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Metapherntheorie und Konstruktionsgrammatik

Ein vierdimensionaler Ansatz zur Analyse von Metaphern und metaphorischen Konstruktionen

0814
2023
978-3-8233-9614-7
978-3-8233-8614-8
Gunter Narr Verlag 
Bin Zhanghttps://orcid.org/0000-0002-3565-8721
10.24053/9783823396147

In diesem Buch wird ein integratives Konzept ausgearbeitet, das konzeptuelle Metapherntheorie und Konstruktionsgrammatik zusammenführt und für die Analyse metaphorischer Konstruktionen verfügbar macht. Dieser Zusammenhang wird auf drei unterschiedlichen Ebenen (Idiomatik, Text und Diskurs) bzw. Modalitäten (Schrift und Bild) überprüft. Zu den verwendeten Sprachdaten gehören idiomatische Konstruktionen, Leitartikel, Titelbilder und Titelgeschichten aus zwei überregionalen Nachrichtenmagazinen. Die umfassende Korpusuntersuchung weist nach, dass vier unterschiedliche Dimensionen für einen opportunen Analyseansatz zu berücksichtigen sind: die Prosodie, die Struktur, die Semantik sowie die Pragmatik einer linguistischen Konstruktion (PSSP-Modell). Besonders hervorgehoben werden die in der Konstruktionsgrammatik bis jetzt wenig behandelten Rollen von Prosodie und Pragmatik. Das vorgeschlagene Modell gibt in dieser Hinsicht der funktionalen Linguistik, der Kognitiven Linguistik sowie der Konstruktionsgrammatik neue theoretische Impulse. Der Autor hat für seine Arbeit den Dr.-Walther-Liebehenz-Preis der Georg-August-Universität Göttingen erhalten.

<?page no="0"?> www.narr.de TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik In diesem Buch wird ein integratives Konzept ausgearbeitet, das konzeptuelle Metapherntheorie und Konstruktionsgrammatik zusammenführt und für die Analyse metaphorischer Konstruktionen verfügbar macht. Dieser Zusammenhang wird auf drei unterschiedlichen Ebenen (Idiomatik, Text und Diskurs) bzw. Modalitäten (Schri und Bild) überprü . Zu den verwendeten Sprachdaten gehören idiomatische Konstruktionen, Leitartikel, Titelbilder und Titelgeschichten aus zwei überregionalen Nachrichtenmagazinen. Die umfassende Korpusuntersuchung weist nach, dass vier unterschiedliche Dimensionen für einen opportunen Analyseansatz zu berücksichtigen sind: die Prosodie, die Struktur, die Semantik sowie die Pragmatik einer linguistischen Konstruktion (PSSP-Modell). Besonders hervorgehoben werden die in der Konstruktionsgrammatik bis jetzt wenig behandelten Rollen von Prosodie und Pragmatik. Das vorgeschlagene Modell gibt in dieser Hinsicht der funktionalen Linguistik, der Kognitiven Linguistik sowie der Konstruktionsgrammatik neue theoretische Impulse. 587 Zhang Metapherntheorie und Konstruktionsgrammatik Metapherntheorie und Konstruktionsgrammatik Ein vierdimensionaler Ansatz zur Analyse von Metaphern und metaphorischen Konstruktionen Bin Zhang ISBN 978-3-8233-8614-8 <?page no="1"?> Metapherntheorie und Konstruktionsgrammatik <?page no="2"?> Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 58 7 <?page no="3"?> Bin Zhang Metapherntheorie und Konstruktionsgrammatik Ein vierdimensionaler Ansatz zur Analyse von Metaphern und metaphorischen Konstruktionen <?page no="4"?> Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823396147 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-8614-8 (Print) ISBN 978-3-8233-9614-7 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0511-8 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 1 11 1.1 12 1.2 14 2 19 2.1 20 2.1.1 20 2.1.2 23 2.2 28 2.3 30 2.3.1 31 2.3.2 34 2.4 40 2.5 44 2.6 47 2.7 54 2.8 57 3 61 3.1 62 3.1.1 62 3.1.2 66 3.2 67 3.3 77 Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thematik und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt der Einzelkapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analysedimensionen für die sprachlichen Konstruktionen aus der Perspektive der Metapherntheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dimension 1: Traditionelle Metapherntheorien . . . . . . . . . . . . Metapher und Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metapher und lexikalische Solidarität . . . . . . . . . . . . . . Generative Linguistik und Kognitive Linguistik . . . . . . . . . . . . Dimension 2: Embodiment und Konzeptuelle Metapherntheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgangspunkt: Embodiment-Hypothese . . . . . . . . . . . Konzeptuelle Metapherntheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dimension 3: Identifikation der Metaphern und der metaphorischen Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dimension 4: Erweiterte Konzeptuelle Metapherntheorie . . . Dimension 5: Funktionen der Metaphern . . . . . . . . . . . . . . . . . Orientierungsmetaphern im Chinesischen und Deutschen . . Synthese: Überlegungen für die Analyse der Metaphern und metaphorischen Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analysedimensionen für die sprachlichen Konstruktionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines zur Konstruktionsgrammatik . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsgeschichte der Konstruktionsgrammatik Die grundlegenden theoretischen Ansätze der Konstruktionsgrammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dimension 1: Konstruktionsdefinitionen nach Goldberg . . . . Dimension 2: Struktur der Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 3.4 82 3.4.1 82 3.4.2 83 3.5 89 3.6 95 3.7 99 4 103 4.1 103 4.1.1 103 4.1.2 110 4.1.3 116 4.2 117 4.2.1 117 4.2.2 131 4.2.3 139 5 147 5.1 147 5.1.1 148 5.1.2 153 5.2 159 5.2.1 160 5.2.2 171 5.3 178 5.3.1 178 Dimension 3: Bedeutung der Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . Semantische Motiviertheit der Konstruktion als Bedeutung-Form-Paar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Streitigkeit über die Bestimmung der semantischen Rollen einer Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dimension 4: Prosodie der Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dimension 5: Pragmatik der Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . Synthese: Das PSSP-Modell für eine Konstruktionsanalyse . . Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden . . Aufbau der Korpora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die verwendeten Sprachdaten für Analyse auf der idiomatischen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die verwendeten Sprachdaten für die Analyse auf der textuellen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die verwendeten Sprachdaten für die Analyse auf der multimodalen Ebene (Konstruktion-Bild-Komposition) Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das methodische Verfahren der idiomatischen Analyse Das methodische Verfahren der textuellen Analyse . . . Das methodische Verfahren der multimodalen Analyse (Konstruktion-Bild-Interaktion) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metapher und idiomatische Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prosodie in den chinesischen und deutschen Schriftsprachen Prosodische Dimensionen der chinesischen Schriftsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prosodische Dimensionen der deutschen Schriftsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlegendes zu den analysierten metaphorischen Konstruktionen im Chinesischen und Deutschen . . . . . . . . . . Konstruktion im Chinesischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phraseologismen und phraseologische Konstruktionen im Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prosodische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Chengyu ( 成语 ) als eine auffällige idiomatische <?page no="7"?> 5.3.2 183 5.3.3 220 5.3.4 225 5.4 230 5.4.1 231 5.4.2 235 5.4.3 249 5.4.4 258 5.5 262 6 265 6.1 266 6.1.1 267 6.1.2 270 6.1.3 271 6.1.4 276 6.1.5 279 6.1.6 282 6.1.7 285 6.2 287 6.3 294 6.3.1 295 6.3.2 297 6.3.3 299 6.3.4 300 6.4 303 7 307 7.1 307 7.2 316 7.2.1 317 7.2.2 321 7.2.3 334 7.2.4 351 Strukturelle Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Semantische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pragmatische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prosodische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturelle Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Semantische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pragmatische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metaphorische Konstruktionen im Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metaphorische Konstruktion, Frame und Argumentation . . . Naturmetaphorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiermetaphorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freizeitbeschäftigungsmetaphorik . . . . . . . . . . . . . . . . . Reisemetaphorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Essensmetaphorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheitsmetaphorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftsmetaphorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metaphern in der Fachkonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kreative Konstruktionen und Konkurrenzstrategien . . . . . . . . Übernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umwertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kategorien der Titelbild-Konstruktion-Konstellation . . . . . . . Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Titelbild und Titelbild-Konstruktion-Konstellation . . . Analyse der idiomatischen Konstruktionen . . . . . . . . . . Text bzw. Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatzdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 7.3 352 7.3.1 353 7.3.2 354 7.3.3 359 7.3.4 375 7.4 378 8 381 387 401 405 407 Fallbeispiel 2: Ciao amore! Italien zerstört sich selbst - und reißt Europa mit (Der Spiegel, 23/ 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deskriptive Beschreibung des Titelbilds . . . . . . . . . . . . Analyse der idiomatischen Konstruktionen . . . . . . . . . . Text bzw. Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatzdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> Danksagung Das vorliegende Buch ist das geistige Endprodukt meiner ‚Promotionsreise‘ im Bereich der Metapherntheorien und der Konstruktionsgrammatik am Seminar für deutsche Philologie der Georg-August-Universität Göttingen. Diese Reise wäre ohne die Hilfe und Unterstützung vieler Menschen bzw. Förderinstituti‐ onen einsam, langweilig und nicht möglich gewesen. Zuvörderst gilt mein Dank meiner Erstbetreuerin, Frau Prof. Dr. Hiltraud Casper-Hehne, die mich während der Promotion in vielerlei Hinsicht uner‐ müdlich und vertrauensvoll unterstützt hat. Trotz starker beruflicher Bean‐ spruchung hat sie immer sehr schnell auf meine Fragen und Schwierigkeiten reagiert, was mich im Schreibprozess viele Schritte vorangebracht hat. Mein Dank gilt weiterhin meinem Zweitbetreuer, Herrn apl. Prof. Dr. Albert Busch. Sein Zuspruch und seine theoretischen Impulse haben diese Arbeit sehr bereichert. Besonders in vielen motivierenden Gesprächen hat er mir immer wieder auf die rechte Spur geholfen. Ebenfalls danke ich folgenden Freunden, die Einzelkapitel meiner Disserta‐ tion kritisch gelesen und mir viele konstruktive Ratschläge gegeben haben: André Borchard, Alexander Dübbert, Barbara Dengel, Maria Stroth und Michael Pleyer. Zudem danke ich den Kolleginnen und Kollegen, die mich besonders im fachlichen Diskurs motiviert haben: Hans C. Boas, Gunter Senft und Heike Wiese. Ferner möchte ich mich bei den nachstehenden Institutionen bedanken, die mich während des Studiums und der Promotion gefördert haben. Ohne deren finanzielle Unterstützung hätte ich nicht zu verschiedenen Tagungen fahren und dort meine Forschungsergebnisse präsentieren können: China Scholarship Council (CSC), Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD), Goethe Institut und Graduiertenschule für Geisteswissenschaften in Göttingen (GSGG). Für die Übernahme der Druckkosten danke ich der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften. Schließlich danke ich dem Narr Verlag für die Aufnahme dieser Schrift in die Reihe „Tübinger Beiträge zur Linguistik“. Darüber hinaus danke ich Tillmann Bub vom Narr Verlag für die zuverlässige, kompetente und freundliche Betreuung während des gesamten Publikationsprozesses. Von Herzen danke ich meinen Eltern, die mir immer bedingungslosen Rückhalt gegeben haben. Ganz besonders bedanke ich mich bei vielen Freunden, die mich so herzlich motiviert und unterstützt haben. Mein letzter Dank gilt <?page no="10"?> Wei Luo, der solidarisch zwölf Jahre lang meine unvergessliche Studien- und Promotionszeit begleitet hat. Köln, im Juni 2023 Bin Zhang 10 Danksagung <?page no="11"?> 1 Einleitung Die Termini Metapher und Konstruktion bezeichnen zwei zentrale Konzepte im Rahmen der funktional-kognitiv ausgerichteter Semantikbzw. Grammatik‐ theorien (z. B. die konzeptuelle Metapherntheorie und die Konstruktionsgram‐ matik). Die konzeptuelle Metapherntheorie, erstmalig vertreten von Lakoff & Johnson (1980a), geht davon aus, dass das menschliche Sprach- und Denk‐ system grundsätzlich sensomotorisch basiert und metaphorisch ist. In einer metaphorischen Projektion sind ein Ursprungsbereich und ein Zielbereich zu beobachten. Anhand von zahlreichen sprachlichen Beispielen argumentieren Lakoff & Johnson (1980a), dass zwischen den beiden Bereichen systematische Relationen entstehen können. Sie betrachten solche Relationen als Evidenz für die Existenz eines konzeptuellen Systems, das den konkreten Metaphern‐ gebrauch motiviert. Dieses kognitive und konzeptuelle System ist so stark verankert in der menschlichen Sprache, dass die metaphorische Gestalt in der Sprache nicht übersehen werden darf. Konzeptuelle Metaphern stellen daher kein reines sprachliches Phänomen dar. Sie strukturieren und prägen die menschliche Wahrnehmung bzw. Handlung. Darüber hinaus können kon‐ zeptuelle Metaphern in unterschiedlicher Art und Weise auf diversen Ebenen der Sprache auftreten, beispielsweise in der Morphologie (OBEN-Metapher in überglücklich oder aufheitern), in der Idiomatik (UNTEN-Metapher in auf fruchtbaren Boden fallen), im Satz (TRANSFER-Metapher in Ich bringe ihm ein Buch) oder in bildlichen und multimodalen Realisierungsformen (Wengeler & Ziem 2010). Die Tatsache, dass konzeptuelle Metaphern auf allen möglichen Ebenen der Sprache zu finden sind, macht die konzeptuelle Metapherntheorie anschluss‐ fähig für die Konstruktionsgrammatik. Seit Ende der 1980er Jahre hat sich eine Reihe von grammatischen Ausrichtungen herausgebildet, die unter dem Ober‐ begriff Konstruktionsgrammatik zusammengefasst werden können. Die promi‐ nentesten grammatischen Schulen darunter sind z. B. Berkeley Construction Grammar von Charles Fillmore (vgl. Fillmore 1968, 1977), Cognitive Construction Grammar von Georg Lakoff & Adele Goldberg (vgl. Lakoff 1977, 1987; Goldberg 1995, 2003), Cognitive Grammar von Roland W. Langacker (vgl. Langacker 1987, 1991) und Radical Construction Grammar von William Croft (vgl. Croft 2001). Trotz der minimalen theoretischen Unterschiede und Schwerpunktsetzung wird die Konstruktion im Allgemeinen in der Konstruktionsgrammatik als die grund‐ legende Einheit einer Sprache aufgefasst. Die erworbenen Form-Bedeutungs‐ <?page no="12"?> paare, also Konstruktionen, bilden die fundamentalen Bausteine sprachlichen oder enzyklopädischen Wissens. Konstruktionen umfassen nicht nur Wörter und Sätze, sondern auch Morpheme, Sprachstruktur und komplexere Sätze. Goldberg (1995) postuliert zugleich, dass Argumentstruktur-Konstruktionen metaphorische Ableitungsbeziehungen aufweisen können und konzeptuelle Metaphern dazu beitragen, „bestimmte Konstruktionen und Konstruktionsbe‐ deutungen zu lizenzieren, d. h. sie im Sprachsystem als semantisch mögliche und syntaktisch regelhafte Varianten zuzulassen“ (Ziem 2015: 56). Interessant ist es, dass Lakoff nicht nur ein Hauptvertreter der Konzeptu‐ ellen Metapherntheorie ist, sondern auch einer der Vorreiter der Kognitiven Konstruktionsgrammatik. Trotz der oben dargestellten theoretischen und kon‐ zeptuellen Nähe der beiden Theorien wird der wechselseitige Zusammenhang bis jetzt kaum systematisch in der Literatur thematisiert. Außerdem wird auf keine authentischen Sprachdaten in der ja wohl einzigen Studie von Goldberg (1995) zu diesem Zusammenhang zurückgegriffen. Die vorliegende Arbeit befindet sich daher in der Schnittstelle zwischen der Konzeptuellen Metapherntheorie und der Kognitiven Konstruktionsgram‐ matik und unternimmt den Versuch, einen kritischen bzw. synthetischen Blick auf die Metaphern bzw. die metaphorischen Konstruktionen in der Prägung der Konstruktionsgrammatik von Goldberg mit authentischen Sprachdaten zu werfen. 1.1 Thematik und Fragestellung (Konzeptuelle) Metaphern und metaphorische Konstruktionen gehören zu den Untersuchungsschwerpunkten der Arbeit. Um die beiden Schwerpunkte in der Untersuchung systematisch und authentisch zu berücksichtigen, werde ich zwei wesentliche Perspektiven, die bereits explizit im Titel deutlich gemacht werden, einnehmen. Zum einen soll aus der konstruktionsgrammatischen Sichtweise gefragt werden, welche Dimensionen der Konstruktionsgrammatik für die Beschreibung sowie die Analyse der konzeptuellen Metaphern bzw. der Konstruktionen mit konzeptuellen Metaphern in Frage kommen. Zum anderen sollen aus der Sichtweise der Konzeptuellen Metapherntheorie die relevanten Dimensionen herausgearbeitet werden, wie konzeptuelle Metaphern Konstruktionen motivieren bzw. beschränken. Aus dieser Erläuterung ergeben sich die zwei übergeordneten Fragestellungen der vorliegenden Arbeit: 12 1 Einleitung <?page no="13"?> 1. Welche Dimensionen der Konstruktionsgrammatik sind relevant für die Beschreibung sowie die Analyse von Metaphern bzw. von metaphorischen Konstruktionen? 2. Wie motivieren, beschränken und lizenzieren (konzeptuelle) Metaphern Konstruktionen? Diese zweierlei Auseinandersetzung mit (konzeptuellen) Metaphern und meta‐ phorischen Konstruktionen darf nicht nur auf die syntaktische Ebene begrenzt werden. Dies hat Ziem (2015) besonders in der theoretisch kursorischen Be‐ schäftigung mit den (konzeptuellen) Metaphern in der Kognitiven Konstrukti‐ onsgrammatik hervorgehoben: […] Wünschenswert wäre es zudem, die Untersuchung der Interaktion zwischen konzeptuellen Metaphern und grammatischen Phänomenen nicht auf der Satzebene zu beschränken. Konzeptuelle Metaphern werden nämlich nicht selten im transph‐ rastischen Kontext realisiert, sei es etwa durch (indirekt-anaphorische, textuelle etc.) Beziehungen zwischen sprachlichen Elementen in einem Text oder zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Elementen (etwa Bildern) […] (Ziem 2015: 77) Der Vorschlag von Ziem weist darauf hin, dass die systematische Behandlung des Zusammenhangs zwischen der Konzeptuellen Metapherntheorie und der Kognitiven Konstruktionsgrammatik mindestens die drei nachstehenden ana‐ lytischen Ebenen umfassen soll: 1. Satzebene, 2. Textebene und 3. Konstruk‐ tion-Bild-Ebene. Die vorliegende Arbeit orientiert sich grundsätzlich an dem theoretischen Vorschlag von Ziem und analysiert (konzeptuelle) Metaphern und metaphorische Konstruktionen ebenfalls auf drei einschlägigen Ebenen: 1. auf der Ebene der Idiomatik (Mikroebene), 2. auf der Ebene des Textes (Makroebene) und 3. auf der Ebene der Komposition von Konstruktionen und (Titel)Bildern. Um den zwei übergeordneten Fragestellungen in der Untersuchungspraxis nachzugehen, werden sie im Folgenden auf jeder konkreten Ebene durch unterschiedliche Fragenkomplexe etwas konkretisiert: 1. Auf der Ebene der Idiomatik (Mikroebene) - Welche Beschreibungsbzw. Analysedimensionen sind für die Analyse von idiomatischen Konstruktionen mit Metaphern von großer Bedeu‐ tung? - Wie können konzeptuelle Metaphern idiomatische Konstruktionen lizenzieren? 2. Auf der Ebene des Textes (Makroebene) - Welche Metaphern bzw. metaphorischen Konstruktionen sind in der untersuchten Textsorte zu beobachten? 1.1 Thematik und Fragestellung 13 <?page no="14"?> - Welche Frames können durch die zentralen Metaphern im Text her‐ vorgerufen werden? - In was für einem Verhältnis stehen die eingesetzten metaphorischen Konstruktionen und die hervorgerufenen Frames zueinander? - Wie werden Metaphern und metaphorische Konstruktionen in der Argumentation bzw. Argumentationsentfaltung genutzt? - Welche neuen Konstruktionen werden im Text verwendet? Wie werden diese neuen Konstruktionen aufgebaut? 3. Auf der Ebene der Komposition von Texten und Bildern (Multimo‐ dalebene) - Was ist die Beziehung zwischen dem Titelbild und der sprachlichen Begleitkonstruktion auf dem Titelbild? - Wie lässt sich diese Konstruktion-Bild-Beziehung kategorisieren? - Wie interagieren Metapher, Konstruktion und Frames zusammen in einer Titelstory-Reihe von Texten? - Welche Rollen können Bilder oder andere Visualisierungsmethoden im Titelstory-Titelbild-Diskurs spielen? 1.2 Inhalt der Einzelkapitel Das einleitende Kapitel 1 gibt der Leserschaft daher zuerst einen Überblick auf die thematische Zusammensetzung dieser Arbeit. Vorgestellt werden die Hauptideen jedes Einzelkapitels, die herangezogenen Theorien, das metho‐ dische Verfahren sowie die wichtigsten Thesen, die sich aus der Forschungssy‐ nergie ergeben. Dabei werden die zentralen Fragestellungen dieser Arbeit an der passenden Stelle angesprochen. In Kapitel 2 und Kapitel 3 treten die herangezogenen theoretischen An‐ sätze jeweils aus der Perspektive der Metapherntheorie und der Konstrukti‐ onsgrammatik auf. Kapitel 2 schafft hierzu die metapherntheoretischen Grundlagen und hebt die wichtigen Komponenten in einer metaphorischen Analyse der linguistischen Konstruktion hervor, was die Hinarbeitung auf meinen eigenen Ansatz auf der metaphorischen Ebene ermöglicht. Kapitel 3 beschäftigt sich mit der konstruktionsgrammatischen Theoriebildung für die kommende Korpusuntersuchung. Durch funktionale Reflexion und Diskussion der ausgewählten Forschungspositionen im Bereich der Konstruk‐ tionsgrammatik und in den anderen einschlägigen Schnittstellenbereichen wird ein klar benennbarer Gewinn für meinen eigenen Ansatz auf der konstrukti‐ onsgrammatischen Ebene ersichtlich. Der genaue Kenntnisgewinn wird in den 14 1 Einleitung <?page no="15"?> folgenden Vorstellungen über Kapitel 4 bis Kapitel 7 anhand von empirischen Entdeckungen veranschaulicht. Nach der intensiven und kritischen Auseinandersetzung mit den aufge‐ führten verschiedenen theoretischen Ansätzen aus der Metaphernforschung und Konstruktionsgrammatik mündet Kapitel 4 in Hinweise über einen eigenen systematischen Untersuchungsansatz, der sich bereits in der theoretischen Auseinandersetzung entwickelt. Die vorliegende empirische Un‐ tersuchung wird in unterschiedlichen Korpora im Chinesischen und Deutschen auf unterschiedlichen Ebenen durchgeführt. Das mehr als 100-seitige Kapitel 5 gehört zum Herzstück der vorliegenden Arbeit, das die idiomatischen und metaphorischen Konstruktionen im Chinesischen und Deutschen gründlich behandelt. Das Ziel dieses Großka‐ pitels wird es sein, nachzuweisen, dass zumindest vier unterschiedliche Dimen‐ sionen für einen vernünftigen Analyseansatz einer linguistischen Konstruktion erforderlich sind, die sich auf die Prosodie, die Struktur, die Semantik sowie die Pragmatik einer Konstruktion in einem speziellen Verwendungsszenario beziehen. Um die notwendigen Vorkenntnisse in Bezug auf die prosodischen Dimensionen in den beiden Sprachen zu vermitteln, werden die forschungsre‐ levanten Konzepte aus dem Bereich der Prosodie in Kapitel 5.1 diskutiert. In der Diskussion über die prosodischen Aspekte in der chinesischen Sprache wird zunächst argumentiert, dass die Töne im Chinesischen eine außergewöhnliche Rolle hinsichtlich der Bedeutungskonstruktion spielen und sie historisch entwi‐ ckelte Sprachprodukte innerhalb der sinotibetischen Sprachfamilie darstellen. Danach werden das phonologische Profil des modernen Standardchinesischen und das von Yuanren Zhao entwickelte Five-Point-Scale (FPS)-System für die tonale Repräsentation der chinesischen Sprache mit konkreten Beispielen vorgestellt. In diesem Unterkapitel wird eine fünfstufige Darstellung einer chinesischen idiomatischen Konstruktion mit der Berücksichtigung ihrer pro‐ sodischen Eigenschaften herausgebildet, die durchgängig in der vorliegenden Arbeit Anwendung findet. Kapitel 5.1.2 greift die prosodischen Dimensionen im Deutschen auf. Aspekte wie die Verläufe der Tonhöhe in verschiedenen deutschen Satztypen, der bedeutungsunterscheidende Akzent, der Zusammen‐ hang zwischen Silben und Rhythmus, die deutschen Silbenstruktur, die deutsche Sonoritätshierarchie sowie die Präferenzgesetze der Silbenstruktur nach Venne‐ mann (1988) werden in diesem Teil besprochen. Kapitel 5.2 thematisiert wichtige Entdeckungen in den bisherigen chinesischen und deutschen Studien über die Chengyu-Konstruktionen und die Phraseologismen. Besonders wird anhand einer kleinen und korpusgestützten Analyse der [[Das ist zum] + [X]]-Kon‐ struktion exemplifiziert, dass der konstruktionsgrammatische Ansatz durchaus 1.2 Inhalt der Einzelkapitel 15 <?page no="16"?> Anschlussfähigkeit mit der traditionellen phraseologischen Forschung aufweist. Die kommenden beiden Großunterkapitel (vgl. Kap. 5.3 und Kap. 5.4) präsen‐ tieren die Untersuchungsergebnisse der idiomatischen und metaphorischen Konstruktionen im Chinesischen und Deutschen aus den vier verschiedenen Perspektiven (Prosodie, Struktur, Semantik und Pragmatik), die die Bestandteile eines von mir geforderten Analysemodells (PSSP-Modell) für eine linguistische Konstruktion darstellen. Eine präzise Zusammenfassung des PSSP-Modells findet man in Kapitel 5.5. In Kapitel 6 geht es um die Analyse der metaphorischen Konstruk‐ tionen in Leitartikeln. Dass der prosodische sowie der pragmatische Aspekt verstärkt in die zukünftige Forschung im Bereich der Konstruktionsgrammatik einfließen sollen, wird im letzten Kapitel über den vierdimensionalen Ansatz diskutiert. Dieses Kapitel setzt sich speziell mit dem pragmatischen Aspekt der metaphorischen Konstruktionen in Leitartikeln auseinander. Die Metapher und die metaphorischen Konstruktionen werden auf der textuellen bzw. kontextu‐ ellen Ebene analysiert, wobei sie zusammen mit Frames und Argumentation betrachtet werden. Das Kapitel 6.1 zeigt die diversen Metaphern aus den chine‐ sischen und deutschen Leitartikeln (z. B. Reisemetaphern oder Krankheitsme‐ taphern), die unterschiedliche Deutungsframes hervorrufen, Argumentationen unterstützen und letztendlich die persuasiven Ziele erreichen. In Kapitel 6.2 werden vier Konstruktionen aus diversen Fachbereichen analysiert, die in Leitartikeln metaphorisch verwendet werden. Zum einen können Metaphern diese Fachkonstruktionen nachvollziehbarer für die einfache Leserschaft ma‐ chen, die wahrscheinlich nicht mit diesen Bereichen vertraut ist. Zum anderen können Metaphern in einer Fachkonstruktion auch die Argumentationskette des Leitartikels in einen gewollten Deutungsrahmen einlenken (vgl. die Respi‐ rator-Metapher und die Argumentationsebene in Kapitel 6.2). Im Leitartikel kommen manchmal auch kreative und neue Konstruktionen vor. Die möglichen Konkurrenzstrategien der neu geschaffenen Konstruktionen werden in Kapitel 6.3 behandelt. Die Untersuchungsergebnisse zeigen dabei folgende zentrale Konkurrenzstrategien auf: 1) die direkte Übernahme einer alten Konstruktion aus einem anderen Bereich oder Kommunikationsmodus, 2) Verengung oder Ex‐ tension einer alten Konstruktionsbedeutung, 3) Aufbzw. Abwertung einer alten Konstruktion, 4) Relativierung sowie Tabuisierung einer alten Konstruktion und 5) morphologische, semantische, syntaktische bzw. pragmatische Anpassung einer alten Konstruktion. Kapitel 7 untersucht die Metaphern und die metaphorischen Kon‐ struktionen im Titelbild-Titelstory-Diskurs. Zuerst wird die Beziehung zwischen einem Titelbild und der darauf stehenden Begleitkonstruktion kate‐ 16 1 Einleitung <?page no="17"?> gorisiert (vgl. Kap. 7.1). Die linguistische Begleitkonstruktion kann ein Titelbild genau oder teilweise beschreiben oder durch die Verwendung einer Metapher auf das Dargestellte auf einem Titelbild hindeuten. Nach der Vorstellung der drei Grundkategorien werden zwei Titelbilder sowie die zusammenhängenden Titelgeschichten aus den beiden ausgewählten Nachrichtenmagazinen mehrdi‐ mensional erforscht. Kapitel 7.2 greift eine spezifische Ausgabe von Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan im Jahr 2018 auf, wo sich die Titelstory auf den Zu‐ kunftsweg des chinesischen Fußballs sowie die Fußballreform in China bezieht. Die ausgewählte Titelstory aus der deutschen Zeitschrift Der Spiegel nimmt Bezug auf die Italienkrise und wird in Kapitel 7.3 vorgestellt. Die grundlegenden Aspekte für die Analyse auf dieser Ebene werden nochmals am Ende des Kapitels zusammengefasst (vgl. Kap. 7.4). Das letzte Kapitel (vgl. Kap. 8) greift die Fragestellung dieser vorliegenden Arbeit wieder auf und liefert diesbezüglich eine mögliche Antwort darauf, die durch die umfangreiche Korpusuntersuchung herausgebildet wird. Die zen‐ tralen Thesen bzw. Entdeckungen aus der Untersuchung werden rekapituliert. Durch die Andeutung des möglichen Desiderats der durchgeführten Untersu‐ chung und des zukünftigen Forschungspotenzials im Rahmen der konzeptuellen Metapherntheorien und der Konstruktionsgrammatik wird die vorliegende Arbeit abgerundet. Auf der formalen Ebene sind die nachstehenden zwei Punkte anzumerken: 1. Aus Gründen der besseren bzw. ungestörten Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit durchweg das generische Maskulinum verwendet. Selbstverständlich sollen damit alle Personen, alle möglichen Geschlechter bzw. alle Menschengruppen gleichermaßen angesprochen sein. 2. Die Notierung aller chinesischen Namen orientiert sich am Pinyin-System und nicht am Wade-Giles-System (also Beijing nicht Peking, Yuanren Zhao nicht Yuanren Chao). Die Reihenfolge der chinesischen Personennamen im Fließtext wird an der westlichen Darstellung der Personennamen angepasst (also Vornamen stehen vor Nachnamen). 1.2 Inhalt der Einzelkapitel 17 <?page no="19"?> 2 Analysedimensionen für die sprachlichen Konstruktionen aus der Perspektive der Metapherntheorien Das vorliegende Kapitel bemüht sich, durch erkenntnistheoretische Introspek‐ tion und relevante Nacherzählung der ausgewählten Metapherntheorien, so‐ wohl in ihrer historischen Bandbreite als auch in ihren aktuellen Entwick‐ lungen, zuerst einen praxisorientierten Begriff der Metapher und anschließend die möglichen Analysedimensionen der Metapher und der metaphorischen Konstruktionen herauszuarbeiten. Aus den zahlreichen traditionellen Metapherntheorien werden die Analogie und die Wortfeldtheorie der Metapher ausgewählt und in Kapitel 2.1 in die Dis‐ kussion eingeleitet. Die Auswahl der beiden Metapherntheorien hängt von ihrer engen Relevanz zur Konzeptuellen Metapherntheorie ab. Da die Konzeptuelle Metapherntheorie zu einer der zentralen Theorien im Rahmen der Kognitiven Linguistik zählt, beschäftigt sich das Kapitel 2.2 mit den grundlegenden Prä‐ missen der Kognitiven Linguistik, wobei das theoretischen Gegenprogramm, die Generative Linguistik, ebenfalls kurz besprochen wird. Die Darstellung der Konzeptuellen Metapherntheorie (Kap. 2.3) beginnt mit der Einführung der Embodiment-Hypothese und den relevanten Experimenten. Danach wird die Konzeptuelle Metapherntheorie mit einigen konkreten Beispielen ausdis‐ kutiert. Im Schluss werden zwei zentrale Kritikpunkte kurz angesprochen. Anhand eines authentischen Beispiels wird in Kapitel 2.4 aufgezeigt, wie man Metapher bzw. metaphorische Konstruktion im Text identifizieren kann. Die vier wichtigen Schritte hinsichtlich der Identifikation werden in der Tabelle 6 abschließend resümiert. Kapitel 2.5 stellt zwei aktuelle Ansätze zur Metapher vor (Kövecses 2020, Littlemore 2019). In Kapitel 2.6 werden die potenziellen Funktionen der Metaphern aus diversen Perspektiven diskutiert. Da sich der Untersuchungsgegenstand auf der idiomatischen Ebene in der vorliegenden Arbeit auf die Konstruktionen mit Raumbzw. Bewegungskonzepten bezieht, präsentiert Kapitel 2.7 die bereits gewonnen zentralen Erkenntnisse anhand einer Studie von Zhang (im Druck) in Bezug auf die OBEN-UNTEN-Metaphern im Chinesischen und Deutschen. Das abschließende Kapitel 2.8 versucht aus der theoretischen Synergie, die analytischen Dimensionen der Metapher zusam‐ menzustellen. <?page no="20"?> 2.1 Dimension 1: Traditionelle Metapherntheorien Eine zufriedenstellende und allgemein gültige Begriffsbestimmung der Meta‐ pher gibt es trotz der fast unüberschaubaren Menge an Publikationen zur metapherntheoretischen Modellierung und angewandten Metaphernforschung nicht. Die aus allen möglichen Forschungsfeldern stammenden Autoren, die sich mit Metapher beschäftigen, haben mehr oder minder ein spezifisches Verständnis dazu. Die in der ersten Dimension vorgestellten zwei traditionellen Metapherntheorien, die Analogietheorie und die Wortfeldtheorie der Metapher, haben einen erkennbaren Zusammenhang mit der zentralen Konzeptuellen Metapherntheorie. Kapitel 2.1.1 behandelt den metapherntheoretischen Ansatz von Aristoteles, wobei einige Fehlinterpretationen der Kognitiven Linguisten auch kontextuell besprochen bzw. in Frage gestellt werden. Die in Kapitel 2.1.2 eingeführte wort‐ feldsemantische Sicht ist in einiger Hinsicht ähnlich wie die Framesemantik, in der lexikalische Einheiten in ihrer wechselseitigen Bezogenheit stehen und den Deutungsrahmen bilden. Konkretisiert kann dies im Sinne von Behaghel (1932) paraphrasiert werden: „Geistig eng Zusammengehöriges wird auch eng zusammengestellt“. Nach der kritischen Auseinandersetzung mit den beiden mit der Konzeptuellen Metapherntheorie eng verbundenen Ansätzen wird das Ergebnis der Diskussion in Thesenform in der Tabelle am Ende des vorliegenden Unterkapitels zusammengetragen. 2.1.1 Metapher und Analogie Die Auseinandersetzung mit der Metapher hat eine sehr lange Geschichte. Historisch gesehen findet man schon in der Antike spärliche, aber teilweise auch systematische Abhandlungen über Metaphern. Hier sind die beiden Werke Poetik und Rhetorik von Aristoteles gemeint. Die in den beiden Klassikern versteckten Grundverständnisse zur Metapher machen Aristoteles traditionel‐ lerweise zum Vorreiter in einer Diskussion der Metapherntheorie, die für spätere Weiterentwicklungen sogar bis in die gegenwärtige Metaphernforschung einen mehr oder weniger direkten Ausgangssowie Referenzpunkt bilden. Auch die kognitiv linguistischen Ansätze profitieren von seinen Ansichten, obwohl kognitive Linguisten wie Lakoff & Johnson (1980a) und Kövecses (2010) sie lediglich als klassische Metapherndefinition distanziert betrachten (mehr zu Kognitiver Linguistik, vgl. Kap. 2.2). Jedoch scheinen einige der von kognitiven Linguisten bemängelten Kritikpunkte missverstanden sowie missinterpretiert worden zu sein. Daher wird zuerst der Versuch unternommen, 20 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="21"?> die originalen Grundgedanken von Aristoteles möglichst kontrastiv unter Einbezug der gängigen kognitiven „Stereotypen“ der klassischen Definition der Metapher gegenüberzustellen. Dies dient dazu, zu zeigen, dass auch die kognitive Linguistik in vielerlei Hinsicht Aristoteles’ Lehren kritisch hinterfragt und weitergibt. Eine Metapher ist ihm zufolge „die Übertragung eines Wortes (das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird), und zwar entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung, oder von einer Art auf eine andere, oder nach den Regeln der Analogie […]“ (Aristoteles 2017: 67). Die allererste Leistung des Definitionsversuchs liegt sicherlich einerseits in der Bestimmung der Metapher als eine Art Übertragung und anderseits in der genaueren Unterscheidung zwischen vier Prinzipien der Übertragung. Ein spannender Punkt, der aber zu wenig in der wissenschaftlichen Diskus‐ sion erwähnt wird, besteht in der expliziten Deutung des Entstehungsmoments der Metapher: Diese Übertragung findet zwischen einem Wort und einem anderen Gegenstand statt. Das heißt etwas genauer: Metaphorischer Sprach‐ gebrauch ist auf keinen Fall polysemisch und er kennzeichnet die Relation zwischen einem Wort, das sich auf einen eigentlichen Gegenstand oder Sach‐ verhalt bezieht und einem anderen Gegenstand, der keinen Bezug auf den von dem vorher erwähnten Wort semantisch und kognitiv mental aktivierten Gegenstand nimmt. In seiner Schrift Poetik geht Aristoteles ausführlich auf die Kategorie der Analogie der Metapher ein. Für ihn kann es als ein Fall nach den Regeln der Analogie bezeichnet werden, wenn zwischen A und B die gleiche Beziehung wie zwischen C und D besteht. Diese Art der Metapher setzt eine proportionale Analogie zwischen zwei verschiedenen Mengen der Dinge voraus und man kann die involvierten Dinge jeweils zu zweit in zwei parallele Gruppen eingliedern. Die hier referierte Analogie ist „ein Verhältnis zwischen zwei Gegenständen oder zwei Gegenstandsmengen, die sprachlich beschrieben werden. Dieses Verhältnis besteht in der Geltung eines gemeinsamen Beschreibungsinhalts für beide Analogiepartner“ (Coenen 2002: 17). An der Stelle ist auch ein häufig zitiertes Paradebeispiel von dem altgriechi‐ schen Philosophen Empedocles zu nennen, um diese abstrakte Formel etwas zu konkretisieren. Er benutzt den Begriff „Abend des Lebens“ für „Alter“. Zwischen „Tag“ (A) und „Abend“ (B) ist dieselbe Beziehung wie zwischen „Menschenleben“ (C) und „Alter“ (D) zu beobachten, sodass der zweite Teil „Abend“ (B) der Analogie für den vierten „Alter“ (D) genommen werden kann. Es geht hier auch um eine Beziehung der Ähnlichkeit, also Metapher im engeren Sinn. Diese Herstellung setzt eine gewisse Art kognitive Bearbeitung voraus und 2.1 Dimension 1: Traditionelle Metapherntheorien 21 <?page no="22"?> in diesem Sinne ist seine Ansicht mehr oder weniger kognitiv motiviert, was eine theoretische Basis für die Entwicklung einer kognitiven Linguistik schafft. Diese Zweiteilung inspiriert auch die konzeptuelle metapherntheoretische Unterscheidung zwischen Ursprungsbereich und Zielbereich, die durch zwei parallele Mengen von Aussagen gekennzeichnet ist. Selbstverständlich lässt sich diese proportionale Analogie dann durch eine mathematische Formel wie A: B = C: D umschreiben. Zudem kann diese Analogie der Metapherntheorie beispielweise die struktu‐ relle Eigenschaft der chinesischen idiomatischen Konstruktionen einleuchten, die aus vier chinesischen Schriftzeichen bestehen (mehr Beispiele in Kap. 5.3.2.2): (1) 逆来顺受 (gegen + kommen + entlang + hinnehmen): bedeutet, dass man die schlechte Umgebung und unfaire Behandlung hinnimmt. (2) 内忧外患 (innen + Sorge + außen + Risiko): Es gibt innere Sorgen und äußere Risiken. Bezeichnung für innere Instabilität und äußere Risiken eines Staates. (3) 下情上达 (unten + Situation + oben + vermitteln): der Vorgesetzten die Realität der Untergesetzten vermitteln. (4) 前呼后拥 (vorne + schreiben + hintern + umarmen): Bei Auftreten einer Person gibt es Leute, die vorne schreien, um den Weg freizumachen und die hinten um diese Person kreisen, um sie zu schützen. (5) 先人后己 (vorher + die anderen + nachher + selbst): Jemand denkt zuerst an die anderen und danach an sich selbst. Bedeutet, dass jemand die Interessen der anderen immer als Priorität betrachtet. In den oben aufgeführten fünf idiomatischen Konstruktionen ist zu sehen, dass die erste und die dritte Stelle der idiomatischen Konstruktionen von zwei gegensätzlichen lexikalischen Einheiten besetzt werden (gegen - entlang, unten - oben, innen - außen, vorne - hintern, vorher - nachher). Im Beispiel (1) sind zwei Metaphern spürbar: DIE SCHLECHTE UMGEBUNG UND UN‐ FAIRE BEHANDLUNG SIND DIE RICHTUNG, AUS DER MAN KOMMT und DIE GEHORSAMKEIT UND HINNAHME SIND DIE RICHTUNG, DIE PAR‐ ALLEL ZU ETWAS VERLÄUFT . Die beiden gegensätzlichen Richtungen mit den metaphorischen Bedeutungen (A = 逆 , gegen; B = 顺 , entlang) können eine Beziehung der Analogie herstellen und die gehören zum gleichen semantischen Feld der Richtungsangaben. Die anderen zwei Verben in dieser Konstruktion können ebenfalls insofern eine analoge Relation herstellen, indem sie beide auf Bewegungen referieren (C = 来 , kommen; D = 受 , hinnehmen). Die gesamte 22 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="23"?> Konstruktion lässt sich anhand der Formel A : B = C : D umschreiben. Ähnlich wie das Beispiel (1) kann das zweite Beispiel durch die Formel innen : außen = Sorge : Risiko paraphrasiert werden, in der eine Analogie auch zu beobachten ist. Diese analoge Relation wird in den anderen drei Beispielen wiedergegeben. Eine stark von der Kognitiven Linguistik kritisierte These aus der klassischen Metapherntheorie nach Aristoteles findet man zum Beispiel in Kövecses (2010: vii): […] Fourth, metaphor is a conscious and deliberate use of words, and you must have a special talent to be able to do it and do it well. (Aristoteles: The greatest thing by far is to have command of metaphor. This alone cannot be imparted by another; it is the mark of genius). Das in Klammern aufgeführte Zitat suggeriert eine Genie-These der Poetik, was aber nicht unbedingt dazu führt, dass die Metapher bei Aristoteles „als Ausnahmephänomen künstlerisch oder philosophisch elaborierter Äußerung behandelt wird“ (Goldmann 2018: 35). Im Klartext soll seine Idee so gedeutet werden: Nicht nur die linguistisch hochbegabten Sprachbenutzer sind lizenziert, einen metaphorischen Gebrauch zu kreieren. Er hebt hervor, dass der Dichter ein metaphorisches Ausdrucksformat anstreben sollte, das klar, ungewöhnlich, aber nicht banal ist. Folglich stimmt die kognitive alltäglich metaphorische Annahme eigentlich mit dem Ansatz von Aristoteles überein. Sicher ist es unfair, die „klassische“ Metapherntheorie in diesem Kontext unter Generalverdacht zu stellen. 2.1.2 Metapher und lexikalische Solidarität Walter Porzig, der durch das einflussreiche Buch „Das Wunder der Sprache“ (1950) noch bekannter gewordene deutsche Sprachwissenschaftler, betrachtet die Metapher wie Aristoteles. In einem mit „wesenhafte Bedeutungsbezie‐ hungen“ titulierten Aufsatz, in dem die Großschreibung von Substantiven keine Rolle spielt, schreibt er: es gibt für jedes wort eine verwendungssphäre, in der es zu hause ist, wo es hingehört. Es kann aber auch außerhalb dieser spähre verwendet werden, dann ergibt sich eine stilistische wirkung, hervorgebracht durch die spannung zwischen der eigentlichen bedeutung des wortes und dem fremden sinngehalt, dem es eingegliedert ist. Mit dieser unbestrittenen und unbestreitbaren tatsache, daß es metaphern gibt, daß man ein wort in übertragener bedeutung verwenden kann, sind aber die wesenhaften bedeutungsbeziehungen schon gesichert. Denn nur mit hilfe dieses begriffs läßt sich das wesen der metapher überhaupt bestimmen und ihre wirksamkeit im bedeutungs‐ 2.1 Dimension 1: Traditionelle Metapherntheorien 23 <?page no="24"?> system erkennen. Die metapher setzt, um möglich zu sein, voraus, daß ein wort wesenhaft einem bestimmten bezirk angehört. Es handelt sich ja nicht darum, ein wort einmal in dieser und ein andermal in jener verbindung zu gebrauchen. Vielmehr soll es in einer verbindung erscheinen mit der maßgabe, daß dies nicht seine ‚eigentliche‘ verbindung ist. Sowie dieses moment fehlt, liegt für die beschreibung keine metapher vor. Eine metapher ist also die verbindung von gliedern zweier bedeutungsfelder zu einem sinnvollen ausspruch. Sie setzt die existenz von bedeutungsfeldern voraus. Die starke zusammenhaltende kraft dieser felder liefert ihr die spannung, deren sie bedarf, um stilistisch wirksam zu sein. (…) Alle bedeutungen also, die in einem wort mitenthalten sind, auch wenn sie nicht ausgesprochen werden, gehören zu seinem bedeutungsfeld. (Porzig 1934: 77-78) Die von Porzig genannten „wesenhaften Bedeutungsbeziehungen“ beziehen sich auf „eine beziehung, die [sich] im wesen der gemeinten bedeutungen selbst begründe[t]“ (Porzig 1934: 70). Bedenkt man die analogische Annährung von Aristoteles an die Metapher, ist eine Tendenz zur mathematischen Symmetrie zu spüren. Zudem wird bei ihm der proportionale Vergleich als Kernstruktur der Metapher aufgefasst. Zur Zeit des Aristoteles, also in der philosophischen Tradition der Pythagoreer, ist die griechische Mathematik im Wesentlichen eine Lehre der idealen Proportionalen. Überträgt man diese Vorstellung der idealen Proportionalen auf die sprachwissenschaftliche Auseinandersetzung, ist es wohl kein Wunder, dass eine strenge Analogie als eine enge und zugleich höchste Form der metaphorischen Realisierung angesehen wurde. Jedes Element in der analogischen Menge regiert außerdem ein bestimmtes semantisches Feld, was Aristoteles mit dem „Eigentlichen“ ausdrückt. Die Metapher mag „die Existenz elementarer Bedeutungsfelder, also syntaktischer Felder voraussetzen“ (Rolf 2005: 67). Das „Eigentliche“ referiert in der oben genannten Definition von Porzig auf die jeweilige Verwendungssphäre eines Wortes, also das Zuhause eines semantischen Zeichens. Aber eine Metapher entsteht erst im Moment der Täuschung, der Überraschung und der Abweichung von der präskriptiven se‐ mantischen Erwartung, weil ein sprachliches Zeichen in einem metaphorischen Sprachgebrauch das eigene semantische Zuhause verlassen und ins kalte Wasser der Semantik springen muss. Anders formuliert: Eine sprachliche Entität ist nur dann metaphorisch kon‐ notiert, wenn sie ihre eigene regierende semantische Kraft verliert und zugleich ein anderes neues Bedeutungsfeld beherrscht. Dies erklärt, warum manche Me‐ taphern in bestimmten Kommunikationsmodi innerhalb einer sprachgemein‐ schaftlichen Kultur weit verbreitet sind: 24 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="25"?> Glückliche metaphern werden beliebt, werden mode, sie gehen in den allgemeinen sprachbesitz über. Aber damit verfallen sie dem psychologischen gesetz der abstump‐ fung gegen oft wiederholte reize. Wenn die metapher häufiger wird als der eigentlich gebrauch, so geht ihre bedeutung als metapher verloren, ihre innere spannung ist geschwunden, es sind jetzt nicht mehr fremde elemente in ihr zusammengeschlossen, sondern ihre glieder gehören nun primär zueinander. Damit hat die metapher als solche aufgehört, sie ist ‚verblaßt‘, ein wort hat einen neuen bezirk erobert, und ein elementares bedeutungsfeld ist gesprengt. (Porzig 1934: 86) Liebe ist beispielsweise eine grundlegende Emotion der Menschen, die aber je nach Lebensräumen ganz anders metaphorisiert werden kann. In einer verglei‐ chenden Untersuchung von Schröder (2009) findet man, dass die Sprachbenutzer in Brasilien die Liebemetapher häufig mit Eroberung, Essen sowie Pflanzen as‐ soziieren, während die deutschen Sprachbenutzer Liebemetapher durch Reisen oder Systeme realisieren. Die metaphorischen Variationen können nicht nur in den Schrifttexten beobachtet werden, sondern auch in der Gestik. Nach einer Studie von Núñez & Sweetser (2006) referieren die Aymara-Sprachbenutzer die Vergangenheit auf die vordere Richtung und die Zukunft auf die Hintere. Diese Referenz wird nicht nur in ihren Schriften dokumentiert, sondern kann auch in ihrer gestischen Verwendung beobachtet werden. Ihre Gestik bewegt sich nach vorne, wenn sie über die Vergangenheit erzählen, wobei die Gestik bei einer zukünftigen Referenz nach hintern deutet. Nach meiner Beobachtung und kleiner vergleichenden Überprüfung gibt es unterschiedliche Metaphern in idiomatischen Konstruktionen um das Thema Essen im Chinesischen und Deutschen: Essensmetapher im Chinesischen Essensmetapher im Deutschen VERLUST HINNEHMEN IST ESSEN ( 吃亏 : essen + Verlust = Verlust hin‐ nehmen) -GESCHOSSEN ZU SEIN IST ESSEN ( 吃枪子 = essen + Patrone + Samen = geschossen werden) -MISSERFOLG IST ESSEN ( 吃闭门羹 = essen + schließen + Tür + Brei = jemand wird bei einem anderen überhaupt nicht empfangen. Bezeichnung für Erfolglosig‐ keit) UMGANG MIT DEN ANDEREN IST ESSEN (mit dem ist nicht gut Kirschen essen: man kann sich mit jemandem nicht gut vertragen) -EWTAS TUN IST ESSEN (in den sauren Apfel beißen: etwas Unangenehmes tun; Da haben wir den Salat: jetzt ist das Unan‐ genehme passiert; seinen Senf dazugeben: zu einem Thema etwas sagen, obwohl das niemand wünscht) -WICHTIGKEIT IST ESSEN (Es geht um die Wurst: Jetzt wird sich eine Sache ent‐ scheiden) 2.1 Dimension 1: Traditionelle Metapherntheorien 25 <?page no="26"?> Essensmetapher im Chinesischen Essensmetapher im Deutschen -HART ARBEITEN IST ESSEN ( 吃苦 = essen + bitter = hart arbeiten) -ABHÄNGIGKEIT IST ESSEN ( 吃干饭 = essen + trocknen + Reis = bedeutet, dass jemand nichts tut und finanziell auf die anderen angewiesen ist) -BEGREIFEN IST ESSEN ( 吃透 = essen + transparent = etwas begreifen) -SOZIALKOMPETENZ IST ESSEN ( 吃 得开 = essen + bekommen + offen = je‐ mand ist sozial kompetent und bei vielen beliebt) -WÜRDE UND RESPEKT SIND ESSEN (beleidigte Leberwurst: wegen einer Klei‐ nigkeit beleidigt sein) -DANKEN IST ESSEN (einen Toast aus‐ bringen: jemandem mit einem Toast danken, ihn ehren o.Ä.) Tab. 1: Die unterschiedlichen Essensmetaphern im Chinesischen und Deutschen Durch die kleine kontrastive Studie zu den unterschiedlichen Essensmetaphern in den beiden untersuchten Sprachen ist ersichtlich, dass das Verb „essen“ in allen chinesischen Konstruktionen mit Essensmetaphern vorkommt, während die Essensmetaphern in den aufgezeigten deutschen Konstruktionen überwie‐ gend durch die verschiedenen Namen der alltäglichen Lebensmittel konstituiert werden. Außerdem bemerkt man, dass die Essensmetaphern in den beiden Sprachen unterschiedliche abstrakte Aspekte behandeln. Dies deutet darauf hin, dass man die kulturellen Unterschiede hinsichtlich der Konzeptualisierung der Metaphern durch die vorliegende sprachkontrastive Arbeit durchaus entdecken und die häufig verwendeten metaphorischen Kategorien in den beiden sprach‐ lichen Diskursen systematisieren kann. Coșeriu (1967) greift den wortfeldtheoretischen Ansatz von Porzig auf und begründet später seine Ideen zu einer „lexikalischen Solidarität“. Er lehnt, wie Porzig, die Annahme kategorisch ab, dass die Metapher die Existenz von para‐ taktischen Feldern voraussetzt. Er weist auch darauf hin, dass sich diese Solida‐ rität nur in eine Richtung orientiert. Als Beispiel wurde genannt, dass „Baum“ im Inhalt von „fällen“ enthalten ist und nicht umgekehrt. Die lexikalischen Solidaritäten sind also die inhaltliche Bestimmung eines Wortes bzw. Lexems und beschreiben syntagmatische Beziehungen. Die wortfeldtheoretische Idee zeigt, dass die sprachlichen Konstruktionen sich immer in einem relevanten Wortfeld befinden. Oder anders betrachtet gehört eine Konstruktion zu einem konkreten Knoten im sprachlichen Netzwerk und dieser Knoten ist immer 26 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="27"?> mit den anderen semantischen Knoten verbunden. Dies führt dazu, dass viele solcher Knoten einen semantischen Rahmen zusammenschließen. Zur Analyse einer Metapher muss daher das einschlägige semantische Frame im konkreten Verwendungskontext immer berücksichtigt werden (vgl. framesemantische Analyse im politischen Diskurs in Kapitel 4.2.2). Dimension 1: Traditionelle Metapherntheorien • Die traditionelle Auseinandersetzung mit der Metapher kann zum Beispiel auf Aristoteles zurückgeführt werden. Die Analogie der Metapherntheorie gibt uns zumindest zwei wichtige Hinweise in Bezug auf die metapherntheoretische Bildung: • Metapher ist eine Übertragung oder eine Analogie zwischen vier unterschiedli‐ chen Kategorien der Wörter. Dies impliziert auch, dass Metapher nicht polysem werden kann. Jedoch muss diese Eigenschaft der Metapher noch in der Empirie überprüft werden. • Metapher lässt sich anhand einer proportionalen Formel umschreiben. Dies findet man zum Beispiel in der Struktur von manchen chinesischen idiomatischen Konstruktionen (vgl. Kap. 2.1.1). • Die wortfeldsemantische Auseinandersetzung mit der Metapher deutet darauf hin, dass die semantischen Einheiten immer zu einem spezifischen Wortfeld gehören. Daher verfügt jedes lexikalische Zeichen über eine Verwendungssphäre, also das Zuhause dieses Zeichens. Die anderen lexikalischen Einheiten, die zusammen mit diesem Zeichen unter einem gemeinsamen Dach wohnen, sind semantisch solidarisch miteinander (z.-B. Auto, Fahrer und fahren; weiß und Milch). Framese‐ mantisch gesehen bilden sie zugleich einen einschlägigen Deutungsrahmen (z.-B. Autofahren-Frame oder Lebensmittel-Frame). • Die Metapher entsteht erst, wenn ein lexikalisches Zeichen das eigene Zuhause verlässt und mit anderen Zeichen in einer neuen Verwendungssphäre zusammen auftritt (z. B. die Zeit fährt Autos von Erich Kästner oder schwarze Milch der Frühe von Paul Celan). Dies weist zudem darauf hin, dass die Metaphern in unterschiedlichen Sprachen divers konzeptualisiert werden können, weil die lexikalischen Besetzungen der alten und der neuen Verwendungssphären von Sprache zu Sprache variieren (vgl. die Gegenüberstellung der Essensmetaphern in Kap. 2.1.2). Eine sprachvergleichende Arbeit wie diese kann die unterschiedli‐ chen Kategorien der Metaphern in einem bestimmten Kommunikationsdiskurs (z. B. im politischen Diskurs) aus den beiden Sprachen gegenüberstellen, die kulturspezifischen Metaphern hervorheben sowie den zwischenkulturellen Meta‐ pherngebrauch sensibilisieren. • Die Idee der lexikalischen Solidarität ist beispielsweise in einiger Hinsicht ver‐ gleichbar mit der Framesemantik. Die beiden Theorien betrachten die sprachlichen Zeichen nicht isoliert, sondern als vernetzte Einheiten im Sprachsystem. Jedoch betrifft die lexikalische Solidarität die inhaltliche Bestimmung des Lexems und sie beschreibt vor allem die syntaktischen Beziehungen der betroffenen Lexeme. Die Framesemantik analysiert die lexikalische Bedeutung in Bezug zum Weltwissen der Sprecher. Tab. 2: Dimension 1 - Traditionelle Metapherntheorien 2.1 Dimension 1: Traditionelle Metapherntheorien 27 <?page no="28"?> 2.2 Generative Linguistik und Kognitive Linguistik In der Darstellung der Analogie der Metapherntheorie (vgl. Kap. 2.1.1) wird die funktional-ausgerichtet linguistische Strömung - Kognitive Linguistik - kurz erwähnt. Die vorliegende Arbeit ist ebenfalls in dieser linguistischen Ausrichtung angesiedelt und die bald in Kapitel 2.3 eingeführte Konzeptu‐ elle Metapherntheorie zählt auch zu einer wichtigen Theorie innerhalb der Kognitiven Linguistik. Von daher ist vor der Einführung der konzeptuellen Metapherntheorie notwendig, einen Blick auf diese linguistische Schule zu werfen. Dabei wird auch das linguistische Gegenprogramm der Kognitiven Linguistik - Generative Linguistik - vergleichend dargestellt. Für die meisten Anhänger der Generativen Linguistik ist die Auseinanderset‐ zung mit der formalen Seite eines Sprachzeichens, also im Sinne von Saussure’s langue, von zentraler Bedeutung. Nach dem angeborenen Mechanismus in der Generativen Linguistik kann man quasi alle sprachlichen Konstruktionen generieren, sobald man die universalgrammatischen Prinzipien beherrscht. Der Ausgangspunkt einer Universalgrammatik suggeriert zugleich, dass das Spracherwerbsproblem eher ein logisches Problem darstellt. Die Suche nach einer begrenzten Ansammlung von linguistischen Parametern oder Formeln, indem linguistische Gesetze unendliche Sprachen bestimmen und konkrete Aus‐ drücke ermöglichen, stellt die zentrale Aufgabe eines generativen Linguisten dar. Die Antriebskraft einer linguistischen Untersuchung soll deswegen nicht in der Wortsemantik, sondern in der Syntax, also das von der Wortbedeutung unabhängige System, liegen. Jedoch sind die meisten kognitiven Linguisten der Überzeugung, dass die sprachwissenschaftliche Beschäftigung eher die Bedeutung einzelner Sprachzeichen in den Mittelpunkt rücken soll. Durch die Veröffentlichung des epochalen Werks Syntactical Strutures (1957) leitet Noam Chomsky die erste kognitive Revolution in der Linguistik ein. In der von Chomsky vorgeschlagenen deskriptiven Grammatikbeschreibung spielen die sogenannten Ableitungsregeln deshalb eine signifikante Rolle, die aus Erzeugungsregeln (Phrasenstrukturregeln) und Umstellungsregeln (Trans‐ formationen) bestehen (vgl. Philippi & Tewes 2010, Kap. 2 und 6). Eine andere Dichotomie, die für das generative Programm maßgeblich ist, ist die Unterschei‐ dung zwischen Kompetenz und Performanz. Man erwirbt eine Muttersprache in der Regel nicht durch gesteuertes Üben von grammatischen Vorschriften, sondern in seiner unmittelbaren alltäglichen Umgebung. Zudem produziert man grammatisch richtige Sätze, ohne die konkreten grammatischen Vorschriften genau benennen zu können. Oder man beurteilt einen Satz als ungrammatisch, obwohl man den genauen Regelverstoß nicht unbedingt syntaktisch identifi‐ 28 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="29"?> zieren kann. Genau dieses unbewusste Muttersprachgefühl nennt Chomsky Kompetenz, welche die „Kenntnis des Sprecher-Hörers von seiner Sprache“ (Chomsky 1978: 14) umfasst. Die durch diese Kompetenz aktivierte konkrete Verwendung in einer bestimmten Kommunikationssituation bezeichnet er als Performanz. Die generative Grammatik interessiert sich ausschließlich für die Sprachkompetenz. Die Grammatik wird dann als eine implizite Repräsentation der Sprachkompetenz angesehen. Für die generativen Linguisten ist es daher besonders wichtig, die tiefen linguistischen Strukturregeln möglichst präzise zu formulieren. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der konkreten Gebrauchssituation eines linguistischen Ausdrucks wurde nach seiner Auffas‐ sung ausdrücklich verweigert, wie im folgenden Zitat deutlich wird: The study of meaning and reference and of the use of language should be excluded from the field of linguistics. (…) Given a linguistic theory, the concepts of grammar are constructed (so it seems) on the basis of primitive notions that are not semantic (where the grammar contains the phonology and syntax), but that linguistic theory itself must be chosen so as to provide the best possible explanation of semantic phenomena, as well as others. (Chomsky 1977: 139) Die grundlegende Sichtweise der Generativen Linguistik wurde in dem lin‐ guistischen Funktionalismus und Pragmatismus (sowohl synchron als auch diachron) stark herausgefordert. Bernard Comire, John Haiman, Paul Hopper, Sandra Thompson und Talmy Givón zählen zu den Leitfiguren des linguisti‐ schen Funktionalismus. Sie betrachten das Sprachsystem nicht als eine An‐ häufung von statischen Regeln, sondern als ein Kommunikationssystem. Ihre Herangehensweisen sind durch einen diskursiv funktionalen und funktional typologischen Ansatz gekennzeichnet. Besonders bei Givón, dem Mitgründer von „West Coast Functionalism“, wird ein gebrauchsbasierter und sprachevo‐ lutionärer Ansatz in der linguistischen Studie ausdrücklich bevorzugt. Auch die Weiterentwicklungen in der historischen Linguistik (z. B. Traugott, Heine) verlangen ein komplett neues linguistisches Paradigma, das die kognitive, verkörperte und soziokulturelle Seite eines Sprachsystems berücksichtigt. In den 1980er Jahren wurden einige „Connectionalist“-Modelle aufgestellt und diese sollten einen großen Einfluss auf den gebrauchsbasierten Ansatz zum Spracherwerb im Sinne von Tomasello (2000) ausüben. Die Ende der 1980er Jahre entstandene linguistische Schule Kognitive Lin‐ guistik zielt darauf ab, die Beziehung zwischen Sprache und Kognition auf einer sich von der Generativen Linguistik stark unterscheidenden Ebene zu diskutieren. Kognitive Linguistik versteht sich grundsätzlich als ein Gegenpara‐ digma zu der Generativen Linguistik. Die durch die zweite kognitive Revolution 2.2 Generative Linguistik und Kognitive Linguistik 29 <?page no="30"?> gekennzeichnete Kognitive Linguistik hat ihre Wurzel in den 70er Jahren in den früheren Werken von Lakoff, Langacker, Fillmore und Talmy. Kognitive Linguistik ist mehr ein dynamisches Sammelparadigma als eine Einzeltheorie über Sprachsysteme, die verschiedene kognitive Theorien in sich vereint. Generative Linguistik und Kognitive Linguistik Die grundlegenden Prämissen der Generativen Linguistik 1. Sprache ist ein autonomes System und Syntax ist der primäre Untersuchungsge‐ genstand der Linguistik; 2. Grammatik besteht aus den hochgradig zusammenfassenden und abstrakten Ableitungsregeln, die dem Generieren sprachlicher Ausdrücke zugrunde liegen; 3. Sprachkompetenz ist ein besonderer menschlicher kognitiver Mechanismus, der genetisch vorprogrammiert ist. Die grundlegenden Prämissen der Kognitiven Linguistik 1. Sprache ist kein autonomes kognitives System und die Kategorisierung ist die primäre Funktion der Sprache. In der Generativen Linguistik ist Gram‐ matik eine „dekontextualisierte“ (Geeraerts 2006: 26) Systematisierung einer Sprache. 2. Kognitive Linguistik betrachtet Sprache als „ein Instrument für Organisation, Verarbeitung und Wiedergabe der Information“ (Übersetzung von BZ, Geeraerts & Cuyckens 2012: 4) und geht davon aus, dass Grammatik die Kontextualisierung wieder konstruieren muss. 3. Grammatikalisierung ist Konzeptualisierung und Konzeptualisierung ist immer perspektivisch. 4. Das sprachliche Wissen ergibt sich aus dem konkreten Sprachgebrauch. 5. Die Erschließung der linguistischen Bedeutungen befindet sich in einem dynami‐ schen Erwerbsprozess. Tab. 3: Die grundlegenden Prämissen der Generativen bzw. der Kognitiven Linguistik 2.3 Dimension 2: Embodiment und Konzeptuelle Metapherntheorie In diesem Unterkapitel werden der Ausgangspunkt der Konzeptuellen Meta‐ pherntheorie und die Konzeptuelle Metapherntheorie vorgestellt. Die soge‐ nannte Embodiment-Hypothese besagt, dass die sensomotorischen Erfahrungen der Menschen die menschliche Sprache und die menschliche Wahrnehmung maßgeblich prägen. Dies bildet einen zentralen Ausgangspunkt der Konzep‐ tuellen Metapherntheorie. In Kapitel 2.3.1 wird diese Hypothese zuerst aufge‐ 30 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="31"?> führt, wobei die experimentellen Studien hinsichtlich dieser Hypothese selektiv vorgestellt werden. Kapitel 2.3.2 setzt sich mit einer der Kerntheorien der vorliegenden Arbeit auseinander. Dabei werden einige konkreten Beispiele in die Diskussion eingeleitet, um zu zeigen, wie diese Theorie in der Praxis verwendet werden kann. Nicht zuletzt werden Ende des Kapitels zwei zentrale Kritikpunkte an dieser Theorie kurz besprochen. Davon ist abzuleiten, dass eine korpusbasierte und sprachvergleichende Untersuchung der Metaphern vorteilhaft sein kann. 2.3.1 Ausgangspunkt: Embodiment-Hypothese Der kognitive Ansatz, der Sprache als kein modales System betrachtet, geht davon aus, dass Kognition aus keinen abstrakten modalen Repräsentationen, die durch formale Regeln gekennzeichnet sind, besteht (Collins & Loftus 1975). Dieser Ansatz wurde in den letzten Jahren in der Diskussion im Bereich der Kognitionswissenschaften tendenziell steigend herausgefordert. Nicht wenige Studien zeigen, dass die neuralen sensomotorischen Systeme während der Sprachverarbeitung ebenfalls aktiviert werden. Als eine der Leitfiguren in der Kognitionsforschung bemerkt Glenberg (1997), dass der traditionelle Ansatz zur Gedächtnisforschung zu viel die statische und passive Speicherung der Informationseinheiten im Gehirn akzentuiert. Allerdings diene das Gedächtnis seiner Auffassung nach vor allem dazu, die situative Handlung auszuführen. Diese situative Handlung beruhe auf den im Gedächtnis eingespeisten Mustern, die durch körperliche Erfahrungen entstanden sind. Man besitze die Fertigkeit, situations- und zielgemäß eine zutreffende Handlung zu vollziehen. Der Begriff „Embodiment“ stammt wohl ursprünglich aus der Kognitionswis‐ senschaft in der Auseinandersetzung mit dem Bewusstsein. Nach der Embodi‐ ment-Hypothese benötigt das Bewusstsein einen Körper. Der zentrale Ansatz der Embodiment-Denkweise ist somit die Abhängigkeit allen Bewusstseins von einem Körper. Die dynamische Interaktion zwischen dem physisch funktionalen Dasein eines Körpers und dessen Ausgesetztheit an die unmittelbare Lebens‐ umgebung ist kontinuierlich zuständig für phänomenales Erleben und bewusste Erfahrung im menschlichen Alltag. Das bedeutet, dass die Wahrnehmung kein simpler Prozess der exakten Abbildung sensorischer Anreize auf ein internes Modell der Welt mehr ist, sondern eine Koordination, die sich in einer holis‐ tischen Gestalt ereignet. Linguistische Konzepte sind nach dieser Hypothese dann keine abstrakten semantischen Einträge mehr, sondern sensomotorisch kodiert. Basierend auf dieser Auffassung argumentierten Lakoff & Johnson (1980a) in ihrem Werk Metaphors We Live By, dass das menschliche Denksystem 2.3 Dimension 2: Embodiment und Konzeptuelle Metapherntheorie 31 <?page no="32"?> grundsätzlich verkörpert und das Sprachsystem metaphorisch sei. Eine noch klarere Darstellung über Embodiment findet man auch in Lakoff & Johnson’s Werk Philosophy in the Flesh (1999: 4): […] it is the striking claim that the very structure of reason itself comes from the details of our embodiment. The same neural and cognitive mechanisms that allow us to perceive and move around also create our conceptual systems and modes of reason. Thus, to understand reason we must understand the details of our visual system, our motor system, and the general mechanisms of neural binding. In summary, reason is not, in any way, a transcendent feature of the universe or of disembodied mind. Instead, it is shaped crucially by the peculiarities of our human bodies, by the remarkable details of the neural structure of our brains, and the specifics of our everyday functioning in the world. (Lakoff & Johnson 1999: 4) Diese Embodiment-Hypothese wird später durch einige psychologische und neurolinguistische Untersuchungen teilweise bestätigt (mehr Studien siehe Fincher-Kiefer 2019; Gibbs 2017; Glenberg 2010, 2015). Zhong & Lijenquist (2006) wiesen in drei Experimenten nach, dass eine psy‐ chologische Verbindung zwischen körperlicher Sauberkeit und moralischer Reinheit besteht. Sie argumentierten, dass mentale Konzepte aktiviert wurden, die sich auf Aufräumen beziehen, wenn eine Aktion die eigene moralische Reinheit in Gefahr brächte. So wurde in den drei Experimenten beispielsweise belegt, dass Personen zu antiseptischen Tüchern griffen, wenn eine unmora‐ lisch konzeptuelle Vorstellung im Gehirn aktiviert wurde. In einem anderen Experiment wurden die Probanden in ein Versuchszimmer eingeladen, wo ihnen mitgeteilt wurde, dass sie an einer Studie zur Handschrift teilnahmen. Daher mussten sie eine Geschichte abschreiben. Die Probanden wurden in zwei Gruppen eingeteilt: die eine Gruppe erhielt eine „moralische“ Geschichte, in der eine hilfsbereite und ethisch gute Tat dokumentiert wurde (etwa wie „einem Mitarbeiter helfen“); die andere Gruppe erhielt eine vergleichsweise „unmoralische“ Geschichte, in der eine böse Tat wie Sabotage dargelegt wurde. Nach der Abgabe der Abschreibaufgabe bestand die Möglichkeit für alle Teilnehmer, ein kleines Geschenk als Dankeschön auszuwählen. Es gab insgesamt zwei Optionen: man konnte entweder einen Bleistift oder ein Reini‐ gungstuch nach Hause bringen. Die Probanden, die während des Experiments eine unmoralische Geschichte abschrieben, entschieden sich vorwiegend für ein Reinigungstuch. Daher wurde die These bestätigt, dass eine enge Verbin‐ dung zwischen körperlicher Sauberkeit und moralischer Reinheit besteht. In einer Studie von Williams & Bargh (2008) wurde wiederum bestätigt, dass die physische Wärme oder Kälte die Evaluation zwischenmenschlicher 32 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="33"?> Beziehungen maßgeblich beeinflussen konnte und dieser Einfluss in der Regel nicht bewusst berücksichtigt wurde. Eine metaphorische Redewendung wie „give somebody an icy stare“ (jemandem einen eiskalten Blick zuwerfen) bringt soziale Exklusion durch die Verwendung physisch kalter Konzepte zum Ausdruck. In einer weiteren interessanten Experimentreihe konnte auf‐ gezeigt werden, dass soziale Exklusion tatsächlich ein kaltes Gefühl vermittelt (Zhong & Leonardelli 2008). Wilson & Gibbs (2007) bewiesen durch zwei weitere Experimente, dass die reale und vorgestellte Körperbewegung, die sich auf einen metaphorischen Sprachgebrauch beziehen, das unmittelbare Verständnis solcher Phraseologismen fördern konnten. Eine andere mehrfach zitierte Studie von Borodistky & Ramscar (2002) gab eindeutig Auskunft über den körperlichen Einfluss auf die Verarbeitung der Metaphern. Die an einer Kasse in einem Campus-Café an der Universität Standford anstehenden Studierenden bekamen zuerst den nachstehenden Satz zu lesen: „Next Wed‐ nesday’s meeting has been moven forward two days“ (Das Meeting am kom‐ menden Mittwoch wurde um zwei Tage verschoben). Dann wurden sie gefragt, wann das Meeting stattfindet. Die Kunden, die im hinteren Teil der Schlange standen, antworteten eher mit „Freitag“, während die im vorderen Teil der Schlange Stehenden den nächsten „Montag“ als neuen Termin festlegten. Pulvermüller (2005) zeigt durch eine Untersuchung enge Verbindungen zwischen der Wortbedeutung und der entsprechenden Gehirnaktivität. In seiner Untersuchung wählt er drei englische Verben aus: „kick“ (treten), „pick“ (auf‐ heben) und „lick“ (lecken), die sich auf unterschiedliche Handlungen beziehen, die jeweils mit spezifischen Körperteilen durchgeführt (z. B. Beine, Hände und Zunge) werden können. Die Untersuchung zeigt, dass die Sprachverarbeitung nicht auf die übliche Sprachregion im Gehirn eingeschränkt wird. Vielmehr werden sämtliche Gehirnaktivitäten auch in den Arealen erfasst, die eigentlich für andere körperliche Prozesse zuständig sind. Das heißt, die semantischen Signale aktivieren dieselben Regionen im Gehirn, die auch bei der Durchführung der Handlungen aktiv sind. Moseley et al. (2012) stellten die Hypothese auf, dass eine durch emotionale Wörter hervorgerufene Aktivität auch in dem entsprechenden Motorcortex, der die Bewegungen von Gesicht und Armen reguliert und zugleich für den Ausdruck der Emotionen zuständig ist, messbar ist. Die Auswertung wies darauf hin, dass emotionale Wörter Gehirnaktivitäten im Motorcortex aktivierten. Eine parallele Aktivierung derselben Gehirnregion konnte auch in den Verarbeitungsprozessen der Aktionsverben beobachtet werden, die sich auf Gesicht und Arme beziehen. Ein weiterer Beleg dafür ist die von Bergen (2012) aufgestellte „verkörperte Simulation“ (embodied simulation). Verkörperte Simulation bedeutet, dass man die zu vermittelnde Bedeutung ver‐ 2.3 Dimension 2: Embodiment und Konzeptuelle Metapherntheorie 33 <?page no="34"?> stehen kann, indem man mental die Erfahrung nachahmt, die durch sprachliche Symbole zum Ausdruck gebracht wird. Die oben aufgeführten Studien aus der Verhaltenspsychologie und Neuro‐ physiologie zeigen eingängig, dass sich die Ideen eines linguistischen Ausdrucks auf sensomotorische Prozesse zurückführen lassen. Jedoch kamen solche Stu‐ dien meistens im Kontext des Erstspracherwerbs zustande. Kühne & Gianelli (2019) beschäftigten sich mit der Frage, ob Embodiment auch im bilingualen Sprachverarbeitungsprozess eine Rolle spielt. Jedoch räumten die Autoren selbst im Fazit ein, dass es ziemlich schwer und komplex ist, Sprachverarbeitung von L1 und L2 anhand eines Embodiment-Ansatzes zu erklären: […] On the one hand, L2 poses a challenge to strong views of embodied cognition: if linguistic concepts are deeply rooted in sensorimotor processes, then this should be true regardless of the use of L1 or L2. On the other hand, the same assumption of a strong link between sensorimotor experience and linguistic concepts, would predict differences between L1 and L2 grounding based on their age of acquisition (Kühne & Gianelli 2019: 6) Die neurologischen Studien über Metaphern scheinen ihrer Auslegung nach herauszufinden, dass die Repräsentationen aus einem metaphorischen Quellen‐ bereich in multimodalen oder nicht modalen Regionen im Gehirn verarbeitet sowie durchgesetzt wurden. Dieser Interpretationsversuch ist aber insofern problematisch, als dass eine „embodied“-Kognition eine gleichdeckende mo‐ dalspezifische Repräsentation im Gehirnareal voraussetzt. Wenn die Untersu‐ chungsergebnisse diese Voraussetzung nicht erfüllen, finden die beiden Autoren eine solche Studie nicht angebracht im Hinblick auf einen „embodied“-Ansatz. Anders betrachtet ist eine modalspezifische Repräsentation auch im Alltags‐ leben nicht möglich. In der Interaktion mit der Außenwelt werden viele Wahr‐ nehmungsorgane gleichzeitig eingesetzt. Zudem liegen noch einige Beweise für multimodale Simulation aus dem Fachbereich der Verhaltenspsychologie vor (vgl. Winter & Bergen 2012). 2.3.2 Konzeptuelle Metapherntheorie Die Konzeptuelle Metapherntheorie, die sich durch die Veröffentlichung des bahnbrechenden Werks Metaphors We Live By (1980a) von George Lakoff und Mark Johnson etabliert hat, stützt sich auf die Embodiment-Hypothese. Nach ihrer Ansicht ist unser Denksystem grundsätzlich metaphorisch. Die Existenz der Metaphern wird daher nicht speziell in der schönen Literatur und Dichtung aufgebaut. Metaphern sind omnipräsent im Alltagsleben, in Gedanken und 34 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="35"?> auch in Handlungen (vgl. Lakoff & Johnson 1980b: 454). Die Metapher ist ihrer Meinung nach primär „eine Sache des Denkens und Handelns und erst sekundär eine sprachliche Angelegenheit“ (Lakoff & Johnson 2008: 177). Die Metapher wird als eine selektive Projektion aus einem Ursprungsbereich aufgefasst, die menschliche konkrete Alltagsszenarien in einem konzeptuell abstrakten Zielbereich umfasst. Dass man durch Metaphern eine Sache oder einen Vorgang mithilfe einer anderen Sache oder eines anderen Vorgangs versteht oder erfährt, ist das Kernmerkmal der Metaphern. Zum Beispiel spielt die Theater-Metapher im politischen Diskurs eine wichtige Rolle. Die nachstehende Tabelle veran‐ schaulicht die metaphorische Projektion der Theater-Metapher im politischen Diskurs und zeigt einige konkreten Beispiele. Natürlich können die Aspekte der metaphorischen Projektion zwischen den beiden Bereichen unendlich sein. Hier werden nur die wesentlichen Aspekte aufgezeigt: Ursprungsbereich Zielbereich • Ein Theater wird von unterschiedli‐ chen Rollen aufgeführt. • Für die Aufführung des Theaters wird eine Bühne gebraucht. • Die Bühne für die Aufführung kann auch ein Platz sein. • Es gibt gute/ schlechte Schauspieler, die das Theater zu einem Erfolg/ Miss‐ erfolg machen. • Theater mit einem unglücklichen Ende ist Tragödie. • Eine politische Entscheidung wird von unterschiedlichen politischen Ak‐ teuren getroffen. • Fürs Treffen der politischen Entschei‐ dung wird z. B. eine Konferenz oder ein Gipfeltreffen gebraucht. • Die Bühne fürs Treffen der politischen Entscheidung kann auch eine politi‐ sche Institution sein. • Es gibt gute/ schlechte Politiker, die die gute/ schlechte politische Entschei‐ dung treffen. • Politische Entscheidung mit einer unglücklichen gesellschaftlichen Aus‐ wirkung ist Katastrophe. Tab 4: Die metaphorischen Projektionen der Theater-Metapher im politischen Diskurs Für die linguistische Metapherntheorie nach Lakoff & Johnson zählt der 1979 veröffentliche Aufsatz „The Conduit Metaphor: A Case of Frame Conflict in Our Language about Language“ von Michael Reddy zu einem der eigentlichen Ausgangspunkte neben der kognitiven Wende in der Linguistik. Ausführlichen Beobachtungen zufolge stellte er mit mehr als tausend authentischen Beispielen fest, dass die menschliche Sprache über die Sprache selbst durch folgende komplexe Metaphern konstruiert wird: 2.3 Dimension 2: Embodiment und Konzeptuelle Metapherntheorie 35 <?page no="36"?