellschafts- und Liebesroman zu behandeln. 38 Tamar Kiguradze <?page no="39"?> 3 Grass, Günter. (1995). Der Butt. 2. Aufl. München: dtv, 404. 4 Vax, Louis. (1974). Die Phantastik. In: Zondergeld, Rein A. (Hrsg.). Phaicon I. Almanach der phantastischen Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 12. 5 Caillois, Roger. (1974). Das Bild des phantasischen vom Märchen bis zur Science Fiction. In: Phaicon I. Almanach der phantastischen Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 45f. Im Roman wird in einer historisch-fiktionalen Erzählform berichtet, wie der Maler Runge auf der Insel Rügen das Märchen vom Fischer und seiner Frau Ilsebill von einer alten Frau in zwei Fassungen erzählt hörte und als er sie fragte, welches Märchen von beiden denn richtig sei, eine Antwort bekam, die eine Schlüsselformel zum Butt-Roman sein dürfte: „Dat een un dat anner tosamen“, das eine und das andere zusammen. 3 Da die zweite Fassung vom Maler Runge verbrannt wurde und die Brüder Grimm nur die erste Fassung von der maßlosen Frau Ilsebill öffentlich machen konnten, darf der Butt-Roman als eine frei nacherfundene zweite Fassung, die zweite, andere Wahrheit des Märchens verstanden werden. Um unsere These von der entscheidenden Rolle des phantastischen Elements im Erzählkonstrukt des Butt-Romans zu bestätigen und um zu zeigen, wie es Günter Grass gelang, durch das phantastische Element in seinem Erzählwerk ein allumfassendes Geschichtsbild zu entwerfen, ist ein kurzer Einblick in die kontroverse literaturtheoretische Diskussion zum Begriff des Phantastischen und der Phantastik als Genre unumgänglich. Die seit den 60er Jahren des 20.Jh. vorgenommenen Versuche einer engen, minimalistischen Bestimmung der Phantastik als Genre, definieren das Phan‐ tastische hauptsächlich im kontrastiven Vergleich zu der benachbarten Gattung des Märchens. So z.-B. Louis Vax: Während das Märchenhafte eine Welt aufbaut, die sich außerhalb der Wirklichkeit befindet und in der das Unmögliche, der Skandal, also nicht existieren kann, findet das Phantastische gerade seinen Ursprung in den Konflikten zwischen dem Realen und dem Möglichen. 4 Genauso wie Louis Vax, untersucht Roger Caillois das Phantastische im Ver‐ gleich zum Märchen und findet, daß es wichtig ist, zwischen diesen verwandten und oft miteinander verwechselten Welten einen Unterschied zu machen: Das Märchen ist ein Reich des Wunderbaren, das eine Zugabe zu unserer Alltagswelt ist, ohne sie zu berühren oder ihren Zusammenhang zu zerstören. Das Phantastische dagegen offenbart ein Ärgnis, einen Riss, einen befremdeten, fast unerträglichen Einbruch in die wirkliche Welt. 5 Der Butt von Günter Grass 39 <?page no="40"?> 6 Todorov, Tzvetan. (1972). Einführung in die phantastische Literatur. München: Carl Hanser, 33. 7 Siegfried Lenz bezeichnet diesen psychischen Vorgang im Roman von Günter Grass sehr zutreffend als „Selbstversetzung“, die die andere Art der Geschichtsschreibung, eine „imaginäre Geschichtsschreibung“, „Ausfüllen der Offenheiten im faktischen Wissen mit Phantasie“ bewirkt. Lenz, Siegfried, Grass, Günter. (1982). Über Phantasie. Günter Grass und Siegfried Lenz im Gespräch. Abrufbar unter: http: / / m. youtube. com>watch (Stand: 09/ 10/ 2014). Obwohl Günter Grass seinen Butt-Roman ein Märchen nennen wollte, ist es eindeutig, dass dieser große postmoderne Roman weder in die engen Rahmen eines Märchens, noch in die Kriterien der Phantastik, so, wie diese benachbarten Gattungen die beiden Theoretiker des Phantastischen, Vax und Caillois ver‐ standen, passt. Und dennoch ist im Roman „Der Butt“ das phantastische Element der wichtigste Baustein der gesamten Erzählstruktur. Genauso wie die Formel des Phantastischen von Vax und Caillois, als eines befremdenden Einbruchs in die Realität für den Roman Der Butt zu eng erscheint, ist auch die von Tzvetan Todorov entwickelte These der Unschlüssigkeit des impliziten Lesers, als eines Kriteriums des Phantastischen, in Bezug auf diesen Text nur begrenzt anzuwenden. Ähnlich wie seine beiden französischen Vorgänger, Vax und Caillois, untersucht Todorov das Genre im Vergleich zu den benachbarten Gattungen und nennt dabei drei Kriterien des Phantastischen: Das Fantastische verlangt die Erfüllung dreier Bedingungen. Zuerst einmal muß der Text den Leser zwingen, die Welt der handelnden Personen wie eine Welt lebender Personen zu betrachten und ihn unschlüssig werden zu lassen angesichts der Frage, ob die evozierenden Ereignisse einer natürlichen oder einer übernatürlichen Erklärung bedarf. Des weiteren kann diese Unschlüssigkeit dann gleichfalls von einer handelnden Person empfundenen werden. So wird die Rolle des Lesers sozusagen einer handelnden Person anvertraut und zur gleichen Zeit findet die Unschlüssigkeit ihre Darstellung, sie wird zu einem der Themen des Werks […] Dann ist es wichtig, dass der Leser in bezug auf den Text eine bestimmte Haltung einnimmt: er wird die allegorische Interpretation ebenso zurückweisen wie die 'poetische' Interpretation. 6 Das phantastische Element ist im Roman von Günter Grass in zwei Aspekten zu verfolgen. Einmal an der Protagonistenfigur des Butts - eines sprechenden Fisches - und das andere Mal an der Figur des Ich-Erzähers, der eine phan‐ tastische Eigenschaft besitzt, sich in verschiedene Gestalten, historische und fiktionale, von der Jungsteinzeit bis in die Erzählgegenwart der 70er Jahren des 20.-Jahrhunderts zu versetzen. 7 So ist die Begegnungsszene des jungsteinzeitlichen Ich-Erzählers, eines Fi‐ schers und zugleich eines Künstlers, mit dem Butt, dem sprechenden Plattfisch, 40 Tamar Kiguradze <?page no="41"?> 8 Grass (1995: 28). 9 Grass (1995: 44). 10 Durst, Uwe. (2001). Theorie der phantastischen Literatur. Tübingen: M. Niemeyer, 101-102. entscheidend für die Bestimmung der Rolle und Funktion des Phantastischen im Erzählgewebe von Günter Grass: Da sprach der Butt. Ich bin nicht sicher, ob mich seine schiefmäulige Ansprache mehr erstaunt hat als die platte Tatsache, einen breitgelagerten Butt in einer Aalreuse gefangen zu haben. Jedenfalls habe ich die Worte „Guten Tag mein Sohn“ nicht mit einer Frage nach seinem erstaunlichen Sprachvermögen geantwortet. Vielleicht wollte ich wissen, was ihn, den Plattfisch, bewegt haben mochte, sich durch alle drei Verengungen in eine Reuse zu zwängen. 8 Todorovs These von der Unschlüssigkeit des impiziten Lesers oder einer handelnden Person, in diesem Fall des Ich-Erzähers, als ein Kriterium des Phantastischen, scheint an diesem Beispiel dem Butt-Roman zu entsprechen, obwohl hier das andere minimalistische Kriterium des Phantastischen, der befremdete Einbruch in die Realität nicht zutrifft, denn das außergewöhnliche Sprachvermögen eines Fisches wird weder vom impliziten Erzähler noch dem impliziten Leser als erstaunlich und befremdend wahrgenommen. Die Szene, als der sprechende Butt zum zweiten Mal, diesmal in den 70er Jahren des 20.Jh. von drei Feministinnen gefangen wurde, besitzt jedoch einige, zum Teil ironische, Noten, eines „befremdeten Einbruches in die Realität…“: Siggi, Fränki und das Mäxchen waren, wie man sagt, sprachlos. Erst später, als der Butt schon drauflos schwadronierte, gelangten dem Mäxchen halblaute Ausrufe wie: 'Is ja' n Heuler. Einfach schockig. Mannomann! 9 An dieser Szene ist zugleich ein wesentliches Merkmal der Erzählweise in diesem Roman, die als phantastische Ironie zu bezeichnen wäre, anzudeuten. Die minimalistische Deutung des Phantastischen ist auch in der zeitgenössischen Literaturtheorie aktuell. Ein Beispiel dafür ist das Werk von Uwe Durst, der seine Theorie auf eine Differenzierung zwischen der maximalistischen und der minimalistischen Definition des Phantastischen baut. Das Phantastische lokalisiert Durst zwischen den regulären (R-System) und wunderbaren (W- System) narrativen Realitätssystemen im Nichtsystem: Zwischen Phantastischen und Wunderbaren ist daher streng zu trennen, während viele ältere und neuere Untersuchungen den Begriff synonym verwenden. Sobald der Text die Position des Nichtsystems verlässt und die erzählte Welt in die Kohärenz eines R- oder W- Systems überfährt, wird das Phantastische unweigerlich aufgehoben. 10 Der Butt von Günter Grass 41 <?page no="42"?> 11 Vgl. Brittnacher Hans Richard/ May, Markus (Hrsg.) (2013). Phantastik. Ein interdiszi‐ plinäres Handbuch. Stuttgart und-Weimar: J. B. Metzler. 12 Wilpert, Rebekka (2015). Metamorphosen, Phantastisches und Wunderbares. Zum Magischen Realismus in der russischen und polnischen Literatur. Dissertation. Kiel, 19-26.Abrufbar unter: https: / / macau.uni-kiel.de>receive So wäre Der Butt von Günter Grass, die Geschichte eines sprechenden Platt‐ fisches, erzählt von einem Ich-Erzähler, der die Eigenschaft besitzt, sich in verschiedene Gestalten zu versetzen, und dem es gelingt, mit der Phantasie eine imaginäre Weltgeschichte zu entwerfen, nach der strengen minimalistischen Theorie des Phantastischen von Uwe Durst eher ins System des Wunderbaren, des Märchens, einzuordnen. Dennoch ist das phantastische Element in diesem Roman das wichtigste erzählerische Werkzeug, das eine ironisch-distanzierte Haltung zur Realität ermöglicht. Das Erzählverfahren von Günter Grass, das als phantastische Ironie bezeichnet werden könnte, weist eine Verwandtschaft mit der romantischen Ironie auf. Mit Phantasie und Ironie wird im Butt-Roman die Geschichte Europas und der Welt geschildert, von Krieg und Frieden, Gewalt und Zärtlichkeit, Hass und Liebe erzählt. Bekanntlich findet das, literaturge‐ schichtlich bereits seit der Antike nachweisbare, vorwiegend aber die Romantik auszeichnende Zwischenspiel von Realität und Phantasie eine Weiterentwick‐ lung im Surrealismus und dem Magischen Realismus. Da das Werk von Günter Grass von mehreren Autoren dem deutschsprachigen Magischen Realismus zugeordnet wird, wäre es angebracht, den Bezug des Erzählstils im Butt-Roman zum Magischen Realismus zu verfolgen. Der Magische Realismus, der als ein Kennzeichen der Postmoderne ver‐ standen wird, kann als eigenständiges Genre, genauso wie als ein in die Phantastik einzuordnendes Erzählverfahren aufgefasst werden. 11 Eine interessante Analyse zur Differenzierung der Phantastik und des Ma‐ gischen Realismus bietet Rebekka Wilpert an. Die Autorin meint, dass die Phantastik und den Magischen Realismus zwar die Vermischung realer und phantastischer Elemente verbindet, jedoch die Phantastik, im Gegensatz zum Magischen Realismus, sich auf kein Realitätssystem stützt. 12 Der Text des Butt-Romans gehört eindeutig nicht in das von Uwe Durst für das Phantastische bestimmte Nicht-System. Das System, in dem sich der implizite Leser aufhält, ist eher als ein Realitätssystem zu definieren. Genauer ist es die Realität der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, in der sich der Ich- Erzähler befindet, der aber, dank seiner Eigenschaft der „Selbstversetzung“, aus verschiedenen Epochen zu berichten vermag. Die Erzähltechnik im Roman, die von Reportage bis zu den auktorialen Kommentaren und einem Wechsel von Ich- und Er-Erzählperspektiven variiert und wegen ihrer außergewöhnlichen 42 Tamar Kiguradze <?page no="43"?> 13 Nikolajeva, Maria (1988). The magic code. The use of magical patterns in fantasy for children. Stockholm: Almqvist & Wiksel International. 14 Nikolajeva (1988: 23) 15 Grass (1995: 36) 16 Grass (1995: 362) 17 Grass (1995: 36) Komplizität einer speziellen Erforschung bedarf, ist vorwiegend durch das im Text verankerte phantastische Element geprägt. Betrachten wir das Phantastische in einem Erzähltext als ein strukturelles narratives Element, so gewinnt die Arbeit von Maria Nikolajeva: The Magic Code eine besondere Bedeutung. 13 Der von Nikolaeva eingeführte Begriff 'fantasem', als ein der Phantastik als Genre inharäntes narratives Element 14 wäre auch für unsere Untersuchung der Funktion des Phantasischen im Roman Der Butt anzuwenden. In Anlehnung an Nikolajeva könnten wir im Romantext von Günter Grass die Figuren des Butts, des Erzählers, sowie die mythologischen Szenen von der dreibrüstigen Aua und dem Himmelswolf als ‚fantasemes‘ bezeichnen. So ist der sprechende Steinbutt im Roman von Günter Grass, eine Mär‐ chen- oder Phantasiegestalt, jenes 'fantaseme', das es ermöglicht, eine, in der Weichselmündung angefangene Lokalgeschichte universell zu entfalten, denn bekanntlich ist der Steinbutt, wie wir es im Text lesen: […] im Mittelmeer, in der nördlichen bis zur norwegischen Küste und in der Ostsee, meinem Baltischen Meer verbreitet. 15 Der Buttwird als Ozeanfisch den Erzähler auch in die fernen Seewege begleiten: (Episode: Vasco kehrt wieder ) „Ich bin ja in allen Meeren zu Haus.“ 16 Der Butt, der in der Jungsteinzeit vom Ich- Erzähler gefangen und zum Berater der Männersache wurde: Angeblich soll ihn der attische Gott Poseidon im Kampf gegen Hera, die pelasgische Athene und verwandte Mutterrechtlerinnen eingesetzt haben als Agitator. 17 und viel später, in den 70er Jahren des 20.Jh. in die Falle der emanzipierten Feministinnen gerät, vom Frauentribunal, dem Feminal verurteilt und danach freigelassen wird, ist im Text von einer alten plattdeutschen Märchenfigur beinahe zum Symbol des Geistes der Geschichte erhoben. Der im Roman als männliches Prinzip mythologisierte Plattfisch berät den jungsteinzeitlichen Ich-Erzähler, einen Fischer, Töpfer und Künstler aus der Weichselmündung zur Ablösung des Matriarchats zum Patriarchat, um sich dadurch, verspätet an die „vom Zweistromland über das Nildelta bis zur Insel Der Butt von Günter Grass 43 <?page no="44"?> 18 Grass (1995: 38-39) 19 Für einen Überblick des magischen Realismus von seinen deutschen Ursprüngen in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, über seine Entfaltung in der lateinamerikani‐ schen Literatur bis zur Rezeption bei chinesischen Autoren wie Nobelpreisträger Mo Yan, siehe Pérez-García, Jesús (2022). Mo Yan y el condado de Gaomi. Un microcosmos mágico y feminizado junto a la antigua colonia alemana de Tsingtau. Tonos digital 42, Januar. Abrufbar unter https: / / www.um.es/ tonosdigital/ (Zugang: 2.3.2023). 10.6018/ tonosdigital. Kreta“ bereits „durch männliche Tatkraft“ geförderte hohe Kultur anzuschließen und die vorgeschichtliche, „im Stillstand vertrödelte Zeit“ durch die von der Männerherrschaft geprägte Geschichte endlich abzulösen: „Weg von der Brust. Ihr müsst euch entwöhnen. Mein Sohn, du musst dich endlich entwöhnen.“ 18 Die einem Märchen, dem Mythos und der Phantasie entstammende Figur des Butt begleitet und berät den Ich-Erzäher in allen Gestalten, aus deren Perspektiven er die Geschichten der in verschiedenen Epochen kochenden Frauen erzählt: von der jungsteinzeitlichen dreibrüstigen Aua; der eisenzeitli‐ chen Wigga; der frühchristlichen Mestwina; der hochgothischen Dorothea von Montau; die groteske, beinahe rabelaisianisch hyperbolisierte Geschichte von Margarete Rusch, der dicken Nonne Gret aus der Reformationszeit; der barocken Agnes Kurbiella; von Amanda Woyke aus der Epoche der Aufklärung; von der romantischen Sophie Rotzoll; von Lena Stubbe aus der Zeit der Arbeiterbewe‐ gung, Autorin eines proletarischen Kochbuches bis zu den Geschichten der Köchinnen aus der Erzählgegenwart, als Europa noch in Ost- und West geteilt war, die traurige Geschichte von der emanzipierten Billy in Westbelin und von Maria, Arbeiterin einer Werftkantine in Gdansk. Jede Geschichte ist ein beeindruckendes kultur- und sozialhistorisches Bild, das zu entwerfen ausschließlich durch die phantastische Eigenschaft des Er‐ zählers, sich in verschiedene Figuren zu versetzen, sowie durch die Anwesen‐ heit eines mythologischen Fabelwesens, des sprechenden Fisches, gelingt. Das Phantastische, das sich in einem von Reportage bis zum Essayismus und zur fik‐ tionalen Darstellung hinreichenden Erzählstil vermischt, wird vom impliziten Leser des Romans als selbstverständlich wahrgenommen. Die für die Gattung der Phantastik im strengen minimalistischen Sinne als eine entscheidende Bedingung bestimmte „Unschlüssigkeit des impliziten Lesers“ scheint in diesem Text überwunden zu sein und nähert dessen Erzählstil dem des Magischen Realismus. 19 Der Butt, der im Roman vom plattdeutschen Volksmärchen zum Geist der Geschichte, zum allwissenden Berater, zum männlichen Prinzip und zu einer männlichen Göttlichkeit der pomorschen Edecks mythologisiert wird, ist zu‐ gleich eine Figur, die sich im Text der Mythologie gegenüber mit einer ironischen 44 Tamar Kiguradze <?page no="45"?> 20 Grass (1995: 80) 21 Grass (1995: 602-693) Distanz verhält. Gerade dieses Zwischenspiel von Mythos, Phantasie und Ironie zeichnet die gesamte Darstellungsart im Roman aus, die als‚ „phantastische Ironie“ zu bezeichnen wäre. Eine Ironie auf die Mythologisierung der Geschichte hört man in den Reden des Butts vor dem feministischen Tribunal, als er, ehemals Berater der Männerherrschaft, sich bereuend zum Frauenberater erklärt: … Sie können es denken, meine strengen Damen, dass die Ablösung des Mutterrechts durch das vernünftige, wenn wenig fiktive Vaterrecht mehrere Kontrrevolutionen zu Folge hatte. Ich muß sie nicht an die Bakchen, Amazonen, Erinnyen, Mänaden, Sirenen und Medusen erinnern. Schlimm, wirklich schlimm die Geschlechterkämpfe im alten Griechenland. Da ging es an der Weichsel ereignisloser zu. Außer den Wegfall der dritten Brust gibt es nichts Außergewöhnliches zu berichten. 20 Der Mythos von der dreibrüstigen Aua, die dem Himmelswolf das Feuer für die Garküche klaute und dem sprechenden Butt, der die pomorschen Edecks beriet, das Feuer für die Waffenschmiede zu nutzen um endlich zu den Akteuren der Geschichte zu werden, findet in der Schlußrede des Butts vor dem Frauen‐ tribunal-ein versöhnendes, harmonisches Ende: Und weil sich die Geschichte wie eine zwangsläufige Folge von Krieg und Frieden, Frieden und Krieg darstellt, als sei sie Naturgesetz, als könne es anders nicht sein, als habe eine außerirdische Kraft - man nehme mich als dingfestes Beispiel - das alles wie Schicksal verhängt, als müsse sich Aggression so und nicht anders entladen, als dürfte Frieden nur immer jeweils die Spanne bleiben, in der sich der Mann auf den nächsten Ernstfall vorbereitet, ist dieser Teufelskreis wie auf ewig geschlossen - es sei denn, er wird von denen aufgebrochen, die bisher keine Geschichte gemacht haben, die keine geschichtsnotorischen Konflikte lösen durften, denen ich die Geschichte männlich verordnet habe, denen Geschichte nur immer Leid gebracht hat […]: die Frauen als Mütter.[…] Die Geschichte will weiblich geprägt werden. 21 Diese Worte sind bereits vor 45 Jahren geschrieben. Seitdem hat sich in der Welt vieles verändert, auch hinsichtlich der Geschlechterrollen, dennoch verlieren diese Worte einer phantastischen Romanfigur, sowie das alte, von Günter Grass anders erzählte Märchen vom Fischer und seiner Frau nicht an Bedeutung. Der Butt von Günter Grass 45 <?page no="46"?> Literatur Brittnacher, Hans Richard/ May, Markus (Hrsg.) (2013). Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler. Caillois, Roger. (1974).Das Bild des phantasischen vom Märchen bis zur Science Fiction. In: Phaicon I. Almanach der phantastischen Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 44-83. Durst, Uwe. (2001). Theorie der phantastischen Literatur. Tübingen: M. Niemeyer. Grass, Günter. (1995). Der Butt. 2.Aufl. München: dtv. Grass, Günter. (1987). Literatur und Mythos. In: Neuhaus, Volker/ Hermes, Daniela (Hrsg.) Grass, Günter. Essays, Reden, Briefe, Kommentare. Werkausgabe in zehn Bänden. Bd.-IX. Darmstadt: Luchterhand, 234 - 243. Lenz, Siegfried / Grass, Günter (1982). Über Phantasie. Günter Grass und Siegfried Lenz im Gespräch. Abrufbar unter: https: / / m. youtube. com > watch (Stand: 09/ 10/ 2014). Nikolajeva, Maria. (1988). The magic code. The use of magical patterns in fantasy for children. Stockholm: Almqvist & Wiksel. Pérez-García, Jesús (2022). Mo Yan y el condado de Gaomi. Un microcosmos mágico y feminizado junto a la antigua colonia alemana de Tsingtau. Tonos digital 42, Januar. Abrufbar unter https: / / www.um.es/ tonosdigital/ (Zugang: 2.3.2023). Todorov, Tzvetan. (1972). Einführung in die phantastische Literatur. München: Carl Hanser. Vax, Louis. (1974). Die Phantastik. In: Zondergeld, Rein A. (Hrsg.). Phaicon I. Almanach der phantastischen Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 11-43. Wilpert, Gero von (1989). Sachwörterbuch der Literatur. 7.Aufl. Stuttgart: Alfred Kröner. Wilpert, Rebekka. (2015). Metamorphosen, Phantastisches und Wunderbares. Zum Ma‐ gischen Realusmus in der russischen und polnischen Literatur. Dissertation. Kiel. Abrufbar unter: https / / macau.uni-kiel.de >receive. 46 Tamar Kiguradze <?page no="47"?> Das Motiv der Bibliothek in der deutschsprachigen phantastischen Literatur María Rosario Martí Marco Zusammenfassung: In postmodernen Romanen wie bei Moers und Funke begeben sich die Leser auf phantastische Reisen durch die Zeit auf der Suche nach dem Liber unicus, auch mit Translokationen in imaginäre Welten, wo phantastische Figuren in Bibliotheken auftauchen. Anderer‐ seits beinhalten E.T.A. Hoffmanns Räume psychologische Indikatoren, die Unbehagen und Angst in der Erzählung erzeugen. Dennoch ist die Bibliothek bei ihm kein locus suspectus, sondern ein geheimes Arkanum mit Schatzkammern von Büchern über Astronomie, Alchemie, Psychologie, usw. Symbole, Mythen und Metaphern des Motivs der Bibliothek werden dokumentiert. Schlüsselwörter: Bibliothek, Phantastik, Motiv, Raum, Zeit Abstract: A study of the motif of the library in german fantasy literature. In postmodern novels like Moers’ and Funke’s, readers embark on fantasy journeys through time in search of the Liber unicus, even translocating to imaginary worlds where fantasy characters appear in libraries. On the other hand, E.T.A. Hoffmann’s rooms contain psychological indicators that create unease and anxiety in the narrative, yet the library is not a locus suspectus, but a secret arcanum with treasure chambers of books on astronomy, alchemy, psychology etc. Symbols, myths and metaphors of the library motif are documented. Keywords: library, Fantasy, motif, space, time <?page no="48"?> 1 Wir danken der Deutschen Botschaft in Madrid, dem Generalkonsulat der Bundes‐ republik Deutschland in Barcelona und der Honorarkonsulin der Bundesrepublik Deutschland in Alicante für die großzügige Förderung. 2 Weinrich, Frank (2012). Die Phantastik ist nicht phantastisch. Zum Verhältnis von Phantastik und Realität. In: Schmeink, Lars/ Müller, H.H. (Hrsg.) Fremde Welten. Wege und Räume der Fantastik im 21.-Jahrhundert. Berlin: De Gruyter, 29. 3 Leitner, Gerald (2005). Denkwürdige Gebäude, merkwürdige Gestalten. Bibliotheken und Bibliothekarinnen in der Literatur. In: Magazin 1000 und 1 Buch, 4, 17. Wien: Institut für Jugendliteratur. 4 Borges, Jorge Luis (1987). Die Bibliothek von Babel. Erzählungen. Berlin: Verlag Volk und Welt. Die Bibliothek ist eine Sphäre, deren eigentlicher Mittelpunkt jedes beliebige Sechseck und deren Umfang unzugänglich ist. (BORGES 1987: 143) Einleitung Das Motiv der Bibliothek ist im Diskurs der phantastischen Literaturwissen‐ schaft präsent. Als Subjekt verkörpert sie in der heutigen Literatur die posi‐ tivsten Aspekte der Gelehrsamkeit und der Ordnung. 1 In Zeiten der Globali‐ sierung mit Defiziten an existenzieller Orientierung evoziert die Bibliothek, Ort der Stille, Sicherheit, Tradition und Zeitlosigkeit, eine sozialpädagogische Legitimierung, die für die Literatur sehr attraktiv scheint. Ihr didaktischer Wert macht sie zum Thema, da die Phantasie in enger Beziehung zu Fragen der ethischen Weltanschauung steht 2 . Sie ist ein Ort des Phantastischen, der Hoffnung, der Angst, sowie ein kultureller Treffpunkt. In ihrer Universalität wird die Bibliothek zum Mittelpunkt verschiedener Projektionen 3 : Bei Cervantes war sie ein Hauptmotiv. Stifter verwendete den Begriff Bücherzimmer in einer Konnotation der totalen Ordnung über 20 mal in Der Nachsommer. Bemerkenswert ist die Bibliophilie von Tieck, Jean Paul, Canetti, Sebald, Benjamin, Jandl, Lessing, Lehr, Byatt, die in der Fachbibliogra‐ phie erscheinen. Musil präsentiert uns mit anschaulichem Realismus und un‐ heimlicher Präzision im hundertsten Kapitel von Der Mann ohne Eigenschaften (1930) die Kontroverse des Nichtlesens in der Bibliothek. Die aktuelle Ikone des literarischen Diskurses ist Jorge Luis Borges’ enigmatische Allegorie Die Bibliothek von Babel  4 (1941), ein Mikrokosmos der Idee der Universalität, in der die Bibliothek ein „unversehrter und geheimer Schatz“ (147) von „kostbaren Büchern“ (148) und „Geheimsprachen“ (150) ist, ein „totales Buch“ (149) mit den Adjektiven „unendlich“ (151), „unbegrenzt und zyklisch“ (152). Im Paradigma 48 María Rosario Martí Marco <?page no="49"?> 5 Arburg, Hans-Georg von (2015). Architekturen/ Topographien. In: Lubkoll, Chris‐ tine/ Neumayer, Harald (Hrsg.) E.T.A. Hoffmann Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler, 347. des Bibliothek-Romans gibt es zahlreiche Verweise auf die Bibliothek und Schriftkultur als Anlass für ästhetische Reflexion. Exemplarisch folgt hier eine Auswahl der phantastischen Literatur bei E.T.A. Hoffmann, Walter Moers, Cornelia Funke und anderen Vorbildern der zeitgenössischen Literatur. In den zitierten Werken kommt eine Vielfalt von Bibliothekstypologien vor: religiöse (Skriptorien in Klöstern), private, staatliche, wissenschaftliche, sowie geheime und fiktive Bibliotheken. Das Motiv der Bibliothek bei E.T.A. Hoffmann E.T.A. Hoffmann beschreibt architektonische Räume als psychologische Indika‐ toren, die der Erzählung Orientierung geben, die Handlung markieren und aus dem poetologischen Potential des Phantastischen heraus Unbehagen und Angst erzeugen, wenn sie die Schatten des Unheimlichen und Irrationalen zeigen 5 . Bibliotheken erscheinen in den Innenräumen von Kammern und Zimmern, oft in Türmen, neben Chemielaboren und Horoskop-Studierzimmern, in Häusern voller Geister, Schlössern und schwarzen Kisten. Dennoch ist die Bibliothek bei Hoffmann kein locus suspectus, sondern eher ein geheimes, dunkles und mysteriöses Arkanum mit Schatzkammern von Handschriften, Faksimiles und Raritäten mit Exlibris für Bibliophile. Gefährliche Bücher und Bücher der dunklen Magie werden in separaten Abteilungen der verbotenen Bücher aufbe‐ wahrt. Im Allgemeinen befassen sie sich mit Astronomie, Alchemie, Psychologie und Traumtheorien. Hoffmann verweist auch auf einzigartige Bücher aus Familienbibliotheken, einige mit Illustrationen für Kinder. Die Bibliothek privater Typologie ist ein charakteristisches Merkmal Hoff‐ manns, im Gegensatz zur Bibliothek im postmodernen Roman, die eher eine öffentliche oder sakrale Typologie aufweist. In Der Sandmann sitzt die Familie um einen Tisch im Arbeitszimmer des Vaters und liest Kinderbücher; es gibt auch Bücher über Mystik. Im Haus der Familie in Nussknacker und Mausekönig gibt es eine hohe Glasvitrine für die Bilderbücher der Kinder Marie und Fritz und einen Geheimschrank mit Büchern über Psychologie und Instinkte. In Die Brautwahl erscheinen Algebrabücher, Pergamenteinbände und seltsame Bücher in einem Raum mit drei Kisten und kostbaren Plakaten in römischen und arabischen Buchstaben, all das in einer nächtlichen Umgebung. Klein Zaches genannt Zinnober’s kleines goldenes Buch ist anthropomorphisiert und wird lebendig, wenn man es aufschlägt, und wenn man es wieder zusammenklappt, Das Motiv der Bibliothek in der deutschsprachigen phantastischen Literatur 49 <?page no="50"?> 6 Hoffmann verweist in der blauen Bibliothek auf die Sammlung französischer Märchen und Legenden im Kabinett der Feen (1761-1766) und auf die Blaue Bibliothek aller Nationen (1790-1800). 7 Immer, Nikolas (2013). Anselmus im Skriptorium. Die Bibliothek als Inspirations- und Erlebnisraum bei E.T.A. Hoffmann. In: Gemmel, Mirko/ Vogt, Margrit (Hrsg.) Wissensräume. Bibliotheken in der Literatur. Berlin: Riperger & Kremers, 78. lösen sich die Blätter und verschwinden. In anderen Geschichten finden wir Bibliotheken in engen Korridorräumen und abgelegenen Kabinetten, Türme mit seltenen Instrumenten (Fernrohre, Quadrante, Ballons und Nachtspiegel) und klassische Bücher, wie Schillers Geisterseher aus der Nachtgeschichte Das Majorat. Wir finden den Buchbinder Lämmerhirt in Meister Floh und eine Katze, die in Lebensansichten des Katers Murr Bände aus den Regalen zieht und liest. In der Erzählung Der goldne Topf (1814), die zum Subgenre der High Fantasy gehört, wird die Bibliothek als Schatz betrachtet. In dieser Metaerzählung privilegiert Hoffmann in seiner Erzählform die traumhafte Existenz des Imagi‐ nären. Die blaue Bibliothek des Archivars Lindhorst birgt arabische, koptische und hieroglyphische Manuskripte, die der Student Anselmus mit außergewöhn‐ licher Kalligraphie kopiert. Von besonderem Interesse sind die rätselhaften Manuskripte, die sich in den Bücherschränken dieser Bibliothek befinden, und die geheimnisvollen Tinten auf den Pergamenten. Ende des 18. Jahrhunderts sind Privatbibliotheken unter Gelehrten noch selten, und tatsächlich sind sie bei Hoffmann kaum ein Ort zum Lesen und Schreiben. Das Innere des Kabinetts, das auch Bibliothekszimmer, Bibliothekssaal, Studierzimmer, Arbeitszimmer und Scriptorium genannt wird, weist eine schöne Farbkombination auf (azurblaue Zimmer, blauer Bibliothekssaal, violetter Schreibtisch) 6 . Das exklusive Sammeln von Büchern zeigt sich im Luxus der Regale und Repositorien und der Einrich‐ tung der Bibliothek mit goldnen Palmbäumen. Für Anselmus bedeutet die Bi‐ bliothek von Lindhorst einen Ort des Rückzugs. Die konzentrierte Atmosphäre des Raumes bildet ein Gegengewicht zu den Halluzinationen des Studenten, der im textästhetischen Diskurs zum Schriftsteller ausgebildet wird, um das Land der Poesie (Atlantis) erreichen zu können. Hoffmann öffnet die Tür zu einer parallelen, phantastischen Welt mit Übergängen zwischen den Realitäten. Die Inspiration ist somit ein Modus der Intertextualität. Immer 7 weist auf eine semantische Transformation des Raums der Bibliothek hin, die sich direkt auf Anselmus Verhalten auswirkt und die er als Phasen der Initiation, Inspiration und Konfrontation beschreibt. 50 María Rosario Martí Marco <?page no="51"?> 8 Hölter, Achim (2015). Das Bibliothekmotiv im literaturwissenschaftlichen Diskurs. In: Alker, Stefan/ Hölter, A. (Hrsg.) Literaturwissenschaft und Bibliotheken. Göttingen: Vienna University Press, 176. 9 Moers, Walter (2006). Die Stadt der Träumenden Bücher. München: Piper. 10 Funke, Cornelia (2003). Tintenherz. Hamburg: Dressler Verlag. 11 Siebeck, Anne (2009). Das Buch im Buch. Ein Motiv der phantastischen Literatur. Marburg: Tectum, 48. 12 Hölter (2015: 174). Das kulturelle, technische und kognitive Potenzial der Bibliothek 8 zeigt sich bei Hoffman in Handschriften und Inkunabeln, in einzigartigen Bücher‐ sammlungen, teilweise mit rätselhaften Kalligraphien, Graphemen, seltsamen Hieroglyphen und kabbalistischen Traditionen. In der Romantik kam es zu einer Wiederentdeckung der mittelalterlichen Handschriften und zu einer Erhöhung des Eigenwerts von Antiquariaten, antiquarischen Sammlungen und alten Büchern. Das Hauptwerk des Manuskriptgenres, das die Ära des Schauerromans meisterhaft einleitet, ist Graf Jan Potockis Die Handschrift von Saragossa oder die Abenteuer in der Sierra Morena (1797-1815), das Bilder aus Goyas Caprichos enthält und sich auf ein spanisches Manuskript bezieht. Die Bibliothek in postmodernen Romanen: Moers und Funke Für die vorliegende Analyse wurden mehrere Romane des 21. Jahrhunderts aus dem streng phantastischen Genre untersucht, insbesondere zwei postmoderne Romane: Walter Moers’ Die Stadt der träumenden Bücher (2004) 9 und Cornelia Funkes Tintenherz (2003) 10 . Der erste Band von Funkes Trilogie wird dem Subgenre Klassische Phantastik zugeordnet, während die anderen Bände dem Subgenre Fantasy zugerechnet werden. Die Abenteuergeschichte unterstreicht den Schatz der Bücher und der persönlichen Bibliothek. Der Text transportiert die Figuren beim Vorlesen mit Translokationen in eine mise en abyme, in der Figuren auftauchen und verschwinden: sie treten in das Buch aus dem realen Leben ein, wie auch vice versa aus dem Buch in das reale Leben. Mehrfache Reisen finden zwischen den Welten 11 und auf einer metaleptischen Ebene statt, die die Bibliothek zu einem spannenden Ort macht, der mit dem technischen Repertoire der Postmoderne verbunden ist 12 . In Funkes Werk finden wir die Metapher des Buches im Buch, sowie den Mythos des in Elinors wertvoller Bibliothek provozierten Bibliotheksbrandes. Der Fantasy-Roman und Märchenroman von Walter Moers ist eine Ge‐ schichte, die sich auf der Suche nach dem geheimen Manuskript (Liber unicus) entfaltet, das seinerseits ein vergiftetes und blutiges Buch ist. Die Handlung spielt sich in der Stadt Buchheim und der riesigen Bibliothek ab, die sich Das Motiv der Bibliothek in der deutschsprachigen phantastischen Literatur 51 <?page no="52"?> 13 Elsen, Hilke (2008). Phantastische Namen. Die Namen in Science Fiction und Fantasy zwischen Arbitrarität und Wortbildung. Tübingen: Gunter Narr, 11. 14 Kasbohm, Henning, (2012). Die Unordung der Räume. Beitrag zur Diskussion um einen operationalisierbaren Phantastikbegriff. In: Schmeink, Lars/ Müller, Hans-Ha‐ rald (Hrsg.) Fremde Welten. Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert. Berlin: De Gruyter, 105. 15 Bemman, Hans (2001). Erwins Badezimmer oder die Gefährlichkeit der Sprache. München: Goldmann. in einem labyrinthischen Untergrund aus Katakomben befindet. Wichtig ist der Hinweis auf die Symbolik der nomina propria mit bedeutungstra‐ genden Anagrammen und phantastischen Assoziationen 13 . Der Autor hebt die klangvollen Neologismen, Abkürzungen und lateinischen Wörter hervor, da Latein Zeitlosigkeit bei einer gewissen existentiellen Orientierungslosigkeit evoziert 14 . Letztendlich werden die Stadt und ihre Bibliothek in einem Feuer verschwinden. Zu einem anderen Romangenre gehört Michael Endes Die unendliche Ge‐ schichte (1979), ein Bildungsroman mit Parallelwelten und einer Buch-im-Buch- Struktur, dessen Held der kindliche Leser Bastian Balthasar Bux ist. Innerhalb des Fantasy-Genres umschließt Wolfgang Hohlbeins Roman Das Buch (2003) eine gigantische labyrinthische Bibliothek, die in die Anderswelt entführt, deren Türen mit Leder gepolstert sind, ein Topos der Vereinigung aller Bücher, betrieben von Bibliothekaren, die phantastische Wesen (Scriptoren, Gnomen) sind. Zu verweisen ist auch auf die neuen Mythologien in Kai Meyers Die Seiten der Welt (2014). Erwähnenswert ist auch Hans Bemmans Dystopie Erwins Badezimmer (2001) 15 , ein fiktiver Roman, in dem mehrere Bibliotheken mit verbotenen Büchern in einer Umgebung vorkommen, in der die Regierung alles Wissen kontrolliert, um ihre Macht zu sichern. Der Autor liefert eine wichtige Kritik zum Thema staatliche Zensur und selektives Wissen und zeigt, wie Widerstand gerade verbotenes Wissen nutzt, um sich dem diktatorischen System entgegenzustellen. Die Rebellion ist eindeutig mit den Bibliotheken verbunden. In all diesen Werken werden die Metapher der Bibliothek als Schatz, der Wert des Lesens und des Vorlesens, die Möglichkeiten Schriftsteller zu werden, sowie die magische Betrachtung des Buches und sein geheimnisvoller Wert hervorgehoben. 52 María Rosario Martí Marco <?page no="53"?> 16 Bork, Martina (2015). Im Labyrinth der Bibliothek. Metaphorische Bibliotheksentwürfe in zeitgenössischer Literatur und bildender Kunst. Wiesbaden: Harrassowitz. 17 Simonis, Annette (2005). Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur. Ein‐ führung in die Theorie und Geschichte eines narrativen Genres. Heidelberg: Winter Universitätsverlag, 259. 18 Umlauf, Konrad/ Gradmann, Stefan (Hrsg.) (2012). Handbuch Bibliothek. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart: J.B. Metzler, 25. 19 Dickhaut, Kirsten (2005). Das Paradox der Bibliothek. Metapher, Gedächtnisort, He‐ terotopie. In: Oesterle, Günter (Hrsg.) Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 178. 20 Borges (1987: 151). Symbole, Mythen und konstante Metaphern Im Folgenden führen wir eine Liste der Symbole, Mythen und Metaphern auf, die in den konsultierten Werken zu finden sind, nach dem Modell von Bork 16 , das wir durch neue Überschriften ergänzt haben: • Symbole. In der Beziehung Mensch-Bibliothek gibt es symbolische Über‐ schneidungen: des Wissens, des kulturellen und kollektiven Gedächtnisses, des Universums in den Attributen der Unendlichkeit und der ewigen Dauer, der Macht, der poetologischen Verfahren und der Intertextualität, der Ordnung als Aufbewahrungsort der universellen enzyklopädischen Gelehrsamkeit 17 . Nikolaus Wegmanns Bibliothekstheorie beinhaltet die Idee, dass die Bibliothek die vollständigste Form des Buches ist, ein Makrobuch, der einzige Text, der alle möglichen Elemente der Intertextualität enthält 18 . Einige der analysierten Werke beinhalten Theorien des literarischen Lesens, da die Bibliothek neben dem Methodenrepertoire auch den Gegenstand Literatur in einer Synekdoche darstellt. Letztlich ist das Motiv der Bibliothek eine Metareferenz, die die Paradigmen des Gedächtnisses, des Wissens, des Schreibens, des Kanons und der Rhetorik zusammenfasst. • Mythen erscheinen in den Werken: 1. Atlantis als Land der Poesie in Hoffmanns Der Goldne Topf. 2. Der Turm von Babel und Sprachen in ihrer Universalität bei Borges. 3. Alexandria im Brand und Verschwinden der Bibliothek in einem Kontinuum von Brennbarkeit und Vandalismus bei Moers und Funke 19 . Mit dem Mythos des Feuers wird eine Parallele zwi‐ schen zerstörten Büchern und verdunkeltem Wissen, zwischen Geschichte und verlorenem Denken gezogen. Trotz des Verfalls erklingen Borges’ Worte, dass „die Bibliothek fortdauern wird: erleuchtet, einsam, unendlich, vollkommen unbeweglich, gewappnet mit kostbaren Bänden, überflüssig, unverweslich, geheim“ 20 . Das Motiv der Bibliothek in der deutschsprachigen phantastischen Literatur 53 <?page no="54"?> 21 Edinger, Eva-Christina (2017). Wissensraum, Labyrinth, symbolischer Ort. Die Univer‐ sitätsbibliothek als Sinnbild der Wissenschaft. Köln: Herbert von Halem, 208. 22 Springer, Anna Sophie/ Turpin, Etienne (2016). Fantasies of the Library. Cambridge: MIT Press, 19. 23 Bork (2015: 1). 24 Kegler, Karl R. (2013). Architektur. In: Brittnacher, H.R./ May, Markus (Hrsg.) Phan‐ tastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J. B. Metzler, 228. • Metaphern: 1. Kathedrale des Geistes, Heiligtum, Palast, Tempel der Weis‐ heit. 2. Schatzkammer des Wissens und der Bücher, mit eigenen Wächtern und anderen Schätzen in dynamischer Anhäufung (Kuriositätenkabinett), wobei das dort bewahrte Wissen in der Lage ist, Neues zu schaffen. 3. Wissenschaft, in der Metapher der rationalen Welt des Individuums 21 . 4. Ge‐ dächtnisort, an dem die Geschichte eingeschrieben wird, Welt-Gedächtnis, Erinnerungsraum, Wissensspeicher, entscheidendes Denkmal für das Ver‐ ständnis gemeinsamer Erfahrungen. In der Bibliothek wird die Welt gelesen, in Anlehnung an Schopenhauer. Auch das Gedächtnis lässt uns erinnern und vergessen, und in diesem Sinne wird die Literatur zum Kampf gegen das Vergessen eingesetzt. Die Bibliothek ist das westliche kulturgeschichtliche Paradigma schlechthin, ein intellectual space, the world of books  22 , ein Bücher(h)ort, aber auch ein Ort der Schönheit und Ruhe: „Bibliotheken gehören zu den Parametern, anhand derer der geistige und kulturelle Entwicklungsgrad einer Zivilisation oder Kulturepoche bemessen wird“ 23 . 5. Welt und Universum aller möglichen Bücher, geschrieben in allen Sprachen. 6. Zufluchtsort und schützender Ort, an dem man sich ausruhen kann. 7. Absolutes Buch, in dem das Buch im Buch mit literarischen Reflexionen erscheint. 8. Labyrinth, mit der Konnotation von Unzugänglichkeit und rätselhafter Raumkonstellation seit dem klassischen minoischen Labyrinth von Theseus und dem Minotaurus. Bei Moers wird sie als rhizomatisches Labyrinth verstanden und bei Kai Meyer verzweigt sie sich in enge und tiefe Gänge unterirdischer Schichten, mit Kreuzungen und Abzweigungen am Rande des Abgrunds. Es handelt sich um eine symbolische Topographie mit der Polarität von Rand und Mitte, Aufstieg und Abstieg 24 . 9. Grabmal und Friedhof, mit Szenarien von antiken Bibliotheken, Antiquariatsbiblio‐ theken, Grabkammern, Büchernekropolen, Unterführungen, Katakomben, Ruinen, Nischen, Grotten, Gewölben, Gräbern von verstorbenen Autoren. 10. Pathogener Ort und Seuche, im Sinne einer Metapher für die Medizin. Die Bibliothek kann für den Intellekt, das Herz und die Seele schädlich sein, daher die Parallelwelt voller Gefahren des Don Quijote und der Zyklus von Goyas Caprichos (Der Schlaf der Vernunft bringt Ungeheuer hervor), wenn 54 María Rosario Martí Marco <?page no="55"?> 25 Steinhauer, Eric W. (2014). Büchergrüfte. Warum Büchersammeln morbide ist und Lesen gefährlich. Darmstadt: Lambert Schneider, 54. 26 Körte, Mona (2012). Essbare Lettern, brennendes Buch. Schriftvernichtung in der Literatur der Neuzeit, München: Wilhelm Fink. 27 Schmeink, Lars/ Müller, Hans-Harald (Hrsg.) (2012). Fremde Welten. Wege und Räume der Fantastik im 21.-Jahrhundert. Berlin: De Gruyter, 9. 28 Stocker, G. (1997): Schrift, Wissen und Gedächtnis: das Motiv der Bibliothek als Spiegel des Medienwandels im 20. Jh. Würzburg: Königshausen & Neumann, 105. das Lesen zu einer Plage, einer Epidemie, einem Desaster wird. Andererseits ist die Morbidität der Bibliothek präsent, Angriff des Staubs, Opfer von Schädlingen, Feinden des Papiers, von Keimen und Schimmelpilzen infi‐ zierte Bestände, die Bücher verschlingen. In den Romanen treten pathogene Bücher, Giftschränke auf, das Problem des sauren Papiers, die Risiken der Mykose, die die Erhaltung der Bücher beeinträchtigen, sie verändern und zersetzen 25 . Auch andere Verfahren der Zerstörung wie der Kannibalismus mit Büchern, die sich gegenseitig verschlingen 26 . Die Bibliothek als einzigartiges Phänomen und internationales literarisches Motiv Der literarische Topos der Bibliothek ist sicherlich universell. In den analy‐ sierten Romanen und Erzählungen tauchen Lernprozesse mit Leseerfahrungen aller Art auf, wie die Zauberschulen und vor allem das Ritual des Vorlesens. Die Rolle des Lesers als Held oder Heldin wird vertieft. Es gibt Plädoyers für das Lesen, die das Buch als wertvollen und ewigen Gegenstand offenbaren. In der Epiphanie der phantastischen Figuren und Protagonisten werden Bibliothekare, Buchbinder, Bibliophile, Bibliomanen, Leser, Gelehrte, Ästheten, Schriftsteller, Antiquare und Bücherdiebe hervorgehoben. Homunkuli, seltsame Gestalten, Monster-Menschen und alle Arten von phantastischen Metamorphosen außer‐ menschlicher Kreaturen und sogar tierische Verwandlungen werden dargestellt. Bücher werden anthropomorphisiert, weil sie als lebende Wesen mit magischem Potenzial verstanden werden, selbst in ihren leeren Buchseiten. Man beachte, dass die Bibliothek ein Kapitel in Steinhauers Vampyrologie (2011) bildet. Das Phantastische erscheint als rhetorische Abweichung von der Norm 27 : in eine scheinbar normale Welt bricht das Abnormale ein und Gesetze werden überschritten. Die Struktur des Bibliotheksmotivs wird durch folgende Elemente bestimmt 28 : • Die Bibliothek ist ein Prototyp für die Speicherung von Wissen und ein Aufbewahrungsort, indem sie eine unendliche Summe von Leben sammelt, Das Motiv der Bibliothek in der deutschsprachigen phantastischen Literatur 55 <?page no="56"?> 29 Meyer, Kai (2014). Die Seiten der Welt, Frankfurt: Fischer, 13. 30 Heber, Anja (2009). Die Bibliothek als Speichersystem des kulturellen Gedächtnisses. Marburg: Tectum, 9. 31 Springer (2016: 15). 32 Bork (2015: 246). 33 Abraham, Ulf (2012). Fantastik in Literatur und Film. Eine Einführung für Schule und Hochschule. Berlín: Erich Schmidt, 148. 34 Assmann, Peter (2013). Museum und Bibliothek. In: Brittnacher, H.R./ May, M. (Hrsg.) Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J. B. Metzler, 345. und ein Kommunikationsmittel. Die Bibliothek hat ihre Rituale der kosmi‐ schen Stille 29 , des Fastens, der Gerüche und einer gemeinsamen Ästhetik. • Die Ordnung des Wissens ergibt sich aus einem System des Sammelns und der Indexierung mit Formen und Kodierungstechniken, um die Aus‐ arbeitung von Verzeichnissen zu erleichtern. Die Bibliothek hält Bücher zirkulierbar 30 in einer Spannung zwischen Chaos und der Ordnung der Entropie, in einem Raum zum Sammeln von Informationen über das Leben und das Universum 31 . • Die Nutzung von Büchern durch die Nutzer in der Bibliothek als Instanz der Arbeit, Forschung und Kultur. Die Grundkategorien von Raum und Zeit in der Bibliothek Die elementarsten Strukturen für das Erzählen sind Zeit und Raum. Die Biblio‐ thek ist unter diesem Gesichtspunkt eine hybride Konstruktion: • Die Bibliothek ist ein zeitliches Gebilde, ein Interferenzraum, in dem sich verschiedene Zeitebenen verschränken. Der Leser wird in andere histori‐ sche Ereignisse versetzt. Das Rad der Zeit macht die Bibliothek zu einem Treffpunkt von Geschichte, Tradition, Kultur und Wahrheit. Auf diese Weise wird sie grenzenlos. Wie in einer lithologischen Sedimentation kann das Gedächtnis der Menschheit bewundert werden 32 . In der Bibliothek werden phantastische Reisen in imaginäre Welten, in Räume unerhörter Möglich‐ keiten unternommen: Reisen in die Vergangenheit oder in die Zukunft, in Bücher, die die Zukunft offenbaren. Die Bibliothek ermöglicht den Grenz‐ übertritt zur Utopie der Zeit und unterscheidet nicht zwischen Realität und Traum 33 . Translokation ist ein gewöhnliches Thema, denn die Bibliothek ist ein Katalysator für Veränderungen, wie bei Funke und Ende 34 . In den analysierten Romanen finden sich unterschiedliche Chronotopien: Alloto‐ pien in alternativen Welten, wenn in der realen Welt Unmögliches geschieht (Moers und Hoffmann), Metatopien und Metachronien in Extrapolationen 56 María Rosario Martí Marco <?page no="57"?> 35 May, Markus (2013). Zeit- und Raumstrukturen (Chronotopen/ Heterotopien). In: Britt‐ nacher, H.R/ May, M. (Hrsg.) Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J. B. Metzler, 591. 36 Umlauf (2012: 83). 37 Edinger (2017: 63). 38 Bauer, Gerhard/ Stockhammer, Robert (Hrsg.) (2000). Möglichkeitssinn. Phantasie und Phantastik in der Erzählliteratur des 20. Jhs. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 36. 39 Schmeink (2012: 7). 40 Roas, David (2001). Teorías de lo fantástico. Madrid: Arco Libros, 24. aktueller Entwicklungen in der realen Welt und in Antizipationsromanen wie bei Bemman (Erwin), Uchronien oder Hypothesen und Utopien. • Die Bibliothek ist ein narrativer Raum. Nach Foucault und May 35 ist die Bibliothek die exemplarische und intensivierte Heterotopie, ein Labyrinth, das alle kulturellen Ausdrucksformen aller Zeiten in einem Raum vereint. Sie ist die totale Entropie, die Unordnung eines Systems von Büchern, das Ordnung und einen gewissen Grad an Homogenität hervorbringt. Sie ist eine extrem dynamische Organisation, ein lebendiger Organismus in ständiger Neuordnung im entropischen Sinne. Nach E. W. Saids Spatial- Turn-Theorie ist die Bibliothek ein weitläufiger und embryonaler Raum, sie ist eine intensive Geographie mit einer sozialen Funktion als Soziotope 36 , ein experienced & lived Raum 37 , ein dritter Ort nach dem amerikanischen Soziologen Ray Oldenburg und eine Subkultur des low intensive meeting place. Zweifelsohne ist die Bibliothek ein Szenario, das mit seinen Gebäuden und Räumen in einer historisch wertvollen Konstellation topografisch verortet ist und eine sehr umfangreiche textuelle Kosmologie in sich birgt. Sie kann ein Raum des Durchgangs und des Zugangs zur Anderswelt sein, ein narrativer Raum für die phantastische Schwelle, der mit anderen, von gefährlichen Wesen bevölkerten Welten in Verbindung steht. Die Bibliothek als mentaler Raum und traumhafte Topographie 38 kann ästhetische Effekte der Angst, der Beklemmung und des Schauderns erzeugen. Das Phantastik- Genre zeichnet sich gerade durch die Fähigkeit aus, in Momenten der Ambivalenz und Unentschlossenheit ein Spiel mit der Angst zu erzeugen, wobei eine doppelte Bedeutungsstruktur und eine Pluralität von intrafiktionalen Welten vorhanden sind 39 . Der Realismus ist eine strukturelle Notwendigkeit für das korrekte logische Funktionieren des Textes, der in einem realen Umfeld und Tonfall angesiedelt und mit Techniken konstruiert werden muss. Die Bibliothek geht vom realistischen Code aus und zugleich überschreitet sie ihn 40 . Das Motiv der Bibliothek in der deutschsprachigen phantastischen Literatur 57 <?page no="58"?> Schlusswort Die Bibliothek scheint in der Literatur zu überleben, obwohl sie in ihrer physischen Realität bedroht ist. Sie ist ein relevanter Raum, ein Elfenbeinturm, ein metaphysischer Ort, ein einzigartiges Motiv in der phantastischen Literatur. Sie ist ein Ort der Schrift, des Lesens und Lernens. Ihre Geschichte ist die Geschichte der Sprache. Das phantastische Phänomen überschreitet die Grenzen der Sprache, wenn unerklärliche Ereignisse eindringen, und beinhaltet die Diskordanz zwischen der dargestellten und der bekannten Welt. Literatur Abraham, Ulf (2012). Fantastik in Literatur und Film. Eine Einführung für Schule und Hochschule. Berlín: Erich Schmidt. Arburg, Hans-Georg von (2015). Architekturen/ Topographien. In: Lubkoll, Chris‐ tine/ Neumayer, Harald (Hrsg.) E.T.A. Hoffmann Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler, 346-350. Assmann, Peter (2013). Museum und Bibliothek. In: Brittnacher, H.R./ May, M. (Hrsg.) Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler, 343-346. Bauer, Gerhard/ Stockhammer, Robert (Hrsg.) (2000). Möglichkeitssinn. Phantasie und Phantastik in der Erzählliteratur des 20. Jhs. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Bemman, Hans (2001). Erwins Badezimmer oder die Gefährlichkeit der Sprache. Mün‐ chen: Goldmann. Borges, Jorge Luis (1987). Die Bibliothek von Babel. Erzählungen. Berlin: Verlag Volk und Welt. Bork, Martina (2015). Im Labyrinth der Bibliothek. Metaphorische Bibliotheksentwürfe in zeitgenössischer Literatur und bildender Kunst. Wiesbaden: Harrassowitz. Dickhaut, Kirsten (2005). Das Paradox der Bibliothek. Metapher, Gedächtnisort, Hetero‐ topie. In: Oesterle, Günter (Hrsg.) Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kul‐ turwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 297-331. Edinger, Eva-Christina (2017). Wissensraum, Labyrinth, symbolischer Ort. Die Univer‐ sitätsbibliothek als Sinnbild der Wissenschaft. Köln: Herbert von Halem. Elsen, Hilke (2008). Phantastische Namen. Die Namen in Science Fiction und Fantasy zwischen Arbitrarität und Wortbildung. Tübingen: Gunter Narr. Funke, Cornelia (2003). Tintenherz, Hamburg: Dressler Verlag. Heber, Anja (2009). Die Bibliothek als Speichersystem des kulturellen Gedächtnisses. Marburg: Tectum. Hohlbein, Wolfgang und Heike (2003). Das Buch. Wien: Überreuter. 58 María Rosario Martí Marco <?page no="59"?> Hölter, Achim (2015). Das Bibliothekmotiv im literaturwissenschaftlichen Diskurs. In: Alker, Stefan/ Hölter, A. (Hrsg.) Literaturwissenschaft und Bibliotheken. Göttingen: Vienna University Press, 167-189. Immer, Nikolas (2013). Anselmus im Skriptorium. Die Bibliothek als Inspirations- und Erlebnisraum bei E.T.A. Hoffmann. In: Gemmel, Mirko/ Vogt, Margrit (Hrsg.) Wissens‐ räume. Bibliotheken in der Literatur. Berlin: Riperger & Kremers, 65-87. Kasbohm, Henning (2012). Die Unordung der Räume. Beitrag zur Diskussion um einen operationalisierbaren Phantastikbegriff. In: Schmeink, Lars/ Müller, Hans-Harald (Hrsg.) Fremde Welten. Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert. Berlin: De Gruyter, 37-56. Kegler, Karl R. (2013). Architektur. In: Brittnacher, H.R./ May, Markus (Hrsg.) Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler, 226-231. Körte, Mona (2012). Essbare Lettern, brennendes Buch. Schriftvernichtung in der Lite‐ ratur der Neuzeit. München: Wilhelm Fink. Leitner, Gerald (2005). Denkwürdige Gebäude, merkwürdige Gestalten. Bibliotheken und Bibliothekarinnen in der Literatur. In: Magazin 1000 und 1 Buch. Wien: Institut für Jugendliteratur, 4, 17-20. May, Markus (2013). Zeit- und Raumstrukturen (Chronotopen/ Heterotopien). In: Brittna‐ cher, H.R./ May, Markus (Hrsg.) Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler, 583-593. Meyer, Kai (2014). Die Seiten der Welt, Frankfurt: Fischer. Moers, Walter (2006). 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Insbesondere „Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde“ (1815) knüpft an eine solche Angst an und bezieht sich auf eine Beklem‐ mung, die von konstituierten Familienverhältnissen ausgeht. Mit dieser Beklemmung kombiniert sich ein Motiv, das auf der Kehrseite auf das schaurige Dasein der Femme fatale hinweist. Schlüsselwörter: Angst, bürgerliche Familie, Femme fatale, E.T.A. Hoff‐ mann, Spiegelbild Abstract: In E.T.A. Hoffmann’s works we hardly encounter a representa‐ tion of evil that signifies a demonstrative monstrosity. Hoffmann does not set his stories in a creepy, but in a familiar environment. Civil marriage is an excellent area for a hoffmanesque source of fear. „Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde“ (1815) picks up on such a source of fear, and thus refers to an anxiety that emanates from firmly constituted family relationships. This kind of angst is combined with a motif that points to the horrifying existence of the femme fatale. Keywords: Fear, bourgeois family, femme fatale, E.T.A. Hoffmann, Spie‐ gelbild <?page no="64"?> 1 Moretti, Franco (2013). The Bourgeois. Between History and Literature. London/ New York: Verso, 30. 2 Moretti (2013: 77). Einleitung In seinem Buch The Bourgeois: Between History and Literature (2013) argu‐ mentiert der Literaturwissenschaftler Franco Moretti, dass die Bourgeoisie die Literatur entscheidend geprägt hat. Moretti stellt Betrachtungen über un‐ terschiedliche Werke wie Defoes Robinson Crusoe (1719), Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre (1796) und Ibsens Nora oder Ein Puppenheim (1879) an und behauptet, dass diese Werke trotz der Unterschiede in all ihren Bezügen eines gemeinsam haben: Sie zeichnen allesamt die typischen Konturen einer emporsteigenden sozialen Klasse nach, indem sie gewisse Charakteristika an ihr sichtbar machen. Bei näherer Betrachtung dieser Nachzeichnung des Bourgeois sind einige Schlüsselbegriffe zu erkennen, die sich als maßgeblich definieren lassen. Attribute wie useful, efficiency und serious kennzeichnen schon immer die Eigenschaften und das Verhaltensmuster dieser Schicht. Als Antwort auf die entscheidende Frage seiner Studie, warum Robinson Crusoe auch dann nicht aufhört zu arbeiten, als er das Schiffsunglück schon überlebt hat, weist Moretti einen gemeinsamen Nenner auf, der das Bürgertum ausmacht. Er bezieht sich in seiner Formulierung „Working for himself, as if he were another“ 1 auf die Arbeit. Denn Arbeit ist nun das neue Prinzip, die gesellschaftliche Macht und damit verbundene Diskursinstanz zu legitimieren. Die Identität des Bourgeois bezieht sich also entsprechend auf das bürgerliche Ethos der nützlichen Arbeit und des Fleißes. Der Glaube an harte Arbeit, Leistung, Belohnung und Anerkennung bestimmen nicht nur das bürgerliche Ethos, sondern auch den Alltag samt Familie und Haushalt. In Morettis Worten heißt das „a general re-awakening of the everyday“ 2 zu sein, in dem das Bürgertum seinen Lebensstil genießt, wobei die Regelmäßigkeit als entscheidendes Prinzip immer wieder erkennbar wird. Die bürgerliche Familie als Schreckensort Das Ethos des bürgerlichen Mittelstands, das die Grundlage eines sinnvollen Lebens in Fleiß, Tüchtigkeit und Arbeitsfreude bildet, ist an soziale Kontexte gebunden und wurzelt in der Familie und deren Streben nach Anerkennung als Institution. Eine der grundlegenden Institutionen, die die Regelmäßigkeit als einen bürgerlichen Wert verkörpert, ist die Familie. Die bürgerliche Familie beruht in erster Linie auf der Trennung der Arbeitsstätte vom Wohnbereich. 64 Şebnem Sunar <?page no="65"?> Diese Trennung - und damit die Differenzierung von Öffentlichkeit und Privatheit - dient bestimmte Rollenbilder im familiären Umfeld zu befestigen. So wird die Familie zu einer Sphäre des privaten, häuslichen Ausgleichs für den fleißigen und öffentlichen Mann, während sich die Frau der Pflege der Häuslichkeit und der Weitergabe korrekter kultureller Werte und Normen an die nächste Generation widmet. Die Rolle als Ehefrau und Mutter bildet die Grundlage traditioneller Weiblichkeitskonzeptionen, welche die Repräsentanz von Frauen in sozio-kulturellen Makrostrukturen einschränkt. Die Frau in der bürgerlichen Familie wird an den Rand gedrängt; ihre Welt ist hauptsächlich das Zuhause. Der untergeordnete Platz der Frau innerhalb der bürgerlichen Familie ist also in ihrer Struktur und Funktion aufgebaut. Das bürgerliche Ethos mit seiner Hochachtung gegenüber der Regelmäßig‐ keit und einer typischen Neigung zu rationaler Lebensführung zeigt sich besonders in dieser Familienordnung, die unverändert beibehalten werden soll. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich in der Schwarzen Romantik das bürgerliche Familienideal und die diesem entsprechende Familienordnung als ein Schreckensort erweisen. Die Bedrohung bürgerlich-familiärer Verhältnisse wird als Mahnung zur Dauerhaftigkeit der bürgerlichen Kultur verstanden. Der Schauerroman durchbricht jene gemütliche Familienidylle und stellt das Lebensideal in Frage, das aus bürgerlichen Werten entspringt. Im Werk E.T.A. Hoffmanns lässt sich diese Bedrohung eher im bürgerlichen Alltag finden. Bei ihm heftet sich die Angst an die gewohnte Alltagswelt der Bourgeoisie und ihrer verlässlichen Institutionen. Die anscheinend so harmlos zur bürgerlichen Kultur gehörenden, sonst komfortablen Lebensbereiche, die aus Alltagsinstitutionen (wie z. B. Familie oder Kirche) hervorgehen, erhalten bei Hoffmann plötzlich eine Nachtseite. Die bürgerliche Ehe und darin entstandene enge, familiäre Verhältnisse sind ausgezeichnete Motive für solche abgründige Kehrseite. In diesem Zusam‐ menhang bietet sich besonders die 1815 erschienene Binnenerzählung um das verlorene Spiegelbild des Erasmus Spikher aus der Erzählfolge Die Abenteuer der Sylvester-Nacht (1813-1815) an, weil hier das Unheimliche seinen Ausdruck in einer Beklemmung findet, die von fest konstituierten bürgerlichen Familien‐ verhältnissen ausgeht. Die Femme fatale und die Ambivalenz des Weiblichen Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde öffnet sich mit einer Szene scheinbar idyllischer Familienatmosphäre. So lernen wir gleich am Beginn der Erzählung Erasmus Spikher kennen, der Frau und Kind in Deutschland zurücklässt, um Eine schreckenerregende Dialektik 65 <?page no="66"?> 3 Hoffmann, E.T.A. (2020). Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde. In: Hoffmann, E.T.A. Fantasiestücke in Callots Manier. 3. Auflage. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag, 342. 4 Hoffmann (2020: 343). 5 Hoffmann (2020: 345). 6 Ein zentrales Motiv, welches in mehreren Erzählungen von Hoffmann, insbesondere in Der Sandmann (1816), wiederkehrt. Die Bergwerke zu Falun (1819) und Des Vetters Eckfenster (1822) sind entsprechende Beispiele, die dieses Motiv variieren, um einige hier zu nennen. 7 Hoffmann (2020: 350). eine Reise nach Italien zu unternehmen. Auch den anderen Mitgliedern der Familie begegnen wir bei dieser Abschiedsszene: Die liebe fromme Frau begleitet ihren Mann zur Kutsche, hebt den Sohn, „den kleinen Rasmus, nachdem sie ihm Nase und Mund sorgfältig geputzt, in den Wagen hinein, damit der Vater zum Abschiede ihn noch sehr küsse“ 3 . Diese Eröffnung vermittelt den Eindruck eines gesitteten Familienlebens, wobei die erwachsenen Figuren in ihren Rollen als Ehefrau/ Mutter und Famili‐ envater dargestellt werden. In Spikher erkennt man bald einen braven Ehemann, wenn er in einer Florentinischer Nacht seinen Freunden erklärt, dass er „als Familienvater“ 4 seiner Frau nicht untreu sein möchte. Doch der erste Eindruck des liebevollen, treuen Ehemanns täuscht und erfüllt dadurch genau den ge‐ wünschten Zweck, wenn die Femme fatale in Gestalt der schönen Kurtisane Giulietta erscheint und Erasmus dann eine leidenschaftliche Affäre mit ihr beginnt. Sobald Giulietta auftritt, wird die Rolle des treuen Familienvaters suspekt, denn in ihr, in der Femme fatale, scheinen geheime Wünsche des nach außen korrekt auftretenden Ehemanns Gestalt anzunehmen. Erasmus Spikher, der erst 27 Jahre alt ist, nimmt die Kurtisane als ein „Engelsbild“ 5 wahr, und es wird klar, dass durch die nach außen gezeigte Unbescholtenheit Spikhers nur ein zweites, verborgenes Ich verdrängt wird. Schon der Name Spikher lässt sich über homophone Analogie als Spiegel hören und weist somit indirekt auf das hoffmanneske Motiv des Sehens bzw. der Sehstörung 6 hin. So verrät sein Name, dass eine Spiegelung - und was sie repräsentiert - in Frage käme. Tatsächlich erschlägt Erasmus in einem eifersüchtigen Moment einen Rivalen, einen jungen Italiener, und muss daraufhin fliehen. Noch bevor er die Stadt verlässt, gesteht er Giulietta zu, dass sein Spiegelbild auf ewig ihr bleiben darf: Giuliettas Küsse brannten wie Feuer auf seinem Munde, als er dies gesprochen, dann ließ sie ihn los und streckte sehnsuchtsvoll die Arme aus nach dem Spiegel. Erasmus sah, wie sein Bild unabhängig von seinen Bewegungen hervortrat, wie es in Giuliettas Arme glitt, wie es mit ihr im seltsamen Duft verschwand. 7 66 Şebnem Sunar <?page no="67"?> 8 Frenschkowski, Helena (1995). Phantasmagorien des Ich: Die Motive Spiegel und Porträt in der Literatur des 19.-Jahrhunderts. Frankfurt a.M./ Berlin: Peter Lang, 129. 9 Praz, Mario (1963). Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. München: Carl Hanser Verlag, 133. 10 Bronfen, Elisabeth (1996). Over Her Dead Body: Death, Femininity and the Aesthetic. Manchester: Manchester University Press, 69. 