> (i) ideas (or meanings) are objects; (ii) linguistic expressions are containers; (iii) communication is sending - the speaker puts ideas (objects) into words (containers) and sends them (along a conduit) to a hearer who takes the idea-objects out of the word-containers. (Lakoff & Johnson 1980b: 459) Allerdings wurden die kontextfreien Auslegungen für einen metaphorischen Sprachgebrauch bei Lakoff und Johnson kategorisch abgelehnt. Diese soge‐ nannte Röhrenmetapher kann beispielsweise die konkreten linguistischen Fälle nicht gut erklären, die einen Kontext zur Auslegung verlangen. Das ursprüngliche Ziel dieser Metapherntheorie besteht darin, die perspektivischen Kategorisierungsprozesse der Menschen in einer metaphorischen Projektion zu entlarven, die die richtungssowie handlungsweisende Macht der Metaphern in einer Argumentation hervorhebt. Aufgrund der Selektivität, oder anders gesagt, der Perspektivität der metaphorischen Projektion wird nur ein bestimmter Aspekt, zum Zweck der pragmatischen Handlung, hervorgehoben und in einer begrenzten sprachlichen Linearität werden andere Aspekte währenddessen heruntergefahren. Diese linguistische Eigenschaft, die man mit sprachlichen Mitteln nur begrenzt perspektivisch ausdrücken kann und pragmatisch gezielt so will, wurde im Kategorisierungsprozess detailliert beobachtet. So ist auch klar geworden, dass Metaphern in sich und auch in Kombination mit anderen Me‐ taphern durch ein kohärentes System zusammengeschweißt werden. Das heißt, innerhalb eines Projektionsbereichs sind zahlreiche Metaphern als potenzielle Bausteine einer systematischen Konstruktion der Metapher vorhanden. Zum Beispiel bilden die Reisemetapher, die Türmetapher und die Gesundheitsmeta‐ pher ein interaktives Netzwerk im nachstehenden chinesischen Leitartikel: 高考是人生晋级的里程碑, 也是分水岭,决定着千千万万学子的人生道路 (Die chinesi‐ sche Hochschulaufnahmeprüfung ist ein Meilenstein des Lebens und ein Wendepunkt, der den Lebensweg tausender Studierender bestimmt. Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 25/ 2017: 人生实苦,但请你足够相信 ! ) Die chinesische Hochschulaufnahmeprüfung wird in diesem Artikel als Mei‐ lenstein bzw. Wendepunkt auf der Reise der Studierenden metaphorisiert, die die weiterführenden Lebenswege bestimmt. Der Autor geht zuerst von zwei Fällen der diesjährigen Prüfungsteilnehmenden aus. Der eine Fall bezieht sich auf das bekannt gewordene Interview von einem Schüler aus Beijing, der den ersten Platz in der Hochschulaufnahmeprüfung für Geisteswissenschaften in Beijing belegte. Der Schüler meint im Interview, dass in Großstädten wie Beijing mehr Bildungsressourcen zur Verfügung stehen. Die Schüler aus Kleinstädten können hingegen weniger Bildungsressourcen benutzen und sind dementspre‐ chend benachteiligt im Konkurrenzkampf der Hochschulaufnahmeprüfung, 36 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="37"?> eine bessere Hochschulbildungschance zu gewinnen. Es bestimmen die Orte bzw. der Familienhintergrund den Zugang zur Hochschulbildung sowie den wei‐ terführenden Lebensweg. Der andere Fall betrifft einen Prüfungsteilnehmer mit beschränkter Mobilität. Er ist aufgrund der ausgezeichneten Gesamtpunktzahl von der Tsinghua University aufgenommen worden. Wegen seiner körperlichen Einschränkung bittet er die Universität darum, dass seine Mutter ihn während seines Studiums begleiten kann. Die Universität sagt zu und vermietet ihm eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Nach der Einführung der beiden Fälle stellt der Autor die Frage, wie man die Bildungsgleichheit fördern bzw. verbessern kann. Dabei werden drei unterschiedliche Metaphern zum Einsatz gebracht. Die nachstehenden Metaphern zeigen nochmals, dass die Reisemetaphern öfter mit anderen Metaphern zusammen interaktiv und abwechselnd in einem Leitartikel auftreten: 1. Tür-Metapher: 打通寒门子弟阶层晋级的玻璃门, 天花板 (Die Glastüren und Decken für den sozialen Einstieg der Studierenden aus armen Familien öffnen, Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 25/ 2017: 人 生实苦,但请你足够相信 ! ) 2. Gesundheitsmetapher: 我们必需正视教育不公平对整个社会公平造成的 损伤 (Wir müssen die Verletzung ernst nehmen, die durch ungleiche Bil‐ dungschance für die gesamte Gesellschaft verursacht wird, Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 25/ 2017: 人生实苦,但请你足够相 信 ! ) 3. Reisemetapher: 可以说,社会固化是从教育不平等开始的。教育的不 平等是起点的不平等,之后会导致一系列不平等,比如因为不能上 985、 211,就不能进好单位,没有好单位就留不在大城市…..总之,由于这个起点 不同,同学境遇不同,人生的分叉就越分越大了 (Man kann sagen, dass die soziale Klassenverfestigung mit der Bildungsungleichheit beginnt. Die Bildungsungleichheit ist gekennzeichnet durch den ungleichen Ausgangs‐ punkt, der zu einer Reihe von Benachteiligungen führen wird. Zum Beispiel kann man keine besserbezahlten Stellen erreichen, wenn man nicht an einer der Elite-Universitäten wie 985- und 211-Universitäten studieren darf. Ohne gut bezahlte Stelle kann man dann nicht in den Großstädten bleiben … Alles in allem unterscheidet sich der Lebensweg stark, wenn der Ausgangspunkt und die Studienumgebung verschieden sind. Hervor‐ hebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 25/ 2017: 人生实苦,但请你 足够相信 ! ) Auf der metaphorischen Bildungsreise gibt es verschiedene Stationen, die durch unterschiedliche Türen abgeriegelt werden. Die Bildungschancengleichheit ist 2.3 Dimension 2: Embodiment und Konzeptuelle Metapherntheorie 37 <?page no="38"?> quasi der Schlüssel, um die Glastüren für die Reisenden aus bildungsfernen bzw. sozioökonomisch schlechter gestellten Familien auf dieser Reise zu öffnen. Ohne diese Gleichheit wäre die Gesamtgesellschaft leicht zu verletzen, was in der Gesundheitsmetapher zu beobachten ist. Die Weg-Metaphern bekräf‐ tigen dann diesen Reise-Deutungsrahmen. Um eine gesunde Bildungsreise in der Gesellschaft zu gewährleisten, müssen dem Autor zufolge die gleichen Ausgangsrahmenbedingungen geschaffen werden. In diesem Beispiel sieht man auch, dass andere Metaphern durchaus zu dem Deutungsframe und der Argumentation der zentralen Metaphern unterschiedlich beisteuern können. Das Beispiel zeigt, dass ein meinungsbildender Artikel in der Regel verschiedene Kategorien von Metaphern in der Argumentation benutzt und die verwendeten Metaphern sich in einem logisch kohärenten Netzwerk befinden. Zur Analyse der Metaphern und der metaphorischen Konstruktionen soll das gesamte metaphorische Netzwerk berücksichtigt werden und die Einzelmetapher soll zugleich immer in diesem gesamten Kontext des interaktiven metaphorischen Netzwerks betrachtet werden. Nicht zuletzt werden zwei zentrale Kritikpunkte an der Konzeptuellen Meta‐ pherntheorie kurz besprochen und nach der Besprechung jedes Kritikpunkts wird zugleich versucht, einige Reaktionen auf die dargestellte theoriekritische Frage aus dem kognitiv linguistischen Lager darzulegen: 1. Die Tatsache, dass eine Metapher höchstwahrscheinlich kultursowie sprachspezifisch sein könnte, wurde in der Konzeptuellen Metaphernthe‐ orie implizit erwähnt. Jedoch behaupteten einige der linguistischen An‐ thropologen (vgl. Gibbs 2017: 3), dass die Konzeptuelle Metapherntheorie die bildende Kraft der Kultur bei der Entstehung und Formierung einer konkreten Metapher außer Acht ließ. Oder anders formuliert, die von der Konzeptuellen Metapherntheorie preisgegebene allgegenwärtige Lösung zu der Frage, ob die Konzeptuelle Metapherntheorie den universalen und kulturspezifischen Aspekt der metaphorischen Konzeptualisierungen unter einen gemeinsamen Nenner bringen kann, scheint vielen nicht ganz überzeugend zu sein. Rakova (2002) kritisierte den Versuch, dass man an‐ hand der Konzeptuellen Metapherntheorie, die eigentlich als Erklärung der metaphorischen Universalien dient, hingegen die kulturellen Variationen erklärt. Von dieser Kritik lässt sich aber nicht so leicht abweichen. Kövecses (vgl. 2008: 182) versuchte dieses Paradox mit einer Synthese zu lösen. Er schlug vor, dass man den metaphorischen Prozess als einen Prozess betrachte, in dem ein denkendes Subjekt gleichzeitig dem universal körper‐ lichen Embodiment und dem subjekt-nahen lokalen Kontext (z. B. sozial, geographisch, diskursiv) ausgesetzt worden sei. Auch die weiterführenden 38 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="39"?> einzelsprachspezifischen (z. B. Chinesisch, Ungarisch, Deutsch, Japanisch) sowie sprachmodalspezifischen (z. B. Gebärdensprache) Studien (vgl. Kö‐ vecses 2005; Taub 2001; Yu 2008) dienen vor allem dazu, die universale Seite der konzeptuellen Metapherntheorie auf eine Einzelsprache oder eine Sprachmodalität zu übertragen und zugleich die sprachspezifische sowie sprachmodalspezifische Seite ergänzend hervorzuheben. 2. Auch die Identifikation sowie die Festlegung einer Metapher oder eines metaphorischen Ausdrucks ist nicht leicht, weil die zu ermittelnde seman‐ tische Bedeutung von Kontext zu Kontext variiert und die metaphorischen Bedeutungen daher entsprechend fließend sind. Dies ist die Sicht aus der Perspektive der Produzenten. Natürlich kann eine vom Produzenten ausgedachte Metapher gar nicht metaphorisch ausgelegt werden, weil die Wissensstruktur der Vorkenntnisse zwischen dem Produzenten und dem Rezipienten nicht immer symmetrisch vergleichbar ist. Alles in allem: Eine Metapher kann durchaus in einem anderen Kontext als nicht metaphorisch formuliert und gedeutet werden. Besonders bei den vielen sogenannten „toten“ Metaphern wie „Ich bin überglücklich“, die einen hohen lexikali‐ schen Konventionsgrad aufweisen, empfindet man die darin versteckte Metapher „OBEN IST GUT“ nicht als metaphorisch. Viele Kritiker gingen daher davon aus, dass die Anhänger der Konzeptuellen Metapherntheorie in allererster Linie daran scheiterten, eine saubere Demarkationslinie zwischen literarischer und metaphorischer Bedeutung festzulegen (vgl. Glucksberg 2001; Pinker 2007). Ritchie (2003: 138) bemerkte dies ganz klar: „How any particular speaker intends a metaphor to be interpreted, and how any particular hearer does interpret the metaphor, can never be absolutely determined“. Diese Kritik an der kontextfreien Betrachtung der Konzep‐ tuellen Metapherntheorie gilt als ein sehr wichtiger Anschlusspunkt der Weiterentwicklung - zu einer korpusbasierten und kontextabhängigen Metaphernanalyse (vgl. Stefanowitsch & Gries 2006). Die erste Kritik deutet auf eine sprachbzw. kulturvergleichende Studie der Metaphern hin, während die zweite Kritik an der Konzeptuellen Metaphern‐ theorie in eine kontextuelle Analyse der Metaphern im Korpus hinweist. Die vorliegende Arbeit versucht ebenfalls, eine sprachvergleichende, kontextuelle und korpusbasierte Untersuchung der Metaphern durchzuführen, was die zentralen Kritikpunkte zu vermeiden ermöglicht. 2.3 Dimension 2: Embodiment und Konzeptuelle Metapherntheorie 39 <?page no="40"?> Dimension 2: Konzeptuelle Metapherntheorie • Die Interaktion zwischen Sprache und sensomotorischen Wahrnehmungen bildet einen fundamentalen Anstoß für die konzeptuelle Metapherntheorie. • Nach der Konzeptuellen Metapherntheorie ist Metapher allgegenwärtig und betrifft unser Denken und Handeln. • Metapher kann als eine selektive Projektion zwischen dem Ursprungsbereich und dem Zielbereich aufgefasst werden, die immer in einem argumentativen Kontext zweckgebunden verwendet wird. Diese Sichtweise forderte die propositionale semantische Tradition im Sinne von Aristoteles heraus (die Metapherntheorie der Analogie, vgl. Kap. 2.1.1) und die beiden Autoren „eröffnen insbesondere nicht-propositionale Dimension[en] der Wortbedeutung“ (Müller 2012: 47). • In einem Text werden in der Regel unterschiedliche Metaphern verwendet und solche Metaphern bilden zusammen ein interaktives Netzwerk. Eine Metaphern‐ analyse soll dieses Netzwerk mitberücksichtigen. • Die zentralen zwei Kritikpunkte an der Konzeptuellen Metapherntheorie fordern eine sprachvergleichende und korpusbasierte Untersuchung zur Metaphernana‐ lyse in einem bestimmten Verwendungskontext. Tab 5: Dimension 2 - Konzeptuelle Metapherntheorie 2.4 Dimension 3: Identifikation der Metaphern und der metaphorischen Konstruktionen Einer der anderen zentralen Kritikpunkte zielt auf das methodische Verfahren ab. Die Kritiker argumentieren, dass die Konzeptuelle Metapherntheorie durch subjektive Intuitionen und fehlende Systematik aufgebaut wurde. Die Argu‐ mentation bezieht sich in der Regel auf Stellen wie den Abruf des individuellen mentalen Lexikons oder die unsystematische Nennung von Beispielen aus den Nachschlagwörterbüchern. Wirft man lediglich einen Blick auf das Standard‐ werk der beiden Initiatoren des konzeptuellen metaphorischen Konzepts, ist diese Kritik durchaus nachvollziehbar und legitim. In dem Werk von 1980 wurden einige Metaphern (z. B. ARGUMENTIEREN IST KRIEG, LIEBE IST EINE REISE und THEORIE IST GEBÄUDE ) zugunsten der Argumentations‐ entfaltung genannt, dabei wurde jedoch der methodische Aspekt vernachlässigt. Ausgehend von dieser Kritik entwickelte die Pragglejaz-Gruppe (2007) eine zuverlässige Methode zur Identifikation der metaphorischen Ausdrücke in einem Text. Diese Methode ist die sogenannte MIP (Metaphor Identification Procedure)-Methode. Das ausführliche Verfahren dieser metaphorischen Iden‐ tifikation wird wie folgt dargestellt: 40 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="41"?> 1. Read the entire text-discourse to establish a general understanding of the meaning. 2. Determine the lexical units in the text-discourse 3. (a) For each lexical unit in the text, establish its meaning in context, that is, how it applies to an entity, relation, or attribute in the situation evoked by the text (contextual meaning). Take into account what comes before and after the lexical unit. (b) For each lexical unit, determine if it has a more basic contemporary meaning in other contexts than the one in the given context. For our purposes, basic meanings tend to be — More concrete; what they evoke is easier to imagine, see, hear, feel, smell, and taste. — Related to bodily action. — More precise (as opposed to vague) — Historically older. Basic meanings are not necessarily the most frequent meanings of the lexical unit. (c) If the lexical unit has a more basic current-contemporary meaning in other contexts than the given context, decide whether the contextual meaning contrasts with the basic meaning but can be understood in comparison with it. 4. If yes, mark the lexical unit as metaphorical. (Pragglejaz-Group 2007: 3) Um das Verfahren der metaphorischen Identifikation zu verdeutlichen, wird dies im Folgenden anhand eines konkreten Beispiels aus der vorliegenden Untersuchung geklärt: So ist der mächtigste Mann der Welt noch nie vorgeführt worden: Das Weiße Haus wurde zum Nebenkriegsschauplatz degradiert, die große Bühne übernahm ein Gast, den der Präsident nicht eingeladen hatte. Und dieser Benjamin Netanyahu hielt vor dem Kongress eine Brandrede gegen Barack Obamas Iran-Pläne. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel, 11/ 2015: Illusionslos verhandeln. Präsident Obama strebt zu Recht ein Abkommen mit Iran an - auch gegen Israels Provokation) Das obige Zitat ist der erste Abschnitt des Leitartikels (veröffentlich am 6. März 2015). Es geht in dem gesamten Leitartikel um das neue Abkommen in Bezug auf das iranische Atomprogramm und die heikle Verhandlungssituation. Der Hintergrund dieses Artikels ist, dass der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu ohne Zustimmung des Weißen Hauses am 3. März 2015 eine Rede vor dem US-Kongress gehalten hat und er somit die Regeln in der diplomatischen Praxis zwischen den beiden Staaten gebrochen hat. So wurde die bilaterale Beziehung zwischen ihm und dem US-Präsidenten Barack Obama bzw. zwischen den beiden Staaten verschlechtert. Die Kernproblematik dieser Frage steht ebenfalls in direktem Zusammenhang mit den Aushandlungen über das irani‐ sche Atomprogramm. Der erste Abschnitt dieses Leitartikels besteht aus drei 2.4 Dimension 3: Identifikation der Metaphern und der metaphorischen Konstruktionen 41 <?page no="42"?> vollständigen Sätzen und jeder Satz wird im Folgenden in kleine Konstruktionen zerlegt: Satz 1): So ist / der mächtigste Mann der Welt/ noch nie/ vorgeführt worden. Dieser Satz ist in einer Zustand-Passivkonstruktion eingebettet. Die Nominal‐ phrase der mächtigste Mann der Welt stellt der Zustandsträger dieser Konstruk‐ tion dar. Die Nominalkonstruktion soll man nicht in ihrer wörtlichen Bedeutung interpretieren. Der Superlativ bezieht sich nicht auf den mächtigsten bzw. einen körperlich besonders starken Mann auf der realen Welt, der in der Regel in der Narration eines Märchens häufig vorkommt und die Aufgabe der Weltrettung übernimmt. In diesem Kontext ist die Nominalkonstruktion eine Metonymie für den US-Präsidenten Barack Obama. Satz 2): Das Weiße Haus/ wurde/ zum Nebenkriegsschauplatz/ degradiert, die große Bühne/ übernahm/ ein Gast, den/ der Präsident/ nicht eingeladen hatte. Der zweite Satz aus dem zitierten Abschnitt besteht aus zwei Hauptsätzen und einem Nebensatz. Der erste Hauptsatz wird durch eine passive Konstruktion des Vorgangs wiedergegeben. Der Vorgangsträger, nämlich das Weiße Haus, verstößt auf den ersten Blick offensichtlich gegen die Regel der Großschreibung. Die Konstruktion für die weiße Farbe als ein Modifikationsadjektiv (weiß) darf nicht großgeschrieben. Der Großbuchstabe von der weißen Farbe deutet auf eine besondere Verwendungssituation dieses Farbwortes hin. Das Weiße Haus nimmt hierbei dann keinen Bezug auf ein bereits erwähntes Wohnhaus, das in weißer Farbe dekoriert wird. Hier geht es um den Amts- und offiziellen Regierungssitz des Präsidenten der Vereinigten Staaten. In diesem Kontext referiert diese Nominalkonstruktion einerseits metonymisch auf die USA-Re‐ gierung und anderseits den konkreten Ort, wo sich das Weiße Haus befindet. Die Vorgangspassiv-Konstruktion „wurde degradiert“ bedeutet ursprünglich, dass jemand beruflich erniedrigt wird oder jemand aus dem Militär in einen niedrigen Dienstrang versetzt wird. Jedoch wird die Stelle des Vorgangsträgers, also das Subjekt in dieser Passiv-Konstruktion, nicht von einer konkreten Person besetzt, sondern von einer politischen Institution, die symbolhaft für die USA-Regierung steht. Die Substantivkonstruktion „Nebenkriegsschauplatz“ stammt ebenfalls aus dem militärischen Bereich. In diesem Kontext geht es offenbar nicht um die wörtliche militärische Bedeutung. Der gesamte Hauptsatz ist in einer militärischen Metapher eingebettet, wo die USA-Regierung als ein Soldat in der Truppe personifiziert wird und dessen Einfluss abnimmt. Auch die Verbkonstruktion „degradiert“ impliziert eine UNTEN-Metapher (NIEDERIGER RANG IST UNTEN). 42 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="43"?> Der Handlungsgegenstand, also die Akkusativkonstruktion, die große Bühne wird vor dem Verb der Handlung (übernehmen) gestellt. Die Substantivkon‐ struktion Bühne bezieht sich nicht auf eine physische Fläche in einem Theater, auf der die Schauspieler Theater aufführen. Hier wird mit dem unerwarteten politischen Auftreten des israelische Premierministers Benjamin Netanyahu vor dem US-Kongress gemeint. So wird eine Theatermetapher ( POLITIKER IST SCHAUSPIELER AUF DER POLITISCHEN BÜHNE ) bzw. ein Theater-Deu‐ tungsrahmen hervorgerufen. Zudem beschränkt die Substantivkonstruktion Bühne die Verbauswahl der Handlung, weil die ausgewählte Verbkonstruktion kohärent mit dem Theater-Frame sein muss. Normalerweise kann ein Gast bzw. ein Besucher nicht die Bühne eines Theaters übernehmen, weil dies von den Schauspielern kontrolliert wird. Die semantische Besetzung der Subjekt-Stelle durch die Konstruktion „ein Gast“ ist in logischem und framesemantischem Sinn nicht erwartet. Dies führt dazu, dass eventuell mehr Informationen zu diesem Gast geliefert werden müssen. So wird hinter dem zweiten Hauptsatz ein Relativsatz eingebaut. Der Relativsatz bezieht sich auf einen Besuch-Deutungsrahmen (Gast, Ein‐ ladung, Gastgeber), wobei der US-Präsident die Rolle des Gastgebers und die anderen die Rolle der Gastnehmer einnehmen. So werden die Konstruktionen wie Gast oder eingeladen nicht in klassischem Sinne von Freundebesuch ge‐ braucht. Hier wird eine Freundschaftsmetapher zwischen den USA und den anderen Staaten zum Ausdruck gebracht. Satz 3): Und/ dieser Benjamin Netanyahu/ hielt/ vor dem Kongress/ eine Brand‐ rede/ gegen Barack Obamas Iran-Pläne. Redehalten ist die Handlung des dritten Satzes. Jedoch kann eine Rede an sich nicht brennen. In der Konstruktion Brandrede schlägt sich eine Brandmetapher nieder (BRAND IST KRITISCHE ODER SCHARFE MEINUNG). Nach der ausführlichen Analyse der drei Sätze ist ersichtlich, dass die Metaphern und die metaphorischen Konstruktionen immer einen spezifischen Verwendungsrahmen bzw. Deutungsrahmen verlangen. Die nicht metapho‐ rische Verwendung tritt immer in einem frame-übergreifenden Kontext auf. Dies bildet auch ein wichtiges Kriterium für die Unterscheidung der Semantik und der Pragmatik einer Konstruktion. Auf diesen Punkt wird in Kapitel 4.2.1 noch ausführlicher eingegangen, wo ich besonders auf der Ebene der Pragmatik für die idiomatische Analyse das Konzept des Verwendungss‐ zenarios einführe. 2.4 Dimension 3: Identifikation der Metaphern und der metaphorischen Konstruktionen 43 <?page no="44"?> Dimension 3: Identifikation der Metaphern und der metaphorischen Kon‐ struktionen • Schritt 1: den gesamten Text bzw. Kontext dieses Abschnitts lesen, um die Gesamt‐ bedeutung zu erschließen • Schritt 2: den analysierten Abschnitt in die kleinen semantischen Konstruktionen zerlegen • Schritt 3: Analyse der zerlegten semantischen Konstruktionen und deren Be‐ deutungen im Vergleich zu deren grundlegenden Basisbedeutungen genauer betrachten, ob sie sich an der nicht-kontextuellen bzw. frameübergreifenden Grundbedeutung dieser Konstruktion oder mehr an der kontextuellen und frame‐ spezifischen Bedeutung orientieren • Schritt 4: die von den Grundbedeutungen abweichenden Konstruktionen, deren Bedeutungen zusätzliche Kontextinformationen bzw. Deutungsframes verlangen, enthalten Metaphern und solche Konstruktionen sind metaphorische Konstruk‐ tionen Tab. 6: Dimension 3 - Identifikation der Metaphern und der metaphorischen Konstruk‐ tionen 2.5 Dimension 4: Erweiterte Konzeptuelle Metapherntheorie Durch die Veröffentlichung der Monographie „Extended Conceptual Metaphor Theory“ stellt Kövecses (2020), einer der wichtigen Metaphernforscher inner‐ halb der kognitiv-linguistischen Gemeinschaft, seine neuen Verständnisse zur Metaphorik vor. Insbesondere fordert er in seinem neuen Buch drei theoretische Änderungen bezüglich der jetzt weit verbreiteten und dominanten Konzeptu‐ ellen Metapherntheorie (Conceptual Metaphor Theory, also CMT) nach Lakoff & Johnson (1980a, 1980b und 1999) und versucht damit die Dimensionen der CMT auszubauen und der Problemstellung der CMT Rechnung zu tragen. Zusammenfassend wird die traditionelle CMT in drei Hinsichten modifiziert: Erstens wird die kognitive Dimension der CMT verfeinert, indem die konzep‐ tuelle Metapher als eine Größe, die aus vier Ebenen besteht („Image schema structures“, „Domain structures“, „Frame structures“ und „Mental space struc‐ tures“), definiert wird. Zweitens werden die kontextuellen Faktoren, die er eigentlich woanders (vgl. Kövecses 2010, 2017) schon ausführlich behandelt hat, nochmals bekräftigt und systematisiert. Dies führt dazu, dass man einerseits den Online-Metapherngebrauch kontextuell besser auslegt und anderseits dadurch die kreative Rolle des kontextuellen Einflusses wieder erkennt. Drittens werden dem metaphorischen konzeptuellen Inhalt sozio-pragmatische Funktionen hin‐ zugefügt. 44 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="45"?> Der Kontext muss seiner Meinung nach als eine noch elaboriertere Kompo‐ nente in der Auslegung der metaphorischen Bedeutungen betrachtet werden als bisher. Man kann die erste von ihm geforderte Änderung als eine Fortset‐ zung seiner Theorie (Kövecses 2017) ansehen. Nach Kövecses (2017) entsteht metaphorische Bedeutung nicht einfach aus konzeptuellen Metaphern, ihren metaphorischen Projektionen sowie ihren potenziellen „entailments“ (Kövecses 2017: 14). Ein besonderer Blick muss auf die kontextuelle Rolle geworfen werden, wenn man eine metaphorische Bedeutungskonstruktion verstehen möchte. Unter dem Begriff Kontext werden anschließend die folgenden Fak‐ toren zusammengeführt (Kövecses 2020): SITUATIONAL CONTEXT DISCOURSE CONTEXT BODILY CONTEXT CONCEPTUAL- COGNITIVE CONTEXT Physical envi‐ ronment Surrounding dis‐ course (co-text) Correlations in ex‐ perience Metaphorical con‐ ceptual system Cultural situa‐ tion Previous discourse Bodily conditions Ideology Social situation Knowledge about speaker, topic, hearer Body specificities Concerns and inte‐ rests - Dominant forms of discourse - History Tab 7: Four context types and their contextual factors (Kövecses 2020: 165) Die Unterscheidung zwischen Online-Metapherngebrauch und Offline-Meta‐ pherngebrauch zählt zu einer noch gewichtigeren Änderung in seiner theo‐ retischen Behauptung. In seiner neuen Hierarchie der Schematizität bildet ein mentaler Raum die letzte schematische konzeptuelle Struktur in einer Hierarchie. Unter der Voraussetzung, dass die Offline-Metaphern sowie die Kontextfaktoren, die in einer bestimmten Kommunikationssituation auftreten, durch die Ebene der mentalen Räume vermittelt werden, ist dann klar, warum und wie spezifische linguistische und konzeptuelle Metaphern im Diskurs gebraucht werden. Die Offline-Metaphern werden musterhaft geprimet. Diesen geprimeten Metaphern können dann durch Kontextualisierung spezifische sozio-pragmatische Funktionen erteilt werden. Dies lässt sich gut in der Deutung der Konstruktion auf einem Titelbild be‐ leuchten. Um das unten gezeigte Titelbild zu deuten, müssen das Offline-Wissen bzw. die Offline-Metapher über die gebrochenen Schriften, also Fraktur, her‐ 2.5 Dimension 4: Erweiterte Konzeptuelle Metapherntheorie 45 <?page no="46"?> vorgerufen werden. Fraktur ist eigentlich die seit dem 16. Jahrhundert vorherr‐ schende Druckschrift innerhalb des deutschsprachigen Raums. Jedoch wird diese Schrift in der Nazi-Zeit überhöht und die große Menge der Nazi-Propa‐ ganda ist auch mit der Fraktur-Schrift gedruckt worden. Von daher wird diese Schrift in der Regel von den meisten Laien mit dem Verbrechen des Deutschen Dritten Reichs in Verbindung gebracht ( FRAKTUR IST IDEOLOGIE DER NAZIS ). Auf dem Titelbild wird der Ortsname Sachsen in der Fraktur-Schrift in brauner Farbe (ebenfalls ein Symbol für Nazis) gedruckt. So ist die Kritik am rechten Aufstieg in Sachsen und der Nazi-Vergleich spürbar. Dieses kleine Bei‐ spiel zeigt, dass die Offline-Metapher bzw. das Offline-Wissen die Interpretation der Online-Metaphern unterstützt. Abb 1: Titelbild „Sachsen. Wenn Rechte nach der Macht greifen“ (Quelle: Der Spiegel, Nr.-36/ 2018) Durch eine umfassende Auseinandersetzung mit den „Embodied“-Metaphern hat Littlemore insbesondere die individuellen Variationen beim metaphorischen Sprachgebrauch systematisch in ihrem neuen Buch „Metaphors in the Mind“ (2019) ins Auge gefasst und fordert damit ein erweitertes Metaphernprogramm. Ihr metaphorisches Konzept zielt darauf ab, die universalen Sichtweisen her‐ auszufordern, nach denen die „Embodied“-Metaphern auf eine ähnliche Art und Weise das menschliche Wahrnehmen sowie Handeln bestimmen. Bereits 46 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="47"?> am Anfang ihrer Monographie nimmt die Autorin die Position ein, dass die „Embodied“-Metaphern aufgrund der individuell physischen, kulturell sozialen sowie emotionalen Unterschiede variieren und die ableitende individuelle Wahrnehmung sowie Interpretation solcher Metaphern auch divers sind (vgl. Littlemore 2019: 3). Ihrer Ansicht nach spielen die folgenden Faktoren eine entscheidende Rolle bei der Wahrnehmung sowie Verarbeitung der Metaphern: Texttyp, Textfunktion, Genre, Register, Alter, Geschlecht, Händigkeit (linkshändig oder rechtshändig bevorzugt), Körperfigur, sensorisches Defizit, sensorischer Über‐ schuss, Synästhesie, Stress, Depression, psychologische Störung (beispielsweise ver‐ ursacht durch Schwangerschaftsverlust, Schizophrenie, Autismus oder Asperger-Syn‐ drom), Personalität, Denkstil, politische Einstellung, Ideologie, Religion, kultursowie sprachübergreifende Diversitäten. Die kurze Einführung der beiden neuen Entwicklungen in Hinblick auf die Konzeptuelle Metapherntheorie weist gemeinsam darauf hin, dass sowohl der Metapherngebrauch als auch die Analyse der Metaphern die kontextuellen Fak‐ toren berücksichtigen. Dies bekräftigt, dass die wissenschaftliche Behandlung der Metaphern die frame-spezifische Verwendungssituation einer Metapher mitberücksichtigen soll. Dimension 4: Erweiterte Konzeptuelle Metapherntheorie • Die Konzeptuelle Metapher als eine holistische Entität besteht aus vier Ebenen: Image-Schema-Strukturen, Domain-Strukturen, Frame-Strukturen sowie Struk‐ turen der mentalen Räume. • Die kontextuellen Faktoren wie situative Kontexte, diskursive Kontexte, körper‐ liche Kontexte und konzeptuell kognitive Kontexte spielen eine gewichtige Rolle in der Analyse der Metapher. • Der metaphorische Sprachgebrauch lässt sich offline und online unterscheiden. Die Offline-Metaphern werden musterhaft geprimet. Dies hilft zum Beispiel bei der Deutung der Begleitkonstruktion auf einem Titelbild. • Die frame-spezifische Verwendungssituation einer Metapher soll in der wissen‐ schaftlichen Behandlung der Metapher berücksichtigt werden. Tab 8: Dimension 4 - Erweiterte Konzeptuelle Metapherntheorie 2.6 Dimension 5: Funktionen der Metaphern Das facettenreiche handlungsbezogene Gestaltungspotenzial ist meines Erachtens die grundlegende Funktion der Metaphern aus einer kognitiv-lingu‐ istischen Perspektive, die sich sowohl positiv als auch negativ in verschiedenen 2.6 Dimension 5: Funktionen der Metaphern 47 <?page no="48"?> sprachrelevanten Phrasen (z. B. Sprachproduktion, Sprachwahrnehmung sowie Spracherwerb) manifestieren lässt. In der Phrase der Sprachproduktion kann man anhand einer Metapher einen Gegenstand, einen Sachverhalt, einen Vorgang oder eine menschenbezogene Entität besser visualisieren. Jedoch ist diese Visualisierung sehr selektiv sowie perspektivisch, da sie eng mit den pragmatischen sowie argumentativen Zielen der Sprecher verbunden ist. Das heißt, durch die Eigenschaft der Perspekti‐ vität kann man in der Sprachproduktion einerseits den kognitiven Aufwand der potenziellen Rezipienten stark reduzieren, das Verständnis erleichtern, lebendig oder manchmal sogar poetisch eine Sache zum Ausdruck bringen. Daher ist die Metapher vielfältig verwendbar und eine zutreffende, innovative sowie wiederkehrende Metapher bleibt länger in Erinnerung. Darüber hinaus kann der metaphorische Sprachgebrauch in der Fachkommunikation oder in der Kommunikation zwischen Experten sowie Laien den wissenschaftlichen Austausch deutlich verbessern. Nach Steen (vgl. z. B. 2009, 2015) sind die sogenannten „Absichtlichen Metaphern“ (deliberate metaphors) möglicherweise gut geeignete Instrumente zur Wissenschaftsvermittlung, weil die Rezipienten beim Hören der Metaphern, die absichtlich von den Produzenten erzeugt werden, das gerade besprochene Thema aus dem Ursprungsbereich der Meta‐ pher beobachten und die geteilte Aufmerksamkeit (im Sinne von joint attention nach Tomasello) der Diskursbeteiligten in der Wissenschaftskommunikation erwecken. Beger (2019) demonstriert in einer umfangreichen Studie, in der 23 US-Amerikanische Universitätsveranstaltungen aus vier unterschiedlichen Fachgebieten (Sozialpsychologie, Philosophie, Biologie und Chemie) qualitativ analysiert werden, dass die „absichtlichen Metaphern“ in vielfältigen Formen vorkommen und über unterschiedliche Funktionen in der Fachkommunikation verfügen. Deignan, Littlemore & Semino (2013) untersuchen beispielsweise, wie eine Dozentin aus der internationalen Abteilung ihren metaphorischen Sprachgebrauch modifiziert. Die metaphorische Modifizierung hängt davon ab, ob sie mit internen Kollegen in ihrer Abteilung oder externen Leuten außerhalb ihrer Abteilung kommuniziert. Manchmal kann eine Metapher aber auch als Quelle von Missverständnissen im interkulturellen Diskurs aufgefasst werden. Dies wird beispielhaft in einer Studie von Musolff (2015) erörtert. Durch die perspektivische Sprachproduktion kann eine Metapher demzu‐ folge von den Rezipienten unterschiedlich empfunden werden. Als prominen‐ teste Beispiele sind hier Metaphern aus dem politischen Diskurs zu nennen. Nach Lakoff & Johnson (1980a) sind Hervorheben (Highlighting) sowie Verde‐ cken (Hiding) eine der wichtigsten Funktionen der Metaphern. Die Metapher unterstreicht „die mit dem Kernbereich der Metapher analogen Züge einer 48 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="49"?> kognitiv erfassten Situation“ (Wildgen 2008: 79). So hebt beispielsweise die Me‐ tapher in dem Unwort des Jahres 2013 „Sozialtourismus“ die Nutznießer-Seite der Zuwanderung hervor und versteckt die Beiträge zur Zivilgesellschaft, die durch die Zuwanderung realisiert werden (mehr dazu vgl. Kap. 4.2.2). Die perspektivische Darstellungsmöglichkeit durch den metaphorischen Sprachgebrauch wird mehrfach im politischen Diskurs herausgegriffen und pragmatisch gezielt eingesetzt. Lakoff veröffentlicht zum Beispiel im Jahr 1996 das Buch „Moral Politics“ und analysiert die politische Rhetorik sowie die eingesetzten Metaphern in dem Golfkriegsdiskurs. Er eröffnet damit die kognitive Diskurswende und sein politisches Engagement ist vergleichbar mit dem seines Lehrers, Noam Chomsky. Seit dieser kognitiven Diskurswende sind zahlreiche Studien über den Gebrauch von Metaphern zu beobachten. Hier nenne ich nur einige Beispiele aus den letzten zehn Jahren: Spieß (2017) beschäftigt sich mit Metaphern in der öffentlichen Debatte um Zuwanderung sowie Migration. Die betroffene Menschengruppe wird in den Massenmedien als „Flüchtlingsstrom“, „Flüchtlingslawine“ oder „Flüchtlingst‐ sunami“ verwendet. Ihre Analyse ist auf das Ergebnis gekommen, dass die Bedeutungsaspekte wie „große Gefahr“ (z. B. Naturkatastrophe-Metaphorik) oder „eine endlose große Bewegung“ (Strom-Metaphorik) die Sicht auf den Sachverhalt im Flüchtlingsdiskurs einengt. Die semantisch negativ besetzten Naturkatastrophe-Metaphern wie Welle, Lawine oder Tsunami führen zugleich dazu, dass die Migrations- oder Flüchtlingsgruppe negativ kontextualisiert bzw. evaluiert wird. Die Metapher kann nicht nur perspektivisch einen Gegenstand, einen Sach‐ verhalt oder eine zutreffende Gruppe von Menschen negativ assoziieren. Sie kann durch ihre perspektivische Darstellung auch eine gefühlte Allgegenwart erzeugen, die zu „Gewöhnungs- und Normalisierungseffekten“ (Schwarz-Friesel 2020a: 84) führt. Die Antisemitismusforscherin sowie Leiterin der Kognitiven Medienlinguistik an der Technischen Universität Berlin, Monika Schwarz-Friesel, setzt sich seit Jahren mit der Beziehung zwischen Metaphern und ihrem „persuasive[n] Inferenzpotenzial“ (Schwarz-Friesel 2015: 143) auseinander. In einer DFG-geförderten empirischen Langzeitstudie „Antisemitismus im www“ (Schwarz-Friesel 2020b) werden die Artikulation, Tradierung und Zirkulation von Judenfeindlichkeit im Internet von ihrem Team quantitativ umfangreich und inhaltlich ausführlich analysiert. 265496 Kommentare aus den gespeicherten 66374 Webseiten in allen relevanten sozialen Medien wie Facebook, Twitter, YouTube bilden das Basis-Korpus. Die Kommentare werden mittels MAXQDA sowohl qualitativ als auch quantitativ in aller Ausführlichkeit kodiert und er‐ forscht. Um die eventuellen Unterschiede bei der Diskursform (also mit oder ohne 2.6 Dimension 5: Funktionen der Metaphern 49 <?page no="50"?> persönliche Adressaten) zu überprüfen, werden 20000 E-Mails an die israelische Botschaft in Berlin und den Zentralrat der Juden in Deutschland von 2012 bis 2018 als Vergleichskorpus behandelt. Insbesondere zwei Beobachtungen sind aus ihren Ergebnissen hervorzuheben: Zum einen wird Judenhass semantisch vielfältig besetzt und multimodal manifestiert. Die neutralen Lexeme wie Juden oder Judentum werden durch „Israelis“, „Zionismus“, „Rothschild“, „jene einfluss‐ reichen Kreise“ oder „Warum sind Zionisten böse? “ emotional abwertend besetzt, um eine judenfeindliche Semantik sowie den damit verbundenen Judenhass zu verbreiten. Viele negativ besetzte NS-Metaphern aus der düsteren deutschen Vergangenheit, etwa Abschaum-, Unrat-, Pest- oder Krebsgeschwür-Metaphern sowie eine fantasievolle Einsetzung von Gewalt, etwa wie Vernichtungswille, werden zunehmend in dem analysierenden Internet-Diskurs artikuliert. Die eingesetzten Metaphern sowie Gewaltfantasien weisen die klassischen Stereotype gegenüber Juden bzw. dem Judentum auf. Dominate Stereotype sind beispiels‐ weise „rach- und ränkesüchtige Juden“ mit „Geldgier und Wucher“ oder in „physischer und seelischer Andersartigkeit“ (vgl. Schwarz-Friesel 2020a: 80). Dies belegt zum einen die starke Tendenz einer radikalen Verbalisierung und diese steigende verbale Radikalisierung bedeutet in gewissem Sinne auch eine breitere Duldung in der Zivilgesellschaft, die durch eine deutliche Abschwächung der Tabuisierung gekennzeichnet ist. Zum anderen wird evident, dass eine antisemitische Schein-Argumentation, die durch die Verwendung einer Vielfalt von lexikalischen Mitteln (z.-B. Pejorativwörter, Metaphern, rhetorische Fragen) unterstützt wird, eine eigene Affektlogik besitzt und damit eine polarisierte Dimension der Emotionalisierung aufzeigt. Gerade in diesem Kontext versuchen Politolinguisten wie Niehr (2019) einen „Dialog“ mit z.-B. den Rechtsextremisten zu führen und gegen diese Affektlogik zu demonstrieren. Ideologie und politische Einstellungen können einerseits den metaphorischen Sprachgebrauch steuern und anderseits von dem metaphorischen Sprachgebrauch geprägt werden. Caers (2006) hat beispielweise den metaphorischen Sprachge‐ brauch in der politischen Ära des Thatcherismus anhand von zwei Mediengurus in Großbritannien, die zwei unterschiedliche politische Standpunkte vertreten, untersucht (aus dem linken Flügel: The Guardian; aus dem rechten Flügel: The Economist). Die Untersuchung zeigt, dass The Economist mehr Metaphern im Hinblick auf Gesundheit, Konflikt sowie Mobilität (besonders in einer vorange‐ henden Richtung) produziert, während The Guardian mehr Metaphern in Bezug auf Kriminalität und Lebensorganismen benutzt. Besonders der Sozialstaat wird bei The Guardian positiv als ein gesunder Lebensorganismus bezeichnet und die Privatisierung wird dagegen als eine Krankheit metaphorisiert. Ein interes‐ santes Experiment von Thibodeu & Boroditsky (2011) beweist, dass Metaphorik 50 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="51"?> politische Meinung sowie politisches Argumentieren vorherbestimmen kann. In diesem Experiment wird den Teilnehmern eine fiktionale Szene über die Kriminalitätsrate in einer fiktionalen Stadt namens „Addison“ präsentiert. Die Aufgabe der Teilnehmer besteht darin, eine Lösung für die hohe Kriminalitätsrate in dieser fiktionalen Stadt zu finden. Kriminalität wird dabei auf zweierlei Arten metaphorisiert: Für die Hälfte der Teilnehmer wird Kriminalität metaphorisch als Monster beschrieben, das mit seiner brutalen Gewalt die fiktionale Stadt erobert. Für die andere Hälfte der Teilnehmer wird Kriminalität symbolhaft als Virus zur Sprache gebracht und dieser Virus infiziert gerade diese Stadt. Die Teilnehmer, die die Texte mit der Monster-Metaphorik lesen, schlagen häufig vor, die Kriminellen zu verhaften und anschließend ins Gefängnis zu bringen. Auf der gesetzlichen Ebene raten die Teilnehmer zu einer noch schärferen Durchsetzung der relevanten Gesetze. Die Teilnehmer, die mit der Virus-Metaphorik konfron‐ tiert sind, empfehlen eine genauere Überprüfung der möglichen Ursachen für die hohe Kriminalitätsrate sowie eine Reduzierung der Kriminalitätsrate durch entsprechende Sozialreformen in den betroffenen Gemeinschaften. Insbesondere werden die Beseitigung der Armut sowie die Verbesserung der Bildung in den betroffenen Sozialbrennpunkten als mögliche Maßnahmen herausgestrichen. Ein greifbares Ungeheuer kann man durch Anstrengung der gemeinsamen menschlichen Kräfte unter Kontrolle bringen und es im Käfig (metaphorisch also im Gefängnis) bleiben lassen. Einen unsichtbaren und aktiven Virus kann man jedoch nicht wie ein Ungeheuer fangen und in einem Behälter inaktiv bleiben lassen. Daher muss man durch genaueres Hinterfragen der Ursachen der Krankheit sowie intensives Forschen Wissen über das Virus gewinnen, um ihn beseitigen zu können. In diesem Sinne ist es nachvollziehbar, warum die beiden Gruppen von Teilnehmern zur Senkung der Kriminalitätsrate in der fiktionalen Stadt unterschiedliche Maßnahmen ergreifen wollen: die verwendete Metaphorik im jeweiligen Deutungsrahmen spielt eine eindeutige Rolle hinsichtlich der politischen Meinungsbildung sowie des politischen Handelns. Die oben diskutierten Studien zeigen einstimmig, dass Metaphern nicht nur Kommunikation erleichtern, (Pseudo)-Argumentationen unterstützen und Bedeutungssowie Bewertungsrahmen vorherbestimmen können, sondern diskursrelevante gesellschaftliche Wirklichkeit konstituieren und politische Meinungen bilden. Zu dem vorletzten Punkt, nämlich die realitätsstiftende Rolle der Metaphern, gibt beispielsweise Hülsse (2003) ein gutes Beispiel, indem er konzeptuelle Metaphern in der EU-Erweiterung aus der politikwissenschaftli‐ chen Sichtweise kontextualisiert. Seine Studie zeigt, dass die EU-Erweiterung als eine familiäre Beziehung metaphorisch gedeutet und als Identitätsfrage konstituiert wird. Diese wirklichkeitskonstruierende Funktion von Metaphern 2.6 Dimension 5: Funktionen der Metaphern 51 <?page no="52"?> wird auch in der Soziologie beforscht. Schonert (2021) hat diese Funktion der Metapher anhand von Demonstrationen in Berlin in seiner systematischen Metaphernanalyse der „Fridays For Future“-Bewegung bestätigt. Das Gestaltungspotenzial der Metaphern kann außerdem im Lehrbetrieb des Erst-, Zweitsprach- oder Fremdsprachunterrichts gezielt genutzt werden. Zurzeit wird Metaphern eine wichtige Funktion besonders im Bereich des Wort‐ schatzerwerbs, der Grammatikvermittlung sowie der Interkulturellen Kommu‐ nikation beigemessen. Roche (2013: 131-132) argumentiert beispielsweise, dass konzeptuelle Metaphern eine Eselsbrücke zum Verständnis aufbauen können, die den Verständnisprozess, insbesondere durch den Rückgriff auf den kon‐ kreten, meistens auch sensomotorischen Ursprungsbereich einer Metapher, erleichtern. Wenn die Lerner die Systematik hinter dieser metaphorischen Pro‐ jektion verstanden haben, können sie zum Beispiel weitere Einzelmetaphern de‐ duzieren. Die Funktion der konzeptuellen Metaphern bietet den Sprachlernern dementsprechend einen kognitiven Zugang zu den sprachlichen Lerneinheiten in einem kommunikativ pragmatischen Kontext. In einer Pilotstudie zeigen Zhao et al. (2018), dass eine deutlich verbes‐ serte Lerneffizienz erreicht werden kann, wenn die Sprachkursleiter einen kognitiv-linguistischen pädagogischen Ansatz im Wortschatzunterricht ein‐ setzen. Nach Roche kann die Grammatikvermittlung im Fremdsprachenunter‐ richt vereinfacht werden, wenn die Vermittler „Metaphorisierungsprozesse mit grammatischen Erfordernissen der Zielsprache“ erfolgreich vereinbaren (Roche 2013: 123). Die sogenannte konzeptuelle Grammatikanimation ist ein Beispiel dafür. Dieses neuartige kognitiv-linguistisch inspirierte pädagogische Verfahren der Grammatikvermittlung visualisiert und verdeutlichtet die abstrakten Kon‐ zepte sowie die daraus bestehenden grammatischen Strukturen. Damit werden „konzeptuelle Strukturen bzw. kommunikative Prozeduren bewusst gemacht“ (Weininger 2013: 26). Roche & EL-Bouz (2018) verwenden die Grammatikani‐ mation beispielweise in der Vermittlung der räumlichen Basispräpositionen der deutschen Sprache (vgl. Radden & Dirven 2007: 310). Besonders die Orien‐ tierungsmetaphern spielen eine wichtige Rolle in der Animation. Wenn man dann den Satz „Ich stehe in der Sonne“ sage, dann wird eine Behälter-Metapher durch die Präpositionalphrase, oder allein durch die Präposition „in“, realisiert. Da sieht man eine deutliche Innen-Außen-Systematik. Jedoch wird dieser Satz beispielsweise im Russischen mit „Ich stehe auf der Sonne“ ausgedrückt, womit die Behälter-Metapher nicht aktiviert wird. Durch eine lebendige Visualisierung in der Grammatikanimation wird die potenzielle Erwerbsschwierigkeit zur Darstellung gemacht. Die Lerner entwickeln durch diese sprachvergleichende Animation gleichzeitig ein fremdsprachliches und interkulturelles Sensibili‐ 52 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="53"?> tätsbewusstsein in Bezug auf die Verwendung der relevanten räumlichen Präpositionen. Mithilfe von zwei qualitativen empirischen pädagogischen Ex‐ perimenten weist Falck (2018) auch nach, dass die Schwedisch-L2-Lerner die verkörperten Erfahrungen sowie die daraus ableitenden Embodied-Metaphern auch auf den Erwerb von abstrakten englischen Präpositionen wie in und on effizienter als die traditionelle Unterrichtssequenz übertragen können. Bis jetzt wurden mögliche Funktionen von Metaphern etwas ausführlich aus der Sichtweise der Kognitiven Linguistik besprochen. Nun wird der Versuch un‐ ternommen, die bisher benannten Funktionen von Metaphern in der folgenden tabellarischen Darstellung nochmals zu resümieren: Das facettenreiche handlungsbezogene Gestaltungspotenzial als die grundlegende Funktion der Metapher I: Sprachproduktions‐ ebene • Ästhetische sowie poetische Funktion • Darstellung der Perspektivität durch Hervorheben und Verdecken • Erinnerung im Langzeitgedächtnis • Reduzierung sowie Minimierung des kognitiven Aufwands • Unterstützung der (Pseudo-)Argumentation • Vielfalt in den Anwendungsbereichen und Aus‐ drucksformen II: Sprachrezeptionsebene • Bewertung des Dargestellten • Einengung der Sicht auf das Dargestellte • Emotionalisierung • Erzeugen eines gefühlten Alltags • Festlegen des Deutungsspielraums (Preframing) • Forderung des Verständnisses • Konstitution von diskursrelevanten gesellschaftli‐ chen Realitäten • Kontextualisierung des Dargestellten • Meinungsbildung (besonders politische Persuasion und Einflussnahme) • Normalisierung der Stereotype, Diskriminierung etc. • Quelle von interkulturellen Missverständnissen • Stereotypisierung III: Spracherwerbsebene • Deduktion der Einzelmetaphern • Kognitionszugang zur Sprachvermittlung • Sensibilisierungsbewusstsein (muttersprachlich, fremdsprachlich, interkulturell) Tab. 9: Dimension 5 - Funktionen der Metaphern aus einer kognitiv-linguistischen Perspektive 2.6 Dimension 5: Funktionen der Metaphern 53 <?page no="54"?> 2.7 Orientierungsmetaphern im Chinesischen und Deutschen Wie bereits eingangs des vorliegenden Kapitels angedeutet, bilden die Konstruk‐ tionen im Chinesischen und Deutschen mit Raumbzw. Bewegungskonzepten (z. B. unter, steigen, ziehen, führen) den Untersuchungsgegenstand auf der idiomatischen Ebene der Korpusuntersuchung (vgl. Kap. 5). Die idiomatischen Konstruktionen mit solchen Konzepten können potenzielle Orientierungsme‐ taphern herausbilden. Von daher werden im vorliegenden Unterkapitel die typischen Kategorien der Orientierungsmetaphern in den beiden Sprachen kurz besprochen und dies soll als eine theoretische und empirische Vorbereitung für die Untersuchung in Kapitel 5.3 und Kapitel 5.4 dienen. Die Orientierungsmetapher ist nach Lakoff & Johnson (1980) ein wichtiger Typ von Metaphern neben der konzeptuellen Metapher und der ontologischen Metapher, die sich auf die Fälle beziehen, bei denen […] ein Konzept nicht von einem anderen her strukturiert wird, sondern bei dem ein ganzes System von Konzepten in ihrer wechselseitigen Bezogenheit organisiert wird. Diese metaphorischen Konzepte nennen wir Orientierungsmetaphern, weil die meisten von ihnen mit der Orientierung im Raum zu tun haben: oben-unten, innen-außen, vorne-hinten, dran-weg, tief-flach, zentral-peripher. (Lakoff & Johnson 2008: 22) Anhand einer sprachvergleichenden korpusgestützten Studie hat Zhang (im Druck) die OBEN-UNTEN -Metaphern in zwei überregionalen chinesischen sowie deutschen wöchentlich erscheinenden Nachrichtenmagazinen San Lian Sheng Huo Zhou Kan und FOCUS ausführlich untersucht und die möglichen Ka‐ tegorien der OBEN-UNTEN -Metaphern systematisiert. In dieser Studie findet man einerseits einen universalen metaphorischen Sprachgebrauch in beiden Sprachen in Bezug auf die beiden Orientierungsbegriffe (Alle Beispiele stammen aus den Referenz- und Zeitungskorpora von DWDS, Hervorhebung von BZ): HOHER STATUS IST OBEN Doch im Gefolge der Banken- und Finanzkrise nach 2007 entstand im Land ein Klima des Unmuts und der Unruhe, ein Linksruck, der sich zwar nicht in Wahlergebnissen niederschlug, wohl aber in einer neuen Bereitschaft, gegen „die da oben“ zu demons‐ trieren. (Die Zeit, 10.02.2015, Nr.-6) POSITIVE EMOTION IST OBEN Auch Aristoteles merkte, dass Johan etwas bedrückte, und versuchte, ihn mit lustigen Gedichten aufzuheitern. (Die Zeit, 19.01.2017, Nr.-02) 54 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="55"?> GRÖSSERE MENGE IST OBEN Die Digitalwährung Bitcoin brauchte Ende Oktober nicht einmal drei Tage, um von 6.000 auf 7.000 US-Dollar zu steigen. (Die Zeit, 16.02.2018, Nr.-47) MACHTAUSÜBUNGEN IST OBEN Wie er dann so vor dem Altar und auf seine Schöne wartet, da übermannt den 35-jährigen Thronfolger dann aber doch das Gefühl. (Berliner Zeitung, 15.05.2004) NIEDRIGER STATUS IST UNTEN Wir haben die Ober- und Unterschicht, wir haben leistungsstarke Schüler und Bildungsversager, wir haben die Reichen und die Armen, die Berufstätigen und die Arbeitslosen. (Die Zeit, 03.06.2011, Nr.-23) NEGATIVE EMOTION IST UNTEN Hitler und den Holocaust fand ich abstoßend, auch wenn ich das provokative Potenzial des „Dritten Reiches“ manchmal nutzte. (Die Zeit, 25.11.2017 (online)) KLEINERE MENGE IST UNTEN Während die Arbeitszeit in den Rüstungsbetrieben auf täglich 15 Stunden erhöht wird, sinken die Lebensmittelrationen auf 830,9 Kalorien; theoretisch soll jeder 180 Gramm Brot, 71,4 Gramm Kartoffeln, 5,7 Gramm Fett und 17,8 Gramm Fleisch erhalten. (Die Zeit, 01.01.2018, Nr.-01) STERBEN ODER ZERFALLEN IST UNTEN In der Ostsee drohe etwa der Kabeljau auszusterben. (Die Zeit, 15.09.2011, Nr.-38) SPÄTER ALS EIN GENANNTER ZEITPUNKT IST UNTEN Nach internen Berechnungen könnte der Rundfunkbeitrag ab 2021 auf mehr als 19 Euro im Monat steigen, wenn keine Strukturreformen vorgenommen werden sollten, hieß es aus Expertenkreisen. (Die Zeit, 31.03.2016 (online)) BEDINGUNG IST UNTEN Ist künstliche Intelligenz überhaupt möglich - unter den Voraussetzungen dessen, was wir für gewöhnlich als „intelligent“ definieren? (Die Zeit, 02.11.2017 (online)) Jedoch sind anderseits auch einige Besonderheiten in den OBEN-UNTEN-Me‐ taphern im Chinesischen und Deutschen zu bemerken: 1. Die räumliche Beziehung oben-unten wird in der chinesischen Sprache häufig auf die Natur übertragen. In Bezug auf die Natur werden sowohl die positiven Seiten (z. B. als süße, kindliche oder unschuldige Entitäten) als auch die negativen Seiten (z. B. als Naturkatastrophe oder als Krise) im chinesischen metaphorischen Sprachgebrauch hervorgehoben. Dies 2.7 Orientierungsmetaphern im Chinesischen und Deutschen 55 <?page no="56"?> kann auf die traditionelle chinesische Philosophie zurückgeführt werden, wobei die Natur-Mensch- oder Himmel-Erde-Konstellationen häufig zu metaphysischen Abhandlungsthemen gemacht werden. 2. Zweifelsohne bleibt es festzulegen, dass der Einfluss der konfuzianischen Lehren sowie des hierarchischen Denkens, die durch das Hierarchie‐ bewusstsein im altchinesischen Kaisertum sowie das Beamtenprüfungs‐ system (also Ke Ju) fest verankert werden, auf die chinesischen sowie die ostasiatischen Kulturkreise enorm ist. Dieser Einfluss lässt sich bis in den gegenwärtigen Sprachgebrauch, insbesondere den metaphorischen Sprachgebrauch, deutlich beobachten. Geprägt davon werden die Bedeu‐ tungselemente wie „Bildungsniveau“ oder „(sozialer) Status“ den vertikalen Raumbegriffen (oben-unten) zugeschrieben. „Alles ist wertlos, nur das Studium ist das höchste Gut“ - das vielzitierte und weit verbreitete Zitat aus dem langen Gedicht Shen Tong Shi (Das Genie-Gedicht) von Zhu Wang, einem berühmten Gelehrten mit frühkindlicher Begabung aus der Song-Dynastie, erklärt die Verbindung zwischen der Oben-Raummetapher, der positiven Emotionsbesetzung und der sozialen Anerkennung an das hohe Bildungsniveau. 3. Wie Takayama Wichter & Wichter (2000) bereits in ihrer japanisch-deut‐ schen sprachvergleichenden Studie zur Innen-Außen-Systematik beob‐ achtet haben, wird die OBEN-UNTEN-Vertikalität im Deutschen ebenfalls überwiegend in eine solche Systematik gesetzt. Diese Innen-Außen-Sys‐ tematik ist konsistent durch die entsprechenden Behälter-Metaphern gekennzeichnet. Da die vertikale Reihenfolge im Deutschen primär eine Innen-Außen-Beziehung aufweist, führt dies auch dazu, dass die OBEN-UNTEN-Reihenfolge als zeitliche Abfolge nur teilweise im Deut‐ schen konzeptualisiert wird. Diese räumlichen Konzepte werden auf eine zeitliche Abfolge - später als ein genannter Zeitpunkt - projiziert. Al‐ lerdings wird die OBEN-UNTEN-Vertikalität als eine zeitliche Abfolge im Chinesischen eher in einer komplementären Art und Weise konzep‐ tualisiert und aktiviert. Diese metaphorische Projektion der räumlichen Vertikalität ist besonders bei den trennbaren Verben im Deutschen gut zu beobachten. Beispielsweise kann man mithilfe eines Präfixes „ein-“, nicht nur eine Aufwärtsbewegung im Sinne von „in eine Bergwand einsteigen“ erzeugen, sondern auch eine Grenze zwischen Innen und Außen markieren (z. B. einatmen, einblenden, einbauen, eindringen, einschlafen). Auch die Handlungsaktivität nach außen (z. B. Abgas, Ausbruch, ablassen, ableiten, ablocken, abreagieren, ausatmen, ausdrücken) kann durch eine Abwärtsbe‐ wegung sprachlich verfestigt werden. 56 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="57"?> 4. Die vertikale Richtung wird bei Deutschen kognitiv nicht als eine endlose Linie empfunden, sondern als eine äußerst begrenzte Erscheinung. Folglich hat diese Linie, etwa wie eine Strecke in der Geometrie, dann üblicherweise einen Anfangspunkt A sowie einen Endpunkt B. Zum Beispiel kann eine UNTEN-Metapher grundsätzlich die folgenden drei Formen eines Endpunkts in der deutschen Sprache repräsentieren: Schließen (den Stall abriegeln), Verschwinden (Lass uns mit einem Glas Wein den schönen Tag ausklingen lassen! ) und Beenden (Die Gender-Ideologie will die Ehe und die Kernfamilie abschaffen). 2.8 Synthese: Überlegungen für die Analyse der Metaphern und metaphorischen Konstruktionen Bereits bei Aristoteles wird Metapher als eine Art Übertragung zwischen Wort und Gegenstand aufgefasst. Da diese Übertragung in einem eins-zu-eins-Ver‐ hältnis zueinandersteht, ist seiner Meinung nach Metapher kein polysemisches Phänomen. Jedoch wird das Verhältnis der Übertragung stark von Lakoff & Johnson (1980a) herausgefordert, indem sie die nicht-propositionale Dimension der Bedeutung hervorheben. Außerdem kann diese Übertragung durch eine proportionale und analoge Formel umgeschrieben werden. Zum einen gibt die Analogie der Metapher der Konzeptuellen Metapherntheorie den Hinweis, die Wortbedeutung in zweierlei Hinsichten zu analysieren (also die Unterscheidung zwischen Ursprungsbereich und Zielbereich). Dies kann zum anderen teilweise die strukturelle Auffälligkeit von manchen chinesischen Chengyu-Konstruk‐ tionen mit Metaphern erklären, was zugleich hindeutet, dass eine spezifische strukturelle Musterhaftigkeit in der idiomatischen Konstruktion mit Metaphern aufweist und diese Musterhaftigkeit möglicherweise durch beispielsweise ma‐ thematische Formel beschreibbar ist. Die Wortfeldtheorie der Metapher geht davon aus, dass jede semantische Einheit zu einem spezifischen Wortfeld gehört. Sie verfügt über eine individuelle Verwendungssphäre und die Metapher entsteht, wenn sie die eigene Verwen‐ dungssphäre verlässt und in einer anderen außergewöhnlichen Situation auf‐ tritt. Die lexikalische Solidarität beschreibt die inhaltliche Übereinstimmung des Lexems und betrifft die syntaktischen Beziehungen. In der Framesemantik wird ein lexikalisches Zeichen als ein Teil eines spezifischen Deutungsrahmens an‐ gesehen (z. B. kaufen, Kunde, Rabatte und Kundenservice für ein Kaufframe). Die lexikalischen Einheiten sind nach der alltäglichen Erfahrung der Menschen in verschiedene Frames einzuordnen. Die beiden Sichtweisen deuten gemeinsam 2.8 Überlegungen für die Analyse der Metaphern und metaphorischen Konstruktionen 57 <?page no="58"?> darauf hin, dass Metaphern immer in einer außergewöhnlichen bzw. framespe‐ zifischen Verwendungssituation auftreten. Bei der Analyse der Metapher und der metaphorischen Konstruktion soll man auf die eigene Verwendungssphäre sowie das spezifische Verwendungsframe zurückführen. Die Konzeptuelle Metapherntheorie geht von der Embodiment-Hypothese aus und betrachtet die Interaktion zwischen Sprache und sensomotorischen Erfahrungen als die Antriebskraft der Metapher. Metapher ist ein allgegen‐ wärtiges Phänomen, das eine selektive Projektion zwischen einem konkreten Ursprungsbereich und einem abstrakten Zielbereich aufweist und das Denken bzw. das Handeln der Menschen bestimmt. Bei der Analyse der Metapher ist zuerst zu schauen, wie diese selektive Projektion stattfindet und aus welchen Be‐ reichen diese metaphorische Projektion stammt. Darüber hinaus ist es wichtig, die Funktionen der Metaphern und der metaphorischen Konstruktionen in ihrem verwendungsspezifischen Diskurs durchgehend zu analysieren (vgl. Kap. 2.6). Nicht zuletzt hat das chinesische Beispiel in Kapitel 2.3.2 gezeigt, dass unterschiedliche Metaphern in einem Text ein metaphorisches Netzwerk aufbauen. Die Analyse der Metapher soll das metaphorische Netzwerk auch mit‐ berücksichtigen. Besonders wichtig ist dabei zu überprüfen, welche Metaphern im Vordergrund eines Texts stehen und wie sie mit den anderen Metaphern interaktiv zusammenhängen, um die Argumentation zu unterstützen. Durch die Analyse des deutschen Beispieltexts hinsichtlich der Identifika‐ tion der Metaphern und der metaphorischen Konstruktionen in Kapitel 2.4 bemerkt man, dass sowohl die Zerlegung als auch die Beschreibung der meta‐ phorischen Konstruktion ein grammatisches Modell verlangen, das nicht nur die Konstruktion syntaktisch, sondern auch rollensemantisch beschreibt. Dies beweist die Notwendigkeit der Einführung eines geeigneten grammatischen Beschreibungsmodells in die Analyse der Metaphern bzw. der metaphorischen Konstruktionen, was das zentrale Thema des kommenden Kapitels hinsichtlich der Konstruktionsgrammatik darstellt (vgl. Kap. 3). Nach den neuen Entwicklungen der Konzeptuellen Metapherntheorie spielen die kontextuellen Faktoren und die individuellen Gebrauchsfaktoren eine wich‐ tige Rolle in Hinblick auf die Konzeptualisierung, die Wahrnehmung sowie die Analyse der Metapher. Die Metaphern lassen sich in Online- und Offline-Me‐ taphern eingliedern. Die Offline-Metaphern werden musterhaft geprimet und gehören zum Weltwissen eines Sprechers. Bei der Deutung der abstrakten Kon‐ struktion mit Online-Metaphern kann dieses bereits gespeicherte Weltwissen reaktiviert werden. Dadurch wird die frame-spezifische Verwendung der Meta‐ pher ersichtlich. 58 2 Analysedimensionen aus Perspektive der Metapherntheorien <?page no="59"?> Bis jetzt sieht man, dass die Metaphern sowie die metaphorische Konstruktion sich eher auf einer Makroebene der Sprache befinden, um die Argumentation zu unterstützen bzw. das spezifische Verwendungsframe einzubauen. Jedoch ist ein grammatisches und genaues Modell für die Beschreibung bzw. die Analyse der Metapher bzw. der metaphorischen Konstruktionen auf einer Mikroebene der Sprache immer noch notwendig, was die Anschlussfähigkeit der grammatischen Ansätze wie Konstruktionsgrammatik unterstreicht (vgl. Kap. 3). Abschließend werden die bereits besprochenen Aspekte stichwortartig in der nachstehenden Abbildung zusammengetragen, die die mögliche Analysedimensionen der Me‐ taphern und der metaphorischen Konstruktionen präsentiert. Abb. 2: Die möglichen Analysedimensionen der Metaphern und der metaphorischen Konstruktionen 2.8 Überlegungen für die Analyse der Metaphern und metaphorischen Konstruktionen 59 <?page no="61"?> 3 Analysedimensionen für die sprachlichen Konstruktionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik Unter „Konstruktionsgrammatik“ fasst man üblicherweise eine Reihe linguisti‐ scher Ansätze zusammen, die sich parallel zu der kognitiven Metapherntheorie in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben. Alle kognitiven Konstruktions‐ grammatiken teilen grundsätzlich bestimmte Annahmen über Sprache und Sprachstruktur, mit denen sie den formalistischen „Mainstream“ der Genera‐ tiven Linguistik abwehren. Das vorliegende Kapitel, das die andere theoretische Säule dieser Schrift darstellt, bemüht sich, wie im letzten Kapitel, durch eine kritische Diskussion der empirisch-relevanten konstruktionsgrammatischen Theorien, ein eigen‐ ständiges sowie introspektives Verständnis über linguistische Konstruktionen zu ermöglichen. Das Ziel dieser funktionalen theoretischen Darstellung besteht darin, einen eigenen konstruktionsanalytischen Ansatz in der Praxis auszuar‐ beiten und anschließend meinen eigenen Ansatz in der Korpusuntersuchung in den empirischen Studien (vgl. Kap. 5, 6 und 7) zu validieren. In Kapitel 3.1 wird eine bündige Einführung in die Konstruktionsgram‐ matik dargestellt. Zunächst wird die kognitive Konstruktionsgrammatik in das Gesamtbild der linguistischen, insbesondere der grammatischen, Theorien eingeordnet, wobei die folgenden vier Anstöße zur Konstruktionsgrammatik vergleichend resümiert werden: Deskriptive Linguistik, Generative Linguistik, Wortgrammatik sowie Framesemantik. Diese gehören zu den damaligen Kon‐ kurrenten innerhalb der grammatischen Modelle in der linguistischen For‐ schungslandschaft und beeinflussen mehr oder minder das kognitive kon‐ struktionsgrammatische Programm. Daraufhin werden die grundlegenden theoretischen Ansätze der Konstruktionsgrammatik jeweils kurz angesprochen, wobei es nicht um die konkrete und detaillierte Darstellung jedes Aspekts inner‐ halb der Konstruktionsgrammatik geht, sondern um die generellen Tendenzen. Kapitel 3.2 stellt die drei wichtigen Konstruktionsdefinitionen von Goldberg vor und leitet sie in die Diskussion über ein mögliches Konstruktionskonzept ein. Von Kapitel 3.3 bis Kapitel 3.6 wird auf die vier unterschiedlichen Dimen‐ sionen etwas ausführlicher eingegangen, die aus den bisherigen Ansätzen bzw. aktuellen Studien aus der Konstruktionsgrammatik oder den Schnittstellenbe‐ reichen stammen und möglicherweise in einer konkreten Analyse von Kon‐ <?page no="62"?> struktionen in Frage kommen. Dabei werden die strukturelle, die semantische, die prosodische und die pragmatische Seite einer Konstruktion berücksichtigt. Am Ende des Einzelunterkapitels werden die zentralen Aspekte in einer Tabelle nochmals zusammengestellt. Das letzte Unterkapitel 3.7 mündet in Hinweisen zum theoretischen Um‐ denken in der kognitiven Konstruktionsgrammatik. Dieses Umdenken betrifft sowohl konstruktionsbegriffliche als auch konstruktionsanalytische Aspekte, aus denen ein praxisorientiertes Analysemodell (PSSP-Modell) abgeleitet wird. Somit werden die umfangreichen Grundlagen der Theorien dieser Schrift vollständig in die Diskussion eingeführt. Die kognitive Metapherntheorie sowie die Konstruktionsgrammatik stellen zusammen zwei unabdingbare Säulen des empirischen „Gebäudes“ dar, die im kommenden Kapitel zur Methode (vgl. Kap. 4) nochmals zusammenfassend miteinander verbunden werden. Auch der Aufbau der verwendeten Korpora spielt eine zentrale Rolle in der methodischen Darstellung im kommenden Kapitel 4. 3.1 Allgemeines zur Konstruktionsgrammatik Zunächst wird ein Blick auf die Linguistik vor der Entstehung der Kon‐ struktionsgrammatik in Kapitel 3.1.1 geworfen. Die vier linguistischen Strö‐ mungen (Deskriptive Linguistik, Generative Linguistik, Wortgrammatik und Framesemantik), die die theoretischen Anstöße für die Konstruktionsgrammatik anbieten, werden präzise dargestellt. Danach werden die bestehenden Strö‐ mungen im Rahmen der Konstruktionsgrammatik und die grundlegenden bzw. gemeinsamen Vorstellungen der konstruktionsgrammatischen Ansätze kurz zusammengefasst in Kapitel 3.1.2 besprochen. 3.1.1 Entwicklungsgeschichte der Konstruktionsgrammatik Die sprachlichen Einheiten, die in der alltäglichen Sprachpraxis gebraucht werden, sind eine Art äußerliche Repräsentation unseres Denkens. Diese Repräsentation des Denkens fungiert folglich als eine unabdingbare Instanz für zwischenmenschliche Kommunikation und daher müssen die verwendeten sprachlichen Einheiten in einer relativ stabilen Sprachgemeinschaft verständ‐ lich und zugänglich für jeden Sprachbenutzer sein. Daraus resultiert, dass solche Einheiten strikte grammatische Regularitäten verfolgen müssen. Sonst wäre die Sprache nicht nachvollziehbar, wenn man ohne eine sprachgemeinschaftliche Zustimmung sprachliche Einheiten verwendet. 62 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="63"?> Die Kognitive Konstruktionsgrammatik hat viele linguistische Theorien kritisch integriert und befindet sich noch immer in einem dynamischen Form‐ ierungsprozess. Die heutige Kognitive Konstruktionsgrammatik lässt sich auf die folgenden vier linguistischen Schulen bzw. Modelle zurückführen: 1. Deskriptive Linguistik 2. Generative Linguistik 3. Wortgrammatik 4. Framesemantik Im Folgenden wird der Frage kurz nachgegangen, wie die aufgelisteten lingu‐ istischen Schulen bzw. Theorien in das Programm der Kognitiven Konstrukti‐ onsgrammatik kritisch aufgenommen sowie abgelehnt worden sind. Die Deskriptive Linguistik zählt zum wichtigsten Vorreiter der Konstruk‐ tionsgrammatik. Diese linguistische Strömung stammt ursprünglich aus der Feldforschung sowie der daraus abgeleiteten Auseinandersetzung mit den Sprachen der indigenen Völker Amerikas. Besonders das erste Erscheinen der Fachzeitschrift „Language“ 1925 erklärt die deskriptive Linguistik als eine neu etablierte linguistische Schule in den USA. Sie ist insofern deskriptiv, als sie durch ihre besondere Fokussierung auf die linguistische Authentizität und das deskriptive Verfahren bei der Sprachanalyse gekennzeichnet ist. Deshalb orientiert sich die deskriptive Schule der Linguistik an einer Beschreibung der authentischen mündlichen Sprachmaterialien und einer synchronischen Sprachanalyse. Diese Orientierung unterscheidet sich jedoch sehr von der europäischen historisch-sprachvergleichenden Tradition im 19. Jahrhundert, die auf eine auf Schriftsprachen basierende diachronische Anschauung abzielt. Die Kognitive Konstruktionsgrammatik bezieht die authentische Sprachanalyse von der deskriptiven Linguistik ein und geht ebenfalls von einer Gebrauchsba‐ siertheit der Sprachanalyse aus. Dass die Kognitive Konstruktionsgrammatik zunächst als ein linguistisches Gegenprogramm zu den einflussreichen linguistischen Ansätzen nach Chomsky entstand, ist vielen kognitiv linguistischen Experten geläufig (vgl. z. B. Croft & Cruse 2004: 225). Jedoch räumt eine der wichtigsten Vertreter der Konstrukti‐ onsgrammatik, Adele Goldberg, die theoretischen Anregungen der Sichtweisen Chomsky’s für die Etablierung einer kognitiven Konstruktionsgrammatik ein. Trotz vieler Streitpunkte zwischen der Kognitiven Konstruktionsgrammatik und der Generativen Grammatik sind dennoch folgende Gemeinsamkeiten zu nennen (vgl. Goldberg 2006: 4): 3.1 Allgemeines zur Konstruktionsgrammatik 63 <?page no="64"?> 1. Bei den beiden linguistischen Strömungen wird Sprache als ein Kogniti‐ onssystem betrachtet. Jedoch sieht die generative Schule die Grammatik als ein Spracherwerbsmechanismus (also Language Acquisition Device); 2. Die beiden Schulen gehen davon aus, dass es eine Methode gibt, die unterschiedliche Konstruktionen/ Strukturen miteinander verbindet und neue Ausdrücke (utterances) ausformt; 3. Die beiden Ansätze verfolgen ehrgeizige Ziele. Der generative Ansatz beabsichtigt, eine allgemein gültige Universalgrammatik der menschlichen Sprachen herauszuarbeiten und die Kognitive Konstruktionsgrammatik hält in Anlehnung an die Kognitive Linguistik die Beschreibung der mentalen Grammatik im menschlichen Gehirn für ihr Forschungsziel. Allerdings lehnt die Kognitive Konstruktionsgrammatik manche Inhalte des generativen Programms ab: Die generative Linguistik geht davon aus, dass das Erforschen der Sprache überwiegend Wert auf die sprachlichen Formen, also Strukturen legen sollte. Die semantischen sowie diskursiven Funktionen der sprachlichen Formen gelten nicht als Hauptbeschäftigung der generativen Schule. Hingegen integriert die Kognitive Konstruktionsgrammatik die sprach‐ liche Form, semantische sowie pragmatische/ diskursive Form in ihr Programm. Der zweite Punkt, den die kognitiven Linguisten ablehnen, ist die Sichtweise, dass die halbregulären sowie idiosynkratischen Muster Randerscheinungen sind. Die Kognitive Konstruktionsgrammatik findet es hingegen sinnvoll, auch die nicht üblich erscheinenden Sprachstrukturen als zentralen Untersuchungs‐ gegenstand in der grammatischen Forschung geltend zu machen. Zudem geht die generative Linguistik davon aus, dass die konkreten Spracherscheinungen sowie Oberstrukturen ein kompliziertes Dasein bilden. Daher muss ein Sprach‐ lerner die relativ begrenzten universalgrammatischen Prinzipien beherrschen, um eine Sprache zu erwerben. Diese Ansicht überzeugt offensichtlich die Ko‐ gnitiven Konstruktionsgrammatiker nicht, da sie eine bottom-up-Perspektive, also einen gebrauchsbasierten Ansatz bevorzugen. Die sogenannte Wortgrammatik (Word-Grammar) ist eine grammatische Theorie, die sich seit den 1980er Jahren entwickelt hat und von dem amerika‐ nischen Linguisten Richard Hudson maßgeblich geprägt wurde (vgl. Hudson 1984). Seinem grammatischen Modell zufolge ist ein Sprachsystem zugleich ein Kognitionsnetzwerk, das alle sprachlichen Komponenten (z. B. Wort, Phonem, Relation und Bedeutung) in einer Sprachanalyse umfasst. Bei ihm werden die linguistischen Theorien als Verkettungen im Sprachwissen behandelt. Er hebt besonders die Verwobenheit zwischen Sprachtheorien und Sprachwissen hervor. Die semantische Bedeutung eines Wortes und das enzyklopädische Wissen über das Wort sind nicht trennbar. Konkret lässt sich die semantische 64 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="65"?> Bedeutung eines Wortes in einem entsprechenden sozialisierten enzyklopädi‐ schen Wissensrahmen verbergen und die Eigenschaften eines Wortes lassen sich auch nur anhand der möglichen Relationen zu den anderen semantischen Einheiten beschreiben. Die semantische Bedeutung eines Wortes ist in diesem Sinne ein Netzwerk, das aus unterschiedlichen semantischen Relationen besteht. Diese Sichtweise ist quasi eine Äquivalenz der Kognitiven Konstruktionsgram‐ matik, die auch die dynamische Formationskraft sowie Beziehung zwischen Sprachwissen und Wissen über Sprache in ähnlicher Weise ansieht. Die auf der Kasusgrammatik (Case Grammar) basierende Framesemantik ist eine semantische Theorie von Fillmore (1977), die auf einem Erklärungs‐ versuch der semantischen Bedeutung eines Begriffs aus der Sichtweise der Verständigungsprozesse sowie der Interpretation der Rezipienten basiert. An‐ geregt von der Berliner Schule der Gestaltpsychologie überträgt Fillmore eine holistische Perspektive auf die Entschlüsselung eines semantischen Konzepts. Er geht davon aus, dass eine Wortbedeutung in dem Moment entsteht, in dem der relevante Deutungsrahmen, also der wortbezogene Rahmen (Frames), aktiviert wird. Die semantische Bedeutung wird in einer lebensbezogenen Szene immer wieder mit anderen Komponenten auftauchen und dadurch ver‐ festigt. Vereinfacht gesagt ist ein Frame der Bedeutungsrahmen, der sich durch wiederkehrende Erlebnisse in einem Format der kognitiven Gestalt verfestigt und dynamisch verändert wird. Vor allem diese holistische Betrachtung der Wortbedeutung verhilft Fillmore, einen Schritt weiterzugehen: Die semantische Auslegung der Idiome ist deshalb viel komplexer als Einzelwörter und die Idiome besitzen morphosyntaktische sowie semantische Eigenartigkeiten, die nicht in den Einzelwörtern aufzufinden sind. Beispielweise nennen Fillmore et al. (1988) Phrasen wie kith and kin und tickle the ivories, um die Eigenartigkeiten der Idiome näher zu beleuchten. Das erste Beispiel bezieht sich auf Leute, die eine enge Verbindung miteinander haben, insbesondere Menschen mit einer Verwandtschaftsbeziehung. Besonders das Wort „kith“ lässt sich nur in dieser Wendung in Kombination „and kin“ finden. Eine Verwendungsalternative des Wortes „kith“ gibt es im Englischen jedoch nicht. Der andere Aspekt der Eigenartigkeit der Idiome ist mithilfe des zweiten Beispiels gut nachvollziehbar. Betrachtet man zuerst die zerlegten Einzelwörter in dieser Wendung, also, „tickle“ (kitzeln) „the“ (hier: Akkusativ, Pluralform, die) und „ivories“ (Elfen‐ beine), fällt es ziemlich schwer, anhand der separaten Wortbedeutungen einen vernünftigen Zusammenhang herauszuarbeiten. Das heißt, die zweite Eigen‐ artigkeit der idiomatischen Bedeutung besteht in der nichtkompositionellen Zusammensetzung der Einzelbedeutungen. Ausgehend von solch feinen sprach‐ 3.1 Allgemeines zur Konstruktionsgrammatik 65 <?page no="66"?> lichen Beobachtungen argumentiert Fillmore, dass Idiome als grammatische Konstruktionen angesehen werden sollten. Die Kognitive Konstruktionsgrammatik versteht sich als Sammelparadigma unterschiedlicher grammatisch-theoretischer Ansätze. Jedoch teilen alle An‐ sätze eine zentrale Gemeinsamkeit: Die kognitive Grammatik zieht sich durch alle linguistischen Ebenen hindurch und überwindet damit die modulare Sicht‐ weise der Grammatik, in der Sprachwissen separat in der Phonologie, Syntax und Semantik behandelt wird. Die modulare Sichtweise geht davon aus, dass die unterschiedlichen Module durch die sogenannten „Linking Rules“ verbunden werden. Durch eine ausführliche Studie über die let alone-Konstruktionen im Englischen kamen Fillmore und seine Kollegen zu diesem Ergebnis und forderten damit die modulare Sichtweise in der Generativen Grammatik heraus: It has seemed to us that a large part of a language user’s competence is to be described as a repertory of clusters of information including, simultaneously, morphosyntactic patterns, semantic interpretation principles to which these are described, and, in many cases, specific pragmatic functions in whose serve they exist. (Fillmore et al. 1988: 534) 3.1.2 Die grundlegenden theoretischen Ansätze der Konstruktionsgrammatik Die Konstruktionsgrammatik ist wie die kognitive Linguistik kein uniformes grammatisches Modell, sondern ein Sammelbegriff für alle einschlägigen gram‐ matischen Schulen, die davon ausgehen, dass „die menschliche Sprache auf allen Ebenen aus Zeichen […] besteht“ (Fischer & Stefanowitsch 2008: 3). Angesichts der formalen Orientierung lassen sich alle konstruktionsgram‐ matischen Ansätze grundsätzlich in zwei große Gruppen einteilen: die nicht formal orientierten und die formal orientierten Ansätze. Zu den nicht formal orientierten Ansätzen gehören alle kognitiv-linguistischen konstruktions‐ grammatischen Vorgehensweisen. Die Cognitive Construction Grammar (La‐ koff 1987; Goldberg 1995, 2006, 2019) und die Cognitive Grammar (Langacker 1987, 1991) zählen zu den Vorreitern der nicht formal orientierten Ansätze. Seit 2000 sind Variationen wie die Radical Construction Grammar (Croft 2001), die Usage-based Construction Grammar (Diessel 2015, 2019) sowie die Interaktionale Konstruktionsgrammatik (Deppermann 2006; Imo 2015a, 2015b) als Weiterentwicklung der beiden konstruktionsgrammatischen Vorreiter zu nennen. Bedeutende Schulen der formal orientierten Konstruktionsgramma‐ tiken sind die Berkeley Construction Grammar (Fillmore, Kay & O’Connor 1988), die Sign-based Construction Grammar (Boas & Sag 2012), die Embodied 66 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="67"?> Construction Grammar (Bergen & Chang 2005) und die Fluid Construction Grammar (van Trijp 2008; Steels 2011). Gemeinsam gehen die vielfältigen Ansätze davon aus, dass die Konstruktion die grundlegende sprachliche Einheit und den Untersuchungsgegenstand der Konstruktionsgrammatik darstellt. Konstruktionen werden als „einheitliches Format sprachlichen Wissens“ (Ziem & Lasch 2013: 65) und „assoziative, symbolische Verknüpfungen von Form und Bedeutung“ (Imo & Lanwer 2020: 4) begriffen. Der Begriff Sprache wird dementsprechend in der Konstrukti‐ onsgrammatik als ein Netzwerk von Konstruktionen aufgefasst. Daher kann Sprache nur „durch Konstruktionen unterschiedlichen Abstraktionsgrades“ (Blomberg & Jessen 2018: 17) beschrieben werden. In der sprachlichen Be‐ schreibung wird hierdurch die vorherrschende scharfe Trennung zwischen Lexikon und Grammatik in der generativen Linguistik aufgehoben. In den konstruktionsgrammatischen Modellen liegt ein Kontinuum zwischen Lexikon und Grammatik vor. Auch die von den generativen Schulen vorgeschlagene Oberflächenstruktur sowie die Annahme des angeborenen Mechanismus wird von den konstruktionsgrammatischen Ansätzen abgelehnt. Stattdessen betont das gesamtkonstruktionsgrammatische Vorgehen die Erlernbarkeit sowie die Gebrauchsbasiertheit der Konstruktionen. 3.2 Dimension 1: Konstruktionsdefinitionen nach Goldberg In diesem Abschnitt werden die kognitiven konstruktionsgrammatischen Gedanken von Goldberg anhand ihrer drei wichtigen Konstruktionsbegriffe in den drei repräsentativen Werken (Goldberg 1995, 2006 und 2019) ausführlich dargestellt, die durchaus einen Meilenstein in der konstruktionsgrammatischen Forschung markieren. Adele Goldberg hat vor allem seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts die konstruktionsgrammatische Ausrichtung mit zahlrei‐ chen Arbeiten in einem internationalen Ausmaß geprägt. Trotz ihrer theoretischen Errungenschaften ist jedoch zu bemerken, dass eine noch frühere Anwendung der Konstruktionsgrammatik innerhalb des kognitiv-linguistischen Rahmens bereits in der Studie über die there-Konstruk‐ tion (Lakoff 1987) stattfindet. Auch die frame-semantische sowie syntaktische Auseinandersetzung mit der let alone-Konstruktion von Fillmore, Kay & O’‐ Connor (1988) leistet einen wichtigen Beitrag in Goldbergs Konzept. Jedoch unterscheidet sich Goldbergs Programm im Vergleich zu den oben aufgeführten Arbeiten dahingehend, dass ihr Programm Kernbereiche der traditionellen Syntax mit den sogenannten Argumentstrukturen als Erkenntnisinteresse be‐ 3.2 Dimension 1: Konstruktionsdefinitionen nach Goldberg 67 <?page no="68"?> trachtet. Auch das methodische Vorgehen ist sehr unterschiedlich: Der Ansatz Goldbergs verfolgt zunehmend experimentelle sowie neurowissenschaftliche Verfahren (Boyd & Goldberg 2011). Hingegen visieren Fillmore & Kay beispiels‐ weise eine technische Umsetzung der Konstruktionsgrammatik im Rahmen von der Head-Driven-Phrase-Structure-Grammatik (HPSG) an, was Goldberg kritisch sieht und kategorisch ablehnt (vgl. Goldberg 2006: 216). Nach Goldberg ist Konstruktion ein organisiertes und produktives Netzwerk, das sämtliche Spracherkenntnisse der Menschen repräsentiert. Die Verbindung zwischen unterschiedlichen Konstruktionen wird durch die Vererbungsrelati‐ onen hergestellt. Solche Vererbungsrelationen können sehr gut die Syntax, Semantik und pragmatischen Eigenschaften der Konstruktionen erklären. Gold‐ berg hat das Konzept „Konstruktion“ insgesamt dreimal definiert: [Konstruktion 1 : ] C is a CONSTRUCTION iffdefC is a form-meaning pair <Fi, Si> such that some aspect of Fi or some aspect of Si is not strictly predictable from C’s component parts from other previously established constructions. (Goldberg 1995: 4) Im ersten Definitionsversuch wird die Konstruktion als ein Form-Bedeutungs‐ paar angesehen, dessen Bedeutung nicht aus den vorhandenen etablierten sprachlichen Elementen ableitbar und vorhersagbar ist. In dieser Definition schlägt sich ein revolutionärer Ausgangspunkt der kognitiven Konstruktions‐ grammatik nieder. Falls die Konstruktion als ein nicht vorhersagbares Form-Be‐ deutungspaar angesehen wird, dann befinden sich bestimmte grammatische Phänomene einer Sprache wie Idiome, die in der generativen theoriegelei‐ teten Erklärung oft vernachlässigt oder nur als Randerscheinungen behandelt werden, nicht mehr in einer peripheren Lage. Jedoch ist das Kriterium der semantischen Vorhersagbarkeit einer Konstruk‐ tion fragwürdig. Es gibt in den beiden untersuchten Sprachen der vorliegenden Arbeit idiomatische Konstruktionen, deren Bedeutungen öfter durch die Zu‐ sammensetzung der Teilkonstruktionen zu erschließen sind und manchmal aber nicht vorhersagbar sind. Besonders in den idiomatischen Konstruktionen, die Metaphern enthalten, kann die Konstruktionsbedeutung durch die metaphorische Motivation in dieser Konstruktion vermutet werden. Aus der semantischen Zusammensetzung der Teilkonstruktion ergibt sich in den meisten Fällen die gesamte Konstruktions‐ bedeutung. Dies wird zum Beispiel in vielen chinesischen Chengyu-Konstruk‐ tionen (zur Chengyu-Konstruktion, vgl. Kap. 5.2.1) sichtbar: 68 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="69"?> (1) 背道而驰 (zuwider + Weg + und + laufen): bedeutet, dass man gegen den einschlägigen Weg läuft und vom ursprünglich geplanten Ziel abweicht. (2) 反败为胜驰 (gegen + Niederlage + für + Sieg): bedeutet, dass man aus einer besonders schwierigen bzw. nicht gelungenen Situation etwas schafft bzw. besiegt. (3) 转危为安 (drehen/ umwandeln + Gefahr + für + Sicherheit): bedeutet, dass man durch eigene Kraft oder mithilfe von den anderen einer gefährlichen Situation loswird und nun sicher ist. In den oben aufgeführten drei Chengyu-Konstruktionen ist ersichtlich, dass man allein anhand von den linearen Einzelwortbedeutungen die gesamte Kon‐ struktionsbedeutung erschließen kann. Die gesamte Konstruktionsbedeutung kann durch die modulare Zusammensetzung der Teilkonstruktionen, also in den Fällen die vier bedeutungstragenden Schriftzeichen, vorhergesagt werden. Dies weist darauf hin, dass die These, ob die Konstruktionsbedeutung der idiomati‐ schen Konstruktion tatsächlich nicht von der semantischen Zusammensetzung der Teilkonstruktionen ableitbar ist, in der konkreten Analyse gründlicher überprüft werden muss. Zumindest gibt es in der vorliegenden Untersuchung viele chinesische Fälle, deren gesamte Konstruktionsbedeutung sich aus den Teilbedeutungen sinnvoll erschließbar ist. In Goldbergs Konstruktionsdefinition sind sämtliche linguistische Einheiten inbegriffen, egal ob es sich um Morpheme, Wörter, Idiome, einfache oder komplexe Sätze/ Satzstrukturen handelt. Gemäß dieser Ansicht ist festzuhalten: 1. Konstruktionen sind der grundlegende und allgemeine Baustein in der natürlichen Sprache; 2. Konstruktionen sind der Untersuchungsgegenstand der Konstruktions‐ grammatik, der Semantik und Syntax gleichermaßen miteinschließt. Dass Konstruktionen als grundlegendes und allgemeines Strukturformat einer natürlichen Sprache angenommen werden, hat den Vorteil gegenüber der generativen Erklärung, dass keine vorher existenten Mechanismen oder Regeln vorprogrammiert bzw. einbezogen werden müssen, um die scheinbar margi‐ nalen Bereiche der Grammatik, wie Redewendungen, Idiome, Phraseologismen, aussagekräftig erklären zu können. Außerdem profitiert Goldberg sehr von den frame-semantischen Gedanken von Fillmore (vgl. Kap. 2.3) und überträgt diese frame-semantische Idee auf ihren Konstruktionsbegriff. Die Bedeutung eines Verbs ist immer ein Netzwerk, das aus unterschiedlichen semantischen Rahmen von den jeweiligen Einzelaspekten 3.2 Dimension 1: Konstruktionsdefinitionen nach Goldberg 69 <?page no="70"?> besteht. Anders ausgedrückt umfasst das semantische Wissen eines Verbs auch Syntaktisches, das beispielweise das Auftauchen der Normen, Adjektive, Adverbien oder Appositionen regulieren sowie beschränken kann. Ausgehend von dem relevanten Deutungsrahmen eines Verbs kann man auch die pragmati‐ sche Motiviertheit einigermaßen erschließen. Zwei interessante Beispiele dafür stammen aus ihrem Werk von 1995 (Goldberg 1995: 29): (1) Joe walked into the room slowly. (2) *Joe careened into the room slowly. Der einzige Unterschied zwischen den oben gelisteten Sätzen besteht in der Verbauswahl. In Satz (1) aktiviert das Verb einen Bewegungsrahmen, in dem sich ein Subjekt prototypischerweise fortbewegt. Wie sich das Subjekt fortbewegt, ist in diesem Deutungsrahmen nicht vorherbestimmt. Das heißt, das Subjekt kann sich langsam, schnell, barfuß, geradeaus oder am Stock fortbewegen. Daher wird die langsame Fortbewegung in dem Deutungsrahmen des Verbs „walk“ einge‐ schlossen. Das ergänzende Adverb „slowly“ ist semantisch kohärent mit dem potenziellen Deutungsrahmen des Verbs. Das Verb „careen“ (also im Deutschen „rasen“) im zweiten Beispielsatz lässt nur einen schnellen Bewegungsrahmen zu. Daher wäre ein langsames Rasen logisch und semantisch nicht möglich, weil eine entsprechende adverbiale Angabe „slowly“ den Deutungsrahmen des Verbs „careen“ überschreitet. Zum Beispiel können die Chengyu-Konstruktionen im Chinesischen mit der Struktur 反 XXX (gegen + X + X + X) die Bedeutung zum Ausdruck bringen, dass man etwas gegen etwas bzw. jemanden tut. Die Teilkonstruktionen topologisch hinten können üblicherweise von den gegensätzlichen Konzepten der Teilkonst‐ ruktionen vorne besetzt (z. B. Kritik annehmen - Kritik nicht akzeptieren, Gast - Gastgeber, mit Gefühl - ohne Gefühl, beißen - zurückbeißen). Die Konstruktionsbedeutung beschränkt dann die Besetzung der leeren Stellen in der Konstruktion. (1) 反唇相讥 (gegen + Lippen + gegen + verlachen): bedeutet, dass man eine Kritik nicht akzeptieren kann und dagegen die anderen verlachen bzw. kritisieren. (2) 反客为主 (gegen + Gast + werden + Gastgeber): Die Gäste werden Gastgeber. Bedeutet, dass die normale Beziehung zwischen Gast und Gastgeber verletzt wird. Es kann auch bedeuten, dass man aus einer passiven Situation aktiv wird. 70 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="71"?> (3) 反面无情 (gegen + Seite + ohne + Gefühl): Man behandelt die Mitmenschen plötzlich schlecht und denkt nicht an die frühere Freundschaft. (4) 反咬一口 (gegen + beißen + eins + Mund): bedeutet, dass diejenigen, die sich an einer bösen Tat beteiligen, nun ihre Mittäter verraten bzw. die Opfer durch eine bewusst falsche Anklage ins Unglück stürzen. Zudem beobachtet Goldberg auch, dass Konstruktionen grundsätzlich polysem sind. Die involvierten semantischen Einheiten können am besten durch eine Kategorie der relevanten Bedeutungen beschrieben werden (vgl. Goldberg 1995: 33). Auch unter den relevanten Bedeutungen ist eine davon eine Prototypische und die anderen Bedeutungen entwickeln sich aus dieser zentralen Bedeutung. Die Doppelobjekt-Konstruktion ist beispielsweise ein Fall der polysemischen Konstruktion. Um dies besser zu beleuchten, betrachten wir die folgenden Sätze aus ihrem Buch (vgl. Goldberg 1995: 32-33): (1) Chris baked Jan a cake. (2) Bill promised his son a car. (3) Joe allowed Billy a popsicle. (4) Joe refused Bob a raise in salary. Alle hier zitierten Sätze gehören zu einer Doppelobjekt-Konstruktion im Engli‐ schen, die typischerweise einen Transfer dokumentiert. Jedoch sind die Verben in jedem Satz unterschiedlich zugeordnet, was dazu führt, dass die Implikationen jedes Satzes durchaus anders dargelegt werden können. In der vorliegenden Untersuchung sind zahlreiche Konstruktionen mit der Struktur [NP] + [PP] + [Bewegungsverb] im Deutschen zu beobachten, die grundsätzlich eine Zustands‐ änderung der betroffenen NP zur Sprache bringen können. Jedoch müssen die konkrete Konstruktionsbedeutung sowie die Implikationen der Einzelkonstruktion in den konkretisierten pragmatischen Kontexten ausgelegt werden: jemandem in die Hände kommen: durch Zufall von jmdm. gefunden werden jemandem unter die Augen treten: sich bei jmdm. sehen lassen jemanden aus der Bahn werfen: jmdn. von seiner gewohnten Lebensweise abbringen, aus dem seelischen Gleichgewicht bringen etwas über den Haufen schmeißen: etw. [Geplantes] umstoßen, vereiteln jemanden unter Druck setzen: jmdn. bedrängen 3.2 Dimension 1: Konstruktionsdefinitionen nach Goldberg 71 <?page no="72"?> etwas auf den Punkt bringen: etw. präzise zum Ausdruck bringen jemanden auf die Probe stellen: jmds. Charakterfestigkeit, Fähigkeit o. Ä. prüfen jemandem durch die Lappen gehen: jmdm. entkommen, entgehen Außerdem teilt die Konstruktionsgrammatik, als eine in der kognitiven Lingu‐ istik angesiedelte Theorie, natürlich auch die Embodied-Hypothese. Das heißt, sensomotorische Erfahrungen, die aus dem menschlichen Alltagsleben stammen, können Bedeutungen der Einzelelemente in einer Konstruktion motivieren und somit die Bedeutungsperspektive der Gesamtkonstruktion beeinflussen. Ein il‐ lustratives Beispiel dafür ist die Studie von Goldberg (1995: 70-76), in der sie argumentiert, dass die „caused-motion“-Konstruktion (z. B. Pat sneezed the napkin off the table) auf die alltägliche Erfahrung zurückgeht, dass man verantwortlich für die mögliche Bewegung eines Gegenstandes sein kann. [Konstruktion 2 : ] Any linguistic pattern is recognized as a construction as long as some aspect of its form or function is not strictly predictable from its component parts or from other constructions recognized to exist. In addition, patterns are stored as constructions even if they are fully predictable as long as they occur with sufficient frequency. (Goldberg 2006: 5) Goldberg erweitert den ersten Konstruktionsbegriff in wesentlichem Ausmaß. Sie dokumentiert die Schwäche des ersten Definitionsversuchs und ihre selbst‐ kritische Idee wie folgt: Later, I recognized that this definition was too narrow. Our knowledge of language comprises a network of constructions, and we clearly know and remember conventi‐ onal expressions even if they are in no way idiosyncratic. (Goldberg 2019: 7) In ihrer zweiten Konstruktionsdefinition fügt sie einen weiteren wichtigen Aspekt zur Konstruktion hinzu, nämlich die Erlernbarkeit der sprachlichen Konstruk‐ tionen. Die Existenz einer Konstruktion kann nur durch häufiges Erscheinen und aktives Erwerben begründet werden, was dem Ansatz des angeborenen Mechanismus nach Chomsky gegenübersteht. Dass die kognitive Konstruktions‐ grammatik grundsätzlich eine Position gegen den generativen Ansatz einnimmt, ist soweit klar. Allerdings erinnert die Form-Bedeutung-Dichotomie an das ein‐ flussreiche bilaterale Zeichenmodell von Ferdinand de Saussure. Nach dem euro‐ päischen Strukturalisten wird der Zeichenbegriff als eine Zusammensetzung von Ausdrucksseite (Form) und Inhaltsseite (Bedeutung) konzeptualisiert. Vergleicht man die semiotische Auseinandersetzung von de Saussure mit der Konstruktions‐ definition Goldberg’s, stellt sich automatisch folgende Frage: Geht es nach dem Verständnis der Konstruktionsgrammatikerin auch um eine ähnliche bilaterale 72 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="73"?> Relation wie de Saussure? Diese Frage lässt sich - so viel vorweg - negativ beantworten. Das konstruktionsgrammatische Programm von Goldberg setzt, wie andere kognitive Konstruktionsgrammatiken (z. B. von Langacker, Kay & Lakoff), ein breit gefächertes Verständnis von Form und Bedeutung voraus. Die semiotische Konzeption de Saussure’s beschränkt sich mehr auf die Wort- und Satzebene. Je‐ doch werden in der konstruktionsgrammatischen Konzeption syntaktische Eigen‐ schaften (z.-B. Pluralmorpheme -s) mitberücksichtigt. Zudem werden komplexere syntaktische Einheiten (z.-B. Passivkonstruktion, Doppel-Objekt-Konstruktion) in das zentrale Blickfeld der Konstruktionsdefinition gerückt. In der konstruktions‐ grammatischen Dichotomie werden folglich sowohl die konkreten grammatischen Strukturen (also mit konkreten Teilelementen) und die abstrakten grammatischen Strukturen als bedeutungstragende Einheiten betrachtet. Gestützt auf einer explorativen Studie zu der e-Dativ-Konstruktion im Deut‐ schen weist Radden (2021) nach, dass diese Konstruktion im Gegenwartsdeut‐ schen noch gebräuchlich ist und nicht nur in erstarrten Phraseologismen auftritt. Seine Studie bezieht sich auf eine synchrone Untersuchung der beiden Präpositionalkonstruktionen im Kreis(e) + X und am Rand(e) + X. Seine systema‐ tische Korpusuntersuchung beleuchtet, dass die e-Dativ-Konstruktion im Kreise + X „mit starken positiv-emotionalen Bedeutungen“ assoziiert wird (im Kreise der Freunde) (S. 63). Diese Studie beweist, dass das Morphem wie -e ein wichtiger Bestandteil einer Konstruktion darstellen kann und die abstrakten Morpheme im Deutschen durchaus Konstruktionsbedeutungen mittragen können. Von daher soll dies in der empirischen Untersuchung berücksichtigt werden. Darüber hinaus ist nennenswert, dass Goldberg auch den soziopragmati‐ schen Aspekt der Konstruktionskonzeption hinzufügt. Eine Konstruktion kann aufgrund soziopragmatischer Motivationen durchaus unterschiedliche semanti‐ sche sowie diskursive Funktionen erfüllen und damit zusätzliche Informationen hinter der Konstruktion liefern. In ihrem Aufsatz (Goldberg 2003: 221) sind folgende Beispielsätze zu finden: (1) Liza bought a book for Zach. (2) Liza bought Zach a book. Hier geht es um zwei Variationen der Doppelobjekt-Konstruktion, nämlich „Subjekt-Verb-Objekt 1 -Objekt 2 “. Diese Doppelobjekt-Konstruktion evoziert einen Deutungsrahmen von Transportation. Das bedeutet, etwas wird von A nach B transportiert und in dieser Konstruktion sind immer ein Agent, der etwas gibt 3.2 Dimension 1: Konstruktionsdefinitionen nach Goldberg 73 <?page no="74"?> bzw. transportiert, und ein Rezipient, der etwas bekommt, vorhanden. Obwohl die beiden Variationen fast dieselben Gedanken vermitteln, argumentiert Goldberg, dass sie aber im englischen Kontext unterschiedlich paraphrasiert werden können. Der Satz (1) mit der Präpositionalphrase for Zach könnte bedeuten, dass Liza ein Buch für eine dritte Partei gekauft hat, weil Zach wahrscheinlich zu beschäftigt ist, um den Kauf des Buchs selbst tätigen zu können. Der Satz (2) bringt ihrer Meinung nach lediglich die Intention zum Ausdruck, dass Liza Zach das Buch bringen wollte. Beide Sätze teilen eine gemeinsame Basiskonstruktion, die Doppelobjekt-Konstruktion. Der erste Beispielsatz hat lediglich eine Präpositionalphrase mehr als der zweite (eigentlich nur ein Wort mehr). Jedoch können die minimalen Unterschiede innerhalb einer Konstruk‐ tion diverse semantische Auslegungsmöglichkeiten auslösen, je nach Einbezug der soziopragmatischen Parameter. [Konstruktion 3 : ] Constructions are understood to be emergent clusters of lossy memory traces that are aligned within our high-(hyper! ) dimensional conceptual space on the basis of shared form, function, and contextual dimensions. (Goldberg 2019: 7) Der dritte Definitionsversuch ist im aktuellen Werk Goldbergs nachzulesen. Dieser Versuch inkludiert alle Überlegungen aus ihrem Werk von 2006 und erweitert diese unter Berücksichtigung des menschlichen Gedächtnisses, feh‐ lergesteuerten Lernens sowie Kategorisierens. Die wesentlichen Verständnisse zur Sprache werden in dieser Monographie unter dem sogenannten CENCE ME-Prinzip zusammengefasst: A. Speakers balance the need to be Expressive and Efficient while conforming to the conventions of their speech communities. B. Our Memory is vast but imperfect: memory traces are retained but partially abstract (“lossy”). C. Lossy memories are aligned when they share relevant aspects of form and function, resulting in overlapping, emergent clusters of representations: Constructions. D. New information is related to old information, resulting in a rich network of constructions. E. During production, multiple constructions are activated and Compete with one another to express our intended message. F. During comprehension, mismatches between what is expected and what is wit‐ nessed fine-tune our network of learned constructions via Error-driven learning. (Hervorhebung im Original, Goldberg 2019: 6) In dem CENCE ME -Prinzip schlägt sich eine gebrauchsbasierte Sichtweise der Sprache nieder, die die Kognitive Konstruktionsgrammatik als zentralen 74 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="75"?> theoretischen Rahmen verwendet. Zudem werden in diesem Prinzip neben funktionalen sprachlichen Aspekten psychologische Erkenntnisse über die Natur des Spracherwerbs sowie des Gedächtnisses miteinbezogen. Man sieht deutlich, dass die erworbenen Paare von Form und Funktion als grammatische Konstruktionen betrachtet werden. Das von Goldberg bezeichnete CENCE ME-Prinzip zielt nicht nur darauf ab, die bisherige Entwicklung in der Konstruk‐ tionsgrammatik kritisch zu hinterfragen, sondern auch dieses grammatische Paradigma in den benachbarten Fachgebieten neu einzuordnen. Dieses Prinzip dient auch dazu, die einleitende Frage in ihrem Buch zu beantworten: „When, why, and how native speakers are sometimes creative with langauge and yet at other times much more conservative? “ (Goldberg 2019: 1). Sie beobachtet zudem, dass selbst bei hochproduktiven Konstruktionen bestimmte Kombinationen von Verben und syntaktischen Kontexten einfach nicht übereinstimmen. Ihrer Ansicht nach können die folgenden zwei Faktoren eine zufriedenstellende Antwort auf ein solches Phänomen liefern: coverage (Übersetzung von BZ: Überschneidung) und statistical preemption (Übersetzung von BZ: statistische Präferenz). Das Konzept coverage (Überschneidung) bezieht sich auf die wechselseitige Ähnlichkeit, die verschiedene Instanziierungen einer Konstruktion aufweisen. Das bedeutet zugleich, dass Konstruktionen mit einer ungleichmäßigeren Überschneidung aus mehreren Instanz-Clustern bestehen können, die sich von Cluster zu Cluster erheblich unterscheiden. Die Diskussion über das Überscheidungskonzept beginnt mit einer empirischen Beobachtung aus der Kognitionspsychologie, die besagt, dass das menschliche Gedächtnis ziemlich assoziativ ist. Die Einzelsequenzen des menschlichen Gedächtnisses sind nicht in einen separaten Modus „eingekapselt“ (Goldberg 2019: 52), bilden aber ein miteinander eng verbundenes Netzwerk. Das neue Wissen ist also dement‐ sprechend mit dem zuvor existierenden Wissen integrierbar. Darüber hinaus greift Goldberg die Idee von Bybee (2010) auf und geht ebenfalls davon aus, dass Sprecher mit ziemlich detaillierten Gedächtnissen in Hinblick auf den Sprachgebrauch arbeiten, die ständig aktualisiert werden. Neue Instanzen des Sprachgebrauchs beziehen sich daher auf die bestehenden Cluster sprachlicher Gedächtnisse, so dass Kategorien gebildet werden und Verallgemeinerungen entstehen. Die Konstruktionen, die als ähnlich wie die zuvor verarbeiteten Konstruktionen wahrgenommen werden, werden als Mitglieder der Kategorie weiterverarbeitet. Natürlich gibt es keine identischen Konstruktionen. Daher bilden die bereits eingespeicherten Instanzen des Sprachgebrauchs eine Kate‐ gorie, die eine Art Varietät über die Dimensionen der morphosyntaktischen Struktur, der Bedeutung sowie des Kontexts aufweist. Diese dimensionalen 3.2 Dimension 1: Konstruktionsdefinitionen nach Goldberg 75 <?page no="76"?> Variationen werden bei Goldberg als „hyper-dimensional conceptual space“ (Goldberg 2019: 73) bezeichnet. Vereinfacht gesagt beinhalten Wortbedeutungen eine komplexe relationale Struktur und entsprechen nicht einfach einer Liste der bisher anerkannten semantischen Merkmale (vgl. Goldberg 2019: 17). Daher argumentiert sie, dass die Produktivität einer sprachlichen Konstruktion maß‐ geblich von dem Überschneidungsgrad beeinflusst wird. Das Konzept statistical preemption (statistische Präferenz) bezeichnet den Wettbewerb zwischen Konstruktionen. Genauer gesagt kann beispielweise eine stark verfestigte Konstruktion Sprecher daran hindern, eine alternative Konstruktion mit derselben Bedeutung zu produzieren. Es ist ersichtlich, dass Sprecher Konstruktionen aus Sätzen, die hinsichtlich ihrer Bedeutung ver‐ gleichbar sind, grundsätzlich generalisieren können. Man kann also beim kon‐ kreten Sprachgebrauch beispielsweise zwischen einer Ditransitiv-Konstruktion (Johnson brought Marry a cake) oder einer präpositionellen Dativ-Konstruk‐ tion (Johnson brought a cake to Marry) auswählen, wenn man eine ähnliche semantische Botschaft vermitteln will. Das bedeutet, dass zwischen den beiden Auswahlmöglichkeiten der Konstruktionen in diesem Sinne ein Wettbewerb entsteht. Die Entscheidung über die Auswahl hängt dementsprechend davon ab, welchen Aspekt man hervorheben möchte (die Bewegungsrichtung, die Handlungsaktion oder der Agent/ Patient) und wie stark eine der beiden Kon‐ struktionen in der englischsprachigen Sprachgemeinschaft verfestigt ist. Das hier von Goldberg angesprochene Phänomen können auch in vielen chinesi‐ schen Chengyu-Konstruktionen und deutschen idiomatischen Konstruktionen aus der vorliegenden Studie beobachtet werden (vgl. Kap. 5.3 und 5.4). Bemerkenswert ist, dass Goldberg auch den individuellen Sprachgebrauchs‐ kontext nochmals bekräftigt. Aus der Gedächtnisforschung argumentiert sie, dass „das Gedächtnis für Wörter nicht nur geräumig, sondern auch mit Kon‐ texten verbunden ist, wo die Wörter erlebt werden“ (Übersetzung von BZ, Goldberg 2019: 15). Sie unterscheidet beispielweise die Verben in der englischen Sprache, die die Thematik „Schreiben“ betreffen: „scribble“, „scrawl“, „sign“, „endorse“ und „autograph“. Beim Spracherwerb werden die framesemantisch relevanten Gebrauchssituationen ebenfalls mitgespeichert: Beispielsweise kann eine Regierungserklärung nicht von einem Superstar kunstvoll signiert oder von einem gebrechlichen Menschen zittrig gekrakelt werden. Bis jetzt wird das Konzept Konstruktion anhand von drei verschiedenen Definitionen nach Goldberg und vielen chinesischen und deutschen Beispielen aus der vorliegenden Untersuchung andiskutiert. Nun werden die wichtigen gewonnenen und für die Analyse relevanten Aspekte in der nachstehenden Tabelle in einem Format der Thesen zusammengefasst: 76 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="77"?> Dimension 1: Konstruktionsdefinition nach Goldberg • Konstruktionen befinden sich in einem organisierten und produktiven Netzwerk, das sämtliche Spracherkenntnisse und Weltwissen der Menschen repräsentiert. • Konstruktionen sind Form-Bedeutungspaare, deren Bedeutungen aus den vorhan‐ denen etablierten sprachlichen Komponenten entweder ableitbar oder nicht ableitbar sind. Dabei spielen die metaphorische Motivation und die Prinzipien der Ikonizität eine wichtige Rolle. • Konstruktion umfasst alle möglichen linguistischen Einheiten (z. B. Morpheme, Wörter, Idiome, Satzstruktur, einfache und komplexe Sätze). • Konstruktion ist immer in einem spezifischen Deutungsrahmen eingebettet und die Interpretation einer Konstruktion verlangt deshalb immer die Reaktivierung dieses Deutungsrahmens. • Konstruktion ist grundsätzlich polysem. • Konstruktionen mit derselben Bedeutung können unterschiedlich häufig ver‐ wendet werden. Solche Konstruktionen befinden sich in einem sprachlichen Wettbewerb. • Das neue Wissen in einer Konstruktion kann mit dem zuvor existierenden Wissen integrieren. Tab. 10: Dimension 1 - Konstruktionsdefinition nach Goldberg 3.3 Dimension 2: Struktur der Konstruktion Unterschiedliche Konstruktionen können eine gemeinsame Struktur aufweisen. Beispielweise sind die folgenden idiomatischen Konstruktionen mit dem Bewe‐ gungsverb halten mit mehr als 20 Belegen in den Referenz- und Zeitungskorpora von DWDS zu nennen (Die Zahl in Klammern steht für die Anzahl der Belege in den genannten Korpora): 1. jemandem/ sich vor Augen halten (1206): jmdm., sich etw. klarmachen 2. nach jemandem/ etwas Ausschau halten (1698): nach jmdm., etw. ausschauen 3. mit etwas (nicht) hinter dem/ hinterm Berg halten (68): etw. Wesentliches [nicht] verschweigen 4. jemanden zum Besten halten (21): jmdn. necken, anführen 5. etwas in Gang halten (423): verhindern, dass etwas zum Stillstand kommt 6. über jemanden Gericht halten (45): 1) Über jmdn. bei Gericht verhandeln: 2) jmds. Haltung, Tun, Ansichten verurteilen 7. Hand auf etwas halten (49): über etw. verfügen 8. sich im Hintergrund halten (40): sich zurückhalten; nicht öffentlich in Erscheinung treten 9. sich im Rahmen halten (77): ein angemessenes Maß nicht überschreiten 3.3 Dimension 2: Struktur der Konstruktion 77 <?page no="78"?> 10. etwas/ jemanden in Reserve halten (96): etw., jmdn. für den Bedarfsfall zur Verfügung haben, bereithalten 11. jemanden über die Taufe halten (24): bei jmds. Taufe Pate sein 12. jemanden auf Trab halten (217): jmdm. ständig Arbeit machen; jmdn. nicht zur Ruhe kommen lassen 13. unter Verschluss halten (609): eingeschlossen, nicht zugänglich [aufbewahren] 14. jemandem Vorträge halten (1472): lange und wiederholt auf eine Person einreden, um sie von etwas zu überzeugen 15. jemanden über Wasser halten (1064): jmds., seine eigene Existenz [in wirtschaftlicher Hinsicht] erhalten Die oben aufgeführten 15 idiomatische Konstruktionen lassen sich in verschie‐ dene Konstruktionsstrukturen eingliedern: Struktur Konstruktion [NP] + [PP] + [halten] jemandem/ sich vor Augen halten, jemanden zum Besten halten, etwas in Gang halten, Hand auf etwas halten, etwas/ jemanden in Reserve halten, jemanden über die Taufe halten, jemanden auf Trab halten, jemanden über Wasser halten [PP] + [PP] + [halten] mit etwas (nicht) hinter dem/ hinterm Berg halten [PP] + [NP] + [halten] über jemanden Gericht halten, nach jemandem/ etwas Ausschau halten [PP] + [sich halten] sich im Hintergrund halten, sich im Rahmen halten [PP] + [halten] unter Verschluss halten [Objekt 1 ] + [Objekt 2 ] + [halten] jemandem Vorträge halten Tab. 11: Die sechs Strukturen der idiomatischen Konstruktionen mit halten Die linke Spalte der Tabelle zeigt auf, dass die idiomatischen Konstruktionen mit halten eine stabile Stelle besetzen (also die Stelle für das Bewegungsverb halten). Die anderen Stellen werden in der Konstruktionsgrammatik als variable Stellen genannt, die unterschiedlich besetzt werden können. So ist zum Beispiel wichtig zu analysieren, welche Stellen von welchen Fillern besetzt werden können oder welche Filler prototypische Beispiele für welche Stellen sind. Bei der Abstrahierung der konkreten Kategorien der Strukturen ist ersicht‐ lich, dass verschiedene idiomatische Konstruktionen, die auf einer abstrakteren Ebene unter ähnlichen „Makro-Konstruktionen“ zusammengefasst werden 78 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="79"?> können. Trotz der unterschiedlichen theoretischen Ansätze innerhalb der Kon‐ struktionsgrammatik kommen sie zu einem Konsens, dass sich der semantische Aspekt von Konstruktionen auf der Grundlage der Framesemantik von Fill‐ more und der Kognitiven Grammatik nach Langacker beschreiben lässt. Somit wird die traditionelle Trennung von Semantik und Syntax oder sprachlichem Wissen und enzyklopädischem Wissen aufgehoben. Die vorher getrennten zwei Bereiche werden gemeinsam als eine holistische Entität der Bedeutung eines Sprachzeichens aufgefasst. Ob diese framesemantische Grundlegung der Konstruktionsgrammatik tatsächlich angemessen ist, bedarf nach der Meinung von Welke (2021) noch gründlicher Überlegung. Er weist zum Beispiel darauf hin, dass ein klar modulares Konzept der Trennung von sprachlicher Bedeutung und Weltwissen in den früheren Studien von Goldberg (1995) entwickelt wird. Auch die Analyse von Boas (2003) bezieht sich grundsätzlich auf ein modulares Konzept. Es ist auch in der vorliegenden Untersuchung ersichtlich, dass die komplette Abkopplung von Semantik und Syntax sowie der absolute Verzicht auf ein modulares Konzept zumindest im Moment der Konstruktionsanalyse nicht zu realisieren sind. Diese Grundlegung soll daher nicht als die theoretische Prämisse der Konstruktionsgrammatik angesehen werden. In diesem Sinne schließe ich mich an Welke (2021) an: Dennoch meine ich generell, dass die in der Framesemantik vorgenommene Verei‐ nigung von sprachlichem Wissen und Weltwissen weder die Differenziertheit des Kognitiven (Konzeptuellen) noch die Rolle von Sprache (und Grammatik) in der Kognition erfassen kann. Die Sprachwissenschaft sollte ihren Beitrag zur Erforschung der menschlichen Kognition nicht dadurch versuchen zu leisten, dass sie undifferen‐ ziert auf die Gesamtheit des Kognitiven zugreift - obwohl oder gerade weil die Sprache neben der Perzeption der entscheidende Schlüssel zur Welt ist -, sondern dadurch, dass sie von dem ausgeht, was als Sprache unmittelbar empirisch fassbar ist, nämlich von der sprachlichen Form, der Form sprachlicher Zeichen und ihrer Kombination in Sätzen, d. h. im Kern von der syntaktischen Struktur und von Zeichen und Konstruktionen als spezifisch sprachlichen Abstraktionen aus der Welt. (Welke 2021: 411-412) Besonders in der Analyse der chinesischen Konstruktionen wird auf die Vorstel‐ lung der festgelegten Wortarten-Kategorien verzichtet, da Nomen und Verben im Chinesischen anders ausgedrückt werden als im Englischen oder Deutschen. Im Folgenden möchte ich mittels einer neuen syntaktischen Studie zu Nega‐ tionstypen sowie Diskrepanzen zwischen Nomen und Verb im Englischen und Chinesischen (Shen 2019) nachweisen, dass die Vorstellung der festgelegten 3.3 Dimension 2: Struktur der Konstruktion 79 <?page no="80"?> Wortarten-Kategorien als deskriptive Instrumente für eine Sprachanalyse aus einer typologischen Perspektive unabdingbar aufzugeben ist. Nach Shen (2019) unterscheidet sich die Negation im Englischen durch zweierlei: die Negation des Nomens (z. B. No teachers went on strike) oder die Negation des Verbs (z. B. She didn’t have any idea what I meant). Dieser Negationsunterschied könne seiner Ansicht nach auf die Tatsache zurückführen sein, dass Nomen und Verben im Englischen zwei separate grammatische Kategorien besetzen (vgl. Shen 2019: 123-125). Jedoch gibt es im Chinesischen keine äquivalenten Negationspartikel oder Negationsartikel wie im Englischen. Die Unterscheidung zwischen der Negation des Nomens und der Negation des Verbs ist im Chinesischen zweitrangig, wobei die vorrangige Unterscheidung zwischen indikativischer und nicht-indikativischer Negation festzusetzen ist, weil Nomen und Verben im Chinesischen nicht trennscharf voneinander un‐ terschieden werden können. Shen (2019) weist anhand vieler authentischer Sprachdaten nach, dass Verben im Chinesischen eine Subkategorie der Nomina bilden. Im Wortlaut heißt es: The relation between nouns and verbs in English is comparable to the relation between male and female, while in Chinese it is analogous to the one between man and woman. In this language, verbs constitute a sub-category of nouns. On the one hand, nouns and verbs in Chinese are indistinguishable because all verbs are nouns; on the other hand, they are distinguishable because not all nouns are verbs. (Kursivdruck im Original, Shen 2019: 122) Laut einer diachronen Studie (Lü 1942: 234-242) über das Alt-Chinesische ist diese Unterscheidung zwischen indikativischer und nicht-indikativischer Negation bereits in der Zhou- und Qin-Periode (770-206 BC) vorhanden. Die indikativische Negation wird durch bu ( 不 ) oder fu ( 弗 ) realisiert, während die nicht-indikativische Negation durch Wörter wie wu ( 毋,无 ) oder wu ( 勿 ) gekennzeichnet ist. In der modernen chinesischen Sprache ist diese Unterschei‐ dung immer noch zu beobachten, besonders wenn es sich um eine Negation von you ( 有 ) oder shi ( 是 ) handelt. Die Studie von Shen (2019) zeigt, dass die Dichotomie des Nomens sowie des Verbs als unterscheidende Merkmale bei der Ermittlung der Negations‐ typen im Chinesischen anscheinend nicht hilfreich sind, weil Nomen und Verb im Chinesischen nicht zwei separate grammatische Kategorien abbilden. Dies bestätigt auch Crofts Idee (vgl. Croft 2001), dass die Brauchbarkeit der Wortart-Kategorien kritisch betrachtet werden solle. Anders gesagt bedeutet dies, dass die Wortarten nicht abstrakte sprachübergreifende Kategorien sind, sondern Bestandteile von Konstruktionen. Falls man die Wortart-Kategorien als 80 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="81"?> Bestandteile von sprachlichen Konstruktionen ansieht, dann ist es in diesem Kontext interessant zu hinterfragen, in was für Beziehungen die Kategorien zueinanderstehen. Denn auf diese Art und Weise können die „Wortarten“ nicht als eine vorprogrammierte grammatische Kategorie festgelegt werden, sondern müssen je nach der konkreten semantischen Beziehung zu anderen Kategorien in einem (Ko-)Erscheinungskontext dynamisch bestimmt werden. Einen ähnlichen Gedanken findet man schon bei Langacker (2008): […] what determines an expression’s grammatical category is not its overall conceptual concept, but the nature of its profile in particular. It stands no reason that the profile should have a determining role in categorization, for it is what an expression designates; the profile is the focus of attention within the context evoked. The content of bat, for example, includes the conception of someone swinging a long, thin piece of wood in order to hit a ball. This domain is central to its meaning, whether it functions as a noun (He uses a heavy bat) or as a verb (It’s your turn to bat). Its categorization as a noun or as a verb depends on whether it profiles the wooden implement or the action of using it. (Hervorhebung sowie Kursivdruck im Original, Langacker 2008: 98) Ähnlich wie das letzte Unterkapitel werden die durch die funktionale theoreti‐ sche Reflexion gewonnenen Thesen in der folgenden Tabelle zusammengefasst: Dimension 2: Struktur der Konstruktion • Unterschiedliche Konstruktionen teilen ein gemeinsames strukturelles Muster. • Die strukturelle Musterhaftigkeit muss aus den konkreten Konstruktionen abstra‐ hiert werden. • In einer Konstruktion gibt es stabile und variable Stellen. • Die Analyse der Besetzung der variablen Stellen sowie die Analyse der Typikalität der Besetzungen sollen berücksichtigt werden. • Die framesemantische Grundlegung der Konstruktionsgrammatik ist nicht ange‐ messen. • Die absolute Abkopplung von Semantik und Syntax ist zumindest im Moment der Analyse einer Konstruktion nicht realisierbar. • Ein modulares Konzept ist bei der konkreten Analyse einer Konstruktion opera‐ tionalisierbar. • Die vorherbestimmten und sprachübergreifenden Wortart-Kategorien können in vielen Fällen die syntaktische Analyse im Chinesischen nur erschweren. Daher verlangt die Analyse im Chinesischen einen rollensemantischen Aspekt, der in der dritten Dimension diskutiert wird (vgl. Kap. 3.4) Tab. 12: Dimension 2 - Struktur der Konstruktion 3.3 Dimension 2: Struktur der Konstruktion 81 <?page no="82"?> 3.4 Dimension 3: Bedeutung der Konstruktion Das vorliegende Kapitel behandelt zwei wichtige theoretische Aspekte hinsicht‐ lich der Konstruktionsbedeutung. Der erste Aspekt betrifft die semantische Motiviertheit einer Konstruktion (vgl. Kap. 3.4.1). Der zweite Aspekt bezieht sich auf den Streit zwischen der denotativen Semantik und der signifikanten Semantik in Bezug auf die Bestimmung der semantischen Rollen. Dabei wird das Konzept der doppelten semantischen Rollen der Chengyu-Konstruktion im Chinesischen als eine auffällige Eigenschaft der rollensemantischen Verteilung in der chinesischen idiomatischen Konstruktion eingeführt (vgl. Kap. 3.4.2). 3.4.1 Semantische Motiviertheit der Konstruktion als Bedeutung-Form-Paar Die bis jetzt vorgestellte einflussreiche Definition zur Konstruktion im Sinne von Goldberg, nämlich, Konstruktionen als Form-Bedeutungspaare oder Form-Funktionspaare zu definieren, scheint eine explizite oder intendierte Reihenfolge zwischen Form bzw. Bedeutung/ Funktion angesetzt zu haben, da man von Form-Bedeutungspaar, aber nicht von Bedeutung-Form-Paar spricht. Verleiht die Form einer sprachlichen Konstruktion mehr Motiviertheit als die Bedeutung? Muss eine Konstruktion immer als ein Form-Bedeutungspaar statt als Bedeutung-Form-Paar erscheinen? Spielt die Form in einer sprachlichen Konstruktion eine höherwertige Rolle als die Bedeutung? Mit solchen Fragen beschäftigt sich zum Beispiel Lasch aus der Perspektive der diachronen Konstruktionsgrammatik. Besonders in zwei Aufsätzen (Lasch 2022, 2023) argumentiert er, dass sich die Konstruktionsgrammatik als eine In‐ haltsgrammatik versteht und sprachliche Konstruktionen als Bedeutungs-Form‐ paare semantisch motiviert sind und Frames transzendieren. In seinem ersten Beitrag (Lasch 2022) beschäftigt er sich mit der Negation im Konstruktionsnetzwerk des Deutschen. Er betrachtet die Negation [NEG[KxN]] als eine Modalitätskonstruktion mit zwei Slots, die schematische Komplexität aufweisen. Einer der beiden Slots ist durch einen besonderen Geltungsmodifi‐ kator NEG spezifiziert, oder vereinfacht gesagt, einen Negationsmarker. Der andere Slot wird durch eine Konstruktion [KxN] niedrigen Schematizitätsgrads besetzt. Durch dieses Beschreibungsmodell für eine Negationskonstruktion im Deutschen schlägt er vor, von „Konstruktionen als Bedeutungs-Form-Paaren zu sprechen“ (Lasch 2023: 229). In dem anderen Beitrag (Lasch 2023) werden die nonagentiven Konstruktionen (z. B. haben + VVPP , würde + VVINF , werden + VVINF ) zum Untersuchungsgegenstand gemacht. Das in der gegenwärtigen 82 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="83"?> deutschen Sprache auffällig selten realisierte analytische Perfekt wird aus einer historisch-linguistischen Perspektive mithilfe von ausgewählten Sprach‐ daten von 1600 bis 1900 aus dem Korpus des Deutschen Textarchivs ( DTA ) überblicksartig überprüft. Seine korpusbasierte diachrone Studie zeigt, dass Sprachbenutzer Konstruktionen der ASKRIPTION mit sein nicht in erwartbarer Vorkommenshäufigkeit in das Präsensperfekt mit sein einbetten, weil durch die Fokussierung auf eine Eigenschaftszuweisung ohne implizierten Vorgang durch die Konstruktionsbedeutung des Partizips gewesen die kognitive Perspektivität der ASKRIPTION in Frage gestellt wird. (Lasch 2023: 244) Dementsprechend ist in seiner Studie zu beobachten, dass Konstruktionen der KOMMUTATION mit werden und der ASKRIPTION mit bleiben die kognitive Perspektivierung des Präsensperfekts mit sein unterstützen. An diesem histo‐ rischen Beispiel illustriert er, dass die Bedeutung sowie die in den Konstruk‐ tionen versteckte Perspektivität einen konkreten Sprachgebrauch ausprägt. Die sogenannte „Perfektlücke“ und die damit verbundene Perspektivität der verschränkten Perfekt-Konstruktionen sind seiner knappen Studie zufolge bereits Anfang des 17.-Jahrhunderts überraschenderweise ziemlich stabil. 3.4.2 Streitigkeit über die Bestimmung der semantischen Rollen einer Konstruktion Natürlich wäre es dann vorteilhaft, wenn man bei der konkreten Analyse einer sprachlichen Konstruktion die zueinanderstehenden, immer variierenden semantischen Beziehungen berücksichtigt. Zu einem geeigneten Analyseinstru‐ ment dafür zählen die Theorien der semantischen Rollen. Man bemerkt die theoretische Diversität sowie Uneinigkeit bereits, da hier zur Referenz auf die Theorie der Plural gebraucht wird. Dies lässt sich besonders in der Grammatikforschung des Deutschen beobachten, insbesondere wenn Primus (2012) im Vorwort ihres Einführungswerks für semantische Rollen nachdrücklich feststellt, dass semantische Rollen „[…] in den Grammatiken des Deutschen selten systematisch behandelt würden.“ Eroms (2000: 183) weist in seiner Auseinandersetzung mit der Syntax des Deutschen auch darauf hin, dass sich die Rezeption sowie die Anwendung der semantischen Rollen in der deutschen Sprache meist auf einer „mittleren Linie“ befinden. Jedoch gibt es meines Erachtens vor Eroms (2000) oder Primus (2012) bereits einen systematischen Versuch, der den semantischen Rollen im Deutschen Rechnung trägt. Gemeint ist die Satzsemantik von Peter von Polenz (1985). Wie Werner Holly im Vorwort zur 3., unveränderten Auflage herausstellt: 3.4 Dimension 3: Bedeutung der Konstruktion 83 <?page no="84"?> Es gibt Bücher mit einer stillen Karriere. Ein solches ist das vorliegende. Wer es sorgfältig durchgearbeitet oder einmal als Lehrwerk verwendet hat, wird verstehen, dass man es zur sprachwissenschaftlichen Standardliteratur zählen muss. […] Die „Deutsche Satzsemantik“ ist ein Solitär, keinem vorher oder nachher vergleichbar. Sie schließt nämlich gleich mehrere schwierige Lücken, die niemand sonst anzugehen den Mut hatte, und ist deshalb - nicht permanent, aber nachhaltig - innovativ. (von Polenz 2008: 180) Die satzsemantische Theorie nach von Polenz schließt explizit an Fillmore (1968) an und versteht sich als eine „Inhaltsgrammatik“. Das satzsemantische Konzept nach von Polenz richtet sich in erster Linie nach Verben aus, die in unterschiedliche Prädikatsklassen (z. B. Aktionsprädikate, Statusprädikate oder Qualitätsprädikate) einzuordnen sind. Solche Prädikatsklassen, oder Ober‐ flächenkasus im Sinne von Fillmore, werden bereits in der traditionellen Gram‐ matik mithilfe von verschiedenen semantischen Funktionen behandelt. Jedoch ist ein weiterer Schritt von der Syntax zur Satzsemantik notwendig. Um die Prädikatsklassen satzsemantisch zu behandeln, stellt von Polenz (vgl. 2008: 170-172) die möglichen semantischen Rollen im Deutschen zusammen. Gemäß seinem Konzept ist die Beziehung zwischen einer semantischen Rolle und einem bestimmten grammatikalischen Kasus grundsätzlich keine eins-zu-eins-Bezie‐ hung. Beispielsweise kann die Rolle des AGENS nicht nur im Nominativ als Subjekt erscheinen, sondern auch in diversen syntaktischen Positionen vorkommen (z. B. als Akkusativ-Ergänzung: Lass dich nicht gelüsten; als Dativ-Ergänzung: Dem Minister gelang es, eine volle Stunde zu reden; als Adverb: gerichtlich feststellen lassen). Darüber hinaus darf man die semanti‐ schen Rollen nicht als lexikalische Eigenschaften betrachten. Das heißt, die semantischen Rollen einer Prädikatsklasse unterscheiden sich von „Angaben der Merkmal-Semantik“ (von Polenz 2008: 173). Die semantischen Rollen werden erst zugeschrieben, wenn ein Satzinhalt durch die Kombination mit einem bestimmten Prädikat innerhalb eines Aussagerahmens situativ und dynamisch festgelegt wird. Von Polenz hat hier die Rolle des Namens Berlin als Beispiel aufgeführt. Man geht normalerweise davon aus, dass Berlin als ein Ortsbegriff im Vorhinein einen LOCATIV -Status in Bezug auf semantische Rollen besitzt. Jedoch kann dieser Ortsname je nach Kontext sowie syntaktischer Position diversen semantischen Rollen zugeordnet werden: „ DIREKTIV (Ich fahre nach Berlin), ORIGATIV (Ich komme aus Berlin), AGENTIV (Berlin wählt einen neuen Senat), BENEFAKTIV (etwas für Berlin tun), AFFIZIERTES OBJEKT (Berlin ist geteilt worden), EFFIZIERTES OBJEKT (Wer hat Berlin gegründet? ), ADDITIV (Berlin in den Vertrag einbeziehen), POSSESSIV (das Berlin der Hohenzollern), SUBSTITUTIV (Bonn kann Berlin nicht ersetzen)“ (vgl. von Polenz 2008: 173). 84 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="85"?> Besonders interessant in den von ihm aufgeführten Beispielen ist die Interaktion zwischen semantischer Rolle und Metonymie. Berlin kann metonymisch als die lokale Berliner Regierung oder Bundesregierung ausgelegt werden. Allerdings wird dieser metonymische Sprachgebrauch durch verschiedene semantische Rollen realisiert. Falls man den Ortsnamen nur als eine Lokalergänzung ansieht, fällt es schwer zu erklären, was für Unterschiede es zwischen „Berlin wählt einen neuen Senat“ und „Bonn kann Berlin nicht ersetzen“ gibt. Dies zeigt deutlich, dass sich einerseits die semantischen Rollen immer dynamisch in der Interaktion der satzinhaltlichen Umgebung konstituieren und anderseits dass das von Polenz’sche Konzept die Nuancen der sprachlichen Konstruktionen besser beleuchten kann. Jedoch ist auch hier anzumerken, dass die Anzahl der semantischen Rollen‐ zuweisungen immer von der situativen sowie dynamischen Analyse einer Konstruktion im multilingualen Kontext abhängt. Von Polenz (2008: 169) hat diese Idee ausdrücklich zur Sprache gebracht: […] Wieviele Rollen-Typen man ansetzen kann/ soll/ darf, wird immer umstritten bleiben. Dies ist von Anwendungszwecken abhängig: Braucht man sie für bestimmte syntaktischen Probleme oder für die Wortbildung oder für die Lexikographie/ Wör‐ terbuchherstellung oder für die Stilistik oder für linguistische Datenverarbeitung - je nach dem Zweck wird die benötigte Liste der Rollen teilweise anders aussehen. Bestimmte Rollen haben für bestimmte Sprachen eine größere Rolle als für andere Sprachen. Diese Liste der semantischen Rollen fungiert vorrangig als ein analytisches Raster, das durch seine Zweckgebundenheit in der Analyse der sprachlichen Konstruktionen gekennzeichnet wird. Eine erschöpfende Darstellung einer Liste möglicher semantischer Rollen kann nicht erfolgen. Jedoch wird dieser denotativ-semantische Ansatz bei den Vertretern der signifikant-semantischen Theorie (vgl. Ágel & Höllein 2021) stark kritisiert, indem die beiden Autoren diese Kritik an verschiedenen Stellen des sehr langen Aufsatzes in einem scharfen Ton zum Ausdruck bringen: Erstaunlicherweise hat es die denotative Semantik nicht geschafft, ein theoretisch abgesichertes Set von Rollen zu präsentieren, und das, obwohl die stipulierten Rollen nicht einmal an natürlich-sprachlichem Material eingeführt wurden. Hätte man versucht, die Rollen wenigstens an kurzen kohärenten Textsequenzen zu erproben, wären die Probleme dieser Rollen schnell offen zu Tage getreten.“ (Ágel & Höllein 2021: 126) 3.4 Dimension 3: Bedeutung der Konstruktion 85 <?page no="86"?> […] Während die denotativ-semantische Analyse von Kernsatzmitgliedern wie Sub‐ jekt und Akkusativobjekt hier bereits an Grenzen stößt, scheitert sie bei der Analyse von Präpositionalobjekten komplett, da zur semantischen Analyse von Präpositional‐ objekten keine denotativ-semantischen Rollen bereitstehen […] (Ágel & Höllein 2021: 242) So kommen die beiden Autoren anhand einer kontrastiven Zeitungstextanalyse mit einer ausführlichen Liste von signifikativ-semantischen Rollen zum Er‐ gebnis, dass „die 50-jährige Geschichte der erfolglosen denotativen Rollenanal‐ ysen jedoch sehr deutlich gegen die eigenen Beispielkonstruktionen spricht“ (Ágel & Höllein 2021: 140-141). Grundsätzlich ist die Kritik an der denotativen Rollensemantik berechtigt und nachvollziehbar, weil die rollensemantische Analyse der Konstruktionen bis jetzt leider nur auf kleinere syntaktische Einheiten beschränkt und dies die Analyse der Konstruktionen auf einer größeren Ebene (z. B. Text oder Diskurs) deutlich erschwert. Die signifikativ-semantischen Rollen bieten hierbei eine mögliche Alternative. Allerdings sind zumindest zwei erkennbare Schwächen in dieser signifikativen Rollensemantik zu sehen: 1) Die Zuordnung von einigen signifikativ-semantischen Rollen ist immer noch diskussionswürdig. Man kann zum Beispiel die folgenden beiden Sätze mit der sogenannten Dativus-Ethicus-Konstruktion im Deutschen genauer be‐ trachten (vgl. Zhang 2022: 376): Ich (sozial untergeordnet) bin (ihr) (sozial übergeordnet) fleißig in der Schule Sei (2. Pers. Sg., sozial untergeordnet) mir (sozial übergeordnet) fleißig in der Schule! Der Dativus-Ethicus wird bei der Kategorie von Ágel (2017: 206) nur als eine Ab‐ tönungspartikel angesehen. Jedoch sind die implizierten sozialen Verhältnisse in den beiden Dativobjekten sehr asymmetrisch (Unterordnung vs. Überordnung), weshalb der Ethicus auch dementsprechend als ein dynamisches Dativobjekt betrachtet werden muss. Außerdem weisen die beiden Beispiele auch darauf hin, dass der Ethicus offensichtlich noch eine pragmatische Lesart des commodi in vielen freien dativischen Konstruktionen aufweist. Von daher kann die Liste von Ágel & Höllein (2021: 146-150) nicht ohne weitere tiefgehende Reflexion in der Untersuchungspraxis verwendet werden. 2) Die Sichtweise, dass sich die Konstruktionsbedeutung aus der Zusammen‐ setzung der modularen Teilkonstruktion ergibt, wird in vielen chinesischen und deutschen Beispielen widerlegt (vgl. Kap. 5.3 und 5.4). Die semantische Motiviertheit einer Konstruktion steht vor der syntaktischen Motiviertheit einer Konstruktion. 86 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="87"?> In der vorliegenden Untersuchung werden die folgenden semantischen Kern‐ rollen in der Analyse eingesetzt (eine synthetische Auswahl von Ágel & Höllein (2021: 146-150) und Lasch (2016: 125-126)): Rollenbezeichnung Paraphrase Handlung transitives Prädikat (eigenaktiv und dynamisch) Handlungsträger Subjekt eines transitiven Prädikats Handlungsgegenstand Akkusativobjekt eines transitiven Prädikats (Gegen‐ stand) Handlungsbetroffener Dativobjekt eines transitiven Prädikats Handlungssachverhalt Akkusativobjekt eines transitiven Prädikats (Sachver‐ halt) Tätigkeit intransitives Prädikat (eigenaktiv und dynamisch) Tätigkeitsträger Subjekt eines Tätigkeitsprädikats Tätigkeitsbetroffener Dativobjekt eines Tätigkeitsprädikats Vorgang intransitives Prädikat (nicht eigenaktiv und dynamisch) Vorgangsträger Subjekt eines Vorgangsprädikats (Gegenstand) Vorgangsbetroffener Dativobjekt eines Vorgangprädikats Vorgangssachverhalt Subjekt eines Vorgangsprädikats (Sachverhalt) Zustand Intransitives Prädikat (nicht eigenaktiv und nicht dyna‐ misch) Zustandsträger Subjekt eines Zustandsprädikats (Gegenstand) Zustandsbetroffener Dativobjekt eines Zustandsprädikats Zustandssachverhalt Subjekt eines Zustandsprädikats (Sachverhalt) Lokativ Ort oder Raum Temporativ Zeitpunkt oder Zeitraum Kausativ Ursachen Tab. 13: Die semantischen Kernrollen in der vorliegenden Untersuchung 3.4 Dimension 3: Bedeutung der Konstruktion 87 <?page no="88"?> Jedoch muss an dieser Stelle auch darauf hingewiesen werden, dass die Bestimmung der semantischen Rollen in der chinesischen Chengyu-Konstruk‐ tion eine andere sprachspezifische Besonderheit aufweist. Diese rollenseman‐ tische Besonderheit nenne ich die doppelten semantischen Rollen der Chengyu-Konstruktion. Damit ist gemeint, dass einerseits die Teilkonstruk‐ tionen in einer Chengyu-Konstruktion unterschiedliche semantische Rollen einnehmen können, anderseits die gesamte Chengyu-Konstruktion in einem anderen Kontext zusammen als eine Ganzheit nur eine semantische Rolle übernehmen kann. Dies möchte ich anhand der Chengyu-Konstruktion 否极泰 来 beleuchten (SeR = Semantische Rolle): - 否 极 泰 来 Bedeutung Unglück Spitze Glück kommen SeR Tätigkeits‐ träger 1 Tätigkeit 1 Tätigkeits‐ träger 2 Tätigkeit 2 Konstruktions‐ bedeutung Wenn das Unglück an der Spitze erreicht, kommt bald das Glück. Tab. 14: Die rollensemantische Beschreibung der Konstruktion 否极泰来 - 市民 期待 香港经济 否极泰来 Bedeutung Bürger hoffen die Wirtschaft in Hongkong verbessern SeR Handlungs‐ träger Handlung Vorgangs‐ träger Vorgang Konstruktions‐ bedeutung Die Bürger hoffen, dass die wirtschaftliche Lage in Hongkong sich verbessert. Tab. 15: Die rollensemantische Beschreibung der Konstruktion 否极泰来 in einem Satz Aus den beiden Tabellen ist ersichtlich, dass die Verteilung derselben Chengyu-Konstruktion von 否极泰来 sehr unterschiedlich ist. Diese idiomati‐ sche Konstruktion allein kann als ein vollständiger Konditionalsatz fungieren und eine Tätigkeit zum Ausdruck bringen. Jedoch kann sie auch in einem konkreten Satz eingefügt werden und als eine holistische Entität eine spezi‐ fische Rolle im Satz einnehmen. Diese rollensemantische Auffälligkeit einer Chengyu-Konstruktion muss man im Hinterkopf behalten, wenn man die 88 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="89"?> konkrete Anwendung von Chengyu-Konstruktionen analysiert. Die folgende Tabelle veranschaulicht die wichtigen Aspekte, die bis jetzt angesprochen worden sind: Dimension 3: Bedeutung der Konstruktion • Konstruktionen sind als Bedeutungs-Formpaare semantisch motiviert. • Konstruktionen tendieren dazu, Frames herauszubilden. • Die denotative Rollensemantik überführt die Konstruktionsgrammatik in eine In‐ haltsgrammatik und hebt die semantische Motiviertheit der Konstruktion hervor. Jedoch bietet sie kein operationalisierbares Set für die konkrete Analyse. • Die signifikante Rollensemantik hält an dem absoluten modularen Konzept fest und geht davon aus, dass die Konstruktionsbedeutung immer aus den modularen Teilbedeutungen besteht. Allerdings bietet sie ein handhabbares Set für die konkrete Analyse, wobei das vorgeschlagene Set auch situativ angepasst werden muss. • Die möglichen semantischen Kernrollen für die vorliegende Untersuchung werden in der Tabelle 13 zusammengefasst. • Zur Bestimmung der rollensemantischen Verteilung in der Chengyu-Konstruktion muss das Konzept der doppelten semantischen Rollen eingeführt werden. Tab. 16: Dimension 3 - Bedeutung der Konstruktion 3.5 Dimension 4: Prosodie der Konstruktion In den letzten zwei Abschnitten sieht man, dass Konstruktionen die grundle‐ gende Einheit einer Sprachstruktur bilden und unterschiedliche Ansätze der KxG sehen Konstruktionen als den zentralen linguistischen Analysegegenstand. Konstruktionen werden als Produkte der menschlichen Kognition betrachtet und als „kognitive Einheiten begriffen - als assoziative, symbolische Verknüp‐ fungen von Form und Bedeutung“ (Imo & Lanwer 2020: 4). In der europäischen strukturalistisch-linguistischen Tradition, die stark von de Saussure geprägt wird, enthält ein sprachliches Zeichen zwei eng miteinander verbundene Seiten, nämlich Lautseite sowie Inhaltsseite. Die KxG definiert sprachliche Konstruk‐ tion als Form-Bedeutungspaar (wie Goldberg) oder Bedeutung-Form-Paar (wie Lasch). Die KxG hat die bilaterale Ansicht des sprachlichen Zeichens de Saus‐ sures durch ein Kontinuum zwischen Lexikon und Grammatik aufgehoben und erreicht damit einen besseren Zugang zur Erklärung der idiomatischen Verwendungen im konkreten Sprachgebrauch. In einem kognitiven konstruktionsgrammatischen Modell werden nach Gold‐ berg (2006: 5) beispielsweise 3.5 Dimension 4: Prosodie der Konstruktion 89 <?page no="90"?> Morpheme (e.g. pre-, -ing), Word (e.g., avocado, anaconda, and), Complex word (e.g. dare devil, shoo-in), Complex word (partially filled) (e.g. [N-s] for regular plurals), Idiom (filled) (e.g. going great guns, give the Devil his due), Idiom (partially filled) (e.g. jog <someone’s> memory, send <someone> to the cleaners, Covariational Conditional (The Xer the Yer) (e.g. the more you think about it, the less you understand), Ditransitive (double object) (Subj V Obj 1 Obj 2 ) (e.g. he gave her a fish taco; he baked her a muffin), Passive (Subj aux VPpp (PPby) (e.g. the armadillo was hit by a car)) als sprachliche Konstruktionen bezeichnet. In dieser Auflistung sieht man klar, dass Morpheme die kleinsten möglichen Konstruktionen darstellen. In dieser mehrfach rezipierten Definition von Goldberg ist für die Prosodie jedoch keine Rolle in einer sprachlichen Konstruktion vorgesehen. In diesem Kontext ist es interessant zu hinterfragen, ob und inwieweit die Prosodie eine Rolle in einer sprachlichen Konstruktion spielt. Zur Klärung dieser Frage gibt es meines Erach‐ tens drei Erklärungsversuche aus den Perspektiven der Interaktionalen Linguistik, der experimentellen prosodischen Syntax sowie korpusbasierten Studien. Die Prosodie als ein eigenständiges linguistisches Forschungsfeld weist eine lange Tradition auf. Jedoch schenken die bisherigen empirischen Studien aus der KxG der Prosodie leider nur eine sehr beschränkte Aufmerksamkeit (vereinzelte Studien siehe Välimaa-Blum 2005; Cienki 2015). Dies könnte daran liegen, dass die Prosodie häufig nur als ein paraverbales Zusatzmittel zu anderen Bausteinen von Konstruktion angesehen wird. Daher ist die Prosodie per se kein Bestandteil der Grammatik. Oder anders formuliert, prosodische Mittel leisten keinen Beitrag zur Formie‐ rung der semantischen oder grammatischen Bedeutung. Besonders Bolinger hat diese Position explizit ausformuliert, wenn er wie folgt schreibt: „Intonation and syntax make their separate contributions to conversational interaction. There is where they come together, not in a higher or more properly linguistic domain“ (Kursiv im Original, Bolinger 1989: 78). Auch Selting (2005) schließt sich dieser Position an und behauptet, dass die Prosodie als ein eigenständiges, von der Grammatik abhängiges „Signalisierungssystem“ fungieren solle. Demgegenüber haben die linguistischen Funktionalisten wie Halliday die for‐ mierende Kraft der Prosodie für die Wortsemantik sowie Grammatik gesehen und vertreten die Position, die Prosodie als einen Teil der Grammatik zu begreifen. Be‐ sonders bei Halliday wird dies im Bereich der Intonation hervorgehoben. Halliday betont, dass die Intonation bei der Beschreibung der Grammatik die gleiche Rolle wie die anderen grammatischen Ebenen spielt (Halliday 1967) und er bezeichnet die Prosodie als „eine grammatische Organisationsstruktur neben anderen“ (Imo & Lanwer 2020: 2). Auch die kognitiven Funktionalisten wie Tomasello, Croft, Chafe und Langacker haben die Rolle der Prosodie im Spracherwerbsprozess 90 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="91"?> oder in der Grammatikbeschreibung bemerkt (Tomasello 2009; Croft 1995; Chafe 1994; Langacker 2001). Tomasello (2009: 76) hat beispielsweise beobachtet, dass die Prosodie in der Grammatikentwicklung von großer Bedeutung ist. Mehrere sprachliche Elemente werden zuerst prosodisch als eine Einheit verpackt. Danach werden unterschiedliche lexikalische Elemente als Bestandteile einer Intonations‐ phrase zusammengestellt. Letztendlich bildet dann diese semantische Einheit eine Art abstraktes syntaktisches Schema. Diese Beobachtung aus dem Sprach‐ erwerb bestätigt die Hypothese von Croft (1995: 870-874), die besagt, dass die Intonationsphrase zur zentralen Bezugseinheit für die Verfestigung syntaktischer Muster in Sprachwandelsprozessen zählt. Als einer der wichtigsten Vorreiter der kognitiven Funktionalisten wird die Rolle der Prosodie bei Chafe besonders ausdrücklich akzentuiert. Nach Chafe (1994: 63) verbalisiert jede Intonationseinheit „the information active in the speaker’s mind at its onset“. Deshalb bringe eine Intonationseinheit den Fokus des Bewusstseins eines Sprechers zu dem Zeitpunkt zum Ausdruck. Langacker greift diese Idee auf und spricht von attentional framing. Mit diesem Konzept meint er, dass die Intonationseinheiten, die einen Aufmerk‐ samkeitsrahmen vorschreiben, als „integral facets of grammatical constructions“ (Langacker 2001: 161) zu verstehen seien. Diese entscheidende Änderung der Perspektive deutet „auch ein Umdenken in Bezug auf die Rolle der Phonologie im Allgemeinen und der Prosodie im Speziellen in Bezug auf die Organisation einer Grammatik“ (Imo & Lanwer 2020: 6) an. In den letzten Jahren finden sich viele Studien, die auf gesprochenen Sprachen basieren und die Grammatik in den Interaktionen der analysierten gespro‐ chenen Sprachen zu beschreiben versuchen. Solche Studien verfolgen das Ziel, das gängige Modell der KxG aus der Perspektive der Gebrauchsbasiertheit sowie der sprachlichen Interaktionen zu modifizieren. Imo (2015a, 2015b), einer der Hauptvertreter dieser Strömung, spricht daher von der Etablierung einer Inter‐ aktionalen Konstruktionsgrammatik. Natürlich ist diese grammatische Strömung nicht trennbar von der sogenannten Interaktionalen Linguistik, die vermutlich auf Hopper (1987) zurückgeht. Forscher aus dieser theoretischen Strömung orientieren sich ebenfalls an einem gebrauchsbasierten Sprachverständnis, was die KxG als zentralen Ansatzpunkt betrachtet. Deshalb bilden die authentischen Sprachdaten den Analysegegenstand einer Interaktionalen KxG. Für die Analyse sind die kontextuellen sowie sequentiellen Faktoren von zentraler Bedeutung. In diesem Sinne ist die Bedeutung auf keinen Fall eine Zusammensetzung der Bestandteile einer sprachlichen Struktur (Wörtern, Sätze, Phrasen etc.), sondern immer eine emergente Hervorhebung einer sprachlichen Struktur, die eng mit dem Kontext und der Interaktion unter den Gesprächsbeteiligten verwoben ist. Im Rahmen der interaktionalen Prosodie sind bereits einige Studien durch‐ 3.5 Dimension 4: Prosodie der Konstruktion 91 <?page no="92"?> 1 Schwa ist ein phonologischer Fachbegriff und bezeichnet einen Reduktionslaut [ə], der manchmal auch mittlerer Zentralvokal genannt wird. Dieser Begriff stammt aus dem Hebräischen und bezeichnet ursprünglich den unbetonten Laut [e]. Im Deutschen erscheint dieser Laut auch nur in unbetonten Silben (z.-B. gerne, bereit, viele, Lage). geführt worden, die nachweisen, dass die Prosodie als interaktionales Kontex‐ tualisierungsmittel aufzufassen ist (vgl. Couper-Kuhlen 2014; Couper-Kuhlen & Selting 2017; Selting 1992, 2005). Selting (1992) hat drauf hingewiesen, dass anhand unterschiedlicher prosodischer Mittel Kohärenz hergestellt wird, Kooperationen angezeigt, Emotionen intendiert, Absichten impliziert sowie eine interaktionale kontextbedingte Gesprächsatmosphäre erzeugt werden. Im Folgenden werden drei interessante Experimente aus einer Studie von Kentner (2018) ausführlicher dargestellt. Kentner versucht in dieser Studie zu untersuchen, wie supra-lexikalische sprachliche Rhythmen (supra-lexical lingu‐ istic rhythm) das Vorkommen oder Verschwinden der sogenannten Schwa-Op‐ tionen 1 im Deutschen beeinflussen. Im ersten Experiment bekommen 24 Probanden eine mündliche Leseaufgabe. Diese Leseaufgabe besteht aus 24 vollständigen Sätzen, die eine gleiche Satz‐ struktur teilen (etwa wie Bodo will in Steffis Garten/ Hof gern(e) Himbeeren/ Kartoffeln ernten). Entscheidend an dieser Leseaufgabe ist die alternative gra‐ phemische Repräsentation des Adverbs „gern“. Insgesamt hat das Adverb zwei graphemische Repräsentationen, nämlich eine monosyllabische Repräsentation „gern“ oder eine trochäische Repräsentation „gerne“. Die beiden graphemischen Varianten sind in den 24 Versuchssätzen integriert. Um die rhythmische Um‐ gebung des Adverbs zu gestalten, hat Kentner zwei Bedingungen jeweils direkt vor sowie nach dem Adverb geschaffen. Die erste experimentelle Bedin‐ gung befindet sich auf der Stelle nach dem Adverb „gern“. Das Substantiv an dieser Stelle könnte entweder mit einer betonten (z. B. Himbeeren) oder einer unbetonten Silbe (z. B. Kartoffeln) beginnen. Zudem wird die Stelle vor dem Adverb „gern“ durch unterschiedliche Bedingungen manipuliert, in dem entweder ein monosyllabisches Wort wie „Hof “ oder ein bisyllabischer Trochäus wie „Garten“ vorkommen. Das Experiment möchte herausfinden, ob die rhythmische Umgebung die optionale Realisierung des Adverbs „gern“ beeinflusst und unter welchen Bedingungen das Adverb „gern“ monosyllabisch oder bisyllabisch realisiert wird. Das Ergebnis der statistischen Evaluation zeigt deutlich, dass die Teilnehmer offensichtlich die rhythmische Umgebung bei der adverbialen Auswahl berücksichtigen. Eine trochäische Repräsentation des Adverbs „gerne“ kommt vor, wenn ein trochäisches Wort danach folgt, wobei ein monosyllabisches „gern“ häufig nach einem monosyllabischen Substantiv auftritt (vgl. Kentner 2018: 134). 92 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="93"?> Das zweite durchgeführte Experiment, eine Online-Umfrage, untersucht, wie die prosodischen Bestimmungsfaktoren auf die morphosyntaktischen Al‐ ternativen der deutschen Partitiv- oder Possessiv-Konstruktionen abfärben. In dieser Online-Umfrage werden die 175 Versuchspersonen aufgefordert, einen präferierten Ausdruck zwischen den vier Optionen auszuwählen. Alle Ausdrücke beziehen sich auf die Partitiv- oder Possessiv-Konstruktionen im Deutschen, die entweder durch Genitiv (z. B. der Wirt der Herberge) oder durch eine präpositionale Phrase (z. B. der Wirt von der Herberge) verwirklicht werden. Die rhythmischen Bedingungen in den zu testenden 24 Beispielen variieren jedoch. Beispielsweise muss eine Versuchsperson unter der, einer, von der oder aus (als eine ungrammatische Option) jeweils eine bevorzugte Option für die nachstehende Phrase auswählen: a. Der Knopf-… Arbeitshose b. Die Knöpfe-… Arbeitshose c. Der Knopf-… Gesäßtasche d. Die Knöpfe-… Gesäßtasche 90 % in der Umfrage bevorzugen eine genitivische Konstruktion (darunter 57 % monosyllabisches der sowie 33 % bisyllabisches einer). Nur in etwa 10 % der gesamten Beispiele wird die präpositionale Phrase als Favorit ausgewählt. Eine noch genauere Betrachtung der statistischen Distribution zeigt, dass die Teilnehmer eine bisyllabische Option favorisieren, wenn die Ultima des Hauptnomens und die initialen Laute des Attributs betont werden (vgl. Kentner 2018: 139, Tab. 3). Die dritte Studie basiert auf einem korpusbasierten Ansatz. Ein umfangrei‐ cher Korpus aus dem Institut für Deutsche Sprache (IDS), DeReKo, wird in dieser Studie berücksichtigt. Anhand dieses Korpus ermittelt die Studie die morphophonologischen Alternativen in Bezug auf vier adverbiale Paare im Deutschen (gern/ gerne, lang/ lange, selbst/ selber, meist/ meistens). Die Vorkom‐ menshäufigkeit der vier adverbialen Paare wird in bestimmten Kontexten analysiert, wobei die zwei Verben „tun“ und „machen“ jeweils im Infinitiv (tun, machen) oder Partizip II (getan, gemacht) erscheinen. Die Analyse zeigt, dass die Inklusion oder die Unterlassung der optionalen Schwa-Silbe eines Adverbs stark von der Betonung der initialen Silbe des Verbs bestimmt wird (vgl. Kentner 2018: 144 f, Abbildung 1 & Tab. 6). Für eine Tonalsprache wie Chinesisch spielen die Töne eine bedeutungstra‐ gende Rolle. Es ist auch in diesem Kontext zu fragen, ob die Distribution von Tönen die Verwendungsfrequenz der Chengyu-Konstruktionen beeinflussen kann. Hier werden die 20 häufig gebrauchten Chengyu-Konstruktionen aus 3.5 Dimension 4: Prosodie der Konstruktion 93 <?page no="94"?> der vorliegenden Studie mit der tonalen Distribution (Einführung der prosodi‐ schen Dimension im Chinesischen, vgl. Kap. 5.1.1) in der folgenden Tabelle zusammengeführt: Rang Chengyu -Konstruktion Frequenz im CCL-Korpus Distribution der Töne 1 前所未有 5482 2343 2 一如既往 3146 1243 3 脱颖而出 2962 1321 4 独立自主 2604 2443 5 源远流长 2128 2322 6 与时俱进 2091 3244 7 出人意料 1955 1244 8 深入人心 1685 1421 9 名列前茅 1617 2422 10 后顾之忧 1589 4414 11 无家可归 1519 2131 12 层出不穷 1500 2142 13 长治久安 1420 2431 14 轻而易举 1305 1243 15 任重道远 1250 4443 16 拔地而起 1147 2423 17 出乎意料 1145 1144 18 直截了当 1124 2234 19 归根到底 1113 1123 20 后来居上 1101 4214 Tab. 17: Die häufig verwendeten 20 Chengyu-Konstruktionen aus der Untersuchung und ihre Tondistributionen 94 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="95"?> Die Tabelle zeigt, dass die häufig verwendeten 20 Chengyu-Konstruktionen aus einer Pilotuntersuchung meistens mit dem ersten (also dem flachen Ton, N = 7) bzw. dem zweiten Ton (also dem leicht steigenden Ton, N = 7) anfangen. Unter den 20 Konstruktionen gibt es nur eine Konstruktion, die mit dem dritten Ton (also dem sinkend-steigenden Ton) beginnt. Die Top-20-Tabelle deutet darauf hin, dass die Verteilung der Töne in einer Tonalsprache wie im Chinesischen möglicherweise die Verwendungsfrequenz einer Konstruktion beeinflussen kann. Von daher soll die Tondistribution in einer Chengyu-Kon‐ struktion in einer Konstruktionsanalyse mitberücksichtigt werden, um genau zu überprüfen, welche Zusammensetzung von Tönen am häufigsten bzw. am niedrigsten von der chinesischen Sprachgemeinschaft verwendet wird und ob hinter der unterschiedlichen Verwendungsfrequenz eine Art von prosodischen Beschränkungen tatsächlich zu beobachten ist. Dimension 4: Prosodie der Konstruktion • Die Entwicklungen in den Bereichen der experimentellen Phonologie sowie der interaktionalen Konstruktionsgrammatik zeigen auf, dass die Prosodie eine wichtige Facette der grammatischen Konstruktionen darstellt und sie durchaus Einfluss auf die sprachlichen Konstruktionen ausüben kann. • Die Silbenstruktur sowie die Anzahl der Silben können die deutschen Konstruk‐ tionen mitgestalten, ihre Formen sowie die Verwendungsfrequenzen stark beein‐ flussen. • Die Distribution der Töne in einer Chengyu-Konstruktion kann möglicherweise die Vorkommensfrequenz einer Konstruktion beeinflussen, was in der empiri‐ schen Untersuchung genau überprüft werden soll. Tab. 18: Dimension 4 - Prosodie der Konstruktion 3.6 Dimension 5: Pragmatik der Konstruktion Breits in der Auseinandersetzung mit den drei wichtigen Konstruktionsdefini‐ tionen von Goldberg in Kapitel 3.2 bemerkt man, dass die Konstruktion als konventionalisiertes Paar von Form und Funktion angesehen wird (Goldberg 2006: 3). Es ist daher kein Wunder, warum die Konstruktionsgrammatiker gerne die Funktionen der analysierten Konstruktionen identifizieren möchten, indem sie die Konstruktionen immer im konkreten Kontext der Verwendung betrachten. Jedoch ist interessant zu fragen, wie die Konstruktionsgrammatik die Semantik-Pragmatik-Schnittstelle ansieht. Im Bereich der Semantik-Pragmatik-Schnittstelle gibt es zum Beispiel zwei zentrale Sichtweisen, die Semantik und Pragmatik unterscheiden (vgl. Huang 3.6 Dimension 5: Pragmatik der Konstruktion 95 <?page no="96"?> 2014: 299). Die erste Sichtweise geht davon aus, dass Semantik mit Konventionen und nur den kodierten Bedeutungen verbindet und Pragmatik sich auf die kon‐ textuell deduzierten Bedeutungen bezieht. Die andere Sichtweise besagt, dass Semantik Bezug auf die Wahrheitskonditionen nimmt, während Pragmatik den nicht-wahrheitskonditionalen Kontext betrifft. Diese wahrheitskonditionale Sichtweise wird in der Konstruktionsgrammatik kategorisch abgelehnt, weil Semantik in der Konstruktionsgrammatik als zahlreiche Konzeptualisierungen angesehen wird (Corft & Cruse 2004). Die Konstruktionsgrammatik scheint sich daher in der ersten Sichtweise zu befinden, wobei der Unterschied zwischen Semantik und Pragmatik eine Sache der Konventionalität ist (Capelle 2017: 116). Jedoch wird die Semantik-Pragmatik-Schnittstelle in der Konstruktions‐ grammatik wenig von den Konstruktionsgrammatikern thematisiert (z. B. Nikiforidou 2009; Capelle 2017; Finkbeiner 2019; Leclercq 2021). Dies kann zum Beispiel darauf zurückgeführt werden, dass die Unterscheidung zwischen kon‐ ventionalisierten und nicht konventionalisierten Aspekten der Bedeutungen nicht trennscharf ist und sie in der Regel ein Kontinuum bilden (vgl. Langacker 2008: 40). In der Einführung einer Sonderausgabe von der Zeitschrift Frames and Constructions über die Rolle der Pragmatik in der Konstruktionsgrammatik stellt Finkbeiner die folgende Herausforderung der Konstruktionsgrammatik vor: From this perspective, it appears that in many constructionist accounts, a precise notion of pragmatics is lacking. That is, while it is an important question what kind of pragmatic information should be and should not be included into constructions, the problem to be solved in the first place is what kinds of meaning aspects should and should not count as pragmatic aspects. This, in turn, requires a more systematic discussion of the relationship between semantics and pragmatics as conceptualized in Construction Grammar. (Finkbeiner 2019: 173) Zum Beispiel kann die deutsche Konstruktion [kannst du] + [X] mit einem Fragezeichen eine Aufforderung ausdrücken, indem man den Gesprächspartner auffordert, etwas für einen zu tun. Die konventionalisierte Bedeutung dieser Konstruktion besteht also in der Aufforderung. Im Folgenden werden einige Beispielsätze in diesem klassischen Sinne aus dem DWDS-Kernkorpus (1990- 1999) aufgelistet: (1) „Kannst du mir mal was sagen, Janosch? “ frage ich. (Lebert, Benjamin: Crazy, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1999 [1999], S.