11 Hilmes, Carola (1990). Die Femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromanti‐ schen Literatur. Stuttgart: Metzler Verlag, XIII-XIV. Der Verlust des Spiegelbilds weist sinnfällig auf die Rollenspaltung zwischen dem gesitteten Familienvater und liebestollen Ehebrecher. An Spikher vollzieht sich der Konflikt zwischen bürgerlichen Werten und deren Negation, zwischen Verantwortung einerseits und purem Genuss andererseits. Ihm fehlt ein ein‐ deutiges Rollenbild, wobei die Entscheidung für den Familienvater, welche die Verdrängung mit sich bringt, leicht in die Illusion führt. Bei Giulietta erlaubt sich Spikher das, was unter den bürgerlich verbindlichen Verhältnissen als Skandal empfunden würde, wo die gesellschaftliche Bindung hauptsächlich durch Identifizierung mit vorbestimmten Rollen hergestellt wird. Das Fehlen des Spiegelbilds wird dadurch nicht nur zum sinnfälligen Ausdruck der Rollenspal‐ tung, sondern repräsentiert auch den Verlust des eigenen Selbst. Dies impliziert, dass ein Verlust solcher Art die holistische Identität des Einzelnen dementiert und ihn schließlich in einen „abgespaltenen Doppelgänger“ 8 verwandelt. Das Spiegelbild, das nun in den Besitz Giuliettas übergeht, symbolisiert in dieser Konstellation unerfüllte Wünsche, die unter sozialer Integrität verborgen sind. So befreit und sublimiert die Femme fatale das sexuelle Begehren. Sie verkörpert „verwegene Leidenschaften und wollüstige Liebschaften, die den Männern Elend und Verderben bringen.“ 9 Die lockende Gefahr der Femme fatale lenkt den Mann von höheren Pflichten erotisch ab und führt zum Verfall alles Rationalen, das dem Mann zugeschrieben wird. Die starke Sexualität der Femme Fatale führt dazu, dass der Mann „his social identity and his sense of safe ego boundaries“ 10 verliert. Sie ist ein Verlangen, das gleichzeitig fesselt und erschreckt: Die Femme fatale lockt, verspricht und entzieht sich. […] Die Femme fatale faszi‐ niert durch ihre Schönheit und das in ihr liegende Versprechen auf Glück, einem Wunsch nach leidenschaftlicher Liebe. Gleichzeitig wird sie aber auch als bedrohlich empfunden. Die Gefahr geht aus von der in ihr verkörperten Sexualität […] Die Femme fatale repräsentiert die permanente Verführerin, die ebenso sehr gewünscht wie gefürchtet wird. 11 Diese Polarisierung stellt eine Ambivalenz dar, die dem entspricht, was auch die soziale Rollenspaltung der Weiblichkeit verstärkt. Tatsächlich betrachtet Eine schreckenerregende Dialektik 67 <?page no="68"?> 12 Vgl. Moretti, Franco (1988). Signs Taken for Wonders. Essays in the Sociology of Literary Forms. London/ New York: Verso, 99. 13 Hilmes (1990: XIV). 14 Hoffmann (2020: 358). 15 Hoffmann (2020: 358). die Hochkultur des Bürgertums des 19. Jahrhunderts Eros und Sexualität als weitgehend ambivalent. Die am häufigsten verwendete Rhetorik war - wie Franco Moretti an einer anderen Stelle versichert - das Oxymoron 12 . Denn: Angst und Begehren sind zwei Facetten desselben Prinzips, sie beruhen auf reziproker Interdependenz und verwandeln sich ständig ineinander. Es ist diese Ambivalenz, die die Femme fatale begleitet und sie zugleich sowohl zu einer an‐ ziehenden als auch zu einer unheimlichen Figur macht. Die ihr zugeschriebene Imago „hat ihren Grund nicht in einer bestimmten diabolischen Eigenschaft […], sondern in dieser zwiespältigen Disposition als Wunsch- und Angstbild.“ 13 Sie ist das perfekte Beispiel für die Identität von Angst und Begehren. Die Dialektik des Spiegels Kaum anders aber verhält es sich mit der sozialen Rolle von Frau Spikher. Der Eindruck der guten frommen Ehefrau und Mutter, der durch die Betonung des Erzählers immer wieder unterstützt wird, wirkt in dem Augenblick ambivalent - wenn nicht suspekt -, als sie von der Affäre ihres Mannes erfährt und das Fehlen seines Spiegelbilds bemerkt: Sieh doch einmal in jenen Spiegel dort, lieber guter Mann! […] Begreifen wirst du aber übrigens wohl selbst, daß du ohne Spiegelbild ein Spott der Leute bist und kein ordentlicher, vollständiger Familienvater sein kannst, der Respekt einflößt der Frau und den Kindern. 14 Aus der Sicht der bis zum Ende namenlos bleibenden Ehefrau entbehrt das Fehlen des Spiegelbilds jeglicher schauerlichen Bedeutung. Ein Mann ohne Spiegelbild bedeutet für sie bloß, bürgerlich keinen anständigen Ehegatten mehr zu haben. In ihren Augen gehört das Spiegelbild sozusagen zum bürgerlichen Hausrat. Damit konstatiert sie aber nicht, dass der Verlust des Spiegelbilds von der Norm abweichendes Rollenverhalten symbolisiert. Vielmehr zieht sie daraus eine kalkulierte Konsequenz und schickt ihn erneut in die Welt mit der Mahnung, „dem Teufel [s]ein Spiegelbild abzujagen“ 15 und dabei seine väterlichen Pflichten nicht zu vergessen: 68 Şebnem Sunar <?page no="69"?> 16 Hoffmann (2020: 358). 17 Neymeyr, Barbara (2004). Die Abenteuer der Sylvester-Nacht. Romantische Ich-Dis‐ soziation und Doppelgänger-Problematik. In: Saße, Günter (Hrsg.) Interpretationen. E.T.A. Hoffmann. Romane und Erzählungen. Stuttgart: Reclam, 71. 18 May, Markus (2003). Im Spie(ge)l des Schreckens und Begehrens. Spiegelphänomene in der phantastischen Literatur am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Die Abenteuer der Sylvester-Nacht. In: Ivanovic, Christine/ Lehmann, Jürgen/ May, Markus (Hrsg.) Phantastik, Kult oder Kultur? Aspekte eines Phänomens in Kunst, Literatur und Film. Stuttgart: Springer, 137. 19 Vgl. Lacan, Jacques (1975). Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Übersetzt von Peter Stehlin. In: Lacan, J. Schriften I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 64. Schicke dem Rasmus dann und wann ein Paar neue Höschen; denn er rutscht sehr auf den Knien und braucht dergleichen viel. Kommst du aber nach Nürnberg, so füge einen bunten Husaren hinzu und einen Pfefferkuchen als liebender Vater. Lebe recht wohl, lieber Erasmus! - Die Frau drehte sich auf die andere Seite und schlief ein. 16 An dieser letzten Szene ist ihr durchaus bewusst, dass das Wesen des Spie‐ gelbilds „mit der Identität und Integrität der Person verbunden“ 17 ist und als Medium der Selbsterkenntnis und -erschaffung funktioniert. Durch das Motiv des Spiegel(bild)s wird eine Dialektik zwischen Begehren und Schrecken inszeniert, deren psycho-theoretische Konzeptualisierung wir den Arbeiten des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan verdanken. Laut Lacan offen‐ bart sich im Spiegel „die Seinsweise des dezentrierten Ichs, seine Exzentrität (oder, wie Lacan formulieren würde, seine ‚ex-sistence‘)“ 18 . Das Selbst zeigt sich in der Reflexion fragmentiert, und diese zwangsläufige Situation, in der der Prozess der Fragmentierung durch das Körperbild des Anderen und durch Entfremdung überwunden wird, sperrt das ursprüngliche Ich in ein anderes Körperbild ein. Denn das Ich entsteht erst durch die Identifizierung mit dem Spiegelbild, das am Ende die Dauerhaftigkeit des Ich symbolisiert. 19 Das Fehlen eines solchen bedeutet den Verlust des eigenen Selbst und damit die Spaltung der Persönlichkeit, die sich im Fall Spikhers als Rollenspaltung erweist. Schlussbemerkungen Was sich als Ich konstituiert, ist also Nicht-Ich. Die Substanz, die das Ich vorantreibt, indem sie es provoziert, ist das Begehren des Anderen. Das Ich stärkt nur seine Legitimität, indem es jenes Begehren durch sich selbst ersetzt. In Körper, Blick und Stimme des Anderen gefangen zu sein, verstärkt auch die Notwendigkeit, jenes Ab-Bild der Aneignung und der Entfremdung zu zerstören. Die Tatsache, dass das Ich sich durch ein ideales Selbstbild empfindet, bildet die Bedingung für Eine schreckenerregende Dialektik 69 <?page no="70"?> die Zerstörung der schrecklichen Ähnlichkeit, die auch auf der anderen Seite des Spiegels zu zerfallen droht. Der daraus resultierende Mangel führt Spikher zur Spiegelbildlosigkeit, die auf gesellschaftlich inakzeptables Fehlverhalten hinweist - nämlich auf die Unintegrierbarkeit in bürgerlichen Lebensverhältnissen. Die Ängste der bürgerlichen Welt lassen sich im Werk Hoffmanns genau durch diese dialektische Verweisungstendenz erkennen. Die Spiegelbildlosig‐ keit Erasmus Spikhers ist ein klares Beispiel dafür. Hoffmann gestaltet das Unheimliche zunächst mit durchaus traditionellen Schauerroman-Elementen, überträgt aber die gewohnte Eindeutigkeit des Bösen auf die scheinbare Inte‐ grität bürgerlicher Lebensverhältnisse. Das Grauen entsteht bei Hoffmann aus den Untiefen der bürgerlichen Konvention. Literatur Bronfen, Elisabeth (1996). Over Her Dead Body: Death, Femininity and the Aesthetic. Manchester: Manchester University Press. Frenschkowski, Helena (1995). Phantasmagorien des Ich: Die Motive Spiegel und Porträt in der Literatur des 19.-Jahrhunderts. Frankfurt am Main/ Berlin: Peter Lang. Hilmes, Carola (1990). Die Femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromanti‐ schen Literatur. Stuttgart: Metzler. Hoffmann, E.T.A. (2020). Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde. In: Hoffmann, E.T.A. Fantasiestücke in Callots Manier. 3. Auflage. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 342-359. Lacan, Jacques (1975). Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Übersetzt von Peter Stehlin. In: Lacan, Jacques. Schriften I. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 61-70. May, Markus (2003). Im Spie(ge)l des Schreckens und Begehrens. Spiegelphänomene in der phantastischen Literatur am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Die Abenteuer der Sylvester-Nacht. In: Ivanovic, Christine/ Lehmann, Jürgen/ May, Markus (Hrsg.) Phantastik, Kult oder Kultur? Aspekte eines Phaenomens in Kunst, Literatur und Film. Stuttgart: Springer, 127-152. Moretti, Franco (2013). The Bourgeois. Between History and Literature. London, New York: Verso. Moretti, Franco (1988). Signs Taken for Wonders. Essays in the Sociology of Literary Forms. London/ New York: Verso. Neymeyr, Barbara (2004). Die Abenteuer der Sylvester-Nacht. Romantische Ich-Disso‐ ziation und Doppelgänger-Problematik. In: Saße, Günter (Hrsg.) Interpretationen. E.T.A. Hoffmann. Romane und Erzählungen. Stuttgart: Reclam, 60-74. Praz, Mario (1963). Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. München: Carl Hanser. 70 Şebnem Sunar <?page no="71"?> Komische Verwirrungen in E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla Rolf-Peter Janz Zusammenfassung: Die Erzählung handelt vom spielerischen Umgang eines in Rom lebenden jungen Schauspielers und einer Putzmacherin mit ihrer Identität, die sich vor allem im Karneval ausleben lässt. Als Vorbilder dienten Hoffmann einige Capriccios von Jacques Callot. Dieses Spiel hat neben komischen und grotesken auch grauenvolle Seiten. Die Verwirrungen, die neben den Protagonisten - Giglio verliebt sich in sein Traumbild Brambilla und Giacinta in das von Chiapperi - auch andere Figuren untereinander stiften, mutet Hoffmann auch den Lesern zu. Als ein Grundmuster des Erzählvorgangs erweist sich das Labyrinth. Wie z. B. die Brambilla-Handlung und das Urdar-Märchen im einzelnen zu‐ sammenhängen, bleibt rätselhaft. Die Erzählung führt eine überraschende Affinität von realer und phantastischer Welt vor Augen. Schlüsselwörter: Identität, J. Callot, Karneval, Komik, Labyrinth Abstract: The story tells of the playful conduct of a young actor living in Rome and a milliner who live out their identity above all during carnival. Several capriccios by Jacques Callot served as Hoffmann’s models. The plot has gruesome as well comic and grotesque aspects. The confusion wrought by the principal figures - Giglio falls in love with his fantasy Bramilla and Giancinta with that of Chiapperi - befalls other figures, too, and it is something that Hoffmann does not spare his readers either. The narrative paradigm turns out to be that of the labyrinth. How the plot of Brambilla and the Urdar fairytale cohere in their details remains unclear. The story brings to the fore a surprising affinity between the worlds of reality and phantasy. Keywords: Identity, J. Callot, carnival, comic, labyrinth <?page no="72"?> 1 Heine, Heinrich (o. J.). Sämtliche Werke. Hrsg. Ernst Elster, Leipzig und Wien: Biblio‐ graphisches Institut. Bd.-7, 595. 2 Neumann, Gerhard (2003). Glissando und Defiguration. E.T.A. Hoffmanns Capriccio „Prinzessin Brambilla“. In: Greber, E./ Menke, B. (Hrsg.) Manier -Manieren -Manie‐ rismen. Tübingen: Narr, 63-95, 69. „Prinzessin Brambilla ist eine gar köstliche Schöne, und wem diese durch ihre Wunderlichkeit nicht den Kopf schwindlicht macht, der hat gar keinen Kopf “. 1 Das schreibt Heinrich Heine in seinen Briefen aus Berlin. Schön und wunderlich - sein Kommentar aus dem Jahre 1822 ist, wie ich meine, unerhört weitsichtig. Auch heute noch können Leser ihm zustimmen.- Zweifellos konfrontiert auch diese Erzählung Hoffmanns die den Protagonisten vertraute Lebensrealität mit dem „Wunderbaren“, also einer übernatürlichen, unberechenbaren Phantasie- oder Traumwelt, die uns fremd ist und uns erschreckt und erschauern lässt, aber auch faszinieren kann. Erzählt wird die Geschichte des Giglio Fava, eines jungen Schauspielers, und der Putzmacherin Giacinta Soardi, die die abenteuerlichen, kostbaren Kostüme des Schneiders Belcapi für den bevorstehenden Karneval in Rom zusammennäht, und gleichzeitig die Geschichte der äthiopischen Prinzessin Brambilla und des assyrischen Prinzen Chiaperri. Es kommt, wie es kommen muss, dank der Regie einer komplexen Figur, des Magiers, Marktschreiers und Scharlatans Celionati, der dafür sorgt, dass sich Giglio in Brambilla und Giacinta in Chiapperi verliebt. Sehr bald stellt sich jedoch heraus, dass Giglio in seiner Phantasie Giacinta zu Brambilla „verdoppelt“ hat. 2 Bereits im ersten Kapitel hat Giacinta selbst dank ihrer Verwandlungslust, die sie mit Giglio teilt, Züge der Brambilla angenommen, als sie das von Bescapi entworfene Prinzessinnen-Kleid anzieht. Brambilla wird zu Giglios Traumbild. Zornig muss Giacinta erleben, dass Giglio nicht sie, sondern ihr „Atlaskleid“ bewundert. Und Chiaperri erweist sich als eine Phantasiegestalt, die in den Augen Giacintas eine Zeitlang Giglio ersetzt. Vor dem Happy End - Giglio und Giacinta finden schließlich wieder zueinander, und Brambilla und Chiapperi werden ein Paar - beherrschen Träume und ebenso Alpträume ihr Leben. Ausführlich erzählt der Text vom Karnevalszug in Rom. Wer an ihm teilnimmt, muss eine Maske tragen, und so kommt es ständig zu Verwechslungen. Auch die Schauplätze wechseln einander ab, vom Korso geht es in die Paläste, ins Café und ins Theater, wo klassizistische Tragödien und neue Stegreifkomödien gespielt werden. Diese Skizze der Handlung sagt allerdings noch wenig über das, was den Leser in der Erzählung erwartet. Im Untertitel nennt Hoffmann die Brambilla-Erzählung „Ein Capriccio nach Jakob Callot“ und beruft sich damit auf eine Gattung, die seit dem 16. Jahr‐ 72 Rolf-Peter Janz <?page no="73"?> 3 Feldges, Brigitte/ Stadler, Ulrich (1986), E.T.A Hofmann. Epoche - Werk - Wirkung. München: Beck, 124. 4 E.T.A. Hoffmann, Sämtliche Werke, Bd. 3 (1985), herausgegeben von Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1149. Prinzessin Brambilla wird im Folgenden nach dieser Ausgabe unter DKV III zitiert. 5 DKV III, 769. 6 Kremer, Detlef (1999). E.T.H. Hoffmann. Erzählungen und Romane. Berlin: Erich Schmidt, 124. 7 DKV III, 1155. 8 Brief an Adolph Wagner, 21.5.1820, DKV III, 1142. hundert in der Musik wie auch in der bildenden Kunst verbreitet war. 3 Von Jacques Callots Radierungen der Balli Sfessania, die um 1622 entstanden sind, hat Hoffmann acht ausgewählt und die Kupferstiche, die Carl Friedrich Thiele von ihnen gefertigt hat, seiner Erzählung hinzugefügt. 4 Callots Werke illustrieren Szenen aus der Commedia dell’arte, und im Vorwort zur Brambilla empfiehlt Hoffmann dem Leser nachdrücklich Callots „fantastisch karikierte Blätter“ „als die Basis des Ganzen“. Er solle bereit sein, sich „dem kecken launischen Spiel eines vielleicht manchmal zu frechen Spuckgeistes zu überlassen“. 5 Callots Figuren in der Kupferstich-Fassung Thieles sollen, so Hoffmann, u. a. Giglio und Brambilla darstellen. Der Name „Capriccio“ bezeichnet zunächst „eine eigenwil‐ lige, scherzohafte Variation über ein musikalisches Thema mit überraschenden rhythmischen und harmonischen (Bock)Sprüngen“ […]. 6 Capriccios missachten tradierte Regeln und gelten als manieristisch. 7 Eine ähnliche Bedeutung wie in der Musik gewinnt die Gattung auch in der bildenden Kunst, so in Callots Werk. Im Vorwort zu den Fantasiestücken in Callots Manier unterstreicht Hoffmann, dass dessen Kunst „auch eigentlich über die Regeln der Malerei“ hinausgehe. Als ein Grundmuster des Capriccios kann im Fall der Brambilla-Erzählung das Labyrinth gelten, denn sowohl der Verlauf der Erzählung wie auch die Identifikation der zahlreichen Figuren sind an Unübersichtlichkeit kaum zu überbieten. Von wem ist gerade die Rede? Das ist oft kaum zu klären. Mit dieser Unübersichtlichkeit treibt obendrein auch die Erzähler-Figur ihr Spiel. Sie unterstellt den Lesern gelegentlich, dass die ja sehr wohl wüssten, wer sich hinter einem anderen Namen verbirgt. Erst am Ende zeigt sich, dass der Magier Celionati und der Fürst Pastianello di Pistoja ein und dieselbe Person sind. Rätselhaft bleibt auch der Zusammenhang des Erzählten: Was hat das Märchen vom Urdargarten mit dem Straßenkarneval in Rom zu tun? Das muss sich jeder fragen, der die Erzählung liest. Hoffmann selber hat halbwegs ironisch einmal die Vermutung geäußert, dass seine Leser das Werk für einen „tollen Mischmasch“ halten könnten. 8 Komische Verwirrungen in E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla 73 <?page no="74"?> 9 DKV III, 831. 10 DKV III, 889. Für die Komik der Erzählung sorgen vor allem die Gattung des Capriccio, die Commedia dell’arte und der römische Karneval. Vom Capriccio war bereits die Rede. Die Commedia dell’arte ist zum einen ein Thema, das von den Theaterfiguren ausgiebig und kontrovers erörtert wird. Zum andern verrät die Erzählung selbst über weite Strecken Züge eines Theaterstücks. Bereits die alltägliche Realität in diesem Werk ist ein Maskenspiel, das als Karneval in Rom und als römisches Theater aufgeführt wird. Ob Giglio Fava, Giacinta Soardi oder Celionati - sie alle spielen Komödie. Offensichtlich nutzt Hoffmann vor allem den Karneval und seine Traditionen als eine unerschöpfliche Quelle des Komischen. Der Karneval lebt von Verwechslungen. In ihm wird die im Alltag gelebte Identität durch irritierende Maskeraden zeitweilig ersetzt. Hingerissen von „gewissen exzentrischen Vorstellungen von seinem Ich“ 9 , beginnt Giglio einmal auf dem Korso, so als hätte er einen Gegner vor sich, einen Kampf mit sich selbst, den die Zuschauer mit „brüllendem Gelächter“ quittieren. Im Caffè Greco, in dem sich u. a. einige Theaterleute Roms und deutsche Künstler treffen und über die Vorzüge und Schwächen italienischer und deut‐ scher Tragödien streiten, macht das Gerücht die Runde, der Schauspieler Giglio Fava sei auf dem Korso bei einem Zweikampf niedergestochen worden und gestorben. Dem widerspricht Abbate Chiari, der aus der Zeit gefallene pathetische, schwülstige Trauerspiele schreibt: derlei könne nur glauben, wer sich mit den römischen „Carnevalsspäßen“ nicht auskenne. Man müsse wissen, so Chiari, „daß die Leute, als sie den vermeintlichen Leichnam [Giglios, RPJ] aufheben und forttragen wollten, nur ein hübsches, aus Pappendeckel geformtes Modell in Händen hatten.“ Darüber sei das Volk in „unmäßiges Gelächter“ ausgebrochen. 10 Dem widerspricht der junge Mann, der das Gerücht vom Tod Giglios weitererzählt hat: Giglio sei nicht in einem Zweikampf niedergestochen worden, vielmehr hätte ihn die miserable Qualität der Rollen, die er in den Trauerspielen Chiaris übernommen habe, in den Tod getrieben. Die Ärzte hätten Giglios Tod allein „der schrecklichen Übersättigung, der völligen Zerrüttung aller verdauenden Prinzipe durch den Genuß gänzlich kraft- und saftloser Nährmittel“ zugeschrieben. Nicht nur Ärzte wissen das: Schlechte Kunst ver‐ dirbt den Magen. Auch diese Spitze gegen Chiaris Trauerspiele quittieren die Anwesenden mit „schallendem Gelächter“. Hier die hohe Kunst, dort die schlechte Verdauung. Spätestens seit Jean Pauls „Vorschule der Ästhetik“ wissen 74 Rolf-Peter Janz <?page no="75"?> 11 Janz, Rolf-Peter (2018), Lachlust und Lachverbot. Mit Anmerkungen zu Nietzsche, Heine und Kafka. Zeitschrift für deutsche Philologie 4/ 2018, 543-561, 545. 12 Feldges/ Stadler (1986: 132). 13 DKV III, 847. 14 DKV III, 828. 15 Lehmann, Johannes F. .Humor, Ironie, Komik ( 2015 ). In: Lubkoll, C./ Neumeyer, H. (Hrsg.). E.T.A. Hoffmann-Handbuch. Stuttgart: Metzler, 379-383. wir, dass das Lachen aus der Konfrontation des Niedrigem mit dem Hohen, des Körpers, vorzugsweise des Unterleibs, mit dem Geist entsteht. 11 In der Kontroverse um alte pathetische und neue Theaterkunst, auf die die Erzählung immer wieder zurückkommt und sich dabei ausdrücklich auf Carlo Gozzi, einen Liebhaber der Commedia dell’arte, beruft, sind Hoffmanns Präferenzen nicht zu übersehen. Dass in der Satire auf Chiaris Trauerspiele, in denen Giglio die Hauptrolle spielt, auch eine Kritik an Goethes Inszenierungsstil am Weimarer Hoftheater mitgelesen werden kann, ist hinlänglich bekannt. 12 Immer wieder gibt sich Giglio ungewollt der Lächerlichkeit preis. Als Giacinta ihn darauf hinweist, dass sie am letzten Tag des Karnevals ihr ärmliches Kleid womöglich mit einem kostbaren „Purpurmantel“ vertauschen könnte, verfällt er, um Giacinta seine Liebe zu beweisen, mit dem Pathos des routinierten Schau‐ spielers in den „gräßlichen Verzweiflungs-Monolog irgend eines Trauerspiels“ des Abbate Chiari. 13 Den aber hat er ihr schon hundert Mal vorgetragen, sie kennt ihn auswendig und könnte ihn, wenn nötig, Giglio sogar soufflieren, ohne ihre Näharbeit zu unterbrechen. Den vermeintlich großartigen Liebesbeweis Giglios erledigt Giacinta als die häufig von ihm deklamierte Rolle in einem mi‐ serablen Theaterstück á la Chiari. Hoffmann präsentiert Giglio als die Karikatur eines Schauspielers. Giglio ist in Brambilla verliebt, und während er mit einer Maske den Korso entlang läuft, träumt er davon, dass sie ihm gehöre müsse, eine andere Wahl schließt er aus. „Und dieser Gedanke entzündete in ihm eine tolle Lustigkeit, die sich Luft machte in den übertriebensten Grimassen und vor der ihm selbst im Innersten graute.“ 14 Der Komödiant legt eine verrückte Lustigkeit an den Tag, doch eine, die ihn selbst zugleich mit Grauen erfüllt. In der Schauerromantik Hoffmanns kann das Lachen leicht in Entsetzen umschlagen. 15 Zu den zentralen Themen der Erzählung gehört, wie erwähnt, die Aufgabe der im gewohnten Leben scheinbar verlässlichen Ich-Identität. Eine Figur kann jederzeit eine andere sein oder einer anderen zum Verwechseln ähnlich sehen. Den spielerischen Umgang mit der Ich-Identität inszeniert und feiert vor allem der Karneval. Er bietet dem, der daran teilnimmt, einmal im Jahr die willkommene Gelegenheit, sein plurales Ich zu erleben. Aber auch der Tanz lädt zum Spiel mit dem selbstgewissen Ich ein. Ein Tänzer, es könnte Giglio sein, Komische Verwirrungen in E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla 75 <?page no="76"?> 16 DKV III, 871. 17 Hitzig, Julius Eduard (1968). E.T.A. Hoffmanns Leben und Nachlass. Frankfurt a.M.: Insel, 268. 18 DKV III, 894. 19 DKV III, 895. 20 DKV III, 787. fragt einen anderen: „Was hältst du von diesem Sprunge, von dieser Stellung, bei der ich mein ganzes Ich dem Schwerpunkt meiner linken Schuhspitze anver‐ traue? “ 16 Die Kunst des Tänzers erlaubt ihm, für einen Augenblick sein „ganzes Ich“ sogar auf dem Fuß zu balancieren, doch ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren. Das Spiel mit der Identität fällt ihm leicht, die Befreiung vom Ich- Zwang scheint ungefährlich zu sein. Wie sein Biograph Julius Eduard Hitzig berichtet, hat Hoffmann in seinen Tagebüchern einmal notiert: „Sonderbarer Einfall […]. Ich denke mir mein Ich durch ein Vervielfältigungsglas; - alle Gestalten, die sich um mich herumbewegen, sind Ichs, und ich ärgere mich über ihr Thun und Lassen […].“ 17 Dass aber die ausphantasierte Verdopplung oder Verdreifachung des Ich auch zu schweren Verstörungen führen kann, schildert Celionati in seiner Erzählung vom „doppelten Kronprinzen“, die er bei einem deutschen Schriftsteller gelesen haben will. Eine Prinzessin hat Zwillinge geboren, die „mit den Sitzteilen zusammengewachsen“ sind. 18 Die komische Beschwichtigung der Minister, vier Hände könnten doch Zepter und Schwert besser führen als zwei, kann den Fürsten nicht beruhigen. Zwar gelingt es, einen Thron herzustellen, auf dem der groteske Körper Platz nehmen kann. Doch die Neigungen und Denkweisen der beiden Prinzen sind und bleiben grundverschieden. Keiner von ihnen weiß jemals, ob er das, was er gedacht hat, wirklich selbst gedacht hat oder ob es sein Zwilling war - eine größere Konfusion ist kaum vorstellbar. Wer ein doppeltes Ich im Leibe hat, so schließt Celionati seine Nacherzählung, der kann „aus sich selber nicht klug“ werden. 19 Der deformierte, ausgerechnet mit den Hinterteilen zusammengewachsene Körper reizt einstweilen zum Lachen, doch es ist der Körper eines Kranken. Einmal mehr erweisen sich Groteske und Komik als nahe verwandt. Eine weit harmlosere Variante des Grotesken, das komisch wirkt, präsentiert wiederum Giglio. Auf Anraten Celionatis besorgt er sich eine Maske für den Karneval, die „abenteuerlich und abscheulich genug schien.“ Sie besteht aus zwei riesigen Hahnenfedern und einer „Larve“, die mit ihrer „Länge und Spitze alle Exzesse der ausgelassensten Nasen“ überbietet. 20 76 Rolf-Peter Janz <?page no="77"?> 21 DKV III, 794. Abb. 1: Einer der acht Kupferstiche Carl Friedrich Thieles nach Radierungen in Jacques Callots Balli di Sfessania. Er gehört zu den Illustrationen in der Erstausgabe der Prinzessin Brambilla. In der rechts stehenden Figur sieht Hoffmann ein Vorbild für Giglio. Vgl. DKV III, 1149-1151. Die Missgestalt dieser Figur ist „abscheulich“, aber sie löst eben nicht Schauder oder Grauen aus, die in Hoffmanns üppig ausgestatteter Affektpoetik besonders häufig ins Spiel gebracht werden. Sie ist, wie andere Masken auch, von der Realität denkbar weit entfernt, sie ist fraglos anti-mimetisch. Neben der Maske verrät Giglio auch insofern groteske Züge, als in ihm Gegensätze, so der zwischen Wahnsinn und Einsicht, eng verschränkt sind. Zum Repertoire des Phantastischen gehören in der Brambilla nicht nur Figuren wie Celionati, der über „allerlei teuflische Zauberkünste“ 21 verfügt, und exzentrische Schauspieler wie Giglio. Auch Hexen dürfen nicht fehlen. Giacinta beschimpft einmal Giglios „verdammt weinerliches Pathos“, das ihm Komische Verwirrungen in E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla 77 <?page no="78"?> 22 DKV III, 843. 23 Geisenhanslüke, Achim/ Rauch, Marja (2013). Das Unheimliche. In: Brittnacher, H. R./ May, M. (Hrsg.) Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler, 579-583,581. 24 Matuschek, Stefan (2021). Der gedichtete Himmel. München: Beck, 224. 25 DKV III, 791. 26 DKV III, 793. 27 DKV III, 821. der Dramatiker Chiari „angehext“ hat. 22 Hinzu kommen Phänomene wie Spuk und Alraunen und vor allem das Unheimliche, das Gefühle der Angst erzeugt, weil es notorisch unbestimmbar bleibt. 23 Für das Unheimliche, das sich jeder Erklärung entzieht, steht bei Hoffmann oft die metaphorisch zu verstehende Nacht, nicht die Nachtzeit. 24 Mit dem Phantastischen plant der Erzähler, den Leser „aus dem engen Kreise gewöhnlicher Alltäglichkeit zu verlocken und dich in fremdem Gebiet, das am Ende doch eingehegt ist in das Reich, welches der menschliche Geist im wahren Leben und Sein nach freier Willkür beherrscht, auf ganz eigne Weise zu vergnügen.“ 25 Ob sich in der Brambilla-Erzählung die Welt der Phantasie in die rational be‐ herrschbare Alltagsrealität ‚einhegen‘, integrieren lässt, kann man bezweifeln. Entscheidender ist, dass hier die Entgegensetzung von Realität und Phantasie‐ welt in Frage gestellt wird. Es bleibt unentschieden, wie sich beide Welten zueinander verhalten. Was Giglio an Wunderbarem während des Karnevals erlebt, kommt ihm vor wie die Fortsetzung eines Traums, in dem die Prinzessin Brambilla sich ihm nähert. Deren Bild entsteht „aus dem bodenlosen Meer der Sehnsucht, in dem er untergehen, verschwimmen wollte.“ 26 Träume, das erlebt auch Giacinta, verdanken sich mitunter einer grenzenlosen Sehnsucht, die Glück in Aussicht stellt. Doch sie können unversehens auch zu Alpträumen werden. Sein Leben sei ein einziger Traum, glaubt Giglio. Das führt dazu, dass er auf der Bühne einmal, statt seine Rolle zu sprechen, „ein Labyrinth wirrer, ausschweifender Reden“ vorträgt. Man hält ihn für wahnsinnig, und er wird entlassen. Das extrem rätselhafte Märchen vom Urdargarten, das Celionati im Caffè Greco erzählt, hat Hoffmann in drei Teilen in das dritte, fünfte und achte Kapitel eingefügt. Erkennbar ist immerhin, dass es dem triadischen Grundschema folgt. In der Vorzeit verbringen König Ophioch und Königin Liris ihr Leben in der Einheit von Mensch und Natur. Die Natur ist ihnen dank ihrer unmittelbaren Anschauung vertraut. Diese Einheit geht in der Gegenwart verloren. „Der Gedanke zerstörte die Anschauung“. 27 Der Prozess der Rationalisierung hat, wie es scheint, zur Folge, dass Ophioch in Melancholie versinkt. Anders ergeht es 78 Rolf-Peter Janz <?page no="79"?> 28 DKV III, 821 29 DKV III, 824. 30 Schulz, Gerhard (1989). Die Deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Zweiter Teil. 1806-1830. München: Beck, 455. Liris. Hoffmann führt sie als eine Frau ein, die, komplett besinnungslos, nicht aufhören kann zu lachen. Nur weil beide außer sich sind, kann die Einheit von Gedanke und Anschauung wiederhergestellt werden, die Anschauung wird zum „Fötus des Gedankens“ 28 , sie kehrt als „reflektierte Anschauung“ wieder. Beide nehmen sich nunmehr selbst und ebenso den anderen und die Welt wahr und erleben schließlich ein grenzenloses Glück, das sich endlich bei Liris in einem Lachen äußert, das „himmelweit […] von dem Gelächter verschieden“ ist, „womit sie sonst den König quälte“. 29 Und Ophioch, gerade noch in Melancholie versunken, kann nun ebenfalls lachen. Ihr gemeinsames Lachen ist Ausdruck ihrer Liebe. In gewisser Weise spiegelt das Märchen von Ophioch und Liris die Geschichte Giglios und Giacintas. Deren frühes harmonisches Zusammenleben endet in Verwirrungen und Eifersüchteleien, bis sie einander und sich selbst erkennen und ein glückliches Leben führen können. Manche Schilderungen im Urdar-Märchen, aber auch in der Brambilla-Erzäh‐ lung, bleiben allerdings weitgehend unzugänglich. Dass der Urdarsee trocken fällt und zum Sumpf wird und schließlich wieder Wasser enthält, in dem sich König Ophioch und Prinzessin Liris spiegeln können, wiederholt, das wird immerhin deutlich, die dreistufige Entwicklung, die Ophioch und Liris durchlaufen. Wie aber hängen das Märchen und die Karnevalsgeschichte der Brambilla-Erzählung im einzelnen zusammen? Das lässt sich kaum entwirren. Ausdrücklich nennt die Erzähler-Figur das Märchen am Anfang des dritten Kapitels „eine wunderbare Geschichte“. Die Gattung des Märchens hält bekannt‐ lich Wunder bereit, deren Deutung sie auch verweigern kann. So gibt es für Ophiochs Melancholie wohl einen Grund, den man den „Sündenfall des Denkens“ 30 nennen kann, nicht aber für das niemals endende Lachen der Liris. Mit Lachzwang wäre ihr Verhalten nur unzureichend beschrieben, und dabei bleibt offen, wie er entsteht. Warum Liris lacht, muss Hoffmanns Erzählung auch nicht angeben, selbst wenn die Leser das erwarten. Wohl aber lässt sie uns wissen, wann und warum ihr das Lachen überraschend vergeht: beim Lesen des Satzes „Der Gedanke zerstörte die Anschauung“, den Ophioch auf einer „schwarzen Marmortafel“ hat anbringen lassen. Im Caffè Greco weiß oder ahnt oft niemand, was Celionati hat sagen wollen. Eine Ausnahme macht ein deutscher Gast; er schlägt eine Deutung der Urdarquelle vor und versteht sie als das, was im Deutschen der Ausdruck „Humor“ meint: Komische Verwirrungen in E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla 79 <?page no="80"?> 31 DKV III, 826. 32 Vgl. Matuschek (2021: 227). 33 DKV III, 909. die wunderbare, aus der tiefsten Anschauung der Natur geborne Kraft des Gedankens, seinen eignen ironischen Doppeltgänger zu machen, an dessen seltsamlichen Faxen er die seinigen und - ich will das freche Wort beibehalten - die Faxen des ganzen Seins hienieden erkennt und sich daran ergetzt […]. 31 Ob hier der Zusammenhang von Humor und Ironie verständlich wird, lässt sich bezweifeln. Deutlicher umschreibt die Erzählung den Humor, so lese ich auch Hoffmanns Vorwort zu Brambilla, als eine „philosophische Ansicht des Lebens“, die sich mit dem „kecken launischen Spiel“ der Phantasie verbindet. Auch hier bleibt offen, wie sich Realitätserfahrung und Phantasie zueinander verhalten. Auch hier wird jedenfalls nicht die Opposition, sondern die eigentümliche, kaum zu durchschauende Affinität von realer Welt und Phantasiewelt beschworen. 32 Am Ende der Brambilla-Erzählung bittet Giacinta Celionati, den Arrangeur aller Ereignisse, zu „erklären, „was es denn eigentlich für eine Bewandtnis hat mit der Königin Mystilis, dem Urdarlande“ und den Zauberern; „ich werde aus dem allem noch nicht recht klug.“ 33 Mit Bedacht lässt Hoffmann hier seine Protagonistin Giacinta eine Erfahrung aussprechen, die, wie er anzunehmen scheint, die Leser der Brambilla teilen und teilen sollen. Nicht zuletzt suggeriert auch das Labyrinth, ein traditionsreiches Raum-Modell der Unübersichtlichkeit, von dem häufig die Rede ist und das dem Erzählvorgang als Vorbild dient, dass manches unzugänglich bleiben soll. So demonstriert die Erzählung, dass zu den Errungenschaften der phantastischen Literatur ihre befremdende, nicht aufzulösende Rätselhaftigkeit zählt, und wer wollte bestreiten, dass gerade sie auch ihre eigentümlichen Reize hat. Literatur Feldges, Brigitte/ Stadler, Ulrich (1986). E.T.A Hofmann. Epoche - Werk - Wirkung. München: Beck. Geisenhanslüke, Achim/ Rauch, Marja (2013). Das Unheimliche. In: Brittnacher, H. R./ May, M. (Hrsg.) Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler. Heine, Heinrich (o. J.). Sämtliche Werke. Hrsg. Ernst Elster, Leipzig und Wien: Bibliogra‐ phisches Institut. Bd.-7. Hitzig, Julius Eduard (1968). E.T.A. Hoffmanns Leben und Nachlass. Frankfurt a.M.: Insel. Hoffmann, E.T.A. (1985). Sämtliche Werke. Bd. 3, herausgegeben von Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. 80 Rolf-Peter Janz <?page no="81"?> Janz, Rolf-Peter (2018), Lachlust und Lachverbot. Mit Anmerkungen zu Nietzsche, Heine und Kafka. Zeitschrift für deutsche Philologie 4/ 2018, 543-561. Kremer, Detlef (1999).E.T.H. Hoffmann. Erzählungen und Romane. Berlin: Erich Schmidt. Lehmann, Johannes F. .Humor, Ironie, Komik ( 2015 ). In: Lubkoll, C./ Neumeyer, H. (Hrsg.). E.T.A. Hoffmann-Handbuch. Stuttgart: Metzler, 379-383. Matuschek, Stefan (2021). Der gedichtete Himmel. München: Beck. Neumann, Gerhard (2003). Glissando und Defiguration. E.T.A. Hoffmanns Capriccio „Prinzessin Brambilla“. In: Greber, E./ Menke, B. (Hrsg.) Manier -Manieren -Manie‐ rismen. Tübingen: Narr, 63-95. Schulz, Gerhard (1989). Die Deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Zweiter Teil. 1806-1830. München: Beck. Komische Verwirrungen in E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla 81 <?page no="83"?> Anselmus im Krieg E.T.A. Hoffmanns Erzählung Erscheinungen und Dresdens doppeltes Gesicht Berta Raposo Zusammenfassung: Die kurze, aber erlebnisintensive Zeit, die E.T.A. Hoffmann in Dresden mitten in den Kriegswirren von 1813 verbrachte, gab ihm Anlass zur Anfertigung sehr verschiedenartiger Werke. Seine Erzählung Erscheinungen, die vor dem Hintergrund der Besatzung der Stadt durch napoleonische Truppen eben im Jahr 1813 spielt, geht auf diese Erlebnisse zurück und hat einen Protagonisten namens Anselmus, der viele auffällige Gemeinsamkeiten mit dem Anselmus des viel bekannteren Mär‐ chens Der goldne Topf aufweist. Der vorliegende Aufsatz beschäftigt sich mit der Frage nach der Identität dieser Figur und kommt zu dem Schluss, dass Anselmus’ Anwesenheit die Verschmelzung eines historischen Kerns mit einem „fantastischen Zusatz“ ermöglicht. Schlüsselwörter: E.T.A. Hoffmann, Serapions-Brüder, Rahmenerzählung, Schauplatz Dresden, Fantastik Abstract: The short but eventful time that E.T.A. Hoffmann spent in Dresden in the midst of the turmoil of the war of 1813 gave him occasion to create diverse works. His story Erscheinungen is set during the occupation of the city by Napoleonic troops in 1813 and goes back to these memories. The book has a protagonist named Anselmus, who has many striking similarities with Anselmus of the much more known fairy-tale Der goldne Topf. This essay addresses the question of this character's identity and concludes that Anselmus's presence allows for the fusion of a historical core with fantasy contents. Keywords: E.T.A. Hoffmann, Serapion brothers, frame narrative, setting Dresden, fantasy <?page no="84"?> 1 Steinecke, Hartmut (2016). „Ein höchst merkwürdiges Jahr“ 1813. E.T.A. Hoffmann in Dresden. In: Haase, Michael/ Moraldo, Sandro M./ Rösch, Gertrud Maria (Hrsg.) Die Elixiere der Literatur. Festschrift für Franz Loquai zum 65. Geburtstag. München: iudicium, 62. 2 Vgl. Pikulik, Lothar (1987). E.T.A. Hoffmann als Erzähler. Ein Kommentar zu den „Serapions-Brüdern“. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 192. Segebrecht, Wulf und Ursula (2015). Kommentar. In: Hoffmann, E.T.A. Die Serapions-Brüder. 2. Aufl. Hrsg. Segebrecht, Wulf unter Mitarbeit von Segebrecht, Ursula. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1604. 3 Vom 23/ 5 bis 24/ 6/ 13 legte er einen Zwischenaufenthalt in Leipzig ein, um dort seinen Verpflichtungen mit Seconda weiter nachzugehen. 4 Das Adjektiv „merkwürdig” im Sinne von „des Bemerkens, der Erinnerung wert“ wird von Hoffmann in seinem Tagebuch mehrmals gebraucht, vor allem um die Geschehnisse des Jahres 1813 zu charakterisieren. Das Tagebuch wird im Folgenden zitiert aus Müller, Hans von (Hrsg.) (1915). E. T. A. Hoffmanns Tagebücher. Berlin: Gebrüder Paetel. Das Ende von Hoffmanns Märchen Der goldne Topf lässt den Leser im Un‐ gewissen über den Verbleib und das weitere Schicksal des Protagonisten Anselmus, so vieldeutig ist die Atlantis-Vision, die der Ich-Erzähler nach seiner Begegnung mit Archivarius Lindhorst von ihm selbst aufgezeichnet vorfindet. Gelegentlich ist sogar die Möglichkeit eines Suizids in Erwägung gezogen worden 1 . Dass eine Figur mit Namen Anselmus in einem späteren Text Hoffmanns wiederauftaucht, ist überraschend genug und wirft die Frage auf, ob es sich dabei um ein und dieselbe Figur handelt. Wenn ja (wofür alle Indizien sprechen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird), warum hat Hoffmann sie wieder aufgegriffen unter ganz anderen Voraussetzungen als im Goldenen Topf? Hoffmanns Erzählung Erscheinungen ist bisher von der Forschung kaum beachtet worden 2 , und das liegt wohl nicht nur an ihrer Kürze (ursprünglich knappe neun Seiten). Sie erschien zum ersten Mal 1817 in der mehrbändigen Anthologie Gaben der Milde und wurde dann 1821 in den vierten Band der Serapions-Brüder aufgenommen. Die Gaben der Milde waren ein von Friedrich Wilhelm Gubitz herausgegebener Benefizband zugunsten hilfsbedürftiger Sol‐ daten aus den Feldzügen von 1813-1815 und deren Angehörigen. Neben Hoff‐ mann beteiligten sich auch u. a. Goethe, Fouqué, Helmina von Chézy, Clemens Brentano (mit seiner berühmten Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl) und Louise Brachmann daran. Dem karitativen Zweck entsprechend steuerte Hoffmann eine Erzählung bei, die inhaltlich zu dem Anlass gut passte: Erscheinungen spielt in Dresden zur Zeit der Besatzung durch napoleonische Truppen im Herbst 1813. Er selbst hatte sich in der sächsischen Hauptstadt vom 25/ 4 bis 9/ 12/ 1813 3 als Musikdirektor der Operntruppe von Joseph Seconda aufgehalten und dabei die „merkwürdigsten“, 4 aber auch angstvollsten Tage seines Lebens verbracht. Darüber sind wir gut unterrichtet durch seine Tage‐ 84 Berta Raposo <?page no="85"?> Abrufbar unter: https: / / etahoffmann.staatsbibliothek-berlin.de/ digitale-sammlung/ dig i-details/ ? ppn=PPN89742932X (Stand: 19/ 03/ 2023). 5 Egger, Irmgard (2016). Die Kunst in Zeiten des Kriegs. E.T.A: Hoffmann in Dresden und Leipzig. In: Pape, Walter/ Burwick, Roswitha (Hrsg.) Die alltägliche Romantik. Ge‐ wöhnliches, Phantastisches, Lebenswelt und Kunst. Berlin/ Boston: de Gruyter, 180. Ob die Dresdener Erlebnisse Hoffmann zu einem „aufmerksamen Parteigänger“ gemacht, ihn politisiert haben, bleibe dahingestellt. Diese Ansicht wird vertreten von Rohrwasser, Michael (1991). Coppelius, Cagliostro und Napoleon. Der verborgene politische Blick E.T.A: Hoffmanns. Ein Essay. Basel/ Frankfurt am Main: Stroemfeld/ Roter Stern, 33. Auch von Beßlich, Barbara (2007). Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800-1945. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 98. 6 Hoppe, Heinz (1987). Der Wohnort in den Sternstunden des Romantikers. E.T.A. Hoff‐ manns Logis vor den Toren Dresdens. Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 33, 1. buchaufzeichnungen und Briefe, die seine wechselnden Gefühle und Ängste angesichts der erschütternden Ereignisse widerspiegeln, ebenso sein Wirken als Musiker zeitgleich mit dem Erwachen der Kreativität des literarischen Spätzünders, der lange Zeit gebraucht hatte, um sich zu entscheiden zwischen Musik und Dichtung. Diese Erlebnisse hat er in einer Reihe verschiedenartiger Texte fixiert: Drei verhängnisvolle Monate. Auszug aus meinem Tagebuch für die Freunde, eine unvollendete Tagebuchbearbeitung, die sich trotz des Titels nur auf den Zeitraum vom 15. bis 29/ 8/ 1813 bezieht. Sie wurde posthum von Hoffmanns Freund Eduard Hitzig in Aus Hoffmann’s Leben und Nachlass 1823 veröffentlicht. Die Vision auf dem Schlachtfelde zu Dresden, eine pamphletartige Erzählung, die als anonymes Flugblatt 1814 erschien, herausgegeben vom Bamberger Verleger Carl Friedrich Kunz, der die Fantasiestücke auch herausgab. Die einleitende Partie und der Schluss des Dialogs Der Dichter und der Komponist, 1813 in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung erschienen, später in den ersten Band der Serapions-Brüder integriert. Zwar wird Dresden da nicht namentlich erwähnt, die Kriegszustände und die Not der Belagerung aber deutlich und detailreich geschildert. Es ist möglich, dass Hoffmann irgendwann die Absicht hatte, alle Dresden- Texte zu einem größeren Ganzen zu vereinigen. Er hatte sogar schon an einen Titel dafür gedacht, nämlich Erinnerungen an Dresden im Herbst 1813, wie er in einem Brief an Kunz am 1/ 1/ 1814 geschrieben hatte. Dazu kam es aber nicht, vielleicht mit gutem Grund. Sie waren wohl zu zeitnah und zu konventionell. 5 Jedenfalls gilt Hoffman als der erste, „der die Dresdener Wohngegend roman‐ tisch gesehen hat, er hat sie in Briefen geschildert, ins Märchen einbezogen, ja eigentlich richtig entdeckt“ 6 . Heinz Hoppe bezieht sich dabei auf den Goldenen Topf, den man nicht zu Unrecht ein oder gar das „Dresdener Märchen“ genannt Anselmus im Krieg 85 <?page no="86"?> 7 Steinecke (2016: 61). 8 Manche Vermutungen, Hoffmann habe schon in der Dresdener Zeit an einer Skizze von Erscheinungen gearbeitet, haben wenig für sich. So Rohrwasser (1991: 33) und Safranski, Rüdiger (2018). E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Fantastikers. Frankfurt am Main: Fischer, 355, der die Erzählung irrtümlicherweise mit dem Titel Die Erscheinung anführt. 9 Hoffmann, E.T.A. (2015). Die Serapions-Brüder. 2. Aufl. Hrsg. Segebrecht, Wulf unter Mitarbeit von Segebrecht, Ursula. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1039, 4. Hier und im Folgenden werden werden Seiten- und Zeilenzahl angegeben. hat 7 . Die Erzählung Erscheinungen könnte sehr wohl zu diesem Dresden-Kom‐ plex in Hoffmanns Werk gezählt werden, obwohl sie niedergeschrieben wurde, als der Autor nicht mehr da lebte 8 . Immerhin sind die Reminiszenen an seinen kurzen, aber erlebnisintensiven Aufenthalt dort nicht zu verkennen. Er hat dafür offensichtlich auf Materialien aus dieser Zeit zurückgegriffen. Um Erscheinungen richtig zu verstehen, muss man vorher den konkreten historischen Hintergrund der kriegerischen Auseinandersetzungen um Dresden kurz skizzieren. Napoleon erreichte hier im August 1813 einen seiner letzten Siege auf deutschem Boden im Vorfeld der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813. Dresden blieb von preußisch-russisch-österreichischen Truppen umzingelt und vom Kontakt mit der Außenwelt abgeschnitten, es herrschten Hungersnot und Krankheiten, Mangel an Kommunikation und Gerüchte aller Art („Sagen und Gerüchte durchkreuzen sich“ schreibt Hoffmann im Tagebuch am 2/ 9/ 13), ein fruchtbarer Boden für fantastische Erzählungen. Nachdem die Nachricht von Napoleons Niederlage in der Völkerschlacht durchgesickert war, unternahm der französische Marschall Graf von der Lobau im November einen gewagten Versuch, aus der Belagerung auszubrechen und wurde von den Alliierten zurückgewiesen (6/ 11/ 13). Die Kapitulation erfolgte wenige Tage später (11/ 11/ 13). Das sind die historischen Ereignisse, die von Hoffmann in seinen Briefen und Tagebucheintragungen mehrfach geschildert und kommentiert wurden. Vor diesem Hintergrund entfaltet er in Erscheinungen eine verworrene, teils fantastische, teils historisch-realistische Geschichte, die trotz oder sogar wegen ihrer Kürze eine äußerst dichte, stark verschachtelte Struktur aufweist. Die eigentliche Binnengeschichte entfaltet sich erst nach drei Anläufen. Ganz am Anfang steht eine kurze Einleitung des namenlosen Erzählers, der Anselmus’ Reaktion auf die Erinnerung an Dresdens Belagerung kurz schildert und ihm gleich das Wort gibt. Anselmus verliert sich in einem Selbstgespräch über sein Umherirren in der Stadt mitten im Kriegstrubel, „brennendes Stroh und berstende Granaten nicht achtend“ 9 . Er murmelt scheinbar sinnlose Sätze über Archivarius Lindhorst und über andere geheimnisvolle Gestalten: „Popowicz“, 86 Berta Raposo <?page no="87"?> 10 Hoffmann (2015: 1039, 25-27). 11 Hoffmann (2015: 1039, 28-31). 12 Hoffmann (2015: 1040, 11-15). Das stimmt zeitlich mit den historischen Ereignissen nicht ganz überein. Der Ausfall des Grafen von der Lobau fand im November statt (5 bis 6/ 11/ 13), nicht im Oktober. Ob es ein Versehen Hoffmanns war, oder Absicht, um den fiktiven Charakter der Erzählung herauszustreichen, lässt sich nicht überprüfen. 13 Hoffmann (2015: 1040, 22-26). 14 Hoffmann (2015: 1041, 25-27). der ihm nach dem Leben trachtete, und „Agafia“, bei deren Namen er vom Stuhl aufzufahren pflegt. Auf diesen ersten ins Leere laufenden Ansatz („Kann ichs denn erzählen, wie alles sich begab mit Popowicz und Agafia ohne für närrisch gehalten zu werden? “ 10 ) folgt ein Neubeginn mit einer konkreten Zeitangabe: „An einem neblichten trüben Oktoberabend trat Anselmus, den man fern glaubte, ganz unvermutet bei seinem Freunde zur Stubentür hinein“. 11 Diese Zeitangabe wird von Anselmus konkretisiert: Morgen früh um acht Uhr sind es gerade zwei Jahre her, als der Graf von der Lobau mit zwölftausend Mann und vier und zwanzig Kanonen aus Dresden auszog, um sich nach den Meißner Bergen hin durch zu schlagen. 12 Dann gerät er in einen Streit mit seinem Freund über Kriegserinnerungen. Der Freund ist nicht mehr daran interessiert, während Anselmus noch tiefe Spuren vom vergangenen Gräuel trägt. Ist dir denn, sprach Anselmus, ist dir denn die so kurz vergangene verhängnisvolle Zeit so fremd geworden, daß du es nicht mehr weißt, wie das geharnischte Ungetüm uns alle erreichte und erfaßte? 13 Er berichtet von seinem damals seltsam erwachten heroischen Tatendrang, der so weit ging, dass er seinen Schreibtisch verließ und sich mit dem wahnsinnigen Gedanken herumtrug, einen gewaltsamen Anschlag auf irgendein mit Pulver‐ vorräten versehenes Fort zu verüben. Der letzte endgültige Anlauf setzt an, als Anselmus, nach einem Hinweis auf einen über ihn waltenden seltsamen Stern, noch einmal auf die vergangene Zeit in Dresden anspielt: „So ging es mir heute vor zwei Jahren in Dresden - Der ganze Tag verstrich in dumpfer ahnungsvoller Stille“. 14 Erst dann entwickelt sich folgende von Anselmus in der ersten Person erzählte Binnengeschichte: Im Kaffeehaus am Altmarkt, wo die Menschen sich treffen, um die neuesten Gerüchte über den Gang des Kriegs zu erfahren, hört Anselmus vom alliierten Sieg in der Schlacht bei Leipzig. Dann rennt er am Brühlschen Palais vorbei, wo der französische Stadtkommandant Marschall Gouvion St. Cyr wohnt, Anselmus im Krieg 87 <?page no="88"?> 15 Hoffmann, E.T.A. (2015: 1044, 1) 16 Pikulik (1987: 193). 17 Hoffmann (2015: 1047, 20-21). 18 Segebrecht (Hoffmann 2015: 1603). über die Elbbrücke in Richtung Neustadt. Auf der Brücke marschieren fran‐ zösische Bataillonen mit Geschütz und Pulverwagen in der Absicht, aus der umzingelten Stadt auszubrechen. Zur gleichen Zeit begegnet er auf der Brücke der geheimnisvollen Gestalt eines alten Manns, der ein wahnsinniger Bettler zu sein scheint. Die vorbeiziehenden Soldaten halten ihn für einen solchen und nennen ihn im Scherz „St. Pierre pêcheur“. 15 Dann taucht aus den dunklen Elbfluten ein ebenso geheimnisvolles Mädchen auf, das von dem Alten Agafia genannt, von Anselmus aber als Dorothee, die Dienstmagd bei seinem Hauswirt wiedererkannt wird. Sie scheint ihn auch zu kennen; sie nennt ihn beim Namen und duzt ihn; aber aus ihren wirren Reden muss man auf eine Spaltung ihrer Persönlichkeit schließen, als wäre sie sowohl das Dienstmädchen Dorothee als auch die russische Prinzessin Agafia. Es entwickelt sich eine Art Liebesszene zwischen Anselmus und ihr, bis der Greis auf ein Feuer auf den weit entfernten Meißner Bergen zeigt. Das ist das Zeichen dafür, dass die Alliierten in unbe‐ greiflicher Schnelle ihre Truppen zusammengezogen haben, um dem Vorstoß der Franzosen abzuwehren. Es stellt sich die Frage, wie sie aus der weiten Ferne von den Ausfallplänen erfuhren. Was folgt, ist noch verwirrender und unverständlicher. Das Mädchen versucht, Anselmus umzubringen, bald darauf versucht es auch der Alte und wird vom Mädchen daran gehindert. Und dabei rollen ununterbrochen die Kanonen und Pulverwagen auf der Elbbrücke. Der Schluss ist völlig offen: Dorothee ist verschollen, Anselmus’ Freund vermutet, dass sie und der Greis (vielleicht als Spione 16 ) hingerichtet worden seien; dabei behauptet Anselmus, Agafia habe ihm nach der Kapitulation ein Hochzeitsbrot überreicht. „Mehr war aus dem störrischen Anselmus von dieser wunderlichen Begebenheit nicht herauszubringen“, 17 sagt der namenlose Erzähler am Ende. Als Hoffmann 1820 daran ging, Material für den vierten Band der Sera‐ pions-Brüder zusammenzustellen, bat er den Verleger um ein Exemplar der Gaben der Milde, in welchem eine Erzählung von ihm stand, deren Titel ihm entfallen war. 18 Ein Zeichen für die geringe Achtung, die er diesem Werklein selbst schenkte? Jedenfalls hat er das Gewünschte schnell bekommen und dann den entsprechenden Rahmen für die Einbettung in die Serapions-Brüder geschaffen. Dadurch gewinnt Erscheinungen an Tiefe, indem Hoffmann sich eines Verdopplungs- oder Potenzierungsverfahrens bedient, das Erzählung und Rahmen miteinander verbindet. Die Erzählung wird zu einem Zeitpunkt eingeführt, als der Freundeskreis wegen der vorgeschrittenen Stunde es etwas 88 Berta Raposo <?page no="89"?> 19 Hoffmann (2015: 1038, 21-23). 20 Hoffmann (2015: 1038, 26-28). 21 Hoffmann (2015: 1047, 30-31). 22 Hoffmann (2015: 1044, 31-33). 23 Hoffmann (2015: 1045, 27-30). eilig hat und ihnen eine kurze Geschichte geeignet erscheint. Da springt eins der aktivsten Mitglieder des Serapionsbundes, nämlich Cyprian, ein, und kündigt eine „Kleinigkeit“ an, die er vor mehreren Jahren „als ich verhängnisvolle, bedrohliche Tage überstanden“ 19 niedergeschrieben hat. Er betont außerdem, „daß der nächste Anlaß dieser chimärischen Dichtung, bei weitem anziehender” sei „als die Dichtung selbst“ 20 und verspricht, später mehr darüber zu sagen. Doch dieses Versprechen wird nicht eingehalten. Stattdessen beteuert er am Ende seiner Vorlesung, dass das Erzählte „bis auf den kleinen fantastischen Zusatz, buchstäblich wahr“ 21 sei. Der fantastische Zusatz besteht wohl in der Erscheinung und in dem Wirken der geheimnisvollen vieldeutigen Gestalten auf der Elbbrücke. Der Bettler ist nicht nur eine Hypostase des Heiligen Petrus, wie er in Wassernähe steht und „St. Pierre pêcheur“ genannt wird. Er trägt auch Charon-Züge, als die in den Tod marschierenden Soldaten ihm Almosen (Münzen! ) zuwerfen vor dem Übergang ans andere Ufer. Und er steht im Rapport mit einer namenlosen Macht, die das Feuer auf den Meißner Bergen entfacht. Das Mädchen ist zuerst mit nixenhaften Zügen ausgestattet. „Die langen schwarzen Haare hingen triefend herab, die ganz durchnäßten Kleider schlossen eng an den schlanken Leib“. 22 Die seltsame Liebesszene zwischen ihr und Anselmus spielt sich im Zeichen von Wasser und Feuer ab. Anselmus fühlt, wie das Wasser eiskalt aus ihren Haaren über meinen Nacken hinab rann, aber wie Tropfen in flammendes Feuer hinein gespritzt die Glut nur vermehren, siedete stärker in mir Liebe und Verlangen. 23 Dieses Feuer findet sein Gegenüber auf den Meißner Bergen und färbt auf das Gesicht des Bettlers ab. In welcher Beziehung beide Figuren zueinander stehen, bleibt jedoch im Dunkeln. Cyprians Bemerkung über den Wahrheitsgehalt der soeben vorgelesenen Geschichte bis auf den kleinen fantastischen Zusatz gipfelt in der Behauptung, dass er zu der fraglichen Zeit nicht nur in Dresden selbst war, sondern gar von demselben Schicksal getroffen wurde, das er den „fabelhaften Anselmus“ erzählen ließ. Er liefert dann einen langen Bericht seiner eigenen Erlebnisse von damals, der tatsächlich vieles mit Anselmus’ Geschichte gemeinsam hat: Das Kaffeehaus am Altmarkt. Der wohlunterrichtete Informant, „ein Advokat, Anselmus im Krieg 89 <?page no="90"?> 24 Hoffmann (2015: 1048, 36; 1049, 1). 25 Hoffmann (2015: 1051, 1-3). 26 Hoffmann (2015: 1051, 13-15). 27 Sowohl Hoffmanns literarische Figuren als auch er selbst bezeichnen die Epoche der napoleonischen Kriege oft als „verhängnisvolle Zeit“. Vgl. Raposo, Berta (2018). „eine(r) großen verhängnisvollen Zeit“. La Guerra de la Independencia española en la obra de dos románticos alemanes: Hoffmann y Eichendorff. Revista de Filología Alemana, 26, 29f. der, mag der Himmel wissen aus welchen Quellen, immer die schnellsten und gewissesten Nachrichten hatte“. 24 Der Gang am Brühlschen Palais vorbei. Die im dumpfen Schweigen auf der Elbbrücke marschierenden französischen Bataillone. Die Begegnung mit dem bettelnden Greis. Das Feuer auf den Meißner Bergen. Aber trotzdem gibt es einen auffälligen Unterschied: Das geheimnisvolle Mädchen kommt in Cyprians Bericht nicht vor. Nur der Serapionsfreund Lothar entlockt ihm im kommentierenden Gespräch das Eingeständnis, dass er es auch mit ihr zu tun hatte. Auf Lothars Anfrage nach dem „verfänglichen Nix“ wirft Cyprian ein neues Rätsel in die Runde, indem er seine Erinnerung an „das holde Mädchen“ als russische Prinzessin (ohne Namen) beschwört mit einer frappierenden Offenbarung: „Ich war es, der den Hochzeitskuchen empfing! - Strahlend im Schmuck blitzfunkelnder Diamanten - im reichen Zobelpelz“. 25 Cyprian ist also ein unzuverlässiger Erzähler, der sich in seinem eigenen Bericht über den fantastischen Zusatz sowie über seine Beziehung zum Mädchen ausschweigt, jede weitere Erklärung verweigert und sich genauso störrisch wie Anselmus zeigt: „Und wenn, erwiderte Cyprian plötzlich verdüstert und in sich gekehrt, und wenn ich nun schwiege? - und wenn ich nun schweigen müßte? - und ich werde schweigen! “. 26 Die eingangs gestellte Frage, ob es sich beim Anselmus in Erscheinungen um ein und dieselbe Figur handelt wie im Goldenen Topf, könnte erweitert werden um die nach der Identität des Serapionsbruders Cyprian. Dadurch, dass er von demselben Schicksal getroffen wird wie Anselmus, erweist er sich als sein alter ego. Das entspricht Cyprians im Kreis der Freunde nachgewiesenem Geschmack am Spukhaften, Gespenstischen und Übernatürlichen. Die Stellung von Erscheinungen innerhalb der Serapions-Brüder ist auch nicht unerheblich für die Interpretation. Es ist wohl kein Zufall, sondern gewollter Ausgleich, dass darauf eine längere Erzählung folgt, die in derselben verhängnisvollen Zeit 27 wie Erscheinungen spielt, nämlich vor dem Hintergrund der spanischen Erhebung gegen Napoleon, aber vom „realistischeren“ Erzähler 90 Berta Raposo <?page no="91"?> 28 Diebitz, Stefan (1987). Übersehen und verkannt: Hoffmanns serapiontische Erzählung Der Zusammenhang der Dinge. Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 33, 62. 29 Hoffmann (2015: 1041, 21-22). 30 Die eigentliche Niederschrift begann erst in Leipzig kurz nach dem Umzug aus Dresden. Vgl. Tagebucheintragungen vom 26 und 27/ 11/ 13, des weiteren Müller (1915: 335). 31 Hoffmann (2015: 1041, 4). Sylvester vorgelesen wird: Der Zusammenhang der Dinge, wo die Darstellung historischer Wirklichkeit ohne fantastische Zusätze auskommt. 28 Auf jeden Fall steht fast außer Zweifel, dass der Anselmus der Erscheinungen, obwohl viel gereifter und erfahrener (er ist kein Student mehr) als der im Goldenen Topf, die ursprünglichen Züge seines Wesens beibehalten hat: Er ist für alles Fantastische empfänglich geblieben; er gerät nach eigener Aussage nicht selten in einen „Zaubergarten“. Die Elbe zieht ihn nach wie vor magisch an. Über ihn waltet ein eigner Stern, der ihm „in wichtigen Momenten fabelhaftes Zeug dazwischen schiebt“. 29 Er vermisst Archivarius Lindhorst. Obwohl er bei einem Hauswirt in Dresden wohnt, glaubt man ihn fern (in Atlantis? ), als er seinen Freund unerwartet aufsucht. Selbst in seiner Beziehung zu der doppelten Figur Agafia-Dorothee lassen sich Parallelen zu seiner wechselnden Liebe zu Serpentina und Veronika im Goldenen Topf ziehen. Er ist unter den Serapions‐ freunden zu einer legendären Figur geworden, zum „fabelhaften Anselmus“, wie Cyprian ihn nennt. Warum hat Hoffmann diesen Anselmus wieder zum Leben erweckt und ihn in der Figur des Cyprian sogar verdoppelt oder potenziert? Es liegt nahe zu vermuten, dass es ihm nicht nur um Anselmus ging, sondern um Dresden. Als Gubitz ihn 1817 aufforderte, etwas zu den Gaben der Milde beizusteuern, hat er nicht irgendein Thema gewählt, sondern eins, das auf die Dresdener Zeit zurückging. Diese Zeit war für ihn mit den Schrecken des Kriegs verbunden, aber auch mit dem Anfang der für ihn erfreulichen Arbeit am Goldenen Topf, wie er es in Briefen und Tagebuch dokumentiert. 30 Dresden hatte für ihn ein doppeltes Gesicht: Das friedliche des „Dresdener Märchens“, dessen vermeint‐ liches happy end mit den Worten „Ende des Märchens“ bekräftigt wird, und das kriegsgeplagte von Erscheinungen. Diese Duplizität des Seins spiegelt sich eben auch in Anselmus, einem seiner liebsten literarischen Kinder, wider, der in Erscheinungen nicht mehr ein Friedfertiger ist, sondern dessen Brust ihm zerspringen will, wenn er von der „Schlacht aller Schlachten“ 31 (d. h. von der Völkerschlacht) hört. Die Aufforderung zur Mitarbeit an den Gaben der Milde kann Hoffmann eigentlich nur gelegen gekommen sein, um seine Erinnerungen an die verhäng‐ nisvolle Zeit aufzufrischen. Die um Cyprians Bericht erweiterte Serapionsver‐ Anselmus im Krieg 91 <?page no="92"?> 32 Safranski (2018: 355). sion vervollständigte und bereicherte wenige Jahre später noch einmal diese Erinnerungen. Deswegen war Anselmus’ Anwesenheit im belagerten Dresden wichtig. Nur dadurch konnte es zum „kleinen fantastischen Zusatz“ kommen, der aus einer anekdotischen Erzählung, 32 die etwa mit einigen von Kleists Anekdoten vergleichbar wäre, eine kleine fantastische Erzählung macht, in Cyprians Worten eine „chimärische Dichtung”, aus einem historischen Anlass heraus entstanden. Die große Ironie besteht darin, dass der Erzähler Cyprian (Anselmus’ alter ego, und wohl auch alter ego Hoffmanns) diesen Anlass interessanter findet als die Geschichte selbst. Literatur Beßlich, Barbara (2007). Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800-1945. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Diebitz, Stefan (1987). 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Die Elixiere der Literatur. Festschrift für Franz Loquai zum 65. Geburtstag. München: iudicium, 52-65. Anselmus im Krieg 93 <?page no="95"?> Wahn, Wissenschaft, Okkultismus <?page no="97"?> Scharlatane Grenzgänger zwischen Wahn und Wissenschaft in E.T.A. Hoffmanns Erzählungen Der Magnetiseur (1813) und Die Automate (1814) Inge Stephan Zusammenfassung: Die Figur des Scharlatans ist eine Krisenfigur, die sich in den Dunkelzonen zwischen Wahn und Wissenschaft bewegt. Ihre Bedeu‐ tung ist durch die jüngst wiederentdeckte Studie von Grete de Francesco Die Macht des Charlatans (2021; zuerst 1937) für den Geschlechterdiskurs neu zu entdecken. In den Texten von E.T.A. Hoffmann tauchen Scharlatane vor allem als Magnetiseure und Konstrukteure von Automaten auf. Die künstliche Erzeugung von Menschen in Der Magnetiseur erscheint als Vorwegnahme des problematischen Rapports zwischen Analytiker und Patientin in der Psychoanalyse und die künstliche Ezeugung von Menschen in Die Automate wird von Hoffmann ironisch als ein dubioses ‚Männerprojekt‘ vorgeführt. Schlüsselwörter: Scharlatan, Geschlechterdiskurs, Magnetiseure, Auto‐ matenbauer, künstliche Menschen Abstract: The charlatan is a figure of crisis that moves in zones of darkness between science and madness. A recently rediscovered study by Grete de Francesco Die Macht des Charlatans (2021; originally 1937) allows a rediscovery of this figure as it relates to the gender discourse. Charlatans, specially magnetiseurs and constructors of automates turn up in text by E.T.A. Hoffmann. The artificial creation of humans in his Der Magnetiseur seems an anticipation of the problematic rapport between male analyst and female patient in psychoanalysis. In Die Automate Hoffmann presents the artificial procreation of humans as a dubios ‚male project‘. Keywords: charlatan, gender discourse, magnetizers, constructors of automats, artificial humans <?page no="98"?> 1 Vgl. Mayer, Hans (1963). Die Wirklichkeit E.T.A. Hoffmanns. Ein Versuch. In: E.T.A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden. Berlin: Aufbau-Verlag, Bd.