-7) (2) „Kannst du mir einen Gefallen tun? “ fragte er wie beiläufig. ( Jentzsch, Kerstin: Ankunft der Pandora, München: Heyne 1997 [1996], S.-7) 96 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="97"?> (3) „Kannst du mich mitnehmen? “ fragte sie. ( Jentzsch, Kerstin: Ankunft der Pandora, München: Heyne 1997 [1996], S.-7) Die oben aufgeführten drei Fälle gehören zu der prototypischen Verwendung der Konstruktion [kannst du] + [X]. Im Beispiel (1) wird Janosch aufgefordert, etwas zu sagen. Im zweiten Beispiel wird um Hilfe gebeten. Das dritte Beispiel bezieht sich auf eine Aufforderung der Mitnahme. Alle Beispiele hier verweisen auf eine spezifische Aufforderung, die an den Gesprächspartner gesendet wird. Jedoch gibt es in vielen anderen Fällen aus dem oben genannten Korpus, wobei diese Konstruktion pragmatisch anderweitig verwendet wird und unterschied‐ liche Implikaturen indizieren kann: Bestätigung (4) Kannst du mir folgen? (Die Zeit, 10.09.1998, Nr.-38) (5) Kannst du es noch? (Wölfl, Norbert: Die wiedergefundene Zärtlichkeit, Genf u. a.: Ariston 1995 [1983], S.-11) In den Beispielen (4) und (5) geht es um eine Bestätigung des Gesprächspartners. Beispiel (4) kann in einer Situation verwendet werden, wo der Reiseführer die Reisenden fragt, ob sie noch energisch mitgehen können. Diese Konstruktion kann auch in einer anderen Situation verwendet werden, wo ein Studierender seinen Kommilitonen fragt, ob er noch alles verstehen kann bzw. seinen logischen Leitfaden verfolgen kann, wenn er ihm bei den mathematischen Aufgaben hilft. Zur Deutung dieser Konstruktion müssen dann kontextuelle Informationen herangezogen werden. Das Beispiel (5) ist genau der Fall und der Pronomen es deutet ebenfalls darauf hin, dass eine Anapherresolution erforderlich ist, um die Referenzidentität des Pronomens zu entschlüsseln. Kritik (6) „Kannst du nicht mal ohne deinen Koffer kommen? “ fragte Lisas Mutter vorwurfs‐ voll am Kaffeetisch, „einfach nur so, wie du bist? “ ( Jentzsch, Kerstin: Seit die Götter ratlos sind, München: Heyne 1999 [1994], S.-7) (7) Kannst-du-dir-so-viel-Dummheit-denken? (Neutsch, Erik: Spur der Steine, Halle: Mitteldeutscher Verl. 1964 [1964], S.-7)) Konstruktionen wie (6) und (7) üben Kritik aus (also auch wie Kannst du deine Fresse halten? ). Besonders die semantische Umgebung in den beiden 3.6 Dimension 5: Pragmatik der Konstruktion 97 <?page no="98"?> Beispielen (vorwurfsvoll und Dummheit) gibt uns Auskunft darüber, dass die Konstruktionsbedeutung der beiden Beispiele von der klassischen Aufforde‐ rungsbedeutung abweicht. Überraschung (8) Das-kannst-du-nicht-verstehen? -Nein? -Kannst-du-nicht? (Rinser, Luise: Mitte des Lebens, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1952 [1950], S.-7) In diesem Beispiel kommt diese Konstruktion in einer kleinen sprachlichen Sequenz schon zweimal vor. Durch diese Wiederholung in drei Fragesätzen wird die Bedeutung der Überraschung dieser Konstruktion zugeschrieben. Kondition (9) kannst du dir vorstellen, noch mal zu heiraten? (Dückers, Tanja: Spielzone, Berlin: Aufbau-Taschenbuch-Verl. 2002 [1999], S.-7) Im Beispiel (9) wird eine Kondition durch diese Konstruktion ausgedrückt. Die ursprüngliche Konstruktion [kannst du] + [X] wird in eine leicht abgeänderte Form umgewandelt: [kannst du dir vorstellen] + [X zu machen]. Somit wird ein Konditionalsatz aufgebaut und man fragt mit dieser Konstruktion den Ge‐ sprächspartner, was er machen würde, wenn er sich in einer solchen Kondition befände. In diesem Fall kann diese Konstruktion auch grundsätzlich durch einen Satz im Konjunktiv II ersetzt werden, ohne die gesamte Bedeutung zu ändern (Würdest du noch mal heiraten? ). Diese kleine und korpusbasierte Pilotstudie über die [[kannst du] + [X]]-Kon‐ struktion im Deutschen zeigt, dass die von Finkbeiner (2019) aufgestellte Herausforderung der Konstruktionsgrammatik berechtigt und durchaus nach‐ vollziehbar ist. Die pragmatischen Aspekte sollen auch in die konstruktions‐ grammatische Forschung einfließen. Dies wird zum Beispiel auch bei Cappelle (2017) hervorgehoben: I find it useful to make a distinction between lexical or propositional semantics. […] and pragmatic information, which encompasses those aspects of a speaker’s knowledge of a linguistic expression that are treated as falling outside the domain of lexical or propositional semantics. (Cappelle 2017: 122) 98 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="99"?> Dimension 5: Pragmatik der Konstruktion • Die Semantik der Konstruktion bezieht sich auf die konventionalisierten und kodierten Bedeutungen. • Die Pragmatik der Konstruktion bezieht sich auf die kontextuell deduzierten Bedeutungen. • Eine präzise Sicht der Pragmatik fehlt noch in der Konstruktionsgrammatik. • Es muss also festgelegt werden, welche Aspekte der Bedeutung zur Semantik bzw. zur Pragmatik gehören. • Es soll andiskutiert werden, wie die Beziehung zwischen Semantik und Pragmatik in der Konstruktionsgrammatik systematisch konzeptualisiert wird. • Die Pilotstudie über die [[kannst du] + [X]]-Konstruktion im Deutschen weist darauf hin, dass diese Konstruktion nicht nur im klassischen Sinne eine Aufforde‐ rung bzw. eine Bitte um Hilfe ausdrückt, sondern in vielen anderen Situationen die pragmatischen Bedeutungen wie Bestätigung, Kritik, Überraschung oder Kondition versprachlicht. • Die Analyse der Konstruktion soll in einem verwendungsspezifischen Kontext stattfinden. Tab. 19: Dimension 5 - Pragmatik der Konstruktion 3.7 Synthese: Das PSSP-Modell für eine Konstruktionsanalyse Vom Morphem bis zur Sprachstruktur, von einfachen Sätzen zu komplexeren Sätzen - Konstruktionen als grundlegende Einheiten eines Sprachsystems sind allgegenwärtig. Diese konstruktionsgrammatische Sichtweise überholt das bilaterale Zeichenmodell von de Saussure, die vor allem die Wort- und Satzebene eines Sprachsystems berücksichtigt. Konstruktionen als kognitive und polyseme Verknüpfungen von Prosodie, Form und Bedeutung werden immer in einem pragmatisch orientierten Deutungsrahmen eingebettet. Die Konstruktionsbedeutung kann von der semantischen Zusammensetzung der Teilkonstruktionen abgeleitet werden, wenn diese Konstruktion stark me‐ taphorische Motivation aufweist oder die Prinzipien der Ikonizität (besonders die morphologische und die syntaktische Ikonizität, mehr dazu vgl. Kap. 5.3.2) in dieser Konstruktion von großer Bedeutung sind. Sonst kann sich die Kon‐ struktionsbedeutung nicht aus der additiven semantischen Zusammensetzung von den vorhandenen etablierten Teilkonstruktionen ergeben. Konstruktionen befinden sich in einem permanent interaktiven, konkurrierenden, organisierten und produktiven Netzwerk, das sämtliche Spracherkenntnisse und Weltwissen der Menschen repräsentiert. 3.7 Synthese: Das PSSP-Modell für eine Konstruktionsanalyse 99 <?page no="100"?> Abb. 3: Das PSSP-Modell für eine Konstruktionsanalyse Nach einer intensiven Auseinandersetzung mit der möglichen Theoriebildung in der Konstruktionsgrammatik wird das sogenannte PSSP-Modell für eine Konstruktionsanalyse vorgeschlagen, das die Interaktion zwischen Prosodie, Struktur, Semantik und Pragmatik einer Konstruktion umfasst. Die vier Aspekte sind die grundlegenden Bausteine einer linguistischen Konstruktion, die aber nicht immer gleichmäßig wichtig in einer Konstruktion verteilt werden. In einer Konstruktion ist die prosodische Motivation vielleicht wichtiger als die anderen drei und in einer anderen Konstruktion kann zum Beispiel die pragmatische Motivation im Vordergrund stehen. Die Dimension der Prosodie wird bis jetzt leider nur stiefmütterlich als eine Randerscheinung in der Konstruktionsgrammatik behandelt. Allerdings gibt es Beweise aus den Schnittstellenbereichen wie der experimentellen Phonologie und der interaktionalen Konstruktionsgrammatik, dass die Prosodie einer Kon‐ struktion die Konstruktionsgestalt sowie die Konstruktionsproduktivität stark prägen kann. Dabei können zum Beispiel die Silbenstruktur und die Anzahl der Silben einer Konstruktion im Deutschen und die Distribution der Töne im Chinesischen eine gewichtige Rolle spielen. Konstruktionen sind in der Tradition als gelernte Form-Bedeutungspaare aufzufassen. Aus den konkreten Einzelkonstruktionen kann die abstrakte und musterhafte Konstruktion abstrahiert werden. In dieser musterhaften Konstruk‐ 100 3 Analysedimensionen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik <?page no="101"?> tion sind zwei Typen von strukturellen Slots zu unterscheiden: die stabilen Slots und die variablen Slots. Die variablen Slots werden von unterschiedlichen Fillern besetzt und einige davon gehören zu den Prototypen einer bestimmten Leer‐ stelle. Darüber hinaus zeigt die theoretische Überlegung auf der strukturellen Ebene, dass die framesemantische Grundlegung der Konstruktionsgrammatik nicht angemessen ist und die absolute Abkopplung von Semantik und Syntax im Moment der strukturellen Analyse nicht zu erreichen ist. Von daher braucht man auf der strukturellen Ebene immer noch ein modulares Konzept, um eine konkrete Konstruktionsanalyse zu operationalisieren. Konstruktionen als Bedeutungs-Form-Paare können semantisch motiviert sein, Bedeutung tragen und Frames transzendieren. Zur rollensemantischen Beschreibung muss die denotative und die signifikante Semantik kombiniert werden. Jedoch muss auch beachtet werden, dass eine chinesische idiomatische Konstruktion üblicherweise die doppelten semantischen Rollen übernehmen kann. Konstruktionen sind konventionalisierte Form-Funktionspaare. Die kontex‐ tuell deduzierten Bedeutungen gehören zur Pragmatik einer Konstruktion. In der Konstruktionsgrammatik fehlt noch eine gründliche und präzise Be‐ stimmung der pragmatischen Seite einer Konstruktion. Dies deutet hin, dass die Konstruktionsanalyse immer in verschiedenen pragmatisch motivierten Verwendungssituationen stattfinden soll. Bis jetzt werden die vier theoretischen Bausteine einer Konstruktion im vorgeschlagenen PSSP-Modell besprochen. Die Antwort auf die Frage, wie dieses Modell in der vorliegenden umfassenden Arbeit umgesetzt wird, wird in Kapitel 4 mit konkreten Beispielen gegeben. 3.7 Synthese: Das PSSP-Modell für eine Konstruktionsanalyse 101 <?page no="103"?> 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden Die vorliegende Arbeit versteht sich grundsätzlich als eine korpusgestützte em‐ pirische Studie über metaphorische Konstruktionen auf verschiedenen Ebenen (idiomatisch, textuell und multimodal). Auf jeder Ebene werden dementspre‐ chend aufgrund der Forschungsfragen auch unterschiedliche Korpora berück‐ sichtigt. Dieses Kapitel dient als ein Übergangskapitel von der Theorienbildung bis in die Empirie und vermittelt die wichtigsten Informationen über die ver‐ wendeten Sprachdaten im ersten Abschnitt (Kap. 4.1). Im zweiten Unterkapitel (Kap. 4.2) werden die Methoden der folgenden drei empirischen Kapitel (vgl. Kap. 5, 6 und 7) transparent und nachvollziehbar dargestellt. Die Darstellung der Korpora sowie der Methoden entspricht der Reihenfolge der empirischen Kapitel, um ein besseres Gesamtbild über den empirischen Teil zu ermöglichen. 4.1 Aufbau der Korpora In den folgenden drei Unterkapiteln werden zunächst die verwendeten Sprach‐ daten jeweils für die Analyse auf der idiomatischen, textuellen und multimo‐ dalen Ebene (Titelbild-Konstruktion-Komposition) vorgestellt. Die allgemeinen Informationen bzw. Statistiken über die verwendeten Korpora werden auch an der passenden Stelle dargelegt. Zudem werden dabei die wichtigen Kriterien für die Auswahl der Korpora bzw. für den Aufbau der eigenen Sprachdaten dementsprechend eingeführt. 4.1.1 Die verwendeten Sprachdaten für Analyse auf der idiomatischen Ebene Wie bereits in Kapitel 2.7 erwähnt, ist die Orientierungsmetapher eine der fas‐ zinierendsten Type der Metaphern in der menschlichen Sprache. Das Kapitel 5 nimmt genau diese spezifische Gruppe der Metaphern unter die Forschungslupe und versucht anhand der bereits in Kapitel 2 und Kapitel 3 etablierten Modelle die idiomatischen Konstruktionen, die implizit oder explizit Orientierungsme‐ taphern enthalten, zu analysieren. Alle idiomatischen Konstruktionen in der chinesischen Analyse haben zwei unterschiedliche Quellen: Zunächst werden ein chinesisches Großwörterbuch <?page no="104"?> ( 现代汉语词典 , Modernes Chinesisches Wörterbuch, MCW, 2017) und ein chinesi‐ sches Großwörterbuch der Chengyu ( 成语大词典 , Großwörterbuch der Chengyu, Abkürzung GC, 2018) herangezogen. Das MCW in der 7. Auflage ist die aktuelle Auflage des Standardwörterbuchs der chinesischen Sprache und dokumentiert mehr als 70000 Einträge. Das GC findet seit dessen Veröffentlichung 2004 eine überwiegend positive Resonanz in der Leserschaft. In der überarbeiteten Auflage 2018 werden mehr als 18000 Chengyu-Konstruktionen dargestellt. Im Prinzip kann man die Chengyu-Konstruktion als eine besondere Form der chinesischen idiomatischen Redewendungen bezeichnen. Zur Bestimmung des Begriffs sowie zur Abgrenzung dieser idiomatischen Redewendungen in der chinesischen Sprache gibt es später in Kapitel 5.2.1 einen separaten Einführungsabschnitt. Manuell und introspektiv werden alle idiomatischen Chengyu-Konstruktionen ausgewählt, die mit vier Schriftzeichen aufgebaut werden. Chengyu-Konstruktionen mit mehr als vier oder weniger als vier Schriftzeichen werden im ersten Schritt zunächst ausgeschlossen, da die Vier-Schriftzeichen-Chengyu-Konstruktion die gängige Form der idiomatischen Konstruktion im Chinesischen darstellt und den höchsten Anteil der chine‐ sischen idiomatischen Konstruktionen ausmacht. Danach werden alle ausge‐ wählten Chengyu-Konstruktionen mit vier Schriftzeichen noch näher einge‐ grenzt. Das vorliegende Projekt interessiert dabei insbesondere die chinesischen Chengyu-Konstruktionen mit vier Schriftzeichen, die 1. explizit einen Raumbegriff (z.-B. 上 oben, 下 unten, 左 links, 右 rechts), 2. mehrere Raumbegriffe, also mehr als einen (z. B. 纵横 , kreuz und quer, 深 浅 tief und flach) enthalten oder 3. implizit eine Raummetapher durch Bewegungswörter erzeugen (z. B. 升 steigen, 落 fallen, 翻 umdrehen). Daher werden alle Chengyu-Konstruktionen aus den beiden genannten Groß‐ wörterbüchern, die zumindest eine der oben aufgeführten Eigenschaften er‐ füllen, in einem zweiten Schritt als Shortlist zusammengefasst. Die zweite Quelle für die Analyse der chinesischen Chengyu-Konstruk‐ tionen stammt aus einem der umfangreichsten chinesischen Korpora - das CCL-Korpus. Dieses seit 2004 vom Center for Chinese Linguistics der Univer‐ sität Peking aufgebaute, gepflegte und ständig wachsende Korpus zielt auf die chinesische linguistische Forschung sowie die chinesische Sprachvermittlung ab und wurde zumindest dreimal in großem Ausmaß erweitert bzw. aktualisiert (2006, 2009, 2014). Dieses umfassende Korpus steht mit einer kostenlosen Anmeldung komplett für Forschungszwecke zur Verfügung. 104 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="105"?> Das CCL-Korpus besteht aus drei Teilkorpora: das Korpus für Modernes Chinesisch (KMC), das Korpus für Altes Chinesisch (KAC) sowie das satzori‐ entierte chinesisch-englische Parallelkorpus (SAEP). Der aktuelle Umfang des CCL-Korpus (Stand 2019) beträgt mehr als 700 Millionen chinesische Schrift‐ zeichen. Das KMC umfasst Sprachdaten aus unterschiedlichen historischen Epochen. Sowohl die Sprachdaten aus der Zeit der Republik China (1912-1949) als auch aus der Zeit der Volksrepublik China (1949 bis jetzt) werden in das KMC eingespeist. Eine ausführliche Vorstellung des KMCs erfolgt im nächsten Abschnitt. Das KAC sammelt Sprachdaten in einem Umfang von ungefähr 40 Gigabytes an und dokumentiert 18898 unterschiedliche Schriftzeichen in der altchinesischen Sprache. Die genaueren Informationen über die Type-Token-Re‐ lationen findet man leider nicht im Teil der Vorstellung des CCL-Korpus auf seiner Homepage. Die Hälfte der dokumentierten Sprachdaten stammen aus der Zhou-Dynastie bis in die Republik China (etwa von 1100 v. Chr. bis 1949). Zu der anderen Hälfte der Sprachdaten gehören beispielsweise: 1. buddhistische Klassiker (z.-B. Da Zang Jing, Das Gesamtwerk der chinesi‐ schen buddhistischen Kanons; Dao Zang, Die Kanons des Daoismus), 2. Dynastiegeschichten (z. B. Er Shi Wu Shi, Die fünfundzwanzig Dynastie‐ geschichten), 3. Literaturklassiker (z. B. Quan Tang Shi, Das Œuvre der Tang-Lyrik; Quan Yuan Qu, Das Œuvre der Yuan-Dramen; Quan Song Ci, Das Œuvre der Song-Lyrik), 4. philosophische Texte (z. B. Zhu Zi Bai Jia, Philosophische Texte aus den Hundert Schulen) und 5. Wörterbücher in der chinesischen Geschichte. Das SAEP umfasst 747 chinesisch-englische sowie 1627 englisch-chinesische Übersetzungsdokumente (mehr als sechs Millionen chinesische Schriftzeichen und ungefähr vier Millionen englische Wörter). Die Mehrheit des SAEP-Korpus stammt aus den Schriftsprachen des Chinesischen sowie des Englischen. Die meisten Sprachdaten lassen sich in drei Textsorten unterteilen: Gebrauchstext, Belletristik und Nachricht, die viele alltägliche Bereiche wie Politik, Technologie und Sport betreffen (vgl. Zhan et al. 2019: 74). Für die Analyse der herausgefilterten Chengyu-Konstruktionen wird das KMC eine besondere Rolle spielen, weil sich die vorliegende sprachvergleichende Un‐ tersuchung auf die metaphorischen Konstruktionen in der chinesischen und der deutschen Gegenwartssprache konzentriert. Im Folgenden wird daher das KMC vorgestellt, wobei die Vorstellung im Wesentlichen auf einem Aufsatz des korpuslinguistischen Teams der Universität Peking über den aktuellen Stand 4.1 Aufbau der Korpora 105 <?page no="106"?> des CCL-Korpus (vgl. Zhan et al. 2019) basiert. Das KMC enthält ungefähr 120 Gigabytes und dokumentiert 10645 unterschiedliche Schriftzeichen (also Type), die wiederum nach dem Erscheinungsjahr der aufgenommen Sprachdaten in zwei Teilkorpora unterteilt werden: das Korpus für Modernes Chinesisch (bis 1949) und das Korpus für Zeitgenössisches Chinesisch (seit 1949). Die meisten Sprachdaten aus dem KMC (98,72%) sind auf das Korpus für Zeitgenössisches Chinesisch (seit 1949) zurückzuführen, wobei das Korpus für Modernes Chinesisch (bis 1949) nur 1,28% des Gesamtkorpus ausmacht. Im Korpus für Zeitgenössisches Chinesisch (seit 1949) werden insbesondere unterschiedliche Textsorten sowie Sprachmodalitäten (schriftlich oder mündlich) berücksichtigt. Die nachstehende Tabelle beleuchtet die Zusammensetzung der Sprachdaten aus dem KMC: KMC (bis 1949) Bytes Anteil - KMC (seit 1949) Bytes Anteil Literatur 14052591 92,15% Zeitung und Zeitschrift 839973730 71,45% Drama 1197572 7,85% Übersetzungswerk 90046147 7,66% - Literatur 85241162 7,25% Internet 54680142 4,65% Gebrauchstext mit privater sowie geschäftlicher Kor‐ respondenz 48286885 4,11% Fernsehserie und Film 21359547 1,82% Wissenschaftliche Arbeit 20655712 1,76% Geschichte und Biographie 8799888 0,75% Xiang Sheng (Komischer Dialog) und Xiao Ping (Chinesischer Sketch) 3480086 0,30% Gesprochenes Chinesisch 3081723 0,26% Summe 15250163 100% Summe 1175605022 100% Tab. 20: Die Zusammensetzung der Textquellen sowie deren statistische Distribution der unterschiedlichen Textquellen im KMC (Zhan et al 2019: 73, Übersetzung von BZ) Ebenso von großer Bedeutung sind die Standardwörterbücher sowie das ausge‐ wählte Teilkorpus für die Analyse der deutschen idiomatischen Konstruktionen. 106 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="107"?> Ähnlich wie in der Analyse der chinesischen Chengyu-Konstruktion werden zwei Standardwörterbücher in der deutschen Sprache als Referenzwerke in der introspektiven Phrase herangezogen: Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache (in 10 Bänden) (die 2. Auflage in elektronischer Form als Software, 2011, Abkürzung: DGWDS) und Duden - Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik (die 5. Auflage in PDF-Form, 2020; Abkürzung: DR). Das zehnbändige DGWDS ist das umfassendste Wörterbuch der deutschen Sprache. In der elektronischen Form werden mehr als 780000 Stichwörter, Bedeutungen, Beispiele und Zitate dokumentiert (vgl. Vorwort des DGWDSs, 2011). In der aktuellen Fassung des DRs sind über 18000 feste Wendungen, Redensarten und Sprichwörter aufzufinden. Neben der Darstellung der Bedeutungen sowie des Gebrauchs der Einzeleinträge informiert der DR über die Herkunft mancher Redewendungen. Darüber hinaus werden zusätzliche Informationen durch die Infokästen dargelegt (vgl. Vorwort des DRs, 2020). Da die Konstruktionen mit Orientierungsmetaphern den Untersuchungsge‐ genstand auf der idiomatischen Ebene darstellen, werden die idiomatischen Konstruktionen im Deutschen, die Raumbegriffe (z. B. oben, unten, auf, über) oder Bewegungsverben (z. B. ziehen, setzen, stellen, reißen) enthalten, aus den einschlägigen Wörterbüchern ausgewählt und deren Verwendungen im folgenden Teilkorpus von DWDS überprüft. Das verwendete Teilkorpus stammt aus den umfangreichen Korpora-Res‐ sourcen des DWDS (Digitalem Wörterbuch der Deutschen Sprache). Das DWDS ist nach der Homepage-Information (https: / / www.dwds.de/ ) Teil des vom Bun‐ desministerium für Bildung und Forschung finanzierten Zentrums für digitale Lexikographie der deutschen Sprache (ZDL) und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW). Ziel des Aufbaus des DWDS ist es, für jeden Benutzer ein umfassendes und digitales lexikalisches System zu schaffen, das über das Internet ermöglicht, Informationen über den deutschen Wortschatz sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart zu vermitteln. Die bereits lexikalisierten Einträge aus den bisher auf dem Markt verfügbaren Wörterbüchern werden mit vielen authentischen Beispielen aus dem alltäglichen Sprachgebrauch auf den neuesten Stand gebracht. Daher können die Korpora aus dem DWDS den authentischen Sprachgebrauch einer sprachlichen Konstruktion dokumentieren bzw. Belege für die Fragestellung mit einem gebrauchsbasierten linguistischen Ansatz liefern. Nachfolgend werden allgemeine Informationen zum DWDS sowie den verwendeten Teilkorpora - DWDS-Kernkorpora (im 20. und 21. Jahrhun‐ dert) und Referenz- und Zeitungskorpora von DWDS - dargestellt. An dieser Stelle ist auch zu erwähnen, dass die oben genannten drei Korpora aus dem DWDS für einen wissenschaftlichen sowie nicht-kommerziellen Zweck mit einer 4.1 Aufbau der Korpora 107 <?page no="108"?> Registrierung kostenlos verfügbar sind. Die Darstellung der drei verwendeten Teilkorpora orientiert sich, falls ohne weitere Angaben, an der verfügbaren Vorstellungsinformation auf den relevanten DWDS-Webseiten. Das digitale Projekt des lexikographisches Systems DWDS wurde, gefördert durch die DFG, größtenteils von 2000 bis 2003 erstellt. Über 27 Milliarden Tokens aus historischen und gegenwartssprachlichen Korpora stehen für die Recherche im DWDS zur Verfügung. Für jeden Einzelbeleg ist dementsprechend eine Reihe von Metadaten verfügbar: Textsorte, Autor, Titel, Verlag sowie Erscheinungs‐ datum. Das DWDS besteht aus den folgenden verschiedenartigen Korpora: 1. Referenzkorpora (z. B. DWDS-Kernkorpus (1990-1999); DWDS-Kern‐ korpus 21 (2000-2010)) 2. Metakorpora (z. B. Deutsches Textarchiv Kernkorpus + Erweiterungen (1465- 1969); Historische Korpora (1465-1969); ZDL-Regionalkorpus (ab 1993)) 3. Zeitungskorpora (z. B. Berliner Zeitung (1945-2005), Der Tagesspiegel (ab 1996), Die ZEIT (1946-2018)) 4. Webkorpora (z.-B. Webkorpus, Jurakorpus, Medizinkorpus, Corona-Korpus, IT-Blogs) 5. Spezialkorpora (z. B. Polytechnisches Journal, Dortmunder Chat-Korpus, Filmuntertitel, Gesprochene Sprache, Berliner Wendekorpus, Politische Reden (1982-2020)) Die erste verwendete Quelle für die Analyse der deutschen idiomatischen Konstruktionen bilden die nachstehenden Referenzkorpora: Das DWDS-Kern‐ korpus (1900-1999) und das DWDS-Kernkorpus 21 (2000-2010). Ein Referenz‐ korpus kann in der Korpuslinguistik als ein zeitlich und hinsichtlich der Text‐ sortenverteilung ausgewogenes Korpus aufgefasst werden. Die wesentlichen Merkmale sowie Zahlen (Stand 2021) zu den beiden verwendeten Kernkorpora kann man der folgenden Tabelle entnehmen: Merkmale DWDS-Kernkorpus (1900-1999) DWDS-Kernkorpus 21 (2000-2010) Dokumente 79116 12184 Tokens 121397601 15469000 Sätze 5819573 874113 Tab. 21: Die Statistik der verwendeten DWDS-Korpora (Stand 2021) 108 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="109"?> Man bemerkt in der obenstehenden Tabelle, dass der Umfang des DWDS-Kern‐ korpus 21 (2000-2010) deutlich kleiner ist als der Umfang des DWDS-Kern‐ korpus aus dem 20. Jahrhundert. Der Grund dafür ist relativ einfach: Das DWDS-Kernkorpus ist momentan ein noch nicht abgeschlossenes und ausge‐ wogenes Korpus. Dieses Korpus wird im Laufe der Zeit mit Texten aller Textsorten noch weiter ergänzt, sobald die Korpusersteller die Rechte für die Anzeige der betroffenen Texte erwerben. Das jetzige DWDS-Kernkorpus 21 enthält vor allem belletristische und wissenschaftliche Texte aus den Jahren 2000 bis 2006 sowie Zeitungstexte, während das DWDS-Kernkorpus (1990-1999) aus vier Textsorten (Belletristik: 26,35%; Gebrauchsliteratur: 21,77%; Wissenschaft: 24,59%; Zeitung: 27,29%) besteht. Die zweite Quelle, die von großer Bedeutung für die Analyse der deutschen idiomatischen Konstruktionen ist, gehört zu den Referenz- und Zeitungskor‐ pora von DWDS. Diese Korpora umfassen die bereits vorgestellten beiden DWDS-Kernkorpora (1990-2010) und andere weitere Korpora wie Berliner Zei‐ tung (1994-2005), Deutsches Textarchiv Kernkorpus, Deutsches Textarchiv Er‐ weiterungen, Der Tagesspiel (1996-2005) und Die Zeit (1946-2018). So ermöglicht diese Referenz- und Zeitungskorpora eine Überprüfung der entsprechenden idiomatischen Konstruktionen auf einer noch breiteren Basis. In der folgenden Tabelle werden Statistiken zum verwendeten Referenz- und Zeitungskorpora von DWDS resümiert (die Quelle stammt aus der entsprechenden Webseite von DWDS): Referenz- und Zeitungskorpora im DWDS (Stand: 19.11.2021) Dokumente 2469203 Sätze 70318052 Tokens 1330452985 Aktualisierung der Quelldaten 03.09.2021 Korpusindizierung 04.09.2021 Tab. 22: Statistiken über die Referenz- und Zeitungskorpora im DWDS 4.1 Aufbau der Korpora 109 <?page no="110"?> 4.1.2 Die verwendeten Sprachdaten für die Analyse auf der textuellen Ebene Für die chinesische sowie die deutsche Analyse auf der textuellen Ebene spielen die selbst angesammelten Texte aus zwei überregionalen wöchentlich erscheinenden Zeitschriften eine bedeutende Rolle. Die beiden Zeitschriften sind Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan ( 中国新闻周刊 , offizielle englische Überset‐ zung: China Newsweek, Abkürzung: CN) und Der Spiegel (Abkürzung: DS). Im vorliegenden Unterkapitel werden zuerst die Auswahlkriterien der beiden Zeitschriften dargelegt und im Anschluss daran die allgemeine Situation der Textzusammensetzung vorgestellt. Die Auswahl der beiden Zeitschriften ist nicht willkürlich. Für die Zusam‐ menstellung der möglichen Zeitschriften für die textuelle und multimodale Analyse sind die nachfolgenden drei Faktoren besonders zu berücksichtigen: die Repräsentativität bzw. die Reichweite der Zeitschrift sowie die verfügbare Zeitspanne. Die Repräsentativität bzw. die Reichweite der Zeitschrift bedeutet zweierlei: Erstens, die verwendeten Sprachvariationen der ausgewählten Zeit‐ schriften müssen mehrheitlich von der Sprachgemeinschaft akzeptiert werden. Zweitens ist es möglich, durch die Analyse der Sprachvariationen einen re‐ präsentativen Ausschnitt des gesamten Sprachgebrauchs in der jeweiligen Sprachgemeinschaft abzubilden. Aufgrund dessen werden die regionalen bzw. dialektischen Zeitschriften in der Studie ausgeschlossen und nur die überregio‐ nalen Zeitschriften werden im Auswahlprozess herangezogen. Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan (offizielle englische Übersetzung: China Newsweek) ist ein chinesisches wöchentliches Nachrichtenmagazin, das vom China News Service ( 中国新闻社 ) gegründet und am 1. Januar 2000 zum ersten Mal in Beijing veröffentlicht wurde. Die derzeitige Auflage dieses montags veröffentlichten Nachrichtenmagazins beträgt 850000 und die Reichweite liegt bei schätzungsweise 4,25 Millionen (vgl. http: / / aboutus.inewsweek.cn/ ). Die Verbreitung sowie der Einfluss des Nachrichtenmagazins sind auch verstärkt durch dessen Präsenz auf unterschiedlichen digitalen Portalen (z. B. Sina Weibo, WeChat und eigene Nachrichten-App) festzustellen. Nach dem 2015 veröffent‐ lichten Bericht des China Mobile Communication Index, der vom Forschungsin‐ stitut von Ren Min Wang sowie dem Web Science Center an der Universität Wuhan zusammen herausgegeben wurde, belegte dieses Nachrichtenmagazin den ersten Platz in der Rubrik Zeitschriften (vgl. https: / / static.prnasia.com/ p ro/ marketing/ MAIN201406181323000281746979624.pdf). Die Themenauswahl des Magazins ist umfangreich und betrifft viele Lebensbereiche wie Politik, Wirtschaft, Technologie, Kultur, Sport, Mode sowie Unterhaltung. 110 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="111"?> Der Spiegel nimmt eine wichtige Rolle in der deutschen Pressegeschichte ein und zählt zu einem der einflussreichsten Medien in den deutschsprachigen Ländern. Dieses von Rudolf Augstein in Hamburg gegründete Nachrichtenma‐ gazin wurde am 4. Januar 1947 erstmals auf die öffentliche Bühne gebracht. Die verkaufte Auflage beträgt derzeit 649235 Exemplare und es erreicht schätzungs‐ weise 4,66 Millionen Leser (vgl. https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 164386/ umfrage/ verkaufte-auflagen-von-spiegel-stern-und-focus/ ). Auch Der Spiegel hat seinen medialen Einfluss durch digitale Wege ausgebaut (z. B. durch das gleichnamige Nachrichtenportal, eigene App). Dieses deutsche Nachrich‐ tenmagazin wird seit langem in unterschiedlichen Journalistenumfragen (1993, 2005) als eines der deutschsprachigen Leitmedien eingestuft (vgl. Weischenberg et al. 2013), die die Funktion übernehmen, gesellschaftliche Kommunikation und Öffentlichkeit zu gestalten sowie zu beeinflussen. Hier sieht man, dass die beiden überregionalen Nachrichtenmagazine viele Gemeinsamkeiten aufweisen: Sie befinden sich in einer leitenden sowie mei‐ nungsbildenden Position in der jeweiligen Kultur. Die hohen Verkaufszahlen, die breite Reichweite sowie die überwiegend positive Rezeption der beiden Nachrichtenmagazine demonstrieren eindeutig den medialen, kulturellen und gesellschaftlichen Einfluss. In der Bestimmung der Themenbereiche sind eben‐ falls viele Überschneidungen zwischen den beiden Medien zu beobachten. Auch die Erscheinungsfrequenz der beiden Zeitschriften ist gleich: Sie erscheinen wöchentlich auf dem Markt. Es ist durch die obige Darstellung ersichtlich, dass die gewählten Presseme‐ dien von großer Bedeutung in der jeweiligen Kultur sind. Auch der Einflussbe‐ reich der beiden ist sehr weit und am prominentesten. Darüber hinaus wirkt die verfügbare Zeitspanne in der Auswahl mit. Die beiden ausgewählten Nachrichtenmagazine sind auch digital verfügbar und die verfügbare Zeitspanne der beiden Zeitschriften bezieht sich auf die Ge‐ genwartssprachen: Der Spiegel stellt die veröffentlichten vergangenen Ausgaben als DER SPIEGEL Archiv in PDF-Form auf seinem gleichnamigen Internet-Portal ins Netz (derzeit von 1947 bis 2021, vgl. https: / / www.spiegel.de/ spiegel/ print/ i ndex-2021.html) und alle Ausgaben seit Ausgabe 40/ 1947 stehen den digitalen Abonnenten Des Spiegels kostenlos zur Verfügung. Alle digitalen Ausgaben seit 2003 von Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan sind ebenfalls leicht bei einem der größten digitalen Zeitschriftenanbieter - Long Yuan Qi Kan Wang (Überset‐ zung: Webseite der Long Yuan-Zeitschriften, vgl. http: / / www.qikan.com/ ) - zu erhalten. Gegen eine geringfügige Bezahlung für ein digitales Studenten-Jah‐ resabonnement stehen die digitalen Ausgaben vieler ausgewählter chinesischer Nachrichtenmagazine aus diesem Portal zur Verfügung. Natürlich sind die 4.1 Aufbau der Korpora 111 <?page no="112"?> beiden Zeitschriften üblicherweise als Printausgaben in vielen der deutschen sowie der chinesischen Stadt-, Staat- oder Universitätsbibliotheken kostenlos verfügbar. Nebensächlich sind auch die folgenden zwei möglichen Vorteile für die digitale Verfügbarkeit der ausgewählten Zeitschriften zu nennen: Durch die digitale Ausgabe wird erstens eine schnelle Recherche ermöglicht (z. B. Suche nach bestimmten Begriffen und deren linguistischen Kontext) und zweitens die Statistiken zu den analysierten Sprachdaten (z. B. Zahl der Tokens, Type sowie der Gesamttextmenge) sind leicht zu ermitteln. Nun ist es klar, warum die beiden Nachrichtenmagazine als Kandidaten für die Analyse ausgewählt wurden. Allerdings muss man sich um eine weitere Frage kümmern: Welche Texte sollen analysiert werden? Die Gesamtseitenzahl einer Ausgabe von Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan liegt in der Regel bei knapp 100 Seiten, während eine Ausgabe von Der Spiegel üblicherweise einem Umfang von 120 bis 140 Seiten entspricht. Bei einer solch umfangreichen Textmenge mit ver‐ schiedenen Themenbereichen muss man sich entscheiden bzw. klar abgrenzen, welche Texte aus welcher Rubrik der beiden Nachrichtenmagazine für die vor‐ liegende Untersuchung verhältnismäßig geeignet sind. Zum Beispiel kommen die Texte aus der Rubrik „Sport“ in Frage, wenn sich die Forschungsfragestellung auf die Analyse der Metaphorik in einer Fußballberichterstattung bezieht. Selbstverständlich hängt das Untersuchungsergebnis der Einzeluntersuchung von der zugrundeliegenden Textsorte ab. Es ist daher nicht möglich, durch eine spezielle Auswahl einer bestimmten Rubrik der analysierten Zeitschriften, den Anspruch auf eine allgemein gültige Repräsentativität sowie Verallgemei‐ nerung zu erheben. Jedoch muss man sich für ein vergleichbares, homogenes Textkorpus auf einer metasprachlichen Ebene entschließen. Das heißt, man muss genau abwägen, welche Textsorte in einer Zeitschriftenausgabe aus den beiden Sprachkulturen eventuell vergleichbar ist und inwieweit man diesen Vergleich ziehen darf. Zum Beispiel kann man nicht die chinesischen Texte aus der Rubrik „Sport“ (z. B. Fußballkommentare) mit den deutschen Texten aus der „Politik“-Rubrik (z. B. politische Reden) vergleichen, weil die beiden Text‐ sorten Heterogenität aufweisen. Jedoch muss hier auch erwähnt werden, dass eventuell einige Unterschiede (formal und informal) trotz der gleichen Textsorte aufgrund der linguistischen, kulturellen sowie gesellschaftlichen Entwicklung einer Textsorte zu beobachten sind. Dies schadet aber nicht der gesamten Auswertung des Inhalts sowie der verwendeten sprachlichen Konstruktionen in einer textuellen Analyse. Darüber hinaus variiert die sprachliche Verwendung von Rubrik zu Rubrik. Die in dieser Untersuchung ausgewählte Rubrik „Leitar‐ tikel“ enthält wegen ihrer persuasiven und meinungsbildenden Texteigenschaft viele Metaphern, die die Argumentationsentfaltung unterstützen. Von daher ist 112 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="113"?> diese Rubrik besonders relevant für die Untersuchung. Im Folgenden wird ein genauer Blick auf diese Rubrik geworfen. Die vorliegende Untersuchung wählt sämtliche Texte aus der Rubrik „Leit‐ artikel“ der beiden analysierten Nachrichtenmagazine aus. Die Entscheidung für diese Textauswahl ist kein Produkt der Willkür. Um sie sinnvoll zu treffen, habe ich zwei wesentliche Kriterien berücksichtigt. Das eine bezieht sich auf die Eigenschaften der Textsorte „Leitartikel“ in einer Zeitungsbzw. Zeitschrif‐ tenausgabe. Das andere bezieht sich auf das Forschungsziel der vorliegenden Schrift. Nachstehend werde ich zuerst auf die wesentlichen Merkmale der Leitartikel eingehen und dann überprüfen, ob diese Textsorte tatsächlich dem Forschungszweck dienen kann. Der Leitartikel wird in der Regel als eine spezifische Textsorte angesehen, die im Pressewesen anzusiedeln ist. Im Duden findet man die folgende Begriffser‐ klärung für diese Textsorte: Leitartikel: der [Lehnübersetzung von englisch leading article] (Zeitungswesen): kommentierender Artikel an bevorzugter Stelle einer Zeitung oder Zeitschrift zu wichtigen aktuellen Themen: Der Chefredakteur wird dem Leben und Wirken der Firmengründer … einen Leitartikel widmen (Chotjewitz, Friede 265); Und um diese Gruppe (= unentschlossene Wähler) wird gekämpft in Fernsehdiskussionen, Radio‐ programmen und Leitartikeln (SZ, 28.05.1998, 11) (Duden - Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 4. Auflage. Mannheim: 2012) Aus diesem lexikographischen Eintrag kann man bereits einen ersten Überblick über Leitartikel als eine Textsorte gewinnen: Der Leitartikel ist vor allem eine hervorgehobene Stellungnahme zu einem bestimmten aktuellen Thema oder Sachverhalt, der die gemeinsam geteilte Meinung des Redaktionsteams einer Zeitung oder Zeitschrift zur Sprache bringt. Da es sich bei einem Leitartikel um einen Kommentar oder eine bevorzugte Position handelt, wird der Text dementsprechend nicht in einem rein narrativen Stil verfasst. Das Wesen des Leitartikels besteht im modernen Journalismus in einer argumentativen Mei‐ nungsäußerung. Daher darf ein Leitartikel stilistisch nicht erzählend wirken. Darüber hinaus ist der Sprachstil eines Leitartikels sehr aktiv und emotional stark aufgeladen. Dies wird beispielsweise in zahlreichen ausdrucksstarken Über- oder Unterschriften der Bild-Zeitung bestätigt. Ein weiterer interessanter Aspekt über den Sprachstil eines Leitartikels muss hier auch genannt werden, nämlich der Einbezug von fachlichen Begriffen in einen Leitartikel. Um die betroffenen politischen, wirtschaftlichen sowie sozialen Themen besser zu be‐ sprechen, werden die relevanten Fachtermini auch in den Leitartikel eingeführt (z.-B. Föderalismusreform, Eurorettungsschirm, Hartz-Konzept). Sie müssen aber 4.1 Aufbau der Korpora 113 <?page no="114"?> einheitlich und verständlich dargelegt werden und dürfen das Verständnis der Leserschaft nicht beeinträchtigen. In einem Satz: Der fachbegriffliche Einbezug darf die Darstellung der eigentlichen These(n) sowie Argumentation(en) nicht behindern. Von daher ist es aus dieser Sichtweise auch interessant zu analy‐ sieren, wie Fachsprache in Leitartikeln eingeführt wird bzw. wie der Dialog zwischen der Fachsprache und der Alltagssprache stattfindet. Auf diesen Punkt werde ich im folgenden Unterkapitel über die analysierten Dimensionen auf der textuellen Ebene noch ausführlich zurückkommen (vgl. Kap. 4.2.2). Der Aufbau eines Leitartikels orientiert sich an dem typischen Textmuster eines journalistischen Artikels. Somit besteht ein Leitartikel meistens aus den nachfolgenden vier Teilen: Titel bzw. Untertitel, Lead, Hauptteil sowie Schluss. In jedem Teil sind darüber hinaus noch einige bemerkenswerte Textmerkmale zu nennen. Wie bereits hinsichtlich des Sprachstils darauf hingewiesen, soll der Titel oder der Untertitel eines Leitartikels ausdrucksstark sowie kommentierend sein. Das dient vor allem dazu, die potenzielle Leserschaft anzulocken. Danach folgt ein kurzer und knapper Einleitungstext, um die zu behandelnde sowie be‐ sprechende Thematik des Leitartikels anzudeuten. Die Einleitung wird teilweise auch als eine Möglichkeit zur Vermittlung des nötigen Hintergrundwissens über das zu besprechende Thema genutzt. Einen solchen Einleitungstextabschnitt nennt man in der Medienlinguistik „Lead“. Im Anschluss kommt der Hauptteil mit These(n) und Argumentation(en) hinzu. Im Hauptteil können in Bezug auf ein aktuelles Thema eine eigene Meinung formuliert, die jetzige verbreitete Meinung in der Gesellschaft diskutiert, die zukünftigen Tendenzen geschildert sowie die typischen 6-W-Fragen (Wer, Wie, Was, Wo, Warum, Woher) im Journalismus bearbeitet werden. Nach dieser Auseinandersetzung mündet der Leitartikel am Schluss in ein quasi Fazit-Format, welches die Leserschaft zum Nachdenken anregen soll (Reumann 2014: 129-167). Nachdem nun die allgemeine Situation der Textsorte „Leitartikel“ dargestellt wurde, kann jetzt überlegt werden, ob diese Textsorte für die Forschungsfrage dieser Arbeit geeignet ist. Wie bereits in Kapitel 1 geschildert, zielt die vorlie‐ gende Schrift auf die Überprüfung der metaphorischen Konstruktionen auf unterschiedlichen Ebenen mittels authentischer Sprachgebrauchsdaten ab. Auf der textuellen Ebene ist insbesondere zu überprüfen, wie sprachliche Konstruk‐ tionen in einer argumentativen Textsorte dynamisch verwendet werden und wie die pragmatische Seite den Gebrauch der sprachlichen Konstruktionen prägt. Durch die obige Darstellung ist festzuhalten, dass es sich bei einem Leitartikel primär um eine Meinungsäußerung, -bildung sowie -beeinflussung handelt. Die Informationssowie Darstellungsfunktion sind sekundär für die Textsorte „Leitartikel“. Daher ist die Anwendung einer unzähligen Menge an 114 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="115"?> Konstruktionen in Leitartikeln zu verzeichnen, die die im Text aufgestellte(n) These(n) untermauern sowie die Argumentation(en) unterstützen. Darunter sind auch viele metaphorische Konstruktionen zu beobachten (z. B. das Haus Europa, das Boot ist voll). Weil die Metapher nur eine perspektivische Darstellung ermöglichen kann, sind metaphorische Konstruktionen besonders mächtige Waffen, um Argumentationen bildhaft darzulegen sowie zu unterstützen. Aus dieser Perspektive ist es anschlussfähig, die metaphorischen Konstruktionen und den Sprachgebrauch in Leitartikeln in Verbindung zu setzen. Dies macht eine Analyse der metaphorischen Konstruktionen in Leitartikeln besonders fruchtbar. Dem folgend wird klar ersichtlich, warum nur die Texte aus der Rubrik „Leitartikel“ von den beiden ausgewählten Nachrichtenmagazinen zum Unter‐ suchungsgegenstand auf der textuellen Ebene gemacht werden können. Nun möchte ich die Zusammensetzung der analysierten Leitartikel sowie die wich‐ tigen Statistiken zu diesen vorstellen. Die Analyse auf der textuellen Ebene umfasst alle Leitartikel aus den beiden Nachrichtenmagazinen im Zeitraum von 2015 bis 2017. Sie bilden zusammen das verwendete Korpus auf der textuellen Ebene in dieser vorliegenden Un‐ tersuchung. Untersucht werden insgesamt 303 Leitartikel, verteilt auf 303 DIN-A4-Seiten, aus Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan sowie Dem Spiegel. Dies entspricht einer Textmenge von 349340 Wörtern. Die konkreten Statistiken zur Verteilung der Texte, die Menge des Korpus im jeweiligen Kalenderjahr und die durchschnittliche Textlänge können in der folgenden Tabelle eingesehen werden: - Zeitraum Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan Der Spiegel Texte Wörter Textlänge Texte Wörter Textlänge 2015 49 78419 1600.39 53 40628 766.57 2016 48 75992 1583.17 52 38960 749.23 2017 48 76162 1586.71 53 39179 739.23 Summe 145 230573 1590.16 158 118767 751.69 Tab. 23: Die Statistiken der Textkorpora von Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan und Der Spiegel 4.1 Aufbau der Korpora 115 <?page no="116"?> 4.1.3 Die verwendeten Sprachdaten für die Analyse auf der multimodalen Ebene (Konstruktion-Bild-Komposition) Im letzten Unterkapitel wurden die Auswahlkriterien der analysierten Nach‐ richtenmagazine, die Zusammensetzung der Texte sowie die wichtigen Statis‐ tiken über das selbst angesammelte Textkorpus besprochen. Im vorliegenden Unterkapitel wird nun Allgemeines zu den analysierten Sprachdaten auf der multimodalen Ebene vorgestellt. Für die Untersuchung auf der multimodalen Ebene werden Sprachdaten aus den beiden Nachrichtenmagazinen ausgewertet. Natürlich ist die Begrenzung der umfangreichen Textmenge aus den beiden Nachrichtenmagazinen unver‐ meidlich. Ich habe mich aus zwei Gründen für die Titelseiten sowie die in der Rubrik „Titel“ erscheinenden Texte entschieden: Zum einen werden sprachliche Konstruktionen schon auf den Titelseiten eingesetzt. Sie erscheinen immer mit einem großen Titelbild zusammen und deuten implizit oder explizit auf das zu besprechende Schlüsselthema in einer Ausgabe hin. In erster Linie bieten allein die sprachlichen Konstruktionen auf dem Titelbild schon eine Reihe von interessanten Fragestellungen: In welcher Relation stehen die sprachlichen Konstruktionen und das entsprechende Titelbild? Geben die sprachlichen Konstruktionen auf der Titelseite einer Zeitschrift tatsächlich den zu vermittelnden Sinn des Titelbilds wieder? Welche Aspekte dieser sprachlichen Konstruktionen werden im Titelbild (nicht) realisiert? Welche Aspekte werden (zusätzlich) durch das Titelbild zum Ausdruck gebracht? Was für pragmatische Funktionen kann solch eine Komposition aus Konstruktion und Bild erfüllen? Welche linguistischen Eigenschaften der sprachlichen Konstruktionen sind auf einer Titelseite zu beobachten? Kann das pragmatische Ziel der sprachlichen Kon‐ struktionen ohne das entsprechende Titelbild ebenfalls erreicht werden? Natür‐ lich ergeben sich aus der Konstruktion-Bild-Komposition eine noch vielfältigere Menge an linguistischen Fragestellungen, die ich hier nicht ausführlich auflisten kann. Jedoch zeigt diese begrenzte Benennung der möglichen Forschungsfragen, dass die sprachlichen Konstruktionen auf einer Titelseite in einer Zeitschriften‐ ausgabe sowie die Zusammensetzung von Konstruktion und Titelbild eventuell Impulse für das Verständnis für den linguistischen Konstruktionsbegriff aus einer multimodalen Perspektive geben können. Deswegen bilden alle 52 Titelbilder von Dem Spiegel aus dem Kalenderjahr 2018 und alle 48 Titelbilder von Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan aus demselben Kalenderjahr das erste Bildkorpus für die Analyse auf der multimodalen Ebene. Zum anderen ist wichtig zu prüfen, wie die einschlägige Titelstory erzählt wird. Die Titelseite einer Zeitschriftenausgabe versucht immer, die potenzielle Leserschaft anzuteasern. Das Titelbild wird dementsprechend in der Regel in 116 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="117"?> einer stark emotionalisierten, positionierten und manchmal sogar provokativen Fassung dargelegt. Die Titelstory nimmt üblicherweise mehrere Seiten in einem Zeitschriftenheft in Anspruch und thematisiert die auf der Titelseite angedeutete Topik aus verschiedenen Gesichtspunkten. In den meisten Fällen wird die Titelstory durch mindestens zwei bis vier Texte erzählt. In einigen Fällen kann die Rubrik „Titel“ entweder nur aus einem oder sogar mehr als vier Artikeln bestehen. Analysiert werden alle 121 Texte aus der Rubrik „Titel“ von Dem Spiegel aus dem Kalenderjahr 2018, das sind 417328 Wörter (also durchschnittlich 3448,99 Wörter/ Titelgeschichte). In ähnlicher Weise werden alle 2018 veröffentlichten Titelgeschichten aus Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan genauer betrachtet. Das sind 197 Texte und 883881 Wörter (also durchschnittlich 4486,71 Wörter/ Titel‐ geschichte). Alle 318 Titelgeschichten, also 1301209 Wörter, bilden das zweite Korpus für die Analyse auf der multimodalen Ebene. 4.2 Methode 4.2.1 Das methodische Verfahren der idiomatischen Analyse Auf der idiomatischen Ebene werden zuerst alle Standardwörterbücher bzw. Wörterbücher der Redewendungen jeweils für die chinesische und die deutsche Sprache herangezogen. Ausgehend von allen möglichen Raumbegriffen oder Begriffen, die eine Orientierungsmetapher begleiten bzw. evozieren können, werden in der ersten Runde alle möglichen idiomatischen Konstruktionen manuell aus den Wörterbüchern herausgefiltert. Das heißt, dies kann in zwei Hauptformen realisiert werden. Zum einen kann diese idiomatische Wendung explizit ein Raumkonzept enthalten. Zum anderen kann eine Orientierungs‐ metapher durch ein Bewegungsverb impliziert werden. Ausgewählt wurden insgesamt 1703 idiomatische Konstruktionen in der chinesischen Sprache und 2358 idiomatische Konstruktionen in der deutschen Sprache. Hier sind einige Beispiele aus der deutschen Sprache: die Ärmel hochkrempeln, den Ball flach halten, die Beine unter jmds. Tisch strecken, an einem dünnen Faden hängen, jedes Wort auf die Goldwaage legen, Hand drauf, Krach im Hinterhaus, obenhinaus wollen, die Treppe hochfallen In den oben dargelegten deutschen Beispielen sind noch ein paar morphosyntak‐ tische Besonderheiten zu bemerken: Ein Raumkonzept kann direkt als ein unab‐ hängiger Bestandteil in einer idiomatischen Wendung (z. B. den Ball flach halten), 4.2 Methode 117 <?page no="118"?> 2 Die Darstellung sowie Auswahl dieser Darstellung von der Chengyu-Konstruktion be‐ dürfen meines Erachtens eine separate Behandlung bzw. Vorstellung. Etwas Genaueres findet man in Kapitel 5.1.1. als ein Teil eines trennbaren Verbs (z. B. als ein trennbares Präfix in die Ärmel hochkrempeln) oder als ein Bestandteil eines Kompositums (z.-B. Krach im Hin‐ terhaus) erscheinen. Darüber hinaus kann ein Raumkonzept mit einem anderen Raumkonzept zusammen in einem Wort vorkommen (z.-B. obenhinaus wollen, die Treppe hochfallen). Ein Bewegungsverb mit einem anderen Raumbegriff stellt die häufigste Form der analysierten deutschen idiomatischen Konstruktionen, die eine Orientierungsmetapher enthalten (z. B. die Beine unter jmds. Tisch strecken, an einem dünnen Faden hängen, jedes Wort auf die Goldwaage legen), dar. Nicht zuletzt kann ein Raumbegriff in Form eines Pronominaladverbs in einer idiomatischen Wendung auftreten (z.-B. Hand drauf! ) Die ausgewählten idiomatischen Konstruktionen der chinesischen Seite sind insbesondere durch die strenge Musterhaftigkeit, also Vier-Schriftzeichen-Pat‐ tern, gekennzeichnet. In einer chinesischen idiomatischen Konstruktion kann ein Raumbegriff oder mehrere Raumbegriffe an unterschiedlichen Stellen dieser Konstruktion erscheinen. Zudem kann, wie in der deutschen Sprache, eine idiomatische Wendung explizit oder implizit Raumbegriff(e) beinhalten. Im Folgenden werden vier Beispiele aus der Untersuchung in der chinesischen Sprache vorgestellt und die fett gedruckten Wörter sind die Wörter, die sich auf Orientierungen beziehen: 石 沉 大 海 2 shi 35 chen 35 da 51 hai 214 [ʂɚ 35 ] [ʈʂʰən 35 ] [ta 51 ] [xaɪ 214 ] Stein fallen groß See Bedeutet, dass etwas verschwindet und es keine weiteren Neuigkeiten gibt 指 东 划 西 zhi 214 dong 55 hua 51 xi 55 [ʈʂɚ 214 ] [tʊŋ 55 ] [xwa 51 ] [ɕi 55 ] zeigen Ost streichen West Bedeutet, dass man das eigentliche Thema vermeidet und anderes plaudert 118 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="119"?> 举 国 上 下 ju 214 guo 35 shang 51 xia 51 [tɕy 214 ] [kuɔ 35 ] [ʂɑŋ 51 ] [ɕja 51 ] heben Staat oben unten Bezeichnung für Menschen im ganzen Land 南 来 北 往 nan 35 lai 35 bei 214 wang 214 [nan 35 ] [laɪ 35 ] [peɪ 214 ] [wɑŋ 214 ] Süden kommen Norden gehen Kommen und Gehen Bereits in Kapitel 3 habe ich darauf hingewiesen, dass eine vollständige Kon‐ struktionsdefinition nicht nur das Form-Bedeutung-Verhältnis umfasst. Die prosodische sowie die pragmatische Seite einer sprachlichen Konstruktion müssen auch in eine vernünftige Konstruktionsdefinition integriert werden. Daher wird eine vierdimensionale Analyse für die ausgewählten idiomatischen Konstruktionen eingeführt, die den prosodischen, den formalen, den seman‐ tischen sowie den pragmatischen Aspekt berücksichtigt. Diese relevanten Gesichtspunkte sollen am Beispiel von einigen der analysierten idiomatischen Konstruktionen kurz vorgestellt werden. Die ausführlichen Analyseergebnisse sowie Diskussionen findet man in Kapitel 5.3 (aus der chinesischen Perspektive) und Kapitel 5.4 (aus der deutschen Perspektive). Hier geht es hauptsächlich darum, die relevanten Analysedimensionen transparent sowie nachvollziehbar darzustellen: Prosodie In erster Linie ist zu überprüfen, welche prosodische Musterhaftigkeit in den analysierten idiomatischen Konstruktionen zu beobachten ist. Zum Beispiel ist der Ton eine bedeutungsunterscheidende Spracheinheit in einer Tonalsprache wie in der Chinesischen. Die chinesische Sprache hat im Allgemeinen vier Töne und eine typische Chengyu-Konstruktion besteht aus vier Wörtern. Dem‐ entsprechend kann eine Chengyu-Konstruktion in der chinesischen Sprache mit dem Pattern [A] + [B] + [C] + [D] abstrahiert werden. Die vier Leerstellen A, B, C und D, können jeweils mit einem Ton von den vier Tönen aus dem chinesischen 4.2 Methode 119 <?page no="120"?> Toninventar gefüllt werden. Zusätzlich muss auch darauf hingewiesen werden, dass die vier Leerstellen mit vier gleichen Tönen oder teilweise gleichen Tönen gefüllt werden können. Das heißt, die Töne-Kombinationen wie 1111, 2222, 2211, 1224, sind in der Chengyu-Konstruktion theoretisch möglich. Daher ist die Kombination der Töne eine Permutation mit Wiederholung. Kombinatorisch gesehen kann es 256 Möglichkeiten in Bezug auf die Töne-Kombination in einer Chengyu-Konstruktion in der chinesischen Sprache geben. Als nächstes ist zu überprüfen, welche Kombinationsmöglichkeit in der Untersuchung am häufigsten und welche am wenigsten (sogar keine Erscheinung) erscheint. Dabei ist wichtig die Vorkommenshäufigkeit (Frequenz) einer spezifischen Chengyu-Konstruktion im Korpus zu ermitteln. Wenn eine Kombination der Töne nicht in einer Chengyu-Konstruktion in der chinesischen Sprache vor‐ kommt, dann erfüllt diese tonale Kombination nicht die prosodischen Be‐ schränkungen (die prosodischen Constraints). Das bedeutet, diese prosodi‐ schen Eigenschaften können die Struktur der Chengyu-Konstruktion lizenzieren bzw. nicht lizenzieren. In einer nicht-tonalen Sprache wie in der deutschen Sprache spielen Töne keine entscheidende Rolle. Dennoch ist zu analysieren, welche Wörter mit welchen prosodischen Eigenschaften zum Beispiel in eine bestimmte Leerstelle einer Konstruktion integriert werden können. Beispielsweise ist für die idioma‐ tische Konstruktion [NP] + [PP] + [Bewegungsverben] (z. B. j-m. ins Gesicht springen; j-m. auf den Sack fallen) interessant zu überprüfen, welches Nomen hinter welchen Präpositionen auftreten kann. Ist das Nomen ein einsilbiges Wort oder ein mehrsilbiges? Welche Besonderheiten sind silbenbezogen in dieser Konstruktion zu beobachten? Form In erster Linie ist in einer konstruktionsgrammatisch orientierten Studie mit einem gebrauchsbasierten bzw. korpuslinguistischen Ansatz zu überprüfen, wie oft eine idiomatische Konstruktion im natürlichen und alltäglichen Gebrauchs‐ korpus erscheint. Meines Erachtens stellt der tatsächliche Gebrauchszustand einer idiomatischen Konstruktion im Korpus ebenfalls einen wichtigen Aspekt dar. Die ausgewählten idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen und Deutschen sind bereits fest lexikalisiert bzw. in die jeweiligen Standardwör‐ terbücher aufgenommen worden. Jedoch bleibt zu überprüfen, ob die lexika‐ lisierten idiomatischen Konstruktionen tatsächlich im Alltagsgebrauch einge‐ setzt werden bzw. wie häufig sie verwendet werden. Sucht man beispielsweise die idiomatische Konstruktion den Ball flach halten im DWDS-Kernkorpus 21 aus, ist nur der folgende Beleg zu finden: 120 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="121"?> Die wollen aus marketingtechnischen Gründen den Ball flach halten, ist ja klar“, sagt Karl-Bernd Bockstahler von der Vereinigung Cockpit. (Die Zeit, 17.02.2000, Nr. 8. Beleg aus DWDS-Kernkorpus 21 (2000-2010), Hervorhebung von BZ) Musterhaft können idiomatische Konstruktionen nicht nur auf der prosodischen Ebene sein. In der vorliegenden Untersuchung werden alle idiomatischen Kon‐ struktionen, die explizit Orientierungsbegriffe enthalten oder implizit Orientie‐ rungsmetaphern durch Bewegungsverben erzeugen, als Untersuchungsgegen‐ stand angesehen. Die Musterhaftigkeit kann in einer idiomatischen Konstruktion in zweierlei Hinsicht demonstriert werden. Zum einen formt die syntaktisch festgelegte Abfolge von Komponenten ein stabiles Muster. Die Komponenten aus dieser Abfolge können lexikalisch spezifiziert sein oder nicht spezifisch bleiben. Die lexikalisch nicht spezifizierten Stellen sind die sogenannten Filler-Slots, die unter bestimmten Bedingungen (also prosodischen, semantischen sowie pragmatischen Constraints) durch sprachliche Konstruktionen zu erfüllen sind. Zum Beispiel können idiomatische Konstruktionen mit dem Bewegungsverb „ziehen“ in der deutschen Sprache mindestens drei musterhafte Formen auf‐ bauen, die in der Untersuchung zu dokumentieren sind: 1. [NP] + [PP] + [ziehen]: Nominalphrase (Substantivkonstruktion, Personal‐ pronomen oder Demonstrativpronomen) und Präpositionalphrase (bevor‐ zugt mit den Präpositionen aus, in, durch, auf und über) folgen direkt dem Verb „ziehen“. Diese idiomatische Konstruktion umfasst in der Regel eine Orientierungsmetapher oder eine Behältermetapher, die die räumliche Beziehung zwischen den Substantiven in der NP und den Substantiven aus der PP im metaphorischen Sinne zur Sprache bringt: ein Ass aus dem Ärmel ziehen, j-n. in seinen Bann ziehen, j-n./ etwas in Betracht/ Erwägung ziehen, Bilanz aus etwas ziehen, j-n. aus dem Dreck ziehen, j-n./ etwas. durch den Dreck ziehen, j-n. durch den Kakao ziehen, den Hals aus der Schlinge ziehen, j-n. aus der Scheiße ziehen, etwas durch/ in den Staub ziehen, j-n. auf j-s. Seite ziehen, j-n über den Tisch ziehen, j-n./ etwas aus dem Verkehr ziehen 2. [NPio] + [NPdo] + [PP] + [ziehen]: Dieses Muster stellt eine erweiterte Form der ersten Muster dar. Durch Setzung der zwei NPs vor der PP wird das Verb „ziehen“ in eine typische Doppelobjekt-Konstruktion eingebettet. Die eine NP (annotiert als [NPio]), die fast immer durch ein Personalpro‐ nomen gekennzeichnet ist, gehört zu dem indirekten Objekt in dieser Konstruktion und übernimmt die semantische Rolle des Patiens. Die andere NP (abgekürzt als [NPdo]), die meistens in einer Singularform verbunden mit einem bestimmten Artikel auftritt, konstituiert das direkte Objekt und 4.2 Methode 121 <?page no="122"?> übernimmt die semantische Rolle des Objekts: j-m. das Fell über die Ohren ziehen, j-m. das Geld aus der Tasche ziehen, j-m. das Hemd über den Kopf ziehen, j-m. die Würmer aus der Nase ziehen, j-m. die Giftzähne ziehen. Hier ist auch anzumerken, dass die Leerstelle von PP manchmal nicht zwangs‐ läufig erfüllt werden muss. Das letzte Beispiel aus der Reihe, nämlich j-m. die Giftzähne ziehen ist eine typische Doppelobjekt-Konstruktion ohne zusätzliche Modifikation sowie Beschränkung von PP. 3. [NP] + [ziehen]: Das Bewegungsverb „ziehen“ als ein transitives Verb verlangt ein direktes Objekt, das sich durch eine NP realisieren lässt. In der Valenzgrammatik bezeichnet man die transitiven Verben in der Regel als zweistellige Verben. Übersetzt man dies in der Konstruktionsgrammatik, gibt es dann in einer transitiven Konstruktion immer zwei zu befüllende Filler-Slots, die sich auf das handelnde Agens und das betroffene Objekt beziehen. Hier sind einige Beispiele aus der Untersuchung: die Fäden ziehen, das Fazit ziehen, ein schiefes Gesicht ziehen Zum anderen kann eine Konstruktion die Eigenschaft der Musterhaftigkeit auf‐ weisen, wenn die erfüllte Konstruktion in ihrer gesamten Gestalt eine verfestigte Konstruktionsbedeutung besitzt. Diese semantische Verfestigung ist meistens in der idiomatischen Bedeutung zu beobachten. Beispielweise können bei der [[j-m.] + [aus] + [bestimmten Artikel] + [Substantiv] + [ziehen]]-Konstruktion (also eine konkretisierte Form von [[NP] + [PP] + [ziehen]]-Konstruktion) Wörter wie Dreck, Gosse oder Scheiße potenzielle Kandidaten für die Leerstelle [Substantiv] bilden. Die drei Substantive können jeweils in dieser [[j-m.] + [aus] + [bestimmten Artikel] + [Substantiv] + [ziehen]]-Konstruktion eingebettet werden. j-m. aus dem Dreck ziehen schildert ein Bild, in dem einer Person aus einer schlechten Situation herausgeholfen wird, was auch in der idiomatischen Konstruktion j-m. aus der Scheiße ziehen in ähnlicher Form zu beobachten ist. Jedoch bringt der derbe Ausdruck, nämlich „Scheiße“, die Intensivität der Emotion des Patiens sowie die missliche Situation, in der sich der Patiens gerade befindet, noch stärker (als „Dreck“) zur Sprache. Natürlich spielt dabei die Metapher SCHMUTZIGES IST UNERWÜNSCHT, SCHLECHT UND UNMORALISCH eine gewichtige Rolle hinsichtlich der Bedeutungskonstruktion. Die idiomatische Konstruktion j-m. aus der Gosse ziehen hebt dementsprechend den moralischen sowie sozialen Aspekt hervor und betont, dass eine Person vor der moralischen Verwahrlosung gerettet bzw. aus sozial unterprivilegierten Verhältnissen herausgeholt wird, während die anderen zwei idiomatischen Konstruktionen den Wert eher auf die Beschreibung der unerwünschten Situation legen. Die Gosse ist ursprünglich eine in der Stadt‐ mitte von Städten im Mittelalter gemauerte Rinne, in die vor allem Abwasser bzw. Stadtschmutz einfließt. In diesem Sinne ist eine Gosse ein Behälter von Schmutz 122 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="123"?> und Dreck. Somit wird das Wort „Gosse“ hierbei metonymisch als Symbol für etwas Dreckiges bezeichnet. Kombiniert man dies mit der SCHMUTZ IST UN‐ MORAL -Metapher, dann ist diese idiomatische Bedeutung zustande gekommen. Auf der formalen Ebene ist außerdem zu bemerken, dass sich die potenziellen Filler der Slots hinsichtlich der Typikalität stark voneinander unterscheiden können. An einer spezifischen Stelle innerhalb einer Konstruktion sind manche Konstruktionen erwartbarer und frequentierter realisierbar als die anderen. Für bestimmte Filler-Slots gibt es immer typische Konstruktionen, die als Filler fungieren. Zum Beispiel treten Wörter wie Kotzen, Davonlaufen, Lachen, Weinen in der X-Stelle der Konstruktion [Es] + [ist] + [zum] + [X] sehr häufig auf. Besonders in der idiomatischen Konstruktion ist ein direkter Zusammenhang zwischen der Vorkommenshäufigkeit bestimmter Filler, dem Idiomatizi‐ tätsgrad sowie dem Verfestigungsgrad der Konstruktion zu beobachten: Je häufiger ein Filler in einer idiomatischen Konstruktion vorkommt, desto höher ist der Grad der Verfestigung und der Idiomatizität. In der Untersuchung wird dies auf den Prüfstand gestellt und genau betrachtet, wie die drei Aspekte zusammenhängen. Zudem spielt die Produktivität der unterschiedlichen Muster eine außer‐ ordentliche Rolle in der Analyse. Der Begriff Produktivität beschreibt den Variationsgrad der Filler-Slots. Vereinfacht gesagt: Je mehr Konstruktionen eine Leerstelle füllen können, desto höher ist die Produktivität dieser Konstruktion. Zum Beispiel ist die idiomatische Konstruktion [NP] + [PP] + [Bewegungsverb] sehr produktiv, wenn viele Komponenten für die drei zu besetzenden Filler-Slots in diese Konstruktion einfließen können. Jedoch ist eine Konstruktion maximal unproduktiv, wenn nur bestimmte Filler die leeren Slots besetzen können (z. B. nur ein Wort in einer Leerstelle). Es ist daher von großer Bedeutung in der Analyse zu ermitteln, welchen Grad der Produktivität bestimmte idiomatische Konstruktionen im Korpus aufweisen und welche Faktoren den Produktivitäts‐ grad dieser idiomatischen Konstruktionen beeinflusst. Bedeutung Es ist ein Allgemeinplatz in der Konstruktionsgrammatik, dass die musterhafte Konstruktion nicht nur Bedeutung trägt, sondern auch sprachliche Funktionen erfüllt. Die Konstruktionsbedeutung ist oftmals schematisch und abstrakt. Die lexikalischen Komponenten aus dieser Konstruktion sind jedoch konkret und immer bezogen auf eine sehr spezifische Verwendungssituation. Um dies zu erklären, greife ich zwei „ziehen“-Konstruktionen, die ich gerade im letzten Abschnitt besprochen habe, nochmals auf: 4.2 Methode 123 <?page no="124"?> (1) j-n. aus dem Dreck ziehen: (umgangssprachlich) j-n. aus einer schlimmen Lage heraushelfen (2) j-n. in Betracht ziehen: j-n. berücksichtigen Die oben aufgeführten zwei Konstruktionen lassen sich mit der Konstruktion [j-n.] + [Präposition] + [bestimmter Artikel/ Nullartikel] + [Substantiv] + [ziehen] umschreiben und bilden jeweils eine Orientierungsmetapher durch das Bewegungsverb „ziehen“. Die Gesamtbedeutung der Konstruktion weist darauf hin, dass die betroffene Person (das Akkusativobjekt) als Patiens durch eine Kraft von außen (das Nominativsubjekt) von A nach B gezogen (das handelnde Verb „ziehen“) wird. Anders gesagt, die Konstruktionsbedeutung beschreibt ein Bewegungsschema, in dem sich eine Person von A nach B mithilfe einer dritten Partei bewegt. Natürlich wird die Position dieser Person durch den Transport dementsprechend geändert. Die Rollen von dem Handlungsverb „ziehen“ sowie dem Patiens „j-n.“ sind bereits semantisch fixiert und die va‐ riablen Stellen dieser Konstruktion sind die PP: [Präposition] + [bestimmter Artikel/ Nullartikel] + [Substantiv]. Innerhalb der PP-Konstruktion spielen die Stellen von Präposition und Substantiv eine zentrale Rolle, weil die Auswahl der zu besetzenden Präpositionen sowie Substantive die Auswahl der Artikel sowie die Erscheinungsform der Artikel hinsichtlich Genus, Numerus sowie Kasus maßgeblich prägen. Jedoch tragen die einzelnen Präpositionalkonstruktionen auch unterschiedliche semantische Bedeutungen. Beispielweise hat die Präpo‐ sition „aus“ die Bedeutung von „Herkunft, von innen nach außen, Veränderung eines Zustandes“, während die Präposition „in“ auf zum Beispiel „das Ziel einer Bewegung, innerhalb einer Zeitspanne oder eines Raums“ referiert. Abhängig von den Präpositionen, die die PP-Konstruktion in der [j-n.] + [Präposition] + [bestimmter Artikel/ Nullartikel] + [Substantiv] + [ziehen] besetzen, kann diese idiomatische Konstruktion mit „ziehen“ entweder eine Bewegung von innen nach außen oder eine Bewegung von außen nach innen realisieren. Ersteres exemplifiziert j-n. aus dem Dreck ziehen und die letztgenannte findet man in j-n. in Betracht ziehen wieder. Die Auswahl der Präposition „aus“ und des Substantivs „Dreck“ impliziert zudem, dass sich die betroffene Person gerade in einem Container, also „Dreck“, „Pfütze“ oder „Schlammloch“, befindet. Die PP „aus dem Dreck“ bringt eine Behältermetapher zum Ausdruck und gibt uns die Information über den jetzigen schlechten Zustand der betroffenen Person. In j-n. in Betracht ziehen befindet sich die betroffene Person zuerst außerhalb von den Gedanken einer dritten Person (Subjekt des Satzes). Die folgenden Abbildungen visualisieren die zwei unterschiedlichen Lesarten: 124 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="125"?> Abb. 4: Schematische Darstellung von j-n. aus dem Dreck ziehen (links) und j-n. in Betracht ziehen (rechts) Daher besteht die zentrale Aufgabe in einer konstruktionsgrammatisch orien‐ tierten idiomatischen Untersuchung darin, die Konstruktionsbedeutung sowie die lexikalische Zusammensetzung der Einzelkonstruktionen in einer idioma‐ tischen Konstruktion zu bestimmen. Insbesondere sind die folgenden Fragen von großer Relevanz in Bezug auf die Auseinandersetzung mit dem Bedeutungs‐ aspekt in der Analyse: Welchen Beitrag hat die schematische und abstrakte Konstruktionsbedeutung zur konkreten Gesamtbedeutung der idiomatischen Konstruktionen geleistet? Ist die Schematizität dieser Konstruktionsbedeutung durch eine passende Metapher zu umschreiben? Wie fließt diese Konstrukti‐ onsbedeutung in konkrete Einzelbedeutungen ein? Welche Funktion(en) über‐ nimmt die Konstruktionsbedeutung hinsichtlich der Gestaltung der Gesamtbe‐ deutungen? Welche Komponenten in dieser idiomatischen Konstruktion sind festgelegt und welche sind variabel? Welche semantischen Rollen nehmen die Einzelkomponenten dieser idiomatischen Konstruktion ein? Pragmatik Die Grammatik beschäftigt sich mit sprachspezifischen Regeln und Konven‐ tionen, während die Pragmatik „allgemeinere[n] kognitive[n] Fähigkeiten [bezeichnet], die es Kommunikationsteilnehmern erlauben, weitergehende Schlüsse in Bezug auf die kommunizierten Inhalte einer sprachlichen Äu‐ ßerung zu ziehen“ (Finkbeiner 2021: 5). Um Grammatik und Pragmatik zu unterscheiden, sind zwei Ansätze aus der Gricesowie Neo-Grice-Schule zu erwähnen. Der erste Ansatz bezieht sich auf die Bestimmung von Kontextab‐ hängigkeit und Wahrheitsfunktionalität. In der Grice-Tradition (Grice 1975) wird Grammatik als kontextunabhängiger Aspekt angesehen, die einen Beitrag zu den Wahrheitsbedingungen leistet (Kontextabhängigkeit -, Wahrheitsfunk‐ tionalität +). Hingegen ist die Pragmatik immer kontextabhängig und leistet keinen Beitrag zu den Wahrheitsbedingungen (Kontextabhängigkeit +, Wahr‐ heitsfunktionalität -). Der zweite Ansatz ist in Ariel (2008, 2010) zu finden. Sie argumentiert in zwei Monographien, dass man nur anhand von einem Kri‐ terium code vs. inference Grammatik und Pragmatik voneinander unterscheiden kann. Die Grammatik schweißt aufgrund bestimmter sprachsystematischer 4.2 Methode 125 <?page no="126"?> Kodierungsregeln Sprachformen und Sprachbedeutungen zusammen, während die Pragmatik die Formseite und die Bedeutungsseite einer Sprache aufgrund von Inferenzen, die nur in bestimmten Kontexten sinnvoll und plausibel sind, zusammenführt. Im Kapitel 3 sieht man deutlich, dass eine zentrale Grundannahme in der Konstruktionsgrammatik darin liegt, dass keine Grenze zwischen Lexikon und Syntax gesetzt wird. Vielmehr geht es dazwischen um ein sogenanntes Konti‐ nuum von Konstruktionen, die lexikalisch vollspezifizierte Konstruktionen oder abstrakt unspezifische Schemata umfassen. Nicht nur die Konstruktionen, die den grundlegenden Status einer Sprache besitzen, sondern auch syntaktische Muster bzw. Schemata als ganze Größen, können Bedeutungen tragen. Hier ist wichtig darauf hinzuweisen, dass der Bedeutungsumfang aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik viel breiter als eine modularisierte Grammatik‐ konzeption ist, in der die Bedeutung einer Konstruktion aus der einfachen Addierung der Einzelbedeutungselemente besteht. Daher gehören „zur Bedeu‐ tungsseite einer Konstruktion nicht nur wahrheitsfunktionale Aspekte - die traditionell der Semantik zugeschlagen werden -, sondern auch pragmatische und diskursfunktionale Aspekte“ (Finkbeiner 2021: 10). Die Möglichkeit, diese kontextuellen Aspekte im Rahmen von Konstruktionen zu erfassen, ist in der Konstruktionsgrammatik von Anfang an angelegt. Bereits in den früheren Arbeiten in der Konstruktionsgrammatik wird die Aufmerksamkeit auf die pragmatischen Aspekte der Konstruktionen gelenkt (vgl. Fillmore et al. (1988) zur let alone-Konstruktion, Kay & Fillmore (1999) zur What’s X doing Y-Konstruktion, Taylor (2012) zur „Incredulity Response“-Kon‐ struktion (Harry, get married? )). Jedoch bedarf das Verhältnis zwischen seman‐ tischem Wissen, das sich aus dem semantischen Kontext ergibt, und dem pragmatischen Wissen im Kontext in der Konstruktionsgrammatik noch Erklä‐ rungen. Ziem & Lasch (2013) konstatieren wie folgt: Bei der Identifikation und Beschreibung von Konstruktionen ist also ein weiter Kontextbegriff einzubeziehen, der über den Kotext hinaus auch pragmatische Aspekte der Kommunikationssituation umfasst, die zur Herausbildung von Konstruktionen in einer Sprachgemeinschaft beitragen. […] Der Begriff des Kontexts bleibt so zwangsläufig vage und unscharf. Zudem werden relevante Kontext-Dimensionen in konstruktionsgrammatischen Studien meist nur sehr selektiv berücksichtigt. Es besteht so die Gefahr, dass ‚Kontext‘ eher zu einer Residualkategorie als zu einem Fundierungsbegriff mit theoretisch-methodischen Implikationen wird. (Ziem & Lasch 2013: 88-89) 126 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="127"?> In diesem Zusammenhang wäre es nach Finkbeiner auch notwendig darzulegen, „welche Bedeutungsaspekte überhaupt als pragmatisch angesehen werden sollten und welche nicht“ (Finkbeiner 2021: 12). Um die pragmatischen Aspekte zu analysieren, möchte ich ein grundsätz‐ liches Konzept, das ich Verwendungsszenario der Konstruktion nenne, einführen. Dabei sind zwei Arten von Verwendungsszenarien der Konstruktion zu unterscheiden - das frame-übergreifende Verwendungsszenario und das frame-spezifische Verwendungsszenario. Dies möchte ich anhand von einer [[danke für] + [X]]-Konstruktion exemp‐ lifizieren. Besonders interessant ist zu überprüfen, welche Konstruktionen im Gebrauch die Stelle von [X] erfüllen können. Ich habe diese Frage in einer kleinen Studie im Die Zeit-Korpus (1946-2018) von DWDS getestet. Insgesamt ergeben sich aus diesem Zeitungskorpus 591 Belege (Stand: 19.11.2021), die die Stellen von [X] in der [[danke für] + [X]]-Konstruktion erfüllen können. In der nachstehenden Mindmap werden die zentralen Konstruktionen, die hinter [danke für] auftreten, dargestellt: Viele Konstruktionen, die in der [X]-Stelle auftreten, sind, nach unserem im Langzeitgedächtnis gespeicherten sprachlichen und enzyklopädischen Wissen, zu erwarten. Zum Beispiel bedankt man sich, wenn einem geholfen oder man bedient wird. Das heißt, diese Konstruktion geht damit einher, dass das Ge‐ sprächsgegenüber etwas getan hat und dies einen (meistens positiven) Einfluss auf eine andere Person ausübt. Dies impliziert auch, dass die Sache, die in der [X]-Stelle auftritt, zeitlich und logisch vor dem Aussprechen dieser Dankbarkeit erscheinen muss. Das bedeutet, dass eine Dankbarkeit erst ausgesprochen wird, wenn und nur wenn das entsprechende Event, für das man sich bedankt, kom‐ plett vollzogen worden ist. In dieser Konstruktion ist eine implizierte Kausalität zu beobachten. Das entsprechende Event stellt die Ursache dar und das Aus‐ sprechen der Dankbarkeit die Folge. Wenn man die Konstruktion danke für diese wertvolle Rede hört, weiß man sofort, dass der Sprecher gerade einer schönen Rede zugehört hat. So ist das Zuhören-Event bereits vor dem Aussprechen der Dankbarkeit beendet worden. Den Konstruktionen entsprechend, die an der [X]-Stelle vorkommen, kann eine spezifische und konkrete Lebenssituation rekonstruiert werden. Zum Beispiel bilden die Konstruktionen wie danke für Ihre Bestellung/ die Rechnung/ Ihre Anfrage/ Ihre Frage/ zahlreiche Anfragen/ die netten Antworten einen typischen geschäftlichen Korrespondenzframe (z. B. in der E-Mail-Kommunikation mit dem zuständigen Kundenservice eines Unter‐ nehmens). Die Konstruktionen wie danke für euer Kommen/ die Einladung/ den Fisch/ den leckeren Honig/ das Essen/ die knusprige Steinofenpizza aktivieren eine Besuchssituation. Solche Konstruktionen aktivieren immer ein frame-übergrei‐ 4.2 Methode 127 <?page no="128"?> fendes Verwendungsszenario. Frame-übergreifend heißt, dass man die Kon‐ struktionen an der [X]-Stelle ohne zusätzliche Informationen in einem typischen Verwendungsfall im Alltag aktivieren kann. Die oben aufgeführten Beispiele zeigen auf, dass manche Konstruktionen hinter der Präposition „für“ einen Geschäftsframe, manche einen Begrüßungsframe rekonstruieren können. Eine Rekonstruktion solcher Lebensszenen wird nur durch die framesemantischen Hinweise in einer Konstruktion realisiert. Das bedeutet, für bestimmte Szenen erwartet man bestimmte Konstruktionen an der [X]-Stelle: Man erwartet zum Beispiel die Konstruktion wie Danke für Ihre Geduld von einem Kassierer, wenn man beispielsweise nach einem sehr langen Warten an der Kasse endlich für die Bezahlung dran ist. Man erwartet zum Beispiel die Konstruktion wie Danke für die vielen Genesungswünsche von einem Freund, wenn er gerade krank ist, im Bett liegt und Wünsche wie Gute Besserung bekommt. Um Rückschluss auf solche Szenen zu ziehen, braucht man nur das framesemantische Wissen im Langzeitgedächtnis abzurufen. Solche Verwendungsszenarien nenne ich frame-übergreifend. Das frame-übergreifende Verwendungsszenario ist höchst framesemantisch motiviert. Man braucht überwiegend das semantische bzw. grammatische Wissen, um solche Konstruktionen zu verstehen, weil die wie‐ derkehrenden pragmatischen Situationen bereits in das semantische bzw. gram‐ matische Wissen integriert sind und einen festen Bestandteil solchen Wissens darstellen. Die Konstruktionen an der [X]-Stelle, die eine typische Lebensszene wie Einkauf, Begrüßung, Entschuldigung aktivieren, sind auch prototypische Filler in der [[danke für] + [X]]-Konstruktion. Es bleibt festzuhalten, dass der Verfestigungsgrad solcher Filler semantisch und pragmatisch gleich hoch ist. Allerdings entsprechen die vielen anderen Konstruktionen, die an der [X]-Stelle erscheinen, nicht dem Erwartungshorizont, der auf den menschlichen Lebens‐ erfahrungen basiert. Beispielweise sind die nachstehenden Belege aus dem Die Zeit-Korpus (1946-2018) von DWDS zu finden: (1) Nach Angaben eines Polizeisprechers lauteten die Sprüche in hebräischer Sprache „Hitler, Danke für Holocaust“ oder „Wenn Hitler nicht existiert hätte, hätten die Zionisten ihn erfunden“. (Die Zeit, 11.06.2012, Nr.-24) (2) „Danke Kurt“ - danke für das Millionengrab am Nürburgring, die Rekordverschul‐ dung, klamme Kommunen und Unterrichtsausfall in Rheinland-Pfalz.“ (Die Zeit, 10.11.2012. Online) (3) Machts gut und danke für die Messer im Rücken. (Die Zeit, 03.10.2012, Nr.-40) (4) „Mein lieber Herr Rühmkorf, ich danke für Ihren Adolf-Endler-Kommentar.“ (Die Zeit, 10.03.2015, Nr.-11) 128 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="129"?> Abb. 5: Mindmap für die [[danke für] + [X]]-Konstruktion (5) „Danke für nichts“, schreibt genervte Kunde im Netz. (Die Zeit, 11.12.2017. Online) (6) Der Schwul-lesbische Demonstrationszug startete am Mittag unter dem Motto „Danke für nix“ am Kurfürstendamm. (Die Zeit, 23.07.2016. Online) (7) „Danke für nichts, Frau Merkel“, giftet Johannes Kahrs, SPD, im Plenum gegen die Kanzlerin (Die Zeit, 30.06.2017. Online) (8) Oder: „Danke für das #Auswaertsspiel gestern! (Die Zeit, 19.10.2016. Online) Im Abschnitt über das frame-übergreifende Verwendungsszenario wurde bereits analysiert, dass die prototypischen Filler für die [[danke für] + [X]]-Konstruktion immer die Konstruktionen sind, die framesemantisch mit dem Danke-Frame kohärent sind. Allein basierend auf den framesemantischen Erfahrungen kann man beispielweise seine Dankbarkeit nicht für den Holocaust (1), die Rekordver‐ schuldung (2) bzw. die Messer im Rücken (3) aussprechen, weil solche Filler in dieser Konstruktion die framesemantischen Erfahrungen herausfordern bzw. ihnen 4.2 Methode 129 <?page no="130"?> widersprechen. Deswegen müssen solche Konstruktionen in ein frame-spezifisches Verwendungsszenario gesetzt werden, um sie überhaupt als sinnvoll wahrnehmen zu können. Zum Beispiel muss man zusätzliche Informationen für 4) heranziehen, um zu wissen, wer Herr Rühmkorf ist und wer dann Adolf Endler ist bzw. welche Eigenschaften ein Adolf-Endler-Kommentar hat. Solche Informationen kann man nicht aus dem semantischen bzw. grammatischen Inventar dieser Satzkonstruktion beziehen. In den Konstruktionen (5) bis (7) geht es um die Konstruktion Danke für nichts! Jedoch ist zusätzliches Wissen zum Verstehen dieser Konstruktion erforderlich. Die Konstruktion bildet einen neuen und nicht-prototypischen Frame von Danke - Beschwerden-Frame. Dieser gegensätzliche Frame kann nur aufgrund des ausgelösten illokutionären Sprechaktes geklärt werden. Im letzten Beispiel muss man identifizieren, um was für ein Auswärtsspiel es hier geht. Das üblicherweise in sozialen Medien verwendete Hashtag deutet explizit eine Intertextualität an und weist darauf hin, dass zusätzlich situative Informationen eingeholt werden müssen. Die acht Beispiele hier sind Konstruktionen im frame-spezifischen Verwendungss‐ zenario und überwiegend pragmatisch motiviert. Allein auf der semantischen bzw. grammatischen Basis kann man keine vernünftigen Rückschlüsse auf die konkreten Bedeutungen ziehen. Die Bedeutungen müssen im Einzelfall auf der Ebene der Sprachakte analysiert werden. Solche Konstruktionen nenne ich Konstruktionen im frame-spezifischen Verwendungsszenario. In diesem Kapitel habe ich die vier wichtigen Dimensionen, die in der empi‐ rischen Analyse dieser Untersuchung eine zentrale Rolle spielen, vorgestellt. Die wichtigen Punkte werden jetzt nochmals in der folgenden Checkliste erinnert bzw. resümiert: Checkliste: Konstruktionsgrammatische Analyse der idiomatischen Konstruktionen Dimensionen Inhalte der Analyse Prosodie ✓ prosodische Muster ✓ Gebrauchsfrequenz eines bestimmten prosodischen Musters ✓ Produktivität der prosodischen Muster ✓ prosodische Constraints Struktur ✓ syntagmatische Muster ✓ Gebrauchsfrequenz eines bestimmten syntagmatischen Musters ✓ Produktivität der syntagmatischen Muster ✓ stabile Filler-Slots bzw. variable Filler-Slots ✓ syntagmatische Constraints ✓ Verfestigungsgrad der Muster ✓ Typikalität der Filler 130 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="131"?> Checkliste: Konstruktionsgrammatische Analyse der idiomatischen Konstruktionen Dimensionen Inhalte der Analyse Semantik ✓ Schematizität bzw. Grade an Schematizität der Konstruktion ✓ Idiomatizität bzw. Grade an Idiomatizität der Konstruktion ✓ semantische Constraints ✓ Schema-Metapher-Konstellation ✓ Metapher-Metonymie-Konstellation ✓ Verteilung der semantischen Rollen Pragmatik ✓ Bestimmung der semantischen Aspekte einer Konstruktion ✓ Festlegung der pragmatischen Aspekte einer Konstruktion ✓ Verwendungsszenario (frame-übergreifend vs. frame-spezi‐ fisch) Tab. 24: Checkliste für Analyse der idiomatischen Konstruktionen 4.2.2 Das methodische Verfahren der textuellen Analyse In Kapitel 4.1.2 wurde vorgestellt, dass alle Leitartikel aus den beiden ausgewählten chinesischen und deutschen Nachrichtenmagazinen das Korpus für die textuelle Analyse bilden. Nun wird das konkrete Analyseverfahren näher betrachtet. Im ersten Schritt werden die ausgewählten Leitartikel durchgelesen und der Hauptinhalt der Leitartikel wird zusammengefasst. Dementsprechend ist die aufgestellte Hauptthese auch dabei zu notieren. Bemerkenswert ist die formale Darstellung der Leitartikel: Wird neben dem Leitartikel noch ein Bild präsentiert? Oder erscheint der Leitartikel ohne Bild? Insbesondere ist es wichtig zu analysieren, wie die aufgestellte Hauptthese genannt wird (explizit oder implizit), welche Argumente zur Unterstützung der Hauptthese vorgebracht werden bzw. wie die Argumentation aufgebaut wird. Nicht zuletzt ist auch mit zu berücksichtigen, wer im Namen von welcher Interessengruppe für wen diesen Leitartikel konzipiert, weil dies den konkreten Gebrauch einer Konstruktion bzw. die Auswahl der Einzelkonstruktionen maßgeblich prägt. Im zweiten Schritt werden die verwendete(n) Metapher(n)/ Meto‐ nymie(n) und metaphorische(n)/ metonymische(n) Konstruktion(en) im Leitartikel markiert. Natürlich wird dabei auch beobachtet, welche Metapher im analysierten Text eine zentrale Rolle einnimmt. Eine zentrale Rolle bedeutet, dass sich diese Metapher zugleich auf die zentrale These, Position sowie Emotionalisierung für das Thema bezieht. Beispielsweise ist die Metapher „SPD IST HERTIE DER POLITIK“ in einem Der Spiegel-Leitartikel von zentraler 4.2 Methode 131 <?page no="132"?> Bedeutung und der Leitartikel bemüht sich zu zeigen, dass sich die SPD in einem historisch schlechten Zustand befindet. Im Wortlaut heißt es: „Die SPD ist zum Hertie der Politik geworden. Ein großes Kaufhaus, in das niemand mehr kommt“ (Der Spiegel, Nr.-43/ 20.10.2018). Hertie ist vor der Übernahme durch Karstadt 1994 einer der führenden Kaufhauskonzerne in Deutschland gewesen und wurde 1993 aufgelöst. Die von einer politischen Partei betriebene Politik wird hier metaphorisch als Ware bzw. Konsumgut bezeichnet. So ist das Subjekt, das die Waren verkauft, ein Kaufhaus. Überträgt man dies auf den politischen Bereich, ist die politikbetrei‐ bende Institution, also die politische Partei, das Kaufhaus, wo die von dieser Partei vertretenen politischen Einstellungen ins Schaufenster dieses politischen Kaufhauses gestellt werden. In diesem Fall ist das Subjekt dann die deutsche Partei SPD. Durch die Verwendung der Kaufhaus-Metapher wird eine Reihe von kohärenten Deutungsrahmen (Frames) aktiviert, was man im zweiten Satz dieses Zitats sehen kann: Eine wahlberechtigte Person wird als Käufer expliziert und sie muss sich für ein spezielles Kaufhaus beim Einkaufen entscheiden. Der Relativsatz „in das niemand mehr kommt“ deutet auf die Krise der SPD sowie die Interessenlosigkeit der potenziellen Wähler gegenüber der Politik hin, die von der SPD betrieben wird. Darüber hinaus wird eine negative Emotion in dieser metaphorischen Konstruktion intendiert. Von der Hertie-Geschichte weiß man, dass der ehemalige Großkaufkonzern bankrott gegangen war und von dem anderen Großkonzern Karstadt übernommen wurde. Dies impliziert, dass die SPD mehr Wähler verlieren würde oder sogar kein aktives Parteileben im Parlament führen (z. B. unter der 5 %-Klausel) würde, wenn sie weiter eine Politik wie Hertie betreiben würde. Man sieht allein in diesem kleinen Beispiel das große Analysepotenzial einer zentralen Metapher in einem Leitartikel. Besonders in einem argumentativ orientierten Meinungsartikel wie dem Leitartikel ist die Persuasion durch metaphorischen Sprachgebrauch allgegenwärtig. Deshalb ist die Analyse der zentralen Metapher in der Argumentation einer der wichtigsten Schritte in der Textanalyse. Darüber hinaus muss man auch analysieren, welche Frames mit welchen lexikalischen sowie idiomatischen Konstruktionen aktiviert werden. In dem SPD-Hertie-Leitartikel wird zum Beispiel das Kaufhaus-Frame aktiviert. Auch im Text findet man viele sprachliche Konstruktionen, die zu einem Kaufhaus-Frame gehören: (1) (…) Aus Angst, weitere Wähler zu verprellen, versuchen sie, für so gut wie jeden etwas im Angebot zu haben (…) 132 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="133"?> (2) (…) Das hat die Partei entwertet, sie wirkt beliebig und haltungslos (…) (3) (…) Politik ist ein Konsumgut geworden, notfalls wechseln die Wähler eben den Laden (…) (4) (…) Nahles setzt auf die Klassiker Rente, Löhne und Arbeitsplätze. Aber es reicht nicht mehr, materielle Versprechungen zu machen (…) - (Der Spiegel, Nr.-43/ 20.10.2018. Hervorhebung von BZ) Die oben fettgedruckten sprachlichen Konstruktionen wie „im Angebot haben“, „entwerten“, „Konsumgut“, „den Laden wechseln“ sowie „materielle Versprechungen machen“ kommen in der Regel in einem Kaufframe vor. Solche Konstruktionen sind framesemantisch konsistent mit der zentralen SPD-als-Hertie-Kaufhaus-Metapher. Deswegen ist auf der textuellen Ebene wichtig zu hinterfragen: Welche Frames mit welchen sprachlichen Mitteln werden durch die Verwendung von metaphorischen Konstruktionen aktiviert? Wie wird die Metapher-Frames-Konstellation im Text realisiert? Auf der lexikalischen Ebene ist dennoch genauer zu überprüfen, welche semantischen bzw. morphosyntaktischen Konstruktionen vorhanden sind und wie diese Konstruktionen im Text gebraucht werden. Hier möchte ich besonders zwei Kategorien von Konstruktionen in einem Leitartikel hervorheben, eine ist deontisch und die andere ist eine fachliche Konstruktion: Deontische Konstruktionen: Der morallogische Begriff „Deontik“ lässt sich auf das Altgriechische „déon“ (das Nötige, das Angemessene) zurückführen. Dieser Begriff ist ursprünglich in der Moralphilosophie sowie in der Logik gebräuchlich. Die deontischen Begriffe beziehen sich in der Logik auf das Sollen. Die sich auf das Sollen beziehenden Begriffe sind im Grunde genommen Gebote (z. B. Erlaubnis, Pflicht) und Verbote. Mittlerweile ist dieser Begriff ein etablierter linguistischer Grundbegriff geworden, insbesondere in der Semantik und Pragmatik. Die deontischen Konstruktionen können grundsätzlich dreifach unterteilt werden: deontische Verwendungen von Modalverben (im Gegensatz zum epistemischen Gebrauch von Modalverben), deontische Infinitivkonstruk‐ tionen oder deontische Bedeutungen von Wörtern. Die deontische Verwendung von Modalverben bedeutet, dass der von einer Proposition denotierte Sachverhalt mithilfe von Modalverben als möglich, notwendig oder erlaubt betrachtet wird (z. B. Thomas kann erst in zwei Stunden nach Göttingen fahren; Alex musste seit letztem Wochenende in Quarantäne gehen, weil er nach der Rückkehr aus seinem Urlaub in Mallorca positiv auf Corona getestet wurde). Die Verwendung von deontischen Infinitivkonstruktionen kann man schon auf der Fahrt zur Arbeit mit einem öffentlichen Verkehrsmittel 4.2 Methode 133 <?page no="134"?> beobachten: Wenn eine S-Bahn oder U-Bahn die Endstation dieser Linie erreicht, ist in der Regel eine typische deontische Infinitivkonstruktion als Durchsage mit unterschiedlichen dialektischen Abfärbungen zu hören: „Endstation, bitte alle aussteigen! “ Die deontischen Infinitivkonstruktionen werden typischerweise im Imperativformat wiedergegeben. Die deontische Bedeutung von Wörtern ist ein wesentlicher Aspekt in einer deontischen Konstruktion. In der Auseinandersetzung mit den sogenannten brisanten Wörtern argumentiert Hermanns (1982) in einer linguistischen Ana‐ lyse zum Godesbergers Programm aus der deutschen Partei SPD (1959), dass eine semantische Einheit neben der deskriptiven Seite noch eine deontische Seite beinhaltet. Ein geeignetes Beispiel dafür ist das Wort „Ungeziefer“ aus dem rassistischen Diskurs. Das Wort umfasst nicht nur die lästigen tierischen Schäd‐ linge wie Mäuse, Motten und Wanzen, sondern fordert auf, sie zu vertreiben bzw. mit Pestiziden zu töten. Wenn dieses Wort auf die „unerwünschten“ Menschen bzw. Menschengruppen übertragen wird, ist die deontische Aufforderung, sie zu vertreiben oder sogar zu vernichten, aktiv. Dies kann man zum Beispiel anhand von einigen Belegen aus den DWDS-Zeitungskorpora leicht bestätigen: Im Jahr zuvor hatte er auf seinem Facebook-Profil Migranten als Ungeziefer be‐ zeichnet, das verbrannt werden müsse, und zur Vergewaltigung von Frauen mit Kopftuch aufgerufen. (Die Zeit, 04.02.2017, Nr.-6) Parasiten, Zionisten, Asiaten, Kommunisten, Araber, alles Ungeziefer, weg damit! (Berliner Zeitung, 06.06.2005) „Wenn man anfängt, Menschen zu vernichten wie Ungeziefer, dann vernichtetet man nicht nur sechs Millionen Seelen, sondern ganz nebenbei, auch die Sprache der Überlebenden.“ Schreibt in Alfred Anderschs Roman „Efraim“ der Titelheld. (Der Tagesspiegel, 07.05.1998) Zudem ist es bemerkenswert, dass die sprachlichen Konstruktionen, die hinter dieser Einzelwort-Konstruktion (also „Ungeziefer“) erscheinen, den deontischen Aspekt verstärken und die konkreten Maßnahmen gegen das „Ungeziefer“ zum Ausdruck (z. B. Verbrennen der Migranten, Aufruf zur Vergewaltigung von Frauen mit Kopftuch, Vernichtung von sechs Millionen Menschen etc.) bringen. Außerdem verfügt der deontische Sprachgebrauch von Wörtern je nach Stand- und Gesichtspunkt über unterschiedliche Stellenwerte in einer Gesell‐ schaft. Zum Beispiel können Wörter wie Demokratie, Freiheit, Arbeit oder Tourismus unterschiedliche Deontiken hervorrufen. Die Demokratie ist seit dem 19. Jahrhundert eine politische Staatsform, die in einer geschichtlichen Phase in manchen Ländern als erstrebenswert eingestuft wird, aber in einem 134 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="135"?> geschichtlichen Zeitraum in anderen Ländern bewusst verhindert wird. Zum Beispiel ist die Demokratie in einer Gesellschaft, in der eine Diktatur vor‐ herrscht, unerwartet bzw. nicht erwünscht. Arbeit (Deontik: sie muss getan werden) und Freiheit (Deontik: sie soll angestrebt werden) sind zwei wichtige Begriffe in der heutigen Gesellschaft. Jedoch können die beiden Konzepte in der Konstruktion „Arbeit macht frei“, die als Toraufschrift an den nationalsozia‐ listischen Konzentrationslagern verwendet wurde, deontisch anders gedeutet werden. Genau wegen der historischen Belastung dieser idiomatischen Kon‐ struktion musste sich der damalige stellvertretende SPD-Vorsitzende Ludwig Stiegler während des Bundestagswahlkampfes 2015 entschuldigen, weil er einen unangemessenen Vergleich zwischen der Wahlparole der CDU „Sozial ist, was Arbeit schafft“ und der verschönerten Parole zur Verschleierung der unmenschlichen Behandlung in den Konzentrationslagern, gezogen hat. Das zeigt, wie die gesellschaftlichen Diskurse sowie die Historizität eines Wortes zum Potenzial der Deontik beisteuern können. Ein letztes Beispiel dafür ist die deontische Änderung des (Sozial)Tourismus. Die Entwicklung der touristischen Branche ist üblicherweise einer der wich‐ tigen Indexe zur Bemessung des tertiären Sektors einer Volkswirtschaft. Men‐ schen, die touristisch unterwegs sind, besitzen in der Gesellschaft bestimmte Privilegien, weil eine touristische Tätigkeit nicht nur Geld, sondern auch Zeit verlangt. Nur diejenigen, denen zusätzliches Geld und genügend Zeit zur Ver‐ fügung stehen, können sich eine Reise leisten. Tourismus ist also im allgemeinen Sprachgebrauch im Alltag eine Sache, die man gerne haben möchte. Jedoch ist das deontische Potenzial des Kompositums, nämlich „Sozialtourismus“, viel schwerer in unterschiedlichen Entwicklungsphrasen der Sprache zu greifen. Man kann die folgenden Belege aus dem Zeitungskorpus Die Zeit (1946-2018) vom DWDS miteinander vergleichen: (1) Auf der letzten Tagung der Deutschen Zentrale für Fremdenverkehr in Koburg wurde beschlossen, den Sozialtourismus zu fördern, damit auch die minderbe‐ mittelte Bevölkerung die Möglichkeit zu Erholungsreisen hat. (Die Zeit, 13.07.1950, Nr.-28) (2) Wir glauben Brauer richtig verstanden zu haben, wenn er unter „Sozialtou‐ rismus“ keine dem Reiseverkehr dienende öffentliche Fürsorgemaßnahme ver‐ steht, sondern Sozialtourismus als volkswirtschaftlich und betriebswirtschaft‐ lich tragbare Lösung eines allgemeinen Bedürfnisses vor allem nach Erholung, Entspannung und Sammlung bezeichnet. (Die Zeit, 12.10.1950, Nr.-41) (3) Die EU will Leitlinien zur Verhinderung von Sozialtourismus vorstellen. (Die Zeit, 12.01.2014, Online) 4.2 Methode 135 <?page no="136"?> (4) Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände BDA begrüßte, der Europäische Gerichtshof habe dem Missbrauch der Arbeitnehmerfreizügigkeit und damit innereuropäischem Sozialtourismus zu Recht einen Riegel vorge‐ schoben. (Die Zeit, 15.09.2015, Online) Durch eine Analyse der verwendeten Lexik bzw. den Kollokationen, die mit dem Kompositum „Sozialtourismus“ zusammenhängen, kann man dementsprechend die unterschiedlichen deontischen Bedeutungen dieser Konstruktion erschließen. In den ersten zwei Belegen aus den 1950er Jahren ist der Sozialtourismus eine staatliche Förderung für die normalbzw. schlechtbezahlte Bevölkerung, der die allgemeinen bürgerlichen Bedürfnisse nach Erholung, Entspannung sowie Sammlung erfüllt. 1947 wurde eine historische Einrichtung innerhalb des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), der FDGB-Feriendienst, in der DDR gegründet. Das Ziel dieses Feriendienstes bestand darin, Erholungsreisen für Menschen mit staatlichen Subventionen zu vermitteln sowie zu organisieren. Die Idee, staatlich bezahlte Reisen für die Bevölkerung anzubieten und die soziale Schere zwischen den Reichen und den Armen hinsichtlich der Freizeitbeschäfti‐ gung zu reduzieren, kann auf die Weimarer Republik zurückgeführt werden. In Nazi-Deutschland übernahm die nationalsozialistische Gemeinschaft Kraft durch Freude (KdF) diese Idee, um den sozialnationalistischen Gedanken zu propagieren (vgl. Hachtmann 2016: 27-66). Diese kleine geschichtliche Skizze zeigt auf, dass die Deontik von „Sozialtourismus“ um 1950 in eine positive Richtung weist, weil der Begriff die staatlich geförderten Reisen für die Massenbevölkerung bezeichnet, einen Zugang zu einer diversen Freizeitbeschäftigung für die Massenbevölkerung schafft und dadurch den sozialen Unterschied zwischen unterschiedlichen Sozial‐ klassen bezüglich der Freizeitgestaltung verringert. Jedoch ist der Sozialtourismus in den beiden letzten Korpusbelegen nicht wünschenswert. Hier spricht man sogar von einer Verhinderung, die durch gesetzlich festgelegte Leitlinien von einer mächtigen Institution (Europäische Union) systematisiert praktiziert werden. Oder dieser Sozialtourismus wird als Ausnutzung der Freizügigkeit von der Zuwanderung diffamiert. Hier hat das Wort „Sozialtourismus“ anscheinend nicht mehr mit einer staatlich subventio‐ nierten Reise zu tun. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde der FDGB-Feriendienst auch aufgelöst. Daher ist der Sozialtourismus ein histori‐ sches Nebenprodukt der Sozialleistungen in der DDR geworden. Vielmehr wird dieses Wort seit den 1990er Jahren im Migrationsdiskurs in der EU bzw. in Deutschland verwendet, um die Einwanderung abwertend zu bezeichnen, die angeblich nur dazu dient, von der Sozialleistung in einem hoch entwickelten Sozialsystem in Westeuropa zu profitieren. Wer sich mit sprachkritischen 136 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="137"?> Aktionen in Deutschland auseinandersetzt, weiß bestimmt noch, dass das Wort „Sozialtourismus“ sogar zum Unwort des Jahres 2013 gekürt wurde, weil dieser Ausdruck eine böswillige Absicht der Zuwanderung insbesondere aus Osteuropa (z. B. aus Bulgarien und Rumänien) unterstellt und den Beitrag der Zuwanderung im Zielland bewusst vernachlässigt. Das Sozialtourismus-Beispiel beweist, dass dieselbe sprachliche Konstruktion je nach gesellschaftlich diskursivem Kontext unterschiedliche Bedeutungen besitzen bzw. diverses Potenzial der Deontik aufweisen kann. Die Analyse einer deontischen Konstruktion im Text darf die soziopragmatischen Momente in ihrer Historizität, die mit dieser Konstruktion eng verwoben sind, nicht außer Acht lassen. Fachliche Konstruktionen: Da die Leitartikel primär Funktionen wie Meinungsbildung, Überzeugung sowie Meinungseinfluss übernehmen, tauchen viele fachsprachliche Konstruktionen darin auf, um die Argumentation im Text zu begleiten sowie (scheinbar) wissenschaftlich zu unterstützen. Dabei unterscheide ich zwei Arten von fachlichen Konstruktionen im Gebrauch: fachliche Konstruktionen in ihrer fachsprachlichen Bedeutung und fachliche Konstruktionen in ihrer metaphorischen Bedeutung. Zur Analyse der fachlichen Konstruktionen in ihrer fachsprachlichen Bedeu‐ tung ist insbesondere zu prüfen, ob bei der Einführung solcher Fachtermini immer die Perspektive der Leserschaft herangezogen wird: Werden sie in einer leserverständlichen Form dargelegt? Werden zusätzlich Metaphern ge‐ braucht, um sie zu veranschaulichen? Falls ja, welche Metaphern spielen zur Verdeutlichung eines Fachbegriffs im Text eine entscheidende Rolle? Oder: Die Fachtermini werden überhaupt nicht im Fließtext behandelt bzw. erklärt, weil das einschlägige Fachwissen einfach vorausgesetzt wird. Dies hilft, die Adressie‐ rung eines Textes zu identifizieren. Zur Analyse der fachlichen Konstruktionen in ihrer metaphorischen Bedeutung ist zu schauen, wie die Fachsprache auf die alltägliche Sprache übertragen wird, aus welchem Fachbereich diese Über‐ tragung auffällig ist und welche Metaphern dabei von zentraler Bedeutung sind (vgl. Grosse 1979; Busch 2004). Zudem ist auch wichtig zu hinterfragen, wie verschiedene Konstruktionen zugunsten der Argumentation bevorzugt gebraucht werden und welche Kon‐ kurrenzstrategien eingesetzt werden. Die Konstruktionen befinden sich auch immer in einer endlosen Konkurrenz. Man muss in der Kommunikation eine Auswahlentscheidung in Bezug auf zahlreiche Konstruktionen treffen. In der Analyse ist daher wichtig zu fragen, warum gerade diese Konstruktion ausge‐ wählt wird und nicht eine Alternative? Beispielweise ist an dieser Stelle zu erforschen, ob eine alte und stark verfestigte Konstruktion in einem völlig neuen 4.2 Methode 137 <?page no="138"?> Kontext gebraucht wird (im Sinne einer neuen Besetzung der Konstruktion), ob Konstruktionen aus anderen Variationen (z. B. Sprache in der Internet‐ kommunikation oder Jugendsprache) in die Pressemedien einfließen, ob eine Konstruktion umgewertet, umgedeutet, relativiert sowie tabuisiert wird bzw. ob eine neue Konstruktion eine Ad-hoc-Konstruktion ist. Die relevanten Punkte für die Analyse auf der textuellen Ebene werden hierbei nochmals in der folgenden Checkliste zusammengefasst: Checkliste: Analyse der metaphorischen Konstruktionen im Leitartikel Metaphorische Konstruktionen und Argumenta‐ tion ✓ Autorenschaft und Vertretung der Interessengruppe(n) ✓ Adressierung des Leitartikels ✓ Darstellung der Hauptthese (implizit oder explizit? ) ✓ Rolle der metaphorischen Konstruktionen in der Darstel‐ lung von Hauptthese und Subthesen ✓ Rolle der metaphorischen Konstruktionen im Hervor‐ bringen der Argumente ✓ Rolle der metaphorischen Konstruktionen im Aufbau der Argumentation ✓ Rolle der metaphorischen Konstruktionen in der Bildung des Argumentationsmusters Metaphorische Konstruktionen und Frames ✓ Zusammenfassung der bildhaften Konstruktionen ✓ Analyse der (nicht) hervorgerufenen Frames durch die bildhaften Konstruktionen ✓ Analyse der Konstruktionen-Frames-Konstellation Metaphorische Konstruktionen und Deontik ✓ Konstruktionen im deontischen Gebrauch (z. B. deontische Verwendung von Modalverben, Infinitivkonstruktionen oder Wörtern) ✓ Standpunkt und Deontik (z. B. je nach Staatsformen unter‐ schiedliche deontische Kraft für Wörter wie Demokratie und Arbeit) ✓ Historizität und Deontik (z.-B. Arbeit macht frei) ✓ Erschließung der Deontik in Konstruktionen durch Kollo‐ kationsanalyse (z.-B. Sozialtourismus) ✓ Umdeutung der Deontik Metaphorische Konstruktionen und Fachvoka‐ bular ✓ Fachvokabular in fachsprachlicher Bedeutung (z. B. Ein‐ bezug der Leserschaft durch metaphorische Verwendung zur Erklärung der Fachbegriffe) ✓ Fachvokabular in metaphorischer Bedeutung (z. B. Über‐ tragung der Fachsprache auf Gemeinsprache, Ursprungsbe‐ reiche der Metaphern) 138 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="139"?> Checkliste: Analyse der metaphorischen Konstruktionen im Leitartikel Konstruktionen in der textuellen Konkurrenz ✓ Neue Besetzung der verfestigten Konstruktionen in einem anderen Kontext ✓ Einflussnahme der benachbarten Kommunikationsmodi bzw. Sprachvariationen (z. B. Übernahme der Konstruk‐ tionen aus der Internetkommunikation oder Jugend‐ sprache) ✓ Konstruktionsumdeutung ✓ Konstruktionsumwertung ✓ Konstruktionsrelativierung ✓ Konstruktionstabuisierung ✓ Ad-Hoc-Konstruktion Tab. 25: Checkliste für die Analyse der metaphorischen Konstruktionen im Leitartikel 4.2.3 Das methodische Verfahren der multimodalen Analyse (Konstruktion-Bild-Interaktion) Bereits auf der Titelseite eines Nachrichtenmagazins findet die Konstruk‐ tion-Bild-Interaktion statt. In der sogenannten Bildlinguistik, die sich immer noch im Anfangsstadium befindet, bemüht man sich schon, das Verhältnis zwischen Sprache und Bild zu erforschen. Nach Stöckl (2011: 46) stehen Bilder „im kommunikativen Haushalt unserer Gesellschaft selten allein“ und sie treten „zumeist mit Sprache und anderen Zeichensystemen verknüpft“ auf. Der Gebrauch von Sprache und Bild führt zu einer Zusammenarbeit in der mentalen Repräsentation, indem sie auf die gleichen kognitiven Leistungen wie Scripts, Frames und mentale Modelle zurückgreifen können (vgl. Stöckl 2004: 199-241). Zudem werden dem Sprach- und Bildgebrauch unterschiedliche kommunikative Funktionen zugewiesen. Beispielsweise können Bilder eine Sache, ein Objekt oder einen Sachverhalt anschaulich vor Augen führen und das Interesse der Leserschaft erwecken. Dabei kann die Begleitsprache eines Bildes konkrete Aspekte dieser Visualisierung benennen, den Deutungsspielraum eingrenzen und die dazugehörige Meinungsbildung und den Handlungsaufruf je nach Gebrauchskontext implizieren bzw. explizieren. In diesem Kontext spricht man von „pictorial turn“ oder „visuelle Wende“ (vgl. Paul 2006; Sachs-Hombach 2001), weil Bilder „eine eigenständige Qualität bei der Konstituierung der jeweiligen historischen, gesellschaftlichen, politischen Wirklichkeit besitzen“ (Diekmannshenke 2011: 162). Von zentraler Bedeutung sind zwei Typen von Bildern in der vorliegenden Untersuchung: erstens, die Titelbilder aus den zwei ausgewählten Nachrich‐ tenmagazinen und zweitens, die eingesetzten Bilder in den entsprechenden 4.2 Methode 139 <?page no="140"?> Titelgeschichten. Das Titelbild der Zeitschrift stellt in der Regel das Hauptmotiv dieser Ausgabe dar. Die Auswahl eines Titelbilds auf einem Nachrichtenma‐ gazin wie Der Spiegel folgt mindestens zwei Kriterien. Das eine Kriterium betrifft die Marketing-Strategie. Das heißt, eine Nachrichtenzeitschrift als ein kommerzielles Produkt im Journalismus möchte selbstverständlich möglichst mehr Leser zum Kauf bzw. Abonnieren animieren, damit das journalistische Unternehmen bzw. der einschlägige Verlag seinen Gewinn maximieren kann. Ein Motiv wird als Titelbild mit dem Zweck ausgewählt, dass es auch aus größerer Entfernung immer noch auffällig erkennbar ist. Dies verlangt von einem Titelbild mehr Visualisierung als sprachliche Konstruktionen. Wenn die begleitenden sprachlichen Konstruktionen unvermeidbar sind, werden sie üblicherweise in großer Schrift und prägnanter Form (z. B. durch Schlagwörter, idiomatische Konstruktionen) dargestellt. Das andere Kriterium ist von dem ver‐ tretenen journalistischen Standpunkt hinsichtlich eines Sachverhalts abhängig. Das ausgewählte Titelbild soll nicht nur Leser anlocken, sondern auch die In‐ teressen, die Einstellungen sowie den Zeitgeist dieses journalistischen Produkts wiedergeben. Was die Formen betrifft, kann ein Titelbild sehr unterschiedlich erscheinen: als Porträtfoto, Karikatur, Comic, Grafik, Foto, Illustration etc. Deshalb ist in erster Linie festzulegen, was für eine Erscheinungsform das analysierte Titelbild erwählt. Nach der Festlegung der Erscheinungsform des analysierten Titelbilds wird es zuerst deskriptiv beschrieben. Eine deskriptive Titelbildbeschreibung beinhaltet beispielsweise folgende Aspekte: zu verstehen, was auf dem Titelbild zu sehen ist, wie das Titelbild gezeigt wird, wer das Titelbild im Auftrag von wem herstellt, welche Metaphern auf dem Titelbild zu sehen sind, welche argumen‐ tative Leistung dieses Titelbild leisten kann, welches framebezogene Wissen zur Deutung dieses Titelbilds reaktiviert werden muss und wie das Titelbild in welchem politischen Zusammenhang entstanden ist. Für die Beschreibung eines Titelbilds werden keine etablierten Beschreibungsinventare, die in der Grammatik zur Verfügung stehen, vorgeschrieben. Somit ist zu ermitteln, was für eine Relation zwischen dem Titelbild und den sprachlichen Begleitkonstruktionen auf dem Titelbild dargestellt wird: Beschreiben die sprachlichen Konstruktionen genau das Titelbild? Stehen die beiden im Wider‐ spruch? Ergänzen die beiden einander und besprechen sie unterschiedliche Aspekte eines Sachverhalts? Um die ersten Schritte zu verdeutlichen, möchte ich dies anhand des fol‐ genden Titelbilds aus Der Spiegel exemplifizieren. 140 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="141"?> Abb. 6: Titelbild „Der Selbstmord“ (Quelle: Der Spiegel, Nr.-40. 26.09.2015) Diese Der Spiegel-Ausgabe mit dem Titelbild „Der Selbstmord“ ist kurz nach der Enthüllung des VW-Abgasskandals auf die Bühne der Öffentlichkeit gebracht worden. Dieses Titelbild stellt kein reales Abbild dar, sondern bedient sich einer illustrierenden, symbolhaften Graphik. Auf dem weißen Titelbildhintergrund sind oben der Titel des Titelbilds „Der Selbstmord“ mit der Interpunktion Punkt in fettgedruckter Schwarzfarbe und unten das Bild zu sehen. Auf dem Bild sieht man links und rechts jeweils drei Männer in schwarzen Anzügen und weißen Hemden. Sie tragen gerade schwarze hohe Zylinder. Vergrößert man das Titelbild, findet man jeweils noch ein Badge mit der US-Amerikanischen Nationalflagge auf dem schwarzen Anzug. In der Mitte des Titelbilds ist ein gelbes Auto abgebildet. Durch die Automarke vorne und das Automodell kann das Auto in die VW-Serie Mini Cooper eingeordnet werden. Auf der Vorderseite der Windschutzscheibe des abgebildeten VW-Autos liegt ein aus weißen Rosen gebundener Kranz mit zwei Bändern. Die zwei Bänder werden eingeteilt in drei gleichgroße Streifen mit gleicher Farbenzusammensetzung (von links nach rechts Schwarz, Rot, Gelb). Der einzige Unterschied zwischen den beiden Bänden ist ein zusätzlicher Schriftzug auf dem einen Band. Nur das linke Band (aus der Perspektive der Leserschaft) trägt die englische Aufschrift „Made in Germany“. Die sechs Männer tragen das VW-Auto mit leicht gebeugten Köpfen wie einen Sarg und gehen nach vorne. 4.2 Methode 141 <?page no="142"?> Das Titelbild aktiviert also einen Grablegungs-Frame, bei dem die Ver‐ wandten bzw. Freunde als Sargträger fungieren und die verstorbene Person im Sarg bis zur Grabstelle begleiten. Hier steht das VW-Auto für die verstorbene Person. Das VW-Auto kann wiederum im metonymischen Sinne (pars pro toto, das Produkt steht für das Produktionsunternehmen) den VW-Konzern symbo‐ lisieren. Daraus kann der Rückschluss gezogen werden, dass der VW-Konzern metaphorisch tot ist. Jedoch bleibt die Frage, was den Tod des Konzerns verursacht hat. Handelt es sich um einen natürlichen Tod (z. B. an Krank‐ heiten) oder einen nicht natürlichen Tod (z. B. aufgrund eines Verkehrsunfalls)? Die Begleitsprachkonstruktionen geben den Hinweis auf die Todesursache - den Selbstmord. Dadurch erschließt sich, dass der VW-Konzern Selbstmord begangen hat (Metapher: SELBSTSCHULD IST SELBSTMORD ). Auch die Interpunktion „Punkt“ weist darauf hin, dass eine Sache vollständig zum Ende gebracht wurde. Dieser Tod bedeutet zugleich, dass die ausgezeichnete Qualität der in Deutschland produzierten Autos (die Farbsetzung auf den beiden Bändern entspricht der deutschen Nationalflagge), die man mit der Konstruktion Made in Germany stereotypisch verbindet, zur Vergangenheit dieses Spitzenautokon‐ zerns zählt. Interessant ist auch zu bemerken, dass der US-Amerikanische Badge eine scheinbare Anspielung auf die Aufdeckung des Abgasskandals von VW durch eine Notice of Violation der US-Umweltbehörde Environmental Protection Agency enthält. Allein durch die deskriptive Beschreibung sowie dem kleinen Deutungsver‐ such wird aufgezeigt, dass ein Titelbild im Nachrichtenmagazin mehr als tausend Worte sagt und unterschiedliche Frames aktivieren kann. Viele Aspekte werden im Titelbild nur symbolhaft dargestellt (z. B. die Nationalflaggen von den USA und Deutschland, das Auto von VW, Made in Germany). Ein Titelbild bildet meist nicht die Wirklichkeit in einem eins-zu-eins-Verhältnis ab. Es erschafft eine eigene Wirklichkeit und bringt damit die Einstellung der Titelbildschaffenden gegenüber einem spezifischen Sachverhalt zum Ausdruck. Das heißt, durch den Einsatz des Titelbilds im Nachrichtenmagazin werden kommunikative Handlungen ausgeführt: Mit Bildern kann man sprechakttheoretisch gesprochen Betrachtende instruieren, anlocken, anwerben, erschrecken, ängstigen, überzeugen, beeindrucken und vieles mehr, indem man eine bestimmte Sache auf eine bestimmte Art und Weise präsentiert. (Larcher 2015: 132). Zur Deutung eines Titelbilds müssen die Einzelkomponenten aus diesem Bild genau zerlegt, analysiert sowie eingeordnet werden. Auf die Frage, welche prag‐ 142 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="143"?> matische Funktion ein Titelbild übernimmt, muss der Zweck des Bildeinsatzes im Einzelfall in seiner historischen Zuordnung erschlossen werden. Die Bestimmung der Erscheinungsform eines Titelbilds, die deskriptive Beschreibung des Titelbilds sowie der erste Deutungsversuch des Titelbilds stellen zusammen den ersten Schritt in der Konstruktion-Bild-Analyse dar, da das Titelbild die Titelstory nur einleitet. Eine Titelstory besteht in der Regel aus mehreren Texten, die von verschiedenen Autoren verfasst werden (Mehrfach‐ autorenschaft) und dasselbe Thema aus unterschiedlichen Sichtweisen behan‐ deln (Multiperspektivität). Für den Einzeltext aus der Reihe der Titelstory gelten die Analysedimensionen und das methodische Verfahren, die ich bereits im letzten Unterkapitel ausführlich dargelegt habe. Daher möchte ich hier eine Wiederholung bewusst vermeiden. Alle Texte aus der Titelstory-Reihe stehen in einem thematisch eng verwandten Zusammenhang und bilden dementspre‐ chend einen Diskurs. Von daher müssen die metaphorischen Konstruktionen auch jeweils in ihrer Diskursfunktionalität behandelt werden. Dazu müssen die folgenden zusätzlichen Aspekte einschließlich der idiomatischen sowie der textuellen Betrachtung in der Analyse der Konstruktion-Bild-Interaktion berücksichtigt werden: 1. Metapher im Titelbild und Festlegung der Gesamtstimmung der Titelstory-Reihe: In der Analyse des „Der Selbstmord“-Titelbilds spielt die zentrale Metapher SELBSTSCHULD IST SELBSTMORD eine wich‐ tige Rolle. Die Selbstmord-Metapher bestimmt also die kritische Grund‐ stimmung der Titelstory-Reihe: Der Autokonzern Volkswagen muss den selbstverschuldeten Schaden im Abgasskandal hinnehmen, das unterneh‐ merische Fehlverhalten in diesem Skandal selbstkritisch reflektieren, die Fehler korrigieren bzw. das Vertrauen der Kunden wieder herstellen, um den Tod des Konzerns zu verhindern. Diese können beispielweise als Ausgangshypothesen angesehen werden und werden beim genauen Lesen der Titelgeschichten überprüft. 2. Metaphorische Konstruktionen und diskursive Funktionen: Auf der textuellen Ebene wird angestrebt, die für die Argumentation relevanten metaphorischen Konstruktionen aus dem Einzeltext herauszufinden. Auf der müssen alle metaphorischen Konstruktionen jeweils in ihrem Erschei‐ nungsdiskurs zusammengefasst werden. Es ist dann wichtig zu betrachten, wie die Metaphern die aufgestellte These bzw. die emotionale, persuasive Abfärbung im Text unterstützen, ob die untergeordneten Texte in einer Titelstory die gleichen Metaphern oder die gleichen Muster von Meta‐ phern verwenden, wie sie unterschiedliche Metaphern gebrauchen, welche Funktionen die metaphorischen Konstruktionen aus einer pragmatischen 4.2 Methode 143 <?page no="144"?> Perspektive übernehmen bzw. wie die metaphorischen Konstruktionen intertextuell interagieren. All diese Fragen sollten im Netzwerk der meta‐ phorischen Konstruktionen betrachtet werden. 3. Bilder im Diskurs der Titelstory: In den unterschiedlichen Texten sind weitere Bilder in der Einzeltitelgeschichte zu sehen. Meiner Meinung nach muss auch noch eine Reihe von Fragen geklärt werden: In welchem Zusammenhang stehen die Bilder mit den Konstruktionen im Text und welche Metaphern sind noch in den Bildern im Diskurs zu sehen? 4. Textsorte bzw. Textlänge: Die Einzelgeschichte in der Reihe von Titel‐ stories kann natürlich in verschiedenen Formen auftreten. Sie kann zum Beispiel als eine Reportage, verfasst von mehreren Autoren, oder ein In‐ terview, durchgeführt zwischen dem Nachrichtmagazin und der befragten Person, erscheinen. Die Auswahl der Textsorte sowie die Textlänge können auch die Verwendung der metaphorischen Konstruktionen, insbesondere die Verwendungsdichte solcher Konstruktionen beeinflussen. Wie in den letzten zwei Abschnitten werden auch hier anhand einer Checkliste die zentralen Dimensionen für die Analyse der metaphorischen Konstruktionen auf der multimodalen Konstruktion-Bild-Interaktion-Ebene abermals abschlie‐ ßend dargelegt: Checkliste: Analyse der metaphorischen Konstruktionen auf der multimodalen Ebene (Konstruktion-Bild-Interaktion) Deskriptive Beschreibung des Titelbilds ✓ Was ist auf dem Titelbild zu sehen? ✓ Wie wird das Titelbild gezeigt? ✓ Wer hat das Titelbild im Auftrag von wem erstellt? ✓ Welche Metaphern sind auf dem Titelbild zu sehen? ✓ Welche argumentative Leistung kann dieses Titelbild leisten? ✓ Welches framebezogene Wissen muss bei der Deutung dieses Titelbilds aktiviert werden? ✓ In welchem Zusammenhang ist das Titelbild entstanden? Titelbild- Konstruktion- Konstellation ✓ Beschreiben die sprachlichen Konstruktionen genau das Ti‐ telbild? ✓ Stehen die beiden im Widerspruch? ✓ Ergänzen die beiden einander und besprechen unterschied‐ liche Aspekte eines Sachverhalts? ✓ Welche pragmatische Funktion übernimmt ein Titelbild? Idiomatische Analyse vgl. Checkliste für Analyse auf der idiomatischen Ebene (Tabelle-24) 144 4 Aufbau der Korpora und Darstellung der integrativen Methoden <?page no="145"?> Checkliste: Analyse der metaphorischen Konstruktionen auf der multimodalen Ebene (Konstruktion-Bild-Interaktion) Textuelle Analyse vgl. Checkliste für Analyse auf der textuellen Ebene (Tabelle-25) Zusätzliche Dimensionen ✓ Mehrfachautorenschaft ✓ Multiperspektivität ✓ Metapher im Titelbild und Festlegung der Gesamtstimmung der Titelstory-Reihe ✓ Metaphorische Konstruktionen und diskursive Funktionen ✓ Bilder im Diskurs der Titelstory ✓ Textsorte bzw. Textlänge ✓ Diskursive Asymmetrie und asymmetrisches Schaffen von Wissen Tab. 26: Checkliste für die Analyse der metaphorischen Konstruktionen auf der multi‐ modalen Ebene 4.2 Methode 145 <?page no="147"?> 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen Das umfassendste Kapitel 5, das ein Herzstück der vorliegenden Arbeit dar‐ stellt, untersucht die idiomatischen Konstruktionen mit Orientierungsbzw. Raum-Metaphern im Chinesischen und Deutschen. Kapitel 5.1 stellt zunächst das grundlegende Wissen über die relevanten prosodischen Dimensionen im Chinesischen und Deutschen vor. Um die vorliegende Studie in die einschlä‐ gigen Forschungsbereiche der Phraseologie bzw. der Konstruktionsgrammatik besser einzuordnen, wird vor der Präsentation der Forschungsergebnisse in Kapitel 5.2 der Forschungsstand der relevanten Forschungsbereiche anhand von zahlreichen Beispielen angesprochen. Die beiden empirischen Teile, Kapitel 5.3 und Kapitel 5.4, legen dann die wichtigsten Entdeckungen in der Korpusunter‐ suchung dar. Im abschließenden Kapitel 5.5 wird das durch die Untersuchung herauskristallisierte vierdimensionale PSSP-Modell für die Konstruktionsana‐ lyse nochmals betont. 5.1 Prosodie in den chinesischen und deutschen Schriftsprachen Das vorliegende Unterkapitel thematisiert zuerst die möglichen prosodischen Dimensionen in den chinesischen und deutschen Schriftsprachen, die bei der Analyse der idiomatischen metaphorischen Konstruktionen in den beiden Sprachen berücksichtigt werden sollen. In Kapitel 5.1.1 wird zuerst auf die prosodischen Dimensionen des Chinesischen als Tonalsprache eingegangen. Thematisch werden die allgemeinen Entwicklungstendenzen der Töne im Stan‐ dardchinesischen, die vier bedeutungsunterscheidende Töne in der modernen chinesischen Sprache und das phonologische Profil der Töne nacheinander vorgestellt. Das Kapitel 5.1.2 behandelt dementsprechend die prosodischen As‐ pekte im Deutschen. Die für die Untersuchung relevanten Dimensionen wie die deutsche Silbenstruktur, die Sonoritätshierarchie im deutschen Sprachsystem sowie die Präferenzgesetze der Silbenstruktur nach Vennemann (1988) werden an der passenden Stelle eingeführt. Das Ziel dieses Unterkapitels besteht darin, der Leserschaft zuerst das grundlegende sowie forschungsrelevante Wissen hinsichtlich der chinesischen und der deutschen Prosodie zu vermitteln und eine prosodie-theoretische Grundlage für die empirische Untersuchung in Kapitel 5.3 und Kapitel 5.4 zu bilden. <?page no="148"?> 5.1.1 Prosodische Dimensionen der chinesischen Schriftsprache Nach der Definition von Yip (2002: 1) ist eine Sprache eine Tonalsprache einzustufen, wenn die Tonhöhe des Wortes die Bedeutung des Wortes verändern kann. Die chinesische Sprache ist in dieser Hinsicht besonders bekannt als eine Tonalsprache. Ton trägt, ändert und formiert Bedeutung im Chinesischen. Ton spielt eine hervorragende Rolle in der chinesischen Semantik, Syntax und Pragmatik. Daher wird in diesem Abschnitt zuerst ein Blick auf die erste Dimension der chinesischen Schriftsprache, nämlich, Ton, geworfen. Aufgrund der mehr als hundert unterschiedlichen geographischen, ethnolo‐ gischen sowie subkulturellen Varietäten haben viele chinesischen Dialekte deut‐ lich mehr Töne als vier. Beispielweise sind sogar neun verschiedene Töne in der kantonesischen Sprache (auch als Yue-Sprache bekannt), die vor allem in Hong‐ kong, Macau und Guangzhou gesprochen wird, zu beobachten. Bei denen Dia‐ lekten, die vier Töne haben, können sich erheblich ihre Tonhöhenformen (z. B. steigend oder fallend) von dem Standardchinesischen unterscheiden. Historisch betrachtet umfasst das Standardchinesische acht Töne in der Tang-Dynastie (618-907) (vgl. Zhu & Wang 2015). Da sich die vorliegende Schrift in erster Linie an der modernen chinesischen Standardsprache orientiert, möchte ich hier nicht ausführlich die Entwicklung der Töne in der chinesischen Standardsprache darstellen. Aber es ist dennoch wichtig, die allgemeine Entwicklungsgeschichte kurz zu erwähnen. Insgesamt durchging das Standardchinesische fünf Stufen in Bezug auf die Tonentwicklung, bis die jetzigen vier Töne festgelegt wurden. Vor dem Erscheinen der ältesten chinesischen Gedichtsammlung, des Buchs der Lieder (Chinesisch: Shi Jing), wird die chinesische Sprache grob in zwei Töne eingeteilt, die üblicherweise in der phonologischen Geschichte der chinesischen Sprache als Typ A und Typ B bezeichnet werden (vgl. Yang, 2006: 174-175). Das Erscheinen des Buchs der Lieder (Shi Jing) hat eine große Bedeutung nicht nur als einer der Fünf Klassiker in der chinesischen Literaturgeschichte, der vorchristliche Gedichte sammelt und dokumentiert, sondern als eines der ältesten Sprachdenkmäler des Altchinesischen. Das Buch der Lieder (Shi Jing) hat insbesondere für die Erforschung sowie Rekonstruktion der altchinesischen Töne große Bedeutung. Die rekonstruierten Töne aus dem Buch der Lieder werden in der Regel als Shi Jing-Töne bezeichnet. Die zwischen dem 10. und dem 7. Jahrhundert v. Chr. entstandenen Shi Jing-Töne umfassen schon die vier grundlegendsten Tonformen, die größtenteils später in die heutigen vier Tonformen einfließen. Konkret gesagt wird der Typ A-Ton in drei Töne eingegliedert: Ping-Ton, Shang-Ton und Qu-Ton, wobei der Typ B-Ton in Ru-Ton und Qu-Ton zerlegt wird. Der Ping-, Shang-, Qu- und Ru-Ton werden 148 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="149"?> bis etwa die Sui-Dynastie (581-619) gehalten. Nur kleinere Tonänderungen findet statt: Die Schriftzeichen mit Qu-Ton sind zum Beispiel in der Ära von Shi Jing noch Einzelfälle, obwohl die vier Töne relativ gleichmäßig in der Schriftsprache der Wei- und Jing-Zeiten (220-589) verteilt sind. Dies ist im chinesischen Reimwörterbuch Qie Yun, das 601 während der Sui-Dynastie (581- 619) von Fayan Lu veröffentlicht wurde, nachgewiesen. Dieses Reimwörterbuch von Lu gibt Auskunft über die richtige Aussprache der chinesischen Schriftzei‐ chen aus den chinesischen klassischen Texten. Bis etwa zum 8. Jahrhundert während der Tang-Dynastie (618-907) entwickeln sich die vier Grundtöne je nach Stimmhaftigkeit (stimmhaft oder stimmlos) zu acht Tönen. Bei der Benennung der acht Töne spielt das daoistische Begriffspaar Ying und Yang anscheinend eine dominante Rolle: Die stimmhaften Töne werden als Yang-Töne bezeichnet (also Yang Ping-Ton, Yang Shang-Ton, Yang Qu-Ton und Yang Ru-Ton), während Ying-Töne auf die stimmlosen Töne (also Ying Ping-Ton, Ying Shang-Ton, Ying Qu-Ton, Ying Ru-Ton) referieren. Die Änderungen der Töne ist in der späteren Tang-Dynastie (875-907) besonders in den stimm‐ haften Shang-Tönen (also die Yang Shang-Töne) zu sehen. Alle stimmhaften Shang-Töne sind inzwischen stimmhafte Qu-Töne geworden (vgl. Yang 2006: 176). In der Yuan-Dynastie (1271-1368) werden die stimmhaften und stimm‐ losen Shang-Töne zu einem übergreifenden Ton, nämlich Shang-Ton vereint. Der stimmhafte Shang-Ton, der stimmlose Qu-Ton und der stimmhafte Qu-Ton bilden zusammen einen anderen übergreifenden Qu-Ton. Allerdings werden die stimmhaften und stimmlosen Ping- und Ru-Töne auch in der Yuan-Dynastie beibehalten. Die letzte phonologische Entwicklungsstufe befindet sich in den Ming- und Qing-Dynastien (1368-1912). In dieser Entwicklungsphrase bleiben die bis die Yuan-Dynastie (1271-1368) überlieferten Yang Ping-, Ying Ping-, Shang- und Qu-Töne stabil. Jedoch sind erhebliche und teilweise bis heute nicht nachvollziehbare Änderungen in den Ru-Tönen (also der stimmhafte Ru-Ton und der stimmlose Ru-Ton) zu beobachten: Der stimmhafte Ru-Ton, also der Yang Ru-Ton werden in den Yang Ping-Ton und Qu-Ton integriert. Der stimmlose Ru-Ton fließt verteilt in alle vier in der Yuan-Dynastie etablierten Töne. Bis heute erforscht man die Motivation der unerwarteten, unregelmä‐ ßigen sowie gravierenden Änderungen des stimmlosen Ru-Tons in den Ming- und Qing-Dynastien (1368-1912). Die vier Töne, und zwar Ying Ping-, Yang Ping-, Shang- und Qu-Ton, entsprechen den vier Tönen in der heutigen Standardsprache des Chinesischen. In der chinesischen Sprachdidaktik und im alltäglichen Sprachgebrauch werden die vier Töne aber nicht so linguistisch fundiert bezeichnet. Sie werden dementsprechend vereinfacht der erste, der zweite, der dritte und der vierte Ton genannt (vgl. Zhu & Wang 2015: 504). 5.1 Prosodie in den chinesischen und deutschen Schriftsprachen 149 <?page no="150"?> Um bessere Lesbarkeit und Übersichtlichkeit zu erzielen, werden die vier Töne im Folgenden vereinfacht als T1, T2, T3 und T4 bezeichnet. Nun ist es klar, wie sich die vier Töne in der modernen Standardsprache des Chinesischen historisch entfalten. Jedoch bleiben zwei weitere offene Fragen noch unbeantwortet: Die erste Frage bezieht sich auf das phonologische „Aussehen“ der vier Töne und die anschließende zweite Frage betrifft eine mögliche linguistische Repräsentation der vier Töne im Standardchinesischen. Das phonologische Profil der vier Töne im Standardchinesischen lässt sich wie folgt beschreiben: T1 ist konstant, hoch und fast wie gesungen anstatt gesprochen, während die Tonstärke dabei gleichbleibend ist. T2 ist von der unteren bis mittleren bis in die hohe Tonlage steigend, und ähnelt dabei der Intonation eines Fragesatzes im Deutschen. Die Tonstärke des T2s steigert sich im Verlauf der Silbe. T3 ist ein fallend-steigender Ton, der zuerst aus der mittleren Tonlage nach unten sinkt und wieder in die Mittlere steigt. Der Anfang des T3s ist am lautesten. Die Lautstärke fällt anschließend ab und steigt am Ende der Silbe wieder an. T4 ist als ein scharf fallender Ton nach unten aufzufassen, dessen Silbe in der Regel kürzer ausgesprochen wird. Die Tonhöhe des T4s ist teilweise vergleichbar mit der deutschen Hervorhebung eines Imperativs (vgl. Zhu & Wang 2015: 503-505). Um die vier Töne in der chinesischen Sprache zu beschreiben sowie zu dokumentieren, gibt es in der chinesischen phonologischen Geschichte zwei prominente Versuche: Bannong Liu (auch Fu Liu) gilt üblicherweise einer der Vorreiter im Bereich der experimentellen Studien insbesondere zu den Tönen in den chinesischen Dialekten. Durch die Veröffentlichung des wichtigen Werks Si Sheng Shi Yan Lu (1924/ 1950, Übersetzung von BZ: Dokumentation der Expe‐ rimente über vier Töne) versucht er anhand einer modernen experimentellen Methode die Frage - „Was sind die vier Töne“ - zu beantworten. Er weist zunächst auf die vier grundlegenden Elemente hin, die den Klang eines Wortes bestimmen: Tonhöhe, Stärke, Länge und Klangqualität. Mit Experimenten zeigt er, dass die Tonhöhe der Bestimmungsfaktor für die vier Töne in der chinesischen Sprache ist. Darüber hinaus verwendet er einen Kymographen, um die Töne in zwölf chinesischen Dialekten aus geographisch und dialektologisch repräsentativen Städten, darunter Beijing, Nanjing, Chengdu und Guangzhou, zu testen und die Beziehung zwischen Tonnummer und Tonhöhe zu ermitteln. Bei der Beschreibung der Töne versucht er es zuerst mit der musikalischen Notation. Dem anderen Vorreiter, Yuanren Zhao, gelang der Durchbruch zur Notierung der Töne, indem er für das Five-Point-Scale (FPS)-System für die tonale Repräsentation der chinesischen Sprache plädiert (vgl. Zhu & Wang 2015: 506). Er unterteilt die Tonhöhe insgesamt in fünf Ebenen und nummeriert sie 150 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="151"?> von unten nach oben von 1 bis 5 durch. In dieser Darstellung ist die fünfte Ebene die höchste Tonhöhe des Standardchinesischen, während die erste Ebene die Niedrigste ist. Der Anfang, die Mitte und das Ende eines Tons können demgemäß jeweils auf eine der fünf Ebenen verortetet werden. Die Tonänderung kann durch eine Verkettung der Zahlen als Form eines Tons dargelegt werden: Abb. 7: Tonhöhen und das FPS-System von Zhao (zitiert nach Zhu & Wang 2015: 507) Der konstante und hohe T1 mit einer gleichbleibenden Tonstärke kann nach Zhao mit der Tonnummer 55 annotiert werden. Der der Intonation eines Frage‐ satzes im Deutschen ähnelnde T2 lässt sich mit der Tonnummer 35 beschreiben. Der fallend-steigende Ton T3 ist gekennzeichnet durch die Tonnummer 214 und die Tonnummer 51 repräsentiert den stark fallenden T4 (vgl. Zhu & Wang 2015: 506-508). Daher kann ein Schriftzeichen in der chinesischen Sprache neben dem Pinyin-System, also der offiziellen Romanisierung des Standardchinesischen, mit der entsprechenden Tonnummer auch phonologisch beschrieben werden. An dieser Stelle muss auch darauf hingewiesen werden, dass eine andere Meinung bezüglich der Anzahl der standardchinesischen Töne zu hören ist. Sie vertritt den Standpunkt, dass der neutrale Ton auch als der fünfte Ton oder der neutrale Ton gezählt werden muss. Jedoch kann der sogenannte neutrale Ton erst ausgesprochen werden, wenn die Suffixe wie „Zi“ ( 子 ) und „Tou“ ( 头 ) und die Synsemantika wie „Le“( 了 ), „Zhe“( 着 ) und „De“ ( 的 ) vorkommen. Die zweite Silbe eines zweisilbigen Wortes mit T2 kann weiterhin manchmal auch tonal neutral artikuliert werden (siehe das Beispiel in der folgenden Tabelle). Das bedeutet, dass der neutrale Ton keinen eigenständigen Ton neben den anderen vier Tönen darstellt, sondern erst unter bestimmten Bedingungen mit anderen Lexemen oder Silben zur Aussprache gebracht werden kann. Deswegen wird in 5.1 Prosodie in den chinesischen und deutschen Schriftsprachen 151 <?page no="152"?> dieser vorliegenden Schrift der neutrale Ton nicht als ein eigenständiger Ton betrachtet. Nur der Klarheit halber wird an dieser Stelle hier als T0 angegeben. Dies wird in der nachstehenden Tabelle mit einigen Beispielen verdeutlichtet: Ton Schriftzeichen Pinyin Pinyin mit Tonnummer von Zhao Bedeutung T1 妈 mā ma 55 Mutter T2 麻 má ma 35 Flachs T3 马 mǎ ma 214 Pferd T4 骂 mà ma 51 beschimpfen T0 妈妈 mā·ma ma 55 ·ma Mutter Tab. 27: Repräsentation der standardchinesischen Töne In diesem Kapitel werden sämtliche Chengyu-Konstruktionen aus der chinesi‐ schen Sprache (vgl. Kap. 5.2.1) anhand der Notation von Zhao beschrieben, weil die Tonnummer eindeutig die konkrete Tonlage, die Lautstärke sowie die Tonänderung im FPS-System dokumentiert und die Notation mit diakritischen Zeichen über den Vokalen im Pinyin-System vergleichsweise nur eine vage Auskunft über den konkreten Verlauf der Tonlage und fast nichts über die Lautstärke aussagt. Die idiomatischen Konstruktionen der chinesischen Sprache in diesem Kapitel werden durch eine vierstufige Darstellung vorgelegt: 1. Originales Chinesisch; 2. Umschrift nach Pinyin mit Zhao’s Tonnummer; 3. Aussprache nach International Phonetic Alphabet (IPA); 4. lineare Übersetzung der Lexeme sowie funktionalen Morpheme (in präziser Form) und 5. angepasste deutsche Bedeutungsübertragung. Diese Darstellung ist eine geänderte, vor allem erweiterte Form nach den Leipzig Glossing Rules (Conventions for interlinear morpheme-by-morpheme glosses, Version 2015), die in der langzeitigen sprachübergreifenden sowie -typologischen Beschäftigung mit Semantik und Syntax zusammen von der ehemaligen Abteilung für Linguistik des Max-Planck-Instituts (MPI) für Evolu‐ tionäre Anthropologie ( Jena, die jetzige Abteilung für Sprach- und Kulturevo‐ lution des MPIs für Menschheitsgeschichte) und dem Institut für Linguistik an der Universität Leipzig (Leipzig) herausgearbeitet wurden. Der wesentliche Unterschied zwischen meiner Darstellung in dieser Dissertationsschrift und der Leipziger Version besteht in der Darstellung der Töne der ursprünglichen 152 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="153"?> chinesischen Morpheme. In der Leipziger Fassung werden die Töne der Tonal‐ sprachen wie Chinesisch nicht berücksichtigt. Jedoch ist das tonale Merkmal von großer Bedeutung für die Konstruktion der Wortbedeutung und die Be‐ schränkung der syntaktischen Funktion in einer Tonalsprache. Von daher wird in meiner Darstellung ausdrücklich die tonale Ebene mitberücksichtigt. Außerdem wird die tonale Darstellung durch diakritische Zeichen über den Vokalen (z. B. bīng lín chéng xià) oder durch eine parallele Angabe der Töne neben der Pinyin-Umschrift (z. B. bing1 lin2 cheng2 xia4) nicht akzeptiert, weil die beiden Darstellungen nur ein sehr vages phonologisches Profil der jeweiligen Schriftzeichen vermitteln können. Wie oben bereits ausgeführt umfasst die Tonnummer nach Zhao die Tonlage, die Lautstärke sowie die Tonänderung, die infolgedessen ein ausdifferenziertes sowie genaues Profil der phonologischen Pole der Schriftzeichen aufzeigen kann. Meiner Ansicht nach kann eine sprachliche Konstruktion nur durch die beiden ergänzenden Darstellungsversuche (also Aussprache und Tonnummer nach Zhao) unter den Aspekten der Prosodie, Form und Bedeutung vollständig dargelegt werden. Natürlich werden die zusätzlichen Botschaften der dargestellten sprachlichen Konstruktion, die von diskursiven und pragmatischen Parametern abhängen, immer separat in der konkreten Gebrauchssequenz behandelt. Im Folgenden ist dasselbe Beispiel für bīng lín chéng xià oder bing1 lin2 cheng2 xia4 in meiner Fassung mit fünf Dimensionen zu nennen: 兵 临 城 下 bing 55 lin 35 cheng 35 xia 51 [pɪŋ 55 ] [lɪn 35 ] [ʈʂʰɤŋ 35 ] [ɕja 51 ] Soldaten annähern Stadt unten beschreibt, dass eine Situation gefährlich und kritisch ist 5.1.2 Prosodische Dimensionen der deutschen Schriftsprache Im Vergleich zur chinesischen Sprache ist die deutsche Sprache keine Tonal‐ sprache. Das bedeutet, der Ton spielt keine entscheidende Rolle in Bezug auf die Bedeutungskonstruktion wie dies in der chinesischen Sprache der Fall ist. Tonhöhenverläufe spielen im Deutschen insofern eine Rolle, wenn man zum Beispiel den Satztyp bestimmen muss. Grundsätzlich lassen sich bei den Satztypen drei Tonmuster (siehe die schematische Darstellung der Tonhöhenänderung unten in den Beispielen) unterscheiden. Die drei Tonmuster 5.1 Prosodie in den chinesischen und deutschen Schriftsprachen 153 <?page no="154"?> von Satztypen (fallend, steigend und progressiv) basieren wesentlich auf dem Kerninventar von vier Tonhöhenakzenten im Deutschen: fallender Akzent (H* L), Hochakzent (H*), steigender Akzent (L* H) sowie Tiefakzent (L*) (vgl. Duden. Band 4: Die Grammatik. 2016: 103). Die schematische Darstellung des Tonhöhenverlaufs im Satz folgt hinter den jeweiligen Sätzen: a) Maria ist eine Göttingerin. (↘) fallend → Aussagesatz b) Sei mir fleißig in der Schule, Maria! (↘) fallend → Imperativsatz c) Ist Maria eine Göttingerin? (↗) steigend → Fragesatz ( Ja-Nein-Frage) d) Wo kommt Maria her? (↗) steigend → Fragesatz (W-Frage) e) Maria ist eine Göttingerin. ( ) progressiv → Teilsatz Die Tonmuster geben Auskunft über zusätzliche Informationen der jeweiligen Sätze: In a) kann dieser Aussagesatz mit einem fallenden Tonmuster die Botschaft vermitteln, dass irgendeine Person gerade einen Kommentar über das Thema „Maria“ macht und von dieser Aussage überzeugt ist. Auf einer pragmatischen Ebene kann man eventuell erschließen, dass diese Person sehr wahrscheinlich diese Maria bzw. ihre Herkunft kennt. Der Imperativsatz b) ist emotional sehr hoch aufgeladen. Das Dativpronomen „mir“ in diesem Imperativsatz ist ein freier Dativ und bildet mit dem Imperativ zusammen eine typische Dativus-Ethicus-Konstruktion in der deutschen Sprache. Die Dativus-Ethicus-Konstruktion ist eine funktional bestimmte Subkategorie vom Dativ und drückt eine innere persönliche Anteilnahme des Sprechers/ der Sprecherin aus, die meistens in erster bzw. zweiter Person auftritt. Diese Konstruktion impliziert in der Regel die Beziehung zwischen den Sprechenden und den Hörenden: Eltern - Kinder, Vorgesetzte - Untergebene, Lehrende - Lernende und so weiter. Auch das fallende Tonmuster im Imperativsatz wirkt wie das im Aussagesatz und der Satzproduzent von dieser Aufforderung fest überzeugt ist. Darüber hinaus verstärkt dieses stark fallende Tonmuster im Im‐ perativsatz die Intensität der Emotion. Dieses Beispiel zeigt, dass das Tonmuster im Satz zusammen mit der sprachlichen Konstruktion Hinweise über die soziale Beziehung zwischen den Sprechenden und den Hörenden geben kann. Mit einem steigenden Tonmuster im Satz werden in c) und d) die Unsicherheit des Satzproduzenten eingebettet. Die Verwendung eines steigenden Tonmusters in Fragesätzen verfolgt auch ein pragmatisches Ziel - die Aufmerksamkeit der Zu‐ hörer zu erwecken. Das letzte Beispiel, das im progressiven Tonmuster realisiert wird, signalisiert, dass diese Aussage über Maria noch nicht vollständig ist, es 154 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="155"?> einer Fortsetzung noch bedarf bzw. etwas Wichtiges über sie noch kommt. Alle fünf Beispiele verdeutlichen, dass die Tonmuster nicht nur Hinweise über die Informationsstruktur liefern, sondern auch über die verbundenen Emotionen der Satzproduzenten sowie pragmatischen Aspekte, die nicht explizit in der sprachlichen Konstruktion kodiert werden (z.-B. soziale Beziehung). Die anderen prosodischen Parameter wie Akzent und Silbe können im Deutschen die Bedeutungsaspekte oder Grammatikalisierung einer sprachli‐ chen Konstruktion unter bestimmten Bedingungen stark beeinflussen. Im vorliegenden Unterkapitel wird der Versuch unternommen, auf die beiden prosodischen Dimensionen in der deutschen Schriftsprache einzugehen. Somit möchte ich hervorheben, dass prosodische Dimensionen in einer vollständigen Konstruktionsdefinition unbedingt erfasst werden müssen, auch wenn es sich um eine nicht-tonale Sprache handelt. In der deutschen Sprache ist der Akzent ein distinktives Merkmal hinsichtlich der Bedeutungskonstruktion: Ein Fährmann kann die Gäste auf eine schöne Insel übersetzen. Es ist aber unklar, ob er auch fähig ist, den Informationstext über diese Insel ins Chinesische zu übersetzen. Die beiden Verben mit einem identischen morphologischen Aussehen können je nach der Akzentsetzung unterschiedliche Bedeutungen zur Sprache bringen. Solche Verbtypen werden je nach der Stelle der Akzentsetzung und der morphologischen Trennbarkeit als die sogenannten „trennbaren Verben“ oder „untrennbaren Verben“ angesehen. Darüber hinaus muss auch darauf hingewiesen werden, dass die Betonung der beiden Verben dementsprechend einen grammatischen Hinweis geben kann. Besonders in der Partizip II-Bildung muss man auch diesen Hinweis mitberücksichtigen (z. B. Der Fährmann hat die Gäste auf eine schöne Insel übergesetzt vs. Der Fährmann hat den Informationstext über diese Insel nicht ins Chinesische übersetzt). In der Fachliteratur zur deutschen Phonologie unterscheidet man „unbe‐ tonten Affixe von betonten und betonungsverschiebenden“ (Becker, 2012: 84). Die meisten Flexionsaffixe sind unbetont im Deutschen. Beispielsweise sind die Endungen der Pluralformen vieler Substantive sowie die Präfixe der untrenn‐ baren Verben. Über den Zusammenhang zwischen Silben und Rhythmus gibt es bereits interessante Beobachtung mit vielen idiomatischen Konstruktionen aus der Perspektive der populären Stilllehre: Auf Schritt und Tritt stoßen wir darauf, wie stark unsere Rede auch abseits aller Poesie dem Rhythmus verhaftet ist - und nicht einmal einem beliebigen Rhythmus, sondern einem weitgehend überstimmenden Empfinden innerhalb der Sprachgemeinschaft. Auf Schritt und Tritt, in Acht und Bann, mit Mann und Maus, mit Stumpf und Stiel, 5.1 Prosodie in den chinesischen und deutschen Schriftsprachen 155 <?page no="156"?> in Haus und Hof, durch Wald und Flur, durch dick und dünn - all das ist rhythmisch eingegrenzt und ohne Alternative. Wird ein einsilbiges Wort mit einem zweisilbigen kombiniert, so kommt es ausnahms‐ weise vor, daß wir mit dem Zweisilber beginnen: Hopfen und Malz, Wasser und Brot. In überwältigender Fülle jedoch steht dem der umgekehrte Rhythmus gegenüber: Bausch und Bogen, Brief und Siegel, Gift und Galle, Gold und Silber, Kind und Kegel, Kraut und Rüben, kurz und bündig, Leib und Leben, Lust und Liebe, Mark und Pfennig, Nacht und Nebel, Roß und Reiter, samt und sonders, Samt und Seide, Schimpf und Schande, Schloß und Riegel, Treu und Glauben, Wind und Wetter. (Schneider, 2017: 229) In der literarischen Stilistik werden viele Wendungen oben als Beispiele für die Stilfigur Alliteration angesehen (z. B. Bausch und Bogen, Mann und Maus, dick und dünn). Die Alliteration ist eine sprachliche Sonderkonstruktion, bei der der Anfangsbuchstabe immer gleich ist. Die oben zitierte Beobachtung deutet auf mindestens zwei wichtige Hinweise. Der erste Hinweis bezieht sich darauf, dass der Rhythmus nicht nur in der Poetik eine zentrale Rolle spielt, sondern fest in unserer Sprache verankert ist. Diese Verankerung ist besonders stark, weil die Zusammensetzung der Wörter und die Reihenfolge der zusammengesetzten Substantive nicht alternativ austauschbar sind. Dies bedeutet zugleich, dass der Rhythmus der Sprache auch sprachliche Konstruktionen stark beschränken kann. Er kann insofern eine gewichtige Rolle dabei spielen, welche Wörter mit wie vielen Silben in solche Konstruktionen Eingang finden können. Der zweite Hinweis aus diesem Zitat versteckt sich im zweiten Abschnitt. Wer sich mit dem vierbändigen Werk über die deutsche Syntax in einer geschichtlichen Darstellung von Otto Behaghel auseinandergesetzt hat, weiß bestimmt, dass es bei dem zweiten Hinweis hier um das sogenannte „Gesetz der wachsenden Glieder“ geht. Das von Behaghel bezeichnete Gesetz der wachsenden Glieder beschreibt ein sprachliches Phänomen, dass das kürzere Satzglied möglichst dem Längeren vorausgeht, wenn es sich um zwei Satzglieder handelt. Die meisten hier genannten idiomatischen Beispiele von Schneider (2017) bestätigen auch das Behaghelsche Gesetz. Dieser Hinweis zeigt, dass die Anzahl der Silben die Erscheinungsreihenfolge in einer sprachlichen Konstruktion auch mitgestalten kann. In diesem Kontext ist es daher notwendig, den Aspekt der Silben auch als eine Gestaltungskraft einer sprachlichen Konstruktion zu berücksichtigen. Im Folgenden werde ich auf die Silbenstruktur der deutschen Sprache eingehen. Jedes Wort in der deutschen Sprache besteht vollständig aus Silben, die aus unterschiedlichen Lauten zusammengesetzt sind. Es gibt Wörter, die trotz der‐ selben Lautfolge unterschiedliche Bedeutungen haben. Daher gehört eine Silbe 156 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="157"?> zur suprasegmentalen Einheit in der Phonologie, die durch ihre morphologische Struktur bedeutungsunterscheidend sein kann (vgl. Becker 2012). Eine Silbe erscheint immer im Kontext eines Wortes und kann je nach Er‐ scheinungskotext betont oder unbetont ausgesprochen werden. Silben werden daher in der Metrik oder Phonologie als Träger von „Akzenten und damit ent‐ scheidender Bedeutung für den Sprachrhythmus“ betrachtet (Hervorhebung im Original. Duden. Band 4. Die Grammatik. 9. Auflage, 2016: 38). Ein Wort besteht mindestens aus einer Silbe. Als nächstes wird ein Blick auf die Silbenstruktur eines Wortes geworfen. Die folgende Abbildung zeigt die Binnenstruktur einer Silbe im zweisilbigen Wort „laufen“. Ein Vokal bildet in der Regel den Silbenkern, der in der Phonologie als Nukleus bezeichnet wird. Die Laute vor dem Nukleus werden als Anfangs‐ rand (Kopf) und die Laute nach dem Nukleus als Endrand (Koda) bezeichnet. Der Nukleus und Endrand bilden zusammen den Silbenreim. Abb. 8: Silbenstruktur von „laufen“ [laʊ̯fn̩] Silben wie Silbe 2 in der Silbenstruktur von „laufen“, in der keine Koda dem Nukleus folgt, nennt man offene Silben. Offene Silben enden auf einen Vokal. Eine Silbe ist geschlossen, wenn sie eine Koda besitzt (z. B. Schluss, tut). Eine Silbe kann auch ohne Kopf vorkommen. Eine Silbe ohne Kopf nennt man nackte Silbe (z. B. Ei). Beginnt eine Silbe mit einem Kopf, dann ist diese Silbe bedeckt (z.-B. laufen, kaufen). Die Laute werden je nach Öffnungsgrad und Sonorität in einer sogenannten Sonoritätshierarchie angeordnet. Diese Sonoritätshierarchie bezieht sich einer‐ seits auf den auditiven Faktor Sonorität und anderseits auch auf den artikula‐ torischen Faktor Offenheit, weil eine Lautfolge zuerst artikuliert und dann wahrgenommen werden muss. Zudem ist die Sonoritätshierarchie nicht auf die Einzellaute bezogen, sondern auf Lautklassen. Die Laute aus der gleichen 5.1 Prosodie in den chinesischen und deutschen Schriftsprachen 157 <?page no="158"?> 3 Das gilt nur für das Standardeutsche, z. B. im Österreichischen gibt es pipperln (mit kleinen Schlücken trinken) und papperln (essen). Lautklasse umfassen die gleiche Sonorität. Die Sonoritätshierarchie mit fünf Lautklassen kann dementsprechend wie folgt schematisch dargestellt werden und die Sonorität nimmt von links nach rechts zu (vgl. Duden. Band 4. Die Grammatik. 9. Auflage. 2016: 40): Abb. 9: Sonoritätshierarchie Die Abfolge von Lauten in betonbaren Silben folgen auch den im nachstehenden Silbenschema zusammengefassten Regeln: (1) stimmlose Obstruenten → (2) stimmhafte Obstruenten → (3) konsonantische Sonoranten → (4) Gleitlaute → (5) Vokale → (6) Gleitlaute → (7) [R] → (8) [l] → (9) Nasale → (10) stimmlose Obstruenten (vgl. Duden. Die Grammatik. 9. Auflage. 2016: 45. Hervorhebung von BZ). Die erste und die letzte Position (die Stellen mit unterstrichener Linie) kann mehrfach besetzt werden. Alle anderen Positionen sind nur einmalig besetzbar und einige der Positionen können nicht zusammen mit den anderen Positionen auftreten. Beispielsweise kann innerhalb einer Silbenstruktur kein [R]-Laut nach einem Diphthong folgen. Von den drei vorletzten Positionen, nämlich Positionen 7, 8 und 9 kann eine Silbe maximal zwei besetzen: bisserl [bɪsɐl] (Besetzung von Positionen 7 und 8), Kartoffeln [karˈtɔfl̩ n] (Besetzung von Positionen 8 und 9) und gern [ɡɛrn] (Besetzung von Positionen 7 und 9). Allerdings gibt es aufgrund dieser silbenschematischen Beschränkung kein einziges Wort in der deutschen Sprache, das zum Beispiel eine Wortendung -erln besitzt (*bisserln, *Kartofferln, *gerln, *Kerln). 3 Dies beweist, dass die silbenschematischen Beschränkungen die morphologische Struktur eines Wortes maßgeblich prägen und damit eventuell auch den Bedeutungsaspekt eines Wortes tangieren können. Wenn man über die Theorie des Silbenbaus redet, dann ist die Theorie der „Präferenzgesetze der Silbenstruktur“ (Vennemann, 1988) Theo Vennemanns unbedingt zu erwähnen. Er versucht mit seiner Theorie die sprachübergreif‐ enden silbenstrukturellen Phänomene zu untersuchen. Jedoch sind die von ihm bezeichneten „Präferenzgesetze“ theoretisch bescheiden und schwächer als pho‐ nologische Regeln, weil sich sie verletzen lassen. Es gibt ihm gemäß schlechte 158 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="159"?> Sprachstrukturen oder Ausnahmen aus einer sprachtypologischen Perspektive. Insgesamt sind die folgenden vier Präferenzgesetze von ihm von zentraler Bedeu‐ tung zur Erklärung mancher Phänomene in unserer Untersuchung: Kopfgesetz, Nukleusgesetz, Kodagesetz und Kontaktgesetz. Die Inhalte der vier ausgewählten Präferenzgesetze werden in der nachkommenden Tabelle dargestellt: Präferenzgesetze der Silbenstruktur (Vennemann 1988: 13-40, in Anlehnung an Becker 2012: 63-65) Kopfgesetz - Ein Silbenkopf ist umso mehr bevorzugt, 1. je näher die Anzahl der Sprachlaute bei eins liegt 2. je größer die Konsonantenstärke des ersten Sprachlauts ist 3. je steiler die Konsonantenstärke innerhalb des Kopfs zum Nukleus abfällt Nukleusgesetz Ein Silbennukleus ist umso mehr bevorzugt, 1. je gleichmäßiger sein Sprachlaut ist (Monophthonge besser als Diphthonge) 2. je niedriger die Konsonantenstärke des Sprachlauts ist Kodagesetz Eine Silbenkoda ist umso mehr bevorzugt, 1. je kleiner die Anzahl der Sprachlaute ist 2. je niedriger die Konsonantenstärke des letzten Sprachlauts ist 3. je steiler die Konsonantenstärke innerhalb der Koda zum Nukleus abfällt Kontaktgesetz Ein Silbenkontakt ist umso mehr bevorzugt, je stärker der erste Laut der folgenden Silbe im Vergleich zum letzten Laut der voran‐ gehenden Silbe ist Tab. 28: Auswahl der Präferenzgesetze der Silbenstruktur nach Vennemann 5.2 Grundlegendes zu den analysierten metaphorischen Konstruktionen im Chinesischen und Deutschen Es gibt auf dem Markt zahlreiche Studien bzw. Bücher über Redewendungen bzw. Phraseologismen sowohl im Chinesischen als auch im Deutschen. Das Unterkapitel 5.2.1 versucht zuerst, die Chengyu-Konstruktionen als eine beson‐ dere Form der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen aufzufassen und diesbezüglich darzustellen. Aus der Darstellung ist ersichtlich, dass die Chengyu-Konstruktion ein historisch entwickeltes Sprachprodukt in der sino‐ tibetischen Sprachfamilie darstellen. Die Streitigkeit über die Definition von 5.2 Grundlegendes zu den analysierten metaphorischen Konstruktionen 159 <?page no="160"?> Chengyu, die Abgrenzung der Chengyu-Konstruktion von den anderen benach‐ barten idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen sowie die bisherigen Forschungsergebnisse hinsichtlich der Prosodie, der Form sowie der Bedeu‐ tungsentwicklung von Chengyu-Konstruktionen sind die zentralen Themen in diesem Unterkapitel. Danach wird die deutsche Auseinandersetzung mit Phraseologismen und idiomatischen Konstruktionen in Kapitel 5.2.2 diskutiert. Das theoretische Konzept der Phraseoschablonen und die Merkmale von Phra‐ seologismen werden in die Diskussion eingeführt. Nicht zuletzt werden anhand einer von mir durchgeführten korpusbasierten Pilotstudie über die [[Das ist zum] + [X]]-Konstruktion die Annährung der Konstruktionsgrammatik an Phraseologismen verdeutlichtet. 