-1, V-L. 2 De Francesco, Grete (2021). Die Macht des Charlatans. Berlin: Die Andere Bibliothek. Eine erste Ausgabe ist 1937 in Basel erschienen, eine Übersetzung ins Englische 1939. Volker Breidecker hat in seinem umfangreichen Nachwort das Leben und Werk der Au‐ torin, die 1945 vermutlich im KZ Ravensbrück ermordet worden ist, in beeindruckender Weise rekonstruiert. Es gibt keinen Autor der Zeit, der sich so intensiv mit den ‚Nachtseiten‘ der menschlichen Existenz auseinandergesetzt hat wie E.T. A. Hoffmann. An‐ getrieben von einer Vielzahl von künstlerischen Begabungen wendete er die Krisenerfahrungen des männlichen Ich zwischen Aufklärung und Romantik ins Unheimliche, Gespenstische und Groteske. Vor allem die in seinen Texten auftauchenden Automaten und Doppelgänger und die verwirrenden Metamor‐ phosen zwischen Mensch und Tier erweitern den erzählerischen Raum ins Unheimliche und Phantastische und rücken die Identitätsproblematik, die Hoff‐ mann wie selbstverständlich am männlichen Ich thematisiert, ins Gespenstische und Surreale, obwohl die Anbindung an den Alltag stets erhalten bleibt. 1 Aus der Vielzahl der zwielichtigen ‚Nachtgestalten‘, die das Werk von Hoffmann bevölkern, ist der Scharlatan für den Männlichkeitsdiskurs besonders interes‐ sant. Die lange Zeit vergessene Studie Die Macht des Charlatans (1937) von Grete de Francesco 2 hat mich auf die Spur dieses auch in der Hoffmann- Forschung weitgehend ausgeblendeten Männertyps geführt und den Blick für eine ‚Randfigur‘ geschärft, die sich in den Dunkelzonen zwischen Aufklärung und Wissenschaft bewegt. Der Scharlatan ist keine Erfindung des 18. Jahrhunderts. Es hat zu allen Zeiten Gaukler, Quacksalber und Taschenspieler gegeben, die ihre Mitmenschen mit falschen Versprechen, Lügen und Halbwahrheiten das Geld aus der Tasche zu ziehen versucht haben. Unter dem Namen Scharlatan taucht die Figur erstmals in der Renaissance auf, wobei der Begriff aus dem Italienischen stammt. De Francesco zitiert Definitionen aus einer Reihe damaliger Lexika, in denen ver‐ sucht wird, die Besonderheit des neuzeitlichen Scharlatans begrifflich zu fassen und weist auf die dreibändige kuriose Sammlung Geschichte der menschlichen Narrheit oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen-und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager und anderer phi‐ losophischer Unholde (1785) hin, in der die Unterschiede zwischen Scharlatanen, Sterndeutern, Geistersehern, Mystikern und Phantasten bis zur Unkenntlichkeit verschwinden. Demgegenüber besteht de Francesco darauf, dass es sich beim Scharlatan um eine Figur handelt, welche die Hoffnungen und Sehnsüchte der Menschen bewusst ausnutzt und gegen das eigene bessere Wissen Heilung und 98 Inge Stephan <?page no="99"?> 3 Wolters, Gereon (1988) (Hrsg.). Franz Anton Mesmer und der Mesmerismus. Konstanz: Universitätsverlag. 4 Barkhoff, Jürgen (2009). Magnetismus/ Mesmerismus. In: Kremer, Detlef (Hrsg.) E.T.A. Hoffmann. Leben ˗ Werk ˗ Wirkung. Berlin/ New York: de Gruyter, 511 5 Hoffmann, E.T.A. (1968). Poetische Werke in sechs Bänden. Berlin: Aufbau Verlag. Nach dieser Ausgabe werden die Zitate im Folgenden direkt im Text nachgewiesen. ewiges Leben verspricht. Der Scharlatan beruft sich dabei auf ein Geheimwissen, das nur den Eingeweihten zur Verfügung steht. In Verbindung zur mittelalter‐ lichen Alchemie, die wie andere Geheimwissenschaften in der Renaissance zu neuer Blüte gelangte, versteht sich der Scharlatan als ein ‚Wissender‘, der sich den neu entstehenden Fachwissenschaften haushoch überlegen fühlt und in die emotionale Lücke springt, die durch die Säkularisierung entstanden war. Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen gewinnt die Figur des Scharlatans ein neues Profil. In verwandelter Form taucht er in den Texten von E.T.A. Hoffmann in Gestalt des Magnetiseurs oder Konstrukteurs von Automaten auf. Der Mesmerismus als „dunkle Wissenschaft“ Mit der Figur des Magnetiseurs partizipiert Hoffmann am Diskurs des Mesme‐ rismus 3 , der als Hypnosetechnik und Heilmethode von Franz Anton Mesmer entwickelt und praktiziert wurde. Mesmers Auffassung von einem „kosmischen Fluidum, dessen Mangel oder Stockung im Körper Krankheiten hervorrufe, die vom Magnetiseur durch Striche entlang der Nervenbahnen behoben werden könnten“, basierte auf einem „naturphilosophischen Modell kommunikativer Vernetzung von Mensch und Natur“ 4 und übte auf die damaligen Zeitgenossen einen ungeheuren Reiz aus, dem sich Hoffmann, wie viele andere Autoren, nicht entziehen konnte. In seiner Erzählungssammlung Die Serapions-Brüder (1819/ 21) lässt Hoff‐ mann eine Männerrunde, über die „Heilkraft des sogenannten Magnetismus“ 5 (III, 328) streiten. Das Gespräch über die „dunkle Wissenschaft“ (III, 332) zeigt, dass Hoffmann mit einschlägigen Abhandlungen wie Carl Alexander Ferdinand Kluges Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel (1811) und Ernst Daniel August Bartels Grundzüge einer Physiologie und Physik des animalischen Magnetismus (1812) bestens vertraut war. Um die Freunde davon zu überzeugen, dass es sich beim Magnetismus um Hokuspokus handele, erzählt Lothar, wie ihn sein Freund Vinzenz durch „magnetische Striche“ (ebd.) vorgeblich von seinen Kopfschmerzen befreit habe, in Wahrheit aber nur seinen Scherz mit ihm getrieben habe. Ottmar dagegen erinnert sich daran, dass Lothar dem Magnetisieren keineswegs so kritisch gegenüberstehe, wie er behaupte. Scharlatane 99 <?page no="100"?> Bei einem unangemeldeten Krankenbesuch bei dem Freund habe er diesen in Gesellschaft eines Magnetiseurs angetroffen: Ganz Teilnahme, ganz Mitleid, trete ich eines Tages in sein Zimmer. Da sitzt Lothar im Lehnstuhl, Nachtmütze über die Ohren gezogen, blaß, übernächtig, Augen zugedrückt, und vor ihm, den Gott eben nicht mit besonderer Größe gesegnet, sitzt ein Mann von gleicher kleiner Statur und haucht ihn an und fährt ihm mit den Fingerspitzen über den gekrümmten Rücken und legt ihm die Hand auf die Herzgrube und frägt mit leiser lispelnder Stimme: ‚Wie ist Ihnen nun, bester Lothar? ‘ Und Lothar öffnet die Äugelein und lächelt gar weinerlich und seufzt: ‚Besser - viel besser, liebster Doktor! ‘ Kurz, Lothar, der an die Heilkraft des Magnetismus nicht glaubt, der alles für leeres Hirngespinst erklärt - Lothar, der alle Magnetiseurs verhöhnt, der in ihrem Treiben nur leidige Mystifikationen erblickt - Lothar ließ sich magnetisieren. (III, 329) Lothar fühlt sich ertappt, erklärt sein widersprüchliches Verhalten aber mit dem Zustand der Schwäche, in dem er sich damals befunden habe: „Daß ich mich damals, in heftigen Nervenzufällen, zum Magnetismus hinneigte, beweiset meine Schwäche, sonst nichts weiter“ (III, 329). Lothar zweifelt nicht nur an der Heilkraft des Magnetismus, der für ihn auf der Bedürftigkeit der Patienten einerseits und auf den geschickt erzeugten „Illusionen“ (III, 330) des Magnetiseurs andererseits beruht, er hält ihn auch für ein „gefährliches Instrument“ (III, 332), wenn es in die falschen Hände gerät. So würden manche Magnetiseure „so dreist“ an ihren Patienten experimentieren, „als wenn sie einen physikalischen Apparat vor sich hätten“ (ebd.). Theodor dagegen glaubt, dass Lothar eigentlich von den Kräften des Magnetismus über‐ zeugt sei und sich nur vor Kontrollverlust fürchte. Die weiteren Geschichten von „magnetischen Operationen“ (III, 333), an denen Theodor aus Neugier teilgenommen hat und von denen er den Freunden erzählt, bestätigen den Eindruck, dass es sich bei den von ihm beobachteten Magnetiseuren um keine seriösen Ärzte handelt, sondern um Scharlatane, die „Kunststücke“ (III, 335) mit den Kranken aufführen. Auffällig ist, dass es in den von Theodor erzählten Geschichten ausschließlich um Frauen geht, die von einem Magnetiseur in einen somnambulen Zustand versetzt werden. Vor allem in der Geschichte von dem Bauernmädchen, an dem eine „magnetische Kur“ (III, 341) durchgeführt wird, ist die „Verbindung mit dem Magnetiseur so innig“ (III, 342), dass man sich unwillkürlich an die ‚Fallgeschichten‘ erinnert fühlt, die Freud und Breuer in ihren Studien über Hysterie (1895) erzählen. Auch wenn Theodor zugestehen muss, dass das Mädchen in diesem speziellen Fall tatsächlich geheilt worden ist und er sich von der „Reinheit des Versuchs“ mit eigenen Augen überzeugen konnte, erfüllt ihn 100 Inge Stephan <?page no="101"?> 6 Rohde-Dachser, Christa (1991). Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Berlin/ Heidelberg: Springer-Verlag. 7 Siebenpfeiffer, Hania (2009). Der Magnetiseur. In: Kremer, Detlef (Hrsg.) E.T.A. Hoff‐ mann: Leben - Werk - Wirkung, 108-113. die „gänzliche Willenlosigkeit“, mit der sich das Mädchen dem Willen des Arztes ergeben hat, mit „Grausen und Entsetzen“ (III, 343). Junge Frauen, aber auch ‚nervöse Männer‘ scheinen bevorzugte Objekte für magnetische Kuren zu sein. In Ansätzen zeichnet sich hier ein geschlechtlich strukturiertes Machtverhältnis ab, das in der Psychoanalyse erstmals deutlich hervortritt und von der späteren feministischen Forschung entsprechend kritisiert worden ist. 6 Scharlatane als Magnetiseure In der Erzählung Der Magnetiseur  7 , steht eine charismatische Männerfigur im Zentrum, der Arzt Alban, der eine merkwürdige Mischung von „Wunderdoktor“ (I, 254), „Geisterseher“ (ebd.), „Taschenspieler“ (I, 255), „Cagliostro“ (ebd.) und „Charlatan“ (I, 257) ist und durch seine dämonische Kraft den Untergang einer altadeligen Familie herbeiführt. Eröffnet wird die Erzählung mit einem Kamingespräch im Saal des Schlosses, wo der alte Baron, sein Sohn Ottmar und ein befreundeter Maler beim reichlichen Genuss von Punsch und Tabak verschiedene mehr oder minder bizarre Geschichten zum Thema „Träume sind Schäume“ (I, 229) austauschen, während Maria, die Tochter des Barons, weitgehend stumme Zuhörerin bleibt. Als Ottmar jedoch erzählt, wie sein Freund Alban, der in der Runde nicht anwesend ist, aber als Gast im Hause weilt, seinem Studienfreud Theobald, einem „überaus zarten, beinahe weiblichen Charakter“ (I, 246) geholfen hat, seine verloren geglaubte Geliebte durch eine magnetische Kur wieder für sich zu gewinnen, ist Maria von der Erzählung so angegriffen, dass sie in Ohnmacht fällt und nur durch das plötzliche Auftauchen von Alban zum Bewusstsein zurückgebracht und von ihm dann in einen heilsamen magnetischen Schlaf versetzt werden kann. Der Auftritt von Alban löst unterschiedliche Reaktionen der Anwesenden aus. Ottmar sieht seine hohe Meinung von der Heilerkraft Albans bestätigt, der befreundete Maler, der seit vielen Jahren als „Hausfreund“ (I, 237) in der Familie lebt, hält jedoch mit seiner abschätzigen Meinung nicht zurück: Da haben wir den Wunderdoktor! […] Der tiefsinnige Blick des Geistersehers - das feierliche Wesen - das prophetische Voraussagen - das Fläschchen mit dem Wunderelixier. - Ich habe nur gepaßt, ob er nicht wie Schwedenborg vor unsern Scharlatane 101 <?page no="102"?> Augen in die Luft verdampfen oder wenigstens wie Beireis mit dem urplötzlich aus Schwarz in Rot umgefärbten Frack zum Saal hinausschreiten würde. (I, 254) Für den Baron, der Alban zwar dankbar ist, dass er seine an „heillosen Nerven‐ übeln erkrankte“ (I, 255) Tochter Maria durch eine „magnetische Kur in wenigen Wochen geheilt“ (ebd.) und sie auch in der akuten Situation aus ihrer Ohnmacht gerettet hat, ist Alban vor allem deshalb eine unheimliche Figur, weil er ihn an einen Major aus seiner Jugendzeit erinnert, der ihn seit Jahren in seinen Albträumen quält. Ob Alban tatsächlich ein Doppelgänger oder Wiedergänger des Majors ist, bleibt in der Erzählung offen. Auch Maria bringt Alban ambivalente Gefühle entgegen. Eingeführt als „Herzensfreund“ (I, 260) des Bruders hat sie zunächst seiner magnetischen Kur vertraut, die Erzählung Ottmars, wie Alban Theobalds Freundin durch eine magnetische Kur gefügig gemacht hat, lässt Maria jedoch an der Reinheit von Albans Motiven zweifeln und sie argwöhnt zu Recht, dass Alban den abwesenden Verlobten Hypolit in ihrer Erinnerung verdrängen und dessen Stelle bei ihr einnehmen will. Wie recht Maria mit ihrer Angst vor Alban hat, zeigt dessen nachfolgender Brief an Theobald, seinen Schüler und Vertrauten, dem er die Motive, von denen er sich bei der magnetischen Kur an Maria leiten lässt, mit erstaunlicher Klarheit enthüllt: Marien ganz in mein Selbst zu ziehen, ihre ganze Existenz, ihr Sein so in dem meinigen zu verweben, daß die Trennung davon sie vernichten muß, das war der Gedanke, der, mich hoch beseligend, nur die Erfüllung dessen aussprach, was die Natur wollte. […] Es ist das willige Hingeben, das begierige Auffassen des Fremden, außerhalb Liegenden, das Anerkennen und Verehren des höheren Prinzips, worin das wahrhaft kindliche Gemüt besteht, das nur dem Weibe eigen und das ganz zu beherrschen, ganz in sich aufzunehmen, die höchste Wonne ist. (I, 269/ 70) Der letzte Teil der Erzählung, der die Überschrift „Das einsame Schloß“ (I, 271) trägt, zeigt, dass Alban das „morsche Familiengebäude“ (I, 257) tatsächlich zum Einsturz gebracht hat: Maria bricht in dem Moment, als sie dem Verlobten Hypolit angetraut werden soll, tot vor dem Altar zusammen, Ottmar stirbt nach einem Zweikampf mit Hypolit „den Heldentod in der Schlacht“ (I, 276), von dem Vater, dem alten Baron, ist nicht mehr die Rede, der Maler lebt nach dem Tod der Beteiligten als „Einsiedler“ (I, 272) in dem verwaisten Schloss und hält die Erinnerung an die Ereignisse in Wandmalereien wach, in der eine „häßliche Teufelsgestalt […] ein schlafendes Mädchen belauscht“ (I, 273), die Assoziationen an das Bild Der Nachtmahr (1790/ 91) von Johann Heinrich Füssli wecken. Auf der anderen Seite erreicht auch Alban seine hochgesteckten Ziele 102 Inge Stephan <?page no="103"?> 8 Brucke, Martin (2002). Magnetiseure. Die windige Karriere einer literarischen Figur. Freiburg: Rombach Wissenschaft. 9 Rohrwasser, Michael (1991). Coppelius, Cagliostro und Napoleon. Der verborgene politische Blick E.T.A. Hoffmanns. Ein Essay. Basel: Stroemfeld. nicht: Er hat Maria nicht unterwerfen können und er verschwindet aus dem Text so plötzlich wie er in ihn eingetreten ist. Festzuhalten bleibt, dass die Figur des Magnetiseurs in der Erzählung von Hoffmann scharf und unscharf zugleich gezeichnet ist; er steht am Anfang einer Reihe von Figuren, deren ‚windige Karriere‘ bis weit ins 20. Jahrhundert reicht. 8 In den Träumen und Visionen der Beteiligten nimmt er dämonische Züge an, im Alltag dagegen erscheint er eher unauffällig. Als Magnetiseur braucht er ‒ darin Parasiten und Vampiren ähnlich ‒ ein passendes Umfeld, in dem er seinen Machtanspruch und seine Herrschaftspraktiken entfalten kann. In der Familie des Barons findet Alban ideale Bedingungen vor: Das Schloss ist heruntergekommen, es gibt nur noch einen alten, klapprigen Bedienten, die Schlossherrin scheint lange gestorben zu sein, der Baron lebt zusammen mit seinen beiden Kindern und dem schrulligen Hausfreund in einem Anwesen, das offensichtlich bessere Zeiten gesehen hat. Der Sohn Ottmar wird von Alban als schwächlicher Charakter verachtet, er ist dem ‚Wunderdoktor‘ rettungslos verfallen und hat ihn als Gast auf den Familiensitz eingeladen, die Tochter Maria leidet an einem unbekannten Nervenübel, ihr Verlobter, der Graf Hypolit, auf den sich alle Hoffnungen auf Familienfortsetzung richten, ist „im Felde“ (I, 271) und der Baron lebt vor allem in der Vergangenheit, die ihm aber keineswegs glänzend erscheint, sondern ihn in seinen Alpträumen heimsucht. All diese Details bilden eine gespenstische Szenerie, die an den Untergang des Adels in der Französischen Revolution denken lässt. 9 Für den Geschlechterdiskurs um 1800 ist die Erzählung vor allem wegen ihrer zahlreichen disfunktionalen Männerfiguren interessant. Von dem alten Baron, der dem Untergang seines Hauses nichts mehr entgegenzusetzen hat, war schon die Rede, ebenfalls von dem Hausfreund, der das Familiendesaster nachträglich in phantastischen Wandmalereien „im gotischen Stil“ (I, 272) festhält. Ottmar, der ganz im Banne von Alban steht, fällt als Nachfolger des Vaters offensichtlich aus. Die einzige Hoffnung auf den Fortbestand der Familie richtet sich somit auf den Grafen Hypolit, den im Krieg weilenden Verlobten Marias, der im Adelsrang freilich unter seinem Schwiegervater in spe steht. Sein Name weckt Assoziationen an den antiken Heros Hippolyt. Wenn man davon ausgeht, dass Namen vom Autor nicht zufällig gewählt werden, ist der antike Heros, der kinderlos blieb und jung starb, als Stammvater eines neuen Geschlechts schwer vorstellbar. Scharlatane 103 <?page no="104"?> 10 Gendolla, Peter (1980). Die lebenden Maschinen. Zur Geschichte der Maschinenmen‐ schen bei Jean Paul, E.T.A. Hoffmann und Villiers de l'Isle-Adam. Marburg/ Lahn: Guttandin und Hoppe; Völker, Klaus (Hrsg.) (1971). Künstliche Menschen. Dichtungen und Dokumente über Golems, Homunculi, Androiden und liebende Statuen. München: Hanser. Alban ist als Gegenspieler des vom Maler heroisch überzeichneten Hypolit angelegt. Er kann die Heimkehr des Bräutigams aus dem Krieg zwar nicht verhindern, aber dass er am Tod von Maria schuldig ist, steht für den Hausfreund außer Frage („Ja. Du warst es! - Alban - hämischer Satan“, I, 275). Alban jedoch grenzt sich ausdrücklich vom Satanismus ab, als Oberhaupt einer neuen „unsichtbare[n] Kirche“ (I, 266) bekennt er sich zum Mesmerismus als einer Form der ‚weißen Magie‘. In gewisser Weise korrespondiert diese Selbstwahr‐ nehmung mit seinem Namen, der auf ‚albus‘ (lat. weiß) verweist. Dass man den ‚reinen‘ Motiven Albans nicht so Recht trauen mag, hängt damit zusammen, dass er, von sexuellen Begehren getrieben, sein Wissen zu seinem persönlichen Vorteil einsetzt. Die absolute Herrschaft, die er über Maria anstrebt, beruht auf der vollständigen Ausschaltung ihres eigenen Willens. Auch wenn am Ende offen bleibt, ob Alban wirklich Schuld an ihrem Tod trägt, so spricht doch viel dafür, dass er sie in einen Zustand getrieben hat, in dem der Tod der einzige Ausweg für sie ist, um die Entscheidung zwischen ‚Meister‘ und ‚Bräutigam‘ zu vermeiden. Wie auch immer ‒ Alban erscheint in der Erzählung als ein zutiefst zwielich‐ tiger Charakter. Seine Stärke bezieht er aus der Schwäche und Bedürftigkeit seiner Umgebung. Sein hohes, überzogenes Selbst- und Sendungsbewusstsein basiert auf der Verachtung der Menschen, die für ihn zu Marionetten seines Machtstrebens werden. Hierin ähnelt er den Automatenherstellern, die sich ebenfalls im Besitz eines höheren Wissens glauben. Scharlatane als Konstrukteure von Automaten Mit dem Automatenmotiv knüpft Hoffmann an die Faszination an, die von dem berühmten Schachtürken ausging, der 1769 von dem Mechaniker Wolfgang von Kempelen gebaut und als Sensation in ganz Europa gezeigt wurde. Erst Jahrzehnte später gelang es, das komplizierte Bauprinzip des Automaten, in dem sich ein Mensch versteckte, zu entschlüsseln. Aufsehen erregten auch die von Jacques de Vaucanson entwickelten mechanischen Figuren, die Flöte oder Klavier spielten und Menschen täuschend ähnlich sahen. 10 Im zweiten Band der Serapions-Brüder, in denen die Freunde ausführlich über den Mesmerismus diskutieren, findet sich die Erzählung Die Automate, die 104 Inge Stephan <?page no="105"?> 11 Lieb, Claudia (2008): Der gestellte Türke. Wolfgang von Kempelens Maschinen und E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Die Automate“. In: Hoffmann-Jahrbuch 16, 82-97. 12 Meteling, Arno (2009). Automaten. In: Kremer, Detlef (Hrsg.) E.T.A. Hoffmann. Leben ˗ Werk ˗ Wirkung. Berlin/ New York: de Gruyter, 484-487. 13 De Francesco (2021: 300-322). 14 Ebd., 316. Hoffmann bereits 1814 verfasst hat. In ihr tritt der „redende Türke“ (III, 411) auf, der freilich kein Schachautomat, sondern eher ein Orakel ist, das dem zahlenden Publikum die Zukunft voraussagt. Wie mit dem Mesmerismus war Hoffmann auch mit dem Automatenwesen bestens vertraut. 11 Er kannte die einschlägige Literatur wie Die natürliche Magie (1786) von Johann Christian Wiegleb, in der eine Reihe von mechanischen Figuren abgebildet und beschrieben werden und hatte 1813 in Dresden eine Reihe von Musikautomaten gesehen, die ihn zu der Erzählung angeregt haben. Auch die Auseinandersetzung mit Gotthilf Heinrich Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) hat Eingang in die Erzählung gefunden. 12 Mich interessieren in diesem Zusammenhang weniger die Konstrukte als viel‐ mehr die Konstrukteure. Als Schöpfer und Liebhaber der Maschinenmenschen und belebten Puppen gehören sie in die Faszinationsgeschichte des ‚künstlichen Menschen‘, die in Mary Shelleys Roman Frankenstein (1818) ihren damaligen Höhepunkt fand. E.T.A. Hoffmann ist Teil dieses europäischen Diskurses, dem er mit seinem Sandmann (1816) eine ganz eigene Richtung geben wird. In der Automate geht es in erster Linie um die Bedeutung der Musik. Als Kom‐ ponist und Musiker war Hoffmann sehr an der Verbesserung alter und an der Erfindung neuer Instrumente interessiert und verfolgte den Instrumentenbau (einschließlich der Musikautomaten) mit großer Aufmerksamkeit. Hier liegt der eigentliche Schwerpunkt der Erzählung, die zwielichtige Figur des „Professor X“ (III, 427) ist nur ein Nebenstrang in einem komplexen Handlungsgefüge, spielt aber für den Zusammenhang zwischen Automatenbau und Scharlatanerie eine wichtige Rolle. Vorbild für den mysteriösen Professor X ist der Hofrat und Professor der Physik und Medizin Gottfried Christoph Bereis in Helmstedt, dem de Francesco in ihrem Buch Die Macht des Charlatans ein eigenes Kapitel gewidmet hat. 13 Bereis besaß eine berühmte Sammlung von Automaten, die zur Wallfahrts‐ stätte für viele Besucher wurde. Wie viele andere hat sich auch Goethe diese Sammlung angeschaut, fühlte sich jedoch abgestoßen von der Art und Weise, wie Bereis seine verrosteten Exponate vorführte, und wetterte gegen die „Qualen der Unvernunft“ 14 , die ihm bei diesem Besuch zugemutet wurden. Achim von Arnim war die Figur des manischen Sammlers in seinem Roman Scharlatane 105 <?page no="106"?> 15 Vgl. Meteling (2009: 333). Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores (1810) dagegen ein eigenes Kapitel wert, Hoffmann lässt ihn als „Hofrat B“ (III, 428) in seiner Automate kurz auftauchen und phantasiert ihn in ein undurchsichtiges Verhältnis zu Professor X, der ebenfalls ein leidenschaftlicher Sammler von Automaten aller Art ist. Nachdem Ludwig und Ferdinand eine Vorstellung mit dem „mirakulösen Türken“ (III, 417) besucht haben und Ferdinand von diesem einen „Orakel‐ spruch“ (III, 418) erhalten hat, der ihn tief erschüttert, geraten die beiden Freunde immer mehr in den Bann des Automaten. Von einem Fremden erfahren sie, dass der eigentliche Schöpfer des Automaten nicht der „Künstler“ (III, 417) ist, der den Apparat zur Schau stellt, sondern Professor X, der selbst eine ansehnliche Sammlung von Automaten besitzt. Der geheimnisvolle Türke hat also zwei ‚Väter‘, er ist das Produkt zweier Männer, die sich der Herstellung von Automaten verschrieben haben. Bei einem Besuch bei dem Professor zeigt ihnen dieser nicht nur „eine lebensgroße männliche Figur mit einer Flöte in der Hand“ und „eine weibliche Figur vor einem klavierähnlichen Instrumente“ (III, 433), sondern musiziert mit ihnen gemeinsam inmitten eines großen mechanischen Orchesters. Die auf diese Weise erzeugte „Maschinenmusik“ (III, 434) ist den beiden Freunden höchst zuwider, als sie jedoch im Garten des Professors die „tiefklagende Melodie einer weiblichen Stimme“ (III, 440) hören, sind sie zutiefst beeindruckt. Aufgrund des fragmentarischen Charakters der Erzählung bleibt offen, ob die Stimme Ferdinands verloren geglaubter Geliebten gehört oder ob der Gesang mechanisch von dem Professor in seinem „Laboratorium“ (III, 443) erzeugt wird, um mit Ferdinand ein teuflisches Spiel zu treiben. Als Theodor seine Erzählung abrupt beendet, sind die Freunde enttäuscht und fragen sich düpiert, wo die „Aufklärung“ (III, 444) der Geschichte bleibt. Theodor zieht sich mit den Bemerkungen aus der Affäre, dass er von vornherein nur ein „Fragment“ (ebd.) angekündigt habe, dass „die merkwürdige Historie vom redenden Türken gerade von Haus aus fragmentarisch“ (ebd.) und das Fragment überdies die geeignete Form für einen Protagonisten sei, „dessen ganzes Tun und Treiben fragmentarisch“ (III, 445) erscheine. Wie auch immer man das plötzliche Ende der Erzählung einschätzt ‒ es als bewusste Entscheidung des Autors versteht oder davon ausgeht, dass es sich gar nicht um ein Fragment handelt 15 ‒ es fällt auf, dass sowohl das „Rätsel“ (III, 442) des Automaten wie auch das Geheimnis des „psychischen Rapports“ (III, 432) zwischen den Menschen einerseits und zwischen Mensch und Maschine andererseits im Text nicht gelöst, bzw. nicht aufgedeckt werden. Insofern kann Die Automate als Prätext für den Sandmann gelesen werden, in dem ‒ ungeachtet aller Mystifikationen ‒ die 106 Inge Stephan <?page no="107"?> Automatenmotivik und die Scharlatan-Figuren sehr viel deutlicher konturiert sind als in den beiden Vorgängererzählungen. Literatur Barkhoff, Jürgen (2009). Magnetismus/ Mesmerismus. In: Kremer, Detlef (Hrsg.) E.T.A. Hoffmann. Leben - Werk - Wirkung. Berlin/ New York: de Gruyter. Brucke, Martin (2002). Magnetiseure. Die windige Karriere einer literarischen Figur. Freiburg: Rombach Wissenschaft. De Francesco, Grete (2021). Die Macht des Charlatans. Berlin: Die Andere Bibliothek. Gendolla, Peter (1980). Die lebenden Maschinen. Zur Geschichte der Maschinenmen‐ schen bei Jean Paul, E.T.A. Hoffmann und Villiers de l'Isle-Adam. Marburg/ Lahn: Guttandin und Hoppe. Kremer, Detlef (Hrsg.) (2009). E.T.A. Hoffmann: Leben - Werk - Wirkung. Berlin/ New York: de Gruyter. Lieb, Claudia (2008). Der gestellte Türke. Wolfgang von Kempelens Maschinen und E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Die Automate“. In: Hoffmann-Jahrbuch 16, 82-97. Mayer, Hans (1963). Die Wirklichkeit E.T.A. Hoffmanns. Ein Versuch. In: E.T.A. Hoff‐ mann: Poetische Werke in sechs Bänden. Berlin: Aufbau-Verlag. Meteling, Arno (2009). Die Automate. In: Kremer, Detlef (Hrsg.) E.T.A. Hoffmann. Leben - Werk - Wirkung. Berlin/ New York: de Gruyter. Hoffmann, E.T.A. (1968). Poetische Werke in sechs Bänden. Berlin: Aufbau Verlag. Rohde-Dachser, Christa (1991). Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Berlin/ Heidelberg: Springer-Verlag. Rohrwasser, Michael (1991). Coppelius, Cagliostro und Napoleon. Der verborgene poli‐ tische Blick E.T.A. Hoffmanns. Ein Essay. Basel: Stroemfeld. Siebenpfeiffer, Hania (2009). Der Magnetiseur. In: Kremer, Detlef (Hrsg.) E.T.A. Hoff‐ mann: Leben - Werk - Wirkung. Berlin/ New York: de Gruyter. Völker, Klaus (Hrsg.) (1971). Künstliche Menschen. Dichtungen und Dokumente über Golems, Homunculi, Androiden und liebende Statuen. München: Hanser. Wolters, Gereon (Hrsg.) (1988). Franz Anton Mesmer und der Mesmerismus. Konstanz: Universitätsverlag. Scharlatane 107 <?page no="109"?> Serapiontisches Prinzip und magnetische Anthropologie bei E.T.A. Hoffmann Gianluca Paolucci Zusammenfassung: Ziel des Beitrags ist es zu zeigen, wie sich E.T.A. Hoffmanns Interesse am tierischen Magnetismus nicht nur im Inhalt - dem die Forschung bisher mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat - sondern auch in der späten Poetik des Autors widerspiegelt. Während in den frühen Erzählungen die Verwendung magnetischer Praktiken eine thematische Konstante ist, wird in Die Serapionsbrüder der Magnetismus explizit mit der performativen Wirkung in Verbindung gebracht, die die Literatur auf die Leser auszuüben vermag. In diesem Sinne soll der Artikel beweisen, dass das vitalistische Paradigma, das der magnetischen Anthropologie zugrunde liegt - die eine therapeutische Verbindung zwischen der psy‐ chischen und der physischen Sphäre postuliert - die theoretische und performative Grundlage des serapiontischen Prinzips darstellt. Schlüsselwörter: E.T.A. Hoffmann, tierischer Magnetismus, Rezeptions- und Wirkungsästhetik, Performativität, literarische Anthropologie Abstract: The aim of the article is to show how E.T.A. Hoffmann’s interest in animal magnetism is reflected not only in the content - to which critics have paid more attention - but also in the author’s late poetics. Whereas in early Hoffmann’s short stories the use of magnetic practices is a constant theme, in Die Serapionsbrüder the magnetism is explicitly associated with the performative effect that literature is able to exert on the readers. In this sense, the purpose of the article is to prove that the vitalistic paradigm offered by the magnetic anthropology - which postulated a therapeutic union between the psychic and the physical spheres - represents the theoretical and performative basis of the Serapiontic principle. Keywords: E.T.A. Hoffmann, animal magnetism, reader-response theory, performativity, literary anthropology <?page no="110"?> 1 Über E.T.A. Hoffmanns Verhältnis zum Mesmerismus vgl. Barkhoff, Jürgen (1995). Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik. Stutt‐ gart/ Weimar: Metzler; Gaderer, Rupert (2009). Poetik der Technik: Elektrizität und Optik bei E.T.A. Hoffmann. Freiburg i.Br.: Rombach; Hilpert, Daniel (2014). Magnetisches Erzählen. E.T.A. Hoffmanns Poetisierung des Magnetismus. Freiburg i.Br.: Rombach; Bergengruen, Maximilian/ Hilpert, Daniel (2015). Magnetismus/ Mesmerismus. In: Lub‐ koll, Christiane/ Neumeyer, Harald (Hrsg.) E.T.A. Hoffmann Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler, 292-297. 2 Giulia Ferro Milone spricht z. B. von einer „Distanzierung Hoffmanns vom animalischen Magnetismus“. Ferro Milone, Giulia (2013). Mesmerismus und Wahnsinn in E.T.A. Hoffmanns Erzählung ‚Das Gelübde‘. Focus on German Studies 20, 74, 63-78. 3 Vgl. Erman, Wilhelm (1925). Der tierische Magnetismus in Deutschland vor und nach den Freiheitskriegen. München/ Berlin: Oldenburg. 4 Vgl. Safranski, Rüdiger (2020). E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phan‐ tasten. 8. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer, 294-310. 5 Vgl. Rohrwasser, Michael (1991). Coppelius, Cagliostro und Napoleon. Der verborgene politische Blick E.T.A. Hoffmanns. Ein Essay, Basel-Frankfurt a.M.: Stroemfeld/ Roter Stern. Analysiert man E.T.A. Hoffmanns Werk in seiner Gesamtheit und in seiner zeitlichen Entwicklung, so scheint die Haltung des Autors gegenüber dem tierischen Magnetismus 1 von Schwingungen und Ambivalenzen geprägt zu sein. In Hoffmanns ersten Erzählungen ist der Mesmerismus eine thematische Konstante, z. B. in Der Magnetiseur. Eine Familienbegebenheit (1814) oder in der Sammlung der Nachtstücke (1816-1817), wo Bezüge zu magnetischen Praktiken mehr oder weniger direkt in Das öde Haus, Ignaz Denner und in Das Gelübde vorhanden sind und immer unheimliche, negative, manipulative Züge annehmen. Dieser Umstand führte dazu, dass die vor allem aus einer inhaltlichen Perspektive analysierten Erzählungen als Beleg für Hoffmanns vermeintlich kritische Distanz zur Lehre Franz Anton Mesmers gedeutet wurden 2 . Insbeson‐ dere war Hoffmann von der vom Marquis de Puységur eingeführten Variante des Mesmerismus fasziniert und gleichzeitig erschrocken: Der vom Magnetiseur ausgeübte psychische Einfluss sei in der Lage, veränderte Bewusstseinszustände bei den Patienten auch ohne physischen Kontakt zu bewirken. In diesem Sinne scheint Hoffmanns Werk nicht nur die hitzigen Debatten widerzuspiegeln, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts innerhalb der medizini‐ schen Institutionen in Deutschland über die therapeutische Wirksamkeit des Magnetismus entstanden 3 , sondern auch - wie Rüdiger Safranski 4 und Michael Rohrwasser 5 bewiesen haben - brisante politische Diskurse. Die mesmerische Psychotechnik kann im Lichte der Disziplinierungstechniken des modernen Staates interpretiert werden, der seine Souveränität seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr in einer gewaltsamen, autoritären und repressiven Weise über die Körper der Untertanen manifestiert, sondern - wie Michel Foucault gezeigt 110 Gianluca Paolucci <?page no="111"?> 6 Vgl. Foucault, Michel (1975). Surveiller et punir. Naissance de la prison. Paris: Gallimard. 7 Vgl. Galli, Matteo (1999). L’officina segreta delle idee. E.T.A. Hoffmann e il suo tempo. Firenze: Le Lettere, 178-184. 8 Ausschlaggebend für Hoffmanns veränderte Haltung gegenüber dem tierischen Ma‐ gnetismus scheint die Beziehung des Autors zu David Ferdinand Koreff nach seinem Umzug nach Berlin im Jahr 1814 gewesen zu sein. Vgl. Paolucci, Gianluca (2021). «… das Wesen jenes geheimnisvollen Bandes, das Geist und Körper verknüpft…». Letteratura e antropologia magnetica nei Serapions-Brüder. Links 22, 28-29. Der vorliegende Beitrag bearbeitet auf Deutsch die Thesen des eben zitierten Artikels. 9 Vgl. Bergengruen, Maximilian (2004). Die heitere Therapie. Persönlichkeitsspaltung und Groteske in E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla. Colloquium Helveticum 35, 119-142. 10 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus (2001). Die Serapions-Brüder. Hrsg. v. Wulf Se‐ gebrecht unter Mitarbeit v. Ursula Segebrecht (Sämtliche Werke in sieben Bänden, Bd. IV). Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag, 11. Im Folgenden werden die Werke Hofmanns aus dieser Ausgabe mit HSW, der Nummer des Bandes und der Seiten zitiert. hat 6 - innerhalb ihrer Seelen. So betrachtet wäre die Absicht Hoffmanns, ausgehend von einer Kritik am Magnetismus, die Gefahr solcher psychischen Reglementierungsmittel zu denunzieren, die sowohl die Politik Napoleons als auch die konservative Politik der preußischen Regierung nach den nationalen Befreiungskriegen inspirierten. Trotzdem scheint Hoffmanns Gesamturteil über Mesmers Lehre ambiva‐ lenter zu sein. Im Spätwerk des Autors finden wir eine deutliche Umwertung der Figuren der Magiere/ Mesmeristen 7 , die positiven Physiognomien annehmen: Sie sind jetzt in der Lage, sowohl den Geist als auch den Körper ihrer Subjekte zu heilen 8 . Dies ist beispielsweise der Fall des Zauberers Celionati in Hoffmanns Ca‐ priccio Prinzessin Brambilla (1820), der nicht zuletzt durch eine Art ästhetische Erziehung den „chronischen Dualismus“ heilt, unter dem der junge Schauspieler Giglio Fava leidet 9 . Auch in dem unveröffentlichten Erzählungsfragment Die Genesung (1822) wird die mesmerische Praxis - in Puységurs Variante - explizit mit der performativen und therapeutischen Kraft der Poesie in Verbindung gebracht und erweist sich am Ende des Werkes als positiv. In unserem Fall ist es interessant zu beobachten, dass Hoffmann die Ausein‐ andersetzung mit den Theorien des tierischen Magnetismus in den Mittelpunkt der Serapionbrüder (1819-1821) stellt. In der Ökonomie der Sammlung stellt der Mesmerismus die einzige wissenschaftliche Hypothese dar, die in den Rahmendialogen ausführlich behandelt wird, in denen ansonsten vor allem poetologische Fragen („über Kunst und Literatur“ liest man im Vorwort 10 ) oder über die Wirkung der Erzählungen auf die Zuhörer erörtert werden. Obwohl die gesammelten Freunde in Rahmenerzählung das Misstrauen Hoffmanns gegenüber dem Magnetismus als medizinische Therapie teilen, ist es möglich, Serapiontisches Prinzip und magnetische Anthropologie bei E.T.A. Hoffmann 111 <?page no="112"?> 11 Vgl. Crescenzi, Luca (1992). Il vortice furioso del tempo. E.T.A. Hoffmann e la crisi dell’utopia romantica. Lavinio (Roma): De Rubeis. 12 Vgl. Beck, Andreas (2008). Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen. Goethe - Tieck - E.T.A. Hoffmann. Heidelberg: Winter; Steinecke, Hartmut (2004). Die Kunst der Fantasie. E.T.A. Hoffmanns Leben und Werk. Frankfurt a.M./ Leipzig: Insel, 356. 13 Vgl. Auhuber, Friedhelm (1986). In einem fernen dunklen Spiegel: E.T.A. Hoffmanns Poetisierung der Medizin. Opladen: Westdeutscher Verlag, 108-123. die Prinzipien einer Art magnetischer Anthropologie im Text zu ermitteln, die wichtige Auswirkungen auf die Poetik des späten Hoffmann zu haben scheint. Meine These ist, dass sich der tierische Magnetismus im Spätwerk des Autors nicht so sehr auf der inhaltlichen Ebene als produktiv erweist, wie dies zuvor bei den frühen Texten der Fall war, sondern vielmehr auf einer poetologischen Perspektive, insbesondere im Hinblick auf die Wirkungsästhetik der in den Serapionsbrüdern enthaltenen Erzählungen. Übrigens zeigt die ganze Sammlung Hoffmanns eine erneute Hinwendung zur Wirkungsästhetik seiner Literatur, wie schon die Wahl der Rahmenform beweist: Sie erlaubt es, die Wirkung der Erzählungen auf die Zuhörerschaft zu testen. Die Hoffmannforschung hat bewiesen, dass eines der Hauptthemen von Serapionsbrüder das Verhältnis zwischen Kunst und Leben ist 11 . Auf dem Höhe‐ punkt seiner literarischen Reife und nachdem er die Problematik der Spaltung zwischen künstlerischer Berufung und bürgerlichen Pflichten verstanden hat, scheint Hoffmann nun von dem Bedürfnis getrieben zu sein, die Wirklichkeit seiner Zeit durch seine Literatur positiv zu beeinflussen. Aus diesem Grund distanziert sich der Autor schon am Anfang von der Kunst des Einsiedlers Serapion, der sich durch eine solipsistische Haltung auszeichnet, weil er nicht in der Lage ist, die legitime Anforderungen der Wirklichkeit zu erkennen. Die Erzählungen der Serapionsbrüder, die Hoffmann bekanntlich in den Jahren zuvor größtenteils in einzelnen Ausgaben veröffentlicht hatte, erhalten in dem neuen Kontext eine dialogische, performative Dimension 12 und erfüllen - wie F. Auhuber beobachtet hat 13 - eine therapeutische Funktion. In diesem Zu‐ sammenhang kann man z. B. den Beginn des dritten Bandes interpretieren. Hier erfährt der Leser von der Krankheit, die Theodor befallen hat, „der die Spuren harter Krankheit noch im bleichen Antlitz trug und den die Brüder verlassen, bis auf einen, der ihm mit allen Ergießungen einer mürrischen Laune gar hart zusetzte“ (HSW IV, 619). Wenn die „bitteren“ Medikamente, die ihm der Arzt verschrieben hat, wenig zur Wiederherstellung seiner Gesundheit beigetragen haben, so konnte ihn nur das Wiedersehen mit seinen alten Freunden und das Zuhören ihrer Erzählungen heilen (HSW IV, 621-622). 112 Gianluca Paolucci <?page no="113"?> Obwohl Auhuber diese medizinische Berufung der späten Poesie Hoffmanns in den Serapionsbrüdern anerkannt hat, hat er die Dynamik dieser Heilung nicht geläutert. Das soeben zitierte Beispiel, in dem Theodor von seiner körperlichen (heute würde man sagen: psychosomatischen) Krankheit indirekt durch die von den Erzählungen hervorgerufene psychische Wirkung geheilt wird, zeigt in der Tat, wie weit sich Hoffmann vom Modell Serapions entfernt, dem - wie Cyprian bemerkt - das „Erkenntnis der Duplizität“ fehlt, das die conditio humana prägt (HSW IV, 68). Der Einsiedler denkt nämlich, dass seine inneren Visionen nur Projektionen seines Geistes sind und schließt die Beteiligung der Sinnesorgane und damit des Körpers an der geistigen bzw. intellektuellen Aktivität aus: Ist es nicht der Geist allein, der das was sich um uns her begibt in Raum und Zeit, zu erfassen vermag? - Ja was hört was sieht, was fühlt in uns? - vielleicht die toten Maschinen die wir Auge - Ohr - Hand etc. nennen und nicht der Geist? (HSW IV, 33-34) Im Gegenteil scheint es, dass Hoffmann, dessen Poetik auf einer Überwindung des Solipsismus des Einsiedlers basiert, eine Erzählkunst entwickeln will, die Körper und Geist zugleich anspricht, um ihre Harmonie wiederherzustellen: Darin besteht ihre heilende Funktion. Nun ist es wahrscheinlich, dass Hoffmanns programmatische Haltung in Bezug auf die therapeutische Wirkung seiner Literatur nicht zuletzt auf seine Überlegungen zu den theoretischen Prämissen des Magnetismus zurückzu‐ führen ist. In der Tat zeigte der Mesmerismus nach der Analyse des Autors - und vielleicht ist das der Grund, warum Mesmers Lehre in den Serapionsbrüdern so viel Platz eingeräumt wird - genau das, was Serapion leugnet, nämlich die untrennbare Verbindung zwischen Körper und Geist. Das anthropologische Wissen des Magnetismus - so lesen wir in der Sammlung - beruht auf der Er‐ kenntnis „jenes geheimnisvollen Bandes, das Geist und Körper verknüpft“ (HSW IV, 318). Die aus den mesmerischen Theorien der damaligen Zeit abgeleitete Anthropologie bewies, dass das psychische Prinzip des Magnetiseurs in der Lage war, sich dem Patienten mitzuteilen und auch auf seine physisch-physiologische Sphäre einzuwirken, um seine veränderten und gestörten Funktionen wieder‐ herzustellen. Cyprian beschreibt die „Heilkraft des sogenannten Magnetismus“ mit den folgenden Worten: Was ist der Magnetismus, als Heilmittel gedacht, anders als die potenzierte Kraft des psychischen Prinzips, die nun vermag das physische ganz zu beherrschen, es ganz zu erkennen, jeden, auch den leisesten abnormen Zustand darin wahrzunehmen und eben durch die volle Erkenntnis dieses Zustandes ihn zu lösen. (HSW IV, 317) Serapiontisches Prinzip und magnetische Anthropologie bei E.T.A. Hoffmann 113 <?page no="114"?> 14 Vgl. Koschorke, Albrecht (2004). Poiesis des Leibes. Johann Christian Reils romantische Medizin. In: Brandstetter, Gabriele/ Neumann, Gerhard (Hrsg.) Romantische Wissens‐ poetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg: Königshausen und Neumann, 259-272. 15 Kluge, Carl Alexander Ferdinand (1811). Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel. Berlin: Salfeld, 171. 16 Kluge (1811: 161). 17 Kluge (1811: 271). Diese Dynamik wird von C. A. F. Kluge in seinem Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel (1811) veranschaulicht. Das Buch Kluges wird von der Forschung als Hoffmanns wissenschaftliche Hauptquelle zum tierischen Magnetismus allgemein anerkannt und auch in den Serapions‐ brüdern erwähnt. Laut Kluge, der die Ideen von J. C. Reil über die zentrale Rolle des Nervensystems als Verbindung zwischen dem Gehirn und der peripheren Tätigkeit der verschiedenen Körperorgane 14 rezipiert, ist dieses von einem Lebensfluidum durchdrungen, das als „Mittler zwischen Geist und Körper“ gilt 15 . Angesichts dieser Vermittlungsfunktion geht Kluge insbesondere auf die Fähigkeit des Willens des Mesmeristen ein, dieses Fluidum in Bewegung zu setzen, um es im Körper des Patienten wirken zu lassen. Ausgehend von Reils These einer Trennung von Gehirn und Ganglien argumentiert Kluge weiter, dass die Aktivitäten der beiden Systeme im Normalzustand durch eine Nervenkette voneinander getrennt sind, während die beiden Sphären ineinander übergehen können, wenn die Ganglien oder isolierenden Nerven zu Leitern werden. Dies geschieht zum Beispiel in jenen Fällen, in denen sich eine große Menge an Lebenskraft durch den psychischen Einfluss des Mesmeristen in ihnen ansammelt. Auf diese Weise kommen die tierische Sphäre, die die kognitiven Aktivitäten beherrscht und von dem Gehirn reguliert wird und die vegetative Sphäre, die den Ganglien innewohnt und in der die normalen physiologischen Prozesse des Körpers ablaufen, in Kontakt. In diesem Zustand ist der hypnotisierte Patient in der Lage, seinen eigenen Körper zu spüren (und eventuelle Funktionsstörungen darin zu erkennen und zu heilen), d. h. Empfindungen, innere Stimmungen zu entdecken und zu fühlen, welche das diskursive Tagesbewusstsein ansonsten nicht wahrnehmen kann. Kluge spricht von einer „Selbstbeschauung“ 16 , die es erlaubt, das ans Licht zu bringen, was normalerweise im Unbewussten verborgen liegt: „neue, bisher schlummernde Kräfte verwirklichen sich“ 17 . In ähnlicher Weise stellt Lothar in den Serapionsbrüdern fest, dass wir im Zustand des magnetischen Schlafes „mit aller Kraft unseres vollen Fassungsvermögens [das erschauen], was tief in unserer Seele regungslos schlummerte“ (HSW IV, 318). 114 Gianluca Paolucci <?page no="115"?> 18 Kluge (1811: 281). 19 Vgl. Kluge (1811: 282). Insbesondere geht Kluge in seiner Dissertation auf die Möglichkeit ein, dass der Magnetiseur beim Patienten das Auftauchen von Vorstellungen anregt, die nicht durch den Kontakt mit der Außenwelt über die Sinnesorgane, die während des Schlafes deaktiviert sind, hervorgerufen werden, sondern auf eine Art verborgenes, unbewusstes Körpergedächtnis zurückgreifen. Dabei nimmt der Somnambule „Dinge“ wahr, […] welche der Seele schon früher durch die Sinnorgane als Anschauungen überbracht worden sind, und von welchen sie bereits Vorstellungen besitzt, die nur von neuem erweckt werden dürfen 18 . Diese von Kluge beschriebene psychische Dynamik wird in Hoffmanns Frag‐ ment Die Genesung recht treffend wiedergegeben. Das Wort „Grün“ (nicht zufällig hatte Kluge das Beispiel der inneren Vorstellung der Farbe Grün gewählt 19 ) aus einem Calderón-Lied, das die Nichte Wilhelmine während seines magnetischen Schlafes flüstert (HSW VI, 583), weckt im Körper des Onkel Siegfried, der unter einer „Geisteskrankheit“ leidet, die Erinnerung an die ansonsten verlorene Natur: Er bildete sich nämlich ein, die Natur, erzürnt über den Leichtsinn der Menschen, die ihre tiefere Erkenntnis verschmähten, […] habe ihnen zur Strafe das Grün genommen. (HSW VI, 582-583) Onkel Siegfried wird vom Dr. O durch die magnetische Kurmethode Puységurs geheilt - die im Text explizit erwähnt wird -, die hier aber mit der evokativen Kraft der Poesie zu tun hat, die den Geist anregt und auch physiologisch wirkt: „Da erwachte die Röte des Lebens auf dem Antlitze des Alten“ (HSW VI, 585). Diese poetische Therapie führt in erster Linie dazu, dass der äußere psychische Einfluss in Siegfrieds Körper die Erinnerung an die grüne und natürliche Landschaft reaktiviert, die er früher in eben jener Umgebung oft besucht hat: „Onkel Siegfried hat diesen Ort schon seit vielen Jahren besonders geliebt und in tiefer Einsamkeit besucht“ (HSW VI, 586). Die Analyse der Erzählung, die vermutlich zeitgleich mit der Niederschrift der Serapionsbrüder entstand, ermöglicht es uns nun, die Natur jenes serapi‐ ontischen Prinzips besser zu verstehen, das den literarischen Experimenten der Freunde in der Sammlung zugrunde liegt. Die Forschung, die sich mit der Phänomenologie dieses Prinzips innerhalb des Werks befasst hat, hat die Aufmerksamkeit vor allem auf den Moment des poetischen Schaffensproz‐ Serapiontisches Prinzip und magnetische Anthropologie bei E.T.A. Hoffmann 115 <?page no="116"?> 20 Vgl. Hilpert (2014: 274-279). 21 Vgl dazu Japp, Uwe (1992). Das serapiontische Prinzip. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.) E.T.A. Hoffmann. München: Text+Kritik (Sonderband), 69. esses gerichtet. In diesem Sinne hat D. Hilpert jüngst auf die Ähnlichkeit zwischen dem „Inneren Schauen“ Serapions, dem seine fruchtbare schöpferische Phantasie entspringt, und der magnetischen „Selbstbeschauung“ aufmerksam gemacht, von der auch Kluge spricht 20 . Jedoch bei näherer Betrachtung lädt Hoffmann, indem er sich von der Poetik des Einsiedlers distanziert, dazu ein, auch das serapiontische Prinzip neu zu formulieren, indem er es in einen neuen Kontext stellt und es eher unter dem Gesichtspunkt der Rezeption betrachtet. Nach Lothar geht es nämlich nicht nur darum, „das Bild“ aus dem eigenen Unbewussten hervorzuholen, sondern es auch in seiner ‚Lebendigkeit‘ nach außen zu kommunizieren, wobei jeder der Freunde aufgefordert ist, „das Bild, das ihm im Innern aufgegangen recht zu erfassen […], und dann […] die Darstellung ins äußere Leben [zu] tragen“ (HSW IV, 69). Das bedeutet, dass der Erzähler auf seine persönlichen Erfahrungen zurückgreifen muss, die er entweder tatsächlich erlebt oder im Geiste empfunden hat, um die Intensität dieser Erlebnisse auch dem Rezipienten zu vermitteln 21 . Hoffmanns serapiontische Erzählkunst besteht aus einer Art Stimulierung eines unbewussten unterschwelligen Körpergedächtnisses des Lesers, das man - wie in Die Genesung geschieht - durch das poetische Wort hervorrufen will. Die Beispiele für diese Vorgehensweise des Autors sind in der Sammlung zahlreich. In der Erzählung Die Fermate weckt z. B. die Betrachtung von Hummels Gemälde der Wirtsleute eines italienischen Gasthauses schlummernde Gefühle in Eduards Körper („Wahrhaftig, mir ist es, als spüre ich schon etwas von dem süßen Duft des edlen Weins“, HSW IV, 72) und löst vor allem die Erzählung von Theodors Erinnerungen und persönlichen Erlebnissen aus, der vor dem Gemälde wie in einem „Traum“ versunken ist und von einer Art „Zauberschlag“ erfasst wird (HSW IV, 73). Etwas Ähnliches geschieht in Nußknacker und Mausekönig, wenn der Leser in dem Moment, in dem von Mariens Krankheit erzählt wird, von Hoffmann aufgerufen wird, sich eine in der frühen Kindheit sehr häufige Situation ins Gedächtnis zu rufen, nämlich das Gefühl, „sich mit Glas zu schneiden“ (HSW IV, 281-282). Am Ende der Behandlung des Mesmerismus in der Sammlung wird ausdrück‐ lich auf die enge Beziehung zwischen dem Ziel der serapiontischen Poetik, die im Märchen Nußknacker und Mausekönig zum vollen Ausdruck kommt, und dem der Mesmerischen Anthropologie hingewiesen. Beide - heißt es im Text 116 Gianluca Paolucci <?page no="117"?> - beruhen auf der Fähigkeit, „unbekannte geheimnisvolle Kräfte“ in Gang zu setzen, die normalerweise latent im Leser/ Zuhörer vorhanden sind: Doch wollen wir auch nicht vergessen, daß wir dem Magnetismus schon deshalb nicht ganz abhold sein können, weil er uns in unsern serapiontischen Versuchen sehr oft als tüchtiger Hebel dienen kann, unbekannte geheimnisvolle Kräfte in Bewegung zu setzen. Selbst du, lieber Lothar, hast dich dieses Hebels schon oft bedient und verzeih’ mir, sogar in dem erbaulichen Märchen vom Nußknacker und Mausekönig ist die Marie zuweilen nichts anders als eine kleine Somnambule. (HSW IV, 331) Dass Hoffmann die Möglichkeit voraussieht, dass sich der Leser mit den Erlebnissen der „kleinen Somnambule“ Marie identifiziert, zeigt sich daran, dass Lothar von der unbewussten, automatischen und spontanen, direkt vom Körper ausgehenden Reaktion der Kinder seiner Schwester beim Hören des Märchens berichtet (HSW IV, 306-307). Ist es also möglich, dass Hoffmann, wenn er von diesen „unbekannten geheimnisvollen Kräften“ spricht, genau auf diese Art von latentem Körperge‐ dächtnis anspielt, das sowohl durch die magnetische Praxis als auch durch seine Erzählkunst reaktiviert werden kann, und dass diese Dynamik eine therapeuti‐ sche Wirkung auf die Rezipienten hat, wie schon die ‚Genesung‘ Mariens nach der Erzählung des Märchens von der harten Nuß auf einer inhaltlichen Ebene beweist? Aus dieser Perspektive gedeutet, möchte Hoffmanns Literatur genau „jenes geheimnisvolle Band, das Geist und Körper verknüpft“, wiederherstellen und dem Leser seine ansonsten verlorene Ganzheit zurückgeben. Schon zu Beginn der Sammlung ist von „Unmut“ die Rede, von „Spleen“ (HSW IV, 39) und dem Wunsch, „ein neues Leben“ anzufangen, das „einen Frühlingshauch“ (HSW IV, 18) durch die Seelen wehen lässt. Die Erzählungen müssen also „humoristisch - lustig - rührend - ergreifend“ (HSW IV, 39) wirken, d. h. sie müssen alle Fähigkeiten des Lesers positiv anregen. Die Meinungen der Serapionsbrüder zu den im Gespräch besprochenen Fällen von hypnotisierten Patienten zeigen freilich, dass Hoffmann seine Zweifel und Ängste gegenüber dem Magnetismus als medizinischer Praxis, d. h. gegenüber einem „Verfahren“, das zu „einem […] gefährlichen Instrument“ (HSW IV, 319) werden kann, nicht aufgegeben hat. Aber hier scheint es eher so zu sein, dass Hoffmann seine Erzählkunst als eine Art Alternative zum Mesmerismus als medizinische Therapie vorschlägt, d. h. eine Alternative, die - obwohl sie auf denselben theoretischen Prämissen beruht - das Subjekt stärker respektieren soll. Serapiontisches Prinzip und magnetische Anthropologie bei E.T.A. Hoffmann 117 <?page no="118"?> 22 Vgl. Safranski (2020: 429). In seinem Bericht über den Prozess gegen D. Schmolling bezweifelte Hoff‐ mann die Fähigkeit der Medizin, über den „psychischen Organismus des Menschen“ zu urteilen und er verwies nur auf Literatur und Philosophie „die Erkenntnis dieses geistigen Prinzips“ (HSW VI, 699) 22 . Die Erfahrungen des Schriftstellers als Mitglied der Immediat-Kommission zur Ermittlung hoch‐ verräterischer Verbindungen und anderer gefährlicher Umtriebe, die mit der Absicht eingesetzt wurde, den liberalen Dissens gegen die konservative Politik der preußischen Regierung einzudämmen, bestätigten außerdem, wie weit der reaktionäre Wille zur Unterdrückung sowohl der Körper als auch der Seelen der Untertanen gehen konnte. Offensichtlich sah Hoffmann in seiner Literatur und insbesondere in den Serapionsbrüdern ein Medium für eine Psychotechnik, die, insofern sie darauf abzielte, eine freie Harmonisierung der psycho-physischen Fähigkeiten der Individuen anzuregen, im Gegensatz zu der von der Obrigkeit praktizierten stand. Diese, gestützt auf offizieller Wissenschaft und Medizin, konnte nicht in die geistige Sphäre der Menschen eindringen, ohne Gefahr zu laufen, sie für unmenschliche Zwecke zu manipulieren. Literatur Auhuber, Friedhelm (1986). In einem fernen dunklen Spiegel. E.T.A. 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Durch eine geschickte phantastische Erzählweise und den dialektischen Kontrast zwischen den Geschichten versucht der Autor, die Ambivalenz des Magnetismus zu zeigen, indem er sich auf seine ‚Opfer‘ fokussiert und damit literarisch den Weg für Freuds Psychoanalyse ebnet. Schlüsselwörter: E.T.A. Hoffmann, Nachtstück, Magnetismus, Phan‐ tastik, Opfer Abstract: This paper focuses on the multidimensionality of night and the chiaroscuro technique evident in Hoffmann’s Nachtstücke and borrowed from painting as well as from philosophy and natural sciences. Through a skillful fantastic narrative mode and the dialectical contrast between the stories, the author aims to show the ambivalence of magnetism by focussing on its ‚victims‘, thus literary paving the way for Freud’s psychoanalysis. Keywords: E.T.A. Hoffmann, night-piece, magnetism, fantastic, victim A Patrizio Collini Das „Nachtstück“ bezeichnet ursprünglich eine bildkünstlerische Gattung, die zunächst als „Nachtbild“ in Vasaris Vite (1550-1567) erwähnt wird, sodann im deutschen Sprachgebiet ab dem ausgehenden 17. Jh. nachweisbar ist und erst ab dem 18. Jh. auch noch literarische und musikalische Konnotationen aufweist. In der Malerei gilt das Nachtstück als Wasserscheide zwischen dem „Eigenlicht“ <?page no="122"?> 1 Vgl. Leopoldseder, Hannes (1973). Groteske Welt. Ein Beitrag zur Entwicklungsge‐ schichte des Nachtstücks in der Romantik. Bonn: Bouvier; Kaiser, Gerhard R. (1990). Nachwort. In: Hoffmann, E.T.A. Nachtstücke. Stuttgart: Reclam, 392-430. 2 Vgl. Brief an Hippel (Glogau, 26. Aug. 1798). Schnapp, Friedrich (Hrsg.) (1967). E.T.A. Hoffmanns Briefwechsel. Bd.-1. München: Winkler, 135. 3 Die persönliche Bekanntschaft Hoffmanns mit dem Maler Molinary wird in einer Nachtszene bei Fackellicht in Die Jesuiterkirche in G. literarisch verklärt. Zu den weiteren makrotextuellen ekphrastischen Bezügen vgl.: Acciaioli, Stefania (2019). L’èkphrasis romantica e il suo doppio: E.T.A. Hoffmann e la Scapigliatura. Rivista di Letterature Moderne e Comparate LXXII: 1, 19-36. Vgl. auch Schmidt, Ricarda (2006). der mittelalterlichen und dem „Beleuchtungslicht“ der neuzeitlichen Malerei 1 . Dieser Wandel vollzog sich im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts in den Nie‐ derlanden (Geertgen tot Sint Jans’ Geburt Christi, 1490) und in Italien (Piero della Francescas Traum des Konstantin, 1458-66) und ging auf die Lehre von Giotto und Leonardo da Vinci zurück. Insbesondere die italienische Renaissance stellt den Übergang zum modernen Beleuchtungslicht dar: Herrscht in Correggios Heilige Nacht (1530) noch das sakrale Leuchtlicht, so kreiert Raphaels Befreiung Petri (1514) eine Beziehung zwischen einer künstlichen Leuchtlichtquelle und der heilig erleuchteten Bildwelt. Als Höhepunkte des Nachtstücks gelten zum einen Caravaggio und die niederländischen und französischen „Caravaggisti“ (etwa Schalcken und de la Tour). Zum anderen gipfelt bei Rembrandt die Suche nach einer allmählich stärker betonten Hell-Dunkel-Technik in der Nachtbild‐ gestaltung, die sodann in der Romantik aufblüht. Die entscheidendsten Impulse für das literarische Nachtstück gehen aber von der Landschaftsmalerei Salvator Rosas aus. Sein Hell-Dunkel strahlt eine dämonisch-unheimliche Kraft aus, die durch eine motivische Anhäufung von entsetzlichen Aspekten der Nacht und der Natur noch intensiviert wird. Trotz der natürlichen Lichtquelle bedeutet die Nacht also nun keine bloße Tageszeit mehr und ebnet auf diese Weise den Weg zu Füsslis visionären Nachtstücken einerseits und zur Seelenlandschaft in der Gothic Novel und in der Romantik andererseits. Somit wird das malerische Nachtstück in den Bereich der Literatur überführt und eine Linie erkennbar, die sich bis Hoffmann erstreckt. Bekanntlich besuchte E.T.A. Hoffmann 1798 die Dresdner Gemäldegalerie, wo er Batonis und Raphaels erhabene Werke sowie Correggios Nacht [siehe Abbildung] bewundern konnte 2 . Ebenso vertraut waren ihm auch die schau‐ ererregenden Bilder Salvator Rosas [siehe Abbildung], dem Hoffmann mit Signor Formica ein literarisches Denkmal setzt, die Stimmungslandschaften Ruisdaels, der im Sandmann in Claras Beschreibung evoziert wird, und die Werke Callots, der zum poetologischen Vorbild der Phantasiestücke wird 3 . Insbesondere das Hell-Dunkel dieser malerischen Darstellungen der Nacht übte 122 Stefania Acciaioli <?page no="123"?> Wenn mehrere Künste im Spiel sind. Intermedialität bei E.T.A. Hoffmann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 4 Er kannte etwa Kluges Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel (1811), Bartels Grundzüge einer Physiologie und Physik des animalischen Magnetismus (1812), Nudows Versuch einer Theorie des Schlafs (1791), sowie Pinels Traité médico-philosophique sur l’alienation mentale ou la manie (1801) und Reils Ueber die Erkenntnis und Cur der Fieber (1802) und Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode bei Geisteszerrüttungen (1803). Außerdem hatte er Kontakt zu den Ärzten und praktizierenden Magnetiseuren Marcus und Speyer in Bamberg sowie zu Koreff in Berlin. Vgl. u. a. Alefeld, Yvonne-Patricia (2017). E.T.A. Hoffmann. Marburg: Tectum Verlag. 5 Vgl. Crescenzi, Luca (1995). Introduzione. In: Hoffmann, E.T.A. Notturni. Roma: Newton, 7-14; Galli, Matteo (1997). I tormenti della terra. Introduzione. In: Hoffmann, E.T.A. Notturni. Firenze: Giunti, IX-XXX; Collini, Patrizio (1999). Dalla teofania not‐ turna al Notturno: le origini del Nachtstück. Cultura Tedesca 11, 165-178. folglich einen starken visuellen Einfluss auf Hoffmanns Werk aus. Vor allem in seine Nachtstücke fließen über die Anregungen der Bildenden Kunst hinaus solche der Naturphilosophie und der Wissenschaften mit ein. Er war nicht nur mit Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) und Die Symbolik des Traumes (1814) vertraut, sondern er setzte sich auch mit den damals aktuellen Fragen des Magnetismus und der Psychiatrie theoretisch sowie praktisch auseinander 4 . Dank all dieser Impulse erlangt die Nacht ein breites Spektrum an literarischen Konnotationen, sodass die Stratigraphie des roman‐ tischen Nachtstücks vielschichtig wird, indem die Nacht nicht nur - wie in der Malerei - als Schauplatz und als Motiv vorkommt, sondern auch durch eine progressive Verlagerung nach innen eine tiefere Dimension als die Schubertsche ‚Nachtseite der Natur‘ erlangt 5 . Hoffmanns Nachtstücke inszenieren diese Mul‐ tidimensionalität der Nacht und die intermediale Wechselbeziehung zwischen der Technik der ‚dunklen‘ Renaissance-Malerei und der „mesmerischen-natur‐ philosophischen“ Literatur der Schwarzen Romantik meisterhaft. Die Nacht als Hauptprotagonistin spielt hier zumindest eine dreifache Rolle: als zeitliche Inszenierung der Schlüsselszenen der Erzählungen und deren schauriges Ar‐ senal, als magnetische ‚dunkle Macht‘ mit den daraus folgenden psychischen Störungen des ‚Opfers‘, und als kompositorisches Prinzip der Hell-Dunkel- Kontraste sowohl innerhalb der Einzeltexte als auch auf der Sammlungsebene. Anhand einer exemplarischen Lektüre von Der Sandmann und Das öde Haus wird im Folgenden gezeigt, inwieweit Hoffmann durch diese Vielschichtigkeit und seine ‚phantastisch-mesmerische‘ Erzählweise eine weitere Dimension der Nacht beleuchtet. Die Nachtseite der Kunst und der Wissenschaften: E.T.A. Hoffmanns Nachtstücke 123 <?page no="124"?> 6 Vgl. Hilpert, Daniel (2014). Magnetisches Erzählen. E.T.A. Hoffmanns Poetisierung des Mesmerismus. Freiburg i.B./ Berlin/ Wien: Rombach Verlag. 7 Auch die Niederschrift des Sandmann (am 16. November 1815 um 1 Uhr nachts) gilt als ‚Nachtstück‘, wie dem Manuskript zu entnehmen ist. Vgl. Hoffmann, E.T.A. (1985). Nachtstücke. Klein Zaches. Prinzessin Brambilla. Werke 1816-1820. In: Se‐ gebrecht, Wulf/ Steinecke, Hartmut (Hrsg.) Sämtliche Werke. Bd. 3. Frankfurt/ M.: Deutscher Klassiker Verlag, 944, 961. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe als SW3 zitiert [Hervorhebungen: S. A.]. 8 Todorov, Tzvetan (1970). Introduction à la littérature fantastique. Paris: Seuil. Zur Phantastik vgl. auch Acciaioli, Stefania (2012). Il fantastico perturbante in Hoffmann e Beckford. Dagli abissi notturni dell’Io alla polifonia dell’esistenza. Napoli: De Frede. 9 Zur Vererbung sowie zum Komplex Vater/ Coppelius/ Freunde bzw. Mutter/ Schwester/ Geliebte vgl. Bergengruen, Maximilian (2018). Verfolgungswahn und Ver‐ erbung. Metaphysische Medizin bei Goethe, Tieck und E.T.A. Hoffmann. Göttingen: Wallstein Verlag, 276-288, 298. Ist Hoffmanns Gesamtwerk - von Ritter Gluck bis hin zu den Serapionsbrü‐ dern  6 - durch die immer wiederkehrende Frage des Magnetismus wortwört‐ lich durchströmt, so enthüllen insbesondere seine Nachtstücke (1816-17) die „Nachtseite des Magnetismus“ auf inhaltlicher sowie auf lexikalischer Ebene. Dabei gilt es, die mit dieser Praxis verbundene Ambivalenz aufzuzeigen und vor allem den möglichen Macht-Missbrauch des Magnetiseurs zu entpuppen. Der Sandmann  7 markiert den Höhepunkt der Auseinandersetzung Hoffmanns mit diesem Aspekt, indem er - im Vergleich z. B. zu Der Magnetiseur oder Die Automate - die Gestalt des Magnetiseurs zunehmend verschleiert, um das Opfer des magnetischen Rapports stärker zu fokussieren. Dies wird innerhalb des Aufbaus des Sandmanns allmählich offensichtlicher durchge‐ führt, indem auch die Erzählweise immer phantastischer - in Todorovs Sinne 8 - wird. Zunächst folgt Hoffmann Moritz’ Erkenntnis (Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, 1783-93) einer Verknüpfung zwischen dem gegen‐ wärtigen Erwachsenenleben und der vergangenen kindlichen Disposition. Diese Verknüpfung bezeichnet er als ‚Band‘, ein Wort, das auch in der magnetischen Literatur eine zentrale Rolle spielt. Am Anfang der Erzählung versucht Nathanael Lothar davon zu überzeugen, dass etwas ‚Entsetzliches‘ (d. h. der Wetterglashändler Coppola) in sein Leben getreten sei, das er mit seinem Kindheitstrauma verbindet. Dabei erinnert er sich daran, wie sich sein Familienleben und seine Eltern zum Negativen veränderten, als Coppelius zu Besuch kam. Zwar gehört Coppelius/ Sandmann in dieser Frühphase noch ins Wunderbare bzw. ins schaurig Märchenhafte, doch ragt seine Macht schon in die kindliche Lebensrealität hinein, sodass eine Art Fixierung Nathanaels auf diese Gestalt resultiert. Einige Jahre später (mit zehn Jahren) bemerkt er dann durch das Schweigen des Vaters und die Traurigkeit der Mutter 9 , 124 Stefania Acciaioli <?page no="125"?> 10 SW3: 14. 11 SW3: 16. 12 Ebd. 13 SW3: 17. 14 Vgl. Hilpert (2014: 174). dass der Sandmann wiederkommt. Durch die Enthüllung des Sandmanns als Coppelius verschmilzt Nathanael diesmal phantastisch das Märchenhafte mit dem Alltäglichen/ Realen. Die Gestalt erscheint immer pünktlich um neun Uhr abends und Nathanael bemerkt: „bald darauf war es mir dann, als verbreite sich im Hause ein feiner seltsam riechender Dampf“ 10 , was durch eine typisch phan‐ tastische modalisierende Schreibweise an Rituale der magnetischen Praxis erinnert. Aus einer irrealen Angst Nathanaels wird ein realer Schrecken, nicht nur aufgrund des Aussehens Coppelius, das dämonische Züge bzw. die cha‐ rakteristischen physiognomischen Merkmale der Magnetiseure Hoffmanns trägt, sondern auch weil das Kind sich durch ihn „fest gezaubert“ 11 fühlt. Sowohl in Hufelands (Über den Magnetismus, 1809) als auch in Kluges Werken wird der Magnetismus als „wunderbare Kraft“ und als „Zauber“ definiert. Genau diese Terminologie greift Hoffmann auf. Im Laufe der Erzählung wird sodann der Einfluss Coppelius’ immer eindeutiger, indem durch die typisch phantastische unzuverlässige Erzählung die weitere Entwicklung der magnetischen Beziehung aus Nathanaels Perspektive mitverfolgt wird. Dieser fühlt sich nicht nur weiterhin „fest gezaubert“ 12 und fällt somit in eine Art typischer kataleptischer Erstarrung, sondern er betont auch, dass die weitere Veränderung seines Zustands mit einer zunehmenden Verschleierung der Außenwahrnehmung einhergeht. Dies gipfelt in der Phantasmagorie der sogenannten nächtlichen ‚Urszene‘: „Mir war es als würden Menschengesichter ringsumher sichtbar, aber ohne Augen - scheußliche, tiefe schwarze Höhlen statt ihrer“ 13 . Diese Szene wird in einer traumartigen-magnetischen Erzähl‐ weise wiedergegeben und folgt der Misshandlung durch Coppelius. In der magnetischen Literatur (etwa Kluge und Reil) ist oft vom Kontrollverlust der motorischen Fähigkeiten des/ der Magnetisierten sowie von anatomischen Ex‐ perimenten (Amputationen oder Zergliederungen) seitens der Magnetiseure die Rede. Unter diesem Aspekt würde man sodann die Versuche des Vaters und Coppelius’ nicht als Unterfangen einer alchemistischen Gewinnung von Gold deuten, sondern, mit Hilpert 14 , als Schaffung eines künstlichen Men‐ schen (Homunkulus) verstehen. Auch die Beschreibung des darauffolgenden Zustands Nathanaels entspricht demjenigen der magnetisierten Patienten: „ein jäher Krampf durchzuckte Nerv und Gebein - ich fühlte nichts mehr. Ein sanfter warmer Hauch glitt über mein Gesicht, ich erwachte wie aus dem To‐ Die Nachtseite der Kunst und der Wissenschaften: E.T.A. Hoffmanns Nachtstücke 125 <?page no="126"?> 15 SW3: 18. 16 SW 3: 22. 17 SW3: 25-26, 32-33. 18 SW3: 36-37, 39, 42. desschlaf“ 15 . Sogar in Claras Bestrebungen, Nathanael eine ‚hellere‘ Sichtweise auf die Ereignisse darzulegen, taucht die Verknüpfung der dunklen Macht mit dem Bild des „Fadens“ 16 auf, was auf das Grundprinzip der psychischen Wirkungsweise des Magnetismus zurückzuführen ist und assoziativ mit dem Bild einer Marionette im Sinne Kleists (Über das Marionettentheater, 1810) verbunden werden kann. Dies veranschaulicht das Abhängigkeitsprinzip des Magnetisierten (Nathanael) vom Magnetiseur (Coppelius) deutlich. Durch den ‚polyphonischen‘ Multiperspektivismus der Briefe und den eingeschobenen Kommentar des Erzählers wird nicht nur diese magnetische Machtbeziehung in einer Assoziation mit elektrischen Phänomenen immer weitergesponnen, sondern auch Todorovs Prinzip der ‚Unschlüssigkeit‘ durch das widersprüch‐ liche Spannungsverhältnis zwischen objektiver Berichterstattung und subjek‐ tiver Wahrnehmung aufrechterhalten: Hast du, Geneigtester! wohl jemals etwas erlebt, das deine Brust, Sinn und Gedanken ganz und gar erfüllte, Alles Andere daraus verdrängend? […] wie ein elektrischer Schlag […] er stöhnte in tiefer Ermattung […] Dem Nathanael war es zu Mute, als sei eine schwere Last, die ihn zu Boden gedrückt, von ihm abgewälzt. 17 Das Experiment mit Nathanael wird am Studienort fortgeführt. Nicht zufällig muss er infolge einer Brandstiftung in ein Zimmer gegenüber von Professor Spallanzani umziehen, wo er direkten Blick auf Olimpia und somit auf die zentrale Apparatur der Versuchsanordnung hat. Dabei fühlt sich Nathanael am Anfang noch nicht von Olimpia angezogen, sondern erst nach einer weiteren magnetischen Manipulation durch Coppelius/ Coppola: unwillkürlich sah’ er hinaus in Spallanzanis Zimmer […] wie von unwiderstehlicher Gewalt getrieben, sprang er auf, ergriff Coppola’s Perspektiv und konnte nicht los von Olimpia’s verführerischem Anblick […] er selbst wußte nicht wie es geschah […] Alle waren aus seinem Gedächtnis entschwunden, er lebte nur für Olimpia […]. 18 Seine Fremdsteuerung wird durch das Perspektiv noch gesteigert, d. h. durch ein optisches Instrument, das zum damaligen Zeitpunkt noch keine wirkliche Seh‐ hilfe darstellte und das als Augenfilter zur Beeinflussung der ‚automatenhaften‘ Somnambulen von Magnetiseuren oft verwendet wurde, wie den Werken von Mesmer, Kluge und Bartels zu entnehmen ist. Die letzten Stationen der Suggestion Nathanaels versetzen ihn zunächst in einen Liebeswahn bzw. eine 126 Stefania Acciaioli <?page no="127"?> 19 SW3: 48. 20 Diese magnetisch-phantastische Lektüre vereint die beiden bisherigen Forschungs‐ tendenzen, welche die ‚dunkle‘ Macht jeweils psychologisch deuten bzw. ‚dämo‐ nologisch‘ als „höheres Prinzip“ interpretieren. Vgl. Hilpert (2014, 157-159). Im Unterschied dazu führt Bergengruen (2018: 269) den magnetischen Rapport nur auf Coppola zurück, der Nathanael in den Liebeswahnsinn treibt, indem er die Assoziation mit Coppelius und somit „eine bereits bestehende [vererbte] psychische Disposition zur Geisteskrankheit aus Kindheitstagen aufruft und so überhaupt erst, in Form des Verfolgungswahns, zum Ausbruch bringt“. „fixe Idee“ (Reil), die ihn schrittweise zur Entfremdung von sich selbst führt und zum Maschinenmenschen macht. Schließlich erlebt er zwei Wahnsinnsanfälle. Geschieht der erste als Unfall, als Resultat des Streits zwischen Spallanzani und Coppola um Olimpia, so ist der zweite wieder durch Coppelius’ Fremdsteuerung verursacht. Durch Claras Blick gelenkt schaut Nathanael von der Spitze des Turms aus nicht in die ferne Landschaft, sondern auf „den grauen Busch“ am Boden. Auf diese Weise kommt er mit Coppelius in Kontakt, sodass er wieder „mechanisch“ 19 auf dessen Manipulation (re)agiert: Er nimmt das Perspektiv heraus, wodurch er zunächst wiederum in den Wahnsinn und schließlich in den Tod getrieben wird, was aus der Handschriftenversion der Erzählung noch eindeutiger hervorgeht. Ist Der Sandmann das Werk, mit dem sich die Hoffmann-Forschung bislang am intensivsten 20 auseinandergesetzt hat, so fand Das öde Haus erstaunlich wenig Beachtung, zumal seine nur zu auffälligen inhaltlichen Parallelen zum Meisterwerk eher auf eine konzeptuelle Einheit im Sinne des Hell-Dunkels anspielen, als dass sie die bisherige Abwertung als bloße ‚Dublette‘ des Sandmanns verdienen. Der zentrale gemeinsame Schnittpunkt zwischen den sonst getrennt diskutierten Themenbereichen Magnetismus und Wahnsinn, nämlich die Unfreiheit des Willens, wird von den wissenschaftlichen Ausfüh‐ rungen zu beiden Bereichen (etwa Reils und Kluges) unterstützt, indem die Willensunfreiheit als Resultat einer jeweiligen Potenzierung der vegetativen Sphäre des Nervenbzw. Gangliensystems erklärt wird, das sich der direkten Steuerung durch das Bewusstsein entzieht. Eben diese direkte Verbindung von Magnetismus und Wahnsinn in der Manipulation des freien Willens inszeniert Das öde Haus, das - zumindest literarisch - auch den Weg für eine therapeutische Nutzung des Magnetismus ebnet, die weder bei Reil noch in seiner Folge diskutiert wurde. Am Erzählungsanfang wird Theodor als ‚Geisterseher‘ charakterisiert, während das Wunderliche - greift man die Begriffe von Schubert und Kluge auf - als der fixe Wahnsinn und Die Nachtseite der Kunst und der Wissenschaften: E.T.A. Hoffmanns Nachtstücke 127 <?page no="128"?> 21 Vgl. Hilpert (2014: 215). 22 SW3: 166-167. 23 SW3: 169. 24 Ebd. das Wunderbare als der Magnetismus zu interpretieren seien, so Hilpert 21 . Theodors retrospektive Darstellung der Ereignisse, welche die Konfrontation mit den damaligen Wissenschaftsdiskursen mit einbezieht, zielt darauf ab aufzuzeigen, dass Wunderliches und Wunderbares nicht nur miteinander ver‐ knüpft sind, sondern dass der fixe Wahnsinn letztlich aus dem Magnetismus hervorgeht. Wie bereits Nathanael im Sandmann erzählt Theodor hier auch eine Vorgeschichte über ein in der Kindheit erlittenes Trauma, sodass der magnetische Einfluss aus dem öden Haus zum reaktivierenden Katalysator für Theodors bereits vorhandene psychische Prädisposition zum dauerhaften Wahnsinn wird. Die typisch magnetischen Begriffe sowie die phantastische Unschlüssigkeit treten wiederum deutlich hervor: Schon oft war ich die Allee durchwandelt, als mir eines Tages plötzlich ein Haus ins Auge fiel, das auf ganz wunderliche seltsame Weise von allen übrigen abstach […] und doch weiß ich selbst nicht wie es kam, daß bei dem öden Hause vorüberschreitend ich jedesmal wie festgebannt stehen bleiben und mich in ganz verwunderliche Gedanken nicht sowohl vertiefen, als verstricken mußte. 22 Im ersten Stadium des Krankheitsverlaufs ist Theodor nicht nur magnetisch „festgebannt“ und fällt in den kataleptischen Zustand der Erstarrung sowie einer unerklärlichen Gedankentätigkeit, sondern zeigt schon die ersten An‐ zeichen einer aufkeimenden fixen Idee. Trotz der nüchternen Erklärung des Grafen P. „fesselt ihn die Idee durch sein Interesse“, wie Reil diese Krankheit definierte. Im zweiten Stadium steigern sich beide Faktoren der Krankheit. Er glaubt - was mit der typisch phantastischen Technik der Modalisierung erzählt wird -, an einem Fenster des Hauses einen Frauenarm mit einer seltsamen Kristallflasche in der Hand zu sehen. Erneut handelt es sich um einen durch ein optisches Instrument gesteuerten Blick, der die fragliche Anziehungskraft verleiht und zur Erotomanie führt, was an die Nathanael- Olimpia Konstellation erinnert. Gleichzeitig weist Theodor auch einen gestei‐ gerten magnetischen Zustand auf: „erstarrt blieb ich stehen, ein sonderbar bänglich wonniges Gefühl durchströmte mit elektrischer Wärme mein Inneres“ 23 . Die Verwandtschaft der magnetischen Kraft mit der Elektrizität ist nicht nur im entsprechenden Wissenschaftsdiskurs (Kluge, Schubert, Bartels) zu finden, sondern auch in den damaligen Patientenberichten. Ebenso dokumentiert ist außerdem der „Seufzer“ 24 als Zeichen des Eintretens in die nächsthöhere 128 Stefania Acciaioli <?page no="129"?> 25 SW3: 177. 26 SW3: 180. 27 SW3: 180-183. magnetische Phase und zwar in einen schlafähnlichen Zustand. Im dritten Stadium wird der Schlaf - als potenzierter Seelenzustand nach Schubert - als Einfalltor für die magnetische Beeinflussung benutzt, wodurch nun die anfangs noch undefinierte fixe Idee die klare Vision eines im Haus gefangen gehaltenen schönen Mädchens erreicht. Im letzten Stadium überträgt sich die Vorstellung des schönen Antlitzes aus seinem nächtlichen Traum auf den Wachzustand: Er sieht die weibliche Gestalt erneut durch ein optisches Instru‐ ment, diesmal einen Spiegel, als Filter seiner autoprojektiven Wahrnehmung, welcher im Unterschied zum Sandmann nicht als magnetisches Substitut, sondern als Verstärkungsmittel dient: Mir war es, als lähme eine Art Starrsucht nicht sowohl mein ganzes Regen und Bewegen als vielmehr nur meinen Blick, den ich nun niemals mehr würde abwenden können von dem Spiegel. Mit Beschämung muß ich euch bekennen, daß mir jenes Ammenmärchen einfiel. 25 Somit erreicht er eine Art ‚Starrsucht‘ bzw. einen schlafwachen Zustand. Die beiden Aspekte seiner Krankheit greifen während deren sich steigernden Ver‐ laufes immer stärker ineinander, bis sie in einen ‚magnetisch-fixen Wahnsinn‘ verschmelzen. Wie besessen versucht Theodor nun „unaufhörlich“ 26 das Bild des Mädchens zu erzeugen. Seine fürchterlichen Anfälle erscheinen auch hier zu einer festen Uhrzeit (zwölf Uhr mittags und nachts), wie es in der Wissenschaft belegt ist und auch im Sandmann der Fall war: wie ein elektrischer Blitz […] oft […] ergriff mich ein körperliches Übelbefinden […] Ein empfindlicher Brustschmerz, und dann gänzliche Apathie endigte den peinlichen Zustand, der immer eine, das innerste Mark wegzehrende Erschöpfung hinterließ. […] Selbst in munterer Gesellschaft […] war es oft, als durchführen plötzlich mein Inneres spitzige glühende Dolche, und alle Macht des Geistes reichte dann nicht hin zum Widerstande, ich mußte mich entfernen und durfte erst wiederkehren, wenn ich aus dem Ohnmachtähnlichen Zustande erwacht . 27 Im Unterschied zum letzteren Werk steht hier jedoch Theodors Heilung im Mittelpunkt: Diese erfolgt in zwei Schritten und stellt die ‚helle‘ Kehrseite des Magnetismus dar. Zunächst liest er zufällig Reils Werk und wird sich dadurch seines Zustands bewusst, sodass er Dr. K. (Koreff) aufsucht. Dieser versucht ihn zu stärken und somit seine fixe Idee nach Reils Methode zu „vertilgen“, allerdings gelingt ihm die Heilung nicht, weil der magnetische Teil der Krankheit bestehen Die Nachtseite der Kunst und der Wissenschaften: E.T.A. Hoffmanns Nachtstücke 129 <?page no="130"?> 28 „[…] ich weiß selbst nicht, wie es geschah, daß ich mich plötzlich in einem mit vielen Kerzen hell erleuchteten Saale befand […] Starkduftendes Räucherwerk wallte in blauen Nebelwolken auf mich zu. […] Von tiefem Entsetzen durchbebt wankte ich zurück; wie durch den glühenden, durchbohrenden Blick der Klapperschlange fest gezaubert konnte ich mein Auge nicht abwenden von dem gräulichen alten Weibe, konnte ich keinen Schritt weiter mich bewegen“ (SW3: 188-189). bleibt. Erst nach der therapeutischen Erzählung einer Binnengeschichte im geselligen Kreis, die als mise-en-abyme Theodors Situation widerspiegelt, sowie nach der direkten Konfrontation mit Angelika 28 im Inneren des öden Hauses und dem Eingreifen des Hausverwalters kann die gleichzeitige, endgültige Heilung der beiden Symptome erfolgen. Durch die Reduktion auf die Innensicht des magnetischen Individuums und die interne Fokalisierung als Teil der zentralen phantastischen modalisierenden Erzählstrategie gelingt es Hoffmann nicht nur, eine Lücke in der Theoriebildung des fixen Wahnsinns und des Magnetismus, die vorwiegend aus Außensicht getrennt klassifiziert wurden, in narratives Potential umzuwandeln. Vielmehr zeigt er durch diese Vorgehensweise das menschliche Ausgeliefertsein an das ‚Nächtliche‘ sowie die Nachtseite der Psyche und verleiht somit der Dreidi‐ mensionalität des literarischen Nachstücks eine weitere, tiefere Ebene: die ‚malerisch-wissenschaftliche‘ Darstellung der vor-Freudschen romantischen Entdeckung des Unbewussten. 130 Stefania Acciaioli <?page no="131"?> Abb. 2: Correggio, Die Heilige Nacht (1528-30). Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Elke Estel/ Hans-Peter Klut. Die Nachtseite der Kunst und der Wissenschaften: E.T.A. Hoffmanns Nachtstücke 131 <?page no="132"?> Abb. 3: Salvator Rosa, Bandits on a Rocky Coast (1655-60). The Metropolitan Museum of Art New York. Literatur Acciaioli, Stefania (2019). L’èkphrasis romantica e il suo doppio: E.T.A. Hoffmann e la Scapigliatura. Rivista di Letterature Moderne e Comparate LXXII: 1, 19-36. Acciaioli, Stefania (2012). Il fantastico perturbante in Hoffmann e Beckford. 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Neben einer Analyse über die Herkunft und Bedeutung des Begriffs des Unheimlichen, präsentiert er in seiner Schrift nicht nur eine psychoanalytische Interpretationsmöglichkeit, indem er auf Kon‐ strukte, die mit der Angst gekoppelt sind, verweist, sondern er versucht das Unheimliche zu charakterisieren und stellt eine Beziehung zwischen Traum, Mythen und dem Phantastischen her. Der Beitrag beschäftigt sich daher mit der Anwendbarkeit der Definition des Phantastischen in literaturtheoretischer Hinsicht auf Hoffmanns Novelle einerseits und andererseits mit der Vermischung von Phantastik und Psychoanalyse. Schlüsselwörter: Phantasmen, Mythen, Traum, Unheimliches, Angst Abstract: In 1919, Freud wrote the essay The Uncanny, in which he refers to the novel The Sandman by E.T.A. Hoffmann. In addition to an analysis of the origin and meaning of the concept of the uncanny, he not only presents a psychoanalytical interpretation by referring to constructs linked to fear, but also attempts to characterise the uncanny and establishes a relationship between dreams, myths and the fantastic. The article therefore deals with the applicability of the definition of the fantastic in literary-theoretical terms to Hoffmann’s novella on the one hand, and on the other hand with the blending of the fantastic and psychoanalysis. Keywords: phantasms, myths, dream, uncanny, fear <?page no="138"?> 1 Lachmann, Renate (2002). Erzählte Phantastik. Frankfurt am Main: Fischer/ Thomson. Phantastik und Phantasie in Literatur und Psychoanalyse „Die Phantastik erzählt die Begegnung der Kultur mit ihrem Vergessen“ 1 , stellte Renate Lachmann (2002: 11) in ihrer Abhandlung zur Phantastik fest. Dies setzt voraus, dass sie immer an eine Wirklichkeit gekoppelt ist, die wiederum ein Referent einer Kultur ist. Die Phantastik rekurriert also immer auf einen kulturellen Kontext und schenkt man dieser Eigenschaft der Phantastik und somit dem Phantasma Aufmerksamkeit, so macht die Phantastik anthro‐ pologische Aussagen, das heißt, indem ein Individuum phantastische Züge annimmt, erweitert es bis dahin bekanntes anthropologisches Wissen. Diese Erweiterung können sich in einem phantastischen Text als Traum/ Träume, Wahnsinnszustände, Halluzinationen und Ähnlichem manifestieren, die eine Figur erlebt, die mit dem Phantasma in Kontakt getreten ist. Für die Figur allerdings bedeutet dies, dass sie sich immer in exzentrischen Gemütszuständen befindet, sie diese ertragen und wenn möglich überwinden muss. Anthropolo‐ gisches Wissen ist demnach an kulturelles gekoppelt und letzteres beinhaltet zwei Aspekte: Jede Kultur besitzt einen Bereich des Verdrängten, Vergessenen, Tabuisierten, sprich des Fremden, was nach der herrschenden kulturellen Norm auszugrenzen gilt. Eine Kultur lebt somit von der Opposition Fremd-Eigen, um eine kulturelle Ordnung herzustellen. Indem ein phantastischer Text das Fremde oder Nicht-Eigene einer Kultur thematisiert, holt er Kulturgut zurück, die den Ausgrenzungen zum Opfer gefallen sind und provoziert gleichermaßen Unordnung. Unordnung in dem Sinne, dass das Reale und damit ist die Präsenz einer funktionierenden Kultur gemeint, in Frage gestellt wird. Das Irreale, das ein phantastischer Text besitzt, reibt sich an den Kategorien des Realen. Der andere Aspekt charakterisiert die Basis eines phantastischen Textes, der sich aus der zur Entstehungszeit geltenden Kultur definiert. Indem die Figur eines phantastischen Textes mit dem Irrealen und somit mit den ausgegrenzten Themen einer Kultur in Kontakt kommt, wird das Reale als Kategorie auf die Probe gestellt; oft wird sie mit Geheimwissen oder esoterischem Wissen konfrontiert, in denen kabbalistische, gnostische und hermetische Elemente auftreten. Sie begegnet demnach nicht christlichen Ritualen oder wird selbst in die ihr fremden eingeweiht. Aber die Phantastik, und damit sie als solche auch erkennbar wird, kann nur im Bezug zum Realen ausgemacht werden, denn das Unmögliche, Irreale und Gegenrationale ist kontrapunktisch zum Möglichen, Realen und Rationalen. Denn 138 Ricarda Hirte <?page no="139"?> 2 Lachmann (2002: 81). 3 Laplanche, J./ Pontalis, J.-B. (1980). Das Vokabular der Psychoanalyse. 2 Bände. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.-388. 4 Freud (1999). Gesammelte Werke. 18 Bände. Frankfurt am Main: Fischer. Bd.-II/ III. […] das Phantasma geht aus dem ins Eigene und Bekannte einbrechenden Fremden hervor. Die Phantastik zelebriert das Andere der Kultur, indem sie Gegenwelten oder alternative Welten entwirft, in denen das übernatürliche, Wunderbare und Ungeheu‐ erliche, […] das, was die Rhetorik nicht zum Ausdruck gelangen ließ, aufgehoben ist 2 . Manifestiert sich das Phantastische in Traumzuständen oder in sonstigen ichentrückten Seinszuständen, nähert es sich an den in der Psychoanalyse verwendeten Begriff der Phantasie an. Die Phantasie ist hier […] ein imaginäres Szenarium, in dem das Subjekt anwesend ist und das in einer durch die Abwehrvorgänge mehr oder weniger entstellten Form die Erfüllung eines Wunsches, eines letztlich unbewussten Wunsches darstellt 3 . Die Phantasie ist also mit einem unerfüllten Wunsch verknüpft und kann sich in verschiedenen Erscheinungsformen zeigen, so dass man ihre Erschei‐ nungsformen in bewusste und unbewusste Phantasie eingeteilt hat: Bewusste Phantasien manifestieren sich in Tagträumen als eine Art von Wunschphan‐ tasie der aktiven psychischen Arbeit. Die unbewussten hingegen, haben einen manifesten Inhalt und rekurrieren auf die sogenannten Urphantasien, diese sind ausgegrenzte, anthropologisch fundamentierte Szenarien, die nach Freud die Existenz unbewusster Schemata postulieren, die wiederum das individuelle Erleben transzendieren und vererbbar sind. Die Urphantasie ist somit eine typische Phantasiestruktur, die das Phantasieleben gestaltet, in ihr findet sich das intrauterine Leben, Urszenen, Kastration und Verführung. Nach Freud erklärt sich die Universalität dieser Phantasien durch die Tatsache, dass sie ein phylogenetisch übermitteltes Erbteil darstellen. In der Psychoanalyse erhält die topische Stellung der psychischen Kraft be‐ sonderes Gewicht, da sie auf die verschiedenen Orte innerhalb des psychischen Apparats verweist. So ist auf der einen Seite die Verortung der Phantasiebildung in bewusst, vorbewusst und unbewusst von Bedeutung, bleibt aber auf der anderen Seite zu bestimmt, was die reine Begrifflichkeit anbelangt. Freuds Phantasiebegriff 4 sollte demnach auf verschiedenen Ebenen gelesen werden: Erstens bezieht sich die Phantasie auf Tagträume, Szenen, Episoden, Romane, Fiktionen, die das Subjekt im Wachzustand ersinnt; zweitens fehlt dem von Freud verwendeten Ausdruck unbewusste Phantasie eine metapsychologische Definition und bezieht sich in seiner Verwendung auf einen unterschwelligen, E.T.A. Hoffmann, Sigmund Freud und die Phantastik 139 <?page no="140"?> 5 Freud (1999, Bd.-VII: 193). 6 Freud (1999, Bd.-II/ III: 604). vorbewussten Tagtraum, dem sich das Subjekt hingibt und von dem es mehr oder weniger Kenntnis nimmt. Die unbewusste Phantasie ist bei Freud häufig in Zusammenhang mit der Hysterie gesetzt, ist quasi ein Vorläufer der hysteri‐ schen Symptome, und steht in Verbindung zu den Tagträumen; und drittens erscheint in Freuds Abhandlung Die Traumdeutung die Phantasie in einer Be‐ ziehung mit dem Unbewussten eingebettet. Sie wird mit dem Wunsch verknüpft, so dass sie am Ausgangspunkt des metapsychologischen Vorgangs der Traum‐ bildung steht und sich auf der unbewussten Ebene vollzieht. Nach Freud lassen sich demnach die nachstehenden Ebenen der Phantasie ausmachen: bewusst, unterschwellig, unbewusst. Anscheinend ging es ihm aber eher darum, die Verbindung zwischen diesen verschiedenen Aspekten hervorzuheben. Daher hat Freud folgendermaßen die Phantasie zusammengefasst: Die unbewussten Phantasien sind entweder von jeher unbewusst gewesen, im Unbe‐ wussten gebildet worden oder, was der häufigere Fall ist, sie waren einmal bewusste Phantasien, Tagträume, und sind dann mit Absicht vergessen worden, durch die „Verdrängung“ ins Unbewusste geraten. Ihr Inhalt ist dann entweder der nämliche geblieben oder er hat Abänderungen erfahren, so dass die jetzt unbewusste Phantasie einen Abkömmling der einst bewussten darstellt 5 . Laplanche verweist darauf, dass die Freud’sche Problematik der Phantasie nicht nur zu keiner Unterscheidung zwischen unbewusster und bewusster Phantasie führt, sondern vielmehr gerade darauf abzielt, die Analogie, die engen Beziehungen, die Übergänge zwischen ihnen zu kennzeichnen. Freud setzt die Phantasie in eine enge Beziehung mit dem Wunsch und so findet sich in seinen Texten immer wieder der Begriff der Wunschphantasie. Der Wunsch wiederrum rekurriert im Ursprung auf das Vorbild, das sich im Befriedigungserlebnis artikuliert. „Das erste Wünschen dürfte ein halluzinatorisches Besetzen der Befriedigungserinnerung gewesen sein“ 6 führt Freud an und impliziert, dass die ersten Phantasien auf ein Objekt bezogen sind. Allerdings ist die Beziehung zwischen Wunsch und Phantasie durchaus komplexer und nicht einfach auf den Wünschenden und das Objekt zu reduzieren. Vielmehr handelt es sich um Szenarien, die organisiert sind und meist visuell und dramatisch dargestellt werden. Das Subjekt ist in diesen Szenarien immer präsent. Zudem wird eine Szene inszeniert und kein vom Subjekt erstrebtes Objekt vorgestellt, so dass das Subjekt Teil der Szene ist und die Fähigkeit besitzt, Rollen und Funktionen innerhalb der Szene zu wechseln und zu übernehmen. Zudem kommt, dass der 140 Ricarda Hirte <?page no="141"?> 7 Freud (1999, Bd.-XII: 229-268). 8 Jentsch, Ernst (1906). Zur Psychologie des Unheimlichen, Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 1906, Nr.-22 und 23. Grad der Kompromittierung von Phantasie und Wunsch auf den Ort der Ab‐ wehrreaktionen verweist. Das bedeutet, dass die Abwehrreaktionen sich gegen die eigene Person wenden können, oder sich ins Gegenteil, der Verneinung oder der Projektion verkehren können. Somit sind die Abwehrvorgänge unauflöslich mit der Phantasie verbunden, dessen Hauptfunktion ja die Wunschinszenierung ist. Zu bedenken ist dabei, dass in der Inszenierung das Verbot in der Position des Wunsches immer gegenwärtig ist und ein Verbot wiederum angstbesessen oder aber zumindest angstauslösend ist. An dieser Stelle beginnt sich der Kreis zu schließen, denn Freud verweist in seiner Schrift über Das Unheimliche  7 nicht nur auf Konstrukte hin, die mit der Angst gekoppelt sind und eine psychoana‐ lytische Interpretationsmöglichkeit anbieten, sondern vielmehr versucht er das Unheimliche zu charakterisieren und stellt eine Beziehung zwischen Traum, Mythen und dem Phantastischen her. Freud gibt zwar keine Definition des Phantastischen, wohl aber eine Annäherung des Begriffs in psychoanalytischer Hinsicht, die wiederum auf archetypische Phänomene verweisen und somit mit der Phantastik eng verknüpft sind. Verortet Lachmann die Phantastik in das Ausgegrenzte einer Kultur, siedelt Freud die Phantasie hingegen ins Unbewusste an. Beide Analytiker suchen für das Gebilde Phantastik-Phantasie einen Platz außerhalb einer Realität oder Wirklichkeit (Freud) zu finden, der der Ort des Unberücksichtigten, Vergessenen und der Phantasmen (nährt sowohl die Phantastik wie die Phantasie) ist. Das Gebilde bahnt sich jedoch einen Weg an die Oberfläche, wo es sich artikuliert. Insofern ist Literatur und Psychoanalyse, was den Ursprung oder Mechanismus der Phantastik oder des Phantasiebegriffs betrifft, nicht so weit voneinander entfernt. Das Unheimliche - eine Abhandlung von Sigmund Freud Freud schrieb die Abhandlung Das Unheimliche 1919 und nimmt direkten Bezug auf die Novelle Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann, so dass eine kurze Betrach‐ tung seiner Abhandlung hier durchaus gerechtfertigt ist. Freud unterteilt seine Schrift in drei Teile: Der erste nimmt Bezug auf das Wort das Unheimliche in etymologischer und in psychologischer Hinsicht. Dabei fällt auf, dass sich Freud auf einen Artikel von Jentsch bezieht, der 1906 in der psychiatrischneurologischen Wochenschrift seine Ergebnisse unter dem Titel Zur Psychologie des Unheimlichen  8 veröffentlichte. Darin heißt es, dass E.T.A. Hoffmann, Sigmund Freud und die Phantastik 141 <?page no="142"?> 9 Freud (1999, Bd.-XII: 230). 10 Freud (1999, Bd.-XII: 231). 11 Freud (1999, Bd.-XII: 231). 12 Vgl. Freud (1999, Bd.-XII: 236). […] die Schwierigkeit beim Studium des Unheimlichen [darin besteht], dass die Emp‐ findlichkeit für diese Gefühlsqualität bei verschiedenen Menschen so sehr verschieden angetroffen wird 9 . Das Unheimliche wird demnach als eine Gefühlsqualität verstanden und in den Bereich des Ästhetischen verortet. Freud jedoch verbindet das Unheimliche mit der Angsterregung, da es das Peinliche, Gegensätzliche und Abstoßende auslöst und das Nicht-Vertraute darstellt. Er kommt zu dem Schluss, dass beide Unter‐ suchungsmethoden des Begriffs, der etymologische wie der psychoanalytische zu demselben Ergebnis führen: „Das Unheimliche sei jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht“ 10 . Allerdings kann sich das Unheimliche nur in einem Gegensatz zeigen, denn ohne das Bekannte, Heimliche, also das Vertraute, kann es sich nicht erklären. Es kommt noch eine andere Kondition hinzu, denn etwas nicht Bekanntes ist nicht automatisch der Auslöser des Unheimlichen, sondern zum Neuen und Nichtvertrauten muss ein Etwas hinzukommen, damit es zum Unheimlichen wird. Aus Freuds anfängli‐ cher Gleichung „unheimlich = nicht vertraut“ 11 wird unheimlich = nicht vertraut + X. Das X ist bei genauerer Betrachtung der Platzhalter für das Versteckte und das im Verborgen gehaltene, das das Heimliche in das Unheimliche wandelt. Dieses Verborgene wiederum kann kulturell konnotiert sein oder aber auf personelle Konstellationen verweisen, die sich zum Beispiel in Psychosen oder anderen psychologischen Manifestationen zeigen. Das Unheimliche ist somit die Manifestation des Verborgenen. Schellings Bemerkung 12 fasst das Unheimliche dementsprechend zusammen, dass es all das ist, was ein Geheimnis bleiben sollte, im Verborgenen ruhen sollte und hervorgetreten ist. Freuds Analyse des Unheimlichen, dem er den ersten Teil seiner Abhandlung widmet, ist von dem Phantastik-Begriff Lachmanns nicht so weit entfernt. Erzählt die Phantastik das Ausgegrenzte einer Kultur, das Tabuisierte, das angstauslösende Etwas, verkörpert all dies für Freud das Unheimliche. So hat das Unheimliche anscheinend in der Literatur in Form der Phantastik ihren Einzug gehalten. An diesem Punkt treffen sich Literatur und Psychoanalyse, das Anthropologische mit der individuellen Psychologie jedes Einzelnen, das wiederum von der Kultur geprägt und sozialisiert worden ist. Phantastik und das Unheimliche mischen sich hier und es ist schwer beide voneinander zu trennen, da sie sich gegenseitig bedingen und auf verschiedenen Ebenen agieren. 142 Ricarda Hirte <?page no="143"?> 13 Hoffmann, E.T.A. (1984). Nachtstücke. München: DTV. Abrufbar unter: E.T.A. Hoff‐ mann: Der Sandmann (projekt-gutenberg.org) (Stand: 25.01.2023). Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert. 14 Hoffmann (1984: 1). 15 Hoffmann (1984: 1). Denn der am Anfang der Überlegungen erwähnte verborgene Wunsch, der die Phantasie im psychologischen Sinn auslöst, ist wiederum angstbesetzt, kulturell durch die Auflage von Tabus geprägt und vom Individuum verinnerlicht. Der Sandmann von E.T.A Hoffmann: Literatur und Psychoanalyse Der zweite Teil von Freuds Abhandlung widmet sich der Novelle Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann. Auf den ersten Blick scheint das Motiv der Erzählung die Belebung der Puppe Olimpia zu sein, doch es ist nicht der Automat oder die Puppe als solche, die das Unheimliche auslöst, sondern es ist das zweite Motiv, das des Sandmanns: Der Sandmann, der den Kindern die Augen ausreißt. Nathanael, das Kind aus Hoffmanns Erzählung, bekommt als kleiner Junge die Geschichte vom Sandmann von seiner Kinderfrau erzählt, da seine Mutter die Figur benutzt, um die Kinder früh ins Bett zu schicken, wenn der Advokat Coppelius gelegentlich am Abend das Haus betritt, um im Verborgenen den Vater aufzusuchen. Der Sandmann wird in direkten Bezug mit dem nicht schlafen wollen gesetzt, so liest sich bei Hoffmann 13 die Geschichte, die die Kinderfrau erzählt: Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen, und wirft ihnen Hände voll Sand in die Augen, dass sie blutig vom Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf 14 . Nathanaels Mutter benutzt diese Figur des Sandmanns, um die Kinder von dem nächtlichen Besucher fernzuhalten. Nathanael verbindet dementsprechend die schweren Schritte auf der Treppe des Unbekannten mit dem Bild des Sandmanns, das ein Geschöpf des Grauens ist und Angst in dem Kind auslöst. Die scheinbar selbst erlebte phantastische Geschichte des Sandmanns weckt das Interesse Nathanaels, nicht nur das Gesicht des fremden Besuchers zu sehen als er älter wird, sondern vor allem wird er „auf die Bahn des Wunder‐ baren, Abenteuerlichen gebracht, das so schon leicht im kindlichen Gemüt sich einnistet“ 15 . Im Alter von ungefähr zehn Jahren versteckt sich Nathanael im Arbeitszimmer seines Vaters, um die Identität des Sandmanns, des fremden E.T.A. Hoffmann, Sigmund Freud und die Phantastik 143 <?page no="144"?> 16 Hoffmann (1984: 1). 17 Hoffmann (1984: 1). 18 Hoffmann (1984: 1). 19 Freud (1999, Bd.-XII: 239). Besuchers, zu ergründen: Nathanael erkennt in dem Sandmann den Advokaten Coppelius, der manchmal mit am Mittagstisch sitzt und vor dem er und seine Geschwister Angst haben. Nathanael knüpft eine Verbindung zwischen eben diesem Coppelius und dem Sandmann. Als dieser bei diesem Besuch „Augen her, Augen her“ 16 ruft, schreit Nathaniel auf, da er um seine eigenen besorgt ist, womit sein Versteck auffliegt. Nathanael behält seine Augen, fällt aber in ein Delirium. Dieser Zustand lässt sich auf zwei Ebenen lesen: auf der einen Seite unter den Aspekten der phantastischen Literatur und auf der anderen Seite unter psychoanalytischen. Auf beiden Ebenen stellt dieses Ereignis eine Zäsur dar, in literarischer Hinsicht tritt Nathanael in direkten Bezug mit phantastischen Ereignissen, denn es ist nicht real, dass er während des Deliriums miterleben kann, wie ihm Hände und Füße an anderen Körperstellen angeheftet werden, um sie dann wieder an die alte Stelle zu setzen. „Und damit faßte er mich gewaltig, daß die Gelenke knackten, und schrob mir die Hände ab und die Füße und setzt sie bald hier, bald dort wieder ein“ 17 . Dies ist nicht realistisch, wohl aber erfahrbar, wenn er in die Welt des Phantastischen eintritt. Daher muss er auch in ein Delirium fallen, das er wie folgt beschreibt „[…] ich fühlte nichts mehr. Ein sanfter warmer Hauch glitt über mein Gesicht, ich erwachte wie aus dem Todesschlaf, die Mutter hatte sich über mich hingebeugt“ 18 und kommt zu dem Schluss, dass dieses Erlebnis von Angst und Schrecken geprägt, in ihm ein Fieber auslöste, das ihn wochenlang erkranken ließ. Liest man allerdings dieses Ereignis auf psychoanalytischer Ebene, lassen sich die ersten Anzeichen von Wahnsinnszuständen finden. So stellt Freud fest, dass […] für den weiteren Fortgang dieser Szene es der Dichter bereits zweifelhaft [macht], ob wir es mit einem ersten Delirium des angstbesessenen Knaben oder mit dem Bericht zu tun haben, der als real in der Darstellungswelt der Erzählung aufzufassen ist 19 . Beide Lesarten, die literarisch-phantastische und die psychoanalytische, brau‐ chen aber für die Manifestierung Symbole, die eine Bestätigung einer Pathologie, erkennen lassen: Beim ersten Ereignis ist es die Ohnmacht, beim zweiten ist es, als ob Nathanael, nun erwachsen, eine lange und schwere Krankheit überstanden hätte. Auslöser ist diesmal der Optiker Giuseppe Coppola, der Wettergläser verkauft und auch die Augen für Spalanzanis Holzpuppe Olimpia herstellt. Als Nathanael auf dem Markt den Optiker rufen hört, dass er neben den Wettergläsern auch schöne Augen zum Verkauf anbiete, wird die Schreckens‐ 144 Ricarda Hirte <?page no="145"?> 20 Hoffmann (1984: 1). 21 Hoffmann (1984: 1). 22 Hoffmann (1984: 4). gestalt seiner Kindertage wieder wach und die zweite Krise bahnt sich ihren Weg. Obwohl der Optiker bei Nathanael Entsetzen auslöst, kauft er ihm ein Taschenperspektiv ab, um die Puppe Olimpia zu beobachten, in die er sich zutiefst verliebt, so dass er über sie seine Braut vergisst. Auffallend ist in der zweiten Krise, dass Nathanael bewusst eine Verbindung zwischen dem Tod des Vaters und Coppelius, der sich jetzt Coppola nennt, und dem Sandmann zieht, denn er schreibt an Lothar: „[…] daß jener Wetterglashändler eben der verruchte Coppelius war“ 20 und er festentschlossen sei „es mit ihm aufzunehmen und des Vaters Tod zu rächen“ 21 . Die Verbindung zwischen den Augen und dem Taschenperspektiv bleiben für ihn allerdings unsichtbar. Das Taschenperspektiv wird zum Werkzeug, mit dem Coppola alias Coppelius seinen Plan zu Ende führen kann: Der Tod Nathanaels als Konsequenz einer Wahnsinnskrise. Betrachtet man nun das Werkzeug eingehender, fällt auf, dass es von seinem Erschaffer manipulierbar ist, man könnte fast sagen verzaubert ist. Auf der einen Seite ist es ein Hilfsmittel, damit Nathanael Olimpia besser beobachten kann, aber auf der anderen Seite kann Coppelius ihn steuern. Nathanael erhält Einblick in andere Dimensionen, die nur für ihn bestimmt sind und mit jedem Gebrauch des Perspektivs, zieht sich Nathanael von der Realität weiter zurück und schafft sich eine imaginäre Beziehung, indem er die Puppe zum Leben erweckt. Beim ersten Mal, als er durch das Glas sah […] erschaute Nathanael erst Olimpias wunderschön geformtes Gesicht. Nur die Augen schienen ihm gar seltsam starr und tot. Doch wie er immer schärfer und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen im Olimpias Augen feuchte Mondesstrahlen auf “ 22 . Weiter heißt es, dass Natanael erst mithilfe dieses Glases zu einer ganz beson‐ deren Sehkraft gelangt, die ihn aus der Realität fortträgt. Zwar gesteht er ein, dass er das Glas viel zu teuer bezahlt hat, aber unbewusst verbindet er das Lachen Coppelius mit dem im Raum sich scheinbar widerhallenden Todesseufzer, der in Natanael den Atem vor seiner eigenen inneren Angst stocken lässt. Nathanael entfernt sich von seiner Braut Clara immer mehr und baut sich eine Parallelwelt auf, indem er Olimpia zum Leben erweckt, dank seiner veränderten Sehkraft, die so weit führt, dass er um die Hand der Puppe anhalten will, denn „er suchte nach dem Ringe, den ihm beim Abschiede die Mutter geschenkt, um ihn Olimpia als Symbol seiner Hingebung, seines mit ihr aufkeimenden, blühenden Lebens E.T.A. Hoffmann, Sigmund Freud und die Phantastik 145 <?page no="146"?> 23 Hoffmann (1984: 4). 24 Hoffmann (1984: 4). 25 Hoffmann (1984: 4). 26 Hoffmann (1984: 4). 27 Vgl. Wünsch, Marianne (1991). Die fantastische Literatur der frühen Moderne: (1890- 1930); Definition; Denkgeschichtlicher Kontext; Strukturen. München: Fink. 28 Freud (1999, Bd.-XII: 243). darzureichen“ 23 . So weit kommt es aber nicht, denn Nathanael wird Zeuge des Streits zwischen Coppola und Spalanzanis um die Puppe und plötzlich wird ihm bewusst, dass „sie eine leblose Puppe [war]“ 24 . Aus einem toderbleichten Wachsgesicht, das anstatt Augen nur schwarze Höhlen hat, starrt Olimpia Nathanael an. Allerdings vermischen sich hier Realität und Phantasie, da er auf dem Boden „ein Paar blutige [r] Augen“ 25 sah, die ihn anstarrten. Nathanael verfällt dem Wahnsinn, aus dem er erst erwacht, nachdem Coppelius die Stadt verlassen hat: Nathanael erwachte wie aus schwerem, fürchterlichem Traum, er schlug die Augen auf und fühlte, wie ein unbeschreibliches Wonnegefühl mit sanfter himmlischer Wärme ihn durchströmte. „[…] Endlich […] - nun bist du genesen von schwerer Krankheit 26 . Das Ende der Geschichte hat Hoffmann so gestaltet, dass das Taschenperspektiv einen erneuten und letzten Wahnsinnsanfall bei Nathanael auslöst, den ihm das Leben kostet. Um Realität und Irrealität voneinander abzugrenzen, hat Hoffmann verschie‐ dene thematische und stilistische Elemente benutzt: Darunter fällt der Wechsel der Erzählperspektive genauso wie die sich anschließende Krankheit nach jedem Wahnsinnsanfall. So ist das Phantastische in eine Geschichte eingebettet, die sich zwar in der Realität abwickelt, aber gleichzeitig in einer Parallelwelt, die von Coppelius, dem Sandmann, inszeniert wurde und in die Nathanael nur mit Hilfe des Taschenperspektivs eintreten kann. Somit erhält der Leser auf textimmanenter Ebene eine Antwort auf phantastische Elemente 27 . Aber wie sieht es auf psychoanalytischer Ebene aus? Als erstes Element steht die Angst, das sich mit dem Unheimlichen verbindet. Zuerst war es Nathanaels Mutter, die in ihm die Angst vor dem Sandmann einpflanzte, als Abschreckung oder einfach nur als erzieherische Maßnahme. Doch diese Angst ist mit einer der menschlichen Grundängste gekoppelt, nämlich der Verlust der Sehkraft. So stellt Freud fest: „[…] die psychoanalytische Erfahrung [mahnt] dran, daß es eine schreckliche Kinderangst ist, die Augen zu beschädigen oder zu verlieren“ 28 . 146 Ricarda Hirte <?page no="147"?> 29 Freud (1999, Bd.-XII: 243). Doch die Angst vor dem Erblinden rekurriert auf die Kastrationsangst, die sich in der Vorstellung des Erblindens manifestiert. Freud führt an, dass […] das Studium der Träume, der Phantasien und Mythen uns dann gelehrt [hat], daß die Angst um die Augen, die Angst zu erblinden, häufig genug ein Ersatz für die Kastrationsangst ist 29 . Interessant ist nun, ob sich auch bei Hoffmanns Figur Nathanael diese Angst in Form eines Kastrationskomplexes feststellen lassen kann. Der Komplex äußert sich beim Jungen in einer mächtigen Angst vor der Realisierung einer väterlichen Drohung und als Antwort auf seine sexuelle Aktivität. Bei Hoffmann verbindet sich die Angst zu einem Korrelat aus Kastrationsangst, übermächtiger Vater, in der Figur des eigenen Vaters und der Figur des Sandmanns, verkörpert durch Coppelius und Coppola, und dem Symbol der Augen, sehen zu können, sowohl in der Realität als auch in der Irrealität mit Hilfe eines Perspektivs. Der Vater straft, denn der Junge hat etwas gesehen, was er nicht sehen sollte, es besteht also eine klare Verbindung zwischen dem Verbot und dem Sehen, was sich im Fortlauf der Erzählung in einer Kastrationsangst manifestiert. Denn die Angst um die Augen ist mit dem Tod des Vaters verknüpft, an dessen Stelle als Züchtiger Coppelius und später Coppola tritt. Der Sandmann tritt zudem jedes Mal als Störer der Liebe auf, denn Nathanael kann weder mit Clara noch mit Olimpia eine Beziehung aufbauen. Psychoanalytisch stellen der Vater und Coppelius die in zwei Gegensätze auf‐ geteilte Vater-Imago dar, wobei der eine, der gütige Vater (hier der biologische), um die Augen des Kindes bittet. Im Kastrationskomplex ist der Todeswunsch als verdrängte psychische Kraft am stärksten vorhanden und diese artikuliert sich in Hoffmanns Erzählung in der Darstellung des Todes des guten Vaters, der dem Coppelius angelastet wird. Dieses Väterpaar übernehmen später in der Erzäh‐ lung der Professor Spalanzani und der Optiker Coppola. In der Wiederholung lässt sich die Spaltung der Vater-Imago erkennen, da sowohl der Mechaniker Coppelius, es wird auf die Szene verwiesen, in der Coppelius Nathanaels Arme und Beine abschraubt und an anderer Stelle wieder einsetzt, wie der Optiker Coppola einen Vaterteil von Olimpia und auch von Nathanael ist. Dieser Vaterteil ist aus der Geschichte des Sandmanns losgelöst und gibt Einblick in die Kastrationsvorstellung und bereitet den Leser auf die Figur und die Bedeutung der Puppe Olimpia vor. Versteht man die männlichen Figuren der Erzählung als Erscheinungsformen der Väterpaare Nathanaels, so ist Olimpia das Symbol von Nathanaels femininer Einstellung zu seinem Vater in früher Kindheit. Olimpia E.T.A. Hoffmann, Sigmund Freud und die Phantastik 147 <?page no="148"?> 30 Grisebach, Eduard (1905). Biographische Einleitung. Berlin: B. Behr’s Verlag. Abrufbar unter: Biographische Einleitung zu E. T. A. Hoffmanns sämtliche Werke in fünfzehn Bänden (projekt-gutenberg.org) (Stand: 25/ 01/ 2023). 31 Freud (1999, Bd.-XII: 263). steht für den losgelösten Komplex und indem Nathanael ihr verfällt und ihr seine Liebe bezeugt, kann er diesen Komplex noch beherrschen, verfällt aber dem Wahnsinn, als Olimpia zerstört wird. So ist der Wahnsinn der Ausdruck einer narzisstischen Liebe, die durch den Kastrationskomplex, eine Fixierung des Jungen auf den Vater, hervorrufen wird und sich in der Unfähigkeit einer personenbezogenen Liebe manifestiert. So kann auch die Beziehung zu Clara kein gutes Ende nehmen, denn der Komplex tritt übermächtig in dem Moment zu Tage, als die einzige Verbindung zu seiner narzisstischen Liebe und zu seinem Vater-Imago ihn doppelt blendet: das Taschenperspektiv. Es sollte hier nochmals erwähnt werden, dass sich sowohl in der literarischen Anlage des Textes wie in den phantastischen Elementen, sich auch die psycho‐ analytische Sichtweise bestätigt und Rückschlüsse auf den Autor zulassen. Hoffmann litt zeitlebens unter der Vater-Sohn-Beziehung und schenkt man Grisebachs 30 biographischer Einleitung zu Hoffmanns Werk Glauben, ist es die Verlassenheit des Jungen, der in Hoffmann den Kastrationskomplex auslöste und diesen in seinem literarischen Schaffen kompensierte. So ist die Erzählung Der Sandmann ein Konstrukt aus personeller Erfahrung und Wunschvorstel‐ lung, um das Trauma der Kindheit zu überwinden. Das Phantastische ist hier die Verbildlichung der Parallelwelten von objektiver und subjektiver Realität die Freud wie folgt formuliert: Anders verhält es sich mit dem Unheimlichen, das von verdrängten infantilen Komplexen ausgeht, vom Kastrationskomplex, […]. Das Unheimliche des Erlebens kommt zustande, wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wieder belebt werden, oder wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen 31 . Literatur Freud, Sigmund (1999). Gesammelte Werke. 18 Bände. Frankfurt am Main: Fischer. Bd.-II/ III. Hoffmann, E.T.A. (1984). Nachtstücke. München: DTV. Abrufbar unter: E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann (projekt-gutenberg.org) (Stand: 25.01.2023). Jentsch, Ernst (1906). Zur Psychologie des Unheimlichen, Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 1906, Nr.-22 und 23. 148 Ricarda Hirte <?page no="149"?> Lachmann, Renate (2002). Erzählte Phantastik. Frankfurt am Main: Fischer/ Thomson. Laplanche, J./ Pontalis, J.-B. (1980). Das Vokabular der Psychoanalyse. 2 Bände. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Wünsch, Marianne (1991). Die fantastische Literatur der frühen Moderne: (1890-1930); Definition; Denkgeschichtlicher Kontext; Strukturen. München: Fink. E.T.A. Hoffmann, Sigmund Freud und die Phantastik 149 <?page no="151"?> Gumiho (2012) und Christine Wunnickes Der Fuchs und Dr. Shimamura (2015) Die narrative Inszenierung der Füchsin/ Fuchses im Ost-West-Vergleich Jesús Pérez-García Zusammenfassung: Füchsinnen und Füchse spielen eine bedeutende Rolle in den Legenden und im schamanistischen Glauben Chinas, Koreas und Japans. Ihre Einwirkung auf die Menschen, mit denen sie in engen Kontakt gelangen und verkehren, kann je nach dem Gemüt und Wesen der betroffenen Person zum Guten oder zum Schlechten ausfallen. Damit entfaltet das Tier Fuchs einen Symbolcharakter, der in den asiatischen Ländern viel nuancierter und ausgewogener als in den westlichen Tradi‐ tionen ist. In dieser Studie wird dieses Tier und fabelhafte Kreatur in einer koreanischen Serie und in einer deutschen Bearbeitung des fernöstlichen Fuchsglaubens untersucht. Schlüsselwörter: Fuchs, Hysterie, Groteske, Japan, Korea Abstract: Vixens and foxes strike out conspicuously in the legends, shamanistic beliefs and folk religion of China, Korea and Japan. They may come close and engage into intimate contact with human beings, exerting a positive or negative influence that hinges on the character and disposition of the person concerned. Thus, the fox unfolds a symbolic character that is much more balanced in the Asian countries than in Western traditions, which are characterized by a fairly negative bias. This study will examine the fox as a fabulous creature in a Korean series and in a German literary adaptation of far eastern fox beliefs. Keywords: vixens, hysteria, grotesque, Japan, Korea <?page no="152"?> 1 Füchse und Katzen kommen in den Werken der deutsch-rumänischen Schriftstellerin Herta Müller (geb. 1953 in Nitchidorf, Rumänien) wiederkehrend vor; dabei dienen sie als Metaphern, die auf eine von staatlichem Terror geprägte Welt hindeuten. Insbesondere in Müllers Frühwerk tauchen Katzen als doppeldeutige und drohende Tiere auf. Dazu Siguan, Marisa (2023). Herta Müller. Die Unheimlichkeit des fremden Blickes. In: García, O./ Münster, M. (Hrsg.) Das Unheimliche in der deutschsprachigen Literatur. Tübingen: Stauffenburg Verlag, 89-100. Füchse Füchse ähneln in ihrem Aussehen den Hunden und Wölfen und sind mit diesen und den Bären verwandt. Wie Wölfe greifen sie mit verheerenden Folgen Herden von Tieren an, die in menschlicher Umgebung gezüchtet werden. Vor ihnen fürchten sich Geflügel und sogar Schafe (vergleiche dazu den englischen Ausdruck to set a fox to keep the geese, im Deutschen durch ein anderes Tier wiedergegeben: „den Bock zum Gärtner machen“). Sie gefährden bis zu einem gewissen Punkt die wirtschaftliche Existenz von kleinen Dörfern. Das erklärt, dass der Mensch sich vor ihnen hütet und sie in Märchen und Legenden als zweifelhafte und gerissene Figuren auftreten lässt. Füchse ähneln in ihrer schleichenden Gangart, Geduld und Kalkül den Kat‐ zenarten, ob klein oder groß, und wie diese haben sie ihre wilde Natur bewahrt. Sie suchen die Nähe des Menschen, wie die Kleinkatzen es auch machen, sind jedoch jeder, sei es auch nur scheinbaren, Domestizierung ferngeblieben. 1 Aufgrund aller erwähnten Eigenschaften liegt es nahe, dass Füchse freie Wesen sind, die sich den Versuchen der Menschen, die Natur zu bezähmen und umzuformen, erfolgreich widersetzt haben - und schließlich einer beunru‐ higenden Domäne jenseits des menschlichen Waltens angehören. Literarische Inszenierung der Füchse in der westlichen Tradition Die europäische Literatur hat bis heute von den alten Römern einen gewissen Argwohn gegenüber wilden Tierarten bewahrt, und das trotz des neuen Natur‐ bewusstseins und der grünen Wenden. Große Katzenarten, wie die Löwen, wurden unbarmherzig von den Römern in Nordafrika bis zur Ausrottung gejagt, was damals als ein Sieg der Zivilisation über das Wilde wahrgenommen wurde. Die erste überlieferte mittelalterliche Fuchsgeschichte westeuropäischer Vul‐ gärsprachen ist in Lothringen anzusiedeln: La Roman de Renart, verschriftlicht um 1170 in französischer Sprache. Kurz daraufhin entstand eine Übertragung im Elsass, in das Mittelhochdeutsche, der Reinhard Fuchs von Heinrich der Glïchezære (der Gleißner, der Heuchler), dessen überlieferten Manuskripte 152 Jesús Pérez-García <?page no="153"?> 2 Gottsched, Johann Christoph (1886 [1752]). Reineke Fuchs. Halle: Max Niemeyer. Abdruck der hochdeutschen Prosa-Übersetzung vom Jahre 1752. Abrufbar unter https : / / books.google.es/ books? id=u9YNAAAAQAAJ&pg=PA1&hl=es&source=gbs_toc_r&c ad=2#v=onepage&q&f=false (Zugang: 15.3.2023). älter als die der Vorlage sind. Aus der französischen Erzählung gingen bald allegorische Fabeln auch im Niederländischen, Englischen und in weiteren europäischen Sprachen hervor. Vor allem im krisengeplagten europäischen Spätmittelalter und in der um‐ triebigen frühen modernen Periode knüpfte die satirische Gesellschaftskritik dieser Tiergeschichte an den Zeitgeist an, und sie wurde zum beliebten Inhalt von Volksbüchern (ähnlich den spanischen „pliegos de cordel“, englischen „chapbooks“ - oder russischen „lubki“ лубки). Der Fuchs tritt hierein als ein veritabler Schlaumeier auf. In Deutschland erlangten Bearbeitungen auf Niederdeutsch einen gewissen Ruhm, darunter eine in Lübeck gedruckte niederdeutsche Fassung aus dem Jahre 1498, Reynke de vos. Auf sie stützte sich Johann Christoph Gottsched für seine hochdeutsche Prosaübersetzung Reineke der Fuchs (1752) 2 , und Jahre später veröffentlichte sein Schüler Johann Wolfgang von Goethe sein Gedicht Reineke Fuchs (1794). Zu den jüngeren Erscheinungsformen zählen viele volkstümliche Lieder (darunter der englische Zyklus Reynard the Fox) oder die burleske Oper-Ballet Renard von Igor Strawinski, 1916 geschrieben und 1922 uraufgeführt. Erwäh‐ nenswert für das 20. Jahrhundert sind auch David Garnetts (1892-1981) Lady into Fox (deutsche Übersetzung erst im Jahr 1952 als Meine Frau die Füchsin, und wieder unter dem Titel Dame zu Fuchs in 2016; spanische Übersetzung La dama que se transformó en zorro, 2014), 1922 erschienen, die eine Verwandlung beschreibt, die zwischen kafkaesker und ostasiatischer Motivik zu schwingen scheint. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass der eindeutige Bezug zur ostasia‐ tischen Fuchsfrau, die die Intimität eines (Ehe)mannes sucht, von der Kritik generell vernachlässigt worden ist und demgegenüber in die westliche Tradition des Werwolfs eingereiht worden ist. Diese enigmatische Erzählung ist jedoch nicht verwunderlicherweise in China und Japan auf Interesse gestoßen, da die Mischung aus Tierverwandlung und Erotik bei Fuchskreaturen in den einheimischen Literaturen besonders ausgeprägt ist. Aus dem deutsch-osteuropäischen Raum ist Herta Müllers schon erwähnter Der Fuchs war damals schon der Jäger (2009) hervorzuheben, wobei hier der Gumiho (2012) und Christine Wunnickes Der Fuchs und Dr. Shimamura (2015) 153 <?page no="154"?> 3 Für eine Interpretation dieses Werks, in dem der Fuchs als Symbol einer angsteinflöß‐ enden autokratisch ausgeübten Macht der Staatsgewalt auftaucht, s. Janz, Rolf-Peter (2023). Angst als Instrument der Macht. Zu Herta Müllers Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger. In: García, O./ Münster, M. (Hrsg.), 101-108. Zu demselben Werk, vgl. auch Pontzen, Alexandra (2017). Der Fuchs war damals schon der Jäger. In: Eke, Nobert Otto (Hrsg.). Herta Müller - Handbuch. Stuttgart/ Weimar: Metzler, 31-40; allgemein zu den Werken Herta Müllers, s. Siguan (2023: 89-100). 4 G4 - ジーニアス英和辞書 („Genius Englisch-Japanisches Wörterbuch“), Ausgabe in Sharp „Pocket Electronic Dictionnary“, sub voce „fox“. 5 Duden. Deutsches Universalwörterbuch (2007). 6. Aufl. Dudenverlag: Mannheim et al., sub voce „Fuchs“. 6 „[…] type of animal from the dog family; fur from a fox; shrewd and cunning person; (Canadian & US Slang) woman who is pretty and sexually attractive.“ (sub voce „fox“, in Free English Dictionary, in Swedish Lexikon. Dict. Box. Version iOS-Iphone. 2022). Fuchs als Quelle des Unheils dargestellt wird, dem jegliche feminine verführe‐ rische und verspielte Anmut fremd ist. 3 Lexikologie der Füchse Interessant ist auch die Lexikologie in den europäischen Sprachen für das Tier. Zwei Merkmale fallen in erster Linie auf: erstens, eine Tendenz zur Tabuisie‐ rung und die Benennung durch Euphemismen; und zweitens, die femininen Formen, die eine hohe Frequenz im Sprachgebrauch haben. a) Lexeme in den germanischen Sprachen Deutsch der Fuchs / die Füchsin Englisch fox, vixen Schwedisch räv Bei der Etymologie des westgermanischen Stamms, Englisch fox, Deutsch Fuchs, handelt es sich um Tier mit einem dickfelligen Schwanz 4 . Das Wort leitet sich von einer verhüllenden Bezeichnung für „den Geschwänzten“ ab. 5 Die semantische Extension ist im englischen Substantiv fox sehr ausdifferenziert und zum Teil von anderen nahen europäischen Sprachen abweichend. So bezeichnet das Substantiv fox eine Tierart der Familie der Hunde; Fell aus einem Fuchs; schlauer und gewitzter Mensch; <Slang in USA und Kanada> schöne und sexuell attraktive Frau. 6 Derselbe englische Stamm kommt in der femininen Form vixen vor, wobei folgende semantische Nuancen unterschieden werden: a) eine Füchsin („a female fox“); b) <gehobene, dichterische Sprache> abwertende Bezeichnung für launische oder streitsüchtige Frau, was sich im Deutschen als zänkisches Weib, der Drachen (nur in der maskulinen Form, im umgangssprachlichen Gebrauch, 154 Jesús Pérez-García <?page no="155"?> 7 Free English Dictionary, 2022, sub voce „fox”. 8 Collins English Dictionary (2014). Complete and Unabridged 12th Edition 2014. Har‐ perCollins Publishers, sub voce „zorro“.Abrufbar unter https: / / www.thefreedictionary. com/ zorro (17.5.2023). vor allem in Bezug auf die Ehefrau oder die Schwiegermutter) oder die Bissgurn (Südostdeutschland und Österreich) übertragen lässt. Englisch fox gewinnt eine neue Konturierung in der verbalen Transposition: zu der Hauptbedeutung verblüffen („bazzle, perplex“) kommen in Slang die semantischen Eingrenzungen täuschen, hereinlegen („act with cunning; cheat, deceive, bewilder“) hinzu. 7 Bei den konkreten Gebrauchsanwendungen erscheint das Wort fox noch breiter gefächert. Ausgewählte Beispiele: 1) the Silver Fox, positiver Spitzname von Barbara Pierce Bush, Frau des US-Präsidenten George H.W. Bush; 2) fox-trot oder foxtrot, ein Tanz aus der USA, der sich großer Beliebtheit ab den 1910ern und besonders in den Dreißigern erfreute; 3) Fox Studios, Film- und Fernsehgesellschaft mit Hauptsitze in Kalifornien (USA) und Australien, ein Abteil der 20th Century Fox; 4) Mediengruppe „Fox“, der für ihre einfluß‐ reiche konservative Meinungen weltbekannt ist, mit großer Präsenz in den sogenannten „angelsächsischen“ Ländern. Im Englischen besteht neben dem germanischen Stamm fox das spanische Lehnwort zorro: 1) als nomen communis für den südamerikanischen Lycalopex, der Familie der Hunde und mit großer Ähnlichkeit zum Fuchs 8 ; 2) als Eigenname, „El Zorro“, ein fiktiver Charakter der nordamerikanischen Pulp-Literatur, der 1919 von Johnston McCulley erschaffen wurde. Es handelt sich um eine Art galanter Ritter und Robin Hood im Kalifornien des 19. Jahrhunderts, der den einfachen Leuten zu Hilfe kommt, die in Konflikte mit den Mächtigen geraten sind, und der nach den Klischees eines kastilischen Kavaliers stilisiert wird. Des Weiteren wird mit den englischsprachigen Bezeichnungen für fox oft auf andere Tiere Bezug genommen, und auch nicht unbedingt auf die canidae-Fa‐ milie. So etwa auf einen Englisch black fox oder pekan (der Familie der Weichsel) oder einen flying fox (eine große Fledermaus). In gewissem Sinne weicht die Semantik in englischer Sprache von derjenigen der benachbarten westeuropäischen Sprachen ab, da das Fuchs-Bild nicht so eindeutig zum Negativen neigt. b) Lexeme im romanischen Sprachraum Latein vulpes. Etymologie, aus dem Urindogermanischen *h 2 ulp- „roter Fuchs“, Stamm mit Kognaten u. a. im indoarischen, etwa in Sanskrit लोपाश (lopāśá). Im Vulgärlatein auch in der femininen Verkleinerungsform vulpecula vorhanden. Gumiho (2012) und Christine Wunnickes Der Fuchs und Dr. Shimamura (2015) 155 <?page no="156"?> Spanisch el zorro / la zorra (Herkunft unklar); raposo/ a (vielleicht in Anleh‐ nung an „rabo“, Schwanz, und lateinischer Stamm rapio). Das Tier wird oft in der weiblichen Form angesprochen. Die feminine Form bezeichnet umgangs‐ sprachlich herabsetzend auch eine Prostituierte oder Schlampe. Die Wortfamilie ergänzt sich durch umgangssprachliche Ableitungen mit vielen regionalen Varianten. Darunter zorramplón / zorramplona, im Sinne von „gerissen“. Anders als im Englischen sind die positiven Aspekte kaum vorhanden. Die positiv aufgefasste Schlauheit wird nicht durch den Stamm zorro, sondern durch andere Wörter oder Redewendungen vermittelt: listo, espabilado, hábil, ingenioso, ver la hierba crecer, astuto. Französisch renard, eigentlich der Eigenname aus dem homonymen Roman de renart. Zugrunde liegt der westgermanische Name *Raginaharduz, aus *ragina Rat und *harduz stark. Der germanische Name hat ursprünglich nichts mit Füchsen zu tun. Der literarische Name ersetzte schließlich die früher übliche Bezeichnung des Fuchses. dichterisch abgeleitete Euphemismus avancierte jedoch bis zur völligen Deckung des Fuchsnamens und löste im Mittelalter das als Tabu geltende goupil < Lat. vulpecula ab. Die Benennung erfolgte lediglich aus der Popularität des Roman de Renart, wo „Renart“ zufällig der Eigenname des Fuchses ist. Portugiesisch raposo, raposa. Auch im Spanischen benutzt, vor allem in Fabeln und als Nachname. c) Lexeme im Russischen Russisch лиса [lusa], übliche Bezeichnung des Tieres, weibliche Form zum männlichen Fuchsnamen лис, aus einer protoslawischen Wurzel ungeklärter Herkunft. Derselbe Stamm wird allgemein in den modernen slawischen Spra‐ chen gebraucht, um den Fuchs zu bezeichnen. Vertreten in der reichen kultu‐ rellen Tradition Russlands ist der Fuchs u. a. durch Igor Strawinskys Oper- Ballet („Lustspiel mit Gesang und Musik“) Renard, geschrieben 1916, nach einem Märchen von Alexander Afanasjew (1826-1871), dessen Märchensammlung (in acht Bänden, 1855-1867 erschienen) als eine der umfangreichsten weltweit gilt. d) Weibliche Eigenschaften als Hauptnenner Füchse stechen allerdings auch wegen einer weiteren Eigenschaft hervor. In den patriarchalischen Gesellschaften wurden sie oft mit einer Frau gleichgesetzt, insbesondere mit einer, die brave Männer in Versuchung führt. Ob diese Frau als charmant und schön hochgepriesen oder als schlampig verleumdet wird, hängt zum Teil von den konkreten misogynen Traditionen ab. Der Stellenwert der Tiere in dem jeweiligen Kulturraum ist auch ein entscheidender Faktor. 156 Jesús Pérez-García <?page no="157"?> 9 Dazu s. Huntington, Rania (2003). Alien Kind: Foxes and Late Imperial Chinese Narrative. Cambridge: Harvard University Press. 10 „fox-spirit, vixen, witch, enchantress“, sub voce, 狐狸精 , in KTdict C-E [Chinesisch- Englisch], Produktversion 3.2.2., Erstellungsdatum April 5, 2020, iOS-Version für iPhone. Die weiblichen Nebenformen Vulgärlatein vulpecula oder Englisch vixen (< Altenglisch fyxen, weibliche Form) geben davon Zeugnis. Bemerkenswert ist auch der Fall jenseits der westlichen Tradition. In Mangas, Video-Games aus Japan, Korea oder China sind Fuchsmädchen anzutreffen, die mit spitzen Ohren und mehreren Schwänzen als Hauptmerkmale abgebildet werden. Füchsinnen in der fernöstlichen Tradition Fuchsgeschichten sind in der fernöstlichen Tradition häufig vertreten und schon in der erzählenden Literatur der chinesischen Tang-Dynastie (618-907) reichlich überliefert. 