5.2.1 Chengyu ( 成语 ) als eine auffällige idiomatische Konstruktion im Chinesischen Als Beispiel für die Repräsentation der Töne im Standardchinesischen wird die idiomatische Konstruktion 兵临城下 (bing 55 lin 35 cheng 35 xia 51 ) im letzten Unterka‐ pitel (vgl. Kap. 5.1.1) genannt. Solch eine Konstruktion, die hoch konventiona‐ lisiert ist und üblicherweise aus vier chinesischen Schriftzeichen besteht, nennt man Chengyu ( 成语 ). Da die meisten Chengyu durch vier nacheinander gereihte Schriftzeichen gebildet werden, bezeichnet man sie in der Forschungsliteratur manchmal auch als Sizige (Vier-Schriftzeichen-Pattern 四字格 , vgl. Feng 2018, Kap. 7). Diese viersilbigen Konstruktionen gibt es nicht nur in der chinesischen Sprache, sondern auch in anderen sinotibetischen Sprachen bzw. Dialekten. Wu (2012) weist zum Beispiel darauf hin, dass solche Konstruktionen auch in der Dai-Sprache, der Tibetanischen Sprache oder der Miao-Sprache zu finden sind. Darüber hinaus lassen sie sich auch in den Sprachen der geographisch benachbarten Länder wie Japan oder Korea wiederfinden (vgl. Feng 2018: 165). Dies zeigt deutlich, dass Chengyu als eine besondere idiomatische Konstruktion großen Einfluss hat. Infolgedessen bildet die Auseinandersetzung mit solchen Konstruktionen auch ein interessantes Forschungsfeld. Der Begriff Chengyu ist historisch entwickelt. Im Altchinesischen ist er ein Kompositum, das aus Cheng und Yu besteht. Cheng dient hier als eine Kopula, die mehr oder minder dem deutschen Kopulaverb „werden“ entspricht. Yu weist eine polysemische Dimension im Altchinesischen auf und hat typischerweise zum Beispiel die nachstehenden Bedeutungen: „Gespräch“, „Rede“, „Redewen‐ dung“, „Wörter/ Phrasen/ Sätze aus Gedichten oder literarischen Werken“ (vgl. Gu Dai Han Yu Ci Dian, Altchinesisches Wörterbuch, Abkürzung: AW, 2. Auf‐ lage, 2017: 1827-1828). Anscheinend besitzt dieser Begriff im Altchinesischen 160 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="161"?> nur eine oberflächliche Bedeutung, nämlich die bereits ausgeformten (also „gewordenen“) Wörter oder Sätze. In der neusten Auflage des chinesischen Stan‐ dardwörterbuchs Xian Dai Han Yu Ci Dian (Modernes Chinesisches Wörterbuch, Abkürzung: MCW, 2017, 7. Auflage) findet man den folgenden lexikalischen Eintrag für Chengyu: Chengyu: Konventionalisierte, prägnante und verfestigte Phrasen oder Kurzsätze, die man seit langem verwendet, meistens aus vier Schriftzeichen bestehen und auf histo‐ rische Quellen zurückführbar sind. Manche Chengyu sind nicht schwer wörtlich zu verstehen, wie zum Beispiel ‚Xiao Ti Da Zuo‘ [wird gebraucht, um auszudrücken, dass man kleine und unwichtige Dinge als große und wichtige Dinge behandelt] und ‚Hou Lai Ju Shang‘ [die sich früher in einer hinteren Lage befindende Person/ Sache überholt jetzt die Vordere], während die Quelle oder die Anspielung für das Verständnis einiger Chengyu eine bedeutende Rolle spielt. Als Beispiele können ‚Zhao San Mu Si‘ [bedeutet ursprünglich, dass kluge Leute gut darin sind, Tricks zu verwenden, während dumme Leute Dinge nicht gut erkennen können. Die jetzige Bedeutung beschreibt die launische sowie wechselhafte Eigenschaft einer Person/ Sache] und ‚Bei Gong She Ying‘ [wird gebraucht, um Misstrauen, Verdacht, Zweifel oder grundlose Panik auszudrücken] genannt werden (Übersetzung von BZ, MCW 2017: 166) In dieser Definition sieht man, dass die Viersilbigkeit das Charakteristikum vieler Chengyu darstellt. Aber wer sich mit der phonologischen Entwicklung der chinesischen Sprache auseinandersetzt, weiß bestimmt, dass Einsilbigkeit zu der dominantesten phonologischen Form im archaischen Chinesisch (von der Zhou-Dynastie bis die Han-Dynastie, etwa von 1100 v. Chr. bis 202 v. Chr.) gehört. Das heißt, die meisten Wörter aus diesem Zeitraum werden durch eine Silbe aufgebaut. In der Beschäftigung mit der Morphologie der buddhistischen Wörter und der lexikalischen Entwicklung der chinesischen Sprache untersucht Liang (1994) beispielweise auch den phonologischen Aspekt der Lexeme in der chinesischen Sprache aus einer diachronen Sichtweise. Ihre umfassende Untersuchung zeigt deutlich, dass nur 2772 Wörter (ohne Personensowie Ortsnamen) aus acht wichtigen literarischen Werken wie Shi Jing (Dem Buch der Lieder) und Lun Yu (Den Gesprächen) mehrsilbig sind (vgl. Liang 1994: 175). Auch Cheng (2003: 87) führt eine ähnliche Studie durch und seine Unter‐ suchungsergebnisse zeigen, dass es keine viersilbigen Wörter im archaischen Chinesisch gibt. In Lun Yu (Den Gesprächen) sind nur 3 mehrsilbige Wörter zu finden und in Meng Zi nur 8, die alle nur dreisilbig sind. Obwohl einige davon ausgehen, dass die sprachliche Form aus vier Schriftzeichen bereits in Shi Jing (Dem Buch der Lieder) zu finden ist, betrachten die meisten chinesischen 5.2 Grundlegendes zu den analysierten metaphorischen Konstruktionen 161 <?page no="162"?> Literaturwissenschaftler sowie Linguisten diese Form nur als eine Stilistische aber keine Lexikalische (vgl. Wu 2012: 44). Erst im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung bis in die Zeit der Östlichen Han-Dynastie (25-220) bzw. Sechs Dynastien (220-589) ist eine zunehmende Tendenz zu bisyllabischen Wörtern deutlich spürbar. Liang (1994) vergleicht zum Beispiel den Anteil der bisyllabischen Wörter aus zwei gewich‐ tigen literarischen Werken jeweils aus der Östlichen Han-Dynastie (25-220) und Sechs Dynastien (220-589), nämlich, Lun Heng von Chong Wang (27- etwa 97) und Shi Shuo Xing Yu von Yiqing Liu (403-444). In dem Werk von Wang gibt es 2300 bisyllabische Wörter (insgesamt 210000 Wörter), während 1541 bisyllabi‐ sche Wörter aus Liu’s Werk (also insgesamt nur 61000 Wörter) zu finden sind. Dies zeigt deutlich, dass die bisyllabischen Wörter eine erste und beschleunigte Blütezeit in den Sechs Dynastien (220-589) erleben. Auch in den oben genannten Werken der beiden Literaten findet man sehr spärlichen Sprachgebrauch der viersilbigen Wörter, die allerdings nur durch morphologische Reproduktion (z.-B. Qian Qian Wan Wan, Wan Wan Qian Qian) realisiert werden. Die viersilbigen Wörter gelangten erst zu ihrer Hochzeit in den Tang- (618- 907) bzw. Song-Dynastien (960-1279). Besonders in Dun Huang Bian Wen Ji (Sammlung der Dunhuang-Wandlungstexte) sind zahlreiche viersilbige Wörter zu beobachten. Cheng (2003: 370) unterteilt alle viersilbigen Wörter aus dieser Sammlung in drei Gruppen: Die erste Gruppe der viersilbigen Wörter stammt vor allem aus alten literarischen bzw. historischen Werken. Die viersilbigen Wörter aus der zweiten Gruppe haben erkennbare Einflüsse aus der weiteren Verbreitung des Buddhismus sowie der Übersetzung buddhistischer Werke. Die viersilbigen Wörter aus der letzten Gruppe sind aus der mündlichen chinesischen Sprache in der Tang-Dynastie (618-907) zu abstrahieren. Die Mündlichkeit der chinesischen Sprache gewinnt in der Tang-Dynastie große Bedeutung und führt dazu, dass man die mündlich relativ längeren Sätze durch morphologische Kompression ersetzt und dieselbe Bedeutung aufgrund des sprachökonomischen Prinzips in einem viersilbigen Format der Schriftzeichen vermittelt. Dieser Prozess wird besonders durch die Verbreitung von Romanen als populäre Volksunterhaltungsform in den Ming- und Qing-Dynastien (1368- 1912) besonders vorangetrieben, weil solche Romane vor allem auf die Mehr‐ heit der Gesellschaft abzielen und deren Sprachstil dementsprechend leicht verständlich und mündlich ist. Die bisherigen Forschungsergebnisse weisen einstimmig darauf hin, dass die viersilbigen Wörter in der chinesischen Sprache historisch entwickelte Sprachprodukte sind. Besonders die Übersetzung buddhistischer Texte sowie die wichtigere Rolle der mündlichen Sprache in der Sprachgemeinschaft geben 162 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="163"?> Impulse für die Produktivität und die Antriebskraft der Entwicklung der vier‐ silbigen Wörter. Auch die phonologische Entwicklung der Lexeme spielt eine herausragende Rolle. Im archaischen Chinesisch kann man anhand allein einer Silbe die nötige Botschaft im Alltag vermitteln. Jedoch wird dies durch die zunehmenden Silben der sprachlichen Konstruktionen überholt und etwa im 14. Jahrhundert weist die viersilbige Konstruktion eine besonders auffällige Vielfalt auf, die sowohl schriftlich in den damals verbreiteten Romanen als auch mündlich in der Dokumentation des Alltags zu sehen ist. Jedoch bleibt es immer noch ein Streitpunkt innerhalb der chinesischen Lin‐ guistik-Community seit dem letzten Jahrhundert, wie man feinkörnig diese spe‐ zifische Konstruktion definieren kann. Auch zu der Frage, wie man Chengyu von den anderen eng verwandten sprachlichen Konstruktionen in der chinesischen Sprache wie beispielsweise Redewendungen, Sinnsprüchen und Bauernregeln unterscheidet, herrscht in der linguistischen Auseinandersetzung bis heute noch Uneinigkeit. Nach Xu (1997: 12-15) besitzen Chengyu trotz der Uneinigkeiten der Begriffsbestimmung zumindest die vier folgenden Eigenschaften: 1. Konventionalität: Normalerweise können Chengyu auf historische Er‐ eignisse oder Persönlichkeiten zurückgeführt werden. Die viersilbigen Wörter, die neu entstehen, sind seiner Meinung nach noch keine Chengyu. Sie müssen noch in der Sprachentwicklung weiter verfestigt werden; 2. Rhetorische Funktion: Chengyu haben in der Regel eine lebendige Ausdruckskraft und besondere rhetorische Wirkungen; 3. Feste Form: Die Form bezieht sich auf die Anzahl der Silben und die Reihenfolge der zusammengesetzten Wörter in Chengyu. Wie eingangs bereits erwähnt, besteht ein Chengyu üblicherweise aus vier Silben. Dieser formale Aspekt gilt als die einfache Regel zu bestimmen, ob eine konventio‐ nalisierte sprachliche Einheit als Chengyu angesehen werden kann. Jedoch gibt es weitere Redewendungen, die ähnlich wie Chengyu funktionieren, die aber aus mehr als (z. B. fünf, sieben, neun) oder weniger (z. B. zwei, drei) als vier Silben bestehen. Solche Konstruktionen werden bei Xu nicht als Chengyu genannt. Besonders die konventionalisierten Konstruktionen mit fünf oder sieben Silben stammen überwiegend aus Gedichten. Falls man sie auch als Chengyu bezeichnet, dann gewinnen fast alle berühmten Zitate aus chinesischen Gedichten einen Chengyu-Status. Dies erschwert nochmals die Abgrenzung zwischen Chengyu und anderen chinesischen Redewendungen; 4. Idiomatizität: Seiner Ansicht nach sind Chengyu besonders durch ihre Idiomatizität gekennzeichnet. Die sprachlichen Einheiten, die wesentlich mehr als nur eine idiomatische Verwendung aufweisen (z. B. vollständige 5.2 Grundlegendes zu den analysierten metaphorischen Konstruktionen 163 <?page no="164"?> Sätze), sollen nicht zu den Chengyu gezählt werden. Daher plädiert er auch dafür, dass ein guter Lexikoneintrag für eine Chengyu-Konstruktion dessen Ursprung, dessen ursprüngliche Bedeutung, dessen ableitende Bedeutung sowie dessen gegenwärtige Bedeutung umfassen soll (Xu 1997: 16). Jedoch ist in diesem Kontext darauf hinzuweisen, dass das dritte Kriterium von Xu (1997), nämlich feste Form, mehr oder weniger diskussionswürdig ist. Es ist nachvollziehbar und praktisch anwendbar die Definition von Chengyu auf vier Schriftzeichen bzw. Silben auf der morphologischen bzw. phonologischen Ebene zu beschränken. Aber er weist nicht darauf hin, dass auch Chengyu nicht immer in einer festgelegten Form erscheinen, die wie im Wörterbuch präsentiert wird. Die vier Wörter der Chengyu können beispielweise zugunsten pragmatischer oder rhetorischer Ziele verschiedenartig in einem Satz getrennt werden. Lu (1992) setzt sich zum Beispiel ausführlich mit der dynamischen Trennung der zusammen‐ gesetzten Wörter in Chengyu auseinander und unterteilt sie in fünf Ka‐ tegorien. Im Folgenden werde ich auf jede Kategorie mit jeweils einem Beispielsatz (auch aus Lu 1992) eingehen, um zu zeigen, wie flexibel diese „feste“ Form tatsächlich sein kann. In der nachstehenden Darstellung jeder Kategorie wird zuerst die Wörterbuch-Form von dem betroffenen Chengyu aufgezeigt. Danach folgt ein authentisches Beispiel, wobei dieses Chengyu stark abweichend von der Darstellungsform im Wörterbuch gebraucht wird: Kategorie 1: 干 净 利 落 gan 55 jing 51 li 51 luo 51 [kan 55 ] [tɕɪŋ 51 ] [li 51 ] [luɔ 51 ] trocken sauber scharf fallen beschreibt, dass es nichts Überflüssiges gibt, dass etwas erfrischend bzw. angenehm für Augen ist, oder dass die Bewegung kompetent, agil und genau ist 她的动作干净、利落,不愧是个久经训练的空姐(严沁《谁伴风行》) (Lu 1992: 265, Beispiel 3; Hervorhebung von BZ) Ihre Bewegungen sind fließend und agil. Es ist wohl kein Wunder, weil sie eine gut ausgebildete Flugbegleiterin ist (Qin Yan, Shui Ban Feng Xing). 164 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="165"?> Das obige Beispiel zeigt, dass das Chengyu „gan 55 jing 51 li 51 luo 51 “ durch das Aufzählungskomma in zwei Teile unterteilt wird. Das Aufzählungskomma in der chinesischen Sprache übernimmt normalerweise die Funktion, die einzelnen Glieder einer Aufzählungsreihe voneinander abzugrenzen. Die abgetrennten Einzelglieder stehen in einer parallelen Relation zueinander und werden dem‐ entsprechend semantisch und funktional gleichmäßig dargestellt. Die beiden Prädikatszuschreibungen hier, fließend und agil, zählen zur bewertenden Be‐ schreibung der Bewegungen der Flugbegleiterin im Beispielsatz. Die zwei Eigen‐ schaften ihrer Bewegungen werden durch das Aufzählungskomma besonders hervorgehoben. Allerdings muss man auch bemerken, dass die Reihensetzung der abgetrennten Einzelglieder aus einer Aufzählungsreihe in meisten Fällen austauschbar bzw. schiebbar ist. Das heißt, in einer normalen parallelen Kon‐ struktion, die durch ein Aufzählungskomma realisiert wird, sind die Glieder aus dieser Aufzählungsreihe semantisch gleichmäßig. Nach welcher Reihenfolge man diese aufzählt ist eigentlich eine individuelle Präferenz, die nicht zur Änderung der semantischen Bedeutung sowie der Wahrheitskonditionalität der Äußerung führt. Man kann zum Beispiel die folgenden Sätze miteinander vergleichen: (1) 王冕在超市买了土豆、白菜和西兰花。 (Mian Wang kaufte Kartoffel, Chinakohl und Brokkoli im Supermarkt.) (2) 王冕在超市买了西兰花、土豆和白菜。 (Mian Wang kaufte Brokkoli, Kartoffel und Chinakohl im Supermarkt.) (3) 她美丽、善良且乐于助人。 (Sie ist schön, nett und hilfsbereit.) (4) 她善良、乐于助人且美丽。 (Sie ist nett, hilfsbereit und schön.) In den ersten zwei Beispielen (1) und (2) sind die durch das Aufzählungskomma getrennten Einzelglieder die von Mian Wang im Supermarkt gekauften Objekte. Die Reihenfolge der Einzelobjekte kann beliebig nach vorne oder nach hinter platziert werden. In den letzten zwei Beispielen (3) und (4) die die getrennten Mitglieder die Eigenschaftsbeschreibungen des dargestellten weiblichen Sub‐ jekts. Auch die Platzierung der drei Adjektive verändert die Gesamtbedeutung nicht. Vielleicht möchte man schon anhand von solchen Beispielen generali‐ sieren, dass die durch das Aufzählungskomma getrennten Glieder beliebig austauschbar bzw. schiebbar sind. Jedoch ist es im Sprachgebrauch nicht immer der Fall: 5.2 Grundlegendes zu den analysierten metaphorischen Konstruktionen 165 <?page no="166"?> (5) 农业是国民经济的基础,也是二、三产业的基础。 (Die Agrarwirtschaft ist das Fundament der Volkswirtschaft und das Fundament des Sekundär- und Tertiärsektors.) (6) *农业是国民经济的基础,也是三、二产业的基础。 (*Die Agrarwirtschaft ist das Fundament der Volkswirtschaft und das Fundament des Tertiär- und Sekundärsektors.) In diesem Beispiel kann man die fett markierten Einzelglieder, die durch das Aufzählungskomma zerlegt werden, nicht beliebig platzieren. Es ist logisch, auf einer linearen Ebene von dem Primärsektor über den Sekundärsektor bis zum Tertiärsektor aufzuzählen. Jedoch wäre eine beliebige Platzierung der beiden Sektoren im oben genannten Beispiel nicht möglich, weil die Platzierung der nummerischen getrennten Glieder anscheinend der kognitiven Logik entspre‐ chen muss. Diese Logik muss in einer bestimmten Kultur konventionalisiert werden und deren Sprachgemeinschaft nimmt diese Konvention auch an. Beispielsweise wirkt der Pendant-Satz des Eingangsbeispiels in der ersten Kategorie, nämlich „ 她的动作利落、干净 “ (Ihre Bewegungen sind agil und fließend), auch etwas willkürlich. Deswegen ist seine Akzeptabilität in der chinesischen Sprachgemeinschaft dementsprechend deutlich niedriger als die des Eingangsbeispiels, nämlich „ 她的动作干净、利落 “ (Ihre Bewegungen sind fließend und agil). Dies gibt den Hinweis darauf, dass die getrennten Teile der Chengyu nicht beliebig platziert werden können, auch wenn sie durch das Aufzählungskomma in kleinere Konstruktionen zerlegt werden. Zudem weisen sie Dimensionen von kognitiver Schematizität bzw. pragmatischer Konventio‐ nalität innerhalb der betroffenen Sprachgemeinschaft auf, was man später in dem kommenden Unterkapitel (vgl. Kap. 5.3) in der Analyse der chinesischen Chengyu-Konstruktionen, in denen sich Orientierungsmetaphern verstecken, auch deutlich beobachten kann. Kategorie 2: 火 烧 眉 毛 huo 214 shao 55 mei 35 mao [xuɔ 214 ] [ʂɑʊ 55 ] [meɪ 35 ] [mɑʊ] Feuer flammen Braue Haar beschreibt, dass eine Situation besonders dringend ist 166 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="167"?> 眼看战争的火焰烧到眉毛,抗击敌人的力量,却还极其微弱(梁斌《烽烟图》) (Lu 1992: 266, Beispiel 19; Hervorhebung von BZ) Als die Flammen des Krieges fast die Augenbrauen brannten, war die Macht gegen den Feind immer noch äußerst schwach (Bin Liang, Feng Yan Tu). Das Beispiel aus der zweiten Kategorie zeigt deutlich, dass Chengyu nicht nur asymmetrisch wie in der ersten Kategorie gleichmäßig in zwei Teile eingeteilt werden können. Diese ursprünglich viersilbige Konstruktion wird insgesamt in drei Subkonstruktionen zerlegt. Auch die Reihenfolge der Einzelwörter darf nicht beliebig ausgetauscht werden, weil dieses Chengyu die Agens-Verb-Pa‐ tiens-Relation widerspiegelt. Daher kann zum Beispiel die Wortstelle von „Augenbrauen“ und „Flammen“ nicht gewechselt werden, weil „Flammen“ hier die semantische Rolle eines Handelnden übernimmt und die „Augenbrauen“ das Betroffene der Handlung „brennen“ darstellt. Die drei geteilten semantischen Elemente stehen in einer kausalen Beziehung. Das eingefügte Wort zwischen „Flammen“ und „brennen“, nämlich „ 焰 “ (Yan, Feuer/ Flammen) ist ein seman‐ tisch verwandter Begriff von „Flammen“ und verstärkt die Agens-Rolle durch diese semantische Tautologie, wobei das Wort „ 到 “ (Dao, nach/ bis) die räumli‐ ches Ziel dieser Handlung hinweist. Kategorie 3: 党 同 伐 异 dang 214 tong 35 fa 35 yi 51 [tɑŋ 214 ] [tʰʊŋ 35 ] [fa 35 ] [i 51 ] gesellen Gleichgesinnte kämpfen Andersdenkende sich mit den Gleichgesinnten befreunden, von den Nicht-Gleichgesinnten distanzieren bzw. gegen sie kämpfen 一个人可以在趣味异同上区别敌友,党其所同,伐其所异(朱光潜《文学的趣味》) (Lu 1992: 266, Beispiel 22; Hervorhebung von BZ) 5.2 Grundlegendes zu den analysierten metaphorischen Konstruktionen 167 <?page no="168"?> Man kann zwischen Freunden und Feinden aufgrund Interesses, Hobbys oder Ge‐ schmacks unterscheiden. Dadurch kann man sich mit mit den Gleichgesinnten befreunden, von den Nicht-Gleichgesinnten distanzieren bzw. gegen sie kämpfen (Guangqian Zhu, Wen Xue De Qu Wei). Die eingefügten Komponenten „ 其所 “ (Qi Suo, die) sind im Altchinesischen zwei Demonstrativpronomen. Durch diese strukturelle Trennung werden jeweils die affizierten Objekte, „Gleichgesinnte“ und „Nicht-Gleichgesinnte“, die von der Handlungsreihe „sich befreunden“, „sich distanzieren und gegen sie kämpfen“ betroffen sind, besonders hervorgehoben. Kategorie 4: 风 流 才 子 feng 55 liu 35 cai 35 zi 214 [fɤŋ 55 ] [ljoʊ 35 ] [tsʰaɪ 35 ] [tsɯ 214 ] Wind Fluss Talent Person Bezeichnung für Personen, die elegant, belesen und talentiert sind. Die lassen sich in der Regel nicht von den gesellschaftlichen konventionalisierten Ritualen beschränken. 人们都说,是才子必风流(杨魁等《地下旅社的覆灭》) (Lu 1992: 266, Beispiel 32; Hervorhebung von BZ) Die Leute sagen, dass eine talentierte Person romantisch sein und sich nicht von den gesellschaftlichen konventionalisierten Ritualen beschränken lassen muss (Kui Yang et al., Di Xia Lü She De Fu Mie) In den ersten drei Kategorien sind die Reihenfolgen der Einzelglieder eines Chen‐ gyus nicht austauschbar. In der vierten Kategorie findet hingegen eine Inversion statt, indem die letzten zwei Schriftzeichen „ 才子 “ aus dieser Konstruktion vor die ersten Schriftzeichen „ 风流 “ gerückt werden. Durch diese Inversion wird die dargestellte Person in den Mittelpunkt gerückt. 168 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="169"?> Kategorie 5: 东 施 效 颦 dong 55 shi 55 xiao 51 pin 35 [tʊŋ 55 ] [ʂɚ 55 ] [ɕjɑʊ 51 ] [pʰɪn 35 ] Ost Familienname nachahmen lachen Beschreibung für blinde Nachahmung, die üblicherweise negative Auswirkungen auslöst 古来无数的诗人千篇一律地为伤春惜花费词,这种效颦也觉得可厌(丰子恺《秋》) (Lu 1992: 267, Beispiel 38; Hervorhebung von BZ) In der Geschichte haben unzählige Dichter die gleichen Worte benutzt, um über Verlust der schönen Frühlingslandschaft sowie der verwelkten Blumen zu trauern. Diese wiederkehrende Nachahmung ist auch widerlich (Zikai Feng, Qiu). In dieser Kategorie wird Teil der ursprünglichen viersilbigen Konstruktion weg‐ gelassen. Die weggelassenen Wörter „ 东施 “ (Dong Shi) sind ein Personenname in der chinesischen Geschichte. 西施 (Xi Shi) galt als eine der schönsten Frauen in der Zeit der Frühlings- und Herbstannalen (770 v. Chr. - 476 v. Chr.). Sie galt als äußerst hübsch, auch wenn sie bei Krankheit ihre Stirn runzelte und auf die schmerzende Brust drückte. Nach der Überlieferung in Zhuangzi gibt es eine andere Frau, nämlich die hier erscheinende Dong Shi in der Geschichte. Sie hört diese Geschichte und ahmt das Verhalten von Xi Shi nach. Jedoch fand man sie überhaupt nicht schön und diese Nachahmung widerlich. Danach wurde Dong Shi metonymisch als Bezeichnung für das erfolglose Nachtun, das negative Wirkung erregt, in der chinesischen Sprache verfestigt. Auch der Name von Dong Shi ist ein Pendant zu Xi Shi. In der linearen Übertragung sieht man, dass Shi ein Familienname ist. Dong (Ost) und Xi (West) sind zwei gegensätzliche Raumbegriffe in der Geografie. Das Verhalten von Xi Shi wird als Schönheit empfunden. Das Lexem „Xi“ (West) wird hier auch positiv konnotiert. Von daher ist es kein Wunder zu erklären, warum man in der Überlieferung solch einen Frauennamen kreiert, in dem die Gegenrichtung von West angesiedelt ist, also das Gegenteil von Schönheit. In dieser Konstruktion wird der Personenname „Dong Shi“ ausgelassen und zugleich die nachahmende Handlung großgeschrieben. Der Autor möchte wohl auf diese Art und Weise die Handlung der unzähligen Dichter in der chinesischen Geschichte stark 5.2 Grundlegendes zu den analysierten metaphorischen Konstruktionen 169 <?page no="170"?> kritisieren. Daher bleibt der vordere Teil der idiomatischen Konstruktion im Hintergrund. Anhand von den oben für die Diskussion eingeführten fünf Beispielen ist festzuhalten, dass die Einzelglieder der Chengyu-Konstruktion je nach pragmatischem Kontext geteilt, ausgetauscht, verschoben, umgekehrt sowie weggelassen werden können, obwohl sie in vielen Fällen als stark verfestigte einheitliche Größe auftreten. Dies bestätigt tatsächlich die Notwendigkeit zur Überprüfung der pragmatischen Parameter einer sprachlichen Konstruktion wie Chengyu, weil sie anscheinend eine herausragende Rolle hinsichtlich der Erscheinungsform der Konstruktion spielen können. Darüber hinaus ist es auch besonders wichtig zu ermitteln, welche prosodi‐ sche sowie formale Beschränkungen in Chengyu herrschen. Yin & Li (2002) untersucht zum Beispiel die Chengyu mit einer Konstruktion „Qian (tausend) A Wan (zehntausend) B“. In dieser Chengyu-Konstruktion sind A und B zwei Filler-Slots. Ihre Untersuchung zielt darauf ab, herauszufinden, welche sprach‐ lichen Konstruktionen die beiden Slots erfüllen können. Das Ergebnis zeigt deutlich, dass nur einsilbige Wörter in die beiden Slots einfließen können. Zusammen mit den erfüllten Slots und den bereits bestehenden Quantifizie‐ rungswörtern (tausend, zehntausend) kann man eine Betonung ausdrücken. Die betonten Aspekte sind in A und B kodiert. Auf der formalen Ebene gibt es bereits ein paar Studien über die Symmetrie in Chengyu-Konstruktionen. Liu & Xing (2000) analysieren bzw. kategorisieren alle chinesischen idiomatischen Konstruktionen aus einem Großwörterbuch (insgesamt 35758 Einträge) und stellen fest, dass 39,29% der Chengyu-Konstruktionen die Dimension der seman‐ tischen Symmetrie aufweisen. Semantische Symmetrie heißt, dass die ersten zwei und die letzten zwei Wörter in einer Chengyu-Konstruktion symmetrisch zueinanderstehen und die Hinteren entweder Synonyme oder Antonyme der Vorderen sein können. In einer früheren Arbeit von Wu (1995) wird diese Art von semantischer Symmetrie als eine ausgewogene strukturelle Schönheit der Chengyu-Konstruktionen bezeichnet. Zudem ist vom Bedeutungsaspekt her besonders zu hinterfragen, wie die Be‐ deutung einer Chengyu-Konstruktion sich historisch entwickelt. Beispielsweise weist Zuo (2004) darauf hin, dass der Bedeutungswandel einer Chengyu-Kon‐ struktion zumindest in vier Formen zu unterteilen ist: Reduzierung sowie Er‐ weiterung des Bedeutungsumfangs, Übertragung des Bedeutungsumfangs, Än‐ derung des Bedeutungsumfangs bezüglich der emotionalen oder bewertenden Abfärbung. Das Prinzip der Nähe (Proximity) und das Prinzip des Komplements (Complementation) sind nach Xu (2006) zwei grundlegende kognitive Prinzi‐ pien für den Formationsmechanismus der idiomatischen Konstruktionen wie 170 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="171"?> Chengyu in der chinesischen Sprache. Chengyu-Konstruktionen sind besonders durch deren Prägnanz gekennzeichnet. In der Formation einer Chengyu-Kon‐ struktion werden üblicherweise viele Botschaften (inhaltliche oder grammati‐ sche) weggelassen und explizit in der Oberfläche der Konstruktion intendiert. In diesem Abschnitt wurden der Begriff der Chengyu-Konstruktion, die besondere Entwicklungsbedingungen dieser viersilbigen Konstruktionen sowie die bisherige Auseinandersetzung mit dieser Konstruktion auf verschiedensten Ebenen näher betrachtet. Im folgenden Unterkapitel werden noch ein paar Worte über die Ausgangssituation der deutschen idiomatischen Konstruktion gesagt. 5.2.2 Phraseologismen und phraseologische Konstruktionen im Deutschen Wie bereits im Kapitel 3 vorgestellt, finden phraseologische und nicht-phrase‐ ologische Konstruktionen im Rahmen der Kognitiven Konstruktionsgrammatik neue Beachtung, insofern sie zwischen Lexikon und Grammatik anzusiedeln sind. Feilke (2007) betrachtet beispielsweise Phraseologie als Ausgangspunkt der Konstruktionsgrammatik. In Anlehnung an Ágel (2004) vertritt er den Standpunkt, dass „nicht Phraseologismen der Gegenstand sind, auf den die Fragestellungen zielen, sondern umgekehrt, Versuche zur Entwicklung einer allgemeinsprach- und Grammatiktheorie ihren Ausgangspunkt bei der Analyse idiomatischer Muster nehmen“ (Feilke 2007: 64). Die Konstruktionsgrammatik und Phraseologie weisen viele Berührungs‐ punkte auf. Die Pionierarbeit von Fillmore et al. (1988) innerhalb der früheren kognitiven konstruktionsgrammatischen Community decken schon die allge‐ meine Definition von Phraseologismen in der Phraseologieforschung ab, wenn sie Konstruktionen wie folgt auffasst: „things that are larger than words, which are like words in that they have to be learned separately as individual whole facts“ (Fillmore et al. 1988: 504). Natürlich kann man allein in dieser Konstruktionsdefinition dementsprechend den ersten Unterschied zwischen Konstruktionsgrammatik und Phraseologie sehen. Der konstruktionsgramma‐ tische Ansatz arbeitet mit einem erweiterten Konstruktionsbegriff, der nicht nur auf Phraseologismen beschränkt ist. In der Auseinandersetzung mit der Phra‐ seologie herrscht keine allgemein gültige Klassifikation von Phraseologismen. Jedoch einigen sich alle vor allem auf die folgenden grundlegenden Klassen der Phraseologismen (vgl. Burger et al., 2007: 4-6): 5.2 Grundlegendes zu den analysierten metaphorischen Konstruktionen 171 <?page no="172"?> 1. Idiome, besonders die bildhafte Phraseme, die Irregularitäten aufweisen in Bezug auf das Form-Bedeutungs-Verhältnis (z. B. ins Gras beißen, Stein des Anstoßes) 2. Kollokationen, Verbkonstruktionen und Funktionsverbgefüge (z.-B. einge‐ fleischter Junggeselle, etwas zur Sprache bringen, Abschied nehmen) 3. Höflichkeitsbzw. Grußformeln (z. B. Guten Morgen, Moin, Mach’s gut! Gute Besserung! ) 4. Sprichwörter (z.-B. Liebe geht durch den Magen) 5. grammatische Phraseme (z.-B. geschweige denn) 6. Phrasem-Konstruktionen bzw. Phraseoschablonen (z. B. Was für ein schönes Wetter! mit dem Pattern [Was für ein] + [ADJ] + [N]) Im Kapitel 3 sieht man, dass Konstruktionen überwiegend aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik als nicht vorhersagbare Form-Bedeutungszusam‐ mensetzung betrachtet werden (vgl. Goldberg 1995: 4). Die oben aufgelisteten Klassen der Phraseme sind auch grundsätzlich in ihrem Form-Bedeutungs-Ver‐ hältnis nicht vorhersehbar. Von daher sind die Phraseme auch wie Konstruk‐ tionen zwischen Lexikon und Grammatik angesiedelt. Besonders die von Fleischer (1997) bezeichneten „Phraseoschablonen“ können nach der Meinung von Ziem (2018: 6) „ein geradezu idealtypisches Untersuchungsgebiet der Konstruktionsgrammatik“ herausbilden. Bereits in dieser geprägten Begrifflichkeit nach Fleischer (1997) ist schon von Konstruk‐ tionen die Rede: Mit dem Begriff der Phraseoschablonen wird versucht, eine Erscheinung zu erfassen, die sich nicht der Differenzierung von nominativen und kommunikativen Phraseolo‐ gismen einordnet. Die Konstruktionen liegen in einem Grenzbereich der Phraseologie zur Syntax. Ihre Einbeziehung in die Phraseologie ist strittig. Es handelt sich um syntaktische Strukturen - und zwar sowohl nicht-prädikative Wortverbindungen als auch Satzstrukturen -, deren lexikalische Füllung variabel ist, die aber eine Art syntaktischer Idiomazität aufweisen. Das syntaktische Konstruktionsmodell hat eine vom entsprechenden nichtidiomatischen Modell abweichende, irreguläre Bedeutung […] (Fleischer 1997: 130-131) Fleischer (1997) definiert eine Phraseoschablone als eine schematische und syntagmatische Komplexität, die in einer mehrgliederigen sprachlichen Einheit mit nicht-kompositioneller Bedeutung realisiert wird. Er bemerkt auch, dass sich die Phraseoschablonen auf ein Grenzgebiet zwischen Lexikon und Syntax befinden. Was er mit dem Modell bezeichnet, ist das, was Musterhaftigkeit in der Konstruktionsgrammatik bedeutet. Phraseoschablonen treten in der deutschen Sprache in unterschiedlichen Formen auf. Besonders in der Phraseologiefor‐ 172 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="173"?> schung nennt Fleischer (vgl. Fleischer 1997: 131-134) viele Modelle, die bis heute noch nicht erschöpft ausgeforscht werden (die folgenden Beispiele stammen auch aus Fleischer 1997): Modellbeschreibung Beispiele Wiederholung des gleichen Substan‐ tivs/ Adjektivs/ Partizip II/ Adverbs, ver‐ bunden durch die Kopula ist Urlaub ist Urlaub. Sicher ist sicher. Wiederholung des finiten Verbs, ver‐ bunden durch und Das war in dem Winter, der nicht enden und nicht enden wollte. Frageadverb bzw. -pronomen + Substantiv als Ausrufesatz Was für ein Pech! Demonstrativpronomen oder funktional äquivalentes Adverb + Substantiv als Aus‐ rufesatz So ein Pechvogel! Entsprechende Konstruktionen mit finiter Verbform Was du nicht alles gelesen hast! Wiederholung des gleichen Substantivs, verbunden durch Präposition an/ auf/ für Kopf an Kopf Schritt für Schritt Schlag auf Schlag Substantiv + hin, gleiches Substantiv + her Mörder hin, Mörder her raus aus + Substantiv, rein in + gleiches Substantiv raus aus den Klamotten, rein in die Kla‐ motten Personal-/ Demonstrativpronomen + und + Substantiv mit unbestimmtem Artikel Du und ein Schwimmer? ! Ich und ein Redner? ! Substantiv + von + Substantiv (bevorzugt mit unbestimmtem Artikel) ein Betonklotz von Hotel Es ist zum + Infinitiv Es ist zum Lachen/ Davonlaufen! Tab. 29: Typische Modelle der Phraseoschablonen in der Phraseologie nach Fleischer (1997) Phraseologische Konstruktionen sind in der deutschen Sprache allgegenwärtig zu beobachten. Hier sind ein paar Beispiele aus meiner Studie: 5.2 Grundlegendes zu den analysierten metaphorischen Konstruktionen 173 <?page no="174"?> (1) ab und an; ab und zu; (2) Abnahme finden; Abschied nehmen; etwas zum Ausdruck bringen (3) am Ball bleiben; (4) aus und vorbei sein; (5) in trockenen Tüchern; (6) Hand darauf! (7) Das ist zum Kotzen! (8) Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein Die oben aufgelisteten Phraseologismen weisen zwei wesentliche Gemeinsam‐ keiten auf. Zum einen besteht eine Phrase oben mindestens aus zwei Wörtern. Zum anderen werden die Wörter in dieser Phrase nicht einmalig zusammen‐ gestellt und sie erscheinen wiederkehrend in einer festen Form (trotz gelegent‐ licher kleiner Variationen). In der Phraseologie bezeichnet man die Wörter, die eine Phrase aufbauen, Komponente. Die zwei wesentlichen Merkmale der Phrase werden in der Phraseologie als Polylexikalität und Festigkeit bezeichnet (vgl. Burger 2015: 14) Darüber hinaus können „Komponenten eine durch die syntaktischen und semantischen Regularitäten der Verknüpfung nicht voll erklärbare Einheit bilden“ (Burger 2015: 15). Die Phrasen, die dieses Kriterium erfüllen können, nenne ich idiomatische Konstruktionen. Das Merkmal der Polylexikalität ist relativ unproblematisch und nachvoll‐ ziehbar. Die Anzahl der Wörter in einer Phrase ist durchsichtlich und eine Phrase muss mindestens zwei Wörter enthalten. Jedoch verfügt dieses Merkmal über einen flexiblen Handlungsspielraum hinsichtlich der Anzahl der Bestan‐ teile in einer Phrase bzw. einer idiomatischen Konstruktion: Eine Obergrenze der Wortmenge gibt es nicht. Eine Phrase bzw. eine idiomatische Konstruktion kann soweit ausgebaut werden, wenn die Sprachgemeinschaft sie als eine einheitliche und sinnvolle Konstruktion betrachtet. Das Merkmal der Festigkeit wird in der Kognitiven Konstruktionsgrammatik mehrfach hervorgehoben. Bereits in der Vorstellung der Metapherntheorien im Kapitel 2 habe ich darauf hingewiesen, dass die holistische Ansicht der Gestalt‐ psychologie einen starken Einfluss auf die kognitiven Linguisten ausübt. In der Kognitiven Konstruktionsgrammatik wird eine Konstruktion dementsprechend als soziale Gestalt angesehen (vgl. Feilke 1996; Lakoff 1977). Diese Eigenschaft der Phraseologismen ist im Gegensatz zu dem Merkmal der Polylexikalität 174 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="175"?> viel schwerer zu greifen sowie zu definieren. Auch bezüglich des Begriffs der Festigkeit gibt es noch ein paar Streitbzw. Grenzpunkte, die in der heutigen Diskussion noch übrigbleiben. Im Folgenden möchte ich zuerst auf zwei Aspekte der Festigkeit, nämlich Sprachmuster und Gebrauchsbasiertheit, ausführlich eingehen. Dann komme ich zu einigen Streitbzw. Grenzfällen in der jetzigen Forschung der Phraseologie. Aus einer strukturellen Perspektive ist mit Festigkeit gemeint, dass Zusam‐ mensetzung der Wörter in einer Phrase von der Sprachgemeinschaft als fest betrachtet wird. Diese Festigkeit ist durch eine oberflächliche strukturelle Mus‐ terhaftigkeit gekennzeichnet. Die strukturellen Muster oder die „Phrasem-Kon‐ struktionen“ im Sinne von Dobrovol’skij haben „als Ganzes eine lexikalische Bedeutung […], wobei bestimmte Positionen in ihrer syntaktischen Struktur lexikalisch besetzt sind, während andere Slots darstellen, die gefüllt werden müssen, indem ihre Besetzung lexikalisch frei ist und nur bestimmten semanti‐ schen Restriktionen unterliegt“ (Dobrovol’skij, 2011: 114). Zum Beispiel haben die folgenden Korpusbelege aus den Referenz- und Zeitungskorpora des DWDS eine gemeinsame feste Konstruktion - [[Das ist zum] + [X]]: a) Das ist zum Davonlaufen. (Die Zeit, 26.01.2017, Nr.-03) Das ist zum Kotzen (…). (Die Zeit, 20.06.2016, Online) Ach -das ist zum Herzbrechen (Grabbe, Christian Dietrich: Napoleon oder Die hundert Tage. Frankfurt (Main), 1831) Man konnte ihre bloßen Oberarme sehen, und die sind zum Angst‐ kriegen. (Der Tagesspiegel, 15.06.2001) b) Das ist zum Nachdenken, ohne akademisch zu sein. (Berliner Zeitung, 25.02.2005) Das ist zum Totlachen komisch. (Die Zeit, 29.11.1991, Nr.-49) Das ist zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. (Die Zeit, 27.09.2001) c) Es gibt Städte, die sind zum Sterben schön. (Der Tagesspiegel, 29.06.2003) Es gibt Momente, die sind zum Verzweifeln. (Die Zeit, 06.06.2002, Nr. 24) (…), dem war zum Weinen zumute. (Der Tagesspiegel, 23.07.2001) Wer immer strebend sich bemüht, der ist zum Totlachen. (Die Zeit, 18.03.1998, Nr.-12) d) Das war zum Schreien. (Der Tagesspiegel, 18.05.2003) Der war zum Abwarten verdammt. (Die Zeit, 08.04.1983, Nr.-15) Das wäre zum Lachen und - gäbe es diese Gemeinde - verlorene Liebensmüh. (Die Zeit, 02.02.1968, Nr.-05) Das sei zum Schaden der Verbraucher gewesen. (…) (Die Zeit, 14.01.2014, Nr.-03) 5.2 Grundlegendes zu den analysierten metaphorischen Konstruktionen 175 <?page no="176"?> Aus den drei unterschiedlichen Gruppen von Korpusbelegen, die eine gemein‐ same Feststruktur [[Das ist zum] + [X]] teilen, kann man aber dennoch einige Variationen innerhalb dieser Struktur beobachten: 1. Alle Beispielsätze aus der Gruppe a) bilden die Basisform im Sprachge‐ brauch der [[Das ist zum] + [X]]-Konstruktion. In der Regel kann die Leerstelle von X in der Konstruktion [[Das ist zum] + [X]] mit Substantivie‐ rungen eines einfachen Verbs gefüllt werden (z. B. lachen/ weinen/ kotzen → das ist zum Lachen/ Weinen/ Kotzen). Darüber hinaus können Substan‐ tivierungen von trennbaren Verben (z. B. nach/ denken, ab/ warten, tot/ la‐ chen, davon/ laufen → das ist zum Nachdenken/ Abwarten/ Totlachen/ Da‐ vonlaufen) oder von Infinitivphrasen (z. B. Angst kriegen → das ist zum Angstkriegen; Herz brechen → das ist zum Herzbrechen) die Stelle von X ersetzen. Besonders für die Form mit Substantivierung von Infinitivphrasen in der [[Das ist zum] + [X]]-Konstruktion kann man eine Menge von deutschen Phraseologismen notieren: das ist zum Mäusemelken/ das ist zum Verrücktwerden/ das ist zum Haareraufen/ das ist zum Kinderkriegen/ das ist zum Aus-der-Haut-Fahren. Außerdem ist wichtig anzumerken, dass das Pronomen „das“ und das hinter ihm stehende Auxiliarverb „sein“ je nach Kotext abgeändert werden müssen (z.-B. das ist zum X, die sind zum X). 2. Die Belege aus der Gruppe b) weisen darauf hin, dass unterschiedliche Typen von Zusätzen hinter der [[Das ist zum] + [X]]-Konstruktion hinzu‐ gefügt werden können. Zum Beispiel werden im ersten Satz hinter der [[Das ist zum] + [X]]-Konstruktion eine [[ohne zu] + [X]]-Infinitivkon‐ struktion (ohne akademisch zu sein), im zweiten Satz ein Adjektiv (komisch) sowie im dritten Satz Adverbien (zu viel, zu wenig) angefügt. 3. Die [[Das ist zum] + [X]]-Konstruktion kann in anderen Konstruktionen eingebettet werden und je nach der eingebetteten Konstruktion die eigene Konstruktion abändern. Die Belege aus Gruppe c) sind typische Beispiele für eine Relativsatz-Konstruktion in der deutschen Sprache ( Jedoch sind die Verbstellen in den ersten drei Beispielen nicht strikt nach der Regel eines Relativsatzes gesetzt). Die ersten drei Korpusbelege sind Relativsätze mit der, die, das und der Letzte ist ein Relativsatz mit wer. Die [[Das ist zum] + [X]]-Konstruktion ist in den vier Beispielen eingebettet in unterschiedlichen Relativsatz-Konstruktionen und wird von den Regeln in Bezug auf den Aufbau von Relativsätzen beschränkt. Zum Beispiel über‐ nimmt das Pronomen am Anfang der [[Das ist zum] + [X]]-Konstruktion die syntaktischen Rolle eines Relativpronomens. Dementsprechend muss sich dieses Pronomen in Genus und Numerus nach dem Bezugswort im Hauptsatz, im Kasus nach der Stellung im Relativsatz richten. Das führt 176 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="177"?> auch dazu, dass das Auxiliarverb zusammen mit dem Pronomen „das“ in der [[Das ist zum] + [X]]-Konstruktion Kongruenz aufweisen. Zudem muss die Zeitform in der [[Das ist zum] + [X]]-Konstruktion im Zusammenhang mit der im Hauptsatz stehen. Daher sieht man in der Gruppe c) unterschiedliche Variationen sowohl von dem Pronomen „das“ (z. B. die, der, dem) als auch vom Auxiliarverb „sein“ (z.-B. sind, war, ist). 4. Die Variationen der [[Das ist zum] + [X]]-Konstruktion werden besonders durch Tempora bzw. Modi manifestiert. Die ersten zwei Korpusbelege werden im Präteritum aufgebaut und die letzten Beiden werden jeweils im Konjunktiv II und Konjunktiv I geschrieben. Die Variationen der [[Das ist zum] + [X]]-Konstruktion beweisen, dass Grade der Verfestigung einer sprachlichen Konstruktion unterschiedlich sind. Die Leerstelle von X kann unterschiedlich gefüllt werden. Das Pronomen „das“ und das Auxiliarverb müssen im Kontext adaptiert werden. Der einzige stabile und unveränderte Bestandteil in dieser Konstruktion ist die abgekürzte Zusammen‐ setzung von der Präposition „zu“ sowie dem Dativpronomen „dem“. Die [[Das ist zum] + [X]]-Konstruktion variiert in Abhängigkeit von kommunikativen bzw. kontextuellen Bedingungen ihrer Realisierung. Außerdem beobachtet man, dass syntaktische oder semantische Beschränkungen die Besetzung der Leerstellen von schematischen Konstruktionen beeinflussen. Es bleibt dennoch hervorzu‐ heben, dass „es keiner Zerlegung dieser Muster in seine (semantischen und/ oder formalen) Bestandteile bedarf, um die komplexen Ausdrücke verstehen oder verwenden zu können“ (Ziem & Lasch 2018: 393-394), auch wenn die Grade der Verfestigung einer sprachlichen Konstruktion unterschiedliche Dimensionen von Variationen aufweisen. In der phraseologischen Forschung wird eine ähnliche Meinung eingenommen, nämlich dass Phraseme polylexikalische Einheiten von relativer Festigkeit sind. Phraseme sind untereinander und mit dem Wortlexikon auf vielfältige Art verknüpft. Wir brauchen also eine flexible Konzeption von Phraseologie, die den Gedanken toleriert, dass man innerhalb eines Phrasems stabilere und weniger stabile Elemente annehmen und darf und dass die Grenzen zu den freien Wortverbindungen fließend sind. (Burger 2015: 26) Zu einer Frage wie - welche Substantivierung von Verben kann in die [[Das ist zum] + [X]]-Konstruktion integriert werden? - bedarf es einer Ermittlung durch eine Kollokationsbzw. Distributionsanalyse in einem großen Korpus. Des Weiteren ist noch zu wissen, welche Festigkeit einer Konstruktion aus einer pragmatischen Sicht zu beobachten ist. Die konkreten Analysedimensionen 5.2 Grundlegendes zu den analysierten metaphorischen Konstruktionen 177 <?page no="178"?> sowie das methodische Verfahren auf der idiomatischen Ebene wurden bereits in Kapitel 4.2.1 vorgestellt. Hier möchte ich eine Wiederholdung vermeiden. 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen Das Unterkapitel 5.3 beschäftigt sich mit der empirischen und korpusbasierten Analyse der chinesischen Chengyu-Konstruktionen, die Raumbegriffe bzw. Bewegungsverben enthalten. Die ausgewählten 1703 Chengyu-Konstruktionen werden auf der prosodischen, der strukturellen, der semantischen und der pragmatischen Ebene ausführlich analysiert und dargestellt. Kapitel 5.3.1 be‐ handelt die Analyse aus der prosodischen Perspektive. Besonders berücksichtigt werden hierbei die 256 Kombinationsmöglichkeiten hinsichtlich der Töne in einer Chengyu-Konstruktion und ihre Vorkommensfrequenz im CCL-Korpus. Das Kapitel 5.3.2 ist der strukturellen Musterhaftigkeit solcher Konstruktionen gewidmet. Dabei werden die metaphorische Motivation und die Prinzipien der Ikonizität in Bezug auf die Gestaltung der Konstruktionsbedeutung ebenfalls mitberücksichtigt. Nach einer umfangreichen Diskussion auf der strukturellen Ebene kommt ein Kapitel zur semantischen Dimension der analysierten Kon‐ struktionen hinzu (vgl. Kap. 5.3.3). Besonders hervorzuheben ist die Einführung des Konzepts „syntaktische und semantische Doppelrolle der Chengyu-Kon‐ struktion“, was eine genauere rollensemantische bzw. -syntaktische Bestim‐ mung der chinesischen Chengyu-Konstruktionen ermöglicht. Abgerundet wird dieses Unterkapitel durch einen besonderen Blick auf die konkreten Verwen‐ dungsszenarios der Chengyu-Konstruktionen aus einer pragmatischen Sicht‐ weise. 5.3.1 Prosodische Dimension In der ersten Dimension der Prosodie sieht man, wie die Töne in der Chengyu-Konstruktion mit vier Schriftzeichen verteilt sind. Zuerst kann man sich Gedanken über eine mathematische Permutationsaufgabe machen: Die zu erfüllenden vier Schriftzeichen (A, B, C, D) sind vier Filler-Slots, die sich mit vier verschiedenen Tönen (T1 = 55, T2 = 35, T3 = 214, T4 = 51) befüllen lassen und der Ton kann in dieser Permutation wiederholt werden. Das heißt, theoretisch gesehen kann eine Chengyu-Konstruktion mit vier gleichen Tönen (z. B. 1111 oder 4444) oder teilweise wiederholten Tönen (z. B. 1221 oder 1333) erscheinen. Beispielsweise gibt es für Schriftzeichen A vier Auswahlmöglichkeiten bezüg‐ 178 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="179"?> lich der Töne, was auch der Fall für die anderen drei Schriftzeichen ist. Die Frage ist nämlich: Wie viele Kombinationsmöglichkeiten könnte es theoretisch für die tonale Distribution in einer Chengyu-Konstruktion mit vier Schriftzeichen geben? Anhand der mathematischen Mengenlehre lässt sich dies auch so be‐ schreiben: In einer Menge Schriftzeichen A (Menge A), Schriftzeichen B (Menge B), Schriftzeichen C (Menge C) oder Schriftzeichen D (Menge D), die jeweils nur aus einem Element besteht (n = 1), kann nur ein Element aus der Menge Töne (Menge T), die vier Elemente enthalten (n = 4), ausgewählt werden. Algebraisch ausdrückt ist es wie folgt: T = {1, 2, 3, 4} A ⊊ T, B ⊊ T, C ⊊ T, D ⊊ T In der mathematischen Kombinatorik ist diese Aufgabe relativ einfach zu lösen. Die hier geschilderte Situation ist ein typisches Beispiel für eine sogenannte Permutation mit Wiederholung. Die entsprechende Kombination (Combination with repetition, Abkürzung: C) kann folgendermaßen ausgedrückt werden: C = C (4,1) * C (4,1) * C (4,1) * C (4,1) = 4! 1! 4 − 1 ! * 4! 1! 4 − 1 ! * 4! 1! 4 − 1 ! * 4! 1! 4 − 1 ! = 4 * 4 * 4 * 4 = 256 Die folgende Abbildung visualisiert diese Aufgabe und deren Lösung (Liste der allen Möglichkeiten) nochmal: Abb. 10: Mengentheoretische Darstellung der Permutation der Töne in einer Chengyu-Konstruktion mit vier Schriftzeichen 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 179 <?page no="180"?> Wortanfang mit T1 (C = 64) Wortanfang mit T2 (C = 64) Wortanfang mit T3 (C = 64) Wortanfang mit T4 (C = 64) 1111, 1112, 1113, 1114 1121, 1122, 1123, 1124 1131, 1132, 1133, 1134 1141, 1142, 1143, 1144 1211, 1212, 1213, 1214 1221, 1222, 1223, 1224 1231, 1232, 1233, 1234 1241, 1241, 1243, 1244 1311, 1312, 1313, 1314 1321, 1322, 1323, 1324 1331, 1332, 1333, 1334 1341, 1342, 1343, 1344 1411, 1412, 1413, 1414 1421, 1422, 1423, 1424 1431, 1432, 1433, 1434 1441, 1442, 1443, 1444 2111, 2112, 2113, 2114 2121, 2122, 2123, 2124 2131, 2132, 2133, 2134 2141, 2142, 2143, 2144 2211, 2212, 2213, 2214 2221, 2222, 2223, 2224 2231, 2232, 2233, 2234 2241, 2242, 2243, 2244 2311, 2312, 2313, 2314 2321, 2322, 2323, 2324 2331, 2332, 2333, 2334 2341, 2342, 2343, 2344 2411, 2412, 2413, 2414 2421, 2422, 2423, 2424 2431, 2432, 2433, 2434 2441, 2442, 2443, 2444 3111, 3112, 3113, 3114 3121, 3122, 3123, 3124 3131, 3132, 3133, 3134 3141, 3142, 3143, 3144 3211, 3212, 3213, 3214 3221, 3222, 3223, 3224 3231, 3232, 3233, 3234 3241, 3242, 3243, 3244 3311, 3312, 3313, 3314 3321, 3322, 3323, 3324 3331, 3332, 3333, 3334 3341, 3342, 3343, 3344 3411, 3412, 3413, 3414 3421, 3422, 3423, 3424 3431, 3432, 3433, 3434 3441, 3442, 3443, 3444 4111, 4112, 4113, 4114 4121, 4122, 4123, 4124 4131, 4132, 4133, 4134 4141, 4142, 4143, 4144 4211, 4212, 4213, 4214 4221, 4222, 4223, 4224 4231, 4232, 4233, 4234 4241, 4242, 4243, 4244 4311, 4312, 4313, 4314 4321, 4322, 4323, 4324 4331, 4332, 4333, 4334 4341, 4342, 4343, 4344 4411, 4412, 4413, 4414 4421, 4422, 4423, 4424 4431, 4432, 4434, 4434 4441, 4442, 4443, 4444 Tab. 30: Kombinationsmöglichkeiten der Töne in einer Chengyu-Konstruktion mit vier Schriftzeichen Jetzt weiß man, dass es theoretisch 256 Möglichkeiten der Töne in einer Chengyu-Konstruktion geben kann. Nun ist wichtig zu wissen, welche Kombi‐ nationsmöglichkeiten mit wie hoher Frequenz in allen analysierten Chengyu-Kon‐ struktionen auftreten, die Orientierungsbegriffe oder Orientierungsmetaphern (implizit oder explizit) enthalten. Wie bereits im Kapitel 4 ausführlich dargelegt, werden insgesamt 1703 solche Chengyu-Konstruktionen qualitativ analysiert. Auf die Fragen, ob diese Kombination in den Analysekonstruktionen vorkommt und wie oft sie auftaucht, gibt die nachfolgende Tabelle konkrete Antworten: 1111 7 1112 2 1113 7 1114 5 1121 2 1122 9 1123 5 1124 17 1131 4 1132 7 1133 11 1134 14 1141 5 1142 13 1143 16 1144 35 1211 1 1212 2 1213 6 1214 17 1221 2 1222 2 1223 3 1224 15 1231 1 1232 2 1233 10 1234 17 1241 4 1242 3 1243 22 1244 53 1311 5 1312 7 1313 2 1314 2 1321 14 1322 8 1323 2 1324 5 1331 0 1332 1 1333 1 1334 3 1341 6 1342 4 1343 0 1344 2 1411 7 1412 2 1413 3 1414 8 1421 12 1422 9 1423 5 1424 9 180 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="181"?> 1431 10 1432 1 1433 1 1434 6 1441 6 1442 6 1443 4 1444 9 2111 1 2112 9 2113 9 2114 20 2121 3 2122 0 2123 10 2124 16 2131 4 2132 4 2133 6 2134 14 2141 6 2142 8 2143 24 2144 26 2211 6 2212 2 2213 6 2214 15 2221 3 2222 0 2223 3 2224 14 2231 3 2232 6 2233 11 2234 16 2241 7 2242 7 2243 27 2244 28 2311 2 2312 4 2313 1 2314 3 2321 6 2322 4 2323 3 2324 4 2331 2 2332 1 2333 1 2334 1 2341 3 2342 5 2343 3 2344 4 2411 16 2412 21 2413 3 2414 7 2421 8 2422 13 2423 5 2424 3 2431 3 2432 3 2433 5 2434 3 2441 8 2442 7 2443 7 2444 8 3111 4 3112 3 3113 1 3114 8 3121 1 3122 2 3123 2 3124 5 3131 2 3132 1 3133 0 3134 1 3141 6 3142 4 3143 5 3144 10 3211 5 3212 0 3213 1 3214 7 3221 4 3222 2 3223 2 3224 1 3231 1 3232 1 3233 1 3234 1 3241 3 3242 4 3243 5 3244 11 3311 14 3312 8 3313 3 3314 7 3321 9 3322 7 3323 0 3324 2 3331 1 3332 1 3333 0 3334 3 3341 4 3342 3 3343 1 3344 3 3411 9 3412 15 3413 3 3414 1 3421 11 3422 19 3423 5 3424 6 3431 2 3432 3 3433 2 3434 2 3441 4 3442 6 3443 2 3444 5 4111 6 4112 6 4113 6 4114 5 4121 9 4122 6 4123 4 4124 9 4131 1 4132 1 4133 3 4134 7 4141 3 4142 9 4143 11 4144 21 4211 6 4212 3 4213 5 4214 16 4221 3 4222 0 4223 8 4224 9 4231 3 4232 3 4233 2 4234 9 4241 9 4242 6 4243 5 4244 17 4311 11 4312 20 4313 2 4314 1 4321 21 4322 17 4323 0 4224 5 4331 0 4332 3 4333 0 4334 0 4341 2 4342 13 4343 0 4344 3 4411 27 4412 12 4413 2 4414 9 4421 5 4422 25 4423 11 4424 15 4431 9 4432 6 4433 4 4434 5 4441 12 4442 11 4443 5 4444 11 Tab. 31: Kombinationsmöglichkeiten und die Frequenz in den analysierten Chengyu- Konstruktionen (n = 1703) 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 181 <?page no="182"?> Platz Kombination Frequenz 1 1244 53 2 1144 35 3 2244 28 4 2243/ 4411 27 5 2144 26 6 2143 24 7 1243 22 8 2412/ 4321/ 4144 21 9 2114/ 4312 20 10 1234/ 1214/ 1124/ 4244/ 4322 17 Tab. 32: Die Top-10-Kombinationen der Töne in den analysierten Chengyu-Konstruktionen Die Top-10-Kombinationsmöglichkeiten der Töne in den analysierten Chengyu-Konstruktionen werden in der obigen Tabelle aufgezeigt. Man kann deutlich sehen, dass die meisten häufig vorkommenden Chengyu-Konstruk‐ tionen mit entweder dem ersten (flachen) oder dem zweiten (steigenden) Ton beginnen und mit entweder dem dritten (fallend-steigenden) oder dem vierten (stark fallendenden) Ton enden. Die übrigen vier Kombinationsmuster aus dieser Reihe (4411, 4321, 4144 und 4312) starten mit dem scharf fallenden vierten Ton und beenden die Aussprache mehrheitlich mit dem flachen oder (etwas) steigenden Ton. Dies weist darauf hin, dass der häufigste Fall der Tonänderung bzw. -kombination in der Chengyu-Konstruktion meistens in eine Richtung weist: flach > (etwas) steigend > (stark) fallend oder (stark) fallend > (etwas) steigend > flach. Dies hat wahrscheinlich auch mit der Gewohnheit des Redeflusses in der Sprachgemeinschaft zu tun. Mit einer konsistenten Richtung der Intonation ist die Sprachproduktion leicht zu realisieren, weil es weniger körperliche Anstrengungen verlangt. Dieser Hinweis bedeutet zugleich, dass der Ton der Einzelwörter insofern eine entscheidende Rolle spielen kann, ob dieses Wort tatsächlich in eine bestimmte Stelle der Chengyu-Konstruktion hineinkommen darf oder wohin man ein spezifisches Wort platzieren kann, weil die prosodische Tiefstruktur anscheinend die lexikalische Zusammensetzung beschränken kann. 182 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="183"?> Insgesamt findet man keinen einzigen Treffer aus den analysierten Chengyu-Konstruktionen für 14 Kombinationsmuster der Töne (1331, 1343, 2122, 2222, 3133, 3212, 3323, 3333, 4222, 4323, 4331, 4333, 4334, 4343). 5.3.2 Strukturelle Dimension Nun wird ein Blick auf die formale Zusammensetzung der Einzelwörter in der Chengyu-Konstruktion geworfen. Wie bereits im Kapitel 4 vorgestellt, sind der Untersuchungsgegenstand dieses vorliegenden Kapitels die idiomatischen Konstruktionen, die explizit oder implizit Orientierungsmetaphern enthalten. Konkret gesagt werden alle idiomatischen Konstruktionen, die mindestens einen Orientierungsbegriff in der Chengyu-Konstruktion beinhalten, zum Ge‐ genstand der Analyse gemacht. Abb. 11: Mögliche Muster einer Chengyu-Konstruktion mit Raumkonzepten (n = 1703) Abb. 12: Vier Kategorien der Chengyu-Konstruktionen mit Raumkonzepten und deren Frequenz (n = 1703) 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 183 <?page no="184"?> 5.3.2.1 Muster 1: Chengyu-Konstruktion mit einem Raumlexem Insgesamt kann eine Chengyu-Konstruktion mit einem Raumlexem durch die folgenden vier Muster realisiert werden: RXXX, XRXX, XXRX und XXXR. Insgesamt werden 1195 unterschiedliche Chengyu-Konstruktionen mit nur einem Raumlexem in der Untersuchung verzeichnet, die die häufigste Form der Chengyu-Konstruktion mit Raumlexemen darstellen. Im Folgenden werden ausführlich auf jede Unterkategorie eingegangen. RXXX Eine mit einem Raumlexem beginnende Chengyu-Konstruktion ist eine typische linguistische Strategie, um explizit oder implizit eine Orientierungsmetapher in der chinesischen Sprache zu realisieren bzw. zu symbolisieren. Mehr als 30 % der Chengyu-Konstruktionen (also 419 von 1195 Konstruktionen) mit einem Raumlexem werden in dieser Form wiedergegeben. Die Filler für die Stelle [R] sind auch divers besetzbar und machen diese Konstruktion besonders produktiv. Die in der Untersuchung erscheinenden Filler für die Stelle [R] werden in der folgenden Tabelle aufgelistet: Nummer Unterkonstruktion Variation Frequenz 1 高 (hoch) + [X] + [X] + [X] 29 3398 2 深 (tief) + [X] + [X] + [X] 18 3685 3 出 (hinausgehen) + [X] + [X] + [X] 17 6323 4 临 (gegenüber) + [X] + [X] + [X] 17 685 5 反 (gegen) + [X] + [X] + [X] 16 1288 6 长 (lang) + [X] + [X] + [X] 14 3306 7 后 (hinter) + [X] + [X] + [X] 13 3457 8 落 (fallen) + [X] + [X] + [X] 13 516 9 下 (unten) +[X] + [X] + [X] 13 401 10 正 (aufrichtig) + [X] + [X] + [X] 13 1018 11 平 (eben) + [X] + [X] + [X] 12 2062 12 直 (gerade) +[X] + [X] + [X] 12 2123 13 顺 (entlang) + [X] + [X] + [X] 11 1619 184 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="185"?> Nummer Unterkonstruktion Variation Frequenz 14 横 (horizontal) + [X] + [X] + [X] 10 502 15 前 (vor) + [X] + [X] + [X] 10 6212 16 入 (hinein-, ein-) + [X] + [X] + [X] 10 439 17 悬 (hängen) +[X] + [X] + [X] 10 516 18 立 (aufstellen) +[X] + [X] + [X] 9 1082 19 背 (zuwider) + [X] + [X] + [X] 8 1998 20 沉 (sinken) + [X] + [X] + [X] 8 806 21 从 (von, ab) + [X] + [X] + [X] 8 1150 22 先 (zuerst, vorne) + [X] + [X] + [X] 8 2089 23 扬 (aufheben) + [X] + [X] + [X] 8 556 24 垂 (herabhängen) + [X] + [X] + [X] 7 1115 25 中 (Mitte) + [X] + [X] + [X] 7 716 26 趋 (hasten, tendieren) + [X] + [X] + [X] 6 840 27 转 (drehen) + [X] + [X] + [X] 6 513 28 东 (Ost) + [X] + [X] + [X] 5 582 29 回 (zurück) + [X] + [X] + [X] 5 444 30 旁 (neben) + [X] + [X] + [X] 5 593 Tab. 33: Die häufigsten 30 Chengyu-Konstruktionen mit dem Muster RXXX In dieser größten Subkategorie der Chengyu-Konstruktionen, die Orientierungs‐ metaphern erzeugen bzw. implizieren, wird die [R]-Stelle von 67 unterschied‐ lichen Raumbegriffen besetzt. Innerhalb eines Einzelmusters sind wiederum unterschiedliche Variationen der Konstruktion zu beobachten. Das bedeutet, dass sich die Typikalität der Einzelmuster auch dementsprechend voneinander unterscheidet. Die Chengyu-Konstruktion 高 (hoch) + [X] + [X] + [X] weist zum Beispiel 29 unterschiedliche Variationen auf und ist somit höchstproduktiv in der RXXX-Gruppe, während einige Konstruktionen wie 举 (hochhalten) + [X] + [X] + [X] oder 纵 (longitudinal) + [X] + [X] + [X] nur über eine einzige Variation 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 185 <?page no="186"?> verfügen. Nun wird ein genauer Blick auf die formale Seite dieser Subkategorien geworfen: In der vorliegenden Studie wird ersichtlich, dass alle vier Grundbezeich‐ nungen der Himmelsrichtungen, nämlich 北 (Norden) + [X] + [X] + [X] (3 Variationen; 8 Frequenzen im Korpus), 南 (Süden) + [X] + [X] + [X] (V = 3; F = 33), 西 (Westen) + [X] + [X] + [X] (V = 3; F = 38), 东 (Osten) + [X] + [X] + [X] (V = 5; F = 229), als Filler der [R]-Stelle in einer chinesischen Chengyu-Konstruktion mit der Muster RXXX dienen können. Hier sieht man, dass unter den vier Konstruktionen das Muster 东 (Osten) + [X] + [X] + [X] besonders produktiv ist: Einerseits haben die ersten drei Konstruktionen weniger Variationen als die letzte Konstruktion. Berücksichtigt man dies in dem Untersuchungskorpus, werden eindeutig mehr Belege diese Muster gefunden, sogar viel mehr als alle Belege der anderen drei Konstruktionen zusammen (229 Belege vs. 79 Belege). In der Unterkonstruktion 高 (hoch) + [X] + [X] + [X] sind die folgenden metaphorischen Konstruktionsbedeutungen deutlich spürbar, die zusammen auch die zentralen Konstruktionsbedeutungen bilden: a) OBEN IST BEGABT - 高足弟子 (hoch + Fuß + jüngerer Bruder + Sohn): Bezeichnung für die besonders talentierten und begabten Studenten eines Lehrers (F = 9) - 高才捷足 (hoch + Talent + geschickt + Fuß): bedeutet, dass jemand besonders talentiert und beim Handeln auch geschickt ist (F = 6) Im ersten Beispiel sieht man die enge Beziehung zwischen den Lehrern und den Studenten im kaiserlichen China. Die Studenten eines Lehrers werden mit zwei Begriffen aus der Verwandtschaft bezeichnet ( 弟 , jüngerer Bruder; 子 , Sohn). Die OBEN-Metapher hier rahmt die Konstruktionsbedeutung und referiert auf die hochbegabten Studenten eines Lehrers. Das zweite Lexem in dieser Chengyu-Konstruktion, nämlich 足 (Fuß), ist eine Körper-Metaphorik. Betrachtet man die Beziehung zwischen den Lehrenden und den Studierenden als einen Gesamtkörper, ist der Lehrende im kaiserlichen China respektvoll. Und der Student muss den Lehrenden immer Respekt zeigen. Vom Status her ist der Lehrende höher als der Student. In einem menschlichen Körper befindet sich der Fuß ganz unten und Fuß ist daher meronym zu Student. Dieses Meronym ist auch in der zweiten Chengyu-Konstruktion deutlich zu sehen. Interessanterweise ist es noch anzumerken, dass die OBEN-Metaphorik nicht nur angedeutet wird, sondern durch die explizite Bezeichnung der hohen Begabung (vgl. das 186 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="187"?> Lexem in der zweiten Stelle in dieser Konstruktion 才 (Talent)) nochmals die Konstruktionsbedeutung verstärkt. b) OBEN IST MORALISCH GUT ODER ARROGANT - 高风亮节 (hoch + Wind + hell + Tugend): Bezeichnung für tugendhafte Eigen‐ schaften oder Verhalten (F = 327) - 高山景行 (hoch + Berg + Landschaft + Verhalten): Bezeichnung für tugendhafte Eigenschaften oder Verhalten (F = 11) In den beiden Konstruktionen handelt es sich um die OBEN IST MORA‐ LISCH-Metapher. In den zwei Chengyu-Konstruktionen werden die guten mo‐ ralischen Eigenschaften bzw. Verhalten besonders mit der natürlichen Schönheit in Verbindung gesetzt (vgl. 风 , Wind; 亮 , hell; 山 , Berg; 景 , Landschaft). Solche Lexeme sind semantisch solidarisch mit der moralischen positiven Bedeutung der Metapher in den Konstruktionen. Die Filler der letzten Stellen in den oben aufgeführten Konstruktionen beziehen sich jeweils auf den Aspekt der Tugend oder den Aspekt des Verhaltens. - 高视阔步 (hoch + sehen + breit + Schritt): man schaut ganz nach oben und geht in großem Schritt. Bedeutet, dass jemand über eine außergewöhnliche Ausstrahlung bzw. Verhaltensweise verfügt oder jemand arrogant ist (F = 45) - 高傲自大 (hoch + arrogant + selbst + groß): jemand ist arrogant und selbstsicher (F = 30) - 高谈阔论 (hoch + reden + breit + diskutieren): bedeutet ursprünglich, dass die Diskussion elegant und von einem hohen Niveau ist und nicht die vulgären Sachen betrifft. Bedeutet auch, dass jemand ohne jegliche Grenzen über alles Mögliche quatscht (negativ konnotiert) (F = 360) Wenn die Höhe ein bestimmtes Ausmaß überschreitet, kann die OBEN IST MORLISCH GUT -Metapher dann in eine Gegenrichtung weisen. Daher ist von OBEN IST ARROGANT die Rede. In den oben drei aufgezeigten Kon‐ struktionen findet man nicht nur jeweils eine OBEN -Metapher, die durch die Verwendung des Anfangslexems 高 (hoch) signalisiert wird, sondern auch die sogenannten Adverbien der Graduierung (vgl. breit, groß). Die Funktion solcher Graduierungsadverbien liegt bei der Verstärkung bzw. Vergrößerung des ursprünglichen semantischen Ausmaßes und trägt semantisch beispielweise zu einer Überschreitung des moralischen akzeptierbaren Ausmaßes bei. So entsteht die negative Konstruktionsbedeutung dieser OBEN-Metapher. Auch 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 187 <?page no="188"?> die anderen Lexeme mit dieser Metapher zusammen bestärken diese negative Konnotation. Beispielsweise können hochnäsiges Schauen, Selbstsicherheit und Plaudern ohne thematische Schwerpunkte und Grenzen in den obigen Konstruktionen als semantische Zusatzkomponenten dienen, die die negative Seite der OBEN-Metapher hervorheben. c) OBEN IST HOHER UND VEREHRTER SOZIALER STATUS - 高官厚禄 (hoch + Beamter + dick + Gehalt): bedeutet ursprünglich, dass jemand eine hohe Position im Hof innehat und sehr gut bezahlt wird. Bezeichnung für hohe Position mit ausgezeichneter Bezahlung (F = 127) - 高官显爵 (hoch + Beamter + herausragend + Baron): Bezeichnung für hohe Position oder adligen Titel (F = 9) - 高朋满座 (hoch + Freunde + voll + Sitze): gute und verehrte Freunde besetzen den Saal vollständig. Bezeichnung für viele Gäste bei einem Bankett (F = 142) - 高人一等 (hoch + Mensch + eins + Rang): jemand hat das Gefühl, dass er privilegiert ist und einen höheren Rang als die anderen Mitmenschen hat (F = 175) In den ersten beiden Konstruktionen ist die OBEN-Metapher direkt mit hoher Position, guter Bezahlung bzw. hoher Adelsklasse verbunden. Die jeweiligen Filler in der ersten und dritten Stelle signalisieren die quantitativen Aspekte der OBEN-Metapher (vgl. hoch, dick, herausragend) und die anderen zwei Stellen werden jeweils durch zwei Substantive besetzt, die durch die Adjektive determiniert werden. Die dritte Chengyu-Konstruktion bezieht sich auf einen höflichen Sprachgebrauch, indem man das Gesprächsgegenüber in eine höhere Position versetzt. Die Freunde einer Person sind nicht unbedingt in einer hohen Position mit guter Bezahlung oder in einer hohen Rangstufe. Jedoch werden die eingeladenen Freunde zum Beispiel zu einem Bankett aus der Sichtweise des Gastgebers als sehr verehrte Gäste angesehen. In diesem Sprachgebrauch der Höflichkeit spielt die OBEN IST VEREHRT-Metapher eine wichtige Rolle. Durch die explizite Benennung des Lexems 等 (Rang) werden Menschen in verschiede Ränge wie in einer Pyramide eingestuft. Wer sich auf der Spitze der Pyramide befindet, der ist mächtiger und den anderen Klassen sozial überlegen. Hier sieht man dann die OBEN IST HOHER SOZIALER STATUS-Metapher in der letzten Konstruktion oben. In den Unterkonstruktionen wie 落 (fallen) + [X] + [X] + [X], 下 (unten) + [X] + [X] + [X] 沉 (sinken) + [X] + [X] + [X] und 后 (hinter) + [X] + [X] + [X] spielen zumindest die folgenden zwei UNTEN-Metaphern eine entscheidende Rolle im Hinblick auf die Konstruktionsbedeutung: 188 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="189"?> d) UNTEN IST VERLUST UND MISSERFOLG - 落花流水 (fallen + Blumen + fließen + Wasser): verwelkte Blumen fließen entlang dem fließenden Wasser. Bezeichnung für die Verwahrlosung oder den Zustand nach einem bitteren Misserfolg (F = 198) - 落荒而逃 (fallen + verwahrlost + und + weglaufen): vom Schlachtfeld fliehen. Bezeichnung für die schnelle Flucht nach einer schweren Niederlage (F = 161) - 落草为寇 (fallen + Gras + werden + Räuber): dazu gezwungen werden, in den Wald zu fliehen und Räuber zu werden, weil man keine andere Alternative hat. (F = 20) Die drei thematisierten Sachen bzw. Sachverhalte - verwelkte Blumen, bittere Niederlage im Krieg und gezwungenes Räuberwerden - sind framesemantisch mit der UNTEN-Metapher kohärent. Zudem kann die UNTEN-Metapher zeitlich als ein späterer Zeitpunkt konzeptualisiert werden. Hier sind noch einige Beispielkonstruktionen aus der Untersuchung: e) UNTEN/ HINTERN IST SPÄTERER ZEITPUNKT - 下不为例 (unten + nicht + für + Beispiel): Beim nächsten Mal darf man nicht wie diesmal etwas tun. Etwas gilt nur für dieses Mal und darf in Zukunft nicht mehr erscheinen (F = 205) - 后发制人 (hinter + starten + kontrollieren + Mensch): Man lässt den Gegner zuerst handeln, während man die Schwäche des Gegners genau beobachtet. Danach ergreift man Maßnahmen, um den Gegner unter Kontrolle zu bringen (F = 137) - 后生可畏 (hinter + Generation + können + befürchten): Die jüngere Generation ist die neueste Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung und kann leicht die ältere Generation überholen. In diesem Sinne ist die jüngere Generation besonders zu respektieren (F = 68) - 后继有人 (hinter + fortsetzen + haben + Mensch): Es gibt Menschen, die die Karriere der älteren Generation erben und fortsetzen (F = 419) Eine andere Metapher, die bei der Formierung der Konstruktionsbedeutung anscheinend eine Rolle spielt, ist die Behälter-Metapher. Dies wird besonders in den Unterkonstruktionen 出 (hinausgehen) + [X] + [X] + [X] und 入 (hineingehen) + [X] + [X] + [X] ersichtlich. Jedoch ist auch dabei interessant zu bemerken, dass die morphologische Ikonizität in den beiden Chengyu-Kon‐ struktionen keine dominante Rolle spielt. Betrachtet man zum Beispiel die vier Schriftzeichen als einen Behälter mit der Berücksichtigung der chinesischen Leserichtung, kann man das erste Schriftzeichen als eine Eingangstür eines 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 189 <?page no="190"?> Zimmers und das vierte, also letzte Schriftzeichen als eine Ausgangstür eines Zimmers auffassen. Wenn das Prinzip der morphologischen Ikonizität in den beiden Unterkonstruktionen funktionieren würde, wäre es zu erwarten, dass die Unterkonstruktion 入 (hineingehen) + [X] + [X] + [X] viel häufiger als die Unterkonstruktion 出 (hinausgehen) + [X] + [X] + [X] im Gebrauch verwendet wird. Jedoch wird diese Hypothese nicht in unserem Korpus bestätigt, weil die Unterkonstruktion 出 (hinausgehen) + [X] + [X] + [X] mit 17 Variationen und 6323 Belegen deutlich häufiger verwendet wird als die Unterkonstruktion 入 (hineingehen) + [X] + [X] + [X] (V = 10 , F = 439). Zudem sind die AUS-Metaphern (die Richtung nach außen) im Gebrauch deutlich vielfältiger als die EIN-Metaphern (die Richtung nach innen): - AUS IST DEN ANDEREN ÜBERRAGEND UND ÜBERLEGEN - 出人头地 (hinausgehen + Mensch + Kopf + Boden): jemand ragt über die anderen heraus (F = 394) - - - AUS IST ERSCHEINEN IN DER ÖFFENTLICHKEIT - 出头露面 (hinausgehen + Kopf + bloßlegen + Gesicht): in der Öffentlichkeit erscheinen. Bedeutet auch, dass jemand vor einem Publikum prahlt (F = 158) - - - AUS IST ETWAS ZUR SPRACHE BRINGEN - 出言不逊 (hinausgehen + Worte + nicht + bescheiden): man redet in einem arroganten Ton (F = 159) - - - EIN IST GRÜNDLICH UND TIEFGEHEND - 入木三分 (hineingehen + Holz + drei + Punkt): Überlieferungen zufolge sickerte die Tinte tief ins Holz ein, wenn der berühmte chinesische Kaligraph Xizhi Wang (303-361) mit dem Pinsel aufs Holz schrieb. Bedeutet, dass der kaligraphische Stil einer Person kraftvoll ist. Nun bezeichnet man mit dieser Chengyu-Konstruktion, dass die Idee, die Analyse oder die Argumentation einer Person tiefgreifend ist (F = 229) XRXX Unter diese Kategorie sind insgesamt 260 Variationen zu beobachten. Die nachstehende Tabelle dokumentiert die häufigsten Unterkonstruktionen, ihre Variationen und Vorkommensfrequenz: 190 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="191"?> Nummer Unterkonstruktion Variation Frequenz 1 X + 中 (mitten) + X + X 41 3531 2 X + 下 (unten) + X + X 24 2845 3 X + 上 (oben) + X + X 18 2798 4 X + 出 (hinausgehen) + X + X 15 3441 5 X + 深 (tief) + X + X 12 1521 6 X + 高 (hoch) + X + X 11 1746 7 X + 落 (fallen) + X + X 10 813 8 X + 入 (hineingehen) + X + X 9 788 9 X + 平 (flach) + X + X 7 1510 10 X + 立 (aufstellen/ stehen) + X + X 7 1133 11 X + 底 (Boden) + X + X 6 317 12 X + 外 (außen) + X + X 5 635 13 X + 后 (hinter) + X + X 4 1165 14 X + 顶 (Spitze) + X + X 4 554 15 X + 垂 (herabhängen) + X + X 4 414 Tab. 34: Die Häufigsten 15 Chengyu-Konstruktionen mit dem Muster XRXX Auf dem ersten Platz steht die X + 中 (mitten) + X + X-Konstruktion mit 41 Konstruktionen. Hier kann man die Ikonizität bereits in der Morphologie der Chengyu-Konstruktion beobachten. Die R-Stelle wird von einem Wort besetzt, das semantisch „mitten“ bedeutet und sich morphologisch zugleich in der Mittel‐ position dieser Konstruktion befindet. Hier sind nur einige Variationsbeispiele dieser Konstruktion zu nennen: 管中窥豹 (Rohr + mitten + gucken + Leopard): durch ein kleines Rohr einen Leoparden beobachten. Bedeutet, dass man durch einen beobachtbaren Teil das Ganze erschließen kann. 急中生智 (Eile + mitten + entstehen + Weisheit): bedeutet, dass man in einer kritischen Situation plötzlich auf eine vernünftige Idee kommt. 空中楼阁 (Himmel + mitten + Gebäude + Pavillon): ein Pavillon hängt mitten im Himmel. Bedeutet, dass etwas grundlos, realitätsfern und fiktiv ist. 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 191 <?page no="192"?> 目中无人 (Auge + mitten + kein + Mensch): bedeutet, dass jemand gegenüber den anderen arrogant ist. 雪中送炭 (Schnee + mitten + schenken + Kohle): bedeutet, dass man den anderen hilft, wenn sie in Not geraten. In dieser X + 中 (mitten) + X + X-Konstruktion kann man als Erstes festhalten, dass die variable Stelle vor 中 (mitten) meistens (39 von 41 Variationen) von einem Substantiv besetzt wird. So können die ersten beiden Stellen eine Art von Behälter-Metapher erzeugen. Diese Behälter-Metapher kann mit der semanti‐ schen Bedeutung „in einer X Situation“ oder „in X“ umschrieben werden. Die anderen zwei Stellen hinter dieser Behälter-Metapher geben dann die Hinweise, was in diesem Behälter genau passiert. Die dritte Stelle in dieser Konstruktion kann durch Verben, Substantive oder Negationswörter besetzt werden. Falls die dritte Stelle durch ein Verb besetzt wird, ist üblicherweise in der vierten Stelle ein semantisch kohärentes Substantiv zu erwarten. Zum Beispiel ist dies bei der Chengyu-Konstruktion 雪中送炭 der Fall: Wenn es schneit, braucht man Wärme. Kohlenschenken bringt den Menschen in der Kälte Wärme. Das Kohleschenken ist gleichzusetzen mit der Hilfe durch andere Menschen und Schneien kann eine Notsituation symbolisieren. So entsteht die metaphorische Bedeutung dieser Chengyu-Konstruktion. Falls die vierte Stelle von Wörtern wie „Schneeball“ oder „Eis“ besetzt werden, ist diese Konstruktion aus der muttersprachlichen Perspektive sinnlos und merkwürdig. Zudem kann die Bedeutung „jemandem in Not helfen“ nicht mehr zum Ausdruck gebracht werden. Die ersten beiden Stellen in den Unterkonstruktionen wie X + 下 (unten) + X + X und X + 上 (oben) + X + X können eine Präpositionalphrase bilden (unter X oder auf X). Die anderen beiden Filler der letzten Slots werden in der Regel von Verbalphrasen oder Nominalphrasen besetzt, um die Frage zu beantworten, was genau unter X oder auf X passiert: 榜上无名 (Liste + oben + kein + Name): der Name steht nicht auf der Liste. Bedeutet, dass man eine Prüfung nicht besteht oder nicht aufgenommen worden ist. 锦上添花 (Brokat + oben + hinzufügen/ sticken + Blumen): auf den Brokat noch Blumen sticken. Bedeutet, dass man schöne Sachen bzw. Sachverhalte noch schöner macht. 板上钉钉 (Holztafel + oben + nageln + Nagel): auf die Holztafel nageln. Bedeutet, dass etwas bereits befestigt wird und man nichts ändern kann. 天下一家 (Himmel + unten + ein/ eine + Familie): die Welt unter dem Himmel als eine Familie betrachten. Bedeutet, dass der Staat vereinigt wird oder etwas einzigartig ist. 月下老人 (Mond + unten + alt + Mann): In der chinesischen Mythologie wird der alte Mann unter dem Mond als Personifikation der Liebe und Heirat bezeichnet. 192 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="193"?> 手下留情 (Hand + unten + bleiben + Gefühle): Man zeigt Empathie, wenn man etwas tut oder Maßnahmen ergreift. XXRX In der vorliegenden Korpusuntersuchung sind 265 Chengyu-Konstruktionen mit dem Muster XXRX zu verzeichnen. In der nachstehenden Tabelle werden die häufigsten 10 Unterkonstruktionen aufgelistet: Nummer Unterkonstruktion Variation Frequenz 1 X + X + 入 (hineingehen) + X 22 1986 2 X + X + 下 (unten) + X 17 1120 3 X + X + 出 (hinausgehen) + X 11 632 4 X + X + 落 (fallen) + X 8 743 5 X + X + 中 (mitten) + X 7 657 6 X + X + 横 (horizontal) + X 7 659 7 X + X + 上 (oben) + X 6 1300 8 X + X + 后 (hinter) + X 6 396 9 X + X + 前 (vorne) + X 6 1215 10 X + X + 过 (übertreffen) + X 4 520 Tab. 35: Die häufigsten 10 Chengyu-Konstruktionen mit dem Muster XXRX Die Unterkonstruktion X + X + 入 (hineingehen) + X hat 22 Variationen und belegt den ersten Platz mit 1986 Belegen aus dem Untersuchungskorpus. Diese Unterkonstruktion trägt die Grundbedeutung, dass A in B hineingeht. Von daher ist die Ikonizität auch in dieser Unterkonstruktion deutlich zu spüren. Die ersten beiden variablen Stellen werden durch Personen, Sachen oder Sachverhalte besetzt, die in einen „Behälter“ hineingehen, der in der vierten Stelle dieser Konstruktion auftritt. Hier sind einige Variationen dieser Unterkonstruktion zu sehen: 半截入土 (halb + Stück + hineingehen + Erde): die Hälfte des Körpers geht in die Erde hinein. Bedeutet, dass jemand alt und vom Tod nicht mehr entfernt ist. (vgl. die deutsche idiomatische Konstruktion: mit einem Fuß im Grab stehen) 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 193 <?page no="194"?> 锒铛入狱 (Eisenkette + Eisenkette + hineingehen + Gefängnis): jemand wird mit Eisenketten gefesselt und geht ins Gefängnis. Bedeutet, dass jemand von der Polizei festgenommen wird und ins Gefängnis geht. 老僧入定 (alt + Mönch + hineingehen + Meditation): der alte Mönch sitzt aufrichtig und meditiert, als ob er in eine Welt hineingehen würde, wo alles still und statisch bleibt. 泥牛入海 (Ton + Vieh + hineingehen + Meer): das Vieh aus Ton geht ins Meer hinein. Bedeutet, dass etwas geht und nicht mehr zurückkommt oder es keine weiteren Rückmeldungen gibt. 