9 Der Verkehr mit Fuchsgeistern findet sogar Einzug in die traditionelle chinesische Medizin. Das chinesische Hauptwort für Fuchs lautet hu 狐 . Synonyme sind huli 狐狸 , li 狸 . Der Stamm wird in Komposita angewendet: hulijing 狐狸精 (Fuchsgeist, Füchsin, Hexe, Zauberin) 10 , der wörtlich den „Geist oder Essenz eines Fuchses“ bezeichnet. Die Übertragung als witch muss mit Vorsicht behandelt werden, da die Figur der Hexe eine eigenartige Assoziation im Westen hervorrufen, die in Ostasien automatisch als fremdes Kulturgut wahrgenommen und in Verbindung zu der westlichen Märchen- und Vorstellungswelt gestellt wird. Eine Hexe wird in ihrem Aussehen und wegen ihrer Eigenschaften als Phantasie- oder außerordentliches Wesen eingestuft. Hexenähnliche Kreaturen existieren auch im Aberglauben vieler Weltregionen, wie etwa in Zentralafrika, erregen Furcht oder gemischte Gefühle und entfalten eine soziale Wirkung, die gelegentlich auch Verfolgungen und Hetzjagden auslösen. In der kulturellen Ausprägung sind die Unterschiede zu der westlichen Tradition nicht zu übersehen. Als großer Unterschied zur Wahrnehmung des Fuchses und der auf ihn bezogenen Fuchsgeister oder Fuchsfrauen muss herausgestellt werden, dass in den fernöstlichen Kulturen, als Folge des Buddhismus und früherer einheimi‐ scher religiöser Naturauffassungen, Tiere nicht derart verunglimpft und in ein schiefes Licht gesetzt werden wie in Europa. Vielmehr versucht man dort, ein balanciertes Bild heraufzubeschwören, das die positiven Eigenschaften jeder Tierart und Lebewesen schätzt. Gumiho (2012) und Christine Wunnickes Der Fuchs und Dr. Shimamura (2015) 157 <?page no="158"?> Gumiho (2010). Historische Kostümserie mit phantastischer Prägung Weibliche Fuchsgeister der ostasiatischen Tradition sind ein wiederkehrendes Motiv der Literatur und der Unterhaltungsindustrie. Als Veranschaulichung sei hier eine koreanische Fernsehserie genannt, Gumiho. Die Geschichte eines Fuchsmädchens, deren Erstausstrahlung 2010 im KBS2-Sender erfolgte. Der koreanische Originaltitel lautete Gumiho: yeo’unu i deon 구미호 : 여우누이뎐 , und die offizielle englische Übersetzung Gumiho. Tale of the Fox’s Child. Vermarktet wurde sie auch unter einem weiteren Titel, Grudge: The Revolt of Gumiho. Ein gumiho ist ein Fuchs mit neun Schwänzen, also ein fabelhaftes Wesen des koreanischen Volksglaubens, das wiederum Entsprechungen in China hat. yeo’u 여우 ist wiederum ein weiterer Stamm für Fuchs / Füchsin, homonym mit dem Wort für Schauspielerin. In den ersten Szenen trifft der Zuschauer eine Gumiho-Fuchsfrau, die mit ihrer Tochter im Wald lebt und den Kontakt zu Menschen meidet, da diese ihre Versprechen nicht halten und nicht vertrauenswürdig sind. Es lauern jedoch viele Gefahren im Wald, wie die Angriffe von Tigern oder Rabenschwärmen, denen die Tochter nur durch das Eingreifen der Mutter in letzter Minute entkommt. Das menschliche Aussehen der Mutter verwandelt sich in diesen Momenten, ihre Augen werden rot und glänzen, ihre Eckzähne beginnen zu wachsen und werden schließlich zu den Reißzähnen eines Fuchses. Diese übernatürlichen Eigenschaften helfen den beiden Fuchsfrauen aus der Klemme. Diese Veranlagung hat sich auf die Tochter vererbt, wie sich allmählich heraus‐ stellt. Die ambivalente Natur ist der wesentliche Zug der Fuchsfrauen in der ostasiatischen Tradition. Wenn sie die Nähe eines Mannes aufsuchen, treten sie als charmante Frauen auf. In kritischen Zuständen kommen ihre tierische Natur und übermenschliche Fähigkeiten zutage, mit denen sie den Menschen beistehen und retten. Sollten die Menschen sich unwürdig und verräterisch verhalten, kann die wilde Natur der Fuchsfrau jedoch zügellos werden und das Leben des geliebten Mannes gefährden. Dieser Stoff entfaltet sich in der Serie in der höfischen Umgebung eines Hochbeamten-Familiensitzes in der Joseon- Periode (1392-1897). Interessanterweise handelt es sich um ein eindeutig koreanisches Produkt, das keine westlichen Kulturelemente einblendet und trotzdem auf dem westli‐ chen Markt im Zuge des Interesses für K-Drama ausgestrahlt und konsumiert wurde. 158 Jesús Pérez-García <?page no="159"?> 11 Dazu in diesem Sammelband der Beitrag von Brittnacher, Hans Richard (2023). Tödliche Mütter - eine Obsession E.T.A. Hoffmanns in Cyprians Erzählung (Vampyrismus) (1821) und Die Bergwerke zu Falun (1819). 12 Näheresz zum wu-Begriffe, s. Kubandt, Jan-Reinhard (2019). Die wu in Wang Chongs Lunheng. Eine funktionale und metaphysische Einordnung. Bachelorarbeit (eingereicht am 23.5.2021, Universität Münster). Erstbegutachter: Prof. Dr. Reinhard Emmerich. Zweitbegutachterin: Kerstin Storm. 13 Wunnicke, Christine (2020 [2015]): Der Fuchs und Dr. Shimamura. Roman. Berlin: Berenberg. Im Gegensatz zu Ostasien neigt die Tradition der europäischen Phantastik zu einer Stilisierung der Frau als „unheilbringendes, verworfenes Geschöpf “, was in den Werken E.T.A. Hoffmanns oft als Ausdruck einer misogynen Epoche, zum Teil unrechtmäßig, interpretiert worden ist. 11 Die Popularität des gumiho-Glaubens in Korea steht im Zusammenhang mit dem weitverbreiteten Muismus ( 巫敎 ) oder „Schamanen-Religion“. Leute aller sozialen Schichten suchen oft die Hilfe eines Mu 巫 , Männer oder Frauen, die als Mittler zu den außergewöhnlichen Kräften handeln. Der Beruf des Mu 巫 -Pries‐ ters ist schon im alten China anzutreffen, und genau wie in Korea überlappte er sich nicht exakt mit dem Begriff Schaman. Eine mögliche Übersetzung wäre auch„Medium“. 12 Christina Wunnickes Der Fuchs und Dr. Shimamura (2015) Viele der Elemente um die Füchsin, die die Handlung bei der koreanischen Reihe Gumiho bestimmen, kommen in umgewandelter Form bei Christina Wunnicke (geb. 1966, München) wieder vor. 13 Nur kreist diesmal die Geschichte um Japan, und derjenige, der Kontakt zu den geheimnisvollen Fuchskreaturen aufnimmt, ist ein japanischer Doktor der Medizin in der Scharnierperiode der Jahrhundertwende um 1900. Gumiho (2012) und Christine Wunnickes Der Fuchs und Dr. Shimamura (2015) 159 <?page no="160"?> 14 Weiteres zu diesem Bild, vgl. Noguchi Yone (=Noguchi Yonejirō 野口 米次郎 )/ Almazán Tomas, David (ed.) (2021). Hiroshige. Vitoria-Gasteiz: Sans Soleil. Abb. 4: UTAGAWA Kuniyoshi (1798-1861): „Genji-Monogatari“-Serie 14 . Vor dem in‐ neren Titelblatt in Wunnickes Roman erscheint eine Seite mit einer Holztafel-Illustration, in der eine mit Kimono bekleidete Frau in höfischem Stil abgebildet ist, deren Silhouette sich in Form eines Fuchses auf ein Papierpaneel zu projizieren scheint. Das Bild (1845- 1846) ist UTAGAWA Kuniyoshi zuzuschreiben und gehört der „Genji Monogatari“-Serie. Der Roman erschien 2015 und ist mit einem Umfang von 159 Seiten nicht viel länger als eine Novelle. Die Gestaltung des Buchs ähnelt in vieler Hinsicht den üblichen japanischen kommerziellen Formaten von Romanen: die kleine Größe von 12 x 18,2 cm, aber auch die Aufteilung in sechzehn durchnummerierte Ka‐ pitel ohne Überschrift und mit der Nummer in lateinischen Buchstaben von oben nach unten angeordnet - diese schlichte Einrichtung in durchnummerierten Sektionen ist auch bei Mangas die Norm. 160 Jesús Pérez-García <?page no="161"?> 15 Weiteres zu diesem Bild, vgl. Almazán Tomás, David / Ogata Gekko (2020). Estampas del Japón mítico. Gijón: Satori. Abb. 5: Titelbild der Erstausgabe von Christine Wunnickes Roman (2015). UTAGAWA Hiroshige (1797-1858): Fuchs-Lagerfeuer im Neujahr vor dem wandelnden Baum. Aus der Serie „Hundert berühmte Ansichten von Edo“. 15 Gumiho (2012) und Christine Wunnickes Der Fuchs und Dr. Shimamura (2015) 161 <?page no="162"?> 16 Näheres zu den japanischen kaiserlichen Stipendiaten in Europa und dem zusammen‐ hängenden Programm, Finanzierung und Auswertungsausschüssen erfährt man bei Wunnicke, 2020: 9, 62, 64, 72-73, 98, 113, u.a. 17 Geisenhanslüke, Achim / Rauch, Marja (2013). Das Unheimliche. In: Brittnacher, Hans Richard/ May, Markus. Einführung. In: Brittnacher, H.R./ May, M. (Hrsg.), 579-583, hier 579. Die Handlung spielt in Japan, Paris, Berlin und Wien. Der Leser verfolgt mit vielen Zeitsprüngen die Geschichte des Dr. Shimamura, mit vollen Namen Shimamura Shunichi (Seite 130; geb. 1863 in Edo, dem htg. Tōkyō, gest. 1923 in Kyōto), eines japanischen Mediziners und Pioniers der modernen Psychiatrie in Japan, den es tatsächlich gab und der Ende des 19. Jahrhunderts sein Studium in Europa als kaiserlicher Stipendiat ergänzte. 16 Shimamura führte Tagebuch, und dem sind etliche Informationen über sein Leben zu verdanken. Zunächst wird ihm der Auftrag erteilt, die Patientinnen im Dorf Shimane zu behandeln, die reihenweise von Fuchsgeistern besessen sind. Das Phänomen ist nicht neu, und der Gehilfe von Dr. Shimamura kann ausführlich von ähnlichen Fuchsbesitzen berichten, die in seinem Familiengedächtnis seit Jahrhunderten gut dokumentiert sind. Schließlich wird Dr. Shimamura selbst ein solches Opfer, wobei nicht klar ist, ob er vom Fuchs besessen ist oder einer Demenz verfällt - ob es sich um etwas Reales oder nur eine Täuschung handelt, wird nie erklärt. Shimamuras beruflicher Werdegang führt ihn daraufhin nach Paris, wo die psychologische Größe der Zeit, Jean-Martin Charcot (1825-1893), lehrte und über das Frauenirrenhaus La Salpêtrière herrschte (Seite 83), und später nach Berlin, wo er in der nervenkundlichen Anstalt der Charité landet (Seite 114). Selbstverständlich durfte ein Aufenthalt in Wien nicht fehlen, dem seinerzei‐ tigen Mekka der modernsten medizinischen Forschungen und der aufkom‐ menden Psychologie und Psychoanalyse. Dort fungiert als sein Mentor Josef Breuer (1842-1925), der innovative Behandlungen der Hysterie entwickelte und den Weg für die Psychoanalyse ebnete. In mehreren Stationen trifft Dr. Shima‐ mura den noch wenig bekannten Sigmund Freud (1856-1939): In Paris machte er die Bekanntschaft des „Hospitant[en] Freud aus Wien“ (Seite 103), der wieder in Wien auftauchte, wo er an einem Buch schrieb und mit „einem hypnotischen Lamento“ die Wissenschaft bereichern wollte (Seite 128), was der Japaner eher peinlich berührt zur Kenntnis nimmt. Auf die konkreten freudschen Schriften nimmt die Erzählung keinen expliziten Bezug, nichtsdestotrotz schwingt „das Unheimliche“ als der vieldiskutierte Begriff des Wiener Arztes ominös in der Art mit, wie sich die Handlung entfaltet und verirrt. Das Unheimliche in den alltäglichen Erlebnissen hat Freud auch als Modus der Fremderfahrung begriffen. 17 Auch ein weiteres Merkmal des Unheimlichen nach Freud wäre 162 Jesús Pérez-García <?page no="163"?> 18 Dazu und auch im Anschluss an die Symbolträchtigkeit des Fuchses, vgl. Janz (2023: 101). 19 In gewisser Hinsicht darf die Ausartung in eine Art Neurose als eine weitere Stufe der Reaktion gegen die Aufklärung gewertet werden, die das Aufkommen der phan‐ tastischen Erzählgattungen während der romantischen Periode auszeichnete. Diese antirationalistische Stellung war auch für manche Hauptgattungen der romantischen Phantastik, wie etwa den Schauerroman, kennzeichnend. Siehe Mariño, Francisco Manuel (2023). Samalio Pardulus von Otto Julius Bierbaum. Eine Schauererzählung des Expressionismus. In García, O./ Morton, M., 41-51, hier 43. 20 Castex, Pierre-Georges (1951): Le Conte fantastique en France de Nodier à Maupassant. Paris: José Corti, 8. hier ebenfalls zutreffend: die Wiederkehr einer archaischen Kulturstufe 18 , die bis in die Moderne geblieben ist und die mit dem konservativen Hang zum Althergebrachten und altertümlichen Mythen und Geisterwelt, die dem Einzug des Buddhismus aus China und Korea sogar vorausgehen, in Zusammenhang gebracht werden könnte. Dr. Shimamura wirkt wie ein weltferner Mensch, der umherirrt und nie seinen Ort in der Wirklichkeit zu finden scheint. Die Vermengung von westli‐ chen und japanischen Elementen betont nur die Widersprüche und wesentliche Inkonsistenz dieser Scheinwelt, die er zu bewohnen scheint. Die essenzielle Hybridität der Wirklichkeit kommt durch den Kontrast und das unweigerliche Ineinandergreifen von Osten und Westen stark zum Ausdruck. Aber nicht weniger verworren sind die Grenzen zwischen einerseits dem mythischen und abergläubischen Japan, das sich nur oberflächlich verwestlicht, und andererseits einer anmaßenden und vermeintlich wissenschaftlichen Medizin des Westens, der nichtsdestotrotz allerlei Vorurteile, Irrationales und Theatralisches inne‐ wohnen. 19 Dabei wird auf eine Morbidität verwiesen, die nach Castex ein fester Bestandteil der phantastischen Überarbeitung darstellt: Das Mysteriöse und Unheimliche bricht in die Realität ein, indem krankhafte Bewusstseinszustände eingeblendet werden. 20 Die barocke Fülle von wissenschaftlichen Termini, mit der Dr. Shimamura konfrontiert wird, wird zu einem Zerrbild und einem sprachlich wenig zusam‐ menhängenden Spektakel: Neurologisches, Tuberkulose, Meningitis, schlichte Grippen, unklare paralytische Affektionen, chroreatische Manie (das diagnos‐ tizierte er, „nur weil ihm das Wort gefiel“), eine Graviditätspsychose (Seite 27); die „kläglichsten Krankheiten“ wie Trunksucht, Kretinismus, Ovarialabszess mit Durchbruch ins Rektum (Seite 19); und vor allem vieles aus dem Handbuch von Wilhelm Griesinger (1817-1968) über Pathologie der psychischen Krankheiten (Seite 27), und zwar in der dritten Auflage, die Dr. Shimamura mit sich trug (Seiten, 18, 57). Nicht weniger unzusammenhängend sind die Bezeichnungen für Gumiho (2012) und Christine Wunnickes Der Fuchs und Dr. Shimamura (2015) 163 <?page no="164"?> 21 Die Hysterie, oder „Grande Hysterie“ (Seite 90) im Sprachduktus von Charcot, galt in der Zeit als die wahrscheinlichste Diagnose für jegliche Art von unerklärbaren psychischen Erkrankungen oder als anomal empfundenem Verhalten bei Frauen. In diesem Sinne war Hysterie ein fester Bestandteil der „Frauenheilkunde“ (Seite 59). Dazu vgl. Wiktionary.en, https: / / en.wiktionary.org/ , sub voce “hysteria” (Zugriff: 18.5.2023): “(psychiatry, until early 20th century, now historical) Any disorder of women with some psychiatric symptoms without other diagnosis, ascribed to uterine influences on the female body, lack of pregnancy, or lack of sex.” Etymologisch stammt Hysterie aus dem Altgriechischen, mit der Bedeutung “Krankheit der Gebärmutter“. die Neurologie und Neurowissenschaften: „Neurologie oder Psychologie oder experimentelle Psychologie des Gedächtnisses“ (Seite-8). Alles überschattend ragt die Hysterie heraus, die damals eine Art Zeit‐ geistkrankheit war, fast ausschließlich bei Frauen von männlichen Doktoren diagnostiziert wurde und im Grunde genommen an dem Hexenglauben an‐ knüpfte. 21 Märchentradition, Folklore und religiöse Praktiken im interkulturellen Spannungsverhältnis Bei Wunnickes Erzählung soll der Leser manchmal das Gefühl haben, dass die Geschichte in einen Katalog der japanischen traditionellen Kultur übergeht. Einen besonderen Stellenwert haben die Anlehnungen an die reiche japanische Märchentradition und vor allem an die üppig ausgestatte Geisterwelt der japanischen Kultur, die heute immer noch über das Folkloristische hinausragt und in allerlei Festen, religiösen Praktiken oder Alltagsritualen zum Ausdruck kommt. Herausragend ist die japanische kitsune キツネ = 狐 . Diese ist ein indigenes Wort, also kein Sinismus, das oft in der Silbenschriften Katakana (wie hier), aber auch in Hiragana ( きつね ) oder auch durch das chinesische Zeichen (kanji) 狐 wiedergegeben werden kann. Die fabelhaften Kitsune agieren als Wächter und Boten der Inari (oder Oinari 稲荷 )-Göttin wie im Fushimi-Inari-Schrein 伏見稲 荷大社 in Kyoto. Eine wunderbare und phantastische Welt entfaltet sich vor dem Leser, deren Glaubwürdigkeitsgehalt sich allen üblichen Interpretationskonventionen der Gattung Märchen und phantastischen Geistergeschichten widersetzt. Eine interkulturelle literaturkritische Interpretation des Romans erfordert eine Beschäftigung mit der japanischen Folklore, die sich reichlich mit Fuchsge‐ schichten schmückt. In ihnen geht es ja vordergründig um weibliche, nicht um männliche Kreaturen. Deswegen ist es kaum verwunderlich, dass Shimamura 164 Jesús Pérez-García <?page no="165"?> 22 Roas bezeichnet das Groteske als eine ästhetische Kategorie, die die Realität durch die Hinzugabe von humoristischen und schauerhaften Elementen verzerrt (Roas, David [2011]. Tras los límites de lo real. Una definición de lo fantástico. Madrid: Páginas de España, 67). Dabei baut er u. a. auf Michail Bachtin (1895-1975) auf, der das Groteske im Zusammenhang mit dem europäischen Mittelalter und mit dem französischen Humanisten François Rabelais (1483/ 1494-1553) analysierte und ihre Beziehungen zum Karnevalesken, dem Primitivismus und dem derben Humor unterstrich. 23 Brittnacher, Hans Richard/ May, Markus. Einführung. In: Brittnacher, H.R./ May, M. (Hrsg.), 1-2, hier 2. beim Denken an seine Frau folgenderweise vor sich hin doziert: „Es ist ja kein Fuchs, Herr Doktor! Es ist eine Füchsin! Füchsinnen fahren in Frauenzimmer! Alles fest in weiblicher Hand! “ (Seite-21) Die phantastische Ausarbeitung der Erzählung zeichnet sich durch den kom‐ plexen Einsatz von verschiedenen narrativen Ansätzen der Gattungsarten aus. Die Grenzen zwischen Welten fließen hysterisch ineinander, ebenso zwischen Medizin und Aberglaube, zwischen Märchen, Neophantastischem in Kafkas Manier und Grotesk-Burleskem. 22 An manchen Stellen mag diese Verwischung der phantastischen Subgenres zu künstlich anmuten, jedoch steht sie im Ein‐ klang mit dem heutigen Trend zur Gattungshybridisierung - sowie auch zu dem fließenden Übergang zwischen Phantastik und Groteskem. 23 Dr. Shimamura betreibt tüchtig seinen Forschungen, die ihn nur in die Irre führen. In der dunklen Hütte zwischen Taotsu und Saiwa, in der niemand den Urin fort‐ wischte, den die Epileptikerin reichlich ausgeschieden hatte, und in der stattdessen alle Welt betete, stellte Shimamura fest, dass er sich nun vor allem ekelte: vor allen Krankheiten, vor allen Menschen, vor Medizin und Aberglaube, vor Füchsen und selbst vor Dr. Griesingers Pathologie. (Seite-27) Der Kontrast zwischen Japan und Europa, zwischen realer und phantastischer Welt, zwischen Frauen und Füchsinnen, zwischen Vernunft und Verrücktheit, zwischen wahrhaftiger Wahrnehmung und gestörter Sinnesstimulation ver‐ blasst fast schon ab der ersten Seite. Eine irrige Annahme wäre es, die Gedanken- und Lebenswelt des Dr. Shimamura als Ausdruck eines Doppelgängers oder einer schizophrenen Ich-Spaltung zu deuten, und auch nicht einer misslun‐ genen Geisterbeschwörung, wenngleich dies alles zum Thesaurus der gängigen phantastischen Motive gehört. Vielmehr handelt es sich um die Üppigkeit zweier aufeinanderprallender, sich widerspiegelndee Welten, die des Ostens und die des Westens, ferner um einen überspitzten und ad absurdum geführten Kulturschock. Ein Satz auf den ersten Seiten hat einen programmatischen Charakter für diese im Spagat zwischen Japan und Europa entworfene kafkaeske Gumiho (2012) und Christine Wunnickes Der Fuchs und Dr. Shimamura (2015) 165 <?page no="166"?> Welt: „Der junge Shimamura Shunichi verstand von Frauen nicht mehr als von Füchsen.“ (Seite-20) Literatur Almazán Tomás, David/ Ogata Gekko (2020). Estampas del Japón mítico. Gijón: Satori. Almazán Tomás, David/ Ogata Gekko (2022). Estampas del Genji monogatari. Gijón: Satori. Brittnacher, Hans Richard/ May, Markus (Hrsg.) (2013). Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/ Weimar: J.B. Metzler. Castex, Pierre-Georges (1951). Le Conte fantastique en France de Nodier à Maupassant. Paris: José Corti. Duden. 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Bachelorarbeit (eingereicht am 23.5.2021, Universität 166 Jesús Pérez-García <?page no="167"?> Münster). Erstbegutachter: Prof. Dr. Reinhard Emmerich. Zweitbegutachterin: Kerstin Storm. Mariño, Francisco Manuel (2023). Samalio Pardulus von Otto Julius Bierbaum. Eine Schauererzählung des Expressionismus. In García, O./ Morton, M., 41-51. Müller, Herta (2009). Der Fuchs war damals schon der Jäger. Frankfurt a.M.: Fischer. Noguchi, Yone (=Noguchi Yonejirō 野口 米次郎 )/ Almazán Tomas, David (ed.) (2021). Hiroshige. Vitoria-Gasteiz: Sans Soleil. Pontzen, Alexandra (2017). Der Fuchs war damals schon der Jäger. In: Eke, Nobert Otto (Hrsg.). Herta Müller - Handbuch. Stuttgart/ Weimar: Metzler, 31-40. Roas, David (2011). Tras los límites de lo real. Una definición de lo fantástico. Madrid: Páginas de España. Siguan, Marisa (2023). Herta Müller. Die Unheimlichkeit des fremden Blickes. In: García, O./ Münster, M. (Hrsg.), 89-100. Wiktionary: Deutsch. https: / / de.wiktionary.org/ . Wiktionary: English. https: / / en.wiktionary.org/ Wunnicke, Christine (2020 [2015]): Der Fuchs und Dr. Shimamura. Roman. Berlin: Berenberg. Gumiho (2012) und Christine Wunnickes Der Fuchs und Dr. Shimamura (2015) 167 <?page no="169"?> Frauengestalten <?page no="171"?> Tödliche Mütter - eine Obsession E.T.A. Hoffmanns in Cyprians Erzählung (Vampyrismus) (1821) und Die Bergwerke zu Falun (1819) Hans Richard Brittnacher Zusammenfassung: Der Beitrag liest zwei Erzählungen aus den Serapi‐ onsbrüdern E.T.A. Hoffmanns als phantastische Erzählungen, jedoch mit einer spezifischen Rollenvertauschung: Die Frau erscheint in diesen Texten nicht als Opfer, sondern als Quell des Schreckens. Mit seiner Darstellung von Müttern, die aus dem Grab heraus nach ihren Kindern greifen, stellt sich Hoffmann nicht nur quer gegen die Mutter-Idolatrie in Aufklärung und Romantik, er verleiht dem Schrecken auch ein psychologisches Profil, indem er die Lebensunfähigkeit seiner jungen Helden aus unbewältigten Kindheitserlebnissen herleitet. Schlüsselwörter: Horror, Mutter, Vampir, Kannibalismus, Versteinerung, Tod Abstract: The article reads two tales from E.T.A. Hoffmann’s Die Serapi‐ onsbrüder as fantastic narratives, but with a specific role reversal: the woman appears in these texts not as a victim, but as a source of horror. With his depiction of mothers reaching for their children from the grave, Hoffmann not only goes against the mother-idolatry of the Enlightenment and Romanticism, he also gives the horror a psychological profile by deriving the inability of his young heroes to live from unresolved childhood experiences Keywords: Horror, mother, vampire, cannibalism, petrification, death Wie kein anderer seiner romantischen Zeitgenossen hat E.T.A. Hoffmann die düstere Seite der condition humaine zur Anschauung und Darstellung gebracht, indem er die fatale Situation des Individuums in einer ihm fremd gewordenen, sogar feindseligen Welt beschrieb, einer Welt, die von undurchsichtigen Ge‐ <?page no="172"?> 1 Ausführlicher zur Phantastik Hoffmanns: Brittnacher, Hans Richard (2015): Das Phantastische/ Das Wunderbare. In: Lubkoll, C./ Neumeyer, H. (Hrsg.): E.T.A. Hoff‐ mann-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler, 384-390; grundsätzlich zur Phantastik: Brittnacher, Hans Richard/ May, Markus (Hrsg.) (2013): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler. 2 Vgl. dazu Safranski, Rüdiger (1984): E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten. München: Hanser. setzen bestimmt und von dunklen Mächten beherrscht wird - die Fülle an androidenhaften Gestalten, an Maschinenmenschen, an Alchemisten und Mag‐ netiseuren in seinem Werk sind Metaphern dieser Fremdheitserfahrung. Die Unverblümtheit dieser Modernitätskritik erklärt den Tadel Goethes und Hegels und den Bedeutungsverlust des Autors: nach dem Tod des abschätzig als „Gespenster-Hoffmann“ geschmähten Erzählers wurde er kaum noch gelesen, schließlich fast vergessen. Erst Autoren wie Edgar Allan Poe und Charles Bau‐ delaire haben die spezifische Modernität Hoffmanns erkannt und ihm zu einem festen Platz in einer Literaturgeschichte verholfen, die schon entschlossen schien, ihn zu vergessen. Was im skeptischen Urteil der Zeitgenossen gegen Hoffmann sprach, ist es zugleich, was heute seine besondere Popularität bei den Lesern garantiert. Mit einer einzigartigen Bereitschaft zur Provokation bringt der schwarzroman‐ tische Erzähler trotz der hochmütig gerümpften Nasen der Zeitgenossen die dunklen Seiten des Lebens zu Papier und stellt dabei zugleich die Innenansicht menschlicher Ängste aus. Dazu bedient er sich eines Thesaurus aus phantasti‐ schen Motiven, in dem Teufel, Doppelgänger, Vampire, wahnsinnige Künstler, lebendige Spiegelbilder, Missgeburten und lichtscheue Meuchelmörder Unheil anrichten. 1 Ich werde im Folgenden eine von Hoffmanns Horrorerzählungen, eine zumeist eher nachlässig oder auch gar nicht behandelte Geschichte aus dem Zyklus der Serapionsbrüder analysieren und ihr noch einige Erläuterungen zu einer zweiten, bekannteren Geschichte, der Venuskultnovelle Die Bergwerke zu Falun, folgen lassen, um eine eigentümliche Obsession Hoffmanns ins Licht zu stellen, sein Misstrauen gegen eine spezifische Form von Weiblichkeit, gegen die Mutter. Das mag man in lebensweltlichen Kontexten und der diesbezüglich unglücklichen Kindheit Hoffmanns fundiert sehen, es ergibt sich aber aus einem Blick auf die Texte als ein Kernnarrativ von Hoffmanns Erzählen. 2 Die erste Geschichte wird im Kreise der Serapionsbrüder von Cyprian vorgetragen und findet sich dann in Einzel- und Sammelausgaben unter dem naheliegenden, aber schlichten Titel Cyprians Erzählung oder auch, seit der von Georg Ellinger 1912 vorgelegten Werkausgabe, unter dem reißerischen, aber 172 Hans Richard Brittnacher <?page no="173"?> 3 Zur Namengebung vgl. den Beitrag von Barnickel, Claudia (2015): „Vampyrismus“ (1821). In: E.T.A. Hoffmann-Handbuch, 143-145. 4 Hoffmann, E.T.A. (2001): (Vampyrismus). In: Ders.: Die Serapionsbrüder. E.T.A. Hoff‐ manns sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 4. Hrsg. von Wulf Segebrecht u. Ursula Segebrecht. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1115-1134, hier S.-1120. 5 Ebd. 6 Vgl. dazu Arnold-De Simine, Silke (2005): Wiedergängerische Texte. Die intertex‐ tuelle Vernetzung des Vampirmotivs in E.T.A. Hoffmanns Vampirismus-Geschichte. In: Bertschik, Julia / Tuczay, C.A. (Hrsg.) Poetische Wiedergänger. Deutschsprachige Vampirismus-Diskurse vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Tübingen: Narr, Francke, Attempto, 129-146. 7 Hoffmann, Vampyrismus, S.-1121 eigentlich unzutreffenden Titel Vampyrismus. 3 Der erste Satz dieser Geschichte führt den Leser auf das Gut des Grafen Hyppolit. Der junge Graf ist nach weitläufigen Reisen, „vorzüglich in England“, 4 nach dem Tod des Vaters in die Heimat zurückgekehrt, um sein Erbe anzutreten und beginnt bald, nach dem Vorbild des gelangweilten Adels seiner Zeit, man denke an Goethes Wahlver‐ wandtschaften, seinen Besitz landschaftsästhetisch umzugestalten. Dabei geht er weit über das Übliche hinaus, wenn er die Natur im Stil des - vielleicht auf seinen Reisen in England angeeigneten - gothic delight dekoriert, so „daß selbst Kirche, Totenacker und Pfarrhaus eingegrenzt wurden und als Partie des künstlichen Waldes erschienen.“ 5 Der ästhetische oder kulturelle Hochmut des jungen Aristokraten modelliert nicht nur auf seinem Besitz die Natur nach den Vorstellungen der Kunst, er glaubt offenbar auch, den Tod in sein Verschönerungsprogramm integrieren und ihn damit ästhetisch zähmen zu können. 6 Einen besonderen Effekt erzielt die Erzählkunst Hoffmanns durch ihre Kürze. Mit einem zuweilen atemberaubenden Tempo strebt die Handlung dem Moment der größtmöglichen Krise zu: keine langwierigen Beschreibungen düsterer Gewitternächte mit Blitz und Donner, bleichen Schemen und wehenden Vor‐ hängen, wie wir sie aus vielen phantastischen Erzählungen kennen - es dauert nur 20 Zeilen, bis der Tod seinen Anspruch auf das ihm entrissene Recht anmeldet. Der in die Gartenästhetik ausgelagerte Tod kehrt durch die Vordertür ins Schloss zurück - in Gestalt einer alten Baronesse, die sich melden lässt: Niemals hatte eine Person, ohne im mindesten häßlich zu sein, in ihrer äußeren Erscheinung solch einen widerwärtigen Eindruck auf den Grafen gemacht, als eben die Baronesse. Bei dem Eintritt durchbohrte sie den Grafen mit einem glühenden Blick […] . 7 Die mit Hoffmanns Werk vertrauten Leser werden die spezifische Codierung von Augen und Blick, vollends, wenn sie technisch durch Brillengläser, Lorg‐ Tödliche Mütter - eine Obsession 173 <?page no="174"?> 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd., S.-1121f. nons oder Perspektiven verstärkt werden, auch aus anderen seiner Texte kennen. Abstoßend wirkt die Alte vor allem im Kontrast zu dem „wunderbar lieblichen Wesen, das mit der Baronesse gekommen war“, 8 das den zwar weitgereisten, aber in galanten Dingen offenbar noch unerfahrenen Grafen, „in d[ie] Verwirrung des liebesentzückten Jünglings“ 9 versetzte. Was hier beschrieben wird, ist ein uraltes Verfahren der Literatur- und Kulturgeschichte, das von Vergil bis zu den Bildern Edward Hoppers reicht: Die Gegenüberstellung von Alt und Jung, vorgeführt zumeist an weiblichen Gestalten, vornehmlich in misogyner Absicht. Der Jugend wird das Alter entge‐ gengesetzt, nicht so sehr, um sie im Kontrast leuchten zu lassen, sondern um mit einem gehässigen memento mori sie an das zu erinnern, was ihr bevorsteht: die Last des Alters, das Ergrauen der Haare, das Welken der Haut. Die Alte ist schon, was die einstweilen noch Junge und Blühende bald auch sein wird. Vergeblich also alle Freude des Lebens, aller sinnliche Genuss des Daseins, hinfällig der Stolz auf die Schönheit des Körpers und die Anmut des Profils: Alles ist dem Verfall geweiht. Dem von seiner Verliebtheit benommenen jungen Grafen hat die beiläufige Berührung der alten Frau die Einsicht in die Todgeweihtheit des weiblichen Lebens mit der Energie eines elektrischen Schlags mitgeteilt: Seinen besten Willen beteuernd faßte er die Hand der Baronesse, aber das Wort, der Atem stockte ihm, eiskalte Schauer durchbebten sein Inneres. Er fühlte seine Hand von im Tode erstarrten Fingern umkrallt, und die große, knochendürre Gestalt der Baronesse, die ihn anstarrte mit Augen ohne Sehkraft, schien ihm in den häßlich bunten Kleidern eine aufgeputzte Leiche. 10 Dass Hoffmann hier zum Bild der ‚Frau Welt‘ greift, einer barocken Metapher der Vergänglichkeit des Schönen, der Welt, des Körpers, hat jedoch, anders als im Barock, jeden tröstlichen Jenseitsbezug verloren. Was das Entsetzen des Grafen Hyppolit veranlasst und ihm Atem und Sprache stocken lässt, ist zunächst ein medizinischer Befund: Die Mutter leidet an Anfällen von Starrkrampf, in denen sie das Leben sie zu verlassen scheint, als sei sie „eine aufgeputzte Leiche“. Während die Tochter, im Gegensatz zur Mutter, einen sprechenden Namen hat, Aurelie, der an den Goldglanz des Morgens erinnert, so erkennen wir in der blicklosen, knochendürren und namenlosen Alten das Bild des bereits erloschenen Lebens. Seit der Geburt ihrer Tochter Aurelie leidet die Baronesse daran, periodisch Anfälle von Starrkrampf zu erleiden. Nur einmal, bei der Geburt der Tochter, hat sie dem Leben zur Welt verholfen - danach 174 Hans Richard Brittnacher <?page no="175"?> 11 Ebd., S.-1123. 12 Ebd., S.-1129. 13 Ebd., S.-1127. 14 Ebd. 15 „Dort [auf dem Blocksberg, HRB] sammelt sich der große Hauf, / Herr Urian sitzt oben auf.“ Faust II, 3958f. nur noch dem Tod. Periodisch befällt sie der Starrkrampf, periodisch bringt sie den Tod zur Welt, so wie sie periodisch „nächtliche Spaziergänge durch den Park nach dem Kirchhofe zu“ 11 unternimmt. Die nach der biologischen Definition mit periodischer Blutung ihre Fruchtbarkeit signalisierende Frau erscheint bei Hoffmann als Gebärerin des Todes. Wir begegnen in diesem Motiv einem befremdlichen Sachverhalt in der Prosa Hoffmanns, der eigentümlichen Dämonisierung der Frau. Frauen führen in Hoffmanns literarischem Universum ein prekäres Dasein: sie mögen liebreizend sein wie Aurelie, hinreißend „ach, ach“ stammeln wie Olympia im Sandmann, sogar betörend schön singen wie Antonia im Rat Krespel oder anmutig lispeln wie eigentlich alle anderen jungen Mädchen bei Hoffmann, aber sie alle stehen mit dem Tod im Bunde: sei es, dass sie selbst der Tod sind, eine „aufgeputzte Leiche“ wie die Baronesse im Starrkrampf, sei es, dass sie ihn bringen, zumeist den Helden der Erzählungen, jungen Männern, die sich ihretwegen in tödliche Gefahr begeben und darin umkommen, sei es, dass sie selbst früh sterben und damit Ihre Männer oder Geliebten oder Söhne ins Unglück oder in todbringende Trauer stürzen. Das wird sich auch an Aurelie zeigen, die zunächst noch mit allen Zeichen des Glücks auf den baldigen Heiratsantrag des Grafen reagiert. Dass Aurelie an der Seite des Grafen ihr Glück zu finden scheint, versetzt ihre Mutter hingegen in unbändigen Zorn, dem sie in einem Fluch Ausdruck verschafft: „Du bist mein Unglück, verworfenes heilloses Geschöpf, aber mitten in Deinem geträumten Glück trifft Dich die Rache“. 12 Ein erster Akt ihrer Rache ist der Tod der Baronesse just an dem für die Trauung festgesetzten Termin. Das führt zum Aufschub der Hochzeit und, schlimmer noch, zur Verdüsterung von Aurelies Gemütsverfassung und zu Traumbildern der aus dem Grab nach ihr greifenden Mutter. Aurelies Ängste haben ihren Ursprung in ihrer Erziehung, die sich als Geschichte eines systematischen Missbrauchs enthüllt. Die Mutter führte ein Leben als Konkubine mit „zügellosen Abscheulichkeiten, [die] jedem sittlichen Gefühl Hohn sprach[en]“. 13 Die kindliche Aurelie wurde Zeuge, wie sich die lüsterne Baronesse „in einem schlechten schmutzigen Kittel gekleidet, Brust und Arme entblößt, das greise Haar aufgelöst“, 14 mit ihrem Geliebten vergnügte. Diesem Geliebten, zu allem Überfluss dem Sohn des Scharfrichters mit dem sprechenden Namen Urian - so heißt in Goethes Faust auch der Teufel 15 - wollte Tödliche Mütter - eine Obsession 175 <?page no="176"?> 16 Hoffmann, Vampyrismus, S.-1131. 17 Ebd. 18 Ausführlicher dazu Brittnacher, Hans Richard (1994): Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 117-180. die Baronesse auch die eigene Tochter verkuppeln. Die Baronesse verkörpert also nicht nur den Tod, sondern auch die Idee einer zügellosen Sexualität, deren Bedenklichkeit offensichtlich wird, wenn sie auch über die Unschuld der eigenen Tochter verfügen will - das Bild der halbnackten, greisenhaften Furie mit aufgelöstem Haar könnte so auch direkt einem Roman des Marquis de Sade entstammen. Aurelie wird schließlich Hyppolits Ehefrau und schwanger, aber verliert zunehmend an Lebenskraft, wird immer bleicher und kraftloser, „nimmt nicht das mindeste an Speise zu sich“, 16 vor allem Fleisch weist sie mit allen Zeichen des Abscheus zurück. Ein zur Hilfe gerufener Arzt erklärt den Zustand der jungen Frau mit der guten Hoffnung, in der sie sich befinde, und erzählt aus seiner medizinischen Praxis einige Gräuelgeschichten über das sonderbare Verhalten junger schwangerer Frauen, die oft „von den abnormsten Gelüsten“ 17 geplagt werden. Die Anekdoten aus der medizinischen Praxis wecken nicht nur Zweifel an der hippokratischen Sensibilität des behandelnden Arztes, son‐ dern bestätigen einmal mehr die These von Hoffmanns Misstrauen gegenüber Frauen, die, wenn sie schwanger werden, den Tod - oder auch den Teufel - im Leib tragen. Mit Aurelies Ängsten, dass die tote Mutter aus dem Grab heraus ihr nach dem Leben trachte, ist die Metaphorik des Vampirismus aufgerufen, die Vorstellung von lebenden Toten, die mittlerweile geläufig ist, zu Hoffmanns Zeiten aber gerade ihre erste Blüte erlebt hatte, von der übrigens auch schon Goethes Ballade Die Braut von Korinth zeugte. Die Idee von lebenden Toten wurde durch einige Vorfälle an der östlichen Peripherie des Habsburger Reiches aktiviert und führte zu medizinischen und militärstrategischen Interventionen: Geräusche aus Gräbern, unnatürlich gerötete Leichen mit postmortal gewachsenen Haaren und Nägeln, Gräbervandalismus und geöffnete Särge mit gepfählten Leichen avancierten bald zum populären Gesprächsstoff in den Salons der aufgeklärten Gesellschaft, der schließlich auch in der Literatur seinen Niederschlag fand. 18 Hoffmann kannte die einschlägige Literatur und mischte dort gefundene Lese‐ früchte offenbar mit anderen, vergleichbar sensationellen Anekdoten aus der medizinischen Literatur seiner Zeit, wo etwa die Rede von einer Frau war, die ein 176 Hans Richard Brittnacher <?page no="177"?> 19 Hoffmann, Vampyrismus, S.-1131. 20 Ausführlicher zum Zusammenhang von Vampirismus und weiblicher Psychopatho‐ logie Lauper, Anja (2011): Die phantastische Seuche. Episoden des Vampirismus im 20.-Jahrhundert. Zürich: Diaphanes. 21 Hoffmann, Vampyrismus, S.-1133. 22 Ebd., S.-1133f. solch unwiderstehlichen Gelüste nach dem Fleisch ihres Mannes [verspürte, HRB], daß sie nicht eher ruhte, als bis sie ihn einst, da er betrunken nach Hause kam, unvermutet mit einem großen Messer überfiel und so grausam zerfleischte, dass er nach wenigen Stunden den Geist aufgab. 19 Hoffmann greift mit seiner Erzählung also auf verbreitete und in Traktaten kolportierte Ängste seiner Zeit zurück. 20 Seine Erzählung bekräftigt schließlich auch den zunächst nur angedeuteten Verdacht Hippolyts, als ein „treuer Diener“ den Grafen von nächtlichen Ausflügen seiner Frau unterrichtet. Die unternehme sie, sobald ihr Gemahl - durch ein ihm unbemerkt beigebrachtes Mittel - in Tiefschlaf gefallen sei, und kehre erst im Morgengrauen wieder ins Schloss zurück. Je mehr sich die Erzählung ihrem Höhepunkt - und ihrem Ende - nähert, desto rasanter wird die Erzählung, die Ereignisse überschlagen sich geradezu. Die abschließenden Ereignisse nehmen nicht einmal eine Druckseite ein. Der Graf stellt sich schlafend, schleicht seiner Frau, die den Weg zum Friedhof eingeschlagen hat, nach und wird Zeuge einer schrecklichen Szene: Da gewahrte er im hellsten Mondesschimmer dicht vor sich einen Kreis furchtbar gespenstischer Gestalten. Alte halbnackte Weiber mit fliegendem Haar hatten sich niedergekauert auf den Boden, und mitten in dem Kreise lag der Leichnam eines Menschen, an dem sie zehrten mit Wolfesgier - Aurelie war unter ihnen! 21 Außer sich vor Entsetzen stürzt der Graf fort, versucht sich einzureden, Opfer seiner überhitzten Einbildungskraft gewesen zu sein, und setzt sich des anderen Morgens mit der vom nächtlichen Ausflug zurückgekehrten Aurelie zum Früh‐ stück. Als diese jedoch beim Anblick gekochten Fleisches angeekelt das Zimmer verlassen will, verliert der Graf die mühsam gewahrte Fassung: In wildem Grimm sprang er auf, und rief mit fürchterlicher Stimme: ‚Verfluchte Ausgeburt der Hölle, ich kenne Deinen Abscheu vor des Menschen Speise, aus den Gräbern zerrst du deine Ätzung, teuflisches Weib! ‘ Doch so, wie der Graf diese Worte ausstieß, stürzte die Gräfin laut heulend auf ihn zu, und biß ihn mit der Wut der Hyäne in die Brut. Der Graf schleuderte die Rasende von sich zur Erde nieder, und sie gab den Geist auf unter grauenhaftesten Verrenkungen. - Der Graf verfiel in Wahnsinn. 22 Tödliche Mütter - eine Obsession 177 <?page no="178"?> 23 Lessing hatte mit seinem Aufsatz Wie die Alten den Tod gebildet eine ikonographische Wende für die bis dahin übliche grässliche Darstellung des Todes als Gerippe mit Sense gefordert. 24 Hoffmanns, Vampyrismus, S.-1135. 25 Hoffmann, E.T.A. (1985): Der Sandmann. In: Ders.: Nachtstücke. E.T.A. Hoffmanns sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 3. Hrsg. von Hartmut Steinecke und Gerhard Allroggen. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag, 11-49, hier S.-13. 26 Vgl. Ziolkowski, Theodore (1992): Das Amt des Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen. Stuttgart: Klett Cotta. Und damit ist die Erzählung schon zu Ende. Sie zählt gewiss nicht zu Hoff‐ manns stärksten Arbeiten. Die Zurückhaltung der Forschung gegenüber diesem Text erklärt sich nicht nur aus einem philologischen Snobismus, der solche Schauerstücke nur pikiert zur Kenntnis nimmt, sondern auch aus der mitunter nachlässigen Diktion, in der sie geschrieben ist. Dem steht auf der anderen Seite eine erstaunliche Prägnanz der Bilder gegenüber, die in das seit dem Aufklärungszeitalter modulierte Sprechen über den Tod einen neuen Ton brachten. 23 Anders als der Vampir, eine vergleichs‐ weise diskrete Gestalt aus dem Pandämonium des Schreckens, zumeist ein im schwarzen Cape gekleideter Aristokrat mit der klassentypischen Noblesse seines Verhaltens, der mit zwei gespitzten Zähnen seinem Opfer durch zwei nadelkleine Bisswunden das Blut aussaugt, damit zwar den Tod beibringt, aber seinen Opfern offenbar auch unerhörte Wonnen der Qual bereitet, haben wir es bei Hoffmann eher mit der Darstellung von weiblichen Ghoulen zu tun, die menschliches Aas verzehren und mit kannibalischer Wut, mal Wölfen, mal einer Hyäne ähnlich, über ihr Opfer herfallen. Es liegt durchaus nahe, hier an Francisco de Goyas Bild vom Hexenflug zu denken: die Darstellung einer wüsten, fast deliranten Weiblichkeit, einer entfesselten Sexualität ohne jede Erotik, einer transgressiven Kreatürlichkeit, die sogar noch das Kannibalismus‐ tabu überbietet, wenn den alten Frauen - unter ihnen Aurelie! - das Fleisch verwesender Körper als Nahrung dient - als „Ätzung“, 24 was nicht nur an die Fütterung von jungen Raubvögeln denken lässt, sondern den mit Hoffmann vertrauten Leser auch an das Angstbild des kleinen Nathanael vom Sandmann erinnert, „der dem Eulennest im Halbmonde Kinderaugen zur Atzung holt.“ 25 Weniger drastisch, aber in ihrer mortifizierenden Energie nicht weniger effektiv ist die Gestalt der Mutter in Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun. Mit dieser Erzählung stellt sich Hoffmann in den Kontext einer fast schon protoromantischen Faszination am Bergbau und den Möglichkeiten seiner metaphorischen Ausdeutung. 26 Entscheidender Anlass für die Phantasien von einem Reich unvergänglicher Schönheit unter der Erde, gefährlich und reizvoll, war der Fund einer Leiche, der große Bedeutung für die Literaturgeschichte 178 Hans Richard Brittnacher <?page no="179"?> 27 Hoffmann, E.T.A. (2001): Die Bergwerke zu Falun. In: Die Serapionsbrüder, 208-240, hier S.-213. 28 Vgl. Schnyder, Peter: Die Bergwerke zu Falun (1819) (2015). In. E.T.A. Hoffmann-Hand‐ buch, 96-100, hier v.-a. S.-97. 29 Hoffmann, Falun, S.-211 gewinnen sollte: In den Kupfergruben des mittelschwedischen Falun wurde um 1719 die Leiche eines vierzig Jahre zuvor, kurz vor seiner Hochzeit verschütteten, Bergmanns gefunden. Das Kupfervitriol in einer Kaverne hatte ihn vollständig konserviert, er konnte daher noch von seiner vormaligen Braut identifiziert werden. Über den jugendlichen, aber starren und kalten Bräutigam und die alte, graue Braut, die immer noch voller Liebe den endlich wiedergefundenen Bräutigam in ihre Arme schließt, berichtet Schubert in seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft und Johann Peter Hebel mit seiner Kalen‐ dergeschichte Unverhofftes Wiedersehen. Vor dem Hintergrund dieser für sentimentale Bemächtigungen gewiss sehr empfänglichen Geschichte muss Hoffmanns Erzählung als kritische und inverse Intervention in die Stoffgeschichte verstanden werden, die nicht vom Glück wiedergefundener Liebe, sondern von einer fatalen, mütterlich induzierten Selbstvernichtung handelt. Die ödipale Grundsituation der Erzählung, die Traumatisierung des jungen Ellis durch den miterlebten Tod des Vaters bei einem Schiffsunglück, seine zuverlässige Heimkehr zur Mutter nach jeder Überseefahrt, um ihr seine „Dukaten in den Schoß“ zu werfen, 27 ist mit den Händen zu greifen. 28 Als Ellis nach der Rückkehr von einer erfolgreichen Ostindienfahrt vom Tod der Mutter in seiner Abwesenheit erfahren muss, ist er untröstlich: Statt wie die anderen Matrosen mit schwerem Bier und leichten Mädchen zu feiern, beklagt er abseits der fröhlich Feiernden sein Schicksal. Auch die liebevollen Bemühungen einer jungen Frau vermögen Ellis nicht aus seiner Trauer zu reißen - der mit Hoffmanns Frauenbild vertraute Leser wird in der „Dirne süß Gelispel“ 29 bereits den Sirenengesang erkennen, der sein Ende ankündigt. Trost wird ihm nur durch die Gestalt des Bergmann Torbern, der in einer suggestiven Rede von den Abenteuern und den Schätzen nicht der nächsten Seereise, sondern eines Lebens im Bauch der Erde, unter Tage, erzählt. Noch in derselben Nacht hat Ellis im Schlaf die Vision einer im Erz eingeschlossenen Eiskönigin, die mit der Stimme seiner Mutter nach ihm ruft: [A]ber bald immer tiefer mit dem Blick eindringend, erblickte er ganz unten - unzähliche holde jungfräulich Gestalten, die sich mit weißen glänzenden Armen umschlungen hielten […]. Ein unbeschreibliches Gefühl von Schmerz und Wollust ergriff den Jüngling, eine Welt von Liebe, Sehnsucht, brünstiges Verlangen ging auf Tödliche Mütter - eine Obsession 179 <?page no="180"?> 30 Ebd., S.-217. 31 Vgl. dazu Frank, Manfred (1996): Steinherz und Geldseele. Ein Symbol im Kontext. In: Das kalte Herz und andere Texte der Romantik. Ausgewählt und interpretiert von Manfred Frank. Frankfurt a.M.: Insel, 257-400. in seinem Innern. - »Hinab - hinab zu euch«, rief er und warf sich mit ausgebreiteten Armen auf den kristallenen Boden nieder. […] Ellis wollte sich entsetzen […], in diesem Augenblick leuchtete es auf aus der Tiefe wie ein jäher Blitz und das ernste Antlitz einer mächtigen Frau wurde sichtbar. […] Eine sanfte Stimme rief wie in trostlosem Weh seinen Namen. Es war die Stimme seiner Mutter. 30 An den folgenden Tagen wird er von Erinnerungen an die nächtliche Vision geplagt, hört immer wieder lockende und mahnende Stimmen, sieht die glän‐ zenden Reichtümer der unterirdischen Welt und den erotischen Zauber seiner Bewohnerinnen, der lächelnden Jungfrauen und ihrer ernsten Herrin. Er macht sich schließlich auf den Weg nach Falun, wo ihn der Anblick der Grubenöffnung zunächst abschreckt: als er aber vor dem ungeheuren Höllenschlunde stand, da gefror ihm das Blut in den Adern, und er erstarrte bei dem Anblick der fürchterlichen Zerstörung. […] Kein Baum, kein Grashalm sproß in dem kahlen zerbröckelten Steingeklüft, und in wunderlichen Gebilden, manchmal riesenhaften versteinerten Tieren, manchmal menschlichen Kolossen ähnlich, ragen die zackigen Felsenmassen ringsumher empor. Im Abgrunde liegen in wilder Zerstörung durcheinander Steine, Schlacken - ausge‐ branntes Erz, und ein ewiger betäubender Schwefeldunst steigt aus der Tiefe, als würde unten der Höllensud gekocht, dessen Dämpfe alle grüne Lust der Natur vergiften. Man sollte glauben, hier sei Dante herabgestiegen und habe den Inferno geschaut mit all seiner trostlosen Qual, mit all seinem Entsetzen. […] das schwarze Gestein, die bläulichen, roten Schlacken des Erzes schienen ihm abscheuliche Untiere, die ihre häßlichen Polypenarme nach ihm ausstreckten. […] Elis fühlte sich von tiefen Schauern durchbebt und, was dem Seemann noch niemals geschehen, ihn ergriff der Schwindel; es war ihm, als zögen unsichtbare Hände ihn hinab in den Schlund. Andere romantische Venuskultnovellen, etwa Tiecks Runenberg, Wilhelm Hauffs Das kalte Herz oder Eichendorffs Marmorbild, erklären die Leidenschaft der adoleszenten Helden für die dämonische Weiblichkeit im Inneren des Berges mit deren steinerner Gestalt, deren ewige Dauer sie von der Vergäng‐ lichkeit einer verwesenden, sterbenden Natur und einer sterbenden Liebe unterscheidet. 31 In der eisigen Königin unter Tage - und das ist die große Revision des romantischen Mythos von der dämonischen Venus im Erdinneren - entdeckt Ellis das Abbild, oder vielleicht richtiger, das Urbild seiner verlorenen 180 Hans Richard Brittnacher <?page no="181"?> 32 Hoffmann, Falun, S.-232. 33 Valk, Thorsten (2004): Die Bergwerke zu Falun. Tiefenpsychologie aus dem Geist romantischer Seelenkunde. In: Saße, G. (Hrsg.): Interpretationen. E.T.A. Hoffmann: Romane und Erzählungen. Stuttgart: Reclam, 168-181, hier S.-169f. 34 Hoffmann, Falun, S.-236. 35 Ebd., S.-237. 36 Ebd., S.-232. Mutter. Ellis erlebt die Begegnung mit ihr in einer erotischen Vision regressiver Auflösung: er sah die Jungfrauen, er schaute das hohe Antlitz der mächtigen Königin. Sie erfaßte ihn, zog ihn hinab, drückte ihn an ihre Brust, da durchzuckte ein glühender Strahl sein Inneres und sein Bewusstsein war nur das Gefühl, als schwämme er in den Wogen eines durchsichtig funkelnden Nebels. 32 Die Eismutter verheißt für Ellis, dem es war, „als schwämme er in den Wogen eines durchsichtig funkelnden Nebels“, - immerhin 100 Jahre vor Freud - das ozeanische Gefühl intrauterinen Glücks, den Abschied von einer quälenden Individuation und die erlösende Rückkehr in den Mutterleib: Während alle beweglichen Elemente in der geschauten Bergwerkswelt erstarren, glaubt Ellis sich restlos zerfließend aufzulösen. Hoffmann greift durchaus nach der von Novalis begründeten Tradition das Motiv des Seelenbergwerks auf, „versieht es jedoch mit einem gegensätzlichen Sinn“: 33 die Begegnung mit der Eiskönigin wird zur Begegnung mit dem Tod. Die Eisgöttin in Falun gehört zum Geschlecht von Mozarts Königin der Nacht, deren klirrender Sopran das Leben vereisen lässt. Während Ellis das Gefühl hat, im Gestein zu zerfließen, wird sein Ich, getroffen vom Anblick der Mutter wie mythische Helden vom Blick der Medusa, selbst zu Stein. Was hier noch Vision ist, wird bald, als Ellis im Bergwerksort Falun heimisch wird und schließlich auch die schöne Ulla heiraten will, tödliche Wirklichkeit. In der Nacht vor der Hochzeit fährt er nochmals ein, vorgeblich, um für die Braut einen „kirschrot funkelnden Almandin“ 34 zu bergen, tatsächlich, um in den Armen der Mutter zu sterben. Nach diesem Abschied kehrt er nicht mehr zurück, ein Erdsturz, so der lakonische Text, „habe den Unglücklichen im Gestein be‐ graben.“ 35 Ob der Text ihn zu Recht einen Unglücklichen nennt, sei dahingestellt, ist er doch an seinem Ziel angekommen, einer erotischen Symbiose mit dem dunkel lockenden Objekt seiner Sehnsucht. Schon zu Lebzeiten hatten ihn Bergleute, die den zeitweilig untertags vermissten Ellis suchten, „wie erstarrt stehend, das Gesicht gedrückt in das kalte Gestein,“ 36 aufgefunden. Es scheint, Ellis habe im Tod endlich gefunden, was er so lange suchte. Tödliche Mütter - eine Obsession 181 <?page no="182"?> Die Romantik ist von August Wilhelm Schlegel als ein Zeitalter der Entfremdung charakterisiert worden: Die Religion bietet keine metaphysische Zuversicht mehr, die optimistischen Prognosen der Wissenschaft schlagen fehl, die poli‐ tischen Hoffnungen scheitern, die behauptete Brüderlichkeit der Menschen zeigt sich als Chimäre, und das dem Menschen Nächste und Wärmste, die eigene Mutter, erweist sich als erstarrt, zu medusenhafter Schrecklichkeit entstellt. An die Stelle der Gotteskindschaft als tröstlicher Vergewisserung waren im Zeitalter einer aufklärungsinduzierten Entmachtung der Metaphysik die Mutter-Kind-Liebe und das die Mitglieder einer Gesellschaft einigende Band der Sympathie als zentrale Metaphern menschlicher Geborgenheit getreten. Dass der versteinernde Medusenblick als Metapher einer neuen, fundamentalen Verlassenheitserfahrung dient, dreht den Schrecken um eine Drehung weiter. Denn das Gorgonenhaupt - etwa in der kanonisch gewordenen Darstellung Caravaggios - wirft nicht nur dem Betrachter einen tödlichen Blick zu, vielmehr erscheint die Medusa selbst vom Anblick des Betrachters entsetzt - so sehr, dass Sie in namenlosem Schrecken, Augen und Mund aufgerissen, den Betrachter anklagt, den Tod zu bringen. Caravaggio bringt den Moment ins Bild, als Theseus, auch er ein listenreicher Held, den tödlichen Blick der Medusa auf seinem spiegelnden Schild ins Leere treffen lässt und sie hinterrücks enthauptet. Die ikonographische Karriere seiner Medusa-Darstellung verdankt sich aber nicht dem Triumph des listigen Theseus, sondern der Prägnanz des Entsetzens, das er hervorruft: Der Schrecken, das sind wir selbst. Eine Literatur, die sich diesen bodenlosen Einsichten stellt, die davor nicht kleinmütig in die Knie geht, sondern Auge in Auge mit dem Schrecken standhält - das ist die schwarzroman‐ tische Version des Erzählens, die in E.T.A. Hoffmann ihren Präzeptor gefunden hat. Literatur Arnold-De Simine, Silke (2005): Wiedergängerische Texte. Die intertextuelle Vernet‐ zung des Vampirmotivs in E.T.A. Hoffmanns Vampirismus-Geschichte. In: Bertschik, Julia / Tuczay, C.A. (Hrsg.) Poetische Wiedergänger. Deutschsprachige Vampirismus- Diskurse vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Tübingen: Narr, Francke, Attempto, 129-146. Barnickel, Claudia (2015): „Vampyrismus“ (1821). In: Lubkoll, C./ Neumeyer, H. (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler, 143-145. Brittnacher, Hans Richard (1994): Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 182 Hans Richard Brittnacher <?page no="183"?> Brittnacher, Hans Richard (2015): Das Phantastische/ Das Wunderbare. In: Lubkoll, C./ Neumeyer, H. (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler, 384-390. Brittnacher, Hans Richard/ May, Markus (Hrsg.) (2013): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler. Frank, Manfred (1996): Steinherz und Geldseele. Ein Symbol im Kontext. In: Das kalte Herz und andere Texte der Romantik. Ausgewählt und interpretiert von Manfred Frank. Frankfurt a.M.: Insel, 257-400. Hoffmann, E.T.A. (1985): Der Sandmann. In: Ders.: Nachtstücke. E.T.A. Hoffmanns sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd.-3. Hrsg. von Hartmut Steinecke und Gerhard Allroggen. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag, 11-49. Hoffmann, E.T.A. (2001): (Vampyrismus). In: Ders.: Die Serapionsbrüder. E.T.A. Hoff‐ manns sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 4. Hrsg. von Wulf Segebrecht u. Ursula Segebrecht. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1115-1134. Hoffmann, E.T.A. (2001): Die Bergwerke zu Falun. In: Die Serapionsbrüder, 208-240. Lauper, Anja (2011): Die phantastische Seuche. Episoden des Vampirismus im 20.-Jahr‐ hundert. Zürich: Diaphanes. Safranski, Rüdiger (1984): E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten. München: Hanser. Schnyder, Peter: Die Bergwerke zu Falun (1819) (2015). In: Lubkoll, C./ Neumeyer, H. (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler, 96-100. Valk, Thorsten (2004): Die Bergwerke zu Falun. Tiefenpsychologie aus dem Geist romantischer Seelenkunde. In: Saße, G. (Hrsg.): Interpretationen. E.T.A. Hoffmann: Romane und Erzählungen. Stuttgart: Reclam, 168-181. Ziolkowski, Theodore (1992): Das Amt des Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen. Stuttgart: Klett Cotta. Tödliche Mütter - eine Obsession 183 <?page no="185"?> Die Funktion phantastischer Frauengestalten in ausgewählten Texten E.T.A. Hoffmanns Lydia Schieth Zusammenfassung: E.T.A. Hoffmanns Erzählungen hatten vor allem beim weiblichen Lesepublikum großen Erfolg, obwohl seine Frauenfiguren nur selten ein außergewöhnliches Profil aufweisen. Mit der Konstruktion phantastischer „Gegenspielerinnen“ gelingt es Hoffmann in den Märchen Der Goldne Topf und Meister Floh sowie in der Erzählung Der Sandmann die Eindimensionalität des bürgerlichen Frauenleitbildes zu differenzieren. Schlüsselwörter: E.T.A. Hoffmann, Frauenleitbild, phantastische Frauen‐ figuren, Almanachliteratur, Emanzipation Abstract: E.T.A. Hoffmann’s stories were particularly successful among female readers, even though his female characters rarely have an extra‐ ordinary profile. With the construction of fantastic “opponent women”, Hoffmann manages to differentiate the one-dimensionality of the bour‐ geois women’s ideal in the fairy tales The Golden Pot and Master Flea, as well as in the story The Sandman. Keywords: E.T.A. Hoffmann, women’s ideal, fantastic female characters, almanac literature, emancipation <?page no="186"?> 1 Melzer, Ernst Friedrich (1974). Vossische Zeitung. Berlin, 18. November 1820, zitiert nach Schnapp, Friedrich (1974) E.T.A. Hoffmann in Aufzeichnungen seiner Freunde und Bekannten. München: Winkler, S.-549. 2 Die Verlagsbuchhändler Wilmans honorierten Hoffmann zusätzlich mit einer Kiste Wein. Seine Erzählung, so begründeten sie ihr Präsent im Begleitschreiben, „vermehrte den Absatz“. Brief vom 11.2.1820, zitiert nach E.T.A. Hoffmann (1985-2004). Sämtliche Werke in sechs Bänden, hg. von Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht. Hier Band 6 (2004): Späte Prosa. Briefe, Tagebücher und Aufzeichnungen. Juristische Schriften, Werke 1814-1822. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, S.-1282. 3 Brief an den Verleger, 4.10.1819, zitiert nach Schnapp (1974: 496). 4 Hoffmanns Popularität beweisen auch seine stetig steigenden Honorare. Stolz schrieb Hoffmann seinem Freund Friedrich Speyer: „[…] Übrigens zahlen mir jetzt die Buch‐ händler Honorare vor deren Klang Hr. Kunz - sofort rücklings über in Ohnmacht sinken würde--“. Brief vom 1.5.1820, Hoffmann (2004: 178). 5 Vgl. die Almanacherzählungen Der Artushof (Urania 1817), Spielerglück (Urania 1820), Datura fastuosa (Taschenbuch für das Jahr 1823. Der Liebe und der Freundschaft gewidmet). „Die Deutsche Lesewelt, besonders die schöne Hälfte derselben, betrachtet seit Jahren Hoffmanns phantastische Werke als die gelungensten neuen Erzeugnisse unserer romantischen Muse.“ 1 Die Feststellung des Rezensenten der Vossischen Zeitung unterstreicht die herausragende Bedeutung, die der Erzähler E.T.A. Hoffmann für das weibliche Lesepublikum Anfang des 19.-Jahrhunderts besaß. Spätestens seit der Veröffentlichung seiner Erzählung Das Fräulein von Scuderi im Taschenbuch für das Jahr 1820  2 hatte der Wettlauf um Beiträge Hoffmanns begonnen, wie der in Weimar lebende Kritiker und Herausgeber mehrerer Periodika, Stephan Schütze, hellsichtig erkannt hatte: „Ja - wenn nur an Hoffmann nicht so viel gelegen wäre! Eine gute Erzählung von ihm übertrifft-[…] alles, was-[…] in (den) Taschenbüchern zu lesen ist.“ 3 Die Verleger von Almanachen und Taschenbüchern - um 1800 die bevorzugte Lektüre von Frauen - umwarben Hoffmann, obwohl dieser sich selten an Termine hielt, Textabschnitte zu schicken vergaß und ohne Skrupel ständig um Vorschüsse bat. 4 Denn, obwohl das Agieren von Hoffmanns männlichen Helden die Leser‐ schaft oftmals irritierte, die von ihm entworfenen weiblichen Charaktere fügten sich exakt in das von den Herausgebern der Frauentaschenbücher gewünschte Schema ein. 5 Sie entsprechen im Wesentlichen dem Frauenleitbild der Spätaufklärung, das die weibliche Rolle in dem engen Kreis festlegte: die 186 Lydia Schieth <?page no="187"?> 6 Detailliert setzt sich Ina Henke mit den anthropologischen Entwürfen von Weiblich‐ keit um 1800 sowie mit den zeitgenössischen bzw. wissenschaftlichen Darstellungen dazu auseinander. Henke, Ina (2020). Weiblichkeitsentwürfe bei E.T.A. Hoffmann. Rat Krespel, Das öde Haus und Das Gelübde im Kontext intersektionaler Narratologie. Berlin/ Boston: De Gruyter. 7 Sie repräsentieren einen Frauentyp, dem Hoffmann während seiner Tätigkeit als Musikdirektor häufig begegnet ist. So stehen im Mittelpunkt der Erzählung Die Fermate (Frauentaschenbuch für das Jahr 1816) zwei selbstbewusste Sängerinnen; ausführlich und sehr fundiert beschreibt Hoffmann ihr Repertoire und ihr professionelles Auftreten, geht aber auch auf die vielfältigen psychischen und physischen Belastungen ein. 8 Vgl. Kremer, Detlef (Hrsg.) (2010). E.T.A. Hoffmann. Leben-- Werk-- Wirkung. Berlin/ Boston, ,2.-Aufl., S.-316-324. 9 Vgl. den Kommentar der Serapions-Runde, Hoffmann, Band-4 (2001: 853). 10 Steinecke, Hartmut (1997). Die Liebe des Künstlers. Männer-Phantasien und Frauen- Bilder bei E.T.A. Hoffmann. In: Hinderer, Walter (Hrsg.) Codierungen von Liebe in der Kunstperiode. Würzburg: Königshausen &. Neumann, 293-309, hier S.-307. Frau als willfährige Ehefrau, als tüchtige Hausfrau und Mutter, so wie es die Schriftstellerin Karoline von Wobeser 1795 in ihrem Bestseller Elisa oder das Weib, wie es sein sollte propagiert hat und das vor allem über Almanache und Taschenkalender transportiert wurde, die häufig einen Frauennamen im Titel trugen: Urania, Iris, Cornelia.  6 Nur selten weisen Hoffmanns Heldinnen ein außergewöhnliches Profil auf, sieht man von der Gruppe der professionellen Sängerinnen ab. 7 Auch bei der Titelheldin der zum Schulklassiker avancierten Detektivge‐ schichte 8 , dem „alten gelehrten Fräulein, das in der „Straße St. Honoré eine Art von Bureau d’esprit“ unterhielt, 9 hebt Hoffmann die als typisch weiblich gelobten Eigenschaften hervor: Empathie, soziales Engagement und Beschei‐ denheit. Den Leserinnen begegneten in Hoffmanns Geschichten also vor allem kon‐ ventionell gezeichnete Frauencharaktere, die wie sie selbst oftmals abhängig von männlichen Partnern sind. Doch sollte man sich davon nicht täuschen lassen: „Man hat nicht gesehen, dass bei Hoffmann die Stereotypen und Klischees vor allem deshalb so klar zutage treten, weil er sie bewusst zuspitzt, überspitzt, zitiert, parodiert. Die Intention eines solchen Verfahrens ist klar: die traditionellen Bilder sollen destruiert werden.“ 10 In einigen seiner Erzählungen nutzt Hoffmann eine besondere Möglichkeit, mit tradierten Weiblichkeitsmustern zu jonglieren, indem er eine weibliche Heldin, deren Name bereits - Veronika Paulmann, Clara, Röschen Lämmerhirt - ihre Zugehörigkeit zu einer bürgerlichen Realität signalisiert, mit einer außer‐ gewöhnlichen Gegenspielerin kontrastiert. Die phantastischen Frauenfiguren Die Funktion phantastischer Frauengestalten in ausgewählten Texten E.T.A. Hoffmanns 187 <?page no="188"?> 11 Zitiert nach Hoffmann, Band-2/ 1 (1993). Vgl. Kremer, Detlef (2010: 114-130). 12 Fühmann, Franz (1984). Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann München: dtv. 13 Vgl. Hoffmann (1993: 262). 14 Hoffmann (1993: 259). Serpentina aus dem Märchen Der goldne Topf, Olimpia aus der Erzählung Der Sandmann und Prinzessin Gamaheh alias Dörtje Elverdink aus dem Märchen Meister Floh überschreiten die Grenze des Realen. Ob es Hoffmann mit dieser Konstruktion gelingt, die Eindimensionalität des Frauenleitbildes zu relativieren bzw. es zu zerstören, dabei aber gleichzeitig die Erwartungen seiner weiblichen Leserschaft einzulösen, soll die folgende Analyse zeigen. Veronika oder Serpentina? Phantastische Liebe als Leerstelle Hoffmanns Märchen Der Goldne Topf (1814) 11 erzählt die Geschichte des Stu‐ denten Anselmus, der der Faszination der Schlange Serpentina erliegt und mit ihr in die Welt der Poesie flieht. Mit seinem Verschwinden kapituliert er auch vor dem selbstbewussten „Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt“, worauf erstmals der Schriftsteller Franz Fühmann hingewiesen hat. 12 Sorgfältig beschreibt Hoffmann seine Heldin. Da die Mutter früh verstorben ist, bleibt die Tochter des Konrektors Paulmann mit ihrer jüngeren Schwester ohne besondere weibliche Aufsicht. Ihr Vater und dessen Freund, der Registrator Heerbrand, behandeln sie als gleichwertig. Folglich weiß sie ihre Ansichten selbstbewusst darzulegen. Veronika hat ein klares Ziel vor Augen. Sie möchte eine angesehene gesellschaftliche Position, ähnlich wie ihre Freundin, die mit einem Offizier verlobt ist. 13 Das Urteil des Registrators Heerbrand, Anselmus habe eine besondere Karriere vor sich, lässt Veronika in „süße Träume von einer heitern Zukunft“ verfallen. 14 Die dialogische Anschaulichkeit, mit der der Erzähler die Phantasien des jungen Mädchens präsentiert, unterstreichen, wie genau er die Interessen seiner weiblichen Leserschaft kannte. Das Tragen modischer Kleidung, Schmuckgeschenke des liebevollen Gatten, Anweisungen an das Hauspersonal und vor allem gesellschaftliche Verpflich‐ tungen - mit diesen Wunschträumen konnten sich alle Leserinnen identifi‐ zieren, denn sie stimmten mit den Gemälden überein, wie sie in unzähligen Publikationen entworfen wurden. Soweit entspricht die Charakterisierung Veronikas Tradiertem. Auch ihr Plan „[…] der Anselmus ist verstrickt in wunderliche Bande, aber ich erlöse ihn 188 Lydia Schieth <?page no="189"?> 15 Hoffmann (1993: 268). 16 Hoffmann (1993: 267). 17 Hoffmann, (1993: 276). 18 Vgl. Hoffmann (1993: 277-282). 19 Hoffmann (1993: 279). 20 Hoffmann (1993: 280). 21 Hoffmann (1993: 278-281). 22 Hoffmann (1993: 297-300). 23 Hoffmann (1993: 311). 24 Hoffmann (1993: 313-f). daraus“ 15 , liest sich als wenig überraschende Absichtserklärung eines jungen verliebten Mädchens. Wie sie ihr Vorhaben umsetzt, ist allerdings ungewöhn‐ lich. Zunächst vereinbart Veronika mit einer Kartenleserin ein nächtliches Treffen, bei dem sie sich vom hexenmäßigen Auftritt der alten Frau nicht beeindrucken lässt. Diese entpuppt sich als ihre ehemalige Kinderfrau, die sich daran erinnert, dass Veronika immer schon ein „beherztes Kind“ gewesen sei. „[…]-und erschrecktest oft-[…] des Nachbarn Kinder.“ 16 In der siebten Vigilie - die Kapitelvorschau zitiert „Rembrandt und Höllen‐ breughel“ 17 - fügt Hoffmann dem Bild des braven Mädchens eine ungewöhn‐ liche Facette hinzu. Heimlich schleicht Veronika aus dem Haus und lässt sich auf ein fürchterliches nächtliches Spektakel ein. 18 Das hat nichts mehr mit ihrer Erfahrungswelt zu tun. Bei der ausführlichen Darstellung kommt der Erzähler seiner Figur ganz nah. Er schildert die Ängste Veronikas und fordert das Mitgefühl seiner Leser‐ schaft heraus. „Im weißen dünnen Nachtgewande“ 19 sieht das Mädchen dem schrecklichen Spuk der Alten zu. Der Erzähler lässt aber keinen Zweifel an der Fragwürdigkeit der magischen Sitzung, der sich „Veronika leichtsinnig“ 20 ausgesetzt hat. Er nimmt die Innensicht seiner Heldin ein: „[…] sie fühlte, wie der Anblick des […] Entsetzlichen […] sie in […] zerstörenden Wahnsinn stürzen könne.“ 21 Hier hat sich ein junges Mädchen in eine ihr bislang völlig fremde Welt begeben. Veronikas Grenzerfahrung hält an, wie das Geschehen rings um die Punsch‐ gesellschaft in der neunten Vigilie verdeutlicht. 22 In einem langwierigen Prozess über „[…] Wochen und Monate […]“ hinweg 23 verarbeitet Veronika die Geschehnisse. Erneut ergreift sie die Initiative. Ge‐ genüber Verlobtem und Vater gesteht sie freimütig: „[…] als der Registrator Heerbrand […] versicherte, der Anselmus könne es wohl zu […] was bringen, beschloss ich, er […] solle mein Mann werden. […] Ich gönne dem Anselmus herzlich sein Glück […] mit der grünen Schlange […] die viel schöner und reicher ist als ich.“ 24 Die Funktion phantastischer Frauengestalten in ausgewählten Texten E.T.A. Hoffmanns 189 <?page no="190"?> 25 Hoffmann (1993: 258). 26 Hoffmann (1993: 320). 27 Hoffmann (1993: 314). 28 Hoffmann (1993: 315). Einer Veronika Paulmann ist Anselmus nicht gewachsen, wie Franz Fühmann hellsichtig kommentiert. Fühmann (1984: 89). Veronikas Gegenspielerin, die grüne Schlange Serpentina, ist die jüngste Tochter des Magiers Archivarius Lindhorst. Der Held Anselmus ist ihr verfallen, seit er ihr unter einem Holunderbusch begegnet ist. Serpentinas „schnöder unchristlicher Name“, so der Kommentar eines Dresdener Bürgers, 25 verweist auf eine andere Form der Weiblichkeit; ihr Verwandlungstalent, ihre Taktik der Berührung und Verweigerung verwirren den jugendlichen Helden und am Ende erliegt Anselmus ihrer Faszination. Doch auch wenn Hoffmann für die Beschreibung ihrer Annäherungsversuche den tradierten erotischen Wortschatz plündert, gewinnt die Phantasiegestalt wenig Kontur, egal ob sie sich im Wasser oder zwischen den Palmen der Bibliothek bewegt. Serpentinas „hohe Schönheit und Anmut […]“ 26 variiert nur ein romantisches Zitat. Sie bleibt eine Männerphantasie. Auf ihren Vater, den alles dominierenden Archivarius Lindhorst, fixiert, kann sie keine besondere Eigenständigkeit gewinnen. Veronika dagegen kehrt um viele Erfahrungen gereifter in ihre bürgerliche Realität zurück. Sie entscheidet sich für den etablierten Herrn Heerbrand, den sie als eine „rechtschaffene Frau lieben […]“ will. 27 Ihr selbstbewusstes Bekenntnis unterstreicht der Kapitelschluss, die Erwartungen einer weiblichen Leserschaft ironisch einlösend: „Wenige Wochen nachher saß die Frau Hofrätin Heerbrand wirklich […] in dem Erker eines schönen Hauses […] und schaute […] auf die Elegants hinab, die vorübergehend […] sprachen: ‚Es ist doch eine göttliche Frau, die Hofrätin Heerbrand! ‘“ 28 Am Ende des Märchens nähern sich die beiden konkurrierenden Frauenbilder einander an. Sowohl Veronikas mutige Versuche, dem Helden eine bürgerliche Identität zu verpassen als auch Serpentinas erfolgreiche Strategie, ihren Vater zu retten, setzen eine Heirat voraus. Während der Held zwischen zwei Optionen wählen kann, bleibt es für die beiden weiblichen Hauptfiguren schlussendlich beim konventionellen Lebens‐ entwurf. Der Erzähler unterstreicht dies - wenn auch mit einem Augenzwinkern - mit dem Hinweis auf die patriachalische Autorität: Es sind die Väter, die Veronikas und Serpentinas Verhalten sanktionieren und in einer Heirat die einzige Möglichkeit sehen, sich ihrer Töchter zu „entledigen“. 190 Lydia Schieth <?page no="191"?> 29 Zitiert nach Hoffmann, Band-3 (1985). Vgl. Kremer (2010: 169-185). 30 Hoffmann (1985: 22). 31 Hoffmann (1985: 23). 32 Hoffmann (1985: 28). 33 Hoffmann (1985: 32-f.). Clara versus Olimpia-- Leben als Therapie Die Erzählung Der Sandmann (1816) 29 zählt zu den meistinterpretierten Texten Hoffmanns. Doch nur selten beschäftigten sich Kritiker und Wissenschaftler mit Clara, Nathanaels Verlobter. Clara lebt zusammen mit ihrem Bruder und Nathanaels Mutter. Nathanael und sie sind entfernte Verwandte und kennen sich schon viele Jahre. Eigen‐ ständig organisiert Clara den häuslichen Alltag, umsichtig plant sie die gemein‐ same Zukunft. Clara ist darüber hinaus nicht nur gebildet, sondern auch sehr empathisch. Das beweist ihr Antwortbrief auf den fehlgeleiteten schriftlichen Hilferuf Na‐ thanaels, mit dem die Erzählung einsetzt. Ihre Formulierungen charakterisieren sie als eine kluge junge Frau. Sie verlässt sich auf die Fachkompetenz männlicher Autoritäten und setzt sich ernsthaft mit Nathanaels Traumata auseinander. Detailliert beschreibt sie ihre Gefühle während der Lektüre. Immer wieder spricht sie ihn direkt an: „[…]-mein herzgeliebter Nathanael! “ 30 Clara ist aber auch mit den für Frauen geltenden rhetorischen Regeln bestens vertraut. Ihre eigenen Gedanken relativiert sie exakt mit den Formulierungen, die für die schreibenden Frauen ihrer Zeit so charakteristisch sind: Du merkst […] dass wir, ich und Bruder Lothar, uns […] über die Materie von dunklen Mächten […] ausgesprochen haben [… was mir] nachdem ich nicht ohne Mühe das Hauptsächlichste aufgeschrieben, ordentlich tiefsinnig vor-kommt. Lothars letzte Worte verstehe ich nicht ganz, ich ahne nur, was er meint […] 31 Die von Clara praktizierte Selbstbeschränkung ist umso auffälliger als der Erzähler ausführlich auf ihre besonderen intellektuellen Fähigkeiten eingeht: „Clara hatte […] einen scharf sichtenden Verstand.“ 32 Bereits diese Charakte‐ risierung deutet daraufhin, dass sie keine adäquate Partnerin für den melan‐ cholischen Nathanael, dessen dichterische Versuche sie kritisch kommentiert, sein kann. Nathanaels Reaktion lässt die Situation zwischen den Verlobten eskalieren 33 und lediglich Claras rasches Eingreifen verhindert ein Duell zwi‐ schen Nathanael und ihrem Bruder. Die anschließende Versöhnung überdeckt die Gegensätze nur kurzfristig. Nathanael fühlt sich von seiner Verlobten in seiner künstlerischen Entwicklung behindert. Wenn er sie deshalb als „lebloses, Die Funktion phantastischer Frauengestalten in ausgewählten Texten E.T.A. Hoffmanns 191 <?page no="192"?> 34 Hoffmann (1985: 32). 35 Hoffmann (1985: 38). 36 Hoffmann (1985: 43). 37 Hoffmann (1985: 49). 38 Vgl. dazu Auhuber, Friedhelm (1986). In einem fernen dunklen Spiegel. E.T.A. Hoff‐ manns Poetisierung der Medizin. Opladen, S.-71. verdammtes Automat“ 34 beschimpft, verweist das bereits auf seine spätere Fixierung auf die Kunstfrau Olimpia. Für Nathanael wird die Abhängigkeit von dieser Phantasiefigur zur Katastrophe. Konsequent stellt Hoffmann seinen Helden zwischen die beiden Frauen. Olimpia, als Karikatur der „höheren Tochter“ gezeichnet, verfügt über ein perfektes Outfit, tanzt und singt wie eine Maschine und „spielte den Flügel mit großer Fertigkeit“. 35 Indem Hoffmann weibliche Talente am Beispiel einer Automate ad absurdum führt, übernimmt er quasi stellvertretend für seine Leserinnen die Kritik an der schablonenhaften Ausrichtung junger Mädchen auf ihre künftige Rolle. Für Nathanael entscheidend ist Olimpias intellektuelle Passivität. „[…]-noch nie hatte er eine solche herrliche Zuhörerin gehabt.“ 36 Doch Nathanaels Fixierung endet mit einem Gewaltausbruch, nachdem Olimpia vor seinen Augen von ihren zweifelhaften Schöpfern zerstört wird. Nach einer scheinbaren Heilung versucht Nathanael, seine Verlobte Clara zu töten. Der Anschlag misslingt, Nathanael stürzt sich in den Tod und der von Clara anvisierte Entwurf eines bürgerlichen Lebens ist damit endgültig gescheitert. Stellt das vom Erzähler vage formulierte Ende der Geschichte für Clara eine Lösung dar? Nach mehreren Jahren will man in einer entfernten Gegend Clara gesehen haben, wie sie […] vor der Türe eines schönen Landhauses saß und vor ihr zwei muntre Knaben spielten. Es wäre daraus zu schließen, dass Clara das ruhige häusliche Glück noch fand […] das ihr der im Innern zerrissene Nathanael niemals hätte gewähren können. 37 Viele Interpreten halten diesen Schluss für unwichtig. Mit Nathanaels dramati‐ schem Ende habe Hoffmann die Leserschaft für die Probleme psychisch kranker Menschen sensibilisieren wollen. Die quasi „angehängte Idylle“, die Claras Zukunft beschreibt, sei irrelevant. 38 Man kann aber in der Skizzierung von Claras weiterem Schicksal auch ein deutliches Signal, den Beweis für die Stärke eines weiblichen Charakters sehen. Nathanael ist es nicht gelungen, seine Verlobte zu vernichten. Hoffmann, der stets seine Leserinnen im Blick hatte, lässt Clara, eine der wenigen souveränen Frauen im Werk Hoffmanns, überleben. Nach mehreren Jahren befreit sie sich 192 Lydia Schieth <?page no="193"?> 39 Hoffmann (1985: 49). 40 Zitiert nach Hoffmann, Band-6 (2004). 41 Vgl. dazu Kremer (Hrsg.). (2010: 378-393). 42 Vgl. Hoffmann (2004: 334-f.). 43 Hoffmann (2004: 354). 44 Hoffmann (2004: 359). 45 Vgl. Hoffmann (2004: 337-f.). von der schrecklichen Erfahrung und gründet eine Familie, mit einem, wie es ausdrücklich heißt, „freundlichen Mann“. 39 Dörte contra Röschen - Heirat als Ankunft in der Realität Ursprünglich sollte das Märchen vom Meister Floh (1822) 40 im Frauentaschen‐ buch der Gebrüder Wilmanns erscheinen. Im Mittelpunkt der Geschichte steht der vermögende Frankfurter Kaufmannssohn Peregrinus Tyß. Zwei weibliche Figuren, Dörtje Elverding, alias Prinzessin Gamaheh und Röschen Lämmerhirt konkurrieren um seine Gunst. Die juristischen Auseinandersetzungen um die Veröffentlichung des Mär‐ chens haben lange Zeit den Blick auf die weiblichen Akteure verstellt. 41 Doch vor allem Dörtje Elverding dominiert das Geschehen. Sie ist eine zwischen Realität und Phantastik changierende, permanent zwischen den verschiedenen Ebenen des Märchens wechselnde Figur. Aus dem märchenhaften Famagusta stammend, ist sie, die phantastische Prinzessin Gamaheh 42 , von Anfang an ein Objekt männlicher Begierde. Ihre Attraktivität zeigt sich an der Liste ihrer Liebhaber. Dazu zählt u. a. auch der Meister Floh: „Ich […] wurde augenblicklich so entsetzlich verliebt in sie, dass ich […] nur in der Wonne lebte, auf dem […] schönsten Busen umherzuhüpfen-[…]“ 43 Alle Energie des Helden Peregrinus Tyß konzentriert sich zunächst auf sie, selbst wenn er tapfer bekennt: „[…] nichts ist gefährlicher als die Verlockung der Weiber […]“. 44 Doch die erotische Anziehungskraft der Dörtje Elverding beschleunigt den Entwicklungsprozess des Helden. Dass die Figur der Schönen nicht eindeutig der Realität zugeordnet werden kann, relativiert die raffinierten Verführungsversuche und macht sie auch für ein weibliches Publikum annehmbar. Trotzdem ist Dörtje keine dämonische Femme fatale. Nicht sie manipuliert, sondern sie ist das Opfer männlicher Gewalt, eine wissenschaftliche Erfindung. 45 Bereits als phantastische Prinzessin Gamaheh war sie in Famagusta heftigen Attacken ausgesetzt, wurde entführt, verletzt, „ausgesaugt“. Die Funktion phantastischer Frauengestalten in ausgewählten Texten E.T.A. Hoffmanns 193 <?page no="194"?> 46 Hoffmann (2004: 342). 47 Hoffmann (2004: 332-f.). 48 Hoffmann (2004: 376). 49 Hoffmann (2004: 445). 50 Vgl. z.-B. Motte Fouqué, Friedrich de la (Hrsg.). Frauentaschenbuch. Nürnberg: Johann Leonhard Schrag. Mehr noch: Als „schöne Holländerin“ 46 beutet sie ihr sogenannter Onkel, der Flohzirkusdirektor Leuwenhöck, aus ökonomischen Interessen aus. „Wer gab euch das Recht, die arme Dörtje einzusperren wie eine Sklavin und dann wieder […] sie […] auszustellen wie ein naturhistorisches Wunder? “ 47 , klagt ihr Geliebter, George Pepusch, an. Und damit nicht genug! Der Jurist Hoffmann wirft auch ein Schlaglicht auf die Gefährdung der Frau in der Öffentlichkeit. Weil der Held der Entführung einer Prinzessin beschuldigt wird, nehmen die Behörden die Verfolgung auf. Bei der Beweisaufnahme werden die Aussagen eines Nachbarn sowie eines Wächters im Protokoll festgehalten. Doch „Auf die Frage, warum sie denn dem bedrängten Frauenzimmer nicht zu Hilfe geeilt, erwiderten sie, solches sei ihnen nicht eingefallen.“ 48 Allmählich begreift Peregrinus Tyß, dass die erotische Phantasiegestalt der schönen Dörtje nur wenig mit seiner Lebenswirklichkeit zu tun hat. Im Schlusskapitel des Märchens erscheint deshalb ihre Gegenspielerin: Röschen Lämmerhirt, aus deren Antlitz „jenes zarte Geheimnis jungfräulicher Reinheit“ 49 leuchtet. Ihr Porträt wirkt wie aus einem der Frauentaschenbücher, für die Hoffmann Beiträge geliefert hat. 50 Sie ist bescheiden, anpassungsfähig und eine fleißige Mitarbeiterin im Hand‐ werksbetrieb ihres Vaters. Sie wächst in einer trotzt Armut glücklichen Familie auf. Während Dörtje Elverding alias Prinzessin Gamaheh ein phantastisches Konstrukt darstellt, begegnet der Leserschaft mit Röschen Lämmerhirt ein realistischer Charakter, fest verankert in einem traditionellen Milieu. Kein Wunder, dass der Held, inzwischen in der bürgerlichen Realität angekommen, sie schließlich als Braut erwählt. Der Märchenschluss vermittelt wieder zwischen den beiden gegensätzlichen weiblichen Charakteren, denn sowohl Dörtje als auch Röschen gehen eine eheliche Verbindung ein. Die Hochzeit der beiden Paare veranlasst den Erzähler, sich augenzwinkernd an sein weibliches Publikum zu wenden: „Gern überlasse ich es […] den schönen 194 Lydia Schieth <?page no="195"?> 51 Hoffmann (2004: 465). 52 Hoffmann (2004: 465-f.). 53 Vgl. Steinecke (1997: 307). Leserinnen, den Anzug der beiden Bräute so zu ordnen, wie das Bild davon ihrer Fantasie gerade vorschwebt.“ 51 Doch während der Erzähler für Peregrinus Tyß und sein Röschen ein idyllisches Familienleben imaginiert, berichtet er ebenso konsequent vom Pflanzentod Dörtje Elverdinks und George Pepuschs, die ins Märchenreich Famagusta zurückgekehrt sind. 52 Zusammenfassung In den drei Erzählungen Der goldne Topf, Der Sandmann und Meister Floh um‐ kreist Hoffmann das für ihn zentrale Thema der Vermittlung zwischen der realen Alltagswelt und einer poetischen Wunderwelt. Im Mittelpunkt der Handlung zieht ein sensibler junger Mann das Interesse unverheirateter Mädchen auf sich: Veronika Paulmann, Clara, Röschen Lämmerhirt - diese sehr profanen Namen verweisen klar auf ihre bürgerliche Herkunft und damit auf das von ihnen anvisierte Ziel: soziale Absicherung durch Ehe. Alle drei konkurrieren mit einem Wesen aus einer scheinbar anderen Wirk‐ lichkeit. Die phantastischen Frauenfiguren Serpentina, Olimpia und Dörtje Elverding alias Prinzessin Gamaheh konzentrieren auf geheimnisvolle Weise alle Aufmerksamkeit auf sich und provozieren skurrile Situationen, um den Held in eine irreale Welt zu entführen. Während die bürgerlichen Protagonistinnen ihr Vorhaben sehr direkt und im Rahmen tradierter weiblicher Rollenmuster verfolgen, werden diese Bemü‐ hungen zunächst von ihren phantastischen Gegenspielerinnen konterkariert. Doch deren Trümpfe - erotische Ausstrahlung, äußerliche Attraktivität bzw. Passivität - variieren lediglich Klischees weiblicher Existenz. Auch die Ver‐ treterinnen aus Atlantis, Famagusta bzw. dem Techniklabor des Professors Spalanzani verlassen den Frauen zugestandenen Rahmen nicht, auch sie bleiben stets auf eine männliche Figur fixiert. Hoffmann setzt die Phantasiewesen ein, um einzelne Aspekte des traditio‐ nellen weiblichen Rollenbildes zu kritisieren bzw. karikieren, er nutzt sie nicht, um seiner weiblichen Leserschaft echte Emanzipation vorzuführen. 53 Die Funktion phantastischer Frauengestalten in ausgewählten Texten E.T.A. Hoffmanns 195 <?page no="196"?> Literatur Auhuber, Friedhelm (1986). In einem fernen dunklen Spiegel. E.T.A. Hoffmanns Poetisie‐ rung der Medizin. Opladen: Westdeutscher Verlag. Fühmann, Franz (1984). Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann München: dtv. Henke, Ina (2020). Weiblichkeitsentwürfe bei E.T.A. Hoffmann. Rat Krespel, Das öde Haus und Das Gelübde im Kontext intersektionaler Narratologie. Berlin/ Boston: De Gruyter. Hoffmann, E.T.A. (1985-2004). Sämtliche Werke in sechs Bänden. Steinecke, Hartmut/ Segebrecht, Wulf (Hrsg.). Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag. Kremer, Detlef (Hrsg.) (2010). E.T.A. Hoffmann. Leben - Werk - Wirkung. Berlin/ Boston: De Gruyter. 2. Aufl. Melzer, Ernst Friedrich (1820). Vossische Zeitung. Berlin, 18. November 1820, zitiert nach Schnapp, Friedrich (1974), 549. Motte Fouqué, Friedrich de la (Hrsg.). Frauentaschenbuch. Nürnberg: Johann Leonhard Schrag. Schnapp, Friedrich (1974). E.T.A. Hoffmann in Aufzeichnungen seiner Freunde und Bekannten. München: Winkler. Steinecke, Hartmut (1997). Die Liebe des Künstlers. Männer-Phantasien und Frauen- Bilder bei E.T.A. Hoffmann. In: Hinderer, Walter (Hrsg.) Codierungen von Liebe in der Kunstperiode. Würzburg: Königshausen & Neumann, 293-309. 196 Lydia Schieth <?page no="197"?> Bertolt Brechts Faszination für die magische Anziehungskraft der Heldin Okichi Ana Muñoz Gascón Zusammenfassung: Die Judith von Shimoda ist ein unbekanntes Werk von Bertolt Brecht. Der deutsche Literaturwissenschaftler Hans Peter Neureuter entdeckte das Stück, als er Zugang zum Nachlass der finnischen Schriftstellerin Hella Wuolijoki erhielt, die als enge Freundin von Brecht während seines Exils im Jahr 1940 galt. Die Wahl fiel auf dieses Stück, da es sich bei Die Judith von Shimoda um ein sehr zeitgemäßes Werk handelt. Die Protagonistin setzt sich unter anderem für ihre weibliche Würde, ihre Menschenwürde und die kulturelle Bedeutung der Geisha in der japani‐ schen Gesellschaft ein. Ausgehend von der feministischen Literaturkritik wird das gesellschaftliche und das menschliche Wesen der Figur Okichi analysiert und es wird herausgearbeitet, dass die Protagonistin Okichi eine legendäre Frau ist. Schlüsslwörter: Orientalismus, Japonisme, Nachlass, fernöstliche Frau, deutsch-japanische Beziehungen Abstract: Shimoda Judith is one of the lesser-known works by Bertolt Brecht. German scholar Hans Peter Neureuter discovered this treasure as he digged into finish writer Hella Wuolijoki, who was Brecht,s close friend during his exile in 1940. This piece was chosen due to its relevance with regard to the current socio-political climate and context in which presentday woman lives immersed. Particularly focusing on the topic of dignity, both of woman and persons in general, this piece explores the cultural values of Okichi, a Japanese geisha. Based on feminist literary criticism, the social and the human image of Okichi's character is analyzed as the legendary woman she is. Keywords: orientalism, Japonisme, posthumous writings, Asian women, Germany-Japan relations <?page no="198"?> 1 Brecht, Bertolt (2006). Die Judith von Shimoda Frankfurt am Main: Suhrkamp. In der spanischen Übersetzung: Brecht, Bertolt (2010). La Judith de Shimoda. Madrid: Alianza Editorial. Aus dem Deutschen übersetzt von Carlos Fortea. 2 Für eine Einführung und Interpretation des Werkes, siehe Iwabuchi, Tatsuji (2003). Die Judith von Shimoda - Brechts Bearbeitung eines modernen japanischen Dramas. In: Keim, Katharina/ Boenisch, Peter M./ Braunmüller, Rob (Hrsg.) Theater ohne Grenzen. Festschrift für Hans Peter Bayerdörfer. München: Herbert Utz Verlag, 43-49. Brecht in Exil ist ein zentrales Anliegen von H.P. Neureuter gewesen. Siehe dazu: Hans Peter (2006). Brecht in Finnland. Studien zu Leben und Werk 1940-1941. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 3 Vgl. Marumoto, Takashi (1982). La historia de la extranjera Okichi a la Judith de Shimoda. In: Informe de Investigación de la Universidad de Ibaraki, 21-49. Einleitung Die Judith von Shimoda  1 ist ein unbekanntes Schauspiel von Bertolt Brecht, das im Jahr 2006 erstmals im Suhrkamp Verlag erschien. Die spanische Übersetzung wurde Ende 2010 mit dem Titel „La Judith de Shimoda“ bei Alianza Editorial veröffentlicht. Der deutsche Literaturwissenschaftler Hans Peter Neureuter hatte das Werk vier Jahre zuvor entdeckt, als er Zugang zum Nachlass der finnischen Schriftstellerin Hella Wuolijoki erhielt, die als enge Freundin von Bertolt Brecht während seines Exils im Jahr 1940 galt. 2 Das Werk ist eine Neubearbeitung des Stücks „Chink Okichi“  3 des japani‐ schen Dramatikers Yamamoto Yūzō, für das Brecht beinahe unmittelbar nach seiner Veröffentlichung die Rechte erwarb. Yamamotos Werk handelt von einer historischen Figur, die durch ihre Opferbereitschaft berühmt wurde. Der Verfasser widmet seine Aufmerksamkeit der Heldin nach ihrer Heldentat. Für das europäische Publikum ist das Werk lediglich eine Biografie, deren Wert es nicht zu schätzen weiß. Brecht hingegen hat den Text von Yuzo gekürzt, Schau‐ plätze verändert, neue Szenen eingebaut und neue Figuren hinzugefügt, die die leidvollen Schicksalsschläge der Protagonistin verdeutlichen. Den anfänglichen Widerstand Okichis gegen das Ansinnen der Machthaber übernimmt Brecht von Yamamoto. Im Folgenden wird der historische und politische Rahmen, in dem das Stück spielt, dargelegt, um im Anschluss daran die Figur der Okichi aus gesellschaftlicher und menschlicher Sicht zu analysieren. Historischer Kontext Das Werk spielt in der unruhigen Meiji-Periode, einer Zeit, in der Japan versuchte, mit dem Fortschritt der ausländischen Mächte Schritt zu halten. Die Handlung findet zwischen 1856 und 1876 statt und erstreckt sich somit 198 Ana Muñoz Gascón <?page no="199"?> 4 Vgl. Hartmann, Rudolf (1966). Geschichte des modernen Japan. Von Meiji bis Heisei. Berlin. über einen Zeitraum von 20 Jahren. Die Meiji-Ära bildete den soziokulturellen Kontext, in dem Nitobe Inazo, Mori Ogai, Fukuzawa Yukichi, Futabatei Shimei, Natsume und andere Intellektuelle, Juristen und Kulturvermittler zwischen Ost und West aufwuchsen und ausgebildet wurden. Sie wirkten aktiv an der beeindruckenden Modernisierung Japans nach der Meiji-Restauration mit. Japan machte einen rasanten Wandel durch, nachdem die Amerikaner unter dem Kommando von Commodore Perry 1853 in der Bucht von Edo im Hafen Uraga anlegten und das Land von den Schwarzen Schiffen der Amerikaner gezwungen wurde, seine Grenzen nach mehr als zwei Jahrhunderten der Isola‐ tion zu öffnen. 4 Dieses Ereignis stellte eine enorme politische und militärische Erniedrigung dar, war aber gleichzeitig auch ein Anstoß für die Modernisierung des Landes in allen Bereichen. Im Jahr 1854 wurde ein Freundschaftsvertrag unterzeichnet, ein bilaterales Abkommen zwischen den beiden Ländern, das als Vertrag von Kanagawa bekannt ist. Townsend Harris war der erste Konsul der Vereinigten Staaten. Ihm gelang es, einen Handelspakt zu schließen, dessen Inhalt ähnlich wie frühere bilaterale Verträge mit China recht einseitig abgefasst waren, nämlich immer zum Vorteil der Amerikaner. Auf dieses Jahrzehnt der Öffnung zur Außenwelt folgte jedoch ein Jahrzehnt des Rückschritts, in dem eine Gruppe von Intellektuellen einen radikalen Umschwung zum Nationalismus vollführte. Die klassische Literatur, die Poesie von Matsuo Bashō und der klassische ästhetische Kanon wurden als alleingültig angesehen. Darauf folgte eine neue, gemäßigtere Orientierung hin zur Verwest‐ lichung unter Beibehaltung der typisch japanischen kulturellen Werte. Okichi, die weibliche Hauptfigur Die japanische Protagonistin heißt Tôjin Okichi, eine wunderschöne Geisha, die sich für ihr Dorf Shimoda aufopfert, indem sie in den Dienst der amerikanischen Diplomaten begibt und insbesondere dem Konsul Townsend Harris zur Seite steht. Gleichzeitig wird sie jedoch auch Opfer der heimlichen politischen Ma‐ chenschaften des japanischen Nationalismus. Die Lebensumstände von Konsul Harris sind äußerst schwierig, als er im September 1856 in Shimoda eintrifft. Verzweifelt wegen der Isolation, der er ausgesetzt war, droht er mit Krieg, sollten seine Forderungen nicht erfüllt werden. Unter anderem fordert er die Entsendung Okichis, die ihm als persönliche Assistentin zur Seite stehen soll. Während der gesamten Geschichte gelingt es Okichi nie, die geschickt Bertolt Brechts Faszination für die magische Anziehungskraft der Heldin Okichi 199 <?page no="200"?> 5 Stephan, Inge (1983). Bilder und immer wieder Bilder. Überlegungen zur Untersuchung von Frauenbildern in männlicher Literatur. In: Stephan I./ Weigel (Hrsg.) S. Die ver‐ borgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Berlin: Argument, 15-34, hier S.-26. eingefädelten Intrigen der obersten Machthaber zu durchschauen. Auf der einen Seite lehnt sie den Kontakt mit Ausländern ab, obwohl sie von der traditionellen antiwestlichen Propaganda unter Druck gesetzt wird. Als sie jedoch schließlich einwilligt, geschieht dies auf Drängen der ungläubigen japanischen Diplomaten. Mit der Unterzeichnung des Freundschafts- und Handelsvertrags (1858), auch Harris-Vertrag genannt, der die Einrichtung eines Handelskanals zwischen Japan und den Vereinigten Staaten vorsieht, ist ihr Altruismus zwar nicht ver‐ gebens. Dennoch findet die arme Okichi kein gutes Ende, denn das unwissende Volk verachtet sie und die alten politischen Machthaber bereichern sich auf ihre Kosten und machen Karriere. Letztendlich sieht sich die Geisha Okichi zu zwei revolutionären und im damaligen Japan verbotenen Handlungen gezwungen: Sie tritt in Kontakt mit den Weißen und bringt dem kranken Konsul Kuhmilch. Nachdem alle ihr Ziel erreicht haben, wird sie wegen ihres Verrats verstoßen und selbst von den Menschen im Stich gelassen, die sie um Hilfe gebeten hatten. Sie ist gekränkt und gedemütigt und fordert die moralische Anerkennung, die sie ihrer Meinung nach verdient. Trotz des zeitlichen und räumlichen Rahmens der Handlung ist das Werk angesichts der Art und Weise, wie Okichi ihre weibliche Würde und ihre Menschenwürde einfordert, äußerst zeitgemäß. Das soziale und menschliche Wesen Okichis Der feministischen Literaturkritik zufolge wird das soziale Wesen einer weibli‐ chen Figur durch die Auswirkungen der Über- oder Unterordnung der Frau ge‐ genüber dem Mann innerhalb des vom Autor entworfenen Gesellschaftsmodells bestimmt: „Die vorgestellten vier Forschungsansätze, der ideologiekritische, der sozialpsychologische und psychoanalytische, der sozialgeschichtliche und der matristisch-mythengeschichtliche, unterscheiden sich nicht nur […] in ihren methodischen Orientierungen und Verfahrensweisen, sondern auch in ihrer jeweiligen Definition des Begriffs „Frauenbild“. 5 Auf der anderen Seite ist das soziale Wesen einer weiblichen Figur durch eine Reihe von Parametern gekennzeichnet, wie z. B. Weiblichkeit, Aufopferung und das Dilemma der Protagonistinnen zwischen der Zweckmäßigkeit und dem Aufgeben ihrer persönlichen Ziele. Dies führt zu verschiedenen und 200 Ana Muñoz Gascón <?page no="201"?> 6 Vgl. Klapdor, Heike. (1982). Heldinnen. Überlegungen zu den Frauengestalten der deutschen Exildramatik 1933-1945. In: Lühe, Irmela von der (Hrsg.) Entwürfe von Frauen in der Literatur des 20.-Jahrhunderts. Berlin: Argument-Verlag, 86-105. 7 Brecht (2006: 25). Zu der japanischen Frau und ihre historische Rolle, siehe Barlés, Ba‐ guena, Elena/ Almazán, Tomás, V. (2008). La mujer japonesa: realidad y mito. Zaragoza: Prensas de la Universidad de Zaragoza. 8 Brecht (2006: 31). 9 Brecht (2006: 27). 10 Brecht (2006: 95). 11 Brecht (2006: 96). unterschiedlichen Frauenbildern, 6 wie z. B. die Hausfrau, die rebellische Frau, die Neue Frau oder die Frau als Opfer. Die Frau in Brechts Werk erfüllt eine doppelte gesellschaftliche Funktion: Zum einen steht sie für ein historisch-gesellschaftliches Frauenbild und zum anderen für ein sehr wichtiges kulturelles Frauenbild, verkörpert durch die Protagonistin Okichi. Im Stück verteidigt Okichi ihre kulturelle Rolle als Geisha mit Eleganz, Kultiviertheit und Raffinesse, indem sie sich als Repräsentantin des idealen japanischen Schönheitsbildes darstellt und insbesondere ihre Fähig‐ keiten hervorhebt: Ich bin keine Dienstmagd, ich bin eine Sängerin. Ich werde mein Mädchen schicken. 7 Absolut beispielhaft ist jedoch die Feinfühligkeit der Protagonistin in Brechts Stück. Okichi äußert ihre Sorge über eine mögliche Bombardierung der Stadt: […] Der Vertrag muss geschlossen werden. Sonst wird Shimoda von den sieben Schlachtschiffen bombardiert] 8 , sollte sie den Forderungen des amerikanischen Konsuls nicht nachgeben: Aber das können sie doch nicht, einfach die Stadt beschießen. […] Aber all die Leute! Die Häuser! Die Kinder! 9 Letztendlich kommt sie den Wünschen des Konsuls nach und wird im Gegenzug von den Menschen, die sie angefleht haben, ihre Stadt zu retten, verstoßen und im Stich gelassen. Gekränkt und gedemütigt fordert sie ihre moralische Anerkennung und will der Welt das jämmerliche Ende der Nationalheldin sowie die ungerechte Behandlung von Frauen in ihrem Land vor Augen führen: […] Jetzt will ich der Welt zeigen […] wie ihr die Frauen behandelt in diesem Land. 10 Okichi verliert durch die gesellschaftliche Verachtung und den Verlust ihres Selbstwertgefühls an Ansehen: […] Dann tretet doch auf mich drauf. Für euch Männer ist eine Frau ohnehin nichts anderes als Staub und Schmutz […] 11 Es ist nur gerecht, dass Saito, männliche Figur und Polizeibeamter, den großen Dienst, den Okichi für die Regierung geleistet hat, hervorhebt und erklärt, dass es ein Fehler wäre, ausschließlich auf ihre Trunksucht zu schauen und sie fallen zu lassen. […] aber sie hat unserer Regierung einen sehr großen Dienst erwiesen. Bertolt Brechts Faszination für die magische Anziehungskraft der Heldin Okichi 201 <?page no="202"?> 12 Brecht (2006: 91). 13 Brecht (2006: 51-52). 14 Brecht (2006: 35). 15 Brecht (2006: 35-36). Es wäre meines Erachtens falsch, nur auf ihre Trunksucht zu sehen und sie deswegen fallenzulassen. 12 Okichi lehnt dennoch seine Hilfe und sein Geld ab. Okichi verkörpert den Prototyp der rebellischen Frau, die sich gegen die Männer durchsetzt und sich sogar mit den politischen Machthabern anlegt und alle kritisiert: Alle Männer sind schäbig, Japaner wie Ausländer. […] Männer sind widerlich. 13 Die Figur von Brecht verkörpert außerdem den Prototyp der gefallenen Frau, die aufgrund ihrer sozialen Situation und des Scheiterns der Liebesbeziehung mit ihrem Partner Tsurumatsu emotional den Halt verliert, leidet und schließlich Selbstmord begeht. Okichi kann es nicht ertragen, dass ihr zukünftiger Ehemann Tsurumatsu in ihrem Namen Entscheidungen trifft und sie für seine eigenen Interessen und zur Steigerung seiner Macht und gesellschaftlichen Anerkennung opfert: […] Ich bin ein Lump, das meinst du doch? […] Eine eigene Werkstatt ist nicht zu verachten in diesen Zeiten. Okichi, tu es, tue es meinetwegen, geh wenigstens für eine Woche […]. 14 Sie ist eine Frau, die ein Opfer ihrer Situation geworden ist. Am Ende entscheidet sich Okichi dafür, dem amerikanischen Konsul zu dienen - aus moralischer Überzeugung und weil sie, wie sie selbst sagt, gutherzig und menschlich sei: […] […] Okichi ist ein ganz guter Name […] Wenn ich zu den Ausländern gehe, gehe ich, damit Shimoda nicht bombardiert wird, wo ich aufgewachsen bin […]. 15 Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Okichi zwei Seiten derselben Me‐ daille repräsentiert. Ihre Figur vereint wahrhaft widersprüchliche Eigenschaften in sich: Tradition und Moderne, Menschlichkeit und Rebellion, Zerbrechlichkeit und Stärke. Der deutsche Autor stellt die weibliche Hauptfigur als eine legendäre und schöne Protagonistin dar. Die schöne Okichi wird zur Retterin von Shimoda. Okichi bezwang die sieben Kriegsschiffe mit ihren Liedern, ihrer Shamisen, ihrem Lächeln und ihrer Eleganz. Bertolt Brecht macht aus dieser Frau zweifellos eine beispielhafte und einzigartige Figur, indem sie sich für ein Dorf, Shimoda, aufopfert, um es vor der Bombardierung zu bewahren. Dieser Aufsatz sollte Sie ermutigen, das Stück zu lesen, sich selbst ein Bild von Okichi zu machen und herauszufinden, ob sie tatsächlich eine gutherzige, rebellische, revolutionäre Frau oder eher ein Opfer ihrer Situation ist. 202 Ana Muñoz Gascón <?page no="203"?> Literatur Barlés, Baguena, Elena/ Almazán, Tomás, V. (2008). La mujer japonesa: realidad y mito. Zaragoza: Prensas de la Universidad de Zaragoza. Brecht, Bertolt (2006). Die Judith von Shimoda. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hartmann, Rudolf (1966). Geschichte des modernen Japan. Von Meiji bis Heisei. Berlin. Iwabuchi, Tatsuji (2003). Die Judith von Shimoda - Brechts Bearbeitung eines modernen japanischen Dramas. In: Keim, Katharina/ Boenisch, Peter M./ Braunmüller, Rob (Hrsg) Theater ohne Grenzen. Festschrift für Hans Peter Bayerdörfer. München: Herbert Utz Verlag, 43-49. Klapdor, Heike. (1982). Heldinnen. Überlegungen zu den Frauengestalten der deutschen Exildramatik 1933-1945. In: Lühe, Irmela von der (Hrsg.) Entwürfe von Frauen in der Literatur des 20.-Jahrhunderts. Berlin: Argument-Verlag, 86-105. Lanzaco, Salafranca Federico (2002). Valores estéticos de la cultura clásica japonesa. Madrid: Verbum. Marumoto, Takashi (1982). La historia de la extranjera Okichi a la Judith de Shimoda. In: Informe de Investigación de la Universidad de Ibaraki. Neureuter, Hans Peter (2006). Brecht in Finnland. Studien zu Leben und Werk 1940-1941. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Stephan, Inge (1983). Bilder und immer wieder Bilder. Überlegungen zur Untersuchung von Frauenbildern in männlicher Literatur. In: Stephan I./ Weigel, S. (Hrsg.) Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Berlin: Argument, 15-34. Bertolt Brechts Faszination für die magische Anziehungskraft der Heldin Okichi 203 <?page no="205"?> Phantastik und die Herausforderungen der Moderne <?page no="207"?> Kafkas fantastischer Weg in die Moderne Rolf G. Renner Zusammenfassung: Kafkas Darstellung des „traumhaften inneren Le‐ bens“ beruht auf einer durch das Erzählen inszenierten Wahrnehmungs- und Beschreibungsunsicherheit, die für Todorov den fantastischen Text kennzeichnet. Dabei herrschen im Werk Kafkas zunächst die Themen vor, die man unter dem Blickwinkel der Psychoanalyse als „Ich-Themen“ bezeichnet. So in der „Verwandlung“ die Verwischung der Grenze zwischen Menschen und Tier und die Regression in die Sprachlosigkeit, im „Land‐ arzt“ die traumhaft-assoziative Wirklichkeitswahrnehmung, im „Jäger Gracchus“ die Auslöschung der Grenze zwischen Tod und Leben, Belebtem und Unbelebtem. Darüber hinaus stellt diese fantastische Deformation des Realen die Gesetze der Vernunft ebenso infrage wie die Ordnungen der Moderne. Schlüsselwörter: Traumhaftes inneres Leben, Ich-Themen, Topik des Phantastischen, Gestus, das Unheimliche, berichtigende Unordnung, dop‐ pelte Wahrnehmung, Filmbild Abstract: Kafka's depiction of the “dreamlike inner life” is based on a perceptual and descriptive uncertainty staged by the narrative, which for Todorov is characteristic of fantastic texts. In Kafka's work, the themes that from the perspective of psychoanalysis are called “ego themes” initially predominate. This becomes evident in “Verwandlung” by the blurring of the boundary between man and animal and the regression into speech‐ lessness, in “Landarzt” by the dreamlike-associative perception of reality, in “Jäger Gracchus” by the erasure of the boundary between death and life, the animate and the inanimate. Keywords: dreamlike inner life, Ego themes, topicality of the fantastic, gesture, the uncanny, rectifying disorder, double perception, film image <?page no="208"?> 1 Beißner, Friedrich (1972). Kafkas Darstellung „traumhaften inneren Lebens“, Beben‐ hausen: Verlag Lothar Ratsch. Das „traumhafte innere Leben“ Kafkas Formel vom „traumhaften inneren Leben“ weist auf eine den Autor lebenslang begleitende Spannung zwischen der angemessenen Wahrnehmung der eigenen und der sozialen Wirklichkeit und den Traum- und Fluchtfant‐ asien, welche diese ständig durchkreuzen. 1 Sie haben eine lebensgeschichtliche Grundlage, die sich psychologisch erschließen lässt und zugleich eine Wechsel‐ wirkung von Schreiben und Leben etabliert. Für Tzvetan Todorov begründet diese Konstellation, was sich als Grundfigur des Fantastischen ansehen lässt: eine Wahrnehmungs- und Beschreibungsunsicherheit, welche die Erfahrung der Wirklichkeit und das Schreiben gleichermaßen prägt. Zudem lässt sich bemerken, dass diese im Schreiben nicht nur verzeichnet, sondern auch be‐ arbeitet und verstärkt wird. Die Formel vom „Schriftverkehr“, die man auf Kafkas Texte angewandt hat, markiert diesen Sachverhalt, der „Schriftverkehr“ charakterisiert einerseits den Status des Schreibens, andererseits modelliert er das Feld einer sozialen Interaktion, die ohne das Schreiben nicht denkbar ist. Thematisch dominieren in Kafkas Erzählungen und Romanen wenige Grund‐ muster, die man einigen Texten als dominant zuordnen kann. So inszeniert die Verwandlung eine Verwischung der Grenze zwischen Mensch und Tier und die Regression in die Sprachlosigkeit, der Landarzt schildert die traumhaftassoziative Wahrnehmung seines Protagonisten, im Jäger Gracchus und in der Sorge des Hausvaters wird systematisch die Grenze zwischen Tod und Leben, Belebtem und Unbelebtem gelöscht. Dabei inszenieren diese Themen eine fantastische Verfremdung des Wirklichen, weil sie eine tiefgreifende Entschei‐ dungsunsicherheit nicht nur der Protagonisten sondern auch der Lesenden erzeugen. Zugleich lassen sie sich psychologisch entschlüsseln, sie reichen ins Feld der Beziehungen zwischen Menschen, unter dem Blickwinkel der Psychoanalyse kann man sie, ebenfalls Todorov folgend, als „Ich-Themen“ bezeichnen. Die narrative Entfaltung dieser Themen möchte ich an einigen Beispielen zeigen. Zunächst wende ich mich der Verfremdung zu, die bei Kafka die Dar‐ stellung einfacher Gegenstände des Lebens, technischer Apparate und die all‐ tägliche Wahrnehmung bestimmt. Dann lenke ich den Blick auf die Gestaltung sozialer Interaktion, die durch fantastische Deformation häufig inszeniert, was Georges Jacquemin eine „berichtigende Unordnung“ nennt, die Reorganisation von Beziehungen und Sachverhalten, welche deren wahren Kern entschlüsselt. 208 Rolf G. Renner <?page no="209"?> 2 Kafka, Franz. Amerika. Roman. Gesammelte Werke. Herausgegeben von Max Brod. Taschenbuchausgabe in sieben Bänden. Frankfurt a. M.: Fischer, 13. (Im Folgenden: A); Kafka, Franz (1983). Der Verschollene. Hrsg. von Jost Schillemeit. In: Schriften, Tage‐ bücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit unter Beratung von Nahum Glatzer, Rainer Gruenter, Paul Raabe und Marthe Robert. Frankfurt a. M.: Fischer, 14. (Im Folgenden: KKV). Vgl. auch KKV 87. 3 A 18; KKV 22/ 3. 4 A 20; KKV 26/ 7. Schließlich skizziere ich, wie diese Strategie aus der Wahrnehmung der Moderne entfaltet wird. In Orson Welles Verfilmung von Kafkas Prozeß gewinnt sie zentrale Bedeutung. Der Film erweist sich als das Medium, das die Kafka prägende Wahrnehmung pointiert und umsetzt. Die alltägliche Verschwörung der Dinge Dass alltägliche Dinge dadurch Handlungen bestimmen, dass sie sich dem selbstverständlichen Zugriff entziehen, zeigt der Anfang des Amerika-Romans. Als der Protagonist Karl Roßmann das Schiff verlassen will, bemerkt er, dass er seinen Regenschirm im Schiff vergessen hat. Er lässt seinen Koffer stehen, übergibt ihn einem Bekannten und geht zurück. Unter Deck begegnet er dem Mann, den er später als Heizer erkennt. Als er an seinen Koffer denkt und zurückwill, fühlt er sich von diesem mit den Worten „Bleiben Sie nur“ zurückgestoßen. Seine Bewegung wird auf doppelte Weise gestoppt und in Sequenzen zerlegt, die wie ruckartig aufeinander folgende Bilder erscheinen. Einerseits erhält sie zwei Fixpunkte, die durch Schirm und Koffer bestimmt sind, andererseits scheint sich die Zeit wie im Traum zu dehnen. Roßmann verliert sich im Gespräch und fühlt sich plötzlich auf dem Bett des Heizers „heimisch“ 2 , obwohl er gerade erst in Amerika angekommen ist und sich „auf dem unsicheren Boden eines Schiffes, an der Küste eines unbekannten Erdteils“ befindet. Während seine eigene Bewegung zum Stillstand kommt, 3 scheint nun alle Bewegung nach außen verlagert. Roßmann sieht vorbeifahrende Boote, nimmt eine „Bewegung ohne Ende [wahr], eine Unruhe, übertragen von dem unruhigen Element auf die hilflosen Menschen und ihre Werke! “ 4 Schon jetzt verbindet sich, typisch für fantastische Erzählsequenzen bei Kafka, die körperliche Bewegung des Protagonisten durch die Schilderung des Hafens und der Schiffe mit dem Szenario der technischen Welt, das Karl in Schiff und Hafen begegnet. Diese Konfiguration ist in englischen Texten der Phantastik vorgezeichnet, denn in der frühen Phase der Industrialisierung werden technische Apparate, die natürliche Wahrnehmungsschranken über‐ Kafkas fantastischer Weg in die Moderne 209 <?page no="210"?> 5 Adorno, Theodor W. (1953). Aufzeichnungen zu Kafka. In: Die Neue Rundschau 64, 347. 6 Adorno (1953: 329). winden und zugleich von der Angst vor einer der Verfügung des Menschen entzogenen Natur befreien sollten, selbst zum Auslöser von Angstfantasien. Ein nur vermeintlich beiläufiges technogenes Element leitet auch die Erzählung Ein Landarzt ein. Der Satz „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt“ bringt dort eine Wahrnehmungsunsicherheit hervor, weil durchaus nicht klar ist, ob das technische Signal, das den Arzt in eine fantastische Verstrickung führt, wirklich erfolgt ist. In der Strafkolonie kommt es schließlich zu einer monströsen Verdichtung der technischen Dingwelt durch eine Maschine, die dem Delinquenten das Urteil in den Körper einschreibt. Die Topik des Phantastischen, die hier entfaltet wird, hat ebenfalls eine Zeitmarke, die auf den Beginn der Neuzeit weist. Ein aufgeklärter Reisender wird mit den Zuständen eines rückständigen Landes konfrontiert, in dem die Menschen Natur noch nicht durch Technik beherrschen. Weil der Offizier in der Strafkolonie ein vorwissenschaftliches Verhältnis zur Wirklichkeit hat, sieht er in seinem mechanischen Apparat eine geheime und unerklärbare Kraft wirken. In der Folge haben die Handelnden wie die Lesenden den Eindruck, dass die Dingwelt das Übergewicht über die handelnden Subjekte erlange 5 . Das hat Folgen auch für den Modus ihrer Kommunikation, die Bedeutung von Sprache tritt zurück, der aufgeklärte Besucher der Strafkolonie, dessen Bewusstsein mit dem des Erzählers übereinzustimmen scheint, spricht am Ende nur noch zu sich selbst. Er erfährt dabei eine Objekt- und Ortlosigkeit, die charakteristisch für fantastisches Erzählen ist. Auf diese Weise präsentiert Kafka eine Wirklichkeit, in der, wie es Adorno formuliert, „das geschichtliche Verhältnis von Begriff und Gestus spiegelbildlich“ umgekehrt ist. 6 Weder durch Reden noch durch Handeln greift der Reisende in das kritikwürdige Strafver‐ fahren ein, seine Reise führt in eine räumliche und kommunikative Dissoziation zugleich. Die berichtigende Unordnung sozialer Beziehungen Eine vergleichbare fantastische Deformation kommunikativer Beziehungen be‐ stimmt auch das Urteil. Der autobiographische Hintergrund dieser Erzählungen unterstreicht diese Feststellung. Anders als die fantastischen Erzähler der Ro‐ mantik macht Kafka die dramatischen Folgen, die der entwicklungsgeschicht‐ lich notwendige Verlust der Objektkonstanz für jedes Kind hat (Kreis), zu einer Erfahrung, die über ihre Genese in der kindlichen Wahrnehmung hinausreicht. 210 Rolf G. Renner <?page no="211"?> 7 Kreis, Rudolf (1976). Die doppelte Rede des Franz Kafka. Eine textlinguistische Analyse. Paderborn: Schöningh, 90. 8 Kreis (1976: 98). 9 Dazu Henel, Ingeborg C. (1967). Die Deutbarkeit von Kafkas Werk. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 86, 250-266; Sokel, Walter H. (1964). Franz Kafka - Tragik und Ironie. München/ Wien: Fischer Verlag, 269. 10 Adorno (1953: 326). 11 Erz. 59; 63. In Erziehung und Entwicklung kommt es deshalb zu einer sich wiederholenden Deformation, die es je erneut zu überwinden gilt. 7 Dabei sieht sich das handelnde Subjekt in Kafkas Texten auf sich selbst zurückverwiesen. Es erkennt, dass es für die nicht gelingende soziale und kommunikative Integration verantwortlich ist und erfährt einen fundamentalen Identitätsverlust. 8 Die fantastische Weltsicht Kafkas erweist sich deshalb als Spiegelung einer deformierten Objektwelt im deformierten Subjekt. Sie schreibt sich allen Texten dadurch ein, dass der Protagonist und seine Gegenüber allein in Bezug aufeinander Kontur gewinnen. Konfiguriert wird dieser Sachverhalt häufig durch eine Radikalisierung der personalen Erzählsituation. 9 Fassbar ist er zugleich in den Motiven der Entstellung, des Vergessens und der Verwandlung (Benjamin), die Kafkas Werk durchziehen. Bei Hoffmann betont das Subjekt des Erzählens die Differenz seiner Wahr‐ nehmung zu der des erzählten Subjekts. Bei Kafka fallen nicht nur beide Perspektiven ineinander, sie unterstehen auch der Dominanz einer inneren Wirklichkeit, auf die sich alles zurückbiegt und die keinem realen Subjekt ange‐ hört. Aus diesem Grunde wird die Beziehungsfalle, in welche die Perspektivfigur gerät, zugleich zur Beziehungsfalle des Erzählers. Ein Beispiel gibt die Beziehung zwischen Vater, Sohn und Freund im Urteil, die, folgt man Adorno, auf eine Zerstörung des „kontemplativen Verhältnisses von Text und Leser“ abzielt. Durch eine fast aggressive physische Nähe un‐ terbindet diese Erzählung die Identifikation des Lesers mit der Hauptfigur. 10 Dafür ist vor allem verantwortlich, dass deren Glaubwürdigkeit zerstört wird. Ihre Perspektive, die über weite Strecken mit der des Erzählers eins zu sein scheint, zeigt sich schließlich als weder verlässlich noch zutreffend noch auch konstant. Folgerichtig erscheint der Vater in seiner Unterredung mit dem Sohn diesem zunächst als Riese, dann als pflegebedürftiges Kind 11 , schließlich als eine sich aufrichtende strafende und bedrohende Gestalt. Durch diesen Wechsel der Bilder verliert der Leser seine Sicherheit des Urteils: er erfährt nicht nur seine Abhängigkeit von der Perspektive des Protagonisten, es wird ihm auch klar, dass dieser dem Freund gegenüber weniger Mitleid als vielmehr eine Kafkas fantastischer Weg in die Moderne 211 <?page no="212"?> 12 Jaquemin, Georges (1975). Über das Phantastische in der Literatur. In: Phaicon 2, 46. Frankfurt a. M. 13 Jaquemin (1975: 48). 14 Kobs, Jürgen (1970). Kafka. Untersuchungen zu Bewußtsein und Sprache seiner Ge‐ stalten. Bad Homburg: Athenäum, 342. 15 Kafka, Franz (1913). Der Heizer. Ein Fragment. Leipzig: Kurt Wolff. uneingestandene Schuld verspürt. Gleichzeitig wird der Vater zum Sachwalter des Freundes. „Ich war sein Vertreter hier am Ort“ kann er sagen. Das fantastische Element dieser Erzählung liegt in der aufbrechenden men‐ talen Identität von Vater und Freund, die den wahren Charakter der Beziehung zwischen Georg und seinem Freund enthüllt. Gerade dies belegt Jacquemins These, dass das Fantastische in der Literatur meist weder ein Willkürliches noch ein bloß Unheimliches ist. Vielmehr reorganisiert es eine Beziehung von Ordnung und Unordnung, die der Protagonist in der Wirklichkeit vorzufinden glaubt, die ihren Ursprung aber allein in seinem Unbewussten hat. Im Urteil begegnet uns das Fantastische als eine „berichtigende Unordnung“ 12 , die sich gegenüber „einer wohldeterminierten, beobachteten und abgegrenzten Welt“ zur Geltung bringt. 13 Erst mit dem Auftreten des Vaters werden die scheinbar eindeutigen und trennbaren Bereiche des Bedrohlichen und des Geordneten so aufeinander be‐ zogen, dass sie sich umkehren. Doch diese Umkehrung vermittelt sich dem Leser nicht über die Perspektive des Erzählers, sondern über die des Vaters. Damit wird eine ursprünglich außenstehende Instanz vom Objekt zum richtenden Subjekt durch den Vater, so wie dieser in seinem Verhältnis zu Georg zugleich Subjekt und Objekt, Opfer und Richter ist. Diese tiefgreifende physische und logische Vertauschung von zwei Identitäten ist typisch für das fantastische Erzählen. Der fantastische Widerspruch zwischen Ordnung und Unordnung erhält hier zugleich eine kritische Kraft. Er arbeitet das Innere eines verdeckten Konflikts heraus. Allerdings - auch dies ist ein Element fantastischen Erzählens - bleibt diese Konfiguration nicht stabil, am Ende löst sich die Autorität des Vaters wieder auf, dieser wird als „Richter in eigener Sache ausgelöscht“. 14 Das Fantastische als Signatur der Moderne Als die früheste Ausgabe des Amerika-Romans mit dem Titel Der Heizer zusammen mit einer Hafenansicht aus dem 19. Jahrhundert gedruckt wird 15 , ist Kafka enttäuscht. Das Bild entspricht nicht seinem Bemühen, das „allermo‐ dernste New York“ darzustellen, für das ihm die frühen Großraumbüros in der 212 Rolf G. Renner <?page no="213"?> 16 Kafka, Franz (1958). Briefe 1902-1924. Gesammelte Werke. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt a.M.: Fischer Verlag, 117. 17 Vgl. dazu Binder, Hartmut (1976). Kafka-Kommentar zu den Romanen, Rezensionen, Aphorismen und zum Brief an den Vater. München: Winkler, 70. 18 Kafka, Franz (1951). Tagebücher 1910-1923. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt a.M.: Fischer, 535 f. Vgl. auch Binder (1976: 56). 19 A 37/ 8; KKV 55; dazu Lange-Kirchheim, Astrid (1994). L'enfant perdu, non trouvé. In: Hillenaar, Henk/ Schönau, Walter (Hrsg.) Fathers and Mothers in Literature. Ams‐ terdam: Atlanta, 262/ 3. 20 Lange-Kirchheim (1994: 261). Neuen Welt ein Beispiel gaben. 16 Aus seinen Tagebüchern wissen wir, dass er sich wiederholt mit Nachrichten über Amerika befasste, Bilder der Neuen Welt waren ihm vertraut und besonderes Interesse erweckten bei ihm die Berichte über Amerika, die er mit Beobachtungen in seinem eigenen Lebensbereich vergleichen konnte. 17 Das Kino wird dabei zum bevorzugten Medium für die Abbildung der modernen technokratischen und bürokratischen Gesellschaft. Gleichzeitig beeindruckt den eifrigen Kinogänger die technische Innovation des Mediums Film. Darüber hinaus ist er fasziniert vom Telefon (etwa im Schloss), von der Fotographie (etwa im Verlorenen), von der Schifffahrt und der Eisenbahn (in einigen Texten) und auch im realen Leben vom Flugzeug. Trotz dieser medialen Konkurrenz betont er, dass er mit seiner Methode des Schreibens die „schärferen Lichter“ zeigen könne, die er „der Zeit entnommen habe“. 18 In der Tat inszeniert sein Erzählen auch Bilder, welche die moderne Wahrnehmung von Bewegung und Geschwindigkeit, die Arnold Hauser als charakteristisch für die Großstadterfahrung angesehen hat, aufnimmt und durch sein Sprachspiel zugleich fantastisch und sexuell konnotiert. In doppel‐ sinniger, sexuell konnotierter und obsessiver Form schildert er, vom Balkon des Onkelhauses auf die Straße hinunterblickend, den „Verkehr“ in New York: „Und morgens wie abends und in den Träumen der Nacht vollzog sich auf dieser Straße ein immer drängender Verkehr, der, von oben gesehen, sich als eine aus immer neuen Anfängen ineinander gestreute Mischung von verzerrten menschlichen Figuren und von Dächern der Fuhrwerke aller Art darstellte […] und alles dieses wurde erfaßt und durchdrungen von einem mächtigen Licht, das immer wieder von der Menge der Gegenstände verstreut, fortgetragen und wieder eifrig herbeigebracht wurde […].“ 19 Dieser Beschreibung korrespondiert eine andere visuelle Wahrnehmung, die auf der Überblendung eines wirklichen und eines unbewussten Bildes beruht. Sie zeigt sich bei Karls Blick auf die Freiheitsstatue. An der Stelle der Fackel der Freiheit trägt die von ihm wahrgenommene Freiheitsstatue ein Schwert, Zeichen der Rückbindung des Neuen an Gewalt, Herrschaft und patriarchale Ordnung. 20 Kafkas fantastischer Weg in die Moderne 213 <?page no="214"?> 21 A 9; KKV 7. Dazu KKV. Apparatband. Frankfurt a. M.: Fischer, 123. 22 Janouch, Gustav (1961). Gespräche mit Kafka. Frankfurt a. M.: Fischer, 105. Zweifellos folgt diese Wahrnehmung einer phantasmatischen Reorganisation des Wirklichen, denn in einer gestrichenen Variante des Textes heißt es: „Er sah zu ihr [der Freiheitsstatue] auf und verwarf das über sie Gelernte.“ 21 Die Schil‐ derung dieser Überblendung entfaltet ihre besondere Bedeutung dadurch, dass sie eine doppelte Wahrnehmung des Lesenden mobilisiert. Dieser übernimmt zunächst spontan die Perspektive Karls, bevor er erkennt, dass Karls doppelte Wahrnehmung nur die Abbreviatur des psychischen Spannungsfeldes ist, in das diesen seine Amerikafahrt führt. Der Weg in die moderne Welt führt in eine fantastische Deformation der Wirklichkeit, die nur im Modus von Doppelbildern oder unter dem Blickwinkel unbewusster Fantasien wahrgenommen werden kann. Auch diese fantastische Zweideutigkeit der Bilder entfaltet eine kritische Kraft. Die fantastische Kraft des Mediums Eine Bemerkung Kafkas über das Medium Film richtet sich nicht nur auf dessen psychische Wirkungen, sie umkreist zugleich die Genese fantastischer Wahrneh‐ mung als Interaktion von visueller und rationaler Wahrnehmung. Gegenüber Janouch bemerkt der Autor: „Das Kino stört […] das Schauen. Die Raschheit der Bewegungen und der schnelle Wechsel der Bilder zwingen den Menschen zu einem ständigen Überschauen. Der Blick bemächtigt sich nicht der Bilder, sondern diese bemächtigen sich des Blickes. Sie überschwemmen das Bewußtsein”. 22 Damit beschreibt Kafka hier nicht nur das moderne Bildmedium, sondern benennt zugleich eine Funktionsregel seiner Texte. Der Regisseur Orson Welles hat dies erkannt, seine Verfilmung des Prozess-Romans folgt diesen Spuren. Dabei hat er es mit einem Text zu tun, der einerseits sehr abstrakt ist und häufig keine linearen Fügungen zulässt, vor allem die Wahrnehmung und das Verhalten des Protagonisten sind durch Momente der Dissoziation gekennzeichnet. Gleichzeitig ist Kafkas Roman durch einen hohen Anteil visueller Elemente gekennzeichnet, manche Passagen ähneln zudem einer filmischen Parallelmontage. Welles trägt dem Rechnung und beginnt seinen Film nicht wie der Roman mit der Verhaftung Ks, sondern mit einer Visualisierung der Türhüterparabel, die er mit einer Abfolge von Diabildern unterlegt. Indem er selbst als extradiegetischer Kommentator auftritt, wird die Knappheit von Kafkas Sätzen in eine suggestive Bildregie übersetzt. 214 Rolf G. Renner <?page no="215"?> Ein wesentliches Element dieser Dramatisierung ist neben der Kameraführung die Raumdarstellung, die in Kafkas Erzählen immer wieder zentrale Bedeutung gewinnt. Welles verändert die Anlage der bei Kafka geschilderten Wohnung. Durch Details wie die Höhe der Zimmerdecken, die Einrichtung und die Türen verstärkt er die Suggestivität der Vorlage. Zugleich stellen Welles filmische Räume einen Bezug zu den Raumbildern der Expressionisten her. Sie erzeugen eine durchgreifende Psychologisierung auch dadurch, dass sie Kafka zu den Wahrnehmungs- und Abbildungsformen der Moderne in Beziehung setzen. Im Medium des technischen Bildes macht Welles bewusst, dass für Kafkas Er‐ zählen die spannungsvolle Beziehung zwischen Text und Bild prägend ist. Seine Verfilmung folgt deshalb zunächst einer Linie, die Kafkas Text selbst am Beispiel der bildenden Kunst thematisiert. Noch deutlicher als es in diesem geschieht, zieht er im Medium des Films visuelle Eindeutigkeit auf mehrfache Weise infrage. Erstens durch Sinnverweigerung. Die Statue, die sich im Hintergrund der Deportationsszene zeigt, ist verhüllt, sie ist ein leeres Zeichen, dessen Sinn nicht klar ist. Zweitens durch Psychologisierung: Die Heidebilder, aber auch die Richterbilder des Malers Titorelli, sind lediglich psychische Projektionsflächen. Drittens durch Substitution. Das wichtigste Bild Titorellis, das sich auf Gericht und Gerechtigkeit bezieht, wird nicht gezeigt, sondern nur beschrieben. Wort und Sprache operieren in einer Lücke, die im visuellen Raum ausgespart ist. Exakt hier stellt der Film die Strategie von Kafkas fantastischem Erzählen nach. Die Eindeutigkeit der Bilder wird depotenziert und der Interpretation durch Sprache und der Transformation durch Rhetorik unterworfen. Der Unsicherheit der Deutung, die von Bildern ausgeht, korrespondiert eine Infragestellung der Rolle des Subjekts, die Welles intermedial entfaltet. Das bewegte Filmbild wird durch das stehende Bild der Fotographie abgelöst, wenn in der Domszene die Bilderfolge des Vorspanns noch einmal aufgenommen und jetzt als Serie von Diaprojektionen entfaltet wird. Sowohl der Protagonist K. als auch sein Verteidiger, der durch Orson Welles dargestellt wird, werden jetzt zu Objekten im Lichtkegel des Diaprojektors. Die visuelle Präsentation von Macht und Gewalt im Film, die Kafkas Erzählen von der Exzentrizität des Menschen folgt, zeigt das Medium des Bildes als die neue Macht der Moderne. Unter diesem Blickwinkel erscheint Kafkas Fantastik als Dokument einer Ausweglosigkeit. Die Formel „zum letztenmal Psychologie“ im Tagebuch des Autors macht deutlich, dass es kein Deutungsregister gibt, welches das eigene Leben entschlüsseln könnte und dass selbst Schrift und Bild im Status hilfloser Gesten verharren müssen. Kafkas fantastischer Weg in die Moderne 215 <?page no="216"?> Literatur Adorno, Theodor W. (1953). Aufzeichnungen zu Kafka. In: Die Neue Rundschau, 64. Beißner, Friedrich (1972). Kafkas Darstellung „traumhaften inneren Lebens“. Beben‐ hausen: Lothar Ratsch. Binder, Hartmut (1976). Kafka-Kommentar zu den Romanen, Rezensionen, Aphorismen und zum Brief an den Vater. München: Winkler. Henel, Ingeborg C. (1967). Die Deutbarkeit von Kafkas Werk. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 86, 250-266. Janouch, Gustav (1961). Gespräche mit Kafka. Frankfurt a. M.: Fischer. Jaquemin, Georges (1975). Über das Phantastische in der Literatur. In: Phaicon. Almanach der phantastischen Literatur. Hg. v. Rein A. Zondergeld. Frankfurt a.-M., 2, 33-53. Kafka, Franz (1913). Der Heizer. Ein Fragment. Leipzig: Kurt Wolff. Kafka, Franz (1951). Tagebücher 1910-1923. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt a.M.: Fischer. Kafka, Franz (1953). Amerika. Roman. Gesammelte Werke. Hrsg. von Max Brod. Taschen‐ buchausgabe in sieben Bänden. Frankfurt a. M.: Fischer. Kafka, Franz (1958). Briefe 1902-1924. Gesammelte Werke. Hrsg. von Max Brod. Frank‐ furt a.M.: Fischer Verlag. Kafka, Franz (1983). Der Verschollene. Hrsg. von Jost Schillemeit. In: Schriften, Tagebü‐ cher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit unter Beratung von Nahum Glatzer, Rainer Gruenter, Paul Raabe und Marthe Robert. Frankfurt a. M.: Fischer. Kobs, Jürgen (1970). Kafka. Untersuchungen zu Bewußtsein und Sprache seiner Ge‐ stalten, Bad Homburg: Athenäum. Kreis, Rudolf (1976). Die doppelte Rede des Franz Kafka. Eine textlinguistische Analyse. Paderborn: Schöningh. Lange-Kirchheim, Astrid (1994). L’enfant perdu, non trouvé. In: Hillenaar, Henk/ Schönau, Walter (Hrsg.) Fathers and Mothers in Literature. Amsterdam: Atlanta 262: 3. Sokel, Walter H. (1964). Franz Kafka - Tragik und Ironie. München/ Wien: Fischer Verlag. 216 Rolf G. Renner <?page no="217"?> „Wir wurden alle mit einer blauen Nummer am Arm geboren“ Nachgedächtnis und Fantastik in Doron Rabinovicis Roman Suche nach M. Rosa Pérez Zancas Zusammenfassung: Dieser Beitrag beleuchtet die fantastischen Ele‐ mente in Doron Rabinovicis Roman Suche nach M. (1997), unter der besonderen Berücksichtigung des Konzeptes der Postmemory (Hirsch). Es soll hinterfragt werden, wie die Traumata durch das Schweigen der Eltern und das Verschweigen der Täter den Kindern als nicht verheilte Wunden weitergegeben werden und welche Topoi Rabinovici in seinem Roman dafür zum Einsatz bringt, um die unaufgearbeitete Vergangenheit Österreichs und die öffentlich kontrovers diskutierte Verantwortung an den Verbrechen im „Dritten Reich“ literarisch zu verarbeiten. Schlüsselwörter: Postmemory, Shoah, transgenerationale Traumata, Schweigen, das Unheimliche Abstract: This contribution examines the fantastic elements in Doron Rabinovici's novel Suche nach M. (1997), with a particular focus on the concept of postmemory (Hirsch). It will be questioned how the traumas are passed on to subsequent generations as unhealed wounds through the silence of the parents and the concealment of the perpetrators and which topoi Rabinovici uses in his novel to deal with Austria’s unprocessed National-socialist past and its publicly controversial responsibility for the crimes in the „Third Reich“ in a literary way. Keywords: Postmemory, Shoah, transgenerational trauma, silence, the uncanny Das Leben von Dani Morgenthau und Arieh Arthur Bein (geb. Scheinowiz), zwei in Wien aufgewachsene Söhne von Holocaust-Überlebenden aus Krakau, <?page no="218"?> 1 Rabinovici, Doron (1999 [1991]). Suche nach M. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 47. 2 Anonym (10.11.2000). Das erste Nazi-Opfer. Die Presse, 7. 3 Rabinovici (1999: 231). 4 Rabinovici (1999: 219). wird „in einem Land, das allgemeine Unbeflecktheit beanspruch[t]“ 1 vom Schweigen über und Verschweigen von Schuld gelenkt. Sie wachsen mit den von ihren Eltern unausgesprochenen Traumata aus der NS-Zeit auf und mit der verdrängten Schuld und Verantwortung im Täterland Österreich, das sich bis in die späten 80er Jahre an seinen bekannten ‚Opfermythos‘ klammerte: Österreich sei das erste Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft gewesen. Eine kritische und juristische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergan‐ genheit Österreichs wurde offiziell abgelehnt. Dieser ‚Mythos‘, der sich zunächst mit der sogenannten Waldheimaffäre im Jahr 1986 aufzulösen schien, wurde am 9. November 2000 von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel vor der Jerusalem Post erneut bekräftigt: „Der souveräne Staat Österreich war buchstäblich das erste Opfer des Nazi-Regimes. Sie nahmen Österreich mit Gewalt.“ 2 Arieh und Dani entwickeln eine ungewöhnliche und übermenschliche Fä‐ higkeit, die sie aufgrund der transgenerationellen Vererbung von Traumata, Scham und Schuldgefühlen unbewusst aufnehmen und sie zugleich mit einer äußerst fragilen Identität ausstattet: Arieh kann Mörder und Kriminelle durch Nachahmung und physische Anpassung aufspüren. Dani kann sich wiederum in die Mörder hineinversetzen und für sie zeugen, bis sie die Tat gestehen, denn er „ist einer, der alle unsere Schuld durchschaut.“ 3 Sie gehören, um mit Navahs - Ariehs Frau - Worten zu sprechen, zu einer Generation, die „mit einer blauen Nummer am Arm geboren“ wurde. „Sie mag unsichtbar sein, aber sie ist uns eintätowiert; unter die Haut.“ 4 In zwölf Episoden wird in Rabinovicis 1997 erschienenem, erstem Roman Suche nach M. die Doppelgänger-Geschichte der zweiten Holocaust-Überle‐ benden-Generation erzählt und die ineinander verwobene Vorgeschichte ihrer Eltern. Verwechslungen, Spiegelungen und Identitätskrisen ziehen sich leitmo‐ tivartig durch den ganzen Roman, dessen Titel sich an Fritz Langs M. Eine Stadt sucht einen Mörder aus dem Jahr 1931 anlehnt und in einem intertextuellen Dialog zu diesem Kriminalfilm steht. Rabinovici setzt konkrete Zeit- und Ortsangaben, ohne sie jedoch ausdrück‐ lich zu nennen. Präsentiert wird ein antisemitisches und ausländerfeindliches Zeitbild Österreichs, das kurz vor den Frankfurter Auschwitz-Prozessen im Herbst 1963 beginnt und bis in die neunziger Jahre hineinreicht. Dieses kritische Bild verbindet Rabinovici in der ersten Szene bereits mit dem Motiv des Dop‐ pelgängers und des Scheins, als Ariehs zukünftiger Vater, Jakob Scheinowiz, im 218 Rosa Pérez Zancas <?page no="219"?> 5 Rabinovici (1999: 101). 6 Siehe hierzu auch die Kommentare Ruth Klügers während eines Besuchs in Wien (Klüger, Ruth (2008). unterwegs verloren: Erinnerungen. Göttingen: Wallstein, 198.) 7 Rabinovici, Doron (2019). I wie Rabinovici. Zu Sprachen finden. Wien. Sonderzahl, 41. 8 Rabinovici (2019: 35). bekannten Wiener Café Prückel zuerst mit einem ehemaligen Nazi verwechselt wird und später sogar zweimal mit dem Buchdrucker Adam Kruzki, der im „Ghetto“ an seiner Stelle verschleppt und ermordet wurde: „Ich wurde an seiner Statt geschont, gerettet. […] Mein ganzes Überleben war eine Verwechslung.“ 5 Der Standort des Café Prückels fungiert als zeitkritische Metapher für die ununterbrochene Gesinnung Österreichs. Der Blick aus dem Café geht auf die dreifache Ehrung des Antisemiten, Hitlervorbildes und Wiener Bürgermeisters Karl Lueger: dem Ring (2012 unbenannt in Universitätsring), dem Platz und dem Denkmal. 6 In seiner im Jahr 2019 gehaltenen ersten Salzburger Stefan-Zweig-Poetik- Vorlesung „Von der Sprache adoptiert“ hält Rabinovici fest: Österreich ist nicht ein Land wie irgendein anderes, denn was die heimischen Rechtsextremen von den Rechtsrechten anderer Länder unterscheidet, ist ihre Konti‐ nuität, die hineinreicht ins neunzehnte Jahrhundert und ins sogenannte Dritte Reich mündete, um ab den vierziger Jahren vor Trotz in ihren Geschichtslügen und in ihrer Hetze zu verharren. 7 Dieses Österreichbild bildet die Kulisse von Rabinovicis Schauergeschichte, das er literarisch mit den Nachwirkungen der Shoah verbindet, um den unter‐ schwelligen Antisemitismus zur Sprache zu bringen. Die in der postmemorialen Literatur eher selten eingesetzten fantastischen Elemente unterstreichen und ermöglichen Rabinovici, eine Metapher dafür zu finden, seine eigene Existenz zur Sprache zu bringen, sie zu reklamieren und zu festigen: Meine Herkunft war die Erinnerung. Ich trippelte als Schatten der Vergangenheit ins Alpenland. Ich war ein Wiedergänger, ein Untoter. Ich ähnelte einer unschuldigen Spukgestalt wie in einer jener Gespenstergeschichten aus Hollywood, in der ein Mädchen, das längst beseitigt wurde, aus dem Morast der Vorzeit wieder auftaucht. Es singt ein liebliches Kinderlied, eine nicht ganz alte, befremdliche, doch nicht unbekannte Volksweise - traumähnliche Klänge -, doch allen läuft es kalt den Rücken hinunter. Sie lässt die Erwachsenen an ein unheimlich Heimliches denken - an das, worüber niemand mehr reden will und das eben deshalb für immer unüberhörbar und unerhört zugleich bleibt. 8 „Wir wurden alle mit einer blauen Nummer am Arm geboren“ 219 <?page no="220"?> 9 Waldow, Stephanie (2011). Vielleicht ist der Schriftsteller immer eine Art Botschafter. Doron Rabinovici im Gespräch. In: Waldow, Stephanie (Hrsg.) Ethik im Gespräch. Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute. Bielefeld: transcript, 73-84, hier: 82. 10 Hirsch, Marianne (2012). The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture After the Holocaust. New York: Columbia University Press, 5. So erläutert der Autor außerdem in einem Interview, wie erzählte Erinnerung in der eigenen Familie auch seine Identität geprägt hat: Ich habe die nationalsozialistische Massenvernichtung nicht erlebt, aber sie prägt mein Dasein entscheidend und ich erinnere mich an die Geschichten, die mir darüber erzählt worden sind. Erinnerung konstituiert sich nicht nur dadurch, was ich erlebt, sondern auch darüber, was ich gehört und gelernt habe. Wenngleich ich mir sehr schmerzlich bewusst darüber bin, dass der Tod der Zeitzeugen viel verändern wird. 9 Marianne Hirsch hat dafür das Konzept der Postmemory ausgearbeitet und beschäftigt sich insbesondere mit dem tiefen Verhältnis zwischen der Nachge‐ borenen-Generationen und der Shoah, die sie durch Erzählungen und vor allem durch das Verhalten ihrer Eltern und Großeltern geprägt haben und mit denen sie im Grunde aufgewachsen sind: „Postmemory” describes the relationship that the „generation after” bears to the per‐ sonal, collective, and cultural trauma of those who came before - to experiences they „remember” only by means of the stories, images, and behaviors among which they grew up. But these experiences were transmitted to them so deeply and affectively as to seem to constitute memories in their own right. Postmemory’s connection to the past is thus actually mediated not by recall but by imaginative investment, projection, and creation. To grow up with overwhelming inherited memories, to be dominated by narratives that preceded one’s birth or one’s consciousness, is to risk having one’s own life stories displaced, even evacuated, by our ancestors. It is to be shaped, however indirectly, by traumatic fragments of events that still defy narrative reconstruction and exceed comprehension. These events happened in the past, but their effects continue into the present. 10 In Suche nach M. stellen die Protagonisten bereits in früher Kindheit fest, dass ihre Familien anders sind als die der anderen Kinder. So lebt Dani Morgenthau mit dieser Last schon ab dem Schulalter. In seiner Familie ist das Verschweigen gleichzeitig ein stummes Sprechen, bei dem jedoch die Worte fehlen: Was verschwiegen blieb, wurde nicht, wie etwa in den Familien seiner Klassenka‐ meraden, verschleiert und verdeckt, hier schwelgte niemand in Reminiszenzen der Verleugnung: Woran seine Eltern sich nicht erinnern wollten, wovon zu reden sie 220 Rosa Pérez Zancas <?page no="221"?> 11 Rabinovici (1999: 30). 12 Assmann, Aleida (2013). Formen des Schweigens. In: Assmann, Aleida / Assmann, Jan (Hrsg.): Schweigen. Archäologie der literarischen Kommunikation. Band 11. Paderborn: Wilhelm Fink, 51-68, hier 57. 13 Rabinovici (1999: 33). 14 Rabinovici (1999: 196-197). mieden, konnten sie in aller Deutlichkeit nicht vergessen. Es brauchte bloß einen Blick der Mutter, damit Dani verstand, warum er keine schwarze Lederjacke, keine Schaftstiefel tragen sollte. 11 Aleida Assmann hat für dieses Phänomen eine „Formel“ gefunden: „Das defen‐ sive Schweigen der Täter verlängert das Problem der Schuld, das symptomati‐ sche Schweigen der Opfer verlängert das Trauma.“ Sie unterscheidet zwischen einem „überwältigten Schweigen des Opfers und einem defensiven Schweigen des Täters“. Weiter heißt es bei ihr: Der enge Zusammenhang zwischen Trauma und Schweigen ist vielfach behandelt worden; im Kern geht es dabei um die Einsicht, dass dort, wo die Zunge überfordert ist oder im Zaun gehalten wird, der Körper in einer Sprache der Symptome zu sprechen beginnt. 12 Eine für beide Seiten möglicherweise heilende Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit mit der Vergangenheit wird nicht ausgetragen, denn dort wird sie verschleiert und verdeckt. Damit besetzt dieser belastende Teil der eigenen Geschichte latent einen unangestateten Erinnerungsraum. So nimmt Dani aus einem inneren Drang heraus stets die Schuld anderer auf sich mit den Worten: „Ich war’s. Ich bin’s gewesen. Ich bin schuld“ 13 . Dies verursacht an seinem Körper schmerzhafte und eitrige Wunden, den er mit Mullbinden bandagieren muss. Im Laufe der Geschichte taucht er unter und wird zum gefürchteten „Mullemann“: In allen Zeitungen und Magazinen wurde von ihm berichtet, im Feuilleton über ihn diskutiert. Mit anonymen Bekennerbriefen war dieser Spuk in Erscheinung getreten, hatte verschiedene Verbrechen gestanden und mit der Zeit mehr einbekannt, als er je begangen haben konnte. Die Mär von Mullemann stürzte die wahren Täter in Panik, die Polizei in Aufruhr, die Politik in Unruhe. Inspektoren und Kommissäre fahndeten nach jenem scheinbar Allwissenden. Die ganze Gesellschaft phantasierte von dieser Figur, die in Mullbinden durch die Stadt geisterte, rätselte, von welchen Vergehen, von wieviel Frevel sie noch zu berichten wußte. 14 Die Angst vor Mullemann besteht besonders darin, dass die bisher im Dunkeln verborgenen und ungesühnten Verbrechen durch ihn an die Öffentlichkeit „Wir wurden alle mit einer blauen Nummer am Arm geboren“ 221 <?page no="222"?> 15 Rabinovici (1999: 182). 16 Rabinovici (1999: 242-243). 17 Rabinovici (1999: 182-183). gelangen, indem nun das Medium Mullemann das Verschwiegene aussprechen könnte. Aus diesem Grund wird nun nach Mullemann polizeilich zum Schutze Österreichs und der Österreicher gefahndet, ganz besonders jedoch zum Schutze der Großväter, die die Worte ihrer Söhne [hörten] und warnten im Schaukelstuhl vor den Abendnach‐ richten, wenn all das nun aufgerollt werden sollte, würde Schrecklichstes geschehen, würde sich bei solch einer Abwicklung der Gesamtverband der Gemeinschaft auf‐ lösen. Und falls dieser Bandagenmensch tatsächlich existierte, die Schuld anderer enthüllen und auspacken könnte, bedeutete seine Festnahme ein Verhängnis für jeden, der ihm entgegenträte, ob Gendarm, Wächter, Richter oder Geschworener. Wer, so fragten einzelne Großväter mit zitterndem Zeigefinger, wäre in der Stadt und in diesem Land denn frei von Schuld? 15 Dani, alias Mullemann, verkörpert als Untoter somit das zu Fleisch gewordene, wiedergekehrte Gespenst einer Vergangenheit, die in der österreichischen Geschichte nicht existiert. Er ist die Inkarnation von verschwiegener Schuld, die als Untoter Heim findet. Somit wird das Kind der zu Tode verurteilten Eltern als Geist oder Monster wahrgenommen, als etwas, was die Beständigkeit und Ordnung des Landes destabilisiert, dessen Vater mit seinen Entschädigungsan‐ trägen von den österreichischen Ämtern immer wieder abgewiesen wurde: In holpriger Sprache hatte er darin erbeten, die Behörden mögen doch freundlicher‐ weise jene Untaten bestätigen, die sie einst begangen hatten, die sie ihm zugefügt hatten, jenem Menschen, der nun Bittschreiben an sie richtete. […] Um das Geld ist es ihm nie gegangen. Er wollte nichts außer der Bestätigung des erlittenen Unrechts. Er brauchte einen Beweis für unseren Sohn! Ein Einbekenntnis der Schuld. 16 Besonders für die Kriminellen und Kriegsverbrecher aus der Nazi-Zeit stellt Mullemann eine Gefahr dar, die bis zu diesem Zeitpunkt nie vor Gericht standen. Er muss, so wie damals seine Vorfahren, vernichtet und beseitigt werden, damit die Täter weiterhin sorgenlos leben können: Wer wisse, so die Alten, welche Gespenster der Vergangenheit unter den Stofflagen dieses Mannes [Mullemann] steckten; welche Geheimnisse dieser Larve, dieser Raupe, die Bekenntnisse statt Purpursekret ausscheide, noch entschlüpfen mochten. Abschieben, fortjagen, vertreiben müßte man diesen Mullemann, wenn nicht gar ermorden, raunten Großväter und fuchtelten mit ihren Gehstöcken. 17 222 Rosa Pérez Zancas <?page no="223"?> 18 Rabinovici (1999: 236). 19 Rabinovici (1999: 236). Mullemann wird schließlich von der Polizei und mit Ariehs Hilfe gefunden, verhaftet und verhört. Während Kommissar Karl Siebert ihn versteckt hält, setzt er ihn ohne seine Einwilligung zur Schuldzusprechung von Mördern und Kriminellen ein. Was womöglich zu einer Heilung bei Mullemann führen könnte, führt jedoch nur zu einer gesundheitlichen Verschlechterung und löst in ihm einen Gedächtnis- und Identitätsschwund aus. Trotzdem führt dies keinesfalls zu Festnahmen von Nazi-Schergen, die weiterhin geschützt werden. So bittet beispielsweise Kommissar Siebert den Ministerialrat Weilisch, einen einstigen Nazi, dessen kriminelle Vergangenheit während der NS-Zeit Siebert zu kennen scheint, Mullemann gegenüber zu treten, um zu überprüfen, ob er tatsächlich die Schuld anderer durchschauen kann. Mullemann spricht aus, was in all den Jahren von ihm verschwiegen worden war: „Ob Frauen, Mädchen, Knaben oder Greise, alle tot. Wir haben gehorcht, ohne nach dem Grund zu fragen“, worauf der ehemalige Kämpfer [Weilisch] nur sagte: „So war es. Wir haben unsere Pflicht erfüllt! Befehl war Befehl. Krieg ist Krieg“, doch Mullemann setzte fort: „…Säuglinge wurden an den Füßen gepackt, ihre Schädel an einen Stein geklatscht und dann warfen wir ihre winzigen Körper ins Feuer… 18 Der Ministerialrat weiß, dass er für die begangenen Verbrechen nicht vor Gericht kommen wird, sein Gewissen ist rein, so dass er Mullemann sogar mit einem Kriegskameraden verwechselt, der unter den Erinnerungen an die Zeit zu leiden scheint, wodurch das von ihm zugefügte Leiden auf ihn, den Verbrecher und Mörder, zurückgeworfen wird: „Ja, schrecklich war das“, dann […]: „Sie müssen den Mann verstehen, meine Herren. Schauen Sie ihn doch an. Der Verband am ganzen Körper. Was wir mitgemacht haben… Es war eine schreckliche Zeit. Sie können sich das gar nicht vorstellen“, und während Weilisch redete, sprach Mullemann ohne Unterbrechung weiter, sprach von Leichen‐ haufen, Erschießungen, von Dörfern in der Ukraine, von Vergewaltigungen… 19 Rabinovici findet für seine Figur einen Namen, der viele Assoziationen in der Leserschaft hervorruft, wie beispielsweise zu Horror-Filmen wie Die Mumie (Karl Freund, 1932), The Elefant Man (David Lynch, 1990) oder Darkman (Sam Raimi, 1990), der als bandagierter lebender Toter durch New York geistert. Der Name Mullemann steht aber auch dem aus der im Jargon der Lager‐ sprache bekannten Muselmann sehr nahe. Als Muselmänner benannte man die Häftlinge, die völlig abgemagert keinen Lebenswillen mehr hatten und kurz vor „Wir wurden alle mit einer blauen Nummer am Arm geboren“ 223 <?page no="224"?> 20 Agamben, Giorgio (2003). Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 71. 21 Rabinovici (1999: 178). 22 Rabinovici (1999: 49). dem Hungertod standen. Für Giorgio Agamben repräsentiert der Muselmann den einzigen, wahren Zeugen von Auschwitz: Er, der Muselmann, ist wirklich das Gespenst, das unsere Erinnerung nicht zu begraben vermag, der Nicht-zu-Verabschiedende, mit dem wir weiterhin zu rechnen haben. Er zeigt sich einmal als der Nicht-Lebendige, als das Wesen, dessen Leben nicht wirklich Leben ist, und ein andermal als der, dessen Tod nicht Tod genannt werden kann, sondern nur ‚Fabrikation von Leichen‘; als Einschreibung einer toten Zone in das Leben und einer lebendigen Zone in den Tod. In beiden Fällen wird die Menschlichkeit des Menschen selbst in Frage gestellt, weil der Mensch seine wichtigste Verbindung zu dem, was ihn als menschlich konstituiert, zerbrechen sieht: die Heiligkeit von Tod und Leben. Der Muselmann ist der Nicht-Mensch, der sich hartnäckig als Mensch zeigt, und das Humane, das nicht mehr vom Inhumanen getrennt werden kann. 20 Der zurückgekehrte Muselmann Mullemann, „[e]in Mummenschanz - mit Daunen und Mullbinden ausstaffiert wie eine Mumie -, was sag ich, ein Mas‐ kierter“ 21 - kann jedoch sprechen und Zeugnis für die begangenen Verbrechen ablegen. Auch mit der aus der christlichen Mythologie stammenden Figur des um‐ herirrenden Ahasvers und einem Abbild von ihm wird Mullemann in Bezug gesetzt. Das Motiv des Ahasvers erscheint in der zehnten Episode („Navah“) als Gemälde-Portrait in einer Vernissage. Doch während die christliche Legende von einem Fluch in der der Passion Christi spricht, in der der Schuhmacher Ahasver Jesus abgewiesen haben soll und deshalb als auf ewig Umherirrender verflucht wurde, kann diese Figur jedoch auch als der letzte lebende Zeuge Christi gelesen werden, der immerfort durch die Welt wandert, während er Zeugnis von ihm ablegt und seine Existenz bestätigt. Und mit Zeugenschaft ist auch Mullemann gefüllt, repräsentiert er doch das zu Fleisch gewordene Zeugnis der vertuschten und unaufgearbeiteten Verbrechen. Auch in Arieh Arthur Bein setzte sich „eine geheimnisvolle Schuld [fest], von der er nichts ahn[te], die aber seinem bloßen Dasein, der Gegenwart schlechthin, anhafte[te]“ 22 . Nach einem tödlich endenden Vorfall mit einem Neo-Nazi in Wien lässt er sich mit seiner Familie in Tel-Aviv nieder. Dort wird er vom israelischen Geheimdienst erpresst, um Terroristen und Verbrecher aufzuspüren: 224 Rosa Pérez Zancas <?page no="225"?> 23 Rabinovici (1999: 142). 24 Rabinovici (1999: 66). 25 Rabinovici (1999: 65). 26 Rabinovici (1999: 66). 27 Freud, Sigmund (2000 [1919]). Das Unheimliche. In: Freud, Sigmund. Studienausgabe. Band IV. Frankfurt am Main: Fischer, 241-274, 244. 28 Freud (2000: 264). Arieh war eine Einzelerscheinung, eine Ausnahme unter den Kollegen. […] Keiner verfügte über Ariehs wundersame Fähigkeiten, doch der ganze Apparat war von demselben Streben erfüllt, der ihn zum Medium bestimmte: Von der Suche nach den Todfeinden ihrer Existenz. 23 Im Gegensatz zu Dani Morgenthau „verfüg[t] [er] über eine einzigartige Intui‐ tion, einen Jagdinstinkt“ 24 . Eine „seltene Veranlagung“ 25 , eine Krankheit, von der er sich in Israel Heilung verspricht: Meine Intuition, das ist eine Art Allergie, ein Symptom, eine Überempfindlichkeit, die ich hier kurieren möchte. Ich will den Dienst ableisten und dann Mathematik studieren. Ich wollte und will hier keinen suchen - nur mich. 26 Rabinovici präsentiert mit seiner Suche nach M. eine Gespenstergeschichte, die dem Freudschen Konzept des Unheimlichen aus dem Jahr 1919 nahesteht. Das Unheimliche ist nicht die Figur des Mullemann an sich, sondern dass hier etwas zurückgekehrt ist, das aufgrund seiner totalen Vernichtung nicht existieren dürfte und dessen Präsenz von denjenigen gefürchtet wird, die etwas zu befürchten haben und in Mullemann ein aus dem Jenseits der Vergangenheit kommendes Wesen erkennen, das sie nun bedroht. So assoziiert Freud das Unheimliche mit „jene[r] Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht“ 27 , das wir als Phänomen in der Doppelgestalt des heimlich-unheimlichen Mullemanns finden, der in der Perzeption der Schuldigen Angst auslöst. Demzufolge ist er wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist. 28 Das im Verborgenen Gehaltene tritt nun an die Oberfläche und hinterfragt die Aufarbeitung von Verantwortung und Schuld in Österreich. „Gespensterge‐ schichten sollte man schreiben können“, wünschte sich Ruth Klüger, nachdem sie feststellen musste, dass ihr Versuch mit ihrer Autobiographie weiter leben, auch Zeugnis für den ermordeten Vater und Bruder abzulegen, nicht zufrieden‐ stellend vollbracht worden war. Rabinovici hat den Schwerpunkt auf das Leben der Nachgeborenen gesetzt und in seine Gespenster-Geschichte fantastische „Wir wurden alle mit einer blauen Nummer am Arm geboren“ 225 <?page no="226"?> 29 Rabinovici (1999: 252). 30 Jung, Britta C. (2018). Komplexe Lebenswelten - multidirektionale Erinnerungsdis‐ kurse. Göttingen: V&R Unipress, 23. Elemente eingearbeitet. Die Suche nach M. ist nicht nur, wie man annehmen könnte, die Suche nach Mullemann, sondern vor allem ist es die Suche nach den Mördern und eine Aufforderung einer kritischen Aufarbeitung der Vergangen‐ heit Österreichs in der zweiten Generation, die innerhalb der ersten unerfüllt und deshalb unaufgearbeitet blieb. Am Ende fordert Dani: „‚Genug mit dem Lügen und Leugnen dieses Landes. Schluß mit dem Schweigen.‘“ 29 Die anfangs zitierte unsichtbare Nummer, mit der die nächsten Generationen geboren werden, überträgt sich nicht über die verschwiegenen traumatischen Erinnerungen der Eltern. Sie muss „im Rahmen ihres eigenen Erlebnis-, Wahrnehmungs- und Gefühlshorizontes interpretier[t] und neuformulier[t] werden“ 30 , wodurch sich Rabinovici als einer der frühen Autoren der Postme‐ mory-Generation einschreibt. Literatur Agamben, Giorgio (2003). Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Anonym (10.11.2000). Das erste Nazi-Opfer. Die Presse, 7. Assmann, Aleida (2013). Formen des Schweigens. In: Assmann, Aleida / Assmann, Jan (Hrsg.) Schweigen. Archäologie der literarischen Kommunikation. Band-11. Pader‐ born: Wilhelm Fink, 51-68. Freud, Sigmund (2000 [1919]). Das Unheimliche. In: Freud, Sigmund. Studienausgabe. Band IV. Frankfurt am Main: Fischer, 241-274. Hirsch, Marianne (2012). The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture After the Holocaust. New York: Columbia University Press. Jung, Britta C. (2018). Komplexe Lebenswelten - multidirektionale Erinnerungsdiskurse. Göttingen: V&R Unipress. Klüger, Ruth (2008). unterwegs verloren: Erinnerungen. Göttingen: Wallstein. Rabinovici, Doron (1999 [1991]). Suche nach M. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Rabinovici, Doron (2019). I wie Rabinovici. Zu Sprachen finden. Wien. Waldow, Stephanie (2011). Vielleicht ist der Schriftsteller immer eine Art Botschafter. Doron Rabinovici im Gespräch. In: Waldow, Stephanie (Hrsg.) Ethik im Gespräch. Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute. Bielefeld: transcript, 73-84. 226 Rosa Pérez Zancas <?page no="227"?> 1 Vgl. Bangerter, Lowell A. (1980). The Bourgeois Proletarian. A Study of Anna Seghers. Bonn: Bouvier, 159; Straub, Martin (1993). „Gewiß, jeder ist schuld an dem, was er schreibt“ - Anna Seghers’ Erzählung Die Reisebegegnung. Argonautenschiff 2, 69; Phantasie, Wirklichkeit und sozialistischer Realismus Zum Gespenster-Hoffmann von Anna Seghers und Franz Fühmann Loreto Vilar Zusammenfassung: Im Beitrag werden die literaturtheoretischen Über‐ legungen von Anna Seghers und Franz Fühmann gegenübergestellt, um sich ihrem Vorschlag einer (sozialistisch-)realistischen Darstellungsweise anzunähern, die in Anlehnung an E.T.A. Hoffmann Phantasie und Traum, Schauerliches und Teuflisches einbezieht. Schlüsselwörter: Anna Seghers, Franz Fühmann, E.T.A. Hoffmann, das Phantastische, Realismus Abstract: In the article, the literary-theoretical thoughts of Anna Seghers and Franz Fühmann are contrasted in order to come closer to their proposal of a (socialist-)realistic mode of representation which, following E.T.A. Hoffmann, incorporates fantasy and dream, the gruesome and the diabolical. Keywords: Anna Seghers, Franz Fühmann, E.T.A. Hoffmann, the Fan‐ tastic, Realism In der Erzählung Die Reisebegegnung (1972), der letzten im Band Sonderbare Begegnungen (1973) von Anna Seghers (1900-1983), kommen E.T.A. Hoffmann (1776-1822), Nikolai Gogol (1809-1852) und Franz Kafka (1883-1924) Anfang der 1920er Jahre in einem Prager Café zusammen und sprechen über Literatur, wobei die Stimme der Autorin hinter den Worten ihres Hoffmann zu vernehmen ist - wie heute bewiesen zu sein scheint. 1 Das gibt zugleich Aufschluss über ihre <?page no="228"?> Hilzinger, Sonja (2000). Anna Seghers. Stuttgart: Reclam, 160; Zehl Romero, Christiane (2003). Anna Seghers. Eine Biographie 1947-1983. Berlin: Aufbau, 292; Löffler, Katrin (2020). Sonderbare Begegnungen (1973): Sagen von Unirdischen, Der Treffpunkt, Eine [sic] Reisebegegnung. In: Hilmes, Carola/ Nagelschmidt, Ilse (Hrsg.). Anna Seghers Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Berlin: Metzler/ Springer, 157. 2 Die Rede galt als Plädoyer für eine Revision des Romantik-Konzepts in der DDR; ihr wurde von Peter Hacks scharf widersprochen. 3 Seghers, Anna (1979). Über Kunstwerk und Wirklichkeit, Band IV: Ergänzungsband. Bock, Sigrid (Hrsg.). Berlin: Akademie, 99. Gedanken zum Phantastischen und zum Teuflischen, Gedanken, die sich mit den Ansichten des jüngeren Franz Fühmann (1922-1984) decken, insbesondere mit den Aussagen in seiner umstrittenen Rede vor der Akademie der Künste der DDR am 24. Januar 1976 anlässlich des 200. Geburtstages von E.T.A. Hoffmann. 2 Beide, Seghers und Fühmann, beziehen damit Stellung gegen das Diktat vom anerkannten marxistischen Realismus-Theoretiker Georg Lukács, zu dem Seghers im Januar 1973 in ihrem Referat auf einer Vorstandssitzung des Schriftstellerverbandes der DDR zu Fragen der Literaturkritik aber sagte, er hat „auf bestimmte Methoden geschworen und hat einen damit recht verrückt gemacht“. 3 Mit besonderem Augenmerk auf ihre Lektüre des Werks von E.T.A. Hoffmann sollen im Folgenden die wichtigsten Aspekte der literaturtheoretischen Über‐ legungen von Seghers und Fühmann gegenübergestellt werden, um ihrem Vor‐ schlag für eine (sozialistisch-)realistische Darstellungsweise näher zu kommen, die, durch Hoffmann inspiriert, Phantasie und Traum, Schauerliches und Teuf‐ lisches einbezieht. Zunächst werden ihre Worte zum Schriftstellerberuf und zum Realismusbegriff herangezogen, dann wird ihre Einstellung zur problema‐ tischen Gestaltung des Bösen in der DDR-Literatur der 1970er Jahre erörtert. Der Beruf des Schriftstellers In Bezug auf den Beruf des Schriftstellers denken Seghers und Fühmann an erster Stelle über produktionsästhetische Fragen wie die Auswahl von Themen und Figuren nach, anhand derer gegenwärtige Problemstellungen behandelt und Zukunftsprojektionen erstellt werden können. In dieser Hinsicht zeigt sich Seghers’ literarisches Konzept z. B. in den folgenden Worten der Erzählstimme über Hoffmann zu Beginn von Die Reisebegegnung: Menschen in seiner [Hoffmanns] Nähe, die kümmerten ihn. Er war immer begierig, ihr Schicksal aus ihrem Aussehen zu erraten. Und dann ihr Schicksal weiterzudichten in Geschehnissen, die sie selbst nicht errieten [s. z. B. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster, 228 Loreto Vilar <?page no="229"?> 4 Seghers, Anna (2005). Die Reisebegegnung. In: Erzählungen 1967-1980. Werkausgabe. Das erzählerische Werk II/ 6. Kaufmann, Eva (Hrsg.). Berlin: Aufbau, 172-203, hier 173-174. Im Folgenden werden Zitate aus dieser Erzählung unter der Sigle ,R‘ und der Seitenangabe in runden Klammern nachgewiesen. 5 Siehe z. B. die Hauptfiguren der Geschichten im Band Die Kraft der Schwachen (1965). Wichtige Tote bzw. Untote im Werk Anna Seghers’ sind u. a. der Pfarrer Jan Seghers im Erstling Die Toten auf der Insel Djal (1924), der Schriftsteller Weidel im Exilroman Transit (1944), der 1919 ermordete Spartakist Erwin in Die Toten bleiben jung (1949) und die Brasilianerin Maria Luisa in Überfahrt (1971). 6 Fühmann, Franz (1993). Essays, Gespräche, Aufsätze 1964-1981. Rostock: Hirnstorff, 221, Hervorhebung im Original. 1822]. Die Lebenden tot machen und die Toten lebendig, das gehörte zu seinem Beruf. Was noch längst geschehen war, noch einmal vergegenwärtigen und erraten, was in Zukunft passieren könnte. 4 Denn auch Seghers’ Figuren sind Menschen in ihrer Nähe, einfache bzw. schwache Menschen, und sogar Tote, 5 und auch sie spielt in ihrem literarischen Werk mit der Zeit, wie sie es eben in Die Reisebegegnung beweist. An zweiter Stelle setzen sich Seghers und Fühmann mit der rezeptionsästhe‐ tischen Dimension von Literatur auseinander. Auf die Eigenschaft von Literatur, Erfahrungsmodelle zu generieren, verweist z. B. Fühmann in seiner Rede vor der Akademie der Künste der DDR 1976: [D]ie Kunst, vor allem die Literatur, liefert Modelle wesenhafter Erfahrung, die es dem einzelnen gestatten, sich im phantastischen Selbsterlebnis in seiner Umwelt wiederzufinden und sich mit den Mitmenschen zu vergleichen: betroffen, erschüttert, bestätigt als ganzer Mensch; und die Größe eines Dichters besteht wohl darin, solch ein Modell sowohl als ein neues wie als ein lange Zeit brauchbares geschaffen zu haben […], oder er muß sich damit begnügen, vorhandene Modelle zu überholen, zu spezialisieren, mitunter auch nur aufzupolieren, zu reparieren oder auszuschlachten […] 6 Diesbezüglich lässt Seghers in Die Reisebegegnung ihren Hoffmann sagen: Wer sonst als wir [Schriftsteller] kann die Menschen trösten und warnen? Allerdings, man darf nicht schläfrig lesen, man muß wach, abtastend lesen, auf der Suche. Nur dann kommt heraus, was ich [der Autor] meine. (R 181) Denn neben Erfahrungsmodellen soll die Literatur Seghers zufolge vor allem Trost und Warnung anbieten. Von dem Leser oder der Leserin erfordert sie Aufmerksamkeit, Wachsamkeit und Forschungsgeist; von dem Autor oder der Autorin wird erwartet, dass er oder sie neue Horizonte eröffnen. Gegenüber Kafkas Pessimismus, der in Die Reisebegegnung ebenfalls zum Ausdruck kommt („Man wird mir [Kafka] vorwerfen, meine Welt sei ausweglos. Phantasie, Wirklichkeit und sozialistischer Realismus 229 <?page no="230"?> 7 Lichtpünktchen in den Augen der Freiheitskämpfer stehen z. B. in Seghers’ Die Entscheidung (1959) für diese Zukunftshoffnung. Habe ich aber nicht das Recht, wenn mir die Wirklichkeit ausweglos vorkommt, sie darzustellen, wie ich sie sehe? “, R 198), legt Seghers ihrem Hoffmann die folgenden Worte in den Mund: „Man muß […] nach einem Ausweg suchen, nach einer Bresche in der Mauer“ (R 198). Hoffmann sieht nämlich immer ein „Lichtpünktchen“ (R 198) aufglänzen, worin nicht nur der Bezug zu Seghers’ Dissertationsthema, der Malerei Rembrandts, erkennbar ist, sondern auch die Metaphorisierung von Licht als Hoffnungsträger in ihrem literarischen Werk. 7 In dieser Hinsicht denken Seghers und Fühmann auch über die lähmende Wirkung der Angst beim Schreiben nach, insbesondere angesichts des politi‐ schen Drucks und der Bedrohung durch die Zensur. Bei Gogol handelt es sich um eine religiöse Angst („vor der Hölle, mit der ihm die Popen drohen“, R 179), bei Kafka ist es die Todesangst, die Verzweiflung und nicht zuletzt auch das Unbehagen über die sichere Missinterpretation seines Werkes seitens der Nachwelt: [I]ch will nichts übriglassen von meiner Arbeit […]. Man muß sie vernichten, wenn ich gestorben bin. Die Leute werden nur alles mißverstehen, und ich werde mich nicht mehr wehren können. (R 179) Nur Hoffmann ist ohne Angst. Zum einen denkt er: „Warum aber, im Grunde genommen, soviel Wesens machen um die Nachwelt? “ (R 179), zum anderen kann er sich gegen politische Drohung in der Zeit nach dem Wiener Kon‐ gress verteidigen. In Bezug auf die Knarrpanti-Episode in seinem Märchen Meister Floh (1822), die wegen der karikierenden Darstellung des Direktors des Preußischen Polizeyministeriums Carl Albert von Kamptz anlässlich der soge‐ nannten Demagogenverfolgung (infolge der Karlsbader Beschlüsse von 1819) der Zensur zum Opfer gefallen war, versichert Seghers’ Hoffmann: „ich hatte […] beschlossen, bis zur letzten Minute zu schreiben, obwohl oder vielleicht gerade weil es dem Innenminister lieber gewesen wäre, ich hätte damit aufgehört“ (R 175). Ein versteckter Verweis auf Seghers’ Realität im DDR-Kontext lässt sich vermuten, ist heute aber kaum zu ermitteln. Bekannt ist lediglich, dass die Schriftstellerin ihre Manuskripte vor der Publikation mit ihrem Ehemann Lázsló Radványi (1900-1978), einem Befürworter der Parteilinie, besprach. Zur Knarrpanti-Handlung in Hoffmanns Meister Floh äußert sich auch Füh‐ mann im Rundfunkvortrag, der im Januar 1976 von Radio DDR II gesendet wurde. Darin beschreibt er den repressiv-diktatorischen Kontext in Europa unter der Herrschaft der Heiligen Allianz und erinnert an die „Immediat- 230 Loreto Vilar <?page no="231"?> 8 Fühmann (1993: 245). 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Hervorhebung im Original. Commission zur Ermittelung hochverräterischer Verbindungen und anderer gefährlicher Umtriebe“ 8 und an solche Richter, die ihr wie Hoffmann ange‐ hörten, deren Arbeit von Kamptz zu einer Beschwerde an den preußischen Innenminister und an den König bewegte, „weil sie, und nun wörtlich: ,ihre individuelle Überzeugung höher achten als das Gesetz‘“. 9 Im Rundfunkvortrag erinnert Fühmann auch daran, dass der Name des Beamten von Kamptz in Hoff‐ manns Meister Floh „anagrammatisch verschlüsselt“ 10 wird, so dass sich hinter der literarischen Figur des dummen Polizeispitzels Knarrpanti eigentlich den „Narren Kamptz“ 11 leicht erkennen lässt. Zum Schluss erwähnt Fühmann noch: „Ein Disziplinarverfahren wird eingeleitet, dem sich der bereits Schwerkranke aber entzieht: Im Juni 1822 stirbt Hoffmann an Rückenmarksschwindsucht“. 12 Die Nähe zur DDR-Realität der 1970er Jahre liegt auf der Hand und lässt sich auch bald nach der Sendung von Fühmanns Vortrag bestätigen, z. B. anhand von der aufsehenerregenden Ausbürgerung Wolf Biermanns bei seiner Tournee in der BRD im November 1976. Der Realismusbegriff Im Mittelpunkt der literaturtheoretischen Überlegungen von Seghers und Füh‐ mann steht auch das Verhältnis von Wirklichkeit und Literatur, ein Thema, das den Kern der Diskussionen der kulturpolitischen Instanzen der DDR über die (sozialistisch-)realistische Methode bildete. In Die Reisebegegnung bemerkt Hoffmann diesbezüglich: „Was die Leute für pure Phantasie halten, kann manchmal auch ein Stück handfeste Wirklichkeit enthalten“ (R 179). Wie er verknüpft auch Seghers’ Kafka Wirklichkeit und Wahrheit: Jeder von uns muß wahr über das wirkliche Leben schreiben. Die Schwierigkeit liegt darin, daß jeder etwas anderes unter wahr und wirklich versteht. Die meisten verstehen darunter nur das Derb-Wirkliche. Das Sichtbare und das Greifbare. Sobald die Wirklichkeit in Geträumtes übergeht, und Träume gehören zweifellos zur Wirk‐ lichkeit - wozu sollten sie denn gehören? -, verstehen die Leser nicht viel. (R 179- 180) 13 Phantasie, Wirklichkeit und sozialistischer Realismus 231 <?page no="232"?> 14 Seghers, Anna (2011). Erzählungen 1933-1947. Werkausgabe. Das erzählerische Werk II/ 2. Schlenstedt, Silvia (Hrsg.). Berlin: Aufbau, 27. 15 In Bezug auf Goethe sagt Seghers’ Hoffmann: „Zuerst, da gefiel es ihm [Goethe], wie ich vom Wirklichen ins Phantastische springe. Er macht ja selbst solche Sprünge; zum Beispiel im Faust in seiner Walpurgisnacht. Wie sprang er da aus der Wirklichkeit ins Erfundene. Und nach seiner Italienreise, so heißt es, ließ er nur die Antike gelten. Obwohl er wissen sollte, daß gerade die Griechen und Römer oft vom Wirklichen ins Phantastische gleiten“ (R 188). 16 Fühmann (1993: 233). 17 Ebd., 227. 18 Ebd., 218. 19 Ebd., 227. Hervorhebung im Original. Bemerkenswert ist die Nähe solcher Überlegung zum Vorwort der über dreißig Jahre vorher entstandenen Erzählung Die schönsten Sagen des Räubers Woynok (1938), in dem Seghers bereits für einen Realismus plädierte, der auch Träume einschließt: „Und habt ihr denn etwa keine Träume, wilde und zarte, im Schlaf zwischen zwei harten Tagen? “, 14 fragte sie in jenem Vorwort. In Die Reisebegegnung fügt sie durch die Worte ihres Hoffmann hinzu, dass es gerade an den Schriftsteller: innen liegt, den Menschen an ihre Träume zu erinnern: „Die Leute verstehen nur ihre eigenen Träume. Auch wenn sie diese Träume vergessen hätten, sie erinnern sich ihrer, wenn sie dargestellt werden“ (R 180). 15 In seiner Rede vor der Akademie der Künste der DDR 1976 stimmt Fühmann dem zu, am Beispiel E.T.A. Hoffmanns ergänzt er jedoch noch einen weiteren As‐ pekt, der sich auf die Natur der darzustellenden Wirklichkeit bezieht: Hoffmann „braucht den Alltag nicht ins Phantastische zu erheben, weil er ihn durchweg als phantastisch sieht“. 16 Mit Verweis auf Die Elixiere des Teufels (1815/ 16) erklärt Fühmann ferner: [W]as Hoffmann erzählt und voll Grausen erzählt, ist doch nichts anderes als die Verknäulung des Einzelmenschen in Umstände, die er nicht geschaffen, sein Hineingestelltsein in Umstände, die er nicht verschuldet, sein Beladensein mit Bürden, unter denen er ächzt, doch die abzuwerfen und abzuschütteln eben nicht in seinem Belieben liegt, es sei denn in dem der Illusion. 17 Hoffmanns Gespenster seien daher „real und nicht illusionär“, 18 sie entstammen dem Leben, das Gespenstische seiner Erzählungen ist jene Erfahrungs‐ realität des Daseins, die das Räderwerk der Wissenschaft mit dem Wort Gespenster gewiß nicht faßt […] 19 Fühmann unterscheidet nämlich zwischen Gespenstern in der Wissenschaft und in der Literatur: 232 Loreto Vilar <?page no="233"?> 20 Ebd., 228. 21 Ebd., 246-247. 22 Todorov unterscheidet zwischen dem „Wunderbaren“ (merveilleux) der Volks- und Kunstmärchen, und dem „Wunderlichen“ (étrange), das Freud mit dem „Unheimlichen“ identifizierte. Todorov, Tzvetan (1970). Introduction à la littérature fantastique. Paris: Seuil, 46-62. Vgl. Freud, Sigmund (1919). Das Unheimliche. Imago. Zeitschrift für An‐ wendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V, 297-324. Abrufbar unter: https: / / www.gutenberg.org/ files/ 34222/ 34222-h/ 34222-h.htm (Stand: 24/ 08/ 2022). 23 Fühmann (1993: 253). 24 Ebd. 25 Ebd., 367. 26 Fräulein Veronika Paulmann ist die weibliche Hauptfigur in E.T.A. Hoffmanns Der goldne Topf (1814). Ein Gespenst wissenschaftlichen Realitätserfassens ist nicht gleich dem Gespenst als literarischer Erscheinung, das dort rechtens - und das heißt nach meinem Begreifen: realistisch - als Äquivalent auftritt, wo der Alltag des Lebens gespenstisch wird. Das sind unterschiedliche Kategorien. - 20 In demselben Sinne drückt er sich auch noch im Rundfunkvortrag aus, der im Januar 1976 von Radio DDR II gesendet wurde: Hoffmann lebt in der breiten Nachwelt als der Gespenster-Hoffmann fort […] was sein literarisches Œuvre angeht, so wird sicher keiner leugnen wollen, daß es von Spuk und Gespenstern darin wimmelt. […] Er hat seine Gespenster beschworen, um den Alltag zu fassen, die ganze Wirklichkeit des Alltags draußen auf dem Markt und drinnen im Herzen, die volle Realität des Lebens, die er gerade auch als Richter erfahren, die Gesamtheit dieses seltsamen Menschentreibens, zu dem unabdingbar auch das gehört, was der Verstand allein schlecht erklären kann, weil es offensichtlich außerhalb der Vernunft liegt […] 21 Am Beispiel E.T.A. Hoffmanns versucht Fühmann folglich eine methodologische Frage zu beantworten: wie kann eine „wunderliche“ (étrange) Realität im Sinne Todorovs - eine „unheimliche“ laut Freud 22 - in der Literatur dargestellt werden? Fühmann zufolge ist die „Unbestimmtheit“, das „Offensein mehrerer Möglichkeiten“ 23 , eine der Methoden Hoffmanns, „um die Gespenstischkeit eines Alltags zu fassen, der von mehreren Wertsystemen bestimmt ist, seine Mehrdeutigkeit, sein Doppelwesen, kurzum: seine Widersprüchlichkeit“. 24 Solch eine Methode sei gerade in einer historischen Übergangsperiode angebracht, in Umbruchszeiten, in denen sich „die alten mit den neuen Gespenstern [be‐ gegnen]“, 25 wie Fühmann dies im Essay Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann (1979) 26 weiter erklärt. Erneut klingt die Parallele zur DDR-Realität der 1970er Jahre an. Phantasie, Wirklichkeit und sozialistischer Realismus 233 <?page no="234"?> 27 Dazu siehe Plavius, Heinz (1963). Der positive Held im sozialistischen Realismus und der neue Charakter der Arbeit. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 11: 8, 946, 952: „er [der positive Held] hat in der Arbeit seinen Lebenssinn gefunden“ und versteht „unter komplizierten Umständen […], den richtigen Weg einzuschlagen. […] [E]r ist als Persönlichkeit nicht festgefahren, er ist aufgeschlossen und veränderungsfähig. Diese Eigenschaft vermittelt dem Leser die Überzeugung, daß […] [er] seinen richtigen Weg ,zu Ende‘ gehen wird“. Hervorhebung im Original. 28 Fühmann (1993: 218). 29 Ebd., 235. Zur Darstellung des Bösen In ihren Texten weisen Seghers und Fühmann übereinstimmend aber nicht nur darauf hin, dass zur realistischen Darstellung die Wiedergabe von Träumen und „nicht illusionären“ Gespenstern gehört, sondern sie plädieren auch für die Einbeziehung des Schlechten, Bösen - eine Idee in deutlichem Widerspruch zur Forderung der kulturpolitischen Instanzen der DDR nach der Darstellung des „positiven Helden“, des vorbildlichen sozialistischen Helden der Arbeit, in Kunst und Literatur. 27 Während Seghers sich aber darauf beschränkt, die kathartischwarnende Funktion des Negativen herauszustellen, wagt Fühmann gerade dessen kontextuelle Ergründung in der sozialistisch-realistischen Literatur. In Seghers’ Reisebegegnung meint Hoffmann, den Dichter verlocke gerade, das Böse, Teuflische besonders gut darzustellen, und das gelinge ihm meistens besser als die Gestaltung des Guten und Reinen, weil er damit die Menschen tröstet, da er tief in sie eindringt. […] [D]er Leser hat selbst schon oft das Böse empfunden. Wenn er in einem Buch davon liest, weiß er, daß er nicht der einzige ist. Es tut ihm wohl, wie eine Art Beichte. (R 191) Seghers’ schlichte Argumentation lautet dann wie folgt: „Das Böse soll verlo‐ cken, das Gute durch sich selbst wirken“ (R 191). Demgegenüber spricht Fühmann 1976 in seiner Rede vor der Akademie der Künste der DDR folgende Warnung aus: „Man wird Erbe nie verfügbar besitzen, wenn man es auf das Genehme beschränkt“. 28 Gerade bei der Erinnerung an Adelbert von Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1813) und an die Figur des teuflischen grauen Mannes darin, den Hoffmann seinerzeit gezeichnet hat, und der die verschiedensten Gegenständen aus der Tasche zaubern konnte, erwähnt Fühmann Seghers’ Reisebegegnung und kommentiert, ihr Hoffmann würde 1976 in der DDR nicht mehr jenen grauen Mann, sondern „vielleicht eine andere Autorität zitieren, eine, die, auch das Bild von der Tasche bemühend, einen noch größeren Zauber verkündet“: 29 Karl Marx. Fühmann bezieht sich konkret auf eine Stelle aus Marx’ Kapitel Entstehung und Wesen 234 Loreto Vilar <?page no="235"?> 30 Ebd. 31 Ebd., 235-236. 32 Ebd. 375. Hervorhebung im Original. 33 Faust sagt zu Mephistopheles (V. 6271-6274): „Doch im Erstarren such ich nicht mein Heil,/ Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil; / Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure,/ Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure.“ Goethe, Johann Wolfgang (1998). Faust I und II. Die Wahlverwandschaften. Schöne, Albrecht/ Wiethölder, Waltraud (Hrsg.). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 217. des Geldes (in: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, einer Vorarbeit für Das Kapital). Darin geht es um „den Übergang von der Feudalgesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft, vom Feudalalltag zum Bürgeralltag“, 30 wozu Fühmann nicht ohne eine gewisse Ironie bemerkt: [D]as beschämt doch an Gespenstischheit alle Schilderungen Hoffmanns! […] Hier werden seine Gespenster real und seine Mythen alltäglich […] Sie sind, diese Mythen Hoffmanns, das in der Dichtung und als Dichtung fürs Leben, was die ungeheuerliche Dialektik von Gebrauchswert und Tauschwert der Kategorie Ware, wie sie Marx ent‐ wickelt, in der Wissenschaft und als Wissenschaft fürs Leben darstellt: die Erfassung der Alltagsphänomene mit dem jeweils geeigneten Instrumentarium. 31 In der Darstellung des Gespenstischen, Grauenvollen erkennt Fühmann ferner - und in Anlehnung an Freuds Begriff des Unheimlichen - ein weiteres warnendes Element der realistischen Literatur, das sich nicht nur in der äußeren Welt, sondern auch im Innersten des Menschen manifestiert. In diesem Sinne schreibt er im Essay Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann (1979): Wenn das Unheimliche nach der Auffassung Freuds, […] ,wirklich nichts Neues oder Fremdes‘ ist, ,sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden‘, so könnte man das Schaudern als Warnung verstehen, dieses Verdrängte bewußtzumachen, an den Schlaf der Welt und der Seele zu rühren, und das Grauenvolle wäre der äußerste Grad einer solchen Warnung: Ungeheuerliches nicht nur als real im Außen, sondern als möglich auch in sich selbst zu erkennen. […] Man muß sich ihm [dem Grauen- und Schaudernmachenden] stellen. Seid wach und munter. 32 Indem Fühmann hier auch noch die Stelle aus Goethes Faust II zitiert, 33 wo das Erstarren als der wertlose Teil des Menschen bezeichnet wird, und das Staunen und das Schaudern bzw. das Erschüttert-Sein als das Beste an der menschlichen Existenz, das auch am Anfang allen Fortschritts steht, erkennt er gerade die Größe des Wunderlich-Phantastischen bei E.T.A. Hoffmann an: Phantasie, Wirklichkeit und sozialistischer Realismus 235 <?page no="236"?> 34 Fühmann (1993: 376-377). Hier zitiert Fühmann E.T.A. Hoffmanns Die Genesung (1822). 35 Ebd., 377. 36 In Die romantische Schule (2. Buch, IV) schrieb Heine: „Hoffmann […] sah überall nur Gespenster, sie nickten ihm entgegen aus jeder chinesischen Teekanne und jeder Berliner Perücke; er war ein Zauberer, der die Menschen in Bestien verwandelte und diese sogar in königlich preußische Hofräte; er konnte die Toten aus den Gräbern hervorrufen, aber das Leben selbst stieß ihn von sich als einen trüben Spuk. Das fühlte er; er fühlte, daß er selbst ein Gespenst geworden; die ganze Natur war ihm jetzt ein mißgeschliffener Spiegel, worin er tausendfältig verzerrt nur seine eigne Totenlarve erblickte, und seine Werke sind nichts anders als ein entsetzlicher Angstschrei in Ist das Schaudern des Menschen bestes Teil? - Wir möchten nicht mehr daran zweifeln wollen. - Das Schaudern steht wie das Staunen am Anfang des Begreifens, und Staunen wie Schaudern fordern den ganzen Menschen und fordern ihn ganz. Daß Schaudern und Staunen Geschwister sind, hat Hoffmann, wie so vieles, gewußt […] - Staunen und Grauen, daraus wächst Bewußtsein, oder sagen wir vorsichtiger: daraus kann es wachsen, „eine klare Fantasie, ein heller Verstand“. 34 Erneut unter Berufung auf den über jeden Verdacht erhabenen Marx und auf die kommunistische Fibel fragt sich Fühmann in Form einer spitzen Pointe schließlich: „Aber warum wundert sich keiner, daß ein Werk von anerkannt hellstem Bewußtsein, das Kommunistische Manifest, mit dem Satz beginnt, ein Gespenst gehe um? “, um zuallerletzt zu betonen, „Ernst Theodor Amadeus Hoffmann war ein Lieblingsautor von Karl Marx“. 35 Fazit Die problematische Rezeption von Seghers’ Reisebegegnung und Fühmanns Essayistik zu E.T.A. Hoffmann in der DDR der 1970er Jahre zeigt die mangelnde Bereitschaft der kulturpolitischen Organe jenes Staates, ihre Ansichten und Vorschläge für ein Realismus-Konzept in Betracht zu ziehen, das offen wäre für die Wirklichkeit der Träume und des Wunderlich-Phantastischen. Damit blieben ihre Versuche im Bereich des Literarpädagogischen, wohl auch des literarpolitisch Mahnenden, sogar Vorwurfsvollen. Aus unserer historischen Perspektive sei nur angemerkt, dass sich zwei Intellektuelle aus zwei verschie‐ denen Generationen in der DDR gegen ideologisierende Kontrolle bzw. Zensur ausgesprochen haben. Und dass sie dies aus sozialistischer Überzeugung heraus für einen Realismusbegriff getan haben, den sie selbst mit der Gewissheit praktizierten, dass das Sonderbare, das Gespentische, auch zeitkritisch wirken kann. E.T.A. Hoffmann, den Heinrich Heine in Die romantische Schule (1836) mit einem Gespenst identifizierte, 36 wurde von Anna Seghers und Franz Fühmann 236 Loreto Vilar <?page no="237"?> zwanzig Bänden.“ Heine, Heinrich (1971). Sämtliche Schriften. 3. Band. Pörnbacher, Karl (Hrsg.). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 440. als ein Vorbild gesehen, das Trost und Katharsis, Welt- und Selbsterkenntnis bot. Literatur Bangerter, Lowell A. (1980). The Bourgeois Proletarian. A Study of Anna Seghers. Bonn: Bouvier. Freud, Sigmund (1919). Das Unheimliche. Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psycho‐ analyse auf die Geisteswissenschaften V, 297-324. Abrufbar unter: https: / / www.gute nberg.org/ files/ 34222/ 34222-h/ 34222-h.htm (Stand: 24/ 08/ 2022). Fühmann, Franz (1993). Essays, Gespräche, Aufsätze 1964-1981. Rostock: Hirnstorff. Goethe, Johann Wolfgang (1998). Faust I und II. Die Wahlverwandschaften. Schöne, Al‐ brecht/ Wiethölder, Waltraud (Hrsg.). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Heine, Heinrich (1971). Sämtliche Schriften. 3. Band. Pörnbacher, Karl (Hrsg.). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Hilzinger, Sonja (2000). Anna Seghers. Stuttgart: Reclam. Löffler, Katrin (2020). Sonderbare Begegnungen (1973): Sagen von Unirdischen, Der Treff‐ punkt, Eine [sic] Reisebegegnung. In: Hilmes, Carola/ Nagelschmidt, Ilse (Hrsg.). Anna Seghers Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Berlin: Metzler/ Springer. Plavius, Heinz (1963). Der positive Held im sozialistischen Realismus und der neue Charakter der Arbeit. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 11: 8, 933-955. Seghers, Anna (1979). Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Band IV: Ergänzungsband. Bock, Sigrid (Hrsg.). Berlin: Akademie. Seghers, Anna (2005). Die Reisebegegnung. In: Erzählungen 1967-1980. Werkausgabe. Das erzählerische Werk II/ 6. Kaufmann, Eva (Hrsg.). Berlin: Aufbau, 172-203. Seghers, Anna (2011). Erzählungen 1933-1947. Werkausgabe. Das erzählerische Werk II/ 2. Schlenstedt, Silvia (Hrsg.). Berlin: Aufbau. Straub, Martin (1993). „Gewiß, jeder ist schuld an dem, was er schreibt“ - Anna Seghers’ Erzählung Die Reisebegegnung. Argonautenschiff 2, 64-78. Todorov, Tzvetan (1970). Introduction à la littérature fantastique. Paris: Seuil. Zehl Romero, Christiane (2003). Anna Seghers. Eine Biographie 1947-1983. Berlin: Aufbau. Phantasie, Wirklichkeit und sozialistischer Realismus 237 <?page no="239"?> Alternative Perspektiven: Jugendliteratur und Naturbewusstsein <?page no="241"?> Hoffmanns Spuren in Phantásien Zur Beziehung zwischen realer und fantastischer Welt in E.T.A. Hoffmanns Der goldne Topf und Michael Endes Die unendliche Geschichte Marc Arévalo Sánchez Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag untersucht den Einfluss von E.T.A. Hoffmanns Der goldne Topf auf Michael Endes Die unendliche Geschichte. Dabei wird zuerst auf die dualistische Konzeption in beiden Werken eingegangen, wobei das Außenseitertum der Hauptfiguren in den Vordergrund tritt. Anschließend werden die gemeinsamen Motive der Schlange, des Zauberspiegels und des geschriebenen Wortes kommentiert, die das Verhältnis zwischen beiden Welten versinnbildlichen. Schlüsselwörter: Michael Ende, E.T.A. Hoffmann, Schlange, Zauber‐ spiegel, geschriebenes Wort Abstract: This contribution analyses the influence of E.T.A. Hoffmann’s Der goldne Topf on Michael Ende’s The Neverending Story. The study focuses on the dualistic conception in both works, focusing on the outsider existence of the main characters. Then, the common motifs which symbo‐ lise the interrelation between the two worlds will be examined: the snake, the magic mirror and the written word. Keywords: Michael Ende, E.T.A. Hoffmann, snake, magic mirror, written word An der Schwelle zwischen zwei Welten E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen Der goldne Topf (1814) und Michael Endes Roman für Kinder und Jugendliche Die unendliche Geschichte (1979) gehen von einer ähnlichen Situation aus: ein junger Mensch rennt. Der Student Anselmus <?page no="242"?> 1 Hoffmann, E.T.A. (2019). Der goldne Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit. Stuttgart: Reclam, 9. 2 In Hoffmanns Text wird die Grenzüberschreitung ins Wunderbare durch die Erwäh‐ nung des Schwarzen Tores vorweggenommen. Obwohl es sich dabei um einen realen Ort handelt, verweist sein Name auf den Eintritt in die ‚dunkle‘ Welt des Wunder‐ baren, was auch durch die Begegnung des Äpfelweibes markiert wird (vgl. Gleiser, Siegmund/ Winkler, Andreas (1987). Entgrenzte Wirklichkeit. E.T.A. Hoffmann: Der Goldne Topf. Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert. Stuttgart: Klett, 10f). 3 Steinecke, Hartmut (2019). „Nachwort“. In: Ders./ Wührl, Paul-Wolfgang (Hrsg.): E.T.A. Hoffmann. Der goldne Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit. Stuttgart: Reclam, 119. 4 Steinecke (2019: 117). 5 Hoffmann (2019: 9). 6 Ende, Michael (1993). Die unendliche Geschichte. München: dtv, 41. 7 Ebd., 10. rennt in den ersten Zeilen von Hoffmanns Märchen „durchs Schwarze Tor“ 1 , als er über eine Äpfelverkäuferin stolpert, die sich später als eine Hexe entpuppt. Im ersten Kapitel von Endes Roman dringt der dicke Junge Bastian Balthasar Bux an einem regnerischen Tag ins Antiquariat von Herrn Koreander ein, als ihn seine Klassenkameraden verfolgen. Das Rennen, das beide Protagonisten in der jeweiligen Anfangsszene verbindet, deutet schon auf ihre wundersame Reise in andere Welten hin, die sich als Flucht vor der Realität verstehen lässt, in der sie leben und die ihnen fremd bleibt. 2 Auch wenn Anselmus „als Bürger mit durchaus philiströsen Neigungen“ 3 erscheint, ist ihm die bürgerliche Gesellschaft fremd. Mehrmals im Laufe der Erzählung wird die Ungeschicklichkeit des jungen Studenten im bürgerlichen Bereich angesprochen. Anselmus wird als „Tollpatsch“ 4 charakterisiert, was ihm das Leben im bürgerlichen Milieu erschwert. Interessant ist aber, dass Anselmus seine Ungeschicklichkeit auf den „Satan“ 5 zurückführt. Auch Bastian ist sein Leben in der modernen Gesellschaft fremd. Der dicke Junge wird von seinen Klassenkameraden und sogar von seinen Lehrern ausgelacht. Auch er ist kein geschickter Schüler, im Vorjahr ist er sitzengeblieben und er hält Schulunterricht für ein sinnloses Auswendiglernen. Nicht einmal bei seinem Vater fühlt er sich wohl. Seit dem Tod seiner Mutter ist der Vater verschwiegen, als wäre „eine unsichtbare Mauer um ihn, durch die niemand dringen konnte“. 6 Beim Gespräch mit Herrn Koreander wird zudem ein wei‐ terer Grund für Bastians Außenseitertum bekannt gegeben: „Ich denk’ mir Geschichten aus, ich erfinde Namen und Wörter, die’s noch nicht gibt“. 7 Bastian scheint also durch seine Einbildungskraft neue Welten zu entwerfen, die ihm ermöglichen, sich von seiner Realität zu entfernen. Deutlich wird das im ersten Kapitel, als Bastian die Schule schwänzt, um sich im Schullager zu verstecken und das aus Herr Koreanders Laden gestohlene Buch zu lesen. 242 Marc Arévalo Sánchez <?page no="243"?> 8 Hoffmann (2019: 70 f). 9 Wie Steinecke (2019: 118) ausführt, ist diese Dualität auch in Hoffmanns Märchen in den verschiedenen Handlungsorten zu erkennen. Die Wohnung der Paulmanns steht für die bürgerliche Welt, während das Fantastische sich im Haus des Archivarius Lindhorst ereignet. Geisler/ Winkler (1987: 8 ff.) deuten ferner auf die Ambivalenz der jeweiligen Handlungsorte hin, wobei jede Sphäre Züge der anderen aufweist. Das führe zu einer Art Symbiose zwischen Wirklichkeit und Fantasie. 10 Hoffmann (2019: 33). 11 Zur Interpretation des Atlantis-Mythos siehe Wührl, Paul-Wolfgang (1982). E.T.A. Hoffmann. Der goldne Topf. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam, 79-97. 12 Endes Roman ist in zwei unterschiedlichen Teilen strukturiert. Im ersten (erste zwölf Kapitel) werden die Abenteuer Atréjus auf der Suche nach einem Heilmittel für die Kindlichen Kaiserin erzählt. Das 13. Kapitel eröffnet einen zweiten Teil, in dem Bastian nach Phantásien kommt und mithilfe seiner Einbildungskraft das fantastische Reich neugestaltet. Sowohl Anselmus als auch Bastian scheitern daran, sich dem jeweiligen Bereich anzupassen. Gemeinsam scheint beiden eines zu sein: das, was Serpen‐ tina als „kindliches poetisches Gemüt“ bezeichnet, das sich oft „bei Jünglingen [findet], die der hohen Einfachheit ihrer Sitten wegen, und weil es ihnen ganz an der sogenannten Weltbindung fehle, von dem Pöbel verspottet würden“. 8 Ihr kindlich-poetisches Gemüt, ihre Neigung zum Wunderbaren, macht aus Anselmus und Bastian Grenzgänger zwischen Realität und Fantasie. Beide Protagonisten befinden sich daher an der Schwelle zwischen beiden Welten. Hoffmanns Märchen und Endes Kinderroman unterliegen einer dualis‐ tischen Grundstruktur. Der bürgerlichen Welt des Konrektors Paulmann und seiner Tochter Veronika steht in Hoffmanns Der goldne Topf das Reich Atlantis gegenüber, aus dem der Salamander Archivarius Lindhorst stammt und wo ein Leben im perfekten Einklang mit der Natur steht. 9 Der Salamander wurde vom Geisterführer Phosphorus des Reiches verwiesen. Die Töchter des Archivarius -die in der realen Welt in Form von „goldgrünen Schlanglein“ 10 auftauchen - müssen jeweils einen Mann heiraten, damit ihr Vater zurück nach Atlantis darf. 11 Dem realen, durch Schulversagen und familiäre Probleme gekennzeichneten Leben des Schülers Bastian steht in Endes Roman Phantásien gegenüber, worüber er im Buch Die unendliche Geschichte liest. Das Reich der todkranken Kindlichen Kaiserin wird allmählich vom Nichts erobert. Der junge Held Atréju begibt sich auf die Suche nach einem Heilmittel für die Kaiserin sowie nach einer Lösung für die Zerstörung Phantásiens. Das Buch, das Bastian von Herrn Koreander stahl, erweist sich aber als ein Zauberbuch, das den Jungen zum Teil der Geschichte werden lässt und ihn sogar nach Phantásien bringt, um das fantastische Reich mithilfe seiner Einbildungskraft neuzugestalten, wie Bastian das im zweiten Teil des Romans tut. 12 Hoffmanns Spuren in Phantásien 243 <?page no="244"?> 13 Nikolajeva, Maria (1988). The Magic Code. The use of magical patterns in fantasy for children. Göteborg: Almquist & Wiksell International. Nikolajeva unterscheidet neben der offenen Welt zwei weitere Auslegungsformen des Zwei-Welten-Modells: die ‚geschlossene Welt‘ („closed world“) und die ‚implizierte Welt‘ („implied world“). Eine ‚geschlossene‘ fantastische Welt zeichnet sich dadurch aus, dass sie keinen Kontakt mit der realen Welt zulässt. Die ‚implizierte Welt‘ wird dagegen im literarischen Text nicht explizit erwähnt. Ihre Existenz wird allerdings durch den Durchbruch fantastischer Kräfte in die reale Welt geahnt. 14 Hoffmann (2019: 21). Diese Dualität lässt sich anhand von Nikolajevas ‚Zwei-Welten-Modell‘ erläutern. Ihr zufolge beruht die fantastische Literatur auf einer dualistischen Struktur, in der zwei Welten dargestellt werden: eine primäre, reale Welt und eine sekundäre, fantastische Welt. Wie schon angesprochen, werden Hoffmans und Endes wunderbare Welten nicht als hermetisch abgeschlossen der realen Welt unzugängliche Sphären geschildert. Es besteht eine gewisse Wechselbe‐ ziehung zwischen ihnen, die den Bewohnern der beiden Welten erlaubt, ihre Grenzen zu überschreiten. Atlantis und Phantásien lassen sich in Anlehnung an Nikolajevas Modell als ‚offene sekundäre Welten‘ interpretieren. 13 Worin besteht aber der Kontakt zwischen realer und fantastischer Welt? Bei Hoffmann sowie bei Ende wird dies durch drei Motive dargelegt: die Schlange, den Zauberspiegel und das geschriebene Wort. Die Schlangen weisen den Weg Die Kontaktaufnahme mit der Welt des Wunderbaren erfolgt bei Anselmus sowie bei Bastian in Verbindung mit dem Motiv der Schlange, die ihnen jeweils den Weg ins Fantastische weist. Der Student Anselmus begegnet am Himmelfahrtstag zwischen den Zweigen eines Holunderbaums drei goldgrünen Schlangen, unter denen sich Serpentina, die jüngste Tochter des Archivarius Lindhorst, befindet. Ihre dunklen blauen Augen verursachen dem Studenten Anselmus ein starkes Sehnsuchtsgefühl, sodass er sich sofort in sie verliebt. In Anlehnung an das biblische Schlangenbild als Inbegriff der verführerischen Kräfte, die die menschliche Reinheit und Sündenlosigkeit zu verderben drohen, fungiert hier die Gestalt der Schlange Serpentina als Verführerin, die den Studenten in die wunderbare und irrationale Seite des Lebens treibt. Bei Hoffmann übernimmt die Schlange aber auch eine weitere Funktion. Als Anselmus sich zum ersten Mal zum Archivarius begibt, wird der Türklopfer zu einer „weißen durchsichtigen Riesenschlange“, 14 die sich rot färbt, nachdem sie die Brust des Anselmus gebissen und sein Blut gesaugt hat. Wie später der Archivarius Lindhorst berichtet, handelt es sich dabei um das 244 Marc Arévalo Sánchez <?page no="245"?> 15 Ebd., 5. 16 Ebd., 81. 17 Ende (1993: 11). 18 Ebd. 19 Vgl. Cirlot, Juan-Eduardo (1992). Diccionario de símbolos. Barcelona: Labor, 295. Äpfelweib, seine Feindin, die ständig den Anselmus daran zu hindern versucht, bei dem Archivarius zu arbeiten. Die Gestalt der Schlange übernimmt hier die Funktion, Anselmus vor den Gefahren zu warnen, die die Arbeit beim Archivarius mit sich bringen kann. Die durchsichtige, weiße Schlange, die das Blut des Anselmus saugt, könnte nämlich auf die Kristallflasche hinweisen, in die der Student nach dem Verderben des Manuskripts eingesperrt wird. Die Warnung des Äpfelweibes „Ins Kristall bald dein Fall“ 15 materialisiert sich im Bild der durchsichtigen Schlange, die durch das Blutsaugen den Anselmus zu sich nimmt. Das Motiv der Schlange ist darüber hinaus bei Anselmus’ Ein‐ sperrung in der Kristallflasche präsent: „Die goldnen Stämme der Palmbäume wurden zu Riesenschlangen, die ihre grässlichen Häupter in schneidendem Me‐ tallklange zusammenstießen und mit den geschuppten Leibern den Anselmus umwanden.“ 16 Die Schlange scheint hier also eine gewisse warnende Funktion zu übernehmen. In Michael Endes Die unendliche Geschichte taucht das Motiv der Schlange auf zwei unterschiedlichen Ebenen auf. Das Bild, das die meisten Ausgaben im Einband aufweisen, „zwei Schlangen, eine helle und eine dunkle, die sich gegenseitig in den Schwanz beißen und so ein Oval bilde[n]“, 17 stellt das Zeichen Auryn dar, das Symbol der Kindlichen Kaiserin und Phantásiens. Dieses Zeichen ist zudem auf einer zweiten Ebene vorhanden: Das Buch, das Bastian vom Herrn Koreander stiehlt und ihm die Reise nach Phantásien erlaubt, weist es ebenso im Einband auf. So wie in Hoffmanns Märchen markieren die Schlangen den Einstieg, den ersten Kontakt, mit der Welt des Wunderbaren. Ebenso wie bei Anselmus üben sie eine verführerische Kraft auf Bastian aus. Für ihn wirken sie als „eine Art Magnetkraft […], die ihn unwiderstehlich anzog“. 18 Erneut taucht die Schlange als Verführerin auf. Auryn fungiert zudem als ein Tor, das die reale und die fantastische Welt verbindet. Die elliptische Form, die beide Schlangen formen, ist mit der Figur der Mandorla verknüpft, die aus zwei sich überschneidenden Kreisen gebildet ist. In der christlichen Tradition symbolisiert sie die Verknüpfung zweier Sphären: der irdischen und der himmlischen. 19 In Endes Roman lässt sich das Oval der zwei Schlangen also für die Verbindung der realen und der fantastischen Welt betrachten. Hoffmanns Spuren in Phantásien 245 <?page no="246"?> 20 Ende (1993: 469). 21 Ebd., 484. 22 Vgl. Wührl (1982: 77 f). Doch die Schlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz beißen, deuten auch auf das Verhältnis hin, das zwischen beiden Welten bestehen muss: „das Verderben, das sie hervorrufen konnten, war nur gebannt, weil sie sich gegenseitig gefangen hielten. Wenn sie sich je losließen, dann würde die Welt untergehen“. 20 Das Schlangenmotiv übernimmt auch bei Ende eine warnende Funktion, indem es auf das Gleichgewicht hinweist, das zwischen der realen und der fantastischen Welt herrschen soll, damit beide Welten ‚gesund‘ bleiben, wie Herr Koreander im letzten Kapitel des Romans behauptet: Es gibt Menschen, die können nie nach Phantásien kommen […] und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben für immer dort. Und dann gibt es noch einige, die gehen nach Phantásien und kehren wieder zurück. So wie du [Bastian]. Und die machen beide Welten gesund. 21 Spuren von Fantasie gehören in die reale Welt genauso wie Spuren von Realität in die fantastische Welt. Nur dadurch wird die ‚Gesundheit‘ beider Welten gewährt. Ende scheint hier eine Alternative zur Entscheidung des Studenten in Hoffmanns Märchen zu entwerfen. Im Gegensatz zu Anselmus, der Serpentina heiratet und in Atlantis bleibt, kehrt Bastian aus Phantásien zurück, um sowohl Phantásien mithilfe seiner Einbildungskraft als auch seine eigene Welt durch die Wiederherstellung seiner Beziehung zum Vater gesund zu machen. Das Ich im Spiegel Sowohl in Hoffmanns Märchen als auch in Endes Roman werden die Hauptfi‐ guren mit einem magischen Spiegel konfrontiert, das das Verhältnis zwischen ihnen und den beiden bewohnten Welten veranschaulicht. Der Spiegel fungiert in Hoffmanns Der goldne Topf als Leitmotiv, das im Laufe des Werkes in verschiedenen Auslegungen auftaucht. 22 Der Smaragdspiegel des Archivarius Lindhorst, in dem Anselmus die drei goldgrünen Schlangen wiedersieht, der goldene Topf, auf dem das wunderbare Reich Atlantis wider‐ gespiegelt wird, und der Metallspiegel, den das Apfelweib für Veronika herstellt, belegen die wesentliche Rolle, die dieses Motiv im Werk spielt. Zwei von den genannten Spiegeln sind für die vorliegende Untersuchung relevant: der als Spiegel fungierende goldene Topf und der Metallspiegel Vero‐ nikas. Über die Funktion des goldenen Topfs berichtet Serpentina: „in seinem Glanze soll sich unser wundervolles Reich, wie es jetzt im Einklang mit der 246 Marc Arévalo Sánchez <?page no="247"?> 23 Hoffmann (2019: 70). 24 Ebd., 50. 25 Ebd., 70. 26 Ebd., 45. 27 Ebd., 73. 28 Ebd., 75. ganzen Natur besteht, in blendendem herrlichen Widerschein abspiegeln“. 23 Dies erfährt Anselmus, als er zum ersten Mal den goldenen Topf sieht. Auf der goldenen Oberfläche sieht er aber nicht nur das wunderbare Reich Atlantis, sondern auch seinen eigenen Reflex: Es war als spielten in tausend schimmernden Reflexen allerlei Gestalten auf dem strahlenden polierten Golde - manchmal sah er sich selbst mit sehnsüchtig ausgebrei‐ teten Armen […] Serpentina schlängelte sich auf und nieder, ihn anblickend mit den holdseligen Augen. 24 Der goldene Topf spiegelt auch den Wunsch des Anselmus wider, zusammen mit Serpentina jenes wunderbare Reich zu bewohnen. Er wird also mit seinem inneren Bild konfrontiert, das ihm sein „kindliches poetisches Gemüt“ 25 offen‐ legt, d. h. seine Neigung zum Wunderbaren, die von der schlangenförmigen Serpentina erweckt wurde. Die Konfrontation mit seinem Selbstbild ist dennoch unvollständig und wird erst durch das Vorkommen eines weiteren Spiegels ergänzt. Der Metallspiegel, den das Äpfelweib - das sich als die ehemalige Amme Veronikas entpuppt - durch ein magisches Ritual für Veronika herstellt, bietet dem Student Anselmus einen Einblick in einen anderen Teil seiner Identität. Wie das Äpfelweib andeutet, kann dieser Spiegel „den Anselmus von der törichten Liebe zur grünen Schlange“ heilen „und ihn als den liebenswürdigen Hofrat in deine [Veronikas] Arme“ 26 führen. Er soll demnach Anselmus’ kindlich-poetisches Gemüt auslöschen und es durch eine gewisse bürgerliche Mentalität ersetzen. Als Anselmus in den Metallspiegel hineinblickt, wird er tatsächlich von einer „einbrechende[n] Macht“ erobert, die „ihn unwiderstehlich hin zur vergessenen Veronika“ 27 treibt. Er beginnt sogar, an allen wunderbaren und fantastischen Ereignissen, die er beim Archivarius erlebte, zu zweifeln: Alles Verworrene fügte und gestaltete sich zum deutlichen Bewusstsein. Ihm werde es nun klar, dass er nur beständig an Veronika gedacht, ja dass die Gestalt, welche ihm gestern in dem blauen Zimmer erschienen, auch eben Veronika gewesen, und dass die fantastische Sage von der Vermählung des Salamanders mit der grünen Schlange ja nur von ihm geschrieben, keineswegs aber erzählt worden sei. 28 Hoffmanns Spuren in Phantásien 247 <?page no="248"?> 29 Jaffé, Aniela (1900). Bilder und Symbole zu E.T.A. Hoffmanns Märchen ‚Der goldne Topf ‘. Einsiedeln: Daimon, 164. 30 Ende (1993: 109). 31 Ebd. 32 Ebd., 105. Das erste Tor, „das Große Rätsel Tor“ (ebd.), wird von zwei Sphinxen überwacht. Wer ihre Blicke trifft, wird mit allen Rätseln der Welt konfrontiert und kann nicht fortgehen, bis er sie alle gelöst hat. Das dritte Tor, das „Ohne Schlüssel Tor“ (ebd.), wird nur demjenigen geöffnet, der nicht beabsichtigt, durch die Tür zu gehen. 33 Ebd., 110. Der Metallspiegel saugt den Glauben Anselmus’ an das Wunderbare auf, sodass er sich nun nach der bürgerlichen Vernunft richtet, für die der Konrektor Paul‐ mann plädiert. Wie Jaffé anmerkt, gelingt es dem Zauberspiegel, „den Jüngling im Innersten zu berühren, was aber nur heißt, daß der Zweck, den dieser Zauber verfolgt, einer Tendenz in ihm selbst entspricht“. 29 Der Metallspiegel Veronikas konfrontiert ihn mit dem realistischen, bürgerlichen Teil seiner Identität, der nach Aufstieg in der bürgerlichen Gesellschaft strebt und sich in seiner Liebe zu Veronika materialisiert. Auch dem Schüler Bastian in Endes Roman dient ein Zauberspiegel zur Entdeckung seiner Identitätsproblematik. Nochmals kommen hier zwei Spiegel ins Spiel, die sich aber auf unterschiedlichen Erzählebenen befinden. Auf den ersten Spiegel stößt Bastian in der realen Welt, im Schulspeicher, wo er sich versteckt und ohne Pause Die unendliche Geschichte liest. Da erschrickt der Junge, als er seinen eigenen Reflex in einem „halbblinde[n] Spiegel“ 30 sieht: „Schön war er wahrhaftig nicht mit seiner dicken Figur und den X- Beinen und diesem käsigen Gesicht. Er schüttelte langsam den Kopf und sagte laut: »Nein! «“. 31 Bastian stellt sich hier seinem äußeren Aussehen, das ihm keineswegs gefällt. Dass es sich hier jedoch um einen ‚halbblinden Spiegel‘ handelt, deutet darauf hin, dass dieses Bild unvollständig ist. Sein Äußeres, die Figur des dicken, ungeschickten Schülers, entspricht nur einem Teil seiner Identität. Die Konfrontation mit einer weiteren Dimension seines Selbst findet aller‐ dings im Bereich des Fantastischen statt, d. h. im Rahmen der Abenteuer Atréjus. Auf dem Weg zum Südlichen Orakel, von dem Atréju Auskunft über das Heilmittel für die Krankheit der Kindlichen Kaiserin zu bekommen hofft, muss der junge Held durch drei magische Tore gehen. Das zweite von ihnen heißt „das Zauber Spiegel Tor“. 32 Was dieses Spiegeltor besonders macht, ist dass man nicht sein Äußeres sieht, sondern „sein wahres inneres Wesen, so wie es in Wirklichkeit beschaffen ist“. 33 Als Atréju aber vor dem Spiegeltor steht, sieht er nicht seinen eigenen Reflex, sondern „einen dicken Jungen mit blassem Gesicht - etwa ebenso alt wie er selbst -, der mit untergeschlagenen Beinen auf einem 248 Marc Arévalo Sánchez <?page no="249"?> 34 Ebd., 115. 35 Ebd., 110; Hervorhebung M.A.S. 36 Vgl. Di Cesare, Elena (2015). La figura del libro in Die unendliche Geschichte di Michael Ende: da finestra a varco. Altre Modernità 1, 402. 37 Hoffmann (2019: 65). Mattenlager saß und in einem Buch las“. 34 Er sieht also Bastian im Schullager. So kann Atréju durchschauen, wie er „in Wirklichkeit beschaffen ist“. 35 Er ist nichts als ein Produkt von Bastians Einbildungskraft. Atréju stellt eine Art Alter Ego Bastians dar, auf dessen Figur der Junge seine innersten Wünsche projiziert. Bei der Lektüre dieser Passage der Unendlichen Geschichte gelingt es aber auch Bastian, vor dem Zauberspiegel zu stehen. Er ist dadurch auch in der Lage zu sehen, wie er „in Wirklichkeit beschaffen ist“. Wie Di Cesare anmerkt, entsprechen die im Prinzip entgegengesetzten Bilder demselben Subjekt, nur aus unterschiedlichen Perspektiven. 36 Atréjus Bild repräsentiert das innere Bild Bastians, der mit einem weiteren Teil seiner Identität konfrontiert wird, der bisher verdrängt blieb: seine Neigung zum Wunderbaren, die von den Mitschülern als kindisches Verhalten abgetan wird, kann aus dem dicken, verschlossenen, ausgegrenzten Jungen einen Helden machen. Der Zauberspiegel fungiert demnach sowohl bei Hoffmann als auch bei Ende als Mittel zur Selbsterkenntnis. Anselmus und Bastian erkennen dank des magischen Gegenstands ihre zweiteilige Identität und werden sich somit des inneren Konflikts des Individuums wegen seiner Zwischenposition zwischen Realität und Fantasie bewusst. Die Macht des geschriebenen Wortes Das letzte Motiv bezieht sich auf das geschriebene Wort, das in Der goldne Topf sowie in Die unendliche Geschichte eine wesentliche Rolle bei der Beziehung zwischen realer und fantastischer Welt spielt. Bei Hoffmann taucht das Motiv des geschriebenen Wortes im Rahmen von Anselmus’ Arbeit beim Archivarius Lindhorst auf. Nach dem Abschreiben von zahlreichen Manuskripten in Sprachen, die dem Studenten vertraut sind, lässt der Archivarius ihn in einem anderen Zimmer arbeiten, dem sogenannten ‚blauen Palmbaumzimmer‘, wo Anselmus geheimnisvolle Manuskripte kopieren soll, deren Zeichen „bald Pflanzen, bald Moose, bald Tiergestalten darzustellen schienen“. 37 Bei solchen Kopieraufgaben beginnt die Reise des Studenten in das Reich des Wunderbaren. Seine Arbeit wird durch den Auftritt Serpentinas unterbrochen, die in der Gestalt eines hübschen Mädchens auftaucht und Anselmus die Geschichte ihres Vaters, des Salamanders, und ihrer Mutter, der Hoffmanns Spuren in Phantásien 249 <?page no="250"?> 38 Ebd., 72. 39 Ebd. 40 Kremer, Detlef (1999). E.T.A. Hoffmann. Erzählungen und Romane. Berlin: Erich Schmidt, 30. 41 Ende (1993: 209); Hervorhebung i.O. 42 Ebd., 207. 43 Ewers, Hans-Heino (2018). Michael Ende neu entdecken. Was ‚Jim Knopf ‘, ‚Momo‘ und ‚Die unendliche Geschichte‘ Erwachsenen zu sagen haben. Stuttgart: Kröner,183. grünen Schlange, erzählt. Nach dem Gespräch bemerkt Anselmus, dass „die Kopie des geheimnisvollen Manuskripts […] glücklich beendigt“ 38 ist, und er glaubt sogar, in den geheimnisvollen Zeichen „Serpentinas Erzählung von ihrem Vater, dem Liebling des Geisterfürsten Phosphorus im Wunderlande Atlantis, abgeschrieben zu haben“. 39 Das geschriebene Wort fungiert also als Medium, um in die fantastische Welt zu kommen. Wie Kremer ausführt, thematisiert [Hoffmann] Schreiben als materiellen Vorgang […], um zu zeigen, daß romantische Imagination ein magischer Vorgang ist, der allerdings auf höchst materiellen Operationen und Hilfsmitteln basiert: auf Tinte, Feder und Papier, auf Schrift. 40 In Endes Die unendliche Geschichte spielt die Schrift ebenfalls eine wesentliche Rolle. Deutlich wird dies vor allem im zwölften Kapitel, als die todkranke Kindliche Kaiserin zum Alten vom Wandernden Berge geht, der dafür zuständig ist, in einem magischen Buch, das ebenso das Zeichen der beiden Schlangen im Einband aufweist, alle Geschehnisse in Phantásien zu dokumentieren. Die Macht des Buches geht dennoch über das bloße Erzählen der Ereignisse in Phantásien hinaus: „Dieses Buch ist ganz Phantásien“, 41 sagt der Alte vom Wandernden Berge. Das ganze fantastische Reich befindet sich im Buch, das sich wiederum im Buch selbst befindet. Es entsteht dadurch ein Paradoxon um die Existenz Phantásiens. Das wundervolle Reich ist in einem Buch enthalten, das nur in sich selbst zu finden ist. Die Auflösung dieses Paradoxon kann anhand der Worte des Alten vom Wandernden Berge abgeleitet werden: „B U C H ‐ S TA B E T O T U NWAN D E L B A R / WI R D AL L E S WA S E IN S T L E B E N WA R “. 42 Die Geschichte, die aus der Einbildungskraft des Menschen entstanden ist, wird durch ihre schriftliche Fixierung unveränderbar. „Mit ihrer Aufzeichnung durch den Chro‐ nisten ist die phantastische Welt mit anderen Worten als lebendiger Mythos untergegangen“. 43 Doch Bastians Geschichte scheint diese Auffassung leicht zu nuancieren. Der Text, der den Tod des Reiches Phantásien als lebendiges Wesen, das sich mit der menschlichen Einbildungskraft in ständiger Veränderung befindet, mit sich bringt, lässt Bastian wiederum Phantásien betreten und sogar neugestalten. Schriftlich fixierte Worte erlauben also das Weiterleben 250 Marc Arévalo Sánchez <?page no="251"?> 44 Hoffmann (2019: 33). 45 Ebd., 65. 46 Ebd., 81. 47 Ende (1993: 127). des Fantastischen und erweisen sich somit als Basis für das Einbilden neuer Geschichten. Diese Idee liegt wohl dem Buch-Paradoxon um die Existenz Phan‐ tásiens zugrunde: Das geschriebene Wort, auch wenn es den Tod Phantásiens als ein sich dank der menschlichen Einbildungskraft immer wandelndes Reich bedeutet, fungiert auch als Mittel des Überlebens und avanciert zudem zur Grundlage neuer ‚lebendiger Mythen‘. Die Schrift erweist sich demnach bei Hoffmann und Ende als Medium der Realität, um in das jeweilige wundervolle Reich zu gelangen. Eine Vorausset‐ zung ist allerdings dabei zu erfüllen: Man muss den Glauben an das Wunderbare bewahren. Serpentina kündigt dies Anselmus an, als er sie im Smaragdspiegel sieht: „glaubst du denn an mich, Anselmus? - nur in dem Glauben ist die Liebe“. 44 Auch der Archivarius, als Anselmus bereit ist, die magischen Manuskripte abzuschreiben, sagt: „hast du bewährten Glauben und wahre Liebe, so hilft dir Serpentina! “. 45 Tatsächlich ist Anselmus in der Lage, die geheimnisvollen Manuskripte zu entziffern, indem er an Serpentina glaubt, wobei sie in Men‐ schengestalt auftaucht und ihm die Geschichte ihres Vaters erzählt, die nach dem Gespräch im Manuskript einwandfrei kopiert ist. Der vorübergehende Verlust dieses Glaubens führt Anselmus zum Scheitern. Als er sich unter dem Zauber des Metallspiegels Veronikas befindet und seine wunderbaren Erlebnisse für Produkte seiner Einbildungskraft hält, ist er nicht mehr imstande, die geheimnisvolle Schrift des magischen Manuskripts zu dekodieren, sodass er die Zeichen als bloße „sonderbare krause Züge und Schnörkel“ 46 wahrnimmt. Der Glaube wird also zur bedingungslosen Vorausset‐ zung, um nach Atlantis zu gelangen. Bastian muss auch seinen Glauben an Phantásien zeigen, bevor er in das wunderbare Reich darf. Darauf deutet die Uyulála, die Stimme des Südlichen Orakels, die Atréju anspricht: Ach, käme ein einziges Menschenkind, dann wäre schon alles getan! Ach, wäre nur eines zu glauben bereit und hätte den Ruf nur vernommen. 47 Hoffmanns Spuren in Phantásien 251 <?page no="252"?> 48 Ebd., 216. 49 Ebd., 486. Erst als Bastian bemerkt, dass das Buch ihn direkt anspricht und durch das Rufen des neuen Namens der Kindlichen Kaiserin („Mondenkind“) 48 seinen Glauben zeigt, ist er in der Lage, Phantásien zu betreten. Anselmus in Phantásien? Der Einfluss von Hoffmanns Märchen auf die Konzeption von Die unendliche Geschichte geht demnach über die kosmische Struktur hinaus und findet auch bei der Motivik seinen Niederschlag. Ende und Hoffmann bedienen sich derselben Bilder und Symbole, um das Verhältnis zwischen realer und fantastischer Welt zu veranschaulichen. In beiden Werken rückt das Individuum, der Grenz‐ gänger, ins Zentrum. Sein natürlicher Trieb zum Wunderbaren, der durch das Schlangenmotiv geschildert wird, macht ihn seiner doppelfachen Identität zwischen Realität und Fantasie bewusst, was im Motiv des Zauberspiegels deren Niederschlag findet. Die Voranstellung des fantasievollen Teils seiner Identität - seines ‚kindlich-poetischen Gemüts‘ - durch den Beweis seines Glaubens ans Wunderbare erweist sich als bedingungslose Voraussetzung, um aus dem geschriebenen Wort das Medium zur Reise in solche fantastischen Welten zu machen. Die Beziehung zwischen realer und fantastischer Welt entspringt folglich dem Individuum. Nur durch seine Beteiligung und seinen Glauben können fantastische Universen geschaffen und betreten werden. Im Hinblick darauf, was bereits angesprochen wurde, dass Endes Bastian eine Art Alternative zu Hoffmans Anselmus darstellen könnte, bliebe noch zu erforschen, inwieweit sich der zweite Teil von Endes Roman als eine Art Fortsetzung von Der goldne Topf betrachten lässt, indem dort die Geschichte des Helden im fantastischen Reich und seine Rückkehr in die Realität erzählt wird. Aber wie Michael Ende mehrmals in seinem Roman sagt, „das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden“. 49 Literatur Cirlot, Juan-Eduardo (1992). Diccionario de símbolos. Barcelona: Labor. Di Cesare, Elena (2015). La figura del libro in Die unendliche Geschichte di Michael Ende: da finestra a varco. Altre Modernità 1. Ende, Michael (1993). Die unendliche Geschichte. München: dtv. 252 Marc Arévalo Sánchez <?page no="253"?> Ewers, Hans-Heino (2018). Michael Ende neu entdecken. Was ‚Jim Knopf ‘, ‚Momo‘ und ‚Die unend-liche Geschichte‘ Erwachsenen zu sagen haben. Stuttgart: Kröner. Gleiser, Siegmund/ Winkler, Andreas (1987). Entgrenzte Wirklichkeit. E.T.A. Hoffmann: Der Goldne Topf. Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert. Stuttgart: Klett. Hoffmann, E.T.A. (2019). Der goldne Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit. Stuttgart: Reclam. Jaffé, Aniela (1900). Bilder und Symbole zu E.T.A. Hoffmanns Märchen ‚Der goldne Topf ‘. Einsiedeln: Daimon. Kremer, Detlef (1999). E.T.A. Hoffmann. Erzählungen und Romane. Berlin: Erich Schmidt. Nikolajeva, Maria (1988). The Magic Code. The use of magical patterns in fantasy for children. Göteborg: Almquist & Wiksell International. Steinecke, Hartmut/ Wührl, Paul-Wolfgang (Hrsg.) (2019). E.T.A. Hoffmann. Der goldne Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit. Stuttgart: Reclam. Wührl, Paul-Wolfgang (1982). E.T.A. Hoffmann. Der goldne Topf. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam. Hoffmanns Spuren in Phantásien 253 <?page no="255"?> Vom Thüringer Wald zu den Phantasiegemälden Ökoliterarische Annäherung an Ludwig Bechsteins literarisches Werk Catalina Soto de Prado Otero Zusammenfassung: Der Thüringer Dichter und Sammler Ludwig Bech‐ stein (1801-1860) gehört zu den groβen Märchenerzählern Deutschlands. In diesem Beitrag soll Ludwig Bechstein unter einem ganz besonderen As‐ pekt betrachtet werden, nämlich seiner umfassenden Kenntnis der Natur, verbunden mit einer begeisterten Liebe zu ihr. Aus den Titeln seiner Werke lässt sich unschwer ableiten, dass Natur - Umwelt - Tierwelt - Mensch eng miteinander verbunden sind. Zu diesem Zweck wird einer seiner Novelle mit Elementen und Motiven aus der phantastischen Literatur analysiert. Schlüsselwörter: Ludwig Bechstein, Johann Matthäus Bechstein, Öko‐ kritik, Forstwissenschaft, Thüringen Abstract: The Thuringian poet and collector Ludwig Bechstein (1801 -1860) is one of the greatest storytellers in Germany. In this article Ludwig Bechstein will be considered under a very special aspect, namely his comprehensive knowledge of nature, combined with an enthusiastic love for it. From the titles of his works it is easy to deduce that nature - environment - animal - world - man are closely connected. To this purpose, one of his short stories with elements and motifs from fantastic literature is analysed. Keywords: Ludwig Bechstein, Johann Matthäus Bechstein, Ecocriticism, Forestry, Thuringia <?page no="256"?> 1 Schmidt-Knaebel, Susanne (2001). Erzählte Rede in zwei Novellen von Ludwig Bechstein. Ein politisierter Romantiker auf dem Weg in den literarischen Realismus. In: Hennebergisch-Fränkischer Geschichtsverein (Hrsg.) Ludwig Bechstein: Dichter, Sammler, Forscher. Kloster Veßra/ Meiningen/ Münnerstadt: Meininger Museen, 1, 91. Die Autorin stützt sich auf die Argumente K. Wasserfalls (1926), um L. Bechsteins zweideutige Zuschreibung zu behaupten und ihn damit als Autor zwischen Romantik und literarischem Realismus einzuordnen. 2 Jurčáková, Edita (2006). Ludwig Bechstein und seine Märchensammlungen. Studia germanistica 1, 99. 3 In Spanien hatte L. Bechstein nur wenig Einfluss. Ein Beweis dafür ist die Zahl der Übersetzungen seiner Werke. Die spanische Nationalbibliothek beherbergt nur 13 Werke von ihm, von denen nur 12 ins Spanische übersetzt sind. Boden, Situation und Klima eines Landes scheinen ihren Einfluβ auch auf die Hervor‐ bringungen der Phantasie zu üben. Meer und Strand haben andere Sagen, wie Haide und Flachland, Fluβ- und Stromthal. Ludwig Bechstein Das Volk vergiβt schnell das wahre, und prägt das phantasievolle, traumhafte sich dafür und so lieber und unauslöschlich ein. Ludwig Bechstein Einführung In der vorliegenden Arbeit wird das Werk des Dichters, Schriftstellers, Histo‐ rikers und Sammlers Ludwig Bechsteins aus einer ökokritischen Perspektive anhand einer seiner Novellen vorgestellt, die Elemente und Motive der lite‐ rarischen Phantasie enthält. Sicherlich gibt es im biographischen Verlauf von E.T.A. Hoffmann und Ludwig Bechstein einige Übereinstimmungen, denn beide sind Autoren, deren Werke der deutschen Romantik zugerechnet werden 1 , die auβerdem erfolgreich die Gattung der Novelle kultivierten und sogar Texte für die Komposition von Opern schrieben. Im 19. Jahrhundert war Ludwig Bechstein der bekannteste und meistveröffentlichte Märchenautor - noch vor den Gebrüdern Grimm 2 -, doch später geriet er in Vergessenheit, und seine Rezeption in anderen europäischen Sprachen war wesentlich geringer 3 . Darüberhinaus wurde er von Jugend an durch die Lektüre vieler klassischer und romantischer Autoren genährt, darunter E.T.A. Hoffmann und sein Werk Die Elixiere des Teufels, wie auch Schmidt-Knaebel bestätigte: „Der Einfluss 256 Catalina Soto de Prado Otero <?page no="257"?> 4 Schmidt-Knaebel, Susanne (2013). Ludwig Bechstein: Die kleinen Novellen und die Erzählungen. Inhalte - Kommentare - Materialien. Frankfurt/ M.: Peter Lang, 9. 5 Brittnacher, Hans Richard/ May, Markus (2013). Phantastik-Theorien. In: Brittnacher, H.R./ May, M. (Hrsg.) Phantastik. Stuttgart: J.B. Metzler, 190. 6 „Eine hübsche Idee zu einem phantastisch-novellistischen Unternehmen habe ich“. Briefe an Ludwig Storch, 9. Dez. 1840, zitiert nach Schmidt-Knaebel (2013: 12). 7 Mederer, Hanns-Peter (2002). Stoffe aus Mythen. Ludwig Bechstein als Kulturhistoriker, Novellist und Romanautor. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag GmbH, 31. von E.T.A. Hoffmanns Texten gilt in der Bechstein-Forschung derzeit als der entscheidende, und er ist zumeist eher kritisch gesehen worden” 4 . Es gibt sicherlich zahlreiche Theorien und Definitionen über die Phantastik- Literatur, insbesondere seit Todorovs 1970 erschienenem Werk Einführung in die phantastische Literatur, das als Ausgangspunkt für die Erforschung dieser Gattung diente. Im Falle der untersuchten Novelle erfüllt sie die notwendigen Voraussetzungen des Phantastischen, nämlich, (1) Die Orientierung an einem Ordnungskonflikt und der (2) ereignishafte Charakter des Phantastischen, der (3) subversiven Charakter annehmen kann und (4) vornehm‐ lich an narrativen Texten in Erscheinung tritt […]. 5 L. Bechstein selbst verwendete diese Gattung für viele seiner Kurzerzählungen 6 . Seine ausdrückliche Bezugsnahme auf ein von ETA Hoffmann bekanntes, lite‐ rarisches Werk, das Elemente und Motive der literarischen Phantastik enthält, scheint jedoch auszureichen, um in diesem Beitrag eine Novelle aus Heimath und Fremde auszuwählen, um sich ihr aus einer ökokritischen Perspektive anzunähern. Obwohl tatsächlich Bechstein später Hoffmanns Serapionsbrüder als Modell für seine Sammlung Aus Hei‐ math und Fremde. (1839) genannt hat, […] scheint es sich mehr um ein gefühlsmäβiges Bekenntnis im Sinne der gelegentlich noch im mittleren Werk zu beobachtender Weiterverwendung romantischer Sujets zu handeln, wahrend der Erzahler sich in der Praxis mehr und mehr einer realismusnahen Perspektive nähert. 7 Forschungsstand - Jenseits des Erzählers von Sagen und Volksmärchen Im Laufe seines Lebens entfaltete L. Bechstein ein umfangreiches literarisches Werk. Er hat „eine solche Menge literarischer Arbeiten aller Gattungen uns Vom Thüringer Wald zu den Phantasiegemälden 257 <?page no="258"?> 8 Linschmann, Theodor (1907). Ludwig Bechsteins Schriften, zum 75-jährigen Jubiläum des Hennebergischen altertumsforschenden Vereins. Meiningen: Brückner & Renner, 1. 9 Seit 1935 Hennebergisch-Fränkischer Geschichtsverein (HFG). 10 Seifert, Andreas (2011). Ludwig Bechstein. Ein Lesebuch. Meiningen: Meininger Mu‐ seen, 173. 11 Mederer (2002: VII). 12 Die verwendete Literatur zu L. Bechstein deckt ein breites Spektrum von Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts. Besonders erwähnenswert für die Ausarbeitung dieses Beitrages sind die ausführlichen Untersuchungen von Schmidt-Knaebel, die sich seit 2001 in zahlreichen Publikationen mit Ludwig Bechstein befasst hat. 13 Mederer (2002: VII). hinterlassen“ 8 -, dass sich in so unterschiedlichen Formaten manifestierte wie Novellen, Erzählungen, Dramen, Balladen, Romane, Versepen, Operntexte, zahl‐ lose Gedichte aller Art und Wanderbeschreibungen. Seine Liebe zur Geschichte und Kultur veranlasste ihn 1832 zur Gründung des ältesten Geschichtsvereins in Deutschland, des Hennebergisch-altertumsforschenden Vereins 9 . Für die Annäherung an das Werk von L. Bechstein sollte berücksichtigt werden, dass charakteristisch für sein Werk „die ‚Dreieinigkeit‘ von persönli‐ chem Interesse und Neigung, Berufstätigkeit und literarischer Produktion“ ist 10 . Viele von seinen Werken sind mit Recht vergessen, aber geblieben und populär geworden sind seine Märchen- und Sagenbücher. Am 14. Mai 1860 starb er völlig erschöpft in Meiningen. - Methodologie Da etwa bis zum 200. Geburtstag L. Bechsteins der Fokus von Rezeption, Edition und Forschung auf seinen Sammlungen und der Bearbeitung von Märchen lag 11 , werden diese nicht Gegenstand dieses Beitrags sein. Das angewandte Verfahren bestand in der Systematisierung der gesammelten Literaturanalysen und Beiträge von L. Bechstein-Forschern 12 zu erheben, die ein Element oder ein Merkmal naturwissenschaftlicher Natur entdeckten. Die meisten Untersu‐ chungen über L. Bechstein befassen sich mit Anthologien seiner Märchen und Sagen. Trotz des unterschiedlichen Formats lassen sich die Merkmale jedoch in diesen Texten anwenden oder undifferenziert wiederfinden. Es wurde festgestellt, dass „augenfällige Wiederholungen und Querbezüge innerhalb seiner Schriften“ 13 anzutreffen waren. Nach der Festlegung des Arbeitskriteriums - die Natur als Grundlage oder konstituierendes Element seiner Werke- wurde die Aufmerksamkeit auf spezifischere Bereiche wie Botanik, Forstwirtschaft, Jagd usw. gelenkt. Die Wahl der Gattung der Novelle für diese Untersuchung ist auf die hohe Wertschätzung zurückzuführen, die 258 Catalina Soto de Prado Otero <?page no="259"?> 14 Eckermann, Johann Peter (1836). Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 1823-1832. Leipzig: F. U. Brokhaus, 319. 15 Seifert (2011: 173). 16 Schmidt-Knaebel (2013: 10). 17 Bechstein, Ludwig (1839). Aus Heimath und Fremde. Erzählungen. Taubert: Leipzig. die Romantiker ihr entgegenbrachten. Sowohl E.T.A. Hoffmann als auch L. Bechstein gelang es, das reale Ereignis in eine Fabel mit fantastischen Elementen zu verwandeln. Auf diese Weise wurde sein Werk aus einem ökokritischen Ansatz heraus betrachtet, der zur Entwicklung eines kritischen Bewusstseins für Umweltfragen beitragen soll. Die Natur in Ludwig Bechsteins Schriften Bekannt ist die klassische Definition der Novelle, die Goethe als „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“ an seinen Sekretär Eckermann 14 vermittelte. Unerhört zwar, im Gegensatz zum Märchen aber eine tatsächliche oder mögliche Begebenheit. Das Ereignis wird als eine neue, ungewöhnliche und interessante Situation dargestellt. Bei L. Bechstein ist eine deutliche Tendenz zu historischen und lokalen Themen zu erkennen. Diese handeln zumeist in der heimatlichen Region, kreisen um Themen bürgerlichen wie ländlichen Lebens, aber auch um psychologische Hinter- und Abgründe und greifen mitunter politisch-gesellschaftliche Zeitfragen wie Monarchie oder Republik, Reform oder Revolution, deutscher Einheitsstaat oder Fürstenbund auf sowie in laufende Debatten zu Literatur- und Kunstfragen ein. 15 Seine so genannten kleinen Novellen lassen sich 16 nach ihrem chronologischen Erscheinen und ihrem Stil in 3 Gruppen einteilen: • Das Frühwerk: Die Erzählungen und Phantasiestücke von 1831, die Novellen und Phantasiegemälde von 1832 und die Novellen und Phantasieblüthen von 1835. • Das reife Bechstein-Werk, das mit der Anthologie Aus Heimath und Fremde. Erzählungen (1839) 17 als Übergangswerk beginnt. Die nachfolgend zu ana‐ lysierende Novelle gehört zu diesem Sammelband: Der Förster von Belrieth. Eine Erzählung aus dem Werrathale. Zu dieser Gruppe gehören auch Volkser‐ zählungen (1853), Hainsterne. Berg- Wald- und Wander-Geschichten (1853) und die legendären Hexengeschichten (1854). • Das spätere Werk: zu dieser Phase gehören zumeist fröhliche Erzählungen, die zwischen 1854 und 1863 veröffentlicht wurden. Vom Thüringer Wald zu den Phantasiegemälden 259 <?page no="260"?> 18 Bunzel, Wolfgang (2018). Sehnsuchtsort: Die Romantiker und der Wald. Abrufbar unter: https: / / www.focus.de/ kultur/ buecher/ literatur-sehnsuchtsort-die-romantiker-und-der -wald_id_9305604.html. 19 Borchmeyer, Dieter (2019). Into the woods. A very special relationship. Germans and their forest. The German Times 5, 19. 20 Linschmann (1907: 1). 21 Weitere nützliche Informationen enthält die von seinem Sohn Reinhold verfasste Biographie: Bechstein, Reinhold (1875). Bechstein, Ludwig. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Band-2, Leipzig: Duncker & Humblot, 206-208. 22 Elschenbroich, Adalbert (1953). Bechstein, Ludwig. In: Neue Deutsche Biographie. Band 1. Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Duncker & Humblot, 692-693. 23 Johann Matthäus Bechstein war eigentlich ein Vetter von L. Bechsteins Mutter. Auf den Spuren von Natur im Ludwig Bechsteins Werk Es ist unbestritten, dass die Romantik „zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Verhältnis der Deutschen zum Wald grundlegend gewandelt“ 18 hat und das immer noch so ist. An dieser Stelle muss man besonders die Bedeutung des Baumes in der deutschen Kultur und Eigenart betonen: Forest consciousness in Germany is a phenomenon that has spanned all generations, social classes as well as ideological and political leanings since the Romantic period, during which painting, poetry and literature, as well as the fairy tales and legends they helped revitalize, carved out a central symbolic role for the forest. 19 Besonders bemerkenswert an L. Bechsteins Werk ist der hohe Anteil der Hinweise zur Natur. 1907 legte Linschmann eine Sammlung von „bereits zu Bechsteins Lebzeiten und […] bis jetzt erschienenen Lebensbeschreibungen und Skizzen seines Lebens und Wirkens (nebst Werken)“ vor, in der mindestens 65 seiner lyrischen Werke die Natur das zentrale Thema der Dichtung war 20 . Um jedoch das Werk dieses Autors zu analysieren ist es unerlässlich, sein Leben zu kennen. Aus Platzgründen werden hier nur einige biographische Ereignisse seines Lebens erwähnt 21 , die für seine spätere Berufung als Schriftsteller und Historiker mit großer Kenntnis der Forstwirtschaft entscheidend waren. L. Bechstein wurde in Weimar geboren als unehelicher Sohn der Johanna Ca‐ rolina Dorothea Bechstein und eines französischen Emigranten. Sein Geburts‐ name war Louis Dupontreau 22 . Seine direkte Beziehung zur Natur als solche begann mit seiner Adoption durch seinen Onkel 23 Johann Matthäus Bechstein (1757-1822) und dessen Gattin Auguste (1769-1839). Seinen Adoptiveltern ist es zu verdanken, dass er nach einer unglücklichen Kindheit in Weimar 260 Catalina Soto de Prado Otero <?page no="261"?> 24 Bechstein, Ludwig (2009). Dr. Johann Matthäus Bechstein und die Forstacademie Drei‐ ßigacker. Ein Doppeldenkmal. Meiningen. Reprint der Ausgabe von 1855. Remagen- Oberwinter: Verlag Kessel, 303-304. 25 Kolbe, Michael (2013). Johann Matthäus Bechstein (1757-1822) -Vom Theologen zum Forst-, Jagd- und Naturwissenschaftler. Bd.-1. Remagen-Oberwinter: Verlag Kessel. 26 Bechstein (2009). 27 Bechstein (2009: 303-304). 28 Salzmann, Christian Gotthilf (1880). Das Krebsbüchlein, oder Anweisung zu einer unvernünftigen Erziehung der Kinder. In: Pädagogische Schriften. Zweiter Teil. Lan‐ gensalza: Gressler. 29 Salzmann schrieb das Krebsbüchlein (1780) als Handbuch für ein innovatives Bildungs‐ projekt, bei dem die Natur ein fester Bestandteil der Erziehung von Kindern und Jugendlichen sein soll. Er stellte fest, dass die alten Schulen die Jugend zu wenig mit der Natur bekannt machten. Nach vielen Schwierigkeiten und großen Anstrengungen ein neues Heim bekam 24 . 1810 nahmen beide den 9-jährigen an Stelle ihres eigenen, verstorbenen Sohnes in ihrer Wohnung in Dreiβigacker auf. Johann Matthäus Bechstein war ein thüringischer Naturforscher, Forst-, Jagd-, Natur‐ wissenschaftler und Ornithologe. Er gilt als Vater der deutschen Naturkunde und gleichzeitig als Vorreiter des Naturschutzes und der wissenschaftlichen Ornithologie 25 . Sein Adoptivvater ermöglichte dem jungen Ludwig den Besuch des Meininger Gymnasiums, nicht weit von der Herzogliche Forstakademie Dreiβigacker, die von Johann Matthäus Bechstein 1803 bis zu seinem Tode geleitet wurde. In dem Huldigungsbuch 26 für seinen geliebten Adoptivvater, schilderte er nicht nur das Leben und Wirken seines Onkels, sondern gewährte auch einen Einblick in sein eigenes Leben als Kind und Jugendlicher. So können die idyllischen Naturschilderungen als Merkmale dieses Novellenautors einge‐ schätzt werden. Seine Erinnerungen an diese Jahre liefern zwei grundlegende Schlüssel für diesen Beitrag: Erstens, dass L. Bechstein bei seiner Ankunft in Meiningen über keinerlei naturwissenschaftliche Fähigkeiten oder Ausbildung verfügte: Zu seinem Leid gereichte nur, daβ mein Sinn für die Freuden und Wunder der Natur sich nicht erschließen zu wollen schien -ich behielt nicht den einfachsten botanischen Namen, unterschied nicht den Finken vom Sperling, sah den Hasen nicht laufen, den sein Falkenauge in weitester Ferne entdeckte, und so entsprach ich nicht alle Erwartungen und Hoffnungen […]. 27 Zweitens, die Entdeckung der Volksliteratur, deren gröβter Vertreter er später werden sollte: Ruhig fand ich in einem kleinen Bücherschrank in der Kammer F. G. Salzmanns 28 Krebsbüchlein. 29 […] mir war natürlich diese Lektüre eine verbotene Frucht, die ebenso Vom Thüringer Wald zu den Phantasiegemälden 261 <?page no="262"?> gelang es ihm, sein Projekt auf den Weg zu bringen. „Das Philantropin” in Schnepfental war vielleicht die Einrichtung mit größter Wirkung, in der J.M. Bechstein seit 1785 fast 10 Jahre lang tätig war. 30 Bechstein (2009: 304). 31 Bechstein, Ludwig (1839). Der Förster von Belrieth. Eine Erzählung aus dem Werrathale. In: Aus Heimath und Fremde. Erzahlungen. Erster Band. Leipzig: Taubert, 61-108. Laut Schmidt-Knaebel (2015) gehört dieses Werk zu den Novellen seiner Übergangsphase: „Mit der Anthologie Aus Heimath und Fremde (2 Bände 1839) als Übergang setzt auf dem Gebiet der Novelle das reife Bechstein-Werk ein“, in: Schmidt-Knaebel, Susanne (2015). Bechstein-Texte. Abrufbar unter: https: / / www.slm.uni-hamburg.de/ germanisti k/ personen/ ehemalige/ schmidt-knaebel/ bechstein-texte.html Universität Hamburg. 32 Schmidt-Knaebel (2013: 849). 33 Im Originalmanuskript ist der Titel als „Behlrieth” geschrieben. natürlich nicht unbenascht blieb, denn ich hatte eine wahre Lesewuth, obgleich ich vieles sehr spät verstehen lernte. Noch entsinne ich mich der angenehmen Schauer, welche Apels und Launs Gespentergeschichten, Fouques Galgenmännerlein, und Hoffmanns Elixiere des Teufels erregten. Nebenher lief auf andere Wege verschafft, die Lektüre der Volksbücher, der Insel Felsenburg, die Fata der Seefahrer, Robinson, Don Quixote, später auch Höheres und besseres, Klopstock, Schiller, Matthisson. 30 Die bio-bibliographische Darlegung über L. Bechstein und sein Verhältnis zur Natur werden anschließend durch eine seiner Novellen gerechtfertigt, die zu dem Anthologieband Aus Heimath und Fremde  31 (1839) gehört. - Der Förster von Belrieth. Erzählung aus dem Werrathale Die Datierung dieser Novelle 32 ist nicht dokumentiert. Der Titel 33 selbst bezieht sich auf zwei biographische Umstände L. Bechsteins: Der Beruf einer der Haupt‐ figuren und die kleine Ortschaft Belrieth, die zu Fuβ 9.5 Km von Meiningen entfernt ist. Das Thema ist an das literarische Genre der Novelle angepasst. So ist die Handlung über 47 Seiten gestreckt und dreht sich um die Heirat zwischen dem Förster Fritz Burkhardt und der Tochter eines wohlhabenden Bauern aus Belrieth, Eva Groβthaler. Der Förster war früher in ein Mädchen namens Jette verliebt, deren Mutter, Frau Hollenborn, eine Hexe war. Von Eifersucht getrieben, verfasste sie einen bösen Zauber, der dazu führte, dass die frisch Vermählten Fritz und Evchen ihre Verlobung nach kurzer Zeit lösten. Die gutherzige Jette fand das Gegenmittel, um ihre Liebe wiederherzustellen und die Seele ihrer Mutter bei ihrem Tod zu retten. Nachfolgend werden in synthetischer und systematisierter Form alle Ele‐ mente aufgelistet, die in dieser Novelle mit deutlichen Bezügen zur Natur und 262 Catalina Soto de Prado Otero <?page no="263"?> 34 Schmidt-Knaebel (2003). Ludwig Bechstein als Märchenautor Die vier Anthologien im Überblick. Zeitschrift für Literaturwiss. und Linguistik 33, 137-161, S.-146. 35 Bechstein (1839: 69). 36 ibid., 103. 37 „Fachsprachlich: in der Entwicklung zurückgebliebenes Tier, zurückgebliebene Pflanze”, in: DWDS: Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache. Abrufbar unter: ht tps: / / www.dwds.de/ . 38 „Von einem Ort zu einem anderen wechseln, einen Ort verlassen und sich zu einem anderen begeben [ Jägersprache], das Wild wechselt”, in: DWDS: Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache. Abrufbar unter: https: / / www.dwds.de/ . 39 Bechstein (1839: 82). 40 Dies wird jedoch im Schlussanhang über das „Spezialvokabularie“ nicht berücksichtigt (Schmidt-Knaebel, 2013: 904). Sie wird es später (Schmidt-Knaebel, 2015) bei der Auswahl der von ihr vorgestellten Novelle beachten. Auch im DWDS (Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache) findet man ein Hinweis auf die Jägersprache für die genannten Begriffe. 41 Schmidt-Knaebel (2013: 33). 42 Bechstein (1839: 81). die biographischen Motive -eine Besonderheit seines novellistischen Werkes- enthalten 34 : 1. Fachkenntnisse in Forst- und Jagdwirtschaft und angrenzenden Wissen‐ schaften: • Aufgabe eines Försters: „sein Revier, theils um Holzdieben aufzulauern, theils um ein Reh oder einen Spießer zu schießen“ 35 „wo Burkart bei dem dortigen Oberförster als Gehülfe diente“ 36 . • Fachsprache: Verwendung von Begriffen der Jägersprache: „Kümmerer“ 37 , „wechseln“ 38 : „wie ein Kümmerer mit bekümmertem Herzen, das aller Liebe abstirbt und Valet sagen muß. […] Oder wie wäre es, wenn ich vor dem Verenden wechselte und ohne Valet ginge? ” 39 . Wie Schmidt-Knaebel nachweist 40 , hat „der Autor eine starke Tendenz seine Texte durch Fachvo‐ kabularien zu schmücken“ 41 . • Wald als Zufluchtsort: „Komm Caro, wir wollen zum Wald gehen, dort ist uns beiden wohler, als hier in dem dumpfen Haus“ 42 . • Botanik: L. Bechstein war ein herausragender Kenner heimischer und exotischer Pflanzen. Er verwendete manchmal den lateinischen wissen‐ schaftlichen Namen: In dem herrlichen Laubwald blühte brauner Dosten genug, und oben auf den grasreichen Plänen des Bergrückens stand auch der weiße Andorn in Menge, aber Vom Thüringer Wald zu den Phantasiegemälden 263 <?page no="264"?> 43 ibid., 69. 44 Schmidt-Knaebel (2003: 156). 45 Bechstein (1839: 84). 46 Schmidt-Knaebel (2013: 16). 47 Bechstein (1839: 81). 48 Schmidt-Knaebel (2013: 386). der verliebte Jäger dachte an das Röslein, das er bald pflücken sollte, und ließ Origanum und Marrubium ungepflückt. 43 • Naturmetaphern: Er nutzte dieses Wissen oft zu einem doppelten Zweck, indem er es für ein metaphorisches Spiel einsetzte. Auf diese Weise wurde L. Bechstein „mit der durchgehenden Symbolik der volkstümlichen Pflanzen und ihrer Namen“ 44 zum Meister der Pflanzen-Metaphorik. So nutzte er die Technik des Spiels mit dem versteckten Namen, um die tieferen Bedeu‐ tungsebenen des Textes auszunutzen: Du siehst schon ziemlich blaß aus. Rosen wachsen nicht mehr in Deinem Gesicht, aber Spinnenkraut. Du hast den Kreuzenzian in Deinem Garten, und den Kreuzdorn im Stiefel. Dein Tränklein ist Bitterklee, und Wermuth Dein Zugemüse! Du hast die Schlangenwurz im Gewissen, und das Scorpionkraut im Herzen. Auf Deinem Geld‐ sack wächst des Teufels Abbiß, und der Stechapfel liegt unter Deinem Kopfkissen. 45 2. Idyllische Naturschilderung: Diese Stilfigur wird besonders in L. Bechsteins novellistischem Frühwerk eingesetzt. In der analysierten Novelle, […] vermittelt der Autor seinen eigenen emotionalen Bezug zur Schönheit der Natur an den jeweiligen Novellen-Erzähler weiter […]. dennoch gewinnt dieses Stilmittel bei diesem Autor eine überdurchschnittliche Bedeutsamkeit, denn vor allem der junge Dichter lebte seine enge Verbundenheit mit der Natur seiner Heimat Thüringen in weiten, oft einsamen Wanderungen aus. 46 So gingen sie beide in das nahe Revier, der Förster und der Hund. […] und sah auf das schöne Thal, […], dessen Dörfer alle, so weit er sie sah, Belrieth, Einhausen, Ober- und Untermaßfeld, mit den blitzenden Teichen, und weiter drüben Ellingshausen, vom milden Abend-schein, wie von einem Friedensarm umschlungen, da lagen, und in ehrwürdigstolzer Pracht die Riesentrümmer der berühmten Wallfahrtkirche Grimmenthal, die nun ganz verschwunden ist, und davor der alte tausend/ jährige Lindengreis, der noch immer steht und Wallfahrt und Kirche, alte und neue Zeit überdauert. 47 3. Namensymbolik: „Wie nicht selten im Erzählwerk L. Bechsteins sind einige der Personenbezeichnungen sprechende Eigennamen“ 48 . Geographische Merk‐ 264 Catalina Soto de Prado Otero <?page no="265"?> 49 Der Born ist in dieser Gegend eine Quelle und seine Verbindung mit „Holle“ verweist eher auf die gleichnamige mythologische Naturgöttin Holle. In Thüringen sind sehr häufige Orts- und Familiennamen von dieser Stammform abgeleitet. 50 Bechstein (1839: 100). 51 Seifert (2011: 11). male oder Ortsnamen verwendete L. Bechstein, um Figuren wie die Dorfhexe oder den reichen Bauern zu benennen. Beispielweise bei dem Namen von Frau Holleborn 49 . 4. Natur- und Ortschaftsbeschreibungen: Verwendung von Hell-Dunkel-Sym‐ bolik und mit so spezifischen Ortsangaben, dass L. Bechsteins Spuren heutzu‐ tage leicht zu finden sind. Der Abendhimmel warf seine Rosenfarben in den Spiegel des Königssees bei Berch‐ tesgaden und schmückte die himmelanstrebenden Berggiganten mit Violenkränzen. 50 Fazit Zielsetzung der vorliegenden Arbeit war es, die große Bedeutung von L. Bechsteins Aufenthalt bei seiner Pflegefamilie in Meiningen für sein Wissen über den Wald und die angrenzenden Wissenschaften darzustellen. Folglich ist sein gesamtes literarisches Werk von diesen Kenntnissen und der Liebe zur Natur geprägt. Hieraus ergibt sich, dass er dem Ansatz seines Adoptivvaters Johann Matthäus Bechstein folgte, der jede Gelegenheit nutzte, die Schönheit der Natur zu vermitteln, sowohl in seinen wissenschaftlichen Schriften als auch in seinen Predigten als Theologe vor seinen Zeitgenossen. L. Bechsteins Werk lädt dazu ein, „den Wandel von Natur, Kultur und Lebensweise wahrzunehmen“ 51 . Bei der Lektüre dieser Novelle im Besonderen und seiner literarischen Kurzerzählungen im Allgemeinen wird eine anthropo‐ zentrische Sichtweise der Natur deutlich, selbst in solchen mit phantastischen Motiven wie in der hier analysierten Novelle. In seinen Erzählungen steht der Mensch im Mittelpunkt der Handlung. Auf diese Weise wird die Natur als wesentliches Element des Diskurses dargestellt, um den subjektiven Zustand der Protagonisten zu vermitteln. Sowohl seine Märchen und Sagen als auch sein poetisches Werk sind ein kultureller Schatz in Deutschland, der heute wenig bekannt ist. Seine Überle‐ gungen zur Natur und Ökologie sind nach wie vor allgemeingültig, so dass seine Werke zur Wiederentdeckung der Schönheit und Heilkraft der Natur beitragen. Ludwig Bechsteins Name steht somit für ein großes literarisches Schaffen und sollte neben den Klassikern der deutschen Dichtung genannt werden. Vom Thüringer Wald zu den Phantasiegemälden 265 <?page no="266"?> Literatur Bechstein, Ludwig (2008). Sagenbuch von Bad Liebenstein, Steinbach und Altenstein. Bad Langensalza: Rockstuhl Verlag. Reprint der Ausgabe von 1838. Bechstein, Ludwig (1839). Aus Heimath und Fremde. Erzählungen. Taubert: Leipzig. Bechstein, Ludwig (1853). Hainsterne. Der Spielmann vom Thüringer Walde. Halle: Pfeffer. Bechstein, Ludwig (2009). Dr. Johann Matthäus Bechstein und die Forstacademie Drei‐ ßigacker. Ein Doppeldenkmal. Meiningen. Reprint der Ausgabe von 1855. Remagen- Oberwinter: Verlag Kessel. Bechstein, Reinhold (1875). Bechstein, Ludwig. In: Allgemeine Deutsche Biographie. 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In: Neue Deutsche Biographie. Band-1. Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Duncker & Humblot. Jurčáková, Edita (2006). Ludwig Bechstein und seine Märchensammlungen. Studia germanistica 1. Kolbe, Michael (2013). Johann Matthäus Bechstein (1757 - 1822). Vom Theologen zum Forst-, Jagd- und Naturwissenschaftler. Bd.-1. Remagen-Oberwinter: Verlag Kessel. Linschmann, Theodor (1907). Ludwig Bechsteins Schriften, zum 75-jährigen Jubiläum des Hennebergischen altertumsforschenden Vereins. Meiningen: Brückner & Renner. Mederer, Hans-Peter (2002). Stoffe aus Mythen. Ludwig Bechstein als Kulturhistoriker, Novellist und Romanautor. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag GmbH. 266 Catalina Soto de Prado Otero <?page no="267"?> Salzmann, Christian Gotthilf (1880). Das Krebsbüchlein, oder Anweisung zu einer unvernünftigen Erziehung der Kinder. In: Pädagogische Schriften. Zweiter Teil. Langensalza: Gressler. Schmidt-Knaebel, Susanne (2001). Erzählte Rede in zwei Novellen von Ludwig Bechstein. Ein politisierter Romantiker auf dem Weg in den literarischen Realismus. In: Henne‐ bergisch-Fränkischer Geschichtsverein (Hrsg.) Ludwig Bechstein: Dichter, Sammler, Forscher. Kloster Veßra/ Meiningen/ Münnerstadt: Meininger Museen, 1, 91-114. Schmidt-Knaebel, Susanne (2003). Ludwig Bechstein als Märchenautor Die vier Antho‐ logien im Überblick. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 33, 137-161. Schmidt-Knaebel, Susanne (2013). Ludwig Bechstein: Die kleinen Novellen und die Erzählungen. Inhalte-Kommentare-Materialien. Frankfurt/ M.: Peter Lang. Schmidt-Knaebel, Susanne (2015). Bechstein-Texte. Abrufbar unter: https: / / www.slm .uni-hamburg.de/ germanistik/ personen/ ehemalige/ schmidt-knaebel/ bechstein-texte. html Universität Hamburg. (Stand: 22/ 03/ 2023). Seifert, Andreas (2011). Ludwig Bechstein. Ein Lesebuch. Meiningen: Meininger Museen. Vom Thüringer Wald zu den Phantasiegemälden 267 <?page no="269"?> Die Autorinnen und Autoren Dr. phil. Stefania Acciaioli (Dt.-It. Studien). Lehre an der Universität Bonn und an der Universität zu Köln. Zwei Monographien (Phantastik bei Hoffmann und Beckford, Ironie bei Hauff). Marc Arévalo Sánchez. Er arbeitet an einer Dissertation über die Rezeption des Antigone-Mythos in den deutschen und spanischen Nachkriegs- und Exillitera‐ turen. Universität Barcelona. Hans Richard Brittnacher, Prof. Dr., lehrte bis 2019 am Institut für Deutsche Philologie der Freien Universität Berlin. Intermedialität des Phantastischen; Imago des Zigeuners; Literatur und Religion. Dr. Ricarda Hirte. Promotion an der Universitat de València, über phantastische Literatur. Seit 2021 an der Universidad de Córdoba. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Psychoanalyse, u.a. Rolf-Peter Janz, Prof. Dr., lehrte am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Klassik und Romantik; Fin de Siècle; Konstruktionen des Fremden; das Erhabene und das Komische, u.a. Dr. Tamar Kiguradze. Promotion 1988 an der Staatlichen Ivane-Javakhishvili- Universität Tbilisi. Tätigkeit als Dozentin für westeuropäische Literaturge‐ schichte an der- Ivane-Javakhishvili - Universität u.a. María Rosario Martí Marco, Dr. phil. Professorin („Titular“) für deutschsprachige Literatur, Germanistik, Universidad de Alicante. An mehreren Forschungspro‐ jekten im Bereich der Literaturtheorie und des Humanismus beteiligt. Dr. Ana Muñoz Gascón. Dozentin an der Universität Valladolid (UVa). Mitglied der Forschungsgruppe „Die Rezeption der japanischen Vorstellungswelt in der englischen und französischen Reiseliteratur. 19. bis 21.-Jahrhundert.“ Dr. Phil. Gianluca Paolucci, Ricercatore (B) für Deutsche Literatur an der Universität Roma Tre. Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert; Praktiken und Theorien der Medien im 18. und 20. Jahrhundert; Literatur, Geographie und Kartographie. <?page no="270"?> Jesús Pérez-García. Dr. phil. Professor („Titular“) an der Universität Valladolid: Germanistik-Abteilung und Zentrum für Asienstudien. Interkulturellen Studien und Beziehungen Europa-Ostasien; Migrationsphänomene. Rosa Pérez Zancas, Dr. phil., Senior Lecturer („Agregada“) an der Secció d’Estudis Germànics der Universitat de Barcelona. Deutschsprachige Literatur des 20. und 21.-Jahrhunderts, Holocaust- und Exil-Literatur, transkulturelle Studien. Berta Raposo, Prof. Dr. an der Universitat de València, seit 2021 Honorarprofes‐ sorin. Promotion 1980 an der Philipps-Universität Marburg, Zahlreiche Bücher zur deutschsprachigen Reiseliteratur über Spanien und zur Romantik. Rolf G. Renner war zuletzt Professor für Neuere deutsche Literatur. Gastpro‐ fessuren in Europa, den USA, Lateinamerika, Australien und Neuseeland. Literaturtheorie und Medientheorie. Letzlich erschienen: Monographie Peter Handke. Erzählwelten. Bilderordnungen (2020). Dr. Lydia Schieth. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Universität Bamberg (1986, 1988-1993). Zuletzt erschienen: Bamberger Schlagabtausch über E.T.A. Hoffmann in sieben Dialogen (2021). Dr. Catalina C. Soto de Prado Otero. Dozentin an der Universität Valladolid. Seit 2016 Prodekan für internationale Beziehungen an der Fakultät für Handel. Forschung zur Beziehung zwischen Ökologie, Umwelt und Literatur. Prof. Dr. Inge Stephan. Professorin an der Universität Hamburg. Ab 1994 Profes‐ sorin an der Humboldt-Universität zu Berlin. ‚Frauenbilder‘ und ‚Männerbilder‘, Geschlechtskonstruktionen in der Literatur vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, feministische Theorie und aktuelle Gender-Forschung. Şebnem Sunar. Assoc.-Prof. an der Istanbul Universität. Studium und Promotion zu deutschen Exil-Wissenschaftlern und Philologien im türkischen Moderni‐ sierungsprozess. Übersetzungen aus dem Deutschen (Kästner, Zweig, Frisch, Schopenhauer, Nietzsche). Loreto Vilar, Prof. Dr. „Titular“ für Deutsche Literatur an der Universitat de Barcelona. Deutschsprachige Literatur vom 19. Jh. bis heute, Literatur und Marxismus, Komparatistik. Zuletzt erschienen: Alemanas del Gulag (2022). 270 Die Autorinnen und Autoren <?page no="271"?> Register Adorno, Theodor W.-210 f. Afanasjew, Alexander-156 Agamben, Giorgio-224 Arnim, Achim von-105 Assmann, Aleida-221 Bachtin, Michail-165 Bartels, Ernst Daniel August-99, 123, 126, 128 Baudelaire, Charles-15, 172 Bechstein, Johanna Carolina Dorothea-260 Bechstein, Johann Matthäus-260 f., 265 Bechstein, Ludwig-255-262, 264 f. Bemman, Hans-52, 57 Benjamin, Walter-48, 211 Bereis, Gottfried Christoph-105 Biermann, Wolf-231 Borges, Jorge Luis-48, 53 Brachmann, Louise-84 Brecht, Bertolt-23, 197 f., 201 f. Brentano, Clemens-84 Breuer, Josef-100, 162 Brittnacher, Hans Richard-14 f., 17 f., 21, 25, 42, 54, 56 f., 59, 78, 159, 162, 165, 171 f., 176, 257, 266, 269 Caillois, Roger-14, 17, 39 f. Calderón de la Barca, Pedro-115 Callot, Jacques-22, 71 f., 77 Caravaggio, Michelangelo Merisi da-122, 182 Chamisso, Adelbert von-16 Charcot, Jean-Martin-162, 164 Chézy, Helmina von-84 Contessa (Karl Wilhelm Salice-Contessa)-16 Correggio, Antonio Allegri da-131 Defoe, Daniel-64 Durst, Uwe-41 f. Eisner, Lotte-14, 17 Ende, Michael-17, 31, 45, 50, 56, 68 f., 73, 78, 80, 241 f., 244 ff., 248-252 Foucault, Michel-57, 110 f., 119 Fouqué (Friedrich de la Motte Fouqué) 16, 84, 194 Francesco, Grete de-97 f., 105 Freud, Sigmund 24, 100, 121, 137, 139-142, 144, 146 ff., 162, 181, 225, 233 Freund, Karl-13, 85, 87 f., 91, 99, 101, 186, 188, 211 f., 223 Fühmann, Franz-24, 188, 190, 227-236 Fukuzawa, Yukichi-199 Funke, Cornelia-47, 49, 51, 53, 56 Füssli, Johann Heinrich-102 Futabatei, Shimei-199 Garnett, David-166 Geertgen tot Sint Jan-122 Giotto di Bondone-122 Goethe, Johann Wolfgang von 11 f., 16, 18, 38, 84, 105, 112, 124, 153, 232, 235, 259 Gogol, Nikolai-24, 227, 230 Gottsched, Johann Christoph-153 Gouvion St. Cyr, Laurent de-87 Goya, Francisco de-22, 51, 178 Gozzi, Carlo-75 Grass, Günter-23, 37-45 Griesinger, Wilhelm-163 Grimm, Jakob und Wilhelm-38 f., 256 Gubitz, Friedrich Wilhelm-84, 91 <?page no="272"?> Hacks, Peter-228 Harari, Yuval Noah-23 Hauser, Arnold-213 Heine, Heinrich-72, 75, 236 Hirsch, Marianne-25, 217, 220 Hitzig, Julius Eduard-76, 85 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus-11 f., 15-22, 24 f., 29-32, 38, 47, 49 f., 56, 63, 65 f., 68-78, 80, 83-91, 97 ff., 101, 103- 106, 109-113, 116-119, 121-124, 127, 130, 137, 141, 143-148, 171-174, 176- 179, 181 f., 185-195, 211, 227-236, 241- 244, 247, 249-253, 256 f., 259, 269 f. Hölderlin, Friedrich-16 Ibsen, Henrik-64 Jacquemin, Georges-208 Janouch, Gustav-214 Jean Paul ( Johann Paul Friedrich Richter)-16, 48, 74, 104 Kafka, Franz-24, 32, 75, 207-215, 227, 229 ff. Kamptz, Carl Albert von-230 f. Kempelen, Wolfgang von-104 Kleist, Heinrich von-13, 16, 18 Kluge, Carl Alexander Ferdinand-114 ff., 125-128 Klüger, Ruth-219, 225 Koreff, David Ferdinand-111, 123, 129 Kössler, Christian-25 Kössler, Silvia-25 Kreis, Rudolf-90, 130, 141, 177, 186, 210 f. Kunz, Carl Friedrich-85, 186 Lacan, Jacques-69 Lang, Fritz-23, 67, 257 Laplanche, Jean-139 f. Lenz, Siegfried-40 Leonardo da Vinci-122 Lessing, Gotthold Ephraim-48, 178 Lueger, Karl-219 Lukács, Georg-228 Lynch, David-223 Marcus, Adalbert Friedrich-123 Marx, Karl-234 ff. May, Markus 14 f., 17 f., 42, 46, 54, 56 f., 59, 69, 78, 162, 165, 172, 257, 266 Melzer, Ernst Friedrich-186 Mesmer, Franz Anton-99, 126 Moers, Walter-47, 49, 51, 53 f., 56 Molinary, Aloysius-122 Montau, Dorothea von-44 Moretti, Franco-64, 68 Mori,-Ōgai-199 Moritz, Karl Philipp-124 Müller, Herta 13, 18, 48, 52, 55, 84, 91, 152, 154 Natsume, Sōseki-199 Nikolajeva, Maria-43, 244 Nitobe, Inazō-199 Nudows, Heinrich-123 Piero della Francesca (Pietro di Benedetto dei Franceschi)-122 Poe, Edgar Allan-15, 172 Pontalis, Jean-Bertrand-139 Puységur, Marquis de-110 Rabelais, François-165 Rabinovici, Doron-17, 217-226 Radcliffe, Ann-17 Radványi, László-230 Raimi, Sam-223 Reil, Johann Christoph-114, 125, 127 f. Rembrandt, Harmensz van Rijn-122, 189 Richter, Jean Paul Friedrich-16 Rosa, Salvator-25, 132, 270 Runge, Philipp Otto-38 f. Schalcken, Godfried-122 Schiller, Friedrich von-13, 262 Schmolling, Daniel-118 Schüssel, Wolfgang-218 272 Register <?page no="273"?> Scott, Walter-12, 19 Seconda, Joseph-84 Seghers, Anna-24, 227-232, 234, 236 Shelley, Mary-17 Shimamura, Shunichi-24, 151, 159, 162- 165 Speyer, Karl Friedrich-123, 186 Tatsuji, Iwabuchi-198 Thiele, Carl Friedrich-73 Tiepolo, Giovanni Batista-22 Todorov, Tzvetan 14, 41, 124, 126, 208, 233, 257 Tour, Georges de la-122 Utagawa, Hiroshige-161 Utagawa, Kuniyoshi-160 Vaucanson, Jacques de-104 Vax, Louis-39 f., 46 Welles, Orson-209, 214 f. Wiegleb, Johann Christian-105 Wieland, Christoph Martin-13 Wilmans, Friedrich und Heinrich-186 Wilpert, Rebekka-42 Wobeser, Karoline von-187 Wunnicke, Christine-159, 162 Yamamoto, Yūzō-198 Register 273 <?page no="274"?> Popular Fiction Studies edited by Eva Parra-Membrives (†) and Albrecht Classen „Popular Fiction Studies“ befasst sich mit Texten, die in der wissenschaftlichen Tradition aufgrund ihres nicht-kanonischen Status oder ihrer Popularität marginalisiert worden sind und bislang nicht im Blickfeld der Literaturwissenschaft standen. Dabei werden Werke aus Genres wie Kriminalroman, Fantasy, Science Fiction, Liebesroman und Horror in den Blick genommen. Die Reihe möchte zum einen neue Perspektiven eröffnen sowie dazu anregen, Werke außerhalb des Kanons wahrzunehmen, und so traditionelle wissenschaftliche Kriterien zu hinterfragen. Die Literaturwissenschaft steht hier im Mittelpunkt, es werden aber auch Untersuchungen zu verwandten Medien wie Zeitschriften, Theater, Musik, Kunst, Film und Rundfunk angenommen. Publikationssprachen sind Deutsch, Französisch und Englisch. Bisher sind erschienen: 1 Eva Parra Membrives, Albrecht Classen (Hrsg. / Eds.) Literatur am Rand / Literature on the Margin Perspektiven der Trivialliteratur vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert / Perspectives of Trivial Literature from the Middle Ages to the 21st Century 2013, 304 Seiten €[D] 68,00,- ISBN 978-3-8233-6764-2 2 Albrecht Classen, Eva Parra-Membrives (Hrsg. / Eds.) Bestseller - gestern und heute / Bestseller - Yesterday and Today Ein Blick vom Rand zum Zentrum der Literaturwissenschaft / A Look from the Margin to the Center of Literary Studies 2016, 230 Seiten €[D] 68,00,- ISBN 978-3-8233-6938-7 3 Eva Parra-Membrives, Wolfgang Brylla (Hrsg.) Facetten des Kriminalromans Ein Genre zwischen Tradition und Innovation 2015, 240 Seiten €[D] 78,00,- ISBN 978-3-8233-6946-2 4 Albrecht Classen, Wolfgang Brylla, Andrey Kotin (Hrsg.) Eros und Logos Literarische Formen des sinnlichen Begehrens in der (deutschsprachigen) Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart 2018, 342 Seiten €[D] 78,00,- ISBN 978-3-8233-8123-5 5 Paloma Ortiz-de-Urbina (Ed.) Germanic Myths in the Audiovisual Culture 2020, 218 Seiten €[D] 78,00,- ISBN 978-3-8233-8300-0 6 Manuel Almagro-Jiménez / Eva Parra-Membrives (Eds. / Hrsg.) From Page to Screen / Vom Buch zum Film 2020, 410 Seiten €[D] 78,00,- ISBN 978-3-8233-8367-3 7 Paloma Ortiz-de-Urbina (Eds. / Hrsg.) German Expressionism in the Audiovisual Culture / Der deutsche Expressionismus in den Audiovisuellen Medien 2022, 282 Seiten €[D] 78,00,- ISBN 978-3-8233-8545-5 <?page no="275"?> 8 Detlev Gohrbandt An Apology for Pictures Studies in Popular Illustrated Narrative in Europe, 1918-1939 2024, ca. 400 Seiten €[D] 98,00,- ISBN 978-3-8233-8564-6 9 María Rosario Martí Marco / Jesús Pérez- García (Hrsg.) Das Phantastische in der deutschsprachigen Literatur E.T.A. Hoffmann (1776-1822) 2024, 273 Seiten €[D] 78,00,- ISBN 978-3-8233-8613-1 <?page no="276"?> Popular Fiction Studies 9 ISBN 978-3-8233-8613-1 Der Meister der europäischen Phantastik E.T.A. Hoffmann ist zweihundert Jahre nach seinem Tod lebendiger denn je. Aus diesem Anlass ist ein Sammelband entstanden, der sich die Auseinandersetzung mit Werk und Erbe des bedeutenden Klassikers zur Aufgabe gesetzt hat. Renommierte Forscher: innen aus Deutschland, Spanien, Italien, der Türkei und Georgien bieten neuere Ansätze zur phantastischen Literatur an. An erster Stelle stehen neue Einsichten in die Erzählungen des romantischen Genies, das von seinen Zeitgenossen als ‚Gespenster-Hoffmann‘ bezeichnet wurde: von den nuancierten Frauenfiguren über die Bearbeitung und Überwindung tief verwurzelter Stereotypen einer konservativen aber lesefreudigen Gesellschaft bis hin zu der kreativen Einarbeitung der Radierkunst in der Manier von Jacques Callot, der Commedia dell’arte und der Capriccio-Tradition. Ferner wird das Weiterwirken von Hoffmanns Kunst durch andersartige und neuere phantastische literarische Werke veranschaulicht, die an den Schnittstellen zur Psychoanalyse, zum Neoorientalismus oder zur Nachkriegs- und Gedächtnisliteratur stehen.