请君入瓮 (bitten + Herr + hineingehen + Urne): jemanden bitten, in die große Urne hineinzugehen. Bedeutet, dass jemand dieselbe Methode verwendet, mit der er schon einmal jemanden bestraft hat, um einen anderen zu bestrafen. In den ersten beiden Variationen sieht man noch deutlich, dass die ersten beiden Stellen durchaus metonymisch besetzt werden können. Im ersten Beispiel steht die Hälfte des menschlichen Körpers für einen Menschen im hohen Alter, während die zwei tautologischen Konzepte aus dem zweiten Beispiel den Festnahmeprozess zur Sprache bringen. Zudem weisen die zwei tautologischen Begriffe phonologische und morphologische Ikonizität auf, weil einerseits die Aussprachen der beiden Begriffe auch den Klang nachahmen (锒 [lɑŋ 35 ] 铛 [tɑŋ 55 ]), wenn die Eisenketten zusammenstoßen und anderseits die jeweils linken Spalten der beiden chinesischen Schriftzeichen ein gemeinsames Radikal, nämlich „ 钅 “, teilen. Dieses Radikal bedeutet in der chinesischen Sprache „Metall“. Es gibt beispielsweise eine Anzahl von chinesischen Schriftzeichen, die dieses Radikal enthalten und deren Bedeutungen mit Metall zu tun haben: 铁 ( Eisen), 针 (Nadel), 锯 (Säge), 锄 (Hacke), 锅 (Wokpfanne), 铲 (Schaufel), 钱 (Geld/ Münzen), 铜 (Kupfer), 钛 (Titan), 镁 (Magnesium), 钉 (Nagel), 钢 (Stahl), 钳 (Klemme), 银 (Silber), 镍 (Nickel), 锁 (Schloss), 钙 (Kalzium) und 钩 (Haken). Darüber hinaus weisen die Filler der letzten Stelle auch eine Gemeinsamkeit auf: Alle Filler sind Substantive. Eine andere Unterkonstruktion mit diesem Muster, von der im Untersu‐ chungskorpus 17 Variationen zu verzeichnen sind, stellt die X + X + 下 (unten) + X-Konstruktion dar. Im Grunde genommen kann diese Unterkonstruktion drei metaphorische Konstruktionsbedeutungen tragen. Ich möchte mir diese Bedeu‐ tungen anhand von den nachstehenden sechs Beispielen näher anschauen. Eine zentrale Konstruktionsbedeutung von X + X + 下 (unten) + X liegt bei dem niedrigen sozialen Rang: wenn man auf einer höheren Position (z. B. Kaiser oder hoher Hofbeamter) die Gelehrten oder Wiesen als Think Tank gewinnen will, respektiert man auch sie, obwohl sie in einer niedrigen gesellschaftlichen Position sind (vgl. 礼贤下士, 不耻下问 ): 194 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="195"?> 不耻下问 (nicht + schämen + unten + fragen): man fühlt keine Scham, wenn man Leute befragt, die nicht so belesen sind und sich auf einem niedrigen beruflichen Rang befinden. 礼贤下士 (Ritual + Wiese + unten + Gelehrte): höflich und ritualvoll mit Wiesen umgehen und sich in einer bescheidenen Art und Weise zu den Gelehrten gesellen bzw. mit ihnen befreunden. Bezeichnet meistens, dass ein Kaiser oder ein hoher Hofbeamter die Talentierten respektiert und versucht, sie als Personal zu gewinnen. Die zweite Konstruktionsbedeutung kann mit der Metapher UNTEN IST NIED‐ RIGE QUALITÄT UND SCHLECHT umgedeutet werden: 等而下之 (Rang + und + unten + von): ein Rang niedriger. Bedeutet, dass etwas unter einem bestimmten Standard ist. 拖人下水 (ziehen + Mensch + unten + Wasser): die anderen ins Wasser ziehen. Bedeutet, dass jemand die anderen verführt, um etwas Schlechtes zu unternehmen. Oder bezeichnet, dass jemand die anderen in eine ungünstige Situation geraten lässt. Die letzte auffällige Konstruktionsbedeutung hat mit der Bedeutung „Unterwür‐ figkeit“ zu tun: 甘拜下风 (willig + beugen + unten + Wind): jemand ist bereit freiwillig in einer niederen Position zu sein. Bedeutet, dass jemand einen anderen Menschen ganz herzlich respektiert und gesteht, dass der andere Mensch kompetenter ist. 柔声下气 (sanft + Geräusch + unten + Gas): man redet mit einer sanften Stimme. Bezeichnet, dass jemand bescheiden, gehorsam und unterwürfig ist. XXXR 251 Chengyu-Konstruktionen in der vorliegenden Untersuchung teilen ein gemeinsames XXXR-Muster. Die folgende Tabelle dokumentiert die häufigsten zehn Unterkonstruktionen: Nummer Unterkonstruktion Variation Frequenz 1 X + X + X + 下 (unten) 32 3738 2 X + X + X + 出 (hinausgehen) 17 4488 3 X + X + X + 中 (mitten) 15 340 4 X + X + X + 起 (aufstehen) 12 3381 5 X + X + X + 外 (außen) 12 1514 6 X + X + X + 上 (oben) 10 1516 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 195 <?page no="196"?> Nummer Unterkonstruktion Variation Frequenz 7 X + X + X + 前 (vorne) 10 1426 8 X + X + X + 归 (zurückkehren) 9 2282 9 X + X + X + 入 (hineingehen) 7 1542 10 X + X + X + 返 (zurückkommen) 7 934 Tab. 36: Die häufigsten 10 Chengyu-Konstruktionen mit dem Muster XXXR Obwohl die Unterkonstruktionen wie X + X + X + 出 (hinausgehen) und deren komplementäre Unterkonstruktion X + X + X + 入 (hineingehen) in die Top-10-Liste eindringen können, befinden sich die Produktivität sowie die Gebrauchshäufigkeit der jeweiligen Unterkonstruktionen aber auch auf unter‐ schiedlichen Graden. Hier spielt das Prinzip der morphologischen Ikonizität wiederum eine wichtige Rolle. Wer sich mit der Leserichtung der chinesischen Sprache auskennt, weiß bestimmt, dass man moderne chinesischen Texte wie im Deutschen und Engli‐ schen von links nach rechts und von oben nach unten die liest. Jedoch ist die Leserichtung der alten chinesischen Sprache sowie das Layout der Bücher ganz anders (von oben nach unten und von rechts nach links). Betrachtet man die vier Schriftzeichen in einer Chengyu-Konstruktion als ein Rohr, stellt das erste linke Schriftzeichen den Eingang dieses Rohrs dar und das letzte Schriftzeichen rechts den Ausgang dieses Rohrs. Von daher kann es zum Teil erklären, warum die Unterkonstruktion X + X + X + 出 (hinausgehen) (V = 17, F = 4488) deutlich mehr Variationen und Belege im Korpus hat als die komplementäre Unterkonstruktion X + X + X + 入 (hineingehen) (V = 7, F = 1542): 和盘托出 (und + Platte + stützen + hinausgehen): den Teller und die Sachen auf dem Teller zusammen herausholen. Bezeichnet, dass man alles ohne Vorbehalt zeigt oder man die Wahrheiten erzählt (F = 300) 脱口而出 (ausziehen + Mund + und + hinausgehen): man sagt etwas, ohne weiter‐ zudenken. Bedeutet auch, dass jemand ein ausgezeichnetes Gedächtnis besitzt und vieles aufsagt (F = 744) 冲口而出 (vorstoßen + Mund + und + hinausgehen): man sagt etwas, ohne weiter‐ zudenken. Bedeutet auch, dass jemand ein ausgezeichnetes Gedächtnis besitzt und vieles aufsagt (F = 138) Besonders interessant ist die unterschiedliche Gebrauchsfrequenz der letzten beiden Chengyu-Konstruktionen, obwohl sie drei gemeinsame Filler in dieser 196 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="197"?> Konstruktion teilen. Der einzige Unterschied besteht in der ersten variablen Stelle dieser Konstruktion. Mit dem Lexem 脱 (ausziehen) wird eine Außen‐ metapher zum Ausdruck gebracht wird, die mit der Außenmetapher an der vierten Stelle, die durch die Besetzung der stabilen Stelle von 出 (hinausgehen) gekennzeichnet ist, framesemantisch eng verwoben ist. Jedoch wird durch die Besetzung der ersten Stelle durch das Lexem 冲 (vorstoßen) die Außenmetapher nur angedeutet. Diese unterschiedliche Gebrauchsfrequenz im Korpus zeigt, dass man in der Regel bevorzugt, die aktivierten Metapher kohärent und explizit in einer Chengyu-Konstruktion zum Ausdruck zu bringen. So wird zum Beispiel die mentale Verarbeitung erleichtert und dadurch die entsprechende Konstruktion mehrfach abgerufen bzw. zum Gebrauchseinsatz gebracht. Dieses Phänomen lässt sich weiter auch in den folgenden X + X + X + 入 -Konstruktionen beobachten: 趁虚而入 (nutzen + Schwäche + und + hineingehen): den Gegner angreifen, wenn er fahrlässig und schwach ist (F = 47) 乘虚而入 (fahren/ ausnutzen + Schwäche + und + hineingehen): den Gegner an‐ greifen, wenn er fahrlässig und schwach ist (F = 294) Jedoch spielt hier die Besetzung der ersten zwei Stellen eine wichtige Rolle. Die beiden Konstruktionen bedeuten, dass man die Schwäche bzw. die Fahrlässigkeit der Gegner ausnutzen soll, um ihn anzugreifen bzw. zu besiegen. Das Lexem 乘 (fahren/ ausnutzen) kann zum Beispiel reibungslos mit der nachstehenden stabilen Stelle an der zweiten Position dieser Konstruktion zusammen diese Bedeutung zur Sprache bringen. Die beiden Lexeme stehen so in einer noch engeren Beziehung als in der Konstruktion mit 趁 (nutzen). Darüber hinaus sind auch noch in dieser Konstruktionskategorie unter‐ schiedliche OBENbzw. UNTEN-Metaphern zu sehen. In der folgenden Tabelle werden einige Beispielkonstruktionen aufgeführt: OBEN-Metaphern in der XXXR-Konstruktion KONTROLLE AUSÜBEN UND MÄCHTIG IST OBEN 股掌之上 (Schenkel + Handfläche + Genitiv (veraltet) + oben): bedeutet, dass man Menschen oder Sachverhalte komplett unter Kontrolle bringen kann (F = 39) 欺君罔上 (betrügen + Kaiser + lügen + oben): den Kaiser betrügen (F = 4) -POSITIVE ENTWICKLUNG IST OBEN 蒸蒸日上 (dämpfen + dämpfen + Sonne + oben): bedeutet, dass Karriere oder andere Sachen immer in eine positive Richtung entwickeln (F = 684) 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 197 <?page no="198"?> OBEN-Metaphern in der XXXR-Konstruktion GUTE ENTSCHEIDUNG IST OBEN 攻心为上 (angreifen + Herz + für + oben): psychisch den Gegner anzugreifen ist die beste Strategie (F = 23) UNTEN-Metaphern in der XXXR-Konstruktion ABHÄNGIGSEIN IST UNTEN 寄人篱下 (abhängen + Mensch + Zaun + unten): man ist von der anderen Person abhängig (F = 181) -NEGATIVE ENTWICKLUNG IST UNTEN 世风日下 (Welt + Wind + Sonne + unten): die Gesellschaft ist moralisch verwahrlost (F = 91) 每况愈下 (jeder + Situation + immer + unten): die Situation verschlechtert sich (F = 527) Tab. 37: OBEN-UNTEN-Metaphern in der XXXR-Konstruktion - 5.3.2.2 Muster 2: Chengyu-Konstruktion mit zwei Raumlexemen In der zweiten Kategorie, nämlich Chengyu-Konstruktionen mit zwei Raum‐ lexemen, sind insgesamt die folgenden sechs konkreten Realisierungen der Konstruktion möglich: RRXX, XXRR, RXXR, RXRX, XRXR, XRRX. Dieses Muster bildet hinter der Chengyu-Konstruktion mit einem Raumlexemen die zweitgrößte Gruppe der Chengyu-Konstruktionen mit Raumbegriffen in der chinesischen Sprache und 475 unterschiedliche Unterkonstruktionen sind in der vorliegenden Untersuchung verzeichnet worden. Eine besonders auffällige Eigenschaft dieser Muster besteht in der Relation zwischen den beiden Raum‐ begriffen in dieser Konstruktion. Die beiden Filler, nämlich die zwei Rs in dieser Konstruktion, stehen auf der formalen und semantischen Ebene, in einer sehr engen Relation. Diese Relation kann zum Beispiel synonymisch, antonymisch oder polar sein: 沉 (sinken) + X + 落 (fallen) + X, 入 (hinein-) + X + X + 出 (hinaus-) oder X + 东 (Osten) + X + 西 (Westen). Im Folgenden werden die sechs konkreten Konstruktionen innerhalb vom Muster 2 etwas ausführlicher auf der formalen Ebene betrachtet: RRXX In der vorliegenden Untersuchung sind 65 unterschiedliche Unterkonstrukti‐ onen in der Konstruktion RRXX zu finden. Die zwei Filler der R-Stellen sind typischerweise zwei gegensätzliche Pole im Raum. Dieser Konstruktion wird daher die Bedeutung „einerseits … anderseits …“ zugeschrieben. Die beiden 198 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="199"?> inhaltlich gleichrangigen Aspekte, die hinter den beiden R-Stellen auftreten, können eine Verstärkung zum Ausdruck bringen: 表里如一 (Oberfläche + Innenfläche + wie + dasselbe): Die Oberfläche stimmt mit der Innenfläche überein. Bedeutet, dass das Denken und das Handeln einer Person einstimmig sind. 进退两难 (vorwärts + rückwärts + zwei + schwierig): Man ist in eine schwierige Situation gekommen, dass man sich weder vorwärts noch rückwärts bewegen kann. 里外夹攻 (innen + außen + klemmen + angreifen): Man muss kräftigen Widerstand von innen und außen hinnehmen. 上下其手 (oben + unten + sein/ ihr + Hand): bedeutet, dass man heimlich mit anderen handelt, damit man sich einen Vorteil verschafft oder einem anderen zu schaden versucht. 纵横交错 (longitudinal + horizontal + überschneiden + falsch): die Sache kreuzen sich quer und durchkreuzen sich. bedeutet, dass eine Sache oder ein Sachverhalt komplex ist. 左右为难 (links + rechts + für + schwierig): Egal welche Entscheidung man trifft, ist diese nicht ideal. Jedoch können die beiden R-Stellen von semantisch benachbarten Begriffen besetzt werden. Semantisch benachbarte Begriffe sind die Konzepte, die durch ihre wechselseitige Bezogenheit semantisch und konzeptuell eng miteinander verbunden sind. Zum Beispiel befindet sich eine Person in einer höheren Posi‐ tion, wenn sie aufsteigt. Die Lexeme „hoch“ und „steigen“ sind in diesem Sinne die semantisch benachbarten Konzepte. In der vorliegenden Untersuchung sind die folgenden Beispielkonstruktionen zu nennen: 深入人心 (tief + hineingehen + Mensch + Herz): bedeutet, dass die Gedanken, Ideen oder Lehrsätze von den anderen akzeptiert werden. 转弯抹角 (drehen + krumm + schmieren + Ecke): bezeichnet ursprünglich die gewundenen Wege. Bedeutet, dass man mit Umschweifen redet und nicht auf direkte Art und Weise spricht. 登高一呼 (steigen + hoch + eins + schreien): wenn die Persönlichkeiten mit viel Einfluss auf eine Sache etwas initiieren bzw. für etwas appellieren, ist die Auswirkung enorm. 高抬贵手 (hoch + heben + wertvoll + Hand): eine Höflichkeitsfloskel, um Verzeihung oder Verständnis der anderen zu bitten. Wenn Sie Ihre wertvolle Hand hochheben können, kann ich unter Ihre Hand gehen. Bedeutet, dass ich mich in einer besseren Lage befinden kann, wenn Sie nicht zu kritisch mir gegenüber sind. Darüber hinaus kann es in der RRXX-Konstruktion auch vorkommen, dass die zwei R-Filler vom gleichen Raumkonzept besetzt werden. Metrisch gesehen 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 199 <?page no="200"?> kann diese Unterkonstruktion mit der Formel AABC umgeschrieben werden. Das letzte Beispiel unten besteht sogar nur aus zwei wiederholten Lexemen und lässt sich mit der metrischen Formel AABB in der chinesischen Sprache umformulieren. Die beiden R-Filler werden in der Regel Lexeme mit entweder steigendem (vgl. 扬扬 , [yang 35 ] [yang 35 ]; 悬悬 , [xuan 35 ] [xuan 35 ]) oder fallendem Ton (vgl. 落落 , [luo 51 ] [luo 51 ]; 正正 , [zheng 51 ] [zheng 51 ]) realisiert: 落落大方 (fallen + fallen + groß + eckig): jemand ist offenherzig und aufgeschlossen, das Verhalten ist angemessen. 扬扬得意 (heben + heben + bekommen + Sinn): bezeichnet, dass jemand ganz zufrieden und stolz ist. 正正堂堂 (aufrichtig + aufrichtig + Saal + Saal): Bezeichnung für Aufrichtigkeit 悬悬而望 (hängen + hängen + und + schauen): man wartet fieberhaft auf etwas oder jemanden XXRR Diese Konstruktion weist insgesamt 45 Unterkonstruktionen in der Untersu‐ chung auf. Ähnlich wie die RRXX-Konstruktion werden die beiden stabilen Filler der R-Slots meistens von zwei gegensätzlichen Lexemen besetzt: 宦海沉浮 (Beamter + See + sinken + treiben): Bezeichnung für das holprige Erlebnis als Beamter in der politischen Welt. 不知高低 (nicht + wissen + hoch + niedrig): bedeutet, dass jemand sich nicht situationsgemäß verhält und redet. 老泪纵横 (alt + Träne + longitudinal + horizontal): bedeutet, dass eine alte Person sehr traurig weint und die Tränen sind auf dem ganzen Gesicht verteilt. 是非曲直 (Richtigkeit + Falschheit + gebogen + gerade): Richtigkeit und Falschheit, Angemessenheit und Unangemessenheit. Bezeichnung für Urteile über einer Sache. Auch die semantisch benachbarten Konzepte können die R-Slots besetzen. Im Folgenden sind einige Beispiele dafür: 孤军深入 (allein + Armee + tief + hineingehen): hilflose Armee marschiert in die Zone der Feinde ein und bekämpft sie alleine. 不识抬举 (nicht + kennen + aufziehen + heben): bedeutet, dass jemand den guten Vorschlag der anderen nicht hört bzw. die gute Absicht der anderen nicht wertschätzt. 不可逾越 (nicht + dürfen + übertreffen + überschreiten): etwas darf nicht über‐ schritten werden. bedeutet, dass das Hindernis riesig ist, wenn man das Ziel unbedingt erreichen will. 明镜高悬 (hell + Spiegel + hoch + hängen): bedeutet, dass die Beamten richtig und gerecht die Fälle beurteilen können und keine Person leidet unter Ungerechtigkeit. 200 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="201"?> Darüber hinaus können die beiden stabilen R-Stellen im Muster XXRR gleich‐ zeitig von demselben Wort besetzt werden (also im Sinne von Reduplikation der einen R-Stelle). Oder es kann auch durchaus sein, dass die beiden X-Stellen und die beiden R-Stellen jeweils durch Reduplikationen besetzt werden können. In diesem Fall können die durch Reduplikationen entstandenen Konstruktionen die dargestellte Sache oder Person veranschaulichen bzw. präzisieren. Auch der Klang der Konstruktionen wird durch die doppelte Reduplikation sanfter und harmonischer: 千里迢迢 (tausend + Meile + fern + fern): Beschreibung für eine lange Entfernung 沸沸扬扬 (sieden + sieden + heben + heben): wie das siedende Wasser brodelnd. Bezeichnung für eine laute und hitzige Diskussion. 昏昏沉沉 (schwindlig + schwindlig + sinken + sinken): jemandem ist schwindlig und die Person ist nicht vernünftig 纷纷扬扬 (viel und durcheinander + viel und durcheinander + heben + heben): beschreibt, dass Schneeflocken, Blumen oder Baumblättern massiv und überall fallen. Kann auch für riesige Diskussionen verwendet werden. RXXR Diese Konstruktion besitzt 27 Unterkonstruktionen und die häufigsten Chengyu-Konstruktionen mit diesem RXXR-Muster werden in der nachfol‐ genden Tabelle aufgelistet: Nummer Unterkonstruktion Variation Frequenz 1 归 (zurückkehren) + X + X + 底 (Boden) 2 1970 2 从 (aus) + X + X + 降 (fallen)/ 落 (fallen) 3 595 3 出 (hinaus-) + X + X + 外 (außen) 2 462 4 东 (Osten) + X + X + 起 (aufstehen) 2 478 5 高 (hoch) + X + X + 攀 (klettern)/ 登 ( steigen) 2 250 Tab. 38: Die häufigsten 5 Chengyu-Konstruktionen mit dem Muster RXXR Bei diesem Muster ist besonders interessant anzumerken, dass die Variationen innerhalb jeder Unterkonstruktion dieselbe Bedeutung zum Ausdruck bringen (außer einer Variation in der Gruppe 2). Jedoch variiert die Vorkommensfre‐ quenz im Korpus stark: 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 201 <?page no="202"?> Gruppe 1: 归根结底 (zurückkehren + Wurzel + zusammenfassen/ Knoten + Boden): im Wesentlichen (F = 857) 归根到底 (zurückkehren + Wurzel + ankommen + Boden): im Wesentlichen (F = 1113) Meiner Ansicht nach spielen die prosodische Zusammensetzung der beiden Chengyu-Konstruktionen sowie die semantische Kohärenz des dritten Fillers mit dem ganzen semantischen Deutungsrahmen der Chengyu-Konstruktion bei der unterschiedlichen Gebrauchsfrequenz eine Rolle. Das prosodische Muster, das 归根到底 ([kweɪ 55 ] [kən 55 ] [tɑʊ 51 ] [ti 214 ]) verfolgt, ist 1143, während 归根结 底 ([kweɪ 55 ] [kən 55 ] [tɕjɛ 35 ] [ti 214 ]) ein prosodisches Muster von 1123 aufweist. Das Ergebnis aus dem letzten Unterkapitel 5.3.1 zeigt auch, dass das prosodische Muster 1143 (Anzahl der Variationen = 16) mehr als dreimal so oft vorkommt wie das prosodische Muster 1123 (Anzahl der Variationen = 5) in den untersuchten Chengyu-Konstruktionen. Zudem ist der frame-semantische Zusammenhang zwischen 归 (zurückkommen) und 到 (ankommen) enger als der zwischen 归 (zurückkommen) und 结 (zusammenfassen/ Knoten): Die beiden Konstruktionen teilen die Bedeutung „im Wesentlichen“. In der Konstruktion spielt die Metapher DAS WESENTLICHE IST UNSICHTBAR UND BEFINDET SICH UNTEN eine gewichtige Rolle bei der Gestaltung der Konstruktionsbedeutung. Die beiden Filler aus jeweils der zweiten und vierten Stelle, nämlich 根 (Wurzel) und 底 (Boden), symbolisieren diese UNTEN-Metapher und unterstützen diesen metaphorischen Deutungsrahmen. Die anderen zwei Filler 归 (zurückkommen) und 到 (ankommen) verstärken dann diesen metaphorischen Frame im Sinne von „auf das Unsichtbare/ Wesentliche unten zurückkommen“ oder „am Boden unten ankommen“. Jedoch wird diese metaphorische Verstärkung nicht durch die Besetzung der dritten Stelle vom Lexem 结 (zusammenfassen/ Knoten) realisiert. Die Analyse oben macht klar, dass die prosodischen Eigenschaften und die framesemantischen Zusammensetzungen der beiden Konstruktionen zusammen zu unterschiedlichen Graden der Gebrauchsfrequenz geführt haben. Gruppe 2: 从宽发落 (aus + breit + verteilen + fallen): etwas mit einer lockeren Regel behandeln (F = 16) 从轻发落 (aus + leicht/ sanft + verteilen + fallen): etwas mit einer lockeren Regel behandeln (F = 68) Im Gegensatz zu den Beispielen aus Gruppe 1 spielt der prosodische Faktor der beiden Konstruktionen in Gruppe 2 anscheinend keine Rolle hinsichtlich der verschiedenen Frequenzen beim Sprachgebrauch, weil die beiden Chengyu-Kon‐ 202 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="203"?> struktionen dasselbe prosodische Muster (2114) aufweisen ( 从宽发落 [tsʰʊŋ 35 ] [kʰwan 55 ] [fa 55 ] [luɔ 51 ] und 从轻发落 [tsʰʊŋ 35 ] [tɕʰɪŋ 55 ] [fa 55 ] [luɔ 51 ]). Die unterschied‐ liche Konstruktionsfrequenz hängt in diesem spezifischen Fall von der framese‐ mantischen Beschränkung innerhalb dieser Chengyu-Konstruktion zusammen. Die letzte stabile Stelle der beiden Konstruktionen wird von 落 (fallen) besetzt. Dieses Bewegungsverb kann zum Beispiel einen Bedeutungsrahmen mit der physischen Schwerkraft aktivieren: Sachen können aufgrund der Schwerkraft auf der Erde von oben nach unten fallen. Die variable Stelle in der zweiten Position in dieser Konstruktion erfordert einen semantischen Filler, der mit diesem Schwerkraft-Frame eine Kohärenz aufbauen kann. Aus den beiden konkurrie‐ renden Lexemen, nämlich 宽 (breit) und 轻 (leicht/ sanft), kann das letzte Lexem wesentlich besser in den Schwerkraft-Frame integriert werden, weil das Lexem 轻 (leicht/ sanft) sich ebenfalls auf die Beschreibung des Gewichts bzw. die genaue Modifikation der Art des Fallens (im Sinne von „sanft fallen“) bezieht. Hingegen nimmt das Lexem 宽 (breit) Bezug nur auf eine größere räumliche Ausdehnung, was weniger zum Schwerkraft-Frame passt. Die Analyse verdeutlicht, dass der frame-semantische Einfluss auf die Gebrauchsfrequenz von zwei Konstruktionen mit derselben Bedeutung und prosodischen Struktur ziemlich stark ist. Gruppe 3: 出人意外 (hinaus + Mensch + Idee + außen): etwas ist außerhalb der Erwartung, nicht erwartet (F = 227) 出乎意外 (hinaus + Hu, Interjektion im Altchinesischen + Idee + außen): etwas ist außerhalb der Erwartung, nicht erwartet (F = 235) Der Frequenzunterschied der oben aufgezeigten Chengyu-Konstruktionen ist minimal und die Konstruktion 出乎意外 (F = 235) ist mit 8 Korpusbelegen nur geringfügig häufiger als ihr Konstruktionspendant. Der minimale Unterschied kann trotzdem auf die verschiedenen Grade an Konventionalität der Zusam‐ mensetzung von der ersten und der zweiten Stelle zurückgeführt werden. Das Kompositum 出乎 ist eine verfestigte zweisilbige Kompositum-Konstruktion im Chinesischen, die einen eigenständigen Eintrag im Standradwörterbuch besitzt und über die Bedeutungen von 1. aus einem bestimmten Anlass oder Gefühl und 2. über ein bestimmtes Ausmaß verfügt. Jedoch kann das Kompositum 出人 nur sehr beschränkt in den folgenden Chengyu-Konstruktionen auftreten. Ein eigener Lexikoneintrag für dieses Kompositum ist leider in keinem gängigen chinesischen Standardwörterbuch auffindbar: 出人头地 (hinaus + Mensch + Kopf + Boden): über die anderen herausragen, in einer sozial höheren Lage gegenüber den anderen sein (F = 394) 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 203 <?page no="204"?> 出人意料 (hinaus + Mensch + Idee + Material): etwas ist außerhalb der Erwartung, nicht erwartet (F = 1995) 出人意表 (hinaus + Mensch + Idee + Ausdruck/ Formular/ Uhr): etwas ist außerhalb der Erwartung, nicht erwartet (F = 227) Jedoch ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die Vorkommenshäufigkeit von 出人意料 im modernen chinesischen Korpus sogar wesentlich höher ist als die von 出乎意外 . Dies hat wahrscheinlich damit zu tun, dass die Besetzung der zweiten variablen Stelle in dieser Chengyu-Konstruktion durch eine häufig genutzte Interjektion ( 乎 ) aus dem Altchinesischen von den zeitgenössischen chinesischen Sprachbenutzern als etwas altmodisch, nicht zeitgemäß und ge‐ stelzt betrachtet wird. Gruppe 4: 东山再起 (Osten + Berg + wieder + aufstehen): bedeutet, 1) dass jemand lange Zeit nach der Pensionierung oder Abgeschiedenheit wieder wichtige Positionen übernimmt; 2) dass man nach Machtverlust wieder an Macht gewinnt (F = 476) 东山复起 (Osten + Berg + wiederholt + aufstehen): bedeutet, 1) dass jemand lange Zeit nach der Pensionierung oder Abgeschiedenheit wieder wichtige Positionen übernimmt; 2) dass man nach Machtverlust wieder an Macht gewinnt (F = 2) Die sich stark voneinander unterscheidende Konstruktionsfrequenz im Sprach‐ gebrauch der beiden Konstruktionen aus Gruppe 4 haben eine gemeinsame tonale Gesamtstruktur 1143 ( 东山再起 [tʊŋ 55 ] [ʂan 55 ] [tsaɪ 51 ] [tɕʰi 214 ] und 东山复 起 [tʊŋ 55 ] [ʂan 55 ] [fu 51 ] [tɕʰi 214 ]). Nur die Besetzung der dritten variablen Stelle in der Konstruktion 东 + 山 + X + 起 führt zu dieser drastischen Frequenz. Im mo‐ dernen chinesischen Sprachgebrauch ist das Kompositum 复起 ziemlich selten und besonders die Verwendung von 复 (wiederholt) lässt diese Konstruktion im Schatten des Altchinesischen stehen. Hingegen ist das Lexem 再 (wieder) ein sehr einfaches Grundlexem sowohl im Altchinesischen als auch im modernen Chinesischen. Auch die Kombination mit dem Filler an der vierten Stelle klingt nicht altmodisch und unnatürlich. Gruppe 5: 高不可攀 (hoch + nicht + können + klettern): etwas ist so hoch, dass man es nicht durch Klettern erreichen kann. Bedeutet, 1) dass etwas nicht erreichbar ist; 2) dass man nicht mit einer Person umgehen kann, weil sie sich auf einer hohen Position befindet. (F-=-248) 高不可登 (hoch + nicht + können + steigen): etwas ist so hoch, dass man nicht durch Klettern erreichen kann. Bedeutet, 1) dass etwas nicht erreichbar ist; 2) dass man nicht mit einer Person umgehen kann, weil sie sich auf einer hohen Position befindet. (F = 2) 204 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="205"?> Die Vorkommensfrequenz der beiden Chengyu-Konstruktionen ist signifikant unterschiedlich. Besonders wenn man noch die zwei Korpusbelege für die Kon‐ struktion 高不可登 genauer betrachtet, weiß man sofort, dass es sich bei beiden Belegen lediglich um zwei Einträge aus dem Wörterbuch handelt. Oder anders gesagt kann kein einziger authentischer Sprachgebrauch dieser Konstruktion im CCL-Korpus verzeichnet werden. Jedoch unterscheiden sich die beiden Kon‐ struktionen an der vierten Stelle voneinander. 攀登 (erklettern) ist ein zweisilbiges Kompositum im Chinesischen und die beiden Konstruktionen teilen jeweils das Wort am Anfang (WA) und das Wort am Ende (WE) in ihren vierten Stellen. Davon kann man folgende Hypothese ableiten: Wenn die anderen drei Stellen gleich besetzt werden und die gleiche Bedeutung tragen, wird eine Chengyu-Konstruktion, die ein Wort am Anfang (WA) eines zweisilbigen Kompositums benutzt, häufiger gebraucht als eine Konstruktion, die ein Wort am Ende (WE) desselben zweisilbigen Kompositums benutzt. Um diese Hypothese zu überprüfen, werden beispielsweise noch die nachstehenden Chengyu-Konstruktionen aus der Untersuchung gefunden: Nummer Kompo‐ situm Chengyu-Konstruktionen jeweils mit WA und WE des Kompositums und Bedeutung der Chengyu-Konstruktionen Fre‐ quenz 01 着落 (F = 1288) 大处着眼 大处落眼 aus einer breiten Perspektive eine Sache oder einen Sachverhalt beobachten und über das Hauptproblem nachdenken 147 1 02 丧失 (F = 8016) 丧魂落魄 失魂落魄 Die eigene Seele verlieren. Bezeichnung für Nervosität und Panik 67 219 03 背负 (F = 923) 忘恩背义 忘恩负义 die Gefälligkeiten, die erhaltene Hilfe oder Unterstützung von den anderen Menschen vergessen und die anderen zu‐ gunsten des eigenen Interesses verraten 4 367 04 应当 (F = 56982) 应机立断 当机立断 eine Chance erwischen und sofort eine Entscheidung ohne jegliches Zögern treffen 1 519 05 放纵 (F = 936) 放虎归山 纵虎归山 Tiger in die Berge loslassen. Bezeichnet, dass man die Bösen loslässt und somit Probleme bzw. Risiko hinterlässt 62 7 06 正直 (F = 2430) 刚正不阿 刚直不阿 jemand ist aufrichtig und nicht schmeichlerisch 149 132 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 205 <?page no="206"?> Nummer Kompo‐ situm Chengyu-Konstruktionen jeweils mit WA und WE des Kompositums und Bedeutung der Chengyu-Konstruktionen Fre‐ quenz 07 胜利 (F = 34834) 无往不胜 无往不利 man erzielt überall Erfolge 55 33 08 安宁 (F = 3472) 坐立不安 坐立不宁 Man fühlt sich nicht gut, egal ob man sitzt oder steht. Bezeichnet, dass man nervös und von Unruhe besessen ist 500 12 09 讨伐 (F = 767) 南征北讨 南征北伐 überall kämpfen 10 7 10 逃走 (F = 2475) 落荒而逃 落荒而走 vom Schlachtfeld fliehen und in die Wildnis rennen. Bezeichnung für eine bittere Niederlage im Krieg 161 17 11 脾肺 (F = 43) 沁人心脾 沁人心肺 man fühlt sich wohl, wenn man frische bzw. aromatische Luft tankt oder kühle Getränke trinkt. Bezeichnung auch für das Gefühl beim Lesen von schönen Ge‐ dichten und Texten 263 17 12 肺腑 (F = 1320) 沁人心肺 沁人心腑 man fühlt sich wohl, wenn man frische bzw. aromatische Luft tankt oder kühle Getränke trinkt. Bezeichnung auch für das Gefühl beim Lesen von schönen Ge‐ dichten und Texten 17 8 Tab. 39: Zweisilbige Komposita, deren zwei Integrationen in bedeutungsgleiche Kon‐ struktionen und die Vorkommensfrequenz der Konstruktionen im CCL-Korpus; F: Frequenz des zweisilbigen Kompositums im CCL-Korpus Die explorative Studie zur Überprüfung der aufgestellten Hypothese wird in den meisten oben aufgezeigten Fällen bestätigt. Die gefundenen 12 Konstruk‐ tionspaare beziehen sich jeweils auf ein häufig gebrauchtes und zweisilbiges Kompositum. In jedem Chengyu-Konstruktionspaar sind drei Stellen der beiden Konstruktionen mit denselben Lexemen besetzt worden. Und jedes Konstrukti‐ onspaar hat dieselbe Bedeutung. Der einzige Unterschied innerhalb der beiden Konstruktionen besteht nur in einer variablen Stelle. Diese variable Stelle wird jeweils durch WA oder WE des relevanten Kompositums besetzt. Die Konstruktionen, die durch WA realisiert werden, sind meistens beträchtlich häufiger im Korpus belegt als die durch WE. Weil dieses Prinzip sich auf 206 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="207"?> die morphologische Abfolge des relevanten Kompositums bezieht, würde ich diese Hypothese als „morphologisch ikonische Produktivitätshypothese“ bezeichnen. Jedoch könnten die prosodischen Beschränkungen in den drei Gegenbeispielen oben (vgl. Nr.-02-04) bei der Frequenz eine Rolle spielen: Konstruktion Prosodische Struktur Tonale Distribution Frequenz 丧魂落魄 [sɑŋ 51 ] [xuən 35 ] [luɔ 51 ] [pʰɔ 51 ] 4244 67 失魂落魄 [ʂɚ 55 ] [xuən 35 ] [luɔ 51 ] [pʰɔ 51 ] 1244 219 忘恩背义 [wɑŋ 51 ] [ən 55 ] [peɪ 51 ] [i 51 ] 4144 4 忘恩负义 [wɑŋ 51 ] [ən 55 ] [fu 51 ] [i 51 ] 4144 367 应机立断 [ɪŋ 51 ] [tɕi 55 ] [li 51 ] [twan 51 ] 4144 1 当机立断 [tɑŋ 55 ] [tɕi 55 ] [li 51 ] [twan 51 ] 1144 519 Tab. 40: Gegenbeispiele, ihre prosodischen Strukturen und Frequenz im CCL-Korpus Nur in den Konstruktionen 忘恩背义 und 忘恩负义 werden die Töne gleich verteilt. Zur Erklärung des drastischen Unterschieds bedarf es noch des Einbezugs der anderen Dimensionen, auf die ich in den kommenden anderen Dimensionen der Semantik und der Pragmatik in Kapitel 5.3.3 und 5.3.4 nochmals zurück‐ kommen werde. Die tonalen Distributionen der anderen 4 Chengyu-Konstruk‐ tionen können hingegen schlüssig und elegant die Frequenzunterschiede der Kon‐ struktionen beleuchten. Das Ergebnis der tonalen Distribution aus Kapitel 5.3.1 zeigt, dass die vier Tondistributionen sehr unterschiedlich in der Untersuchung vorkommen: 1244 (N = 53), 4244 (N = 17), 4144 (N = 21) und 1144 (N = 35) (vgl. Tab. 31). Vergleicht man dieses Ergebnis mit den Daten aus der obigen Tabelle kann man die folgende Korrelation feststellen: Je häufiger die Zusammensetzung der Töne ist, desto häufiger erscheint eine der beiden Konstruktionen im CCL-Korpus. Einschließlich der morphologisch ikonischen Produktivität muss für solche Fälle noch der Aspekt der Prosodie berücksichtigt werden. Dies zeigt wiederum, dass Morphologie, Semantik sowie Prosodie in verschiedenen Konstruktionen unterschiedliche Grade der Motiviertheit aufweisen können. RXRX Mit 176 verschiedenen Unterkonstruktionen bildet die Chengyu-Konstruktion mit dem Muster RXRX die häufigste Konstruktion im Muster mit zwei Raum‐ lexemen. Wie bereits angedeutet, stehen die Filler für die zwei R-Slots in 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 207 <?page no="208"?> einer engen Relation zueinander. Genauer betrachtet können die folgenden Raumlexeme als Filler der zwei R-Slots vorkommen: Nummer Unterkonstruktion Variation Frequenz 1 东 (Osten) + X + 西 (Westen) + X 17 1338 2 左 (links) + X + 右 (rechts) + X 10 1052 3 南 (Süden) + X + 北 (Norden) + X 9 601 4 前 (vorne) + X + 后 (hinter) + X 8 1220 5 先 (vorne) + X + 后 (hinter) + X 7 332 6 外 (außen) + X + 内 (innen) + X 5 45 7 出 (hinausgehen) + X + 入 (hinein-) + X 3 551 8 低 (niedrig) + X + 下 (unten) + X 3 354 9 翻 (durchwühlen) + X + 倒 (stürzen) + X 3 299 10 高 (hoch) + X + 深 (tief) + X 3 3 11 高 (hoch) + X + 远 (fern) + X 3 926 12 横 (horizontal) + X + 竖 (vertikal) + X 3 300 13 内 (innen) + X + 外 (außen) + X 3 266 14 上 (oben) + X + 下 (unten) + X 3 111 15 深 (tief) + X + 远 (fern) + X 3 287 16 返 (zurückkommen) + X + 归 (zurückgeben) + X 2 241 17 入 (hinein-) + X + 入 (hinein-) + X 2 235 18 里 (innen) + X + 外 (außen) + X 2 234 19 起 (aufstehen) + X + 回 (drehen) + X 1 779 20 平 (flach) + X + 近 (nah) + X 1 651 Tab. 41: Die häufigsten 20 Chengyu-Konstruktionen mit dem Muster RXRX Aus der oben angeführten Tabelle ist leicht ersichtlich, dass manche RXRX-Kon‐ struktionen häufiger im untersuchten chinesischen Korpus als die anderen vorkommen und mehr konstruktionelle Variationen besitzen. Besonders belegt 208 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="209"?> die 东 (Osten) + X + 西 (Westen) + X-Konstruktion mit 17 Variationen und einer Gesamtfrequenz von 1338 den ersten Platz unter der Kategorie der RXRX-Kon‐ struktion. An dieser Stelle ist es aber auch interessant zu anzumerken, dass die Konstruktion 西 (Westen) + X + 东 (Osten) + X nur eine Variation im Wörterbuch und sogar keinen aktiven Gebrauch im Korpus aufweist. Der einzige Unterschied der beiden Konstruktionen auf der formalen Seite besteht lediglich in der Reihenfolge der zwei Raumbegriffe, nämlich 西 (Westen) und 东 (Osten). In der einen Konstruktion wird die Bezeichnung der Himmelsrichtung Westen nach dem Osten platziert (Variation (V) = 17; Frequenz (F) = 1338) und in der anderen hingegen folgt die Bezeichnung der Himmelsrichtung Osten dem Westen (V = 1; F = 0). Zudem ist dieses Phänomen zum Beispiel deutlich spürbar in den nachstehenden Konstruktionen innerhalb der RXRX-Konstruktion in der chinesischen Sprache: (1) a 左 (links) + X + 右 (rechts) + X: V = 10; F = 1052 - b * 右 (rechts) + X + 左 (links) + X: V = 0; F = 0 (2) a 南 (Süden) + X + 北 (Norden) + X: V = 9; F = 601 - b 北 (Norden) + X + 南 (Süden) + X: V = 1; F = 0 (3) a 上 (oben) + X + 下 (unten) + X: V = 3; F = 111 - b 下 (unten) + X + 上 (oben) + X: V = 1; F = 47 Wenn die beiden Filler für die R-Stellen entweder von vertikalen oder horizon‐ talen Bezeichnungen der Himmelsrichtungen (also Osten - Westen, Norden - Süden) besetzt werden, kann theoretisch die Reihenfolge der beiden Filler in der RXRX-Konstruktion beliebig ausgetauscht werden. Jedoch ist es viel häufiger, dass Süden vor Norden (also unten vor oben) und Osten vor Westen (also rechts vor links) vorkommt. Aber wenn die beiden Filler nicht durch Himmelsrichtungen, sondern durch die einfachen vertikalen bzw. horizontalen Raumlexeme (also links - rechts, oben - unten) besetzt werden, ist die Reihen‐ folge der beiden Filler in der RXRX-Konstruktion nur auf der vertikalen Ebene (also oben + X + unten + X) austauschbar. Eine * 右 (rechts) + X + 左 (links) + X-Konstruktion ist in der chinesischen Sprache nicht realisierbar. Darüber hinaus ist auch zu beobachten, dass die bevorzugte Reihenfolge im Vergleich zu den RXRX-Konstruktionen mit Himmelsrichtungen als Filler der R-Stellen genau umgekehrt ist: 左 (links) + X + 右 (rechts) + X und 上 (oben) + X + 下 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 209 <?page no="210"?> (unten) + X erscheinen statistisch jeweils deutlich mehr als ihre Pendants. Sie verfügen dementsprechend auch über mehr Variationen der Konstruktion. Die Konstruktionen wie 东 (Osten) + X + 西 (Westen) + X und 南 (Süden) + X + 北 (Norden) + X, können die Bedeutung „überall“ tragen, weil die zwei stabilen R-Filler die zwei Pole jeweils der horizontalen bzw. der vertikalen Richtung umfassen. Die beiden variablen Filler-Slots, nämlich die X-Stellen in solchen Konstruktionen, können beispielweise durch zwei Synonyme erfüllt werden: 东奔西走 (Osten + laufen + Westen + gehen): überall hin gehen 东藏西躲 (Osten + verstecken + Westen + vermeiden): überall etwas vermeiden, verstecken 东拉西扯 (Osten + ziehen + Westen + ziehen): überall etwas ziehen, reden ohne Schwerpunkte 南征北战 (Süden + erobern + Norden + bekämpfen): überall kämpfen, viele Schlacht‐ kämpfe erleben 南腔北调 (Süden + Akzent + Norden + Melodie): nicht akzentfrei, überall voller Dialekte 左顾右盼 (links + sehen + rechts + sehen): überall sehen 左图右史 (links + Bilder + rechts + Geschichten): überall sind Bücher, jemand ist Bücherliebhaber Es ist auch wichtig darauf hinzuweisen, dass die meisten Filler der jeweils variablen Slots nicht nur in einer synonymischen Relation zueinanderstehen, sondern zusammen jeweils ein zweisilbiges chinesisches Kompositum aufbauen können: 奔走 (laufen), 躲藏 (vermeiden und verstecken), 拉扯 (ziehen), 征战 (kämpfen) und 腔调 (Akzent). Die Konstruktion RXRX kann einschließlich der Konstruktionsbedeutung „überall“ auch einen Vergleich zwischen den beiden Aspekten, die durch die stabilen Filler der R-Stellen einleiten, anstellen. Diese Konstruktionsbedeutung ist gleichzusetzen mit „auf der einen Seite …, auf der anderen Seite …“. Die zwei variablen Filler mit dieser Kontrast-Bedeutung können keine sinnvollen Komposita zusammenbilden. Sie fungieren nur als eigenständige einsilbige Konstruktion (vgl. 支, 拙, *支拙; 辕, 辙, *辕辙; 橘, 枳, * 橘枳): 左支右拙 (links + stützen + rechts + ungenügend): beschreibt ursprünglich, dass man beim Bogenschießen mit der linken Hand den Bogen hält und mit der rechten Hand die Bogensehne spannt. Bedeutet jetzt, dass man nicht fähig ist, etwas zu tun oder finanziell unfähig ist. 南辕北辙 (Süden + Holzachse + Norden + Spuren): Eigentlich möchte man nach Süden fahren. Jedoch fährt der Wagen nach Norden. Bedeutet, dass die Handlung und das Ziel im Widerspruch stehen. 210 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="211"?> 南橘北枳 (Süden + Orange + Norden + Bitterorange): Wenn man eine Orange aus dem Süden im Norden verpflanzt, wird sie zur Bitterorange. Bedeutet, dass sich dieselbe Spezies mit der Umweltänderung auch drastisch verändern kann. In der Konstruktion 上 (oben) + X + 下 (unten) + X sind die Metapher OBEN IST MÄCHTIG und UNTEN IST NICHT MÄCHTIG besonders auffällig. Daher wird die erste variable Stelle hinter dem Lexem „oben“ mit einem Filler erfüllt, die einen engen Zusammenhang mit den Aktivitäten der Mächtigen aufweisen. Die zweite variable Stelle wird dementsprechend von den Lexemen besetzt, die sich auf die Aktivitäten der Untergeordneten beziehen: 上闻下达 (oben + hören + unten + wissen): lass die Mächtigen hören und die Untergeordneten wissen 上行下效 (oben + behandeln + unten + nachahmen): die Mitarbeiter machen es dem Chef nach (4) a 前 (vorne) + X + 后 (hinter) + X: V = 8; F = 1220 (ikonisch) - b * 后 (hinter) + X + 前 (vorne) + X: V = 0; F = 0 (nicht-ikonisch) (5) a 先 (vorne) + X + 后 (hinter) + X: V = 7; F = 332 (ikonisch) - b * 后 (hinter) + X + 先 (vorne) + X: V = 0; F = 0 (nicht-ikonisch) Die zwei Raumlexeme 前 (vorne) und 后 (hinter) werden in der chinesischen Sprache üblicherweise als Lexeme auf der horizontalen Ebene betrachtet. Be‐ trachtet man die Zeitachse zum Beispiel als eine begrenzte Linie, befindet sich der jetzige Zeitpunkt oder der Sprechort in der Mitte dieser Linie. Die Vergangenheit ist auf der linken Seite dieser Zeitachse (also der vordere Teil dieser Linie) zu sehen und die Zukunft auf der rechten Seite (also der hintere Teil dieser Linie). Die folgenden RXRX-Konstruktionen, in denen die R-Stellen durch „vorne“ und „hinter“ ersetzt werden, weisen eine unidirektionale Muster‐ haftigkeit auf: Der eine stabile Filler „vorne“ muss unbedingt vor dem anderen stabilen Filler „hinter“ stehen (vgl. 4a und 5a). Ein willkürlicher Austausch der Reihenfolge der beiden Filler ist gar nicht möglich (vgl. 4b und 5b). Die Konstruktionen 前 (vorne) + X + 后 (hinter) + X und 先 (vorne) + X + 后 (hinter) + X tragen die Grundbedeutung „Vorzeitigkeit und Nachzeitigkeit“. Erst wenn die Aktion hinter 前 (vorne) bzw. 先 (vorne) abgeschlossen wird, tritt die nachstehende Aktion hinter 后 (hinter) auf, was eine intendierte Ursache-Folge-Kausalität aufweist: 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 211 <?page no="212"?> 前赴后继 (vorne + gehen + hinter + fortsetzen): Im Kampf gehen die Leute vorne ohne Angst voran und die anderen hinten folgen 前因后果 (vorne + Ursache + hinter + Folge): die Ursache und die Folge eines Sachverhalts. Bezeichnung für den ganzen Prozess eines Sachverhalts. 先斩后奏 (vorne + töten + hinter + berichten): Zuerst den Verbrecher töten und danach dem Kaiser berichten. Bedeutet, dass man zuerst etwas unternimmt und erledigt und dies nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Erst danach berichtet man es den Autoritäten bzw. Vorgesetzten. 先公后私 (vorne + Geschäft + hinter + Privatdinge): Geschäft zuerst und Privatsache kommt danach. (6) a 横 (horizontal) + X + 竖 (vertikal) + X: V = 3; F = 300 - b 横 (horizontal) + X + 立 (stehen) + X: V = 1; F = 34 - c 纵 (longitudinal) + X + 横 (horizontal) + X: V = 1; F = 0 Die drei Beispielkonstruktionen aus (6) manifestieren eine andere mögliche Zu‐ sammensetzung von horizontalen sowie vertikalen Lexemen in der RXRX-Kon‐ struktion in der chinesischen Sprache. Die R-Filler aus den Konstruktionen von (1) bis (5) setzen sich jeweils nur mit einer räumlichen Ebene auseinander, entweder horizontal (vgl. 1, 4 und 5) oder vertikal (vgl. 2 und 3). Die drei Konstruktionen aus (6) bestehen jeweils aus einem horizontalen Lexem und einem vertikalen Lexem als Filler. Hier sieht man, dass vor dem vertikalen R-Filler immer ein horizontaler Filler präferiert wird. Dass der horizontale Filler vor dem vertikalen Filler gesetzt wird, scheint eine Seltenheit, die auch nur im Wörterbuch zu finden und nicht im modernen chinesischen Sprachgebrauch aktiv existiert (vgl. der Nullbeleg für die Konstruktion (6c). Außer der horizon‐ talen bzw. der vertikalen Relation kann eine RXRX-Konstruktion auch eine Behälter-Metapher präsentieren: (7) a 内 (innen) + X + 外 (außen) + X: V = 3; F = 266 - b 外 (außen) + X + 内 (innen) + X: V = 5, F = 45 XRXR Das Muster XRXR mit 141 Unterkonstruktionen bildet die zweigrößte Konstruk‐ tion im Muster mit zwei Raumlexemen. In allen Unterkonstruktionen ist die X + 前 (vorne) + X + 后 (hinter)-Konstruktion mit 11 Variationen und 2397 Belegen aus dem untersuchten Korpus am auffälligsten. Jedoch findet man keine 212 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="213"?> einzige Konstruktion wie X + 后 (hinter) + X + 前 (vorne) in unserem Korpus. In der folgenden Tabelle werden die häufigsten 20 Unterkonstruktionen mit dem Muster XRXR dargestellt: Nummer Unterkonstruktion Variation Frequenz 1 X + 前 (vorne) + X + 后 (hinter) 11 2397 2 X + 上 (oben) + X + 下 (unten) 8 651 3 X + 往 (gehen) + X + 来 (kommen) 6 1145 4 X + 来 (kommen) + X + 往 (gehen) 6 599 5 X + 东 (Osten) + X + 西 (Westen) 6 152 6 X + 长 (lang) + X + 短 (kurz) 5 317 7 X + 高 (hoch) + X + 低 (niedrig) 5 95 8 X + 南 (Süden) + X + 北 (Norden) 4 930 9 X + 进 (hineingehen) + X + 退 (austreten) 3 251 10 X + 回 (zurückkehren) + X + 转 (umdrehen) 3 234 11 X + 起 (aufstehen) + X + 落 (fallen) 3 233 12 X + 高 (hoch) + X + 扬 (heben) 2 274 13 X + 高 (hoch) + X + 远 (fern) 2 93 14 X + 前 (vorne) + X + 下 (unten) 2 88 15 X + 里 (innen) + X + 外 (außen) 2 65 16 X + 北 (Norden) + X + 南 (Norden) 2 12 17 X + 近 (nah) + X + 远 (fern) 2 11 18 X + 起 (aufstehen) + X + 伏 (kriechen) 1 1096 19 X + 出 (hinausgehen) + X + 外 (außen) 1 832 20 X + 里 (Innenfläche) + X + 间 (zwischenräum‐ lich) 1 800 Tab. 42: Die häufigsten 20 Chengyu-Konstruktionen mit dem Muster XRXR 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 213 <?page no="214"?> Die Reihenfolge der Filler für die beiden R-Stellen ist interessant, weil die meisten Filler der beiden R-Stellen tatsächlich ein zweisilbiges und polysemi‐ sches Kompositum in der chinesischen Sprache darstellen: X + 前 (vorne) + X + 后 (hinter) → 前后 : 1) früher oder später als ein angegebener Zeitpunkt; 2) von Anfang bis zum Ende (zeitlich); 3) vor und nach einer Sache X + 上 (oben) + X + 下 (unten) → 上下 : 1) von Kopf bis Fuß; 2) die Vorgesetzten und Untergesetzten im Beruf oder die Älteren und die Jüngeren im Alter; 3) von oben nach unten; 4) die Entfernung von oben nach unten; 5) Gutes und Schlechtes, Vorteil und Nachteil, hoch und niedrig X + 往 (gehen) + X + 来 (kommen) → 往来 : 1) Kommen und Gehen; 2) gegenseitig besuchen, sich miteinander befreunden X + 来 (kommen) + X + 往 (gehen) → 来往 : 1) Kommen und Gehen; 2) gegenseitig besuchen, sich miteinander befreunden X + 东 (Osten) + X + 西 (Westen) → 东西 : 1) Osten und Westen; 2) die Entfernung von Osten nach Westen: 3) alle Sachen oder Sachverhalte; 4) gehässige oder liebvolle Personen oder Tiere X + 长 (lang) + X + 短 (kurz) → 长短 : 1) die Größe eines Kleidungsstücks; 2) unerwarteter Unfall (meistens mit Lebensgefahr); 3) Richtiges und Falsches, Gutes und Böses; 4) (in Dialekten) auf jeden Fall X + 高 (hoch) + X + 低 (niedrig) → 高低 : 1) Höhe; 2) Gutes und Schlechtes; 3) auf jeden Fall; 4) endlich; 5) die Angemessenheit beim Reden und Handeln X + 进 (hineingehen) + X + 退 (austreten) → 进退 : 1) vorwärtsmarschieren und zurücktreten; 2) die Angemessenheit besonders beim Reden X + 回 (zurückkehren) + X + 转 (umdrehen) → 回转 : umdrehen X + 起 (aufstehen) + X + 落 (fallen) → 起落 : Wechsel von Höhe und Tiefpunkt X + 高 (hoch) + X + 远 (fern) → 高远 : hoch und tiefgehend X + 起 (aufstehen) + X + 伏 (kriechen) → 起伏 : 1) Auf und Ab; 2) die sich verändernde Beziehung zwischen Staaten, Freunden oder Verliebten Man kann deutlich sehen, dass die Filler der beiden R-Stellen zusammen auch ein sinnvolles Kompositum in der chinesischen Sprache bilden können. Zudem stehen die beiden Filler entweder in einer antonymischen Relation (z.-B. gehen - kommen, hineingehen - austreten, hoch - niedrig, lang - kurz) oder in einer polaren Beziehung zueinander (z.-B. Osten - Westen, Süden - Norden). Im Folgenden möchte ich anhand von X + 前 (vorne) + X + 后 (hinter)-Kon‐ struktion genauer analysieren, welche Konstruktionsbedeutungen diese Kon‐ struktion enthalten können: 214 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="215"?> 鞍前马后 (Sattel + vorne + Pferd + hinter): ein Gefolgter bedient einen Vorgesetzten vor seinem Sattel oder hinter seinem Pferd. Bedeutet, dass jemand schmeichelhaft einen anderen oder seinen Vorgesetzten bedient (F = 52) 承前启后 (folgen + vorne + eröffnen + hinter): die Traditionen der Vorfahren ererben und die zukünftigen Wege einschlagen (F = 591) 光前裕后 (Ruhm erringen + vorne + Vorteil bringen + hinter): für die Vorfahren Ruhm erringen und für die nächsten Generationen Vorteile bringen. Bedeutet, dass jemand einen enormen Beitrag zur Gesellschaft leistet (F = 11) 空前绝后 (Himmel + vorne + aussterben + hinter): etwas existiert vorher nicht und wird auch nicht in der Zukunft vorkommen. Bezeichnung für Einzigartigkeit und Beispiellosigkeit (F = 174) 思前想后 (denken + vorne + denken + hinter): an die Ursachen und Folgen denken. Bedeutet, dass man immer wieder vorsichtig etwas erwägt und sich Gedanken über die Ursachen und Folgen eines Sachverhalts macht (F = 200) 瞻前顾后 (nach vorne schauen + vorne + zurückblicken + hinter): man schaut nach vorne und blickt gleichzeitig auch nach hinten zurück. Bedeutet, dass jemand unentschlossen oder außergewöhnlich vorsichtig ist (F = 174) Die Unterkonstruktion X + 前 (vorne) + X + 后 (hinter) kann mindestens zwei Konstruktionsbedeutungen tragen. Zum einen kann diese Unterkonstruktion wie das Kompositum „ 前后 “, das aus den beiden Fillern der R-Stellen entsteht, die zeitlichen Abfolge eines Sachverhalts zum Ausdruck bringen (z. B. 承前启后 und 光前裕后 ). Wenn aber die beiden variablen Stellen in dieser Unterkonstruktion von semantisch synonymischen Konzepten besetzt werden, dann kann diese Unterkonstruktion zum anderen eine Verstärkung der Handlungsintensivität ausdrücken. Dies lässt sich zum Beispiel in „ 思前想后 “ gut beobachten. Auch im Beispiel „ 瞻前顾后 “ ist auch diese Intensivierung der Handlungen zu sehen. Das Wort „ 瞻 “ (nach vorne schauen) beinhaltet schon die semantische Bedeu‐ tung „nach vorne“ und das Vorkommen der stabilen Stelle „vorne“ in dieser Unterkonstruktion hebt dann die Intensivität dieser Aktion hervor. Dies gilt auch für das Wort „ 顾 “ (zurückblicken). In der Chengyu-Konstruktion „ 鞍前马 后 “ sind die beiden variablen Filler zwar nicht synonymisch. Jedoch gehören „ 鞍 “ (Sattel) und „ 马 “ (Pferd) zu einem gemeinsamen semantischen Feld. Dies intensiviert wiederum den Intensivierungsgrad der Schmeichelhaftigkeit der beschreibenden Person, wenn er rund um den Pferdwagon eines Vorgesetzten schöntuend alles macht. Die Unterkonstruktion X + 上 (oben) + X + 下 (unten) hat in der vorliegenden Korpusuntersuchung 8 Variationen. In dieser Unterkonstruktion spielen die Metaphern HOHER STATUS IST OBEN und NIEDRIGER STATUS IST UNTEN eine gewichtige Rolle in der Konstruktionsbedeutung und dies wird besonders in 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 215 <?page no="216"?> der Chengyu-Konstruktion 欺上瞒下 deutlich spürbar. Mit derselben Bedeutung gibt es noch zwei weitere Unterkonstruktionen. Allerdings ist die Auftretens‐ häufigkeit der beiden weiteren Variationen aber sehr unterschiedlich im Korpus: 欺上瞒下 (betrügen + oben + verheimlichen + unten): die Vorgesetzten betrügen und verheimlichen dies vor den Untergebenen (F = 129) 瞒上欺下 (verheimlichen + oben + betrügen + unten): die Vorgesetzten betrügen verheimlichen dies vor den Untergebenen (F = 14) 欺上罔下 (betrügen + oben + verheimlichen + unten) : die Vorgesetzten betrügen verheimlichen dies vor den Untergebenen (F = 1) Die unterschiedliche Vorkommensfrequenz der drei Unterkonstruktionen mit derselben Bedeutung kann auf die Filler der beiden variablen Slots zurückge‐ führt werden. Wie bereits gezeigt, können die beiden Filler der beiden stabilen Slots meistens ein sinnvolles Kompositum in der chinesischen Sprache formu‐ lieren. Ob die Filler aus den beiden variablen Slots auch zusammen ein sinnvolles zweisilbiges Kompositum bilden können, beeinflusst hier anscheinend auch die Gebrauchsfrequenz. In den oben aufgeführten drei Unterkonstruktionen können nur die beiden Wörter „ 欺 “ (betrügen) und „ 瞒 “ (verheimlichen) ein vernünftiges Kompositum in der chinesischen Sprache aufbauen, nämlich „ 欺瞒 “. Das Kompositum „ 欺罔 “ wird fast nie in der modernen chinesischen Sprache gebraucht. Dies kann auch gut erklären, warum die letzte Unterkonstruktion nur einen Beleg aus dem Korpus besitzt. Mit dem Prinzip der Ikonizität hinsichtlich der morphologischen Abfolge kann man auch beleuchten, warum 欺上瞒下 (betrügen + oben + verheimlichen + unten) wesentlich mehr als 瞒上欺下 (verheimlichen + oben + betrügen + unten) im Korpus belegt ist. Man kann die erste Aktion „Betrügen“ als die Methode betrachten, um etwas zu „verheimlichen“. „Verheimlichen“ ist hier das Ziel eines Betrugs: 1. Man betrügt, um etwas zu verheimlichen. (ikonisch) 2. Man verheimlicht etwas, indem man betrügt. (nicht-ikonisch) XRRX Diese Unterkonstruktion hat 11 unterschiedliche Variationen in der vorlie‐ genden Untersuchung. Die nachstehende Tabelle zeigt sie und ihre Frequenz im Korpus auf. Jedoch weisen sie aus der formalen Sicht keine weiteren signifikanten Besonderheiten auf. Zudem ist die Besetzung der variablen Stellen im Vergleich zu anderen Mustern mit zwei Raumlexemen flexibler: 216 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="217"?> Nummer Variation Frequenz 1 飞来横祸 (fliegen + kommen + horizontal + Unfall) 71 2 奋起直追 (fleißig + aufstehen + gerade + aufholen) 352 3 天下归心 (Himmel + unten + zurückkehren + Herz) 15 4 虎落平川 (Tiger + fallen + flach + Ebene) 8 5 急起直追 (eilig + aufstehen + gerade + aufholen) 201 6 日落西山 (Sonne + fallen + Westen + Berg) 65 7 如左右手 (wie + links + rechts + Hand) 8 8 心向往之 (Herz + gegenüber + gehen + es) 133 9 言归正传 (Wort + zurückkehren + aufrichtig + Biografie) 132 10 叶落归根 (Blatt + fallen + zurückkehren + Wurzel) 90 11 一往深情 (eins + gehen + tief + Emotion) 27 Tab. 43: Die Chengyu-Konstruktionen mit der Muster XRRX - 5.3.2.3 Muster 3: Chengyu-Konstruktion mit drei Raumlexemen Die Chengyu-Konstruktion mit drei Raumlexemen kann in den folgenden vier Mustern in der chinesischen Sprache vorkommen: RRRX, XRRR, RRXR und RXRR. Insgesamt werden 24 mögliche Variationen in der Untersuchung doku‐ mentiert. Die Besetzung der variablen und stabilen Slots der unten aufgeführten zehn Chengyu-Konstruktionen ist im Vergleich zu anderen Mustern mehr oder weniger willkürlich. In der folgenden Tabelle werden alle Konstruktionsvaria‐ tionen mit mindestens je 10 Korpusbelegen aufgeführt: Nummer Muster Variation Frequenz 1 RXRR 长驱直入 (lang + fahren + gerade + hinein) 329 2 举国上下 (heben + Staat + oben + unten) 418 3 - RRXR 纵横天下 (longitudinal + horizontal + Himmel + unten) 31 4 退归林下 (austreten + zurück + Wald + unten) 10 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 217 <?page no="218"?> Nummer Muster Variation Frequenz 5 扬长避短 (heben + lang + meiden + kurz) 677 6 - XRRR 急转直下 (eilig + abbiegen + gerade + unten) 391 7 勇往直前 (mutig + gehen + gerade + vorne) 554 8 家长里短 (Familie + lang + innen + kurz) 75 9 RRRX 内外交困 (innen + außen + kreuzen + schwierig) 99 10 平起平坐 (flach + aufstehen + flach + sitzen) 345 Tab. 44: Die häufigsten Chengyu-Konstruktionen mit drei Raumlexemen - 5.3.2.4 Muster 4: Chengyu-Konstruktion mit vier Raumlexemen Es ist theoretisch möglich, vier Raumlexeme hintereinander zusammenzu‐ hängen und dadurch eine Chengyu-Konstruktion aufzubauen. Diese formale Präsentation derartiger Konstruktionen wird vereinfacht als RRRR bezeichnet. In der empirischen Auswertung finden sich dazu einige Beispiele. Jedoch ist die Produktivität solch einer Konstruktion mit vier Raumlexemen sehr niedrig. In der Analyse sind nur die nachstehenden neun Beispiele mit diesem Muster zu verzeichnen: Nummer Variation Frequenz 1 东倒西歪 (Osten + fallen + Westen + schief) 353 2 东歪西倒 (Osten + schief + Westen + fallen) 36 3 南来北往 (Süden + kommen + Norden + gehen) 315 4 深入浅出 (tief + hineingehen + flach + hinausgehen) 685 5 外宽内深 (außen + breit + innen + tief) 3 6 先来后到 (vorne + kommen + hinter + ankommen) 43 7 迂回曲折 (biegen + zurück + krumm + brechen) 130 8 辗转反侧 (wälzen + drehen + gegen + seitlich) 265 9 直来直去 (gerade + kommen + gerade + gehen) 107 Tab. 45: Die Chengyu-Konstruktionen mit vier Raumlexemen 218 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="219"?> Aus der obigen Tabelle wird ersichtlich, dass die ersten und die dritten Filler der R-Stellen überwiegend in einer geographisch polaren bzw. antonymischen Beziehung zusammen auftreten (z. B. 东 , Osten - 西 , Westen; 深 , tief - 浅 , flach; 南 , Süden - 北 , Norden; 先 , vorne - 后 , hinter). Diese Regel gilt auch für die jeweiligen zweiten und vierten Filler der R-Stellen (z. B. 倒 , fallen - 歪 , schief; 来 , kommen - 到 , gehen; 入 , hineingehen - 出 , hinausgehen). In diesem Sinne kann die RRRR-Konstruktion als Synthese der RXRX-Konstruktion und XRXR-Konstruktion aufgefasst werden. Außerdem ist interessant zu bemerken, dass die erste und die zweite Kon‐ struktion aus der Tabelle aus denselben vier Raumlexemen bestehen, nämlich 东 (Osten), 倒 (fallen), 西 (Westen) und 歪 (schief). Der einzige Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Konstruktion liegt bei der zweiten sowie der vierten R-Stelle. In der ersten Chengyu-Konstruktion wird „fallen“ vor „schief “ platziert (F = 353), während „fallen“ erst nach „schief “ in der zweiten Konstruktion vorkommt (F = 36). Jedoch unterscheiden sich die beiden Konstruktionen auf drastische Weise in der Häufigkeit ihres Vorkommens. Man bevorzugt deutlich die Reihenfolge fallen > schief. Die beiden Konstruk‐ tionen kann man als zwei unterschiedliche Construals desselben Sachverhalts bezeichnen, weil sie sich semantisch darauf beziehen, dass jemand nicht stabil sitzen kann oder eine falsche Sitzhaltung einnimmt. Im übertragenen Sinne kann man mit dieser Chengyu-Konstruktion eine desorganisierte bzw. chaotische Situation beschreiben. Die zwei unterschiedlichen Construals lassen sich mit den folgenden Schemata beschreiben: In der ersten Konstruktion liest man zuerst das Handlungsverb „fallen“, so weiß man, dass etwas gefallen ist. Das da‐ zukommende Adjektiv „schief “ kann dann als eine mögliche Folge der Handlung interpretiert werden. Das heißt, die Handlung „fallen“ verändert den Zustand einer Sache. Diese Sache steht vielleicht nicht mehr aufrichtig, weil sie fällt. Das Adjektiv „schief “ ist der veränderte bzw. der neue Zustand der beschriebenen Sache. In der zweiten Konstruktion wird zuerst der neue Zustand dieser Sache, das Schiefsein, vor Augen geführt. Was zu diesem Schiefsein der Sache geführt hat, wird erst in der letzten Stelle geklärt. Mit den folgenden zwei weil-Sätzen möchte ich die Kausalitätsrelationen in den beiden Chengyu-Konstruktionen demonstrieren: (1) Es ist durcheinander geworden, weil die Sachen auf den Tisch fallen. (durchein‐ ander < fallen; nicht ikonisch) (2) Weil die Sachen auf den Tisch fallen, ist es durcheinander geworden. (fallen > durcheinander; ikonisch) 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 219 <?page no="220"?> Hier spielt das Prinzip der morphologischen Ikonizität offenkundig eine bedeut‐ same Rolle in Bezug auf die Verwendungshäufigkeit sowie die Abfolge der Teilkonstruktionen. Im ersten Beispielsatz wird es keine ikonische Abbildung der Ereignisse geben. Der zweite Fall stellt hingegen durch die Voranstellung der kausalen Konjunktion „weil“ eine ikonische Abbildung der Ereignisse dar. Die ikonische Abbildung der Ereignisse in einer natürlichen Abfolge reduziert den kognitiven Verarbeitungsaufwand und wird daher viel häufiger von der chinesischen Sprachgemeinschaft akzeptiert bzw. verwendet. 5.3.3 Semantische Dimension Die Sichtweise, dass eine linguistische Konstruktion auch Bedeutung mit sich tragen kann, ist eine der zentralen Thesen der Konstruktionsgrammatik. Im vor‐ liegenden Unterkapitel wird anhand von spezifischen Chengyu-Konstruktionen exemplifiziert, dass relevante Orientierungsmetaphern einen großen Beitrag bezüglich der Konstruktionsbedeutung leisten können. Bereits in Kapitel 2.7 wurden die häufig verwendeten chinesischen OBEN-UNTEN-Metaphern vorge‐ stellt. Auch in der empirischen Untersuchung sind idiomatische Konstruktionen im Chinesischen mit ebensolchen Orientierungsmetaphern zu sehen. Hier einige Beispielkonstruktionen: (1) OBEN-Metapher: XXX + 上 (oben), XXX + 高 (hoch), 高 (hoch) + XXX, (2) UNTEN-Metapher: XXX + 下 (unten), 沉 (sinken) + XXX, 后 (hinter) + XXX (3) GEGEN-Metapher: 背 (zuwider) + XXX, 反 (gegen) + XXX (4) HORIZONTAL-Metapher: 横 (horizontal) + XXX Im Folgenden werden anhand von zwei Kategorien der Chengyu-Konstruk‐ tionen (die Konstruktionen mit OBEN- und UNTEN-Metaphern) die Analyse‐ dimensionen auf der semantischen Ebene dargelegt. Mit der idiomatischen Konstruktion XXX + 上 (oben) kann eine OBEN-Metapher hergestellt werden. In der Untersuchung findet man zum Beispiel die folgenden Konstruktionen, die diese strukturelle Musterhaftigkeit aufweisen: 攻心为上 (angreifen + Herz + für + oben): psychisch den Gegner anzugreifen ist die beste Strategie 欺君罔上 (betrügen + Kaiser + lügen + oben): den Kaiser betrügen 蒸蒸日上 (dämpfen + dämpfen + Sonne + oben): bedeutet, dass Karriere oder andere Sachen immer in eine positive Richtung entwickeln 220 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="221"?> Für die Chengyu-Konstruktionen oben spielen die verschiedenen OBEN-Meta‐ phern eine wichtige Rolle bezüglich der Konstruktionsbedeutung. Dass die semantische Bedeutung einer idiomatischen Konstruktion durch die Metapher in dieser Konstruktion hergestellt wird, ist auch bei Dobrovol’skij & Piirainen (2009) zu beobachten. Sie begreifen diese Verbindung als metaphorische Moti‐ vation einer Konstruktion: Der Terminus metaphorische Motivation wird als eine semantische Brücke auf[ge]fasst, bei der eine Ähnlichkeit [im weiten Sinne] zwischen dem durch die figurative lexikalisierte Bedeutung Bezeichneten und dem in der inneren Form enthaltenen Konzept existiert. (Hervorhebung im Original, Dobrovol’skij & Piirainen 2009: 40-41) Die Chengyu-Konstruktionen oben enthalten zumindest zwei grundlegende Formen der OBEN-Metaphern, die auch die Konstruktionsbedeutung der XXXR-Konstruktion beeinflussen. Die eine OBEN-Metapher ist OBEN IST DIE POSITIVE ENTWICKLUNG (z. B. in den Konstruktionen 攻心为上 und 蒸蒸日上 ) und die andere ist OBEN IST HOHER SOZIALER STATUS (z. B. in der Konstruktion 欺君罔上 ). Anhand dieser metaphorischen Motivation der idiomatischen Konstruktionen sind die semantischen Bedeutungen der jeweiligen Konstruktionen erschließbar. Bezüglich der semantischen Rollen der Teilkonstruktionen soll hier eine neue rollensemantische Überlegung speziell für die Bestimmung der chinesischen idiomatischen Konstruktionen eingeführt werden. Diese möchte ich im Fol‐ genden die syntaktische und semantische Doppelrolle der Chengyu-Kon‐ struktion nennen. Das Konzept der „semantischen Doppelrolle“ meint grund‐ sätzlich, dass die Teilkonstruktion innerhalb einer Chengyu-Konstruktion ein Set von verschiedenen syntaktischen und semantischen Rollen übernehmen kann; die gesamte idiomatische Konstruktion in einem Satz jedoch kann ganz unterschiedliche syntaktische bzw. semantische Rollen spielen. Manche Chengyu-Konstruktionen sind bereits syntaktisch vollständige Konstruktionen, die alle Basiseinheiten eines Satzes enthalten, was man in der Chengyu-Kon‐ struktion „ 攻心为上 “ bereits ansehen kann: 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 221 <?page no="222"?> Teilkonstruktion 攻 心 为 上 Teilbedeutung angreifen Herz sein oben Konstruktionsbedeutung psychisch den Gegner anzugreifen ist die beste Strategie Syntaktische Rolle Subjekt Prädikat Objekt Semantische Rolle Zustandsträger Zustand - Tab. 46: Verteilung der syntaktischen und der semantischen Rollen in der Konstruktion 攻心为上 Hier sieht man, dass die Chengyu-Konstruktion einen syntaktisch vollständigen und semantisch sinnvollen Satz darstellt und das Kopulaverb „sein“ einen Zustand zum Ausdruck bringt. Das Wort „ 心 “ (Herz) referiert metonymisch auf die psychische Seite eines Menschen. Jedoch kann diese bereits vollständige Konstruktion immer noch in einen längeren Satz im Chinesischen eingebettet werden und zugleich andere semantische und syntaktische Rollen einnehmen. Vergleicht man zum Beispiel die drei nachstehenden Sätze aus dem CCL-Korpus: (1) 两军交战,攻心为上。 (Psychisch die andere Partei anzugreifen ist die beste Strategie, wenn zwei Parteien in einem militärischen Kampf aufeinandertreffen.) (2) 他说他一生审讯犯人,只叫部下打过两个人,其余都是“攻心为上”。 (Er sagt, dass er in seinem ganzen Berufsleben seinen Untergesetzten nur während des Verhörs bei zwei Strafgefangenen erlaubt, sie zu schlagen. Für die anderen Strafgefangenen dient der psychische Angriff der Strafgefangenen als die beste Strategie während des Verhörs.) (3) 美舆论认为美军在巴格达采取“攻心为上”策略 (Nach der öffentlichen Meinung in den USA hat die US-Amerikanische Armee in Bagdad die Psychischer-An‐ griff-als-die-beste-Strategie angewandt.) Dieselbe Chengyu-Konstruktion „ 攻心为上 “ übernimmt jedoch sehr unter‐ schiedliche syntaktische und semantische Rollen im jeweiligen Satz. In Satz (1) stimmen die semantischen und die syntaktischen Rollen der idiomatischen Konstruktion im Satz mit deren Rollen in der Konstruktion überein, weil diese idiomatische Konstruktion vollständig als Satz und nicht nur als Satzglied verwendet wird. Die rollensemantischen Verteilungen in Satz (2) und Satz (3) variieren stark. Um dies zu verdeutlichen, kann man die Teilkonstruktionen aus den beiden Sätzen nochmals in der folgenden Tabelle genauer betrachten: 222 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="223"?> Teilkonstruktion 其余 都是 攻心为上 Bedeutung Für die anderen Strafgefangenen dienen/ gelten psychisch den Gegner anzu‐ greifen ist die beste Strategie Konstruktionsbe‐ deutung Für die anderen Strafgefangenen dient der psychische Angriff der Strafgefangenen als die beste Strategie während des Verhörs Syntaktische Rolle - Prädikat Subjekt Semantische Rolle - Tätigkeit Tätigkeitsträger Tab. 47: Verteilung der syntaktischen und semantischen Rollen in der Konstruktion 其 余都是攻心为上 In Satz (2) in der Konstruktion „ 其余都是攻心为上 “ wird die idiomatische Konstruktion „ 攻心为上 “ nicht als vollständiger Satz gebraucht, sondern als Nominalphrase, die die syntaktische Rolle eines Subjekts und die semantische Rolle eines Tätigkeitsträgers einnimmt. Teilkonstruktion 美军 采取 “攻心为上”策略 Bedeutung die amerikani‐ sche Armee an‐ wenden eine Psychischer-Angriffals-die-beste-Strategie Konstruktionsbe‐ deutung Die US-Amerikanische Armee hat die Psychischer-Angriffals-die-beste-Strategie angewandt. Syntaktische Rolle Subjekt Prädikat Objekt Semantische Rolle Handlungsträger Hand‐ lung Handlungsgegenstand Tab. 48: Verteilung der syntaktischen und semantischen Rollen in der Konstruktion 美 军采取“攻心为上”策略 In Satz (3) bildet die idiomatische Konstruktion „ 攻心为上 “ zusammen mit dem Substantiv „ 策略 “ (Strategie) eine Nominalphrase, wobei die idiomatische Kon‐ struktion die eingesetzte „Strategie“ modifiziert. Diese Nominalphrase nimmt dann die syntaktische Rolle eines Objekts und die semantische Rolle eines Handlungs‐ gegenstands ein. Durch die beiden oben aufgeführten Tabellen ist ersichtlich, dass 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 223 <?page no="224"?> die Chengyu-Konstruktionen unterschiedlich in Bezug auf die rollensemantische Verteilung in den beiden konkreten Verwendungssituationen funktionieren. Chengyu-Konstruktionen mit UNTEN-Metaphern können grundsätzlich zwei wesentliche Konstruktionsbedeutungen aufweisen: Zum einen kann diese idiomatische Konstruktion Bezug auf eine negative Entwicklung nehmen (z. B. in der Konstruktion 每况愈下 und 世风日下 , vgl. die Tabelle unten). Zum anderen kann sie sich auf ein Abhängigkeitsverhältnis bzw. Machtgefälle beziehen (z. B. in der Konstruktion 久居人下 , vgl. die Tabelle unten). In der folgenden Tabelle werden häufig verwendete idiomatische Konstruktionen mit den beiden UNTEN-Metaphern aufgelistet: Chengyu-Konstruktion Bedeutung 久居人下 (lange + wohnen + Mensch + unten) Man wohnt lange bei jemandem. Be‐ deutet, dass man auf jemanden ange‐ wiesen bzw. vom jemandem abhängig ist 每况愈下 (jeder + Situation + immer + unten) die Situation verschlechtert sich 世风日下 (Welt + Wind + Sonne + unten) die Gesellschaft ist moralisch verwahrlost 城下之盟 (Stadt + unten + Genitiv + Ver‐ trag) Bedeutet, dass die feindliche Truppe nun unter der Stadtmauer ist und die andere Partei zwingt ungleiche Verträge zu un‐ terzeichnen 兵临城下 (Soldaten + annähern + Stadt + unten) beschreibt, dass eine Situation gefährlich und kritisch ist 江河日下 (Fluss + Fluss + Sonne + unten) Die Situation verschlechtert sich Tag für Tag 低三下四 (niedrig + drei + unten + vier) Bedeutet, dass jemand sich auf einem niedrigen Status befindet oder benimmt sich niedrig bzw. unterwürfig 低声下气 (niedrig + Stimme + unten + Gas) Bezeichnet, dass jemand in einem leisen Ton mit den anderen spricht 低首下心 (niedrig + Haupt + unten + Herz) Bedeutet, dass jemand unterwürfig und gehorsam ist 落井下石 (fallen + Brunnen + unten + Stein) Man rettet einen nicht, wenn er in einen Brunnen hineinfällt. Stattdessen wirft man noch Steine in den Brunnen. Be‐ deutet, dass man einen angreift oder kri‐ tisiert, auch wenn er in Gefahr ist 224 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="225"?> Chengyu-Konstruktion Bedeutung 上行下效 (oben + behandeln + unten + nachahmen) Die Mitarbeiter machen es dem Chef nach. 不耻下问 (nicht + schämen + unten + fragen) Man fühlt sich nicht beschämt, wenn man die Leute fragt, die nicht so belesen sind und sich auf einem niedrigeren berufli‐ chen Rang befinden. 甘拜下风 (willig + beugen + unten + Wind) Jemand ist breit und freiwillig, in einer unteren Position zu sein. Bedeutet, dass jemand einen anderen Menschen auf‐ richtig respektiert und gesteht, dass der andere Mensch kompetenter ist. Tab. 49: Häufig verwendete idiomatische Konstruktionen mit der Motivation der beiden UNTEN-Metaphern 5.3.4 Pragmatische Dimension Für die Analyse einer Chengyu-Konstruktion auf der pragmatischen Ebene ist wichtig, zuerst die semantische sowie die pragmatische Seite einer Konstruk‐ tion zu bestimmen. Danach muss die analysierte Chengyu-Konstruktion in konkreten Verwendungsszenarios überprüft werden (vgl. Kap. 4.2.1 zur Analyse der [[danke für] + [X]]-Konstruktion im Deutschen). Vor allem soll bei der Über‐ prüfung berücksichtigt werden, ob es sich bei dieser konkreten Verwendung um ein frame-übergreifendes oder ein frame-spezifisches Verwendungsszenario handelt. Das konkrete Analyseverfahren wird anhand von zwei ausgewählten Chengyu-Konstruktionen ( 高高在上 und 起死回生 ) mit vielen authentischen Korpusbelegen eingehend diskutiert. Insgesamt wurden 471 Korpusbelege für 高 高在上 und 779 Korpusbelege für 起死回生 gefunden, die ausführlich analysiert werden sollen. Die folgenden zwei Abschnitte möchten die auffälligsten und repräsentativsten Belege zur Diskussion stellen. - 5.3.4.1 Beispiel 1: 高高在上 Die Chengyu-Konstruktion 高高在上 (hoch + hoch + sich befinden + oben) bedeutet, dass sich jemand auf einem hohen Status bzw. einer hohen Position befindet. Die Konstruktion kommt zum Einsatz, wenn Führende bezeichnet werden sollen, die sich nicht um das Leben der Massen kümmern. Hier schlägt sich die HOHER STATUS IST OBEN-Metapher deutlich nieder. Die Bedeutung dieser idiomatischen Konstruktion gibt Auskunft darüber, dass sie 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 225 <?page no="226"?> beispielsweise in zwei verschiedenen Frames gebraucht werden können: Zum einen kann sie benutzt werden, um den hohen sozialen Status einer Person auszudrücken. Zum anderen kann sie sich auf nicht bürgernahe Politiker beziehen. Die beiden Verwendungsframes verlangen kein zusätzliches Wissen über das Verwendungsszenario. Man kann die idiomatische Konstruktionsbe‐ deutung anhand der semantischen Information dieser Konstruktion erschließen. Von daher gehören die beiden Bedeutungsframes zu den frame-übergreifenden Verwendungsszenarios. Im CCL-Korpus sind zum Beispiel die folgenden beiden Belege zu finden: (1) 天子、诸侯高高在上,不直接与百姓打交道。 (Hervorhebung von BZ. Der Kaiser und die hohen Beamten haben einen hohen sozialen Status. Sie gehen nicht direkt mit den Bürgern um.) (2) 不少领导机关和领导干部,高高在上,不接近群众,不重视调查研究,不了解工作 中的真实情况。 (Hervorhebung von BZ. Es gibt nicht wenige Führungsbehörden und Führungsleute, die sich auf einem hohen Status befinden. Sie vertreten keine bürgernahe Politik, vernachlässigen die Untersuchung und die Forschung über das normale Leben der einfachen Leute und wissen nichts von der Wirklichkeit in der Arbeitspraxis.) Jedoch finden sich darüber hinaus viele andere Belege, die stark von den frame-übergreifenden Verwendungsszenarios abweichen. Um die konkrete Bedeutung solcher Konstruktionen zu erschließen, muss ein zusätzliches frame-spezifisches Wissen herangezogen werden. (3) 因该塔为北京最高的建筑物,“高高在上”的优势使得发射出的信号覆盖的半径也 大 (Hervorhebung von BZ. Da dieser Turm das höchste Gebäude in Beijing darstellt, kann die Reichweite der gesendeten Signale aus diesem Turm aufgrund seiner vorteilhaften Höhe groß sein.) Das Beispiel oben bezieht sich weder auf den hohen Status noch auf eine bürgernahe Politik, was man aus den semantischen Grundbedeutungen dieser Konstruktion ableiten kann. Besonders die bewusste Markierung der Chengyu-Konstruktion durch Anführungszeichen hebt diesen spezifischen Konstruktionsgebrauch hervor. Die Konstruktion referiert hier nur wörtlich auf die Höhe des neuen Fernsehturms in Beijing. (4) 其实生活中并非所有的“名牌”都是高高在上,让人望尘莫乃。 (Hervorhebung von BZ. Jedoch sind nicht alle Preise der „Markenprodukte“ so hoch, dass man sie sich nicht leisten kann.) 226 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="227"?> (5) 北京房价为何高高在上 (Hervorhebung von BZ. Warum ist der Wohnungspreis in Beijing so hoch? ) Die idiomatische Konstruktion 高高在上 verweist hier weder auf die Höhe, noch den hohen sozialen Status oder die nicht-bürgernahe Politik. Bei den Beispielen (4) und (5) handelt es sich um einen anderen kontextuellen Bedeutungsaspekt. Diese Konstruktion meint jeweils die hohen Preise der Markenprodukte und die anhaltend steigenden Wohnungspreise in Beijing. Obwohl diese Bedeutung ebenfalls anhand einer möglichen OBEN-Metapher (GRÖSSERE MENGE IST OBEN) zu umschreiben ist, kann diese idiomatische Bedeutung nicht von den ursprünglichen semantischen Frames abgeleitet werden. Von daher verlangt die Entschlüsselung der idiomatischen Konstruktion in den beiden Beispielen auch frame-spezifisches Wissen (z. B. das Preiswissen über die Markenprodukte und den Wohnungsmarkt in Beijing). Das Beispiel (6) stammt aus einer Sportberichterstattung über die Euro‐ pameisterschaft. Anzumerken ist, dass die Chengyu-Konstruktion in diesem Verwendungsszenario auch von den frame-übergreifenden „Status“sowie „Bürgerfern“-Rahmen abweicht. Sie nimmt an dieser Stelle Bezug auf das angenehme Gefühl, wenn eine Fußballmannschaft den Meistertitel erringt. (6) 他们过去习惯了当夺冠热门,习惯了高高在上的感觉。 (Hervorhebung von BZ. Sie haben sich daran gewöhnt, den Meistertitel zu erringen und das Gefühl ganz oben zu haben.) (7) 哲学家们不再高高在上地进行形而上的玄论,他们开始注意到哲学形而下的基础。 (Hervorhebung von BZ. Die Philosophen diskutieren über die Probleme nicht aus einer metaphysischen und abstrakten Perspektive. Sie beginnen die alltäg‐ lichen philosophischen Grundlagen zu bemerken.) Im Beispiel (7) referiert die analysierte Chengyu-Konstruktion auf das Abs‐ traktum in der philosophischen Auseinsetzung. Diese Bedeutung kann eben‐ falls nicht in den beiden frame-übergreifenden Verwendungsmöglichkeiten gefunden werden, die sich nur in ihrem konkreten geisteswissenschaftlichen Verwendungsszenario vermuten lässt. (8) 虽有《著作权法》高高在上,想想为区区一篇文章而费周折,总觉得麻烦,便屡屡 作罢 (Hervorhebung von BZ. Obwohl man sich auf das heilige „Urheberrecht“ beziehen kann, ist es mühsam, wenn ich nur für einen kleinen Artikel kämpfe. Von daher habe ich dann nicht mehr mit dem Gedanken gespielt und ich habe dann weiterhin auch nichts getan.) 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 227 <?page no="228"?> (9) 面对高高在上的大公司,如何克服胆怯? (Hervorhebung von BZ. Wie kann man die Angst überwinden, wenn man in einem Bewerbungsgespräch vor großen Firmen sitzt? ) Es muss an dieser Stelle ein paar Worte über den Hintergrund des 8. Beispiels gesagt werden. Dieser Satz stammt von einem Schriftsteller, dessen Artikel von anderen Zeitschriften ohne seine Erlaubnis veröffentlicht wurde. In seiner Äußerung wird die Heiligkeit bzw. die Bedeutsamkeit des Urheberrechts durch die analysierte Konstruktion zum Ausdruck gebracht. Im letzten Beispiel werden die großen Firmen, die während eines Bewerbungsgesprächs eine dominante Rolle spielen, mit dieser idiomatischen Konstruktion personifiziert. Zusammenfassend kann die Chengyu-Konstruktion 高高在上 im frame-über‐ greifenden Verwendungsszenario auf einen hohen sozialen Status bzw. die bürgerferne Führungskraft referieren. Jedoch gibt es in der vorliegenden Kor‐ pusuntersuchung viele Fälle, die nicht in diesem frame-übergreifenden Szenario verwendet werden. Für die Deutung solcher Fälle müssen das frame-spezifische Wissen sowie die kontextuellen und pragmatischen Informationen eingeholt werden. Die obige Analyse hat gezeigt, dass diese Konstruktion zusätzlich Bedeutungen wie Höhe, hohe Preise, ein angenehmes Gefühl, die abstrakte Sicht‐ weise der Philosophie, die Wichtigkeit eines Gesetzes sowie ein großer Konzern in unterschiedlichen Verwendungsszenarios durchaus mit sich tragen kann. - 5.3.4.2 Beispiel 2: 起死回生 Die Chengyu-Konstruktion 起死回生 (aufstehen + Tod + zurückkehren + Leben: die Kranken retten können, die kurz vor Tod stehen. Bedeutet, dass jemand im medizinischen Bereich bekannt und begabt ist) bezeichnet in der Regel die hervorragende Leistung einer medizinischen Person. Diese Bedeutung kann im nachstehenden Beleg beobachtet werden: (1) 怎奈当时的医疗条件极差,尽管英国医生施尽了医术,也难以让病入膏肓的李云经 起死回生。 (Hervorhebung von BZ. Jedoch waren die damaligen medizinischen Bedingungen ziemlich schlecht. Obwohl die britischen Ärzte sich bemühten, konnten sie den schwerkranken Yunjing Li nicht vom Tod retten.) Der Deutungsrahmen der erfolgreichen medizinischen Rettung gehört zu dem frame-übergreifenden Verwendungsszenario dieser Chengyu-Konstruktion. Da treten meistens an die Subjekt-Stelle die medizinischen Personen bzw. die medizinischen Organisationen. Die variable Stelle vor der idiomatischen Kon‐ 228 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="229"?> struktion wird üblicherweise entsprechend von den betroffenen Kranken be‐ setzt. Allerdings finden sich viele anderen Korpusbelege, die nicht in diesem frame-übergreifenden Verwendungsszenario vorkommen: (2) 正当革命处失败的关头,突然好运降临,八国联军出兵中国,让孙中山等革命派起 死回生。 (Hervorhebung von BZ. Als die Revolution kurz vor dem Scheitern stand, kam plötzlich das Glück. Die Vereinigten acht Staaten schickten Truppen nach China. Zhongshan Sun und die anderen Revolutionäre konnten daher wieder aktiv sein.) (3) 这个厂从此起死回生,而今成为全乡骨干厂。 (Hervorhebung von BZ. Diese Firma hat einen Bankrott vermieden und ist nun eine wichtige Firma in der Gemeinde.) (4) 旧书回收,既能让一些好书、名著“起死回生”,又能被一般读者的消费能力所接 受 (Hervorhebung von BZ. Die alten Bücher zu recyceln kann einerseits einige gute und bekannte Werke „wiederbeleben“ lassen und anderseits günstigere Angebote anbieten.) (5) 葡萄牙再胜出线英格兰起死回生 (Hervorhebung von BZ. Portugal gewinnt wieder und schafft somit die Qualifikation, England wird vom Tod gerettet.) (6) 但无论如何,此次会议都具有历史性的意义,因为这不仅使《京都议定书》起死回生, 而且,波恩气候会议在没有美国的参与下取得了实质性的进展 (Hervorhebung von BZ. Diese Konferenz hat insofern eine historische Bedeutung, dass sie das „Kyoto-Protokoll“ wiederbeleben lässt. Außerdem werden während des Klima‐ treffens in Bonn ohne die Beteiligung der USA tatsächliche Fortschritte gemacht.) (7) 王兰田说:“当然,老杨也有一步起死回生的好棋,老窦你让不让说? ” (Hervor‐ hebung von BZ. Lantian Wang sagt: „Natürlich gibt es einen klugen Schachzug für Alten Yang. Sag mal, soll ich ihm den Schachzug sagen, Alter Dou? ´“) Ab Bespiel (2) bis Beispiel (7) wird die Subjekt-Stelle vor der idiomatischen Konstruktion 起死回生 von unterschiedlichen Fillern besetzt, die sich nicht auf das medizinische Personal beziehen. In Beispiel (2) wird dieser Krankheits‐ deutungsrahmen auf die politische Bewegung bzw. die politische Revolution übertragen. Die Subjekt-Stelle in Beispiel (3) wird von einer Firma besetzt, während die alten Bücher die semantische Rolle des Rettungs-Handlungsge‐ genstands übernehmen (vgl. Beispiel (4)). Das fünfte Beispiel stammt aus einer Fußballberichterstattung, in der der erneute Sieg der Fußballmannschaft Englands als Wiederbelebung konzeptualisiert wird. Die Filler der Subjekt-Stelle aus den letzten beiden Korpusbelegen zeigen, dass sich dieses Krankheitsframe jeweils auf die politische Entscheidung sowie das Schachspiel übertragen lässt. Zusammengefasst kann die Chengyu-Konstruktion 起死回生 ein Krankheits‐ frame hervorrufen, in dem die hervorragende Leistung des medizinischen 5.3 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen 229 <?page no="230"?> Personals in den Mittelpunkt dieses Frames gerückt wird. Von daher wird die Subjekt-Stelle in einem frame-übergreifenden Verwendungsszenario von medizinischen Leuten besetzt, die das Leben der Schwerkranken (also die Filler der NP-Stelle) vom Tod retten können. Hingegen weisen viele Korpusbelege nach, dass diese Konstruktion durchaus in den anderen frame-spezifischen Verwendungsszenarios eingesetzt werden kann. Zum Beispiel können politische Revolutionen, Firmen, alte Bücher, Fußballmannschaften, Klimaprotokolle oder Schachspielen noch gerettet werden. 5.4 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen Für die Analyse der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen werden, ähnlich wie im Verfahren für das Chinesische, diejenigen Konstruktionen, die Bewegungsverben (z.-B. steigen, fallen, stellen, führen) enthalten, zum Untersu‐ chungsgegenstand des vorliegenden Unterkapitels gemacht. Insgesamt wurden 2538 Konstruktionen im Deutschen ausgewählt, die 114 Bewegungsverben umfassen (vgl. Tab. 50). Im Folgenden werden in Einzelkapiteln anhand von verschiedenen Konstruktionen exemplifiziert, wie man die Analyse der idioma‐ tischen Konstruktionen im Deutschen auf der prosodischen, der strukturellen, der semantischen und der pragmatischen Ebene implementieren kann. drehen abdrehen aufdrehen umdrehen zudrehen treiben vertreiben austreiben schubsen stecken verstecken aufstecken zurückste‐ cken hineinste‐ cken strecken heben erheben wenden abwenden verwenden umwenden abwenden drücken reißen aufreißen ausreißen herum‐ reißen klettern wachsen auswachsen halten behalten hängen aushängen anhängen rauhängen schweben fallen durchfallen einfallen schlagen zusammen‐ schlagen zuschlagen kippen schütteln krempeln stoßen aufstoßen abstoßen steigen aussteigen raufsteigen einsteigen herab‐ steigen 230 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="231"?> sinken versinken senken schieben abschieben geraten kommen nach‐ kommen hinaus‐ kommen ankommen bekommen heraus‐ kommen aus‐ kommen davon‐ kommen treten abtreten antreten betreten austreten werfen hinaus‐ werfen rauswerfen hinwerfen hinter‐ werfen lenken schleudern raus‐ schmeißen schmeißen setzen hin‐ schmeißen aussetzen aufsetzen ansetzen bringen abbringen stehen dastehen stehen bleiben abstehen ausstehen springen gegenüber‐ stehen ziehen ausziehen zurück‐ ziehen abziehen rücken schicken führen stellen ausstellen aufstellen gehen eingehen aufgehen übergehen ausgehen vorangehen durch‐ gehen hingehen Tab. 50: Die untersuchten Bewegungsverben im Deutschen 5.4.1 Prosodische Dimension Anders als die chinesische Sprache stellt die deutsche Sprache keine Tonalsprache dar. Jedoch ist es interessant zu überprüfen, ob die Silbenzahl bzw. die Silben‐ struktur des Substantivs in einer idiomatischen Konstruktion wie [NP] + [PP] + [Bewegungsverben] (z. B. in die Beine gehen, aus den Fugen gehen, auf die Piste gehen) in einem Zusammenhang mit dem entsprechenden Bewegungsverb steht. Im vorliegenden Kapitel wird dieser Frage anhand von idiomatischen Konstruktionen mit gehen und kommen nachgegangen, weil die Konstruktionen mit diesen beiden Bewegungsverben am produktivsten in allen untersuchten Konstruktionen mit Bewegungsverben sind und die Untersuchung zu solchen Konstruktionen einen repräsentativen Schnitt über die prosodische Dimension abbilden kann. - 5.4.1.1 Beispiel 1: Konstruktionen mit gehen Aus der von den relevanten Standardwörterbüchern eingeholten Konsultation sind insgesamt 101 unterschiedliche idiomatische Konstruktionen mit gehen zu 5.4 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen 231 <?page no="232"?> finden (vgl. Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache (in 10 Bänden), die 2. Auflage in elektronischer Form als Software, 2011 und Duden - Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik, die 5. Auflage in PDF-Form, 2020). Im zweiten Schritt werden alle Konstruktionen in den Referenz- und Zeitungskor‐ pora (Abkürzung: RZ) überprüft. Dieser Schritt dient dazu, einen Blick darauf zu werfen, ob die lexikalisierten Konstruktionen im Alltagsgebrauch tatsächlich bzw. wie häufig verwendet werden. Die nachstehende Liste dokumentiert 32 idiomatische Konstruktionen mit gehen, die mindestens mehr als 20 Korpusbe‐ lege in RZ besitzen und eine Präpositionalphrase enthalten (die Nummer in Klammern steht für die Anzahl der Belege in RZ): in die Annalen gehen (103), jemandem aus den Augen gehen (22), jemandem um den Bart gehen (29), in die Beine gehen (35), in Betrieb gehen (1823), zu Boden gehen (571), in Deckung gehen (203), um die Ecke gehen (73), ans Eigemachte gehen (127), in Erfüllung gehen (2249), aus den Fugen gehen (43), jemandem auf den Geist gehen (70), an die Gurgel gehen (82), in die Höhe gehen (443), vor die Hunde gehen (284), in die Irre gehen (143), über den Jordan gehen (26), auf den Keks gehen (53), jemandem durch die Lappen gehen (240), über Leichen gehen (217), jemandem auf dem Leim gehen (556), aus dem Leim gehen (60), auf die Neige gehen (28), zur Neige gehen (341), jemandem auf die Nerven gehen (1067), auf Nummer sicher gehen (613), in Ordnung gehen (163), auf die Piste gehen (46), jemandem nicht aus dem Sinn gehen (21), auf den Strich gehen (105), auf Tuchfühlung gehen (43), aus dem Weg gehen (2050) Zuerst werden in der folgenden Tabelle die hinter den Präpositionen vorkom‐ menden Substantive je nach Anzahl der Silben kategorisiert. Aus der unten aufgeführten Tabelle ist ersichtlich, dass die Substantive mit zwei Silben am häufigsten die Stelle hinter der Präposition in der idiomatischen Konstruktion mit gehen besetzen: Anzahl der Silben Substantive Prozent‐ zahl 1 Bart, Geist, Keks, Leim, Sinn, Strich, Weg 26.92% 2 Augen, Beine, Betrieb, Boden, Deckung, Ecke, Fugen, Gurgel, Höhe, Lappen, Leichen, Nerven, Nummer, Ordnung, Piste 57.69% 3 Annalen, Erfüllung, Tuchfühlung 11.54% 4 Eingemachte 3.85% Tab. 51: Anzahl der Silben der hinter der Präposition stehenden Substantive in der Konstruktion mit gehen 232 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="233"?> Offensichtlich verfolgen die meisten hier aufgelisteten Substantive auch das Nukleusgesetz von Vennemann (1988), das in der Tabelle 28 in Kapitel 5.1.2 systematisch zusammengefasst wird. Nach ihm ist ein Silbennukleus umso mehr bevorzugt, wenn sein Sprachlaut gleichmäßiger verteilt wird (also Mo‐ nophthonge besser als Diphthonge). Außer „Beine“ und „Leichen“ bestehen die Nuklei der zweisilbigen Substantive in der Tabelle durchgängig aus Monoph‐ thongen. Darüber hinaus ist interessant zu beobachten, dass sich die Vorkommenshäu‐ figkeit der Konstruktion „auf die Neige gehen“ (28) und „zur Neige gehen“ (341) stark voneinander unterscheidet, obwohl die beiden idiomatischen Konstruk‐ tionen dieselbe Konstruktionsbedeutung aufweisen. Dies lässt sich aus Sicht der Semantik schwer erklären. Jedoch kann man diese unterschiedliche Ver‐ wendungsfrequenz aus der silbenstrukturellen Sichtweise gut beleuchten. Hier spielt die prosodische Beschränkung bei der Gebrauchsfrequenz eine besonders wichtige Rolle. Um dies auszuleuchten, muss man zuerst die Silbenstrukturen der beiden Teilkonstruktionen auf die Neige und zur Neige genauer betrachten: Abb. 13: Silbenstruktur der Konstruktion auf die Neige Abb. 14: Silbenstruktur der Konstruktion zur Neige Der Silbenkontakt in den beiden Konstruktionen ist für den wesentlichen Unterschied verantwortlich. In der Konstruktion auf die Neige findet der Sil‐ benkontakt zwischen „die“ und „Neige“ statt, während sich der Silbenkontakt in der Konstruktion zur Neige zwischen „zur“ und „Neige“ befindet. Der Nuk‐ leus in der Silbe „die“ ist ein Langvokal und befindet sich ganz rechts der Sonoritätshierarchie im Deutschen, während die Koda in der Silbe „zur“ einen Stimmton darstellt und zugleich auf der linken Seite der Sonoritätshierarchie des Deutschen positioniert ist. Die Konstruktion „Neige“ beginnt mit einem nasalen 5.4 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen 233 <?page no="234"?> Kopf und befindet sich genau in der Mitte der deutschen Sonoritätshierarchie. Nach dem Kontaktgesetz von Vennemann (vgl. Kap. 5.1.2) ist ein Silbenkontakt umso mehr bevorzugt, wenn der erste Laut der folgenden Silbe im Vergleich zum letzten Laut der vorangehenden Silbe stärker ist. Von daher kann erklärt werden, dass die Konstruktion „zur Neige gehen“ deutlich häufiger als die Konstruktion „auf die Neige gehen“ verwendet wird, weil der erste Nasallaut von Neige in der Konstruktion „zur Neige gehen“ viel stärker als der Stimmton ist. Anhand dieses Beispiels sieht man, dass die prosodischen Eigenschaften einer Konstruktion durchaus eine wichtige Rolle spielen können. Diese interne prosodische Beschränkung kann einen großen Einfluss zum Beispiel auf die Verwendungsfrequenz einer idiomatischen Konstruktion ausüben. Dies deutet zugleich darauf hin, dass der prosodische Aspekt in einer Konstruktionsanalyse unbedingt mitberücksichtigt werden muss. - 5.4.1.2 Beispiel 2: Konstruktionen mit kommen Nach der Konsultation aus den deutschen Standwörterbüchern werden 138 idiomatische Konstruktionen mit dem Bewegungsverb kommen ausgewählt (vgl. Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache (in 10 Bänden), die 2. Auflage in elektronischer Form als Software, 2011 und Duden - Redewendungen. Wör‐ terbuch der deutschen Idiomatik, die 5. Auflage in PDF-Form, 2020). Danach werden alle Konstruktionen in den ausgewählten deutschen Korpora getestet, um zu wissen, ob und wie häufig die in den Wörterbüchern dokumentierten idiomatischen Konstruktionen tatsächlich im authentischen Sprachgebrauch vorkommen. In der nachstehenden Liste werden 39 idiomatische Konstruk‐ tionen mit kommen aufgeführt, die mindestens mehr als 20 Korpusbelege in RZ haben und eine Präpositionalphrase enthalten (die Nummer in Klammern steht für die Anzahl der Belege in RZ): zur Anwendung kommen (1063), jemandem unter die Augen kommen (131), zum Ausdruck kommen (2945), wieder auf die Beine kommen (359), zum Einsatz kommen (6360), in Fahrt kommen (511), in Fluss kommen (134), in Gang kommen (2388), in die Gänge kommen (157), ins Gerede kommen (810), auf den Geschmack kommen (350), unter den Hammer kommen (508), unter die Haube kommen (46), auf den Hund kommen (309), aus dem Konzept kommen (25), auf seine Kosten kommen (912), ums Leben kommen (19948), unter die Leute kommen (105), ans Licht kommen (1323), über jemandes Lippen kommen (607), wieder ins Lot kommen (38), in Ordnung kommen (172), in die Puschen kommen (27), jemandem in die Quere kommen (884), unter die Räder kommen (437), über die Rampe kommen (29), über die Runden kommen (713), in Schwung kommen (747), in Sicht kommen (196), jemandem aus dem Sinn kommen (41), jemandem in den Sinn kommen (1620), zur Sprache kommen (2501), 234 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="235"?> ans Tageslicht kommen (455), aus dem Takt kommen (32), aufs Tapet kommen (56), auf den Tisch kommen (1228), auf Touren kommen (267), auf Trab kommen (20), zum Vorschein kommen (2951) Zunächst werden die Substantive, die hinter den Präpositionen auftreten, nach der Anzahl der Silben wie folgt in drei Gruppen eingeteilt. Nach der Kategorisierung wird deutlich, dass die Stelle hinter der Präposition in der idiomatischen Konstruk‐ tion mit kommen auch meistens von zweisilbigen Substantiven besetzt werden: Anzahl der Silben Substantive Prozentanzahl 1 Fahrt, Fluss, Gang, Hund, Licht, Lot, Schwung, Sicht, Sinn, Takt 28.57% 2 Augen, Ausdruck, Beine, Einsatz, Gänge, Geschmack, Hammer, Haube, Kosten, Lippen, Leben, Leute, Konzept, Ordnung, Puschen, Quere, Räder, Rampe, Runden, Sprache, Tapet, Vorschein 62.86% 3 Anwendung, Gerede, Tageslicht 8.57% Tab. 52: Anzahl der Silben der hinter der Präposition stehenden Substantive in der Konstruktion mit kommen 5.4.2 Strukturelle Dimension Für die Analyse der idiomatischen Konstruktion auf der strukturellen Ebene ist zunächst wichtig zu betrachten, welches strukturelle Muster in einer idio‐ matischen Konstruktion aufgewiesen wird. Danach ist zu schauen, was für eine verfestigte Konstruktionsbedeutung sich in diesem Muster niederschlägt. Anschließend müssen die typischen Filler für die spezifischen Slots analysiert werden. Nicht zuletzt ist noch einen Überblick auf die Produktivität der idioma‐ tischen Konstruktion zu leisten. Um die vier Analysedimensionen auf der strukturellen Ebene nachvollziehbar zu demonstrieren, werden zwei weitere idiomatische Konstruktionen aus der umfangreichen Korpusuntersuchung, die Konstruktionen mit drehen und die Konstruktionen mit fallen, in diesem Unterkapitel ausführlich besprochen. - 5.4.2.1 Beispiel 3: Konstruktionen mit drehen Durch die introspektive Konsultation aus den beiden Standardwörterbüchern werden 31 idiomatische Konstruktionen mit dem Bewegungsverb drehen aus‐ gewählt (vgl. Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache (in 10 Bänden), die 2. 5.4 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen 235 <?page no="236"?> Auflage in elektronischer Form als Software, 2011 und Duden - Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik, die 5. Auflage in PDF-Form, 2020). Danach werden sie in den drei ausgewählten Korpora (vgl. Kap. 4.1.1) getestet. Das Ziel des Tests besteht darin, die tatsächliche Verwendungsfrequenz der 31 Konstruktionen mit drehen in authentischen Sprachdaten zu analysieren. Im Folgenden werden 9 idiomatische Konstruktionen mit drehen aufgelistet, die zumindest mehr als 20 Korpusbelege in den Referenz- und Zeitungskorpora des DWDS haben (die Nummer in Klammern steht für die Anzahl der Belege in den RZ des DWDS. Die Bedeutungserklärungen stammen aus dem Duden, Band 11: Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik): (1) Däumchen drehen (80): nichts tun und sich langweilen (2) ein Ding drehen (32): (ugs.): etwas anstellen; ein Verbrechen begehen (3) sich drehen und winden (20): sich aus einer unangenehmen, peinlichen Lage zu befreien suchen (4) eine Ehrenrunde drehen (51): (ugs.): eine Klasse wiederholen (5) jemanden durch den Fleischwolf drehen (56): (ugs.): jmdm. sehr zusetzen, jmdn. hart herannehmen (6) jemanden durch die Mangel drehen (30): (ugs.): jmdm. heftig zusetzen (7) ein großes Rad drehen (26): etwas sehr Schwieriges, Aufwendiges unternehmen (8) jemandem einen Strick aus etwas drehen (100): jmds. Äußerung oder Hand‐ lung so auslegen, dass sie ihm schadet (9) jemanden durch den Wolf drehen (47): (ugs.): jmdm. sehr zusetzen, jmdn. hart herannehmen Im ersten Schnitt sollen die neun häufig verwendeten drehen-Konstruktionen je nach Muster in Unterkonstruktionen eingegliedert werden. Die Konstruktionen oben lassen sich grundsätzlich in die folgenden vier Unterkonstruktionen kategorisieren: 1. [NP] + [drehen]: Däumchen/ ein Ding/ eine Ehrenrunde/ ein großes Rad + drehen 2. [NP direkt ] + [PP] + [drehen]: jemanden + durch den Fleischwolf/ durch die Mangel/ durch den Wolf drehen 3. [NP direkt ] + [NP indirekt ] + [PP] + [drehen]: jemandem einen Strick aus etwas drehen 4. [Reflexivpronomen] + [drehen]: sich drehen und winden 236 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="237"?> Nach dem sich die Konstruktionsmuster aus den konkreten idiomatischen Konstruktionen mit drehen herauskristallisiert haben, soll nun der zentralen Frage nachgegangen werden, welche Konstruktionsbedeutungen sich aus den verschiedenen Unterkonstruktionen ergeben können. Um dies zu analysieren, müssen die Grundbedeutungen des Bewegungsverbs drehen vorgestellt werden. Nach der Duden-Definition verfügt dieses Verb mindestens über die nachste‐ henden Bedeutungen: 1) im Kreis, um die Achse bewegen; 2) einstellen; 3) etwas mit einer Drehbewegung bestätigen; 4) wenden, umkehren; 5) sich wenden; 6) mit Drehbewegung o.Ä. (ma‐ schinell) formen, herstellen; 7) (umgangssprachlich) beeinflussen; 8) von jemandem, etwas handeln Abgeleitet von den oben aufgeführten Grundbedeutungen kann das Verb drehen drei Verwendungsframes bilden: 1. Tätigkeitsframe: Besonders wenn die [NP]-Stelle von Sachen oder Sach‐ verhalten besetzt werden, kann drehen mit dem Filler an der [NP]-Stelle zusammen die Bedeutung tragen, etwas zu unternehmen. Diese Bedeutung kann mit der Bedeutung des Fillers an der [NP]-Stelle zusammen die idiomatische Bedeutung formieren: Däumchen zu wenden ist leicht und einfach. Man tut diese Bewegung normalerweise nicht, außer bei Lange‐ weile oder wenn man sich die Zeit vertreiben will. Das Wort „Rad“ in der Konstruktion ein großes Rad drehen kann symbolisch auf ein Projekt referieren. Setzt man dies mit der etwas-unternehmen-Bedeutung von drehen zusammen, dann kann diese idiomatische Bedeutung vermutet werden. 2. Qualframe: In Konstruktionen wie jemanden durch den Fleischwolf drehen oder jemanden durch die Mangel drehen werden die Akkusativobjekte von Personen besetzt. Im ersten Bedeutungsframe sieht man, dass durch Konstruktionen mit drehen grundsätzlich eine Tätigkeit zum Ausdruck gebracht werden kann bzw. etwas gemacht wird. Überträgt man diese Grundbedeutung auf die zwei obigen Konstruktionen, bekommt man die Bedeutung „jemand wird gemacht“. Eine Präpositionalphrase wie durch den Fleischwolf gibt Auskunft darüber, wie „jemand gemacht wird“. Aus der menschlichen Alltagserfahrung ist deutlich, dass der Fleischwolf sich auf ein Küchengerät bezieht, mit dem man Fleisch so fein zerklei‐ nern kann, dass eine weiche Masse entsteht. So wird der quälerische Deutungsrahmen dieser idiomatischen Konstruktion hervorgehoben. In der Konstruktion jemandem einen Strick aus etwas drehen wird dieses Qualframe besonders durch die lexikalische Besetzung der [NP direkt ]-Stelle 5.4 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen 237 <?page no="238"?> von Strick verstärkt in den Mittelpunkt gerückt, weil diese Konstruktion die Aktivierung des Hängen-Frames bei Todesstrafen ermöglicht. Die Präposi‐ tionalphrase „durch die Mangel“ veranschaulicht zum Beispiel, wie jemand „ausgepresst“ wird. So ist die Bedeutung der Teilkonstruktion semantisch solidarisch mit der Gesamtkonstruktionsbedeutung. Außerdem soll hier auch angemerkt werden, dass diese Konstruktionsbedeutung eine implizite Passiv-Bedeutung besitzt (also im Sinne von jemand wird zugesetzt). Daher ist es kein Wunder, dass solche Unterkonstruktionen im tatsächlichen Sprachgebrauch häufig durch entsprechende Passiv-Konstruktionen um‐ geschrieben werden. Mehr Beispielen begegnet man gleich im kommenden Teil über die typischen Filler solcher Unterkonstruktionen. Nicht zuletzt bemerkt man, dass die Unterkonstruktionen mit dieser Konstruktionsbe‐ deutung auch häufig in den untersuchten Korpora vorkommen. 3. Kampfframe: Besonders der Parallelismus in der Konstruktion sich drehen und winden bringt einen Kampfdeutungsrahmen zur Sprache. Das Verb winden nimmt Bezug eigentlich darauf, dass eine Pflanze um eine Stange nach oben herumwächst. So schlägt sich eine implizite OBEN-Metapher in dieser Herumwachsen-einer-Pflanze-Bewegung nieder (vgl. die Meta‐ pher OBEN IST EINE POSITIVE ENTWICKLUNG). Das Reflexivverb sich drehen kann zum Beispiel den Kampf nach oben durch die eigene Kraft hervorheben. So gewinnt die idiomatische Konstruktion sich drehen und winden die Bedeutung, dass man durch eigene Kraft versucht, sich aus einer schlechten Situation zu befreien und einen positiven Entwicklungsweg einzuschlagen. Abb. 15: Mögliche Bedeutungsframes in der idiomatischen Konstruktion mit drehen Abschließend werden die Typikalität der variablen Filler und die Produktivität der vier Unterkonstruktionen behandelt. Dabei werden an geeigneter Stelle auch 238 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="239"?> authentische Beispiele aus der umfangreichen Korpusuntersuchung vorgeführt, um die Argumentation zu veranschaulichen. Unter den neuen häufig verwen‐ deten idiomatischen Konstruktionen mit drehen gehören die Konstruktion [NP] + [drehen] und [NP direkt ] + [PP] + [drehen] zu den zentralen Unterkonst‐ ruktionen, wobei die anderen zwei Unterkonstruktionen jeweils nur in einer spezifischen Konstruktion demonstriert werden. In der produktiven Unterkonstruktion [NP] + [drehen] stellt das Bewe‐ gungsverb drehen ein transitives Handlungsverb dar, das ein Akkusativobjekt verlangt, das die semantische Rolle des Handlungsgegenstands einnimmt, und ein Subjekt, das die semantische Rolle des Handlungsträgers spielt. Von daher sind zwei variable Slots in dieser Unterkonstruktion zu erfüllen. Die Stelle für die Nominalphrase wird in der Regel durch Sachen oder Sachverhalte besetzt werden (z. B. Däumchen, ein Ding, eine Ehrenrunde, ein großes Rad). Da die andere variable Stelle den Handlungsträger darstellt, wird sie üblicherweise durch handlungsfähige Personen (z. B. Spieler, Arbeiter, Lehrer, Beamte, Sportler) oder Institutionen (z. B. Bundesregierung, VW, Porsche, das ZDF) besetzt. Die Tabelle unten dokumentiert die in den Korpora erschienenen Substantive für die Stelle des Subjekts für die Einzelkonstruktionen: Wer? (Die Stelle des Handlungsträgers) Handlung die Entscheidungsträger der EZB, die Briefträger in Finnland, die deutsche und europäische Politik in Sachen Datenschutz, man, er, ich, die Überflüssigen, BVG-Busfahrer, die Schatzsucher, die guten Leute, wir, die Fischer und Muschelzüchter, sie, ein Großteil der Ber‐ liner Zuschauer, Millionen Menschen, ein Parteisoldat, die meisten, die Verkaufsabteilung, hohe Beamte, der Pilot, die Arbeiterinnen vor den stillgelegten Maschinen, rund 4000 Mitarbeiter wissenschaftli‐ cher Institute in den EG-Ländern, die Lehrer, die Bundesregierung Däumchen drehen sie, die Spieler, er, man, jeder Ganove, du, Franz, der Klempner ein Ding drehen viele andere Sportler, jene Jugendliche, wir, die Bayern, Peter Lö‐ scher, der schnellste Mann der Welt, Raps, Nationalspieler Pascal Hens, der 25-jährige Makau, die Niederländer, die amtierenden Minister, das erfolgreiche Fahrerpaar, er, sie, man, Schüler, wie viele, die Achtziger, beide, wir eine Ehren‐ runde drehen VW und Porsche, die Lokalpolitiker, sie, Jérôme Kerviel, das ZDF, der, der Steuermann, man, wir ein großes Rad drehen Tab. 53: Typische Filler für die Subjekt-Stelle in der Unterkonstruktion [NP] + [drehen] 5.4 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen 239 <?page no="240"?> Die zweite Unterkonstruktion der idiomatischen Konstruktion mit drehen be‐ zieht sich auf eine syntaktische Kombination von einer Nominalphrase (als direktes Objekt), einer Präpositionalphrase und dem Bewegungsverb drehen. Besonders interessant ist in dieser Unterkonstruktion, dass die Stelle von [NP direkt ] durchgängig durch eine Person oder ein Personalpronomen besetzt werden muss. Die Stellen von drehen sowie der Präpositionalphrase werden inzwischen in dieser idiomatischen Konstruktion festgelegt und sie zählen zu den stabilen Slots. Die anderen zwei Stellen, nämlich die Stelle des indirekten Objekts und die Subjekt-Stelle, bilden zusammen die variablen Stellen dieser Unterkonstruktion. jemanden + durch den Fleischwolf/ durch den Wolf + drehen jemanden + durch die Mangel + drehen Subjekt-Stelle [NPdirekt] Subjekt-Stelle [NPdirekt] sie, die menschli‐ chen Unterschiede, er, ich, der Fleisch‐ hauer, wer drei Vorbilder, dich, uns, die ach so ver‐ nünftigen und kar‐ rierebewussten Ab‐ iturienten und Studenten Hermanns, Draxler, die Literaturwis‐ senschaft, er ihn, seine Gäste, den Bundestrainer Berti Vogts, sie Tab. 54: Typische Filler der variablen Stellen in der Unterkonstruktion [NP direkt ] + [PP] + [drehen] An dieser Stelle ist interessant darauf hinzuweisen, dass manche variablen Stellen in dieser Unterkonstruktion [NP direkt ] + [PP] + [drehen] nicht zwingend besetzt werden müssen. Besonders in vielen Fällen wird diese Unterkonstruk‐ tion in einem Passiv-Format wiedergegeben, indem die Stelle [NP direkt ] statt eines Akkusativobjekts durch ein entsprechendes Subjekt im Nominativ in einer Passiv-Konstruktion besetzt wird. So wird das ursprüngliche Subjekt in der Unterkonstruktion nicht mehr sichtbar: (1) „Wer hat dich denn so durch den Wolf gedreht? “ (Hervorhebung von BZ, Fal‐ lada, Hans: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt - Bd. 2, Berlin u. a.: Aufbau-Verlag 1990 [1934], S.-5) (2) Hier wird der Mensch durch den Wolf gedreht und neu verarbeitet. (Hervor‐ hebung von BZ, Die Zeit, 02.05.2013, Nr.-19) 240 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="241"?> (3) Anschließend werden sie unverzüglich durch die Mangel gedreht und ge‐ langen, vollends gedörrt, in die Hände der Legerinnen und Packerinnen. (Hervor‐ hebung von BZ, Die Zeit, 17.03.1978, Nr.-12) (4) Sie wird weich gekocht und zusammen mit Kartoffeln, Zwiebeln, Gewürzgurke und roter Bete durch den Wolf gedreht. (Hervorhebung von BZ, Die Zeit, 23.08.2012, Nr.-35) (5) Sie existieren in ihrem eigenen Festplattenuniversum, in dem Pulp- und Pop‐ kultur durch den Fleischwolf gedreht, ins Fantasy- und Comic-Format über‐ höht und mit allerhand ungefilterten Männerfantasien angereichert werden. (Hervorhebung von BZ, Die Zeit, 31.03.2011, Nr.-14) Beispiel (1) zählt zu einer prototypischen Verwendung dieser Unterkonstruk‐ tion, wo alle Stellen in der Unterkonstruktion besetzt werden. In den anderen vier Beispielen wird diese aktive Unterkonstruktion in einer Passiv-Konstruk‐ tion wiedergegeben. Die [NP direkt ]-Stelle in der aktiven Unterkonstruktion wird umformuliert als das Subjekt in der neuen Passiv-Konstruktion. Darüber hinaus kann die Subjekt-Stelle in der neuen Passiv-Konstruktion nicht nur von Personen (z. B. der Mensch), sondern auch von Nicht-Personen (z. B. sie in einem Kochbuch oder Pulp- und Popkultur) besetzt werden. Im Vergleich zu der zweiten Unterkonstruktion wird eine weitere Nominal‐ phrase hinzugefügt, die als indirektes Objekt dient. So wird diese Unterkon‐ struktion in eine prototypische Doppelobjekt-Konstruktion eingebettet. Ein vollständiger Satz mit dieser Unterkonstruktion besteht aus fünf Stellen: [Sub‐ jekt], [drehen], [NP direkt ], [NP indirekt ] und [PP]. In der idiomatischen Konstruktion jemandem einen Strick aus etwas drehen werden bereits zwei Stellen als stabile Slots durch die Akkusativkonstruktion einen Strick und der Verbkonstruktion drehen besetzt. Die anderen drei Stellen werden dementsprechend als variable Stellen in dieser Unterkonstruktion angesehen. In der nachstehenden Tabelle werden die in den Korpora dokumentierten Filler der drei variablen Stellen aufgezeigt: [Subjekt]-Stelle [NP direkt ] [PP] man, der Arbeitgeber, die iranische Justiz, die Republikaner, ich, du, er, die Liberalen, nie‐ mand, diejenigen, das Treuhand-Gutachten, un‐ sere Vereinsgesetzgebung, ein missgünstiger Vorge‐ ihm, ihnen und den beteiligten Journalisten, mir, der rot-grünen Regie‐ rung, niemandem, ihr, un‐ serer Generation, dem En‐ semble, dem Präsidenten, Rosemarie, dem neuen Postminister Christian daraus, aus den schlechten Nachrichten, aus ein paar BND-Informationen, aus deinen optimistischen Aussagen, aus den Flücht‐ lingen, aus seiner langen Feinripp-Unterhose, aus diesem Tatbestand, aus 5.4 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen 241 <?page no="242"?> [Subjekt]-Stelle [NP direkt ] [PP] setzter, seine innenpoliti‐ schen Gegner Schwarz-Schilling, den Ge‐ werkschaften seinem Schwulsein, aus Zitaten, aus einem Aus‐ rutscher, aus seiner Verstrickung in die Glöggler-Affären, aus den unabdingbaren Vorausset‐ zungen seiner Arbeit, aus der Situation in Ohio der BP, aus einer italienischen Wachsbüste, aus meinem Aufenthalt in der psychia‐ trischen Klinik, aus den Er‐ gebnissen von Königsberg, aus meiner Amtsführung, aus der Beschäftigung mit Sozialpolitik Tab. 55: Typische Filler der drei variablen Stellen in der Konstruktion jemandem einen Strick aus etwas drehen In der Korpusuntersuchung treten beispielsweise die folgenden drei Beispiele auf, in denen die Konstruktion jemandem einen Strick aus etwas drehen etwas anders organisiert wird. Im Folgenden werden sie näher betrachtet: (1) Da sei es unredlich, nun der rot-grünen Regierung aus ein paar BND-Informa‐ tionen einen Strick drehen zu wollen. (Hervorhebung von BZ, Die Zeit, 18.12.2008, Nr.-52) (2) Deshalb konnte ihm gerade aus einer italienischen Wachsbüste ein Strick ge‐ dreht werden. (Hervorhebung von BZ, Völkischer Beobachter, Berliner Ausgabe, 02.03.1939) (3) Man kann daraus niemandem einen Strick drehen. (Hervorhebung von BZ, Die Zeit, 10.06.1999, Nr.-24) In den ersten beiden Beispielsätzen werden die Subjekt-Stellen der Konstruk‐ tion jemandem einen Strick aus etwas drehen nicht besetzt und die beiden Konstruktionen werden in Passiv-Sätzen wiedergegeben. Somit wird die [NP di‐ rekt ]-Stelle in der originalen aktiven Unterkonstruktion nun als das Subjekt der Passiv-Konstruktion verwendet. Im dritten Beispiel wird die [PP]-Stelle durch ein Pronominaladverb daraus besetzt. Um den konkreten Referenzinhalt des Pronominaladverbs zu bestimmen, muss eine entsprechende kontextuelle 242 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="243"?> Anapher entschlüsselt werden. Außerdem ist auch wichtig zu bemerken, dass die [NP direkt ]-Stelle in dieser Unterkonstruktion auch durch ein unbestimmtes Personalpronomen wie niemand besetzt werden kann (vgl. Beispiel 3). Die Unterkonstruktion [Reflexivpronomen] + [drehen] bringt einen Vorgang zum Ausdruck. Anscheinend gibt es zwei variable Stellen in dieser Unterkon‐ struktion - die Stelle des Vorgangsträgers, die syntaktisch als Subjekt dient, und die Stelle des Reflexivpronomens. Jedoch hängt die Besetzung der [Re‐ flexivpronomen]-Stelle stark von dem Subjekt ab und die Reflexivpronomen orientieren sich stark bzw. kongruent an den Fillern der Subjekt-Stellen. Von daher gibt es in dieser Unterkonstruktion nur eine variable Stelle, die die syntaktische Rolle des Subjekts einnimmt. Die folgenden Filler aus den Referenz- und Zeitungskorpora von DWDS stellen die typischen Vorgangsträger in dieser idiomatischen Unterkonstruktion sich drehen und winden: sie, diese Banken, man, die Frauen, die SPD, der Sicherheitsberater des Präsidenten, Danny Rose und Tina Vitale, die Berliner FDP, der Befragte, er, der Bursche - 5.4.2.2 Beispiel 4: Konstruktionen mit fallen Ähnlich wie das Verfahren mit der Untersuchung für die idiomatischen Kon‐ struktionen mit fallen werden zuerst alle Konstruktionen mit fallen aus den beiden relevanten Standardwörterbüchern herangezogen (vgl. Das Große Wör‐ terbuch der deutschen Sprache (in 10 Bänden), die 2. Auflage in elektronischer Form als Software, 2011 und Duden - Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik, die 5. Auflage in PDF-Form, 2020). Insgesamt sind es 42 solcher Konstruktionen. Sie werden dementsprechend auch in den drei ausgewählten Korpora (vgl. Kap. 4.1.1) überprüft, um einen Überblick über die tatsächliche Vorkommenshäufigkeit zu erhalten. Die nachstehenden fallen-Konstruktionen werden mit mindestens 20 Belegen in den Referenz- und Zeitungskorpora des DWDS dokumentiert (die Nummer in Klammern steht für die Anzahl der Belege in den RZ von DWDS. Die Bedeutungserklärungen stammen aus dem Duden, Band-11: Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik): 1. jemanden in den Arm fallen (216): jmdn. an etwas hindern 2. ins Auge fallen (366)/ in die Augen fallen (700): als Merkmal so offen‐ sichtlich sein, dass man es nicht übersehen kann, dass es sofort auffällt 3. auf fruchtbaren Boden fallen (139): günstig aufgenommen werden, wirksam werden 4. von einem Extrem ins andere fallen (139): eine extreme Haltung aufgeben und sogleich eine entgegengesetzte, ebenso extreme einnehmen 5. jemandem auf die Füße fallen (111): jmdm. schaden 5.4 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen 243 <?page no="244"?> 6. ins Gewicht fallen (836): in einem bestimmten Zusammenhang von Bedeutung sein 7. jemandem zur Last fallen (557): jmdm. zusätzliche Arbeit, Mühe oder Kosten verursachen 8. in ein Loch fallen (35): 1. in der Leistung plötzlich nachlassen; 2. Depres‐ sionen entwickeln 9. auf die Nase fallen (114): (ugs.): einen Misserfolg haben 10. jemandem auf die Nerven fallen (84): (ugs.): jmdm. lästig werden 11. der Groschen fällt (bei jemandem) (21): jmd. begreift nur langsam 12. in Ohnmacht fallen (234): ohnmächtig werden 13. aus dem Rahmen fallen (174): vom üblichen deutlich abweichen, be‐ stimmten Normen o.Ä. überhaupt nicht entsprechen 14. aus der Rolle fallen (127): sich unpassend, ungehörig benehmen 15. auf die Schnauze fallen (31): (salopp): eine Niederlage erleiden, scheitern 16. jemandem in den Schoß fallen (222): jmdm. [nicht] mühelos zuteil‐ werden 17. unter den Tisch fallen (462): (ugs.): nicht berücksichtigt werden 18. in Ungnade fallen (191): (oft spött.): jmds. Gunst verlieren 19. in die Waagschale fallen (29): wichtig sein 20. ins Wasser fallen (403): (ugs.): ausfallen, nicht stattfinden können 21. aus allen Wolken fallen (59): (ugs.): völlig überrascht sein. 22. jemandem in die Hand fallen (942): durch Zufall von jmdm. gefunden werden 23. mit der Tür ins Haus fallen (59): (ugs.): ein Anliegen [allzu] unvermittelt vorbringen 24. nicht vom Himmel fallen (38): seine Vorbedingungen haben, nicht grundlos entstehen 25. jemandem ins Wort fallen (201): jmdn. in seiner Rede unterbrechen Die idiomatischen Konstruktionen oben können grundsätzlich in die nachste‐ henden vier Unterkonstruktionen eingegliedert werden: 1. [PP] + [fallen]: ins Auge/ in die Augen/ auf fruchtbaren Boden/ von einem Extrem ins andere/ ins Gewicht/ mit der Tür ins Haus fallen/ nicht vom Himmel/ in ein Loch/ auf die Nase/ in Ohnmacht/ aus dem Rahmen/ aus der Rolle/ auf die Schnauze/ unter den Tisch/ in Ungnade/ in die Waagschale/ ins Wasser/ aus allen Wolken/ + fallen 2. [NP indirekt ] + [PP] + [fallen]: jemandem + auf die Füße/ in die Hand/ ins Wort/ zur Last/ auf die Nerven/ in den Schoß + fallen 3. [NP direkt ] + [PP] + [fallen]: jemanden + in den Arm + fallen 244 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="245"?> 4. [NP] + [fallen] + [PP]: der Groschen + fallen + bei jemandem Bevor die Typikalität der variablen Stellen und die Produktivität der Unterkonst‐ ruktionen besprochen werden, müssen noch ein paar Überlegungen für die möglichen Konstruktionsbedeutungen dargestellt werden. 1. Negativum-Frame: Im Prinzip kann das Bewegungsverb fallen die UNTEN-Metaphern ausdrücken. Eine der zentralen UNTEN-Metaphern, die hinsichtlich der Gestaltung der Konstruktionsbedeutung eine gewich‐ tige Rolle spielt, ist die Metapher UNTEN IST DIE NEGATIVE ENTWICK‐ LUNG EINER SACHE ODER EINES SACHVERHALTS. Diese negative Entwicklung kann ein Misserfolg, eine Depression, ein Hindernis, ein Schaden, eine Last oder eine Absage sein. Diese metaphorische Motivation lässt sich zum Beispiel in den folgenden idiomatischen Konstruktionen beobachten: in ein Loch fallen, auf die Nase fallen, auf die Schnauze fallen, in Ungnade fallen, jemandem auf die Nerven fallen, jemanden in den Arm fallen, jemandem zur Last fallen und ins Wasser fallen. Darüber hinaus kann diese negative metaphorische Konstruktionsbedeutung auch mit anderen Metaphern in einer idiomatischen Konstruktion in einem interaktiven Verhältnis vorkommen. Zum Beispiel kann eine Theatermetapher in der Konstruktion aus der Rolle fallen mit dieser UNTEN-Metapher interagieren. Das Verhalten eines Schauspielers, der die entsprechende Stelle in seiner Textrolle nicht findet, wird als negativ bzw. unpassend betrachtet. Auch die Metapher aus der Tischlerei kann mit der UNTEN-Metapher zusammen eine negative Konstruktionsbedeutung herstellen, in der das Nomen als bestimmter Rahmen metaphorisiert wird (vgl. aus dem Rahmen fallen). 2. Zustandsänderungsframe: Üblicherweise kann die Konstruktion mit fallen und einer Präpositionalphrase einen neuen Zustand des Subjekts ver‐ deutlichen. Der neue Zustand wird durch die Metapher im entsprechenden Substantiv oder die wörtliche Bedeutung des Substantivs aus der Präposi‐ tionalphrase zum Ausdruck gebracht. Dies verdeutlichen Konstruktionen wie ins Gewicht fallen, in die Waagschale fallen und in Ohnmacht fallen. Die beiden Substantive in den ersten beiden Konstruktionen beziehen sich auf den metaphorischen Sinn von „ein bestimmtes Gewicht haben“, der die Wichtigkeit einer Person oder einer Sache hervorhebt, während das Substantiv Ohnmacht den neuen Zustand in ihrer wörtlichen Bedeutung zur Sprache bringt. Aus der aufgeführten Auflistung ist ersichtlich, dass die [[PP] + [fallen]]-Un‐ terkonstruktion mit Abstand am produktivsten unter den vier Unterkonstruk‐ tionen ist und die fallen-Konstruktion mit einer indirekten Nominalphrase 5.4 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen 245 <?page no="246"?> und einer Präpositionalphrase ebenfalls oft gebraucht wird. Die letzten zwei Unterkonstruktionen sind jeweils nur in einer Einzelkonstruktion zu finden. In der produktivsten Unterkonstruktion sind zwei Slots zu erfüllen: die Sub‐ jekt-Stelle und die Präpositionalstelle. Jedoch werden die Präpositionalstellen durch verschiedene Kombinationen der Präpositionalphrasen (z. B. auf frucht‐ baren Boden, aus der Rolle, ins Wasser) besetzt. Die am zweithäufigsten verwendete Unterkonstruktion verlangt eine Nomi‐ nalphrase als indirektes Objekt und eine Präpositionalphrase. Die Subjekt-Stelle und die [NP indirekt ]-Stelle bilden zusammen die beiden variablen Slots dieser Unterkonstruktion. Die typischen Filler für die beiden variablen Stellen werden in der nachstehenden Tabelle zusammengefasst: Filler der Sub‐ jekt-Stelle Unterkonstruktion Filler der [NP indirekt ]-Stelle sie, die, Konflikte, die Altlasten, solche Scheinheiligkeiten, Ef‐ fenberg, er, es auf die Füße fallen dir, dem glücklichen Mitspieler, Europa, dem Staat, den Trium‐ phatoren, den alten Ländern, das, uns, SPD sie, das, Deutschland, man, die, Rundfunk und Fernsehen, beides, ich, eine scharfe Pistole, was, alles, ein Brief in die Hand fallen den Russen, mir, einer linken Re‐ gierung, der Polizei, ihr, ihm, dem Staat, den Nazis, dem Räuber, dem Feind, anderen, dem Mörder, Josef, ihnen, der Öffentlichkeit, ihrer Töchter, dem Feind, meinen Feinden Männer, ich, man, Biden, er, die Be‐ schwerdeführer, die In‐ terviewten, die Teil‐ nehmer, jemand, jeder, die Partner, Meister Ma‐ this, der Botschafter ins Wort fallen anderen Frauen, mir, sich, ihm, seinen Kontrahenten, Gästen, ihnen, dem Künstler, der Autorin, dem Kind, dem Arzt ich, man, sie, Afgha‐ nistan, Studenten, die Arbeiter, der, er, die zur Last fallen meiner Frau, niemandem, dem Staat, ihrer Familie, den USA, jemandem, meinem Kind, ihm, den Krankenkassen, andern, dem Staat, meinen Kindern, meinem Land, seiner Familie, dir, jeder Gemeinde, den Steuerzahlern, nichts, dem Publikum 246 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="247"?> Filler der Sub‐ jekt-Stelle Unterkonstruktion Filler der [NP indirekt ]-Stelle der Referent, er, die Kommilitonen, das, die Jungs, ich, die Kinder, es auf die Nerven fallen ihm, mir, ihnen, einem, ihr, niemandem, meinen Eltern, an‐ deren, dem General, den Ameri‐ kanern und seinen Kollegen aus dem verbündeten Lager Zinsgewinne, der Tri‐ umph, Howard, die Wiedervereinigung, die Dinge, die Macht, die Erfolge, der Sieg, die Beute, die Freiheit in den Schoß fallen dem Bund, dem Team, ihm, den Deutschen, einem, ihr Tab. 56: Typische Filler für die beiden variablen Stellen in der Unterkonstruktion [NP indirekt ] + [PP] + [fallen] Aus der linken Spalte der Tabelle ist ersichtlich, dass die Filler der Subjekt-Stellen für die Unterkonstruktionen von Personennamen, Personalpronomen, Ortsnamen oder abstrakten Konzepten besetzt werden können. Besonders für die Unterkonst‐ ruktionen wie ins Wort fallen, zur Last fallen, auf die Nerven gehen und in die Hand fallen wird die Subjekt-Leerstelle meistens von personenbezogenen Konstruktionen erfüllt, wobei die abstrakten Konstruktionen wie der Triumph, die Wiedervereinigung, die Macht, der Erfolg sowie die Freiheit auffällig häufiger an der Subjekt-Stelle der Unterkonstruktion in den Schoß fallen auftreten: (1) Was gab es nicht für Befürchtungen, als die Wiedervereinigung den Deutschen über Nacht in den Schoß fiel! (Hervorhebung von BZ, Die Zeit, 14.05.2009, Nr. 21) (2) In den Schoß fiel der Triumph dem Team um den Liga-Torschützenkönig Jackson Martínez keineswegs. (Hervorhebung von BZ, Die Zeit, 20.05.2013, Online) (3) Sie wähnt noch immer, dass sie nur schadenfroh zuwarten müsse, bis ihr die Macht in den Schoß falle. (Hervorhebung von BZ, Die Zeit, 18.12.2002, Nr.-52) (4) Dass dem 30-maligen österreichischen Meister nun die Erfolge aber nicht in den Schoß fallen, erfuhr die Elf von Trainer Josef Hickersberger gestern im Stadion des SC-Eisenstadt. (Hervorhebung von BZ, Der Tagesspiegel, 14.07.2002) Für die Filler der [NP indirekt ]-Stelle gilt es, dass sowohl konkrete Personen (z. B. mir, dem Mörder, dem Feind) oder abstrakte Kollektivkonstruktionen (z. B. 5.4 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen 247 <?page no="248"?> SPD, der Öffentlichkeit, den USA, dem Bund) an der Stelle der Nominalphrase vorkommen. Die Unterkonstruktion jemanden in den Arm fallen hat zwei variable Slots: die Subjekt-Stelle und die [NP direkt ]-Stelle. In der nachstehenden Tabelle werden die typischen Filler aus der vorliegenden Korpusuntersuchung resümiert. Es wird ersichtlich, dass die typischen Filler der Subjekt-Stelle sich vor allem auf die Konstruktionen aus dem politischen Bereich beziehen. Sie können zum Beispiel die politischen Institutionen (z. B. Parlament, das Weiße Haus, die CDU) oder die betroffenen Politiker (z. B. Serbiens Premierminister Vojislav Koštunica) sein. Dieses Phänomen kann ebenfalls in den typischen Fillern der [NP direkt ]-Stelle beobachtet werden. So wird diese Unterkonstruktion im tatsächlichen Sprachgebrauch in den unterschiedlichen Medientexten häufig in ein politikbezogenes Verwendungsszenario eingebettet: Unterkonstruktion: jemanden in den Arm fallen Filler der Subjekt-Stelle Filler der [NP direkt ]-Stelle die, Parlament oder Regierung, die Welt‐ gemeinschaft, er, niemand, das Verfas‐ sungsgericht, das Parlament, sie, die Kritiker, man, Serbiens Premierminister Vojislav Koštunica, die deutsche Führung, niemand, seine Mutter, die Kirche, die CDU, die Parteien, Klose, das Weiße Haus dem Präsidenten, dem Bundesausschuss, ihm, Kritikern, dem Menschen, dem 61-Jährigen, dem EFSF, Koch, einem Selbstmörder, den Reformparteien, dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, dem ostmanischen Verbündeten, Ame‐ rika, Russland, der Politik, diesem Mas‐ senmörder, den verfeindeten Bosniern, ihnen, den Regierenden, Helmut Kohl, dem Kanzler, den Israelis, Minister und Beamte Tab. 57: Typische Filler der variablen Stellen in der Konstruktion jemanden in den Arm fallen In der letzten Unterkonstruktion gibt es nur eine variable Stelle [PP]. In den untersuchten Korpora besetzen beispielsweise die nachstehenden Filler diese variable Stelle: bei mir, beim Leser, bei vielen, bei ihren Vorgesetzten, bei den Tieren, bei jemandem. Man sieht, dass die typischen Filler dieser Stelle sich nur auf eine kleine Anzahl der Konstruktionen beschränken. So sind nicht so viele Konstruktionsvariationen in dieser Unterkonstruktion zu erwarten. Darüber hinaus sei an dieser Stelle angemerkt, dass die variable [PP]-Stelle in eigenen Fällen sogar komplett weggelassen werden kann: 248 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="249"?> (1) Im Wald müsse man spazieren, damit „der-Groschen-fällt“. (Die Zeit, 30.02.1984, Nr.-14) (2) Ich kann dann einen mir nicht gleich einleuchtenden Satz so lange wieder‐ holen,-bis-der-Groschen-fällt. (Die Zeit, 02.10.1964, Nr.-40) (3) Je größer die Anzahl der verschiedenen möglichen Ereignisse ist, auf die der Ge‐ testete reagieren muß, desto länger dauert es natürlich, bis „der Groschen fällt“. (Die Zeit, 20.07.1962, Nr.-29) 5.4.3 Semantische Dimension Für die Analyse der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen auf der seman‐ tischen Ebene sind zwei Bestimmungsfaktoren von großer Bedeutung. Zum einen muss die Schematizität-Metapher-Konstellation in der untersuchten Konstruktion dargestellt werden und zum anderen müssen die semantischen und die syntakti‐ schen Rollen der analysierten Konstruktionen in spezifischen Verwendungsbei‐ spielen bestimmt werden. Das genauere Analyseverfahren auf dieser Ebene wird anhand von zwei Beispielkonstruktionen, den idiomatischen Konstruktionen mit bringen und den idiomatischen Konstruktionen mit geraten, dargelegt. - 5.4.3.1 Beispiel 5: Konstruktionen mit bringen Wie im Verfahren der vorangegangenen zwei Ebenen werden die einschlägigen beiden Standardwörterbücher als Konsultationsquelle herangezogen (vgl. Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache (in 10 Bänden), die 2. Auflage in elektronischer Form als Software, 2011 und Duden - Redewendungen. Wörter‐ buch der deutschen Idiomatik, die 5. Auflage in PDF-Form, 2020). Die dadurch ausgewählten 91 idiomatischen Konstruktionen mit bringen werden in den ausgewählten Korpora recherchiert. Die nachstehenden 62 Konstruktionen mit bringen gehören zu den häufig gebrauchten idiomatischen Konstruktionen, die mindestens 20 Belege in den Korpora enthalten (die Zahl in Klammern steht für die Anzahl der Belege in den Referenz- und Zeitungskorpora des DWDS): etwas aus dem Gleichgewicht bringen (322), jemanden/ etwas auf die Anklagebank bringen (60), etwas in Ansatz bringen (77), etwas in Anschlag bringen (407), etwas in Anwendung bringen (478), etwas zur Anwendung bringen (410), etwas zum Ausdruck bringen (5818), jemanden/ etwas auf die Beine bringen (426), jemanden an den Bettelstab bringen (80), etwas hinter sich bringen (2999), etwas über die Bühne bringen (379), etwas unter Dach und Fach bringen (904), jemanden/ etwas um die Ecke bringen (109), etwas in Erfahrung bringen (1253), jemanden in Fahrt bringen (146), etwas in Fluss bringen (104), jemanden an den Galgen bringen (58), etwas in Gang bringen (1590), das/ sein Geld 5.4 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen 249 <?page no="250"?> unter die Leute bringen (28), jemanden/ sich ins Gerede bringen (159), etwas unter den Hammer bringen (86), jemanden in Harnisch bringen (173), jemanden unter die Haube bringen (57), jemanden ins Hintertreffen bringen (47), etwas auf Hochglanz bringen (73), auf Hochtouren bringen (26), etwas in die Höhe bringen (163), jemanden/ etwas auf den Hund bringen (32), jemanden/ etwas unter einen Hut bringen (584), jemanden aus dem Konzept bringen (421), jemandem ums Leben bringen (570), etwas unter die Leute bringen (653), Licht in etwas bringen (668), etwas ans Licht bringen (1059), jemanden auf Linie bringen (173), etwas nicht über die Lippen bringen (188), jemanden/ etwas wieder ins Lot bringen (99), jemanden/ etwas aus dem Lot bringen (39), etwas an den Mann bringen (863), jemanden in Ordnung bringen (1973), jemanden auf die Palme bringen (258), etwas auf den Punkt bringen (1218), etwas über die Runden bringen (180), etwas/ jemanden in Schwung bringen (682), etwas/ jemanden auf die Seite bringen (70), jemanden/ etwas in Sicherheit bringen (4491), jemanden/ etwas ins Spiel bringen (2814), etwas zur Sprache bringen (1340), etwas/ jemanden zur Strecke bringen (743), etwas ans Tageslicht bringen (215), jemanden aus dem Takt bringen (70), etwas aufs Tapet bringen (149), jemanden an einen Tisch bringen (274), auf den Tisch bringen (246), jemanden auf Touren bringen (180), jemanden auf Trab bringen (379), jemanden aus dem Tritt bringen (101), etwas in trockene Tücher bringen (26), jemanden/ etwas auf Vordermann bringen (708), jemandes Blut in Wallung bringen (189), jemanden/ etwas ins Wanken bringen (668), etwas auf den Weg bringen (5215) Besonders die bringen-Konstruktionen mit Präpositionen wie in, auf und unter werden sehr produktiv und häufig verwendet. Die genauen Informationen kann man aus der folgenden Statistik ablesen: Präposition in den bringen-Konstruktionen Anzahl der Konstruktionen Prozentzahl in 20 32.26% auf 15 24.19% unter 6 9.68% Summe 41 66.13% Tab. 58: Die häufig verwendeten Präpositionen in den bringen-Konstruktionen Nun werden die 41 idiomatischen bringen-Konstruktionen mit den drei Präpo‐ sitionen genauer betrachtet. Im ersten Schritt wird die Beziehung zwischen Metapher und Schematizität solcher Konstruktionen analysiert. Das Bewe‐ gungsverb bringen hat eine Grundbedeutung von etwas oder jemand gelangt 250 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="251"?> durch äußere Krafteinwirkung an einen bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Person. So hat die idiomatische Konstruktion mit bringen die grundlegende Bedeutung, dass der Zustand oder die Position einer Person, einer Sache bzw. eines Sachverhalts durch diese Bewegung geändert wird (vgl. etwas in Sicherheit bringen → etwas ist sicher; etwas in trockene Tücher bringen → etwas ist in trockenen Tüchern). Mit den drei unterschiedlichen Raumpräpositionen können die entsprechenden bringen-Konstruktionen entsprechend drei metaphorische Schemata hervorrufen. Mit der Präposition in kann grundsätzlich ein Behälter-Schema oder eine Behälter-Metapher erzeugt werden. Durch die jeweilige Präposition wird zwi‐ schen dem Raum außerhalb und innerhalb des Behälters unterschieden. Die nachstehende Tabelle verdeutlicht, welche Filler die Stelle dieser Behälter-Me‐ tapher eventuell besetzen können: in Behälter? bringen Ansatz, Anschlag, Anwendung, etwas, Erfahrung, Fahrt, Fluss, Gang, Gerede, Harnisch, Hintertreffen, Höhe, Lot, Ordnung, Schwung, Sicherheit, Spiel, trockene Tücher, Wallung, Wanken Tab. 59: Typische Filler der Behälter-Metapher in der bringen-Konstruktion Um die idiomatische Bedeutung der Einzelkonstruktion zu erschließen, reichen die Schemata wie die Zustandsänderung (durch das Bewegungsverb bringen) und die Behälter-Metapher nicht aus. Darüber hinaus muss auch an dieser Stelle die implizite Passiv-Bedeutung in dieser Konstruktion eingeführt werden. Üblicherweise verlangt die bringen-Konstruktion eine Nominalphrase als Ak‐ kusativobjekt. Die Filler dieser Nominalphrase können sowohl von Personen als auch von Sachen besetzt werden. Durch diese Zustandsänderung bzw. die Behälter-Metapher wird deutlich, dass die betroffenen Personen oder Sachen (also die Filler der NP-Stelle) sich entsprechend der neuen Behälter auf einer neuen Position bzw. in einem neuen Zustand befinden. So kann zum Beispiel eine Passiv-Verbindung zwischen den Fillern aus dem Behälter-Schema und den Fillern der Nominalphrasen hergestellt werden. Solche Konstruktionen lassen sich auch wie folgt umschreiben. Hier sieht man zudem, dass alle Filler der NP-Stelle die von dem entsprechenden Verb abgeleiteten Substantive sind: • etwas in Ansatz bringen → etwas wird angesetzt • etwas in Anschlag bringen → etwas wird angeschlagen • etwas in Anwendung bringen → etwas wird angewandt • etwas in Erfahrung bringen → etwas wird erfahren 5.4 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen 251 <?page no="252"?> • jemanden ins Gerede bringen → über jemanden wird geredet • etwas in Schwung bringen → etwas wird geschwungen (im übertragenen Sinne) Für die Analyse der Gestaltung der Konstruktionsbedeutungen der anderen idiomatischen Konstruktionen müssen weiterhin die verschiedenen möglichen Metaphern in einer idiomatischen Konstruktion zusammenbetrachtet werden, die in einem dynamischen interaktiven Prozess zusammenspielen. In den noch nicht besprochenen bringen-Konstruktionen mit der Präposition in werden mindestens weitere fünf Metapher-Kategorien zusätzlich zur Behälter-Meta‐ pher und dem Zustandsänderungsschema in Verbindung gesetzt. Dazu gehören die Licht-Metapher, die Maschinen-Metapher, die Kriegsmetapher, die Orientierungsmetapher sowie die Architekturmetapher. Nun soll auf die verschiedenen Kategorien der Interaktionen anhand von konkreten idiomati‐ schen Beispielen ausführlich eingegangen werden. 1. Interaktion zwischen Licht-Metapher, Behälter-Metapher (durch die Präpo‐ sition in) und dem Zustandsänderungsframe (durch die Verbkonstruktion der Bewegung bringen) (vgl. Licht in etwas bringen): Licht ist eine wichtige Quelle des menschlichen Lebens und bedeutet für die Menschen Leben, Orientierung und Wärme. Das Licht kann zum Beispiel in der Zeit der Aufklärung auch als Vernunft und Freiheit angesehen werden. Der Gegen‐ satz von Licht ist Dunkelheit, die sich symbolhaft auf Dummheit, Drohung, Orientierungslosigkeit oder sogar Gefahr bezieht. Wenn Licht in einen Behälter gebracht wird, werden die Sachen in diesem Behälter erhellt. 2. Interaktion zwischen Maschinen-Metapher, Behälter-Metapher (durch die Präposition in) und dem Zustandsänderungsframe (durch die Verbkon‐ struktion der Bewegung bringen) (vgl. jemanden in Fahrt bringen): Obwohl die Stelle der NP durch ein vom Verb fahren abgeleitetes Substantiv Fahrt besetzt wird, lässt sich anhand der Passiv-Umschreibung diese Konstruk‐ tionsbedeutung schwer erklären (*jemand wird gefahren). Hier muss die Verdinglichung des Menschen als Maschine mitberücksichtigt werden. So kann diese Konstruktion so ausgelegt werden, dass die Maschine wieder gefahren wird (jemand wird angetrieben). 3. Interaktion zwischen Kriegsmetapher, Behälter-Metapher (durch die Prä‐ position in) und dem Zustandsänderungsframe (durch die Verbkonstruk‐ tion der Bewegung bringen) (vgl. jemanden in Harnisch bringen): Das Substantiv im Behälter dieser Konstruktion bezieht sich auf ein historisches Konzept, das Bezug auf die eiserne Rüstung eines Ritters nimmt. So wird ein kämpferisches Deutungsframe aktiviert. Diejenigen sind wütend, die 252 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="253"?> sich durch die Bewegung von bringen auf einen kämpferischen Modus einstellen und gut gerüstet, gegen die Gegenpartei zu kämpfen. So ge‐ winnt diese idiomatische Konstruktion die Konstruktionsbedeutung von jemanden wütend machen. 4. Interaktion zwischen Orientierungsmetapher, Behälter-Metapher (durch die Präposition in) und dem Zustandsänderungsframe (durch die Verbkon‐ struktion der Bewegung bringen) (vgl. jemanden ins Hintertreffen bringen, etwas in die Höhe bringen): In der Konstruktion Hintertreffen spielt die UNGÜNSTIGE ENTWICKLUNG IST UNTEN-Metapher eine wichtige Rolle. Wer ins Hintertreffen gebracht wird, befindet sich dann in einer ungünstigen Position in einem Wettbewerb oder Vergleich. Die POSITIVE ENTWICKLUNG IST OBEN-Metapher lässt dann in der idiomatischen Konstruktion etwas in die Höhe bringen. So wird etwas auf einen positiven Entwicklungsweg gebracht. Von daher kann etwas leistungsfähig sein. 5. Interaktion zwischen Architekturmetapher, Behälter-Metapher (durch die Präposition in) und dem Zustandsänderungsframe (durch die Verbkon‐ struktion der Bewegung bringen) (vgl. jemanden/ etwas wieder ins Lot bringen): Das Lot ist ein Stück Metall, das meistens an einer Schnur hängt und häufig im Bereich der Architektur benutzt wird. Beim Wohnungsbau ist zum Beispiel wichtig, mit Hilfe eines Lots zu gewährleisten bzw. festzu‐ stellen, dass alles in Ordnung (senkrecht) ist. So wird ein Ordnungsbezug auf die Konstruktion Lot genommen. Und diese Konstruktion lässt sich dann wie folgt umschreiben: etwas/ jemanden wieder ins Lot bringen → etwas/ jemand ist wieder in Ordnung/ ordentlich. Darüber hinaus soll die Verteilung der semantischen Rollen in konkreten bringen-Konstruktionen mit einer in-Präpositionalphrase analysiert werden. Dafür wird das nachstehende Beispiel aus den Referenz- und Zeitungskorpora des DWDS ausführlich analysiert (SyR = Syntaktische Rollen, SeR = Semantische Rollen): - Bei seiner Reise nach Saudi-Arabien ab Mitt‐ woch will Bundesaußenmi‐ nister Frank-Walter Steinmeier (SPD) schwierige Themen auf den Tisch bringen SyR Adverbial ort Adver‐ bial zeit Prä‐ dikat 1 Subjekt Objekt Prä‐ dikat 2 SeR Lokativ Tempo‐ rativ Handlung 1 Handlungsträger Hand‐ lungsge‐ genstand Hand‐ lung 2 Tab. 60: Semantische Rollen in der Konstruktion auf den Tisch bringen 5.4 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen 253 <?page no="254"?> Die Präposition auf in einer bringen-Konstruktion kann beispielweise die OBEN-Metapher zum Ausdruck bringen, die die semantischen Aspekte wie positive Entwicklung, Leistungsfähigkeit, Ordnung oder Sauberkeit betrifft (vgl. etwas auf Hochglanz bringen, auf Hochtouren bringen, jemanden/ etwas auf Vordermann bringen und etwas auf den Weg bringen). Die folgende Tabelle visualisiert die Besetzung der semantischen und der syntaktischen Rollen in der Konstruktion auf den Weg bringen (SyR = Syntaktische Rollen, SeR = Semantische Rollen): - Zuletzt seien elf weitere Projekte auf den Weg gebracht worden SyR Adverbial zeit Prädikat 1 Subjekt Prädikat 2 SeR Temporativ Zustand 1 Zustandsträger Zustand 2 Tab. 61: Semantische Rollen in der Konstruktion auf den Weg bringen Die letzte Präposition unter in einer bringen-Konstruktion kann einen Deu‐ tungsrahmen eröffnen, in dem etwas oder jemand unter bestimmte Sachen bzw. Personen gestellt wird. Für die bringen-Konstruktionen mit der Präposition unter spielt die Metonymie der Filler an der Stelle von PP eine große Bedeutung (vgl. etwas unter den Hammer bringen, jemanden unter die Haube bringen und jemanden/ etwas unter einen Hut bringen). Die drei Filler hinter der Präposition unter in den bringen-Konstruktionen werden metonymisch gebraucht. Die metonymischen Bedeutungen leisten einen großen Beitrag zur Gestaltung der jeweiligen Konstruktionsbedeutungen. Zudem werden auch verschiedene Deu‐ tungsframes durch die metonymischen Besetzungen an der PP-Stelle aktiviert. Es folgt nun eine genauere Analyse der drei idiomatischen Konstruktionen. Das Substantiv Hammer in der Konstruktion etwas unter den Hammer bringen hebt einen Auktionsdeutungsrahmen hervor. Der Hammer bezieht sich hier nicht auf ein Werkzeug, mit dem man Nägel in Bretter oder Wände schlagen kann, sondern auf den Versteigerungshammer, der symbolhaft für eine Auktion steht. Wenn etwas unter den Versteigerungshammer gebracht wird, bedeutet dies, dass die Sache an einer Auktion teilgenommen hat bzw. versteigert wird. Haube ist die „früher zur Tracht gehörende Kopfbedeckung verheirateter Frauen“ (Duden. Band 11: Redewendungen. 4. Auflage. Das Wörterbuch der deutschen Idiomatik, S. 328). So kann diese Konstruktion ein Heiratsframe aktivieren. Die Haube steht an dieser Stelle metonymisch für verheiratete Frauen. Diejenigen, die unter die Haube gebracht werden, sind verheiratet. Von daher ist es kein Wunder, dass die idiomatische Konstruktion jemanden 254 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="255"?> unter die Haube bringen die Bedeutung jemanden verheiraten besitzen kann. Das letzte Beispiel mit dem Substantiv Hut kann man auch gut anhand dieser metonymischen Motivation beleuchten. Das Kleidungsstück mit einer stabilen Form, das man auf dem Kopf tragen kann, kann metonymisch für eine Person bzw. eine Entität stehen. Wenn alles unter einen Hut gebracht wird, wird die Sache dann abgestimmt und angepasst bzw. in Einklang gebracht. Die semantischen Rollen der Konstruktion etwas unter einen Hut bringen werden in der nachstehenden Tabelle präsentiert: - Merkel will Klimaschutz und die Erhaltung der Arbeitsplätze dagegen unter einen Hut bringen SyR Subjekt Prädikat 1 Objekt Adverbial modal Prädikat 2 SeR Hand‐ lungsträger Handlung 1 Handlungsgegen‐ stand Opponentum Handlung 2 Tab. 62: Semantische Rollen in der Konstruktion unter einen Hut bringen - 5.4.3.2 Beispiel 6: Konstruktionen mit geraten Die Analyse der idiomatischen Konstruktionen mit geraten beginnt ebenfalls mit einer introspektiven sowie heuristischen Reflexion durch die ausgewählten Standardwörterbücher (vgl. Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache (in 10 Bänden), die 2. Auflage in elektronischer Form als Software, 2011 und Duden - Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik, die 5. Auflage in PDF-Form, 2020). Die 41 idiomatischen Konstruktionen aus dieser Reflexion werden in den entsprechenden Korpora überprüft. Im Folgenden werden die Konstruktionen aufgelistet, die mehr als 20 Belege in den Korpora besitzen (die Zahl in Klammern steht für die Anzahl der Belege in den Referenz- und Zeitungskorpora des DWDS): Auf Abwege geraten (110), außer sich (Dativ) geraten (1981), unter Beschuss geraten (439), in Fahrt geraten (33), in jemandes Fahrwasser geraten (98), aus der Fasson geraten (24), jemandem in die Finger geraten (25), aus den Fugen geraten (805), in Harnisch geraten (25), aus dem Häuschen geraten (72), in den Hintergrund geraten (154), ins Hintertreffen geraten (778), aus dem Lot geraten (156), unter die Räder geraten (112), außer Rand und Band geraten (571), aus dem Takt geraten (73), aus dem Tritt geraten (103), in Wallung geraten (44), ins Wanken geraten (982) 5.4 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen 255 <?page no="256"?> Aus der Liste oben ist ersichtlich, dass die Präpositionen wie in und aus besonders auffällig in den geraten-Konstruktionen vorkommen. Die konkrete Anzahl der Konstruktionen mit den beiden Präpositionen stellt sich wie folgt dar: Präposition in den geraten-Konstruktionen Anzahl der Konstruktionen Prozentzahl in 8 42.11% aus 6 31.58% Summe 14 73.68% Tab. 63: Häufig verwendete Präpositionen in den geraten-Konstruktionen Die Verbkonstruktion geraten kann nach der Definition von Duden zumindest die nachstehenden zwei Grundbedeutungen haben. Von den unten aufgeführten zwei grundlegenden Bedeutungen kann ein nicht absichtliches Zustandsände‐ rungsframe abgeleitet werden: 1. ohne Absicht, zufällig an eine bestimmte Stelle, irgendwohin gelangen; 2. in einen bestimmten Zustand, eine bestimmte Lage kommen Die geraten-Konstruktionen mit der Präposition in können auch ein Be‐ hälter-Schema aktivieren. Zur Gestaltung der Einzelkonstruktionsbedeutungen muss die Metapher-Metonymie-Konstellation in der Analyse mitberücksichtigt werden. Zum Beispiel sind die Interaktionen zwischen der Maschinen-Me‐ tapher/ Kriegsmetapher/ Orientierungsmetaphern, der Behälter-Metapher und dem nicht absichtlichen Zustandsänderungsframe in den nachstehenden Kon‐ struktionen mit geraten zu sehen. Die dahinter versteckten Metaphern der Filler hinter der Präposition in werden bereits in Kapitel 5.4.3.1 ausführlich besprochen. Hier möchte ich nur kurz darauf hinweisen: 1. in Fahrt geraten (Maschinen-Metapher) 2. in Harnisch geraten (Kriegsmetapher) 3. in den Hintergrund geraten/ ins Hintertreffen geraten (Orientierungsme‐ taphern, speziell UNTEN-Metaphern) Die nachstehende Tabelle veranschaulicht die syntaktischen und die semanti‐ schen Rollen in der Konstruktion in den Hintergrund geraten: 256 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="257"?> Was Wunder, wenn dann manches Bundestagsereignis völlig in den Hintergrund gerät SyR - Subjekt - Prädikat SeR - Vorgangsträger - Vorgang Tab. 64: Semantische Rollen in der Konstruktion aus dem Lot geraten An dieser Stelle soll anhand von zwei idiomatischen geraten-Konstruktionen mit der Präposition in die Metonymie-Schema-Konstellation verdeutlicht werden. Zuerst werden die beiden Konstruktionen und ihre Bedeutungen vorgestellt (Die Bedeutungserklärungen der beiden Konstruktionen stammen aus dem Duden. Band 11. 4. Auflage. Redewendungen. Das Wörterbuch der deutschen Idiomatik): 1. in jemandes Fahrwasser geraten: unter jmds. Einfluss geraten 2. jemandem in die Finger geraten: in jmds. Gewalt geraten, jmds. Opfer werden Die variable Stelle hinter der Präposition in innerhalb der PP wird im ersten Bei‐ spiel von einem Personalpronomen und der Substantivkonstruktion Fahrwasser besetzt. Die Konstruktion Fahrwasser bezieht sich ursprünglich auf „einen Bereich in einem Fluss oder im Meer vor der Küste, der für die Schiffe erfor‐ derliche Wassertiefe aufweist“ (Duden-Online, letzter Zugriff: 19.11.2021). In dieser Konstruktion wird dieses Konzept metonymisch als der Einflussbereich einer Person angesehen. Diejenigen, die in den Einflussbereich der anderen kommen, werden von den anderen beeinflusst. Die Nominalphrase die Finger in der Pluralform besetzt die variable Stelle hinter der Präposition in im zweiten Beispiel. Finger sind Bestandteile einer Hand, die metonymisch für Hand stehen. So wird durch diese metonymische Verwendung eine Hand-Metapher aktiviert (vgl. Konstruktionen wie etwas in die Hand nehmen, jemanden in der Hand haben). Diese Körpermetapher kann in der Regel die Bedeutung haben, dass man auf etwas großen Einfluss ausüben kann (vgl. die Untersuchung zur phraseologischen Konstruktionsfamilie [X] + [Präposition] + [Hand] + [Verb] von Staffeldt (2011)). So wird diese körpermetaphorische Bedeutung auch der idiomatischen Konstruktion zugeschrieben. Für die geraten-Konstruktionen mit der Präposition aus lässt sich die Kon‐ struktionsbedeutung herleiten, dass der neue Zustand einer Sache bzw. eines Sachverhalts vom Herkunftszustand (durch die PP mit aus) stark abweicht bzw. 5.4 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen 257 <?page no="258"?> in eine Gegenrichtung des Herkunftsposition weist. Diese Konstruktionsbedeu‐ tung lässt sich zum Beispiel in den nachstehenden Konstruktionen beobachten: 1. aus dem Lot geraten: Aus der Analyse für die Konstruktion jemanden/ etwas wieder ins Lot bringen ist ersichtlich, dass die Konstruktion Lot hier symbolisch für Ordnung steht. Die [aus X geraten]-Konstruktion bringt die gegensätzliche Entwicklungsrichtung zum Ausdruck. Von daher kann diese idiomatische Konstruktion die Bedeutung von nicht ordentlich besetzen. Das Analyseergebnis der rollensemantischen und -syntaktischen Verteilung der Konstruktion aus dem Lot geraten findet man in der nach‐ stehenden Tabelle: - Vieles in Wirtschaft und Gesellschaft ist aus dem Lot geraten SyR Subjekt Prädikat 1 Prädikat 2 SeR Zustandsträger Zustand 1 Zustand 2 Tab. 65: Semantische Rollen in der Konstruktion aus dem Lot geraten 2. aus dem Takt geraten/ aus dem Tritt geraten: Takt und Tritt sind zwei Konstruktionen, die sich auf eine rhythmische Abfolge (z. B. eines Musikstücks, einer Uhr, beim Tanzen oder beim Gehen) beziehen. Die Konstruktion [aus X geraten] suggeriert, dass der Herkunftszustand in eine Gegenrichtung weist. So entsteht die Bedeutung die Störung der rhythmi‐ schen Abfolge. Daraus abgeleitet wird die Konstruktionsbedeutung auf die Störung der zeitlichen Gliederung eines Bewegungs- oder Arbeitsprozesses übertragen. 5.4.4 Pragmatische Dimension Die letzte Analysedimension für die idiomatische Konstruktion betrifft den pragmatischen Aspekt. Für die Analyse auf dieser Ebene ist wichtig zu be‐ stimmen, welche Verwendungsszenarios nur frame-übergreifendes Wissen und welche zusätzlich frame-spezifisches Wissen einfordern. Ähnlich wie das Ver‐ fahren auf der pragmatischen Ebene im Chinesischen werden die frame-über‐ greifenden Verwendungsszenarios, die von der strukturellen Dimension sowie der semantischen Dimension einer idiomatischen Konstruktion abzuleiten sind, in der untersuchten deutschen idiomatischen Konstruktion vorgestellt. Im Anschluss daran werden die in verschiedenen frame-spezifischen Verwen‐ dungsszenarios auftretenden Fälle in der umfassenden Korpusuntersuchung 258 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="259"?> andiskutiert. Im vorliegenden Unterkapitel werden die zwei idiomatischen Konstruktionen jemanden aufs Haupt schlagen und jemanden in seinen Bann ziehen beispielhaft mit unterschiedlichen Belegen aus den Referenz- und Zei‐ tungskorpora des DWDS ausführlich behandelt. 197 Belege für die Konstruktion jemanden aufs Haupt schlagen und 255 Belege für die Konstruktion jemanden in seinen Bann ziehen werden in den oben genannten Korpora gefunden. Nach der eingehenden Analyse aller Belege stellen die nachstehenden zwei Unterkapitel interessante Beispiele vor. - 5.4.4.1 Beispiel 7: jemanden aufs Haupt schlagen In der idiomatischen Konstruktion jemanden aufs Haupt schlagen (Bedeutung: völlig besiegen, vernichten) schlägt sich eine Metonymie-Metapher-Konstel‐ lation nieder. Die variable Stelle hinter der Präposition auf wird von einer Substantivkonstruktion Haupt besetzt, die ein geschriebener Ausdruck für den Kopf eines Menschen darstellt. Von daher kann diese Substantivkonstruktion metonymisch für einen Menschen stehen (pars pro toto-Relation). Mit dieser Metonymie kann zusätzlich eine Körper-Metapher hervorgehoben werden. Da ein Haupt sich an der Spitze eines menschlichen Körpers befindet, kann man mit dieser Konstruktion zum Beispiel die große Macht, die Bedeutsamkeit oder die Führungsposition ausdrücken. Von der Metonymie-Metapher-Kon‐ stellation dieser idiomatischen Konstruktion lassen sich zwei grundlegende semantisch bezogene und frame-übergreifende Szenarios ableiten: 1. Jemand wird geschlagen. 2. Die wichtigen Dinge oder Interessen einer Person werden betroffen und zerstört. Zum Beispiel findet man den folgenden Beleg, der in diesen frame-übergreifenden Verwendungsszenarios vorkommt: (1) Die Feinde sind aufs Haupt geschlagen! (Brussig, Thomas: Wasserfarben, Berlin: Aufbau-Taschenbuch-Verl. 2001 [1991], S.-5) Hier sieht man auch, dass die Subjekt-Stelle nicht zwingend erforderlich zu erfüllen ist, wenn man nur den Aspekt der betroffenen Feinde im Beispiel (1) hervorheben möchte. Jedoch werden die Filler an den Subjekt-Stellen in vielen Fällen besetzt. Besonders im historischen Kontext werden die beiden Parteien in einem kriegerischen Kampf genannt. Dies kann in den nachstehenden zwei Beispielen beobachtet werden: (2) Der König der Schotten würde übers Meer aus dem französischen Exil heimkehren und die Engländer aufs Haupt schlagen. (Die Zeit, 26.05.1995, Nr.-22) 5.4 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen 259 <?page no="260"?> (3) Drei Jahre später, der Zar aller Reußen Alexander I. und der König von Preußen Friedrich Wilhelm III. hatten sich inzwischen verbündet und gemeinsam dem Korsen aufs Haupt geschlagen, füllte der Russe den Chor durch weitere „Ge‐ schenke“ nochmals auf Sollstärke auf. (Berliner Zeitung, 06.12.1996) Hier zeigt sich ein implizites Machtgefälle: Die Filler an der Subjekt-Stelle müssen sozial mächtiger oder körperlich stärker als die Filler an der [NP di‐ rekt ]-Stelle (also jemanden) sein. Nur durch die Erfüllung einer impliziten semantischen Beschränkungsbedingung kann ein sinnvoller Satz mit dieser idiomatischen Konstruktion aufgebaut werden. Gerade aufgrund der Machtdis‐ tanz zwischen den Fillern an der Subjekt-Stelle und der [NP direkt ]-Stelle wird die idiomatische Konstruktion häufig im politischen Diskurs verwendet, wo die Macht oder die Einflussreichweite der verschiedenen Parteien bzw. politischen Akteure auf diese Weise vergleichend dargestellt werden. So wird auch die emotive Haltung der Autorenschaft sichtbar: (4) Ob damals auch der Grüne Joschka Fischer den Unionschristen kräftig aufs Haupt geschlagen habe? (Berliner Zeitung, 13.05.2000) (5) So furchtbar aufs Haupt geschlagen worden ist die CDU vom Wähler noch nie. (Der Tagesspiegel, 28.09.1998) (6) Was Wunder, wenn man Kohl lange nicht mehr so grimmig entschlossen gesehen hat wie am Anfang dieser Woche, als er den Pyromanen aufs Haupt schlug. (Die Zeit, 17.02.1989, Nr.-8) In Beispiel (4) wird ein Machtvergleich zwischen dem damaligen Grünen-Po‐ litiker Joschka Fischer und den Politikern der Unionsparteien gezogen. Die analysierte Konstruktion wird in Beispiel (5) in einer Passiv-Konstruktion wie‐ dergegeben. So wird die ursprüngliche Stelle von [NP direkt ] auf die Subjekt-Stelle dieser Passiv-Konstruktion verschoben. Dadurch wird die ablehnende Haltung der Wählerschaft gegenüber der CDU zum Ausdruck gebracht. Der Beleg (6) hebt die politische Macht von Kohl hervor. Zusammengefasst kann die idiomatische Konstruktion jemanden aufs Haupt schlagen ein Vernichtungsframe aktivieren, in dem den dargestellten Personen an der [NP direkt ]-Stelle geschadet wird. Jedoch kann die idiomatische Konstruk‐ tion in anderen zwei frame-spezifischen Verwendungsszenarios auftreten: In einem kriegerischen Kontext können die beiden beteiligten militärischen Par‐ teien verglichen werden und das Schlachtergebnis zum Ausdruck gebracht werden, während das implizierte Machtgefälle zwischen der Subjekt-Stelle und 260 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="261"?> der [NP direkt ]-Stelle häufig auf ein politisches Verwendungsszenario übertragen wird. - 5.4.4.2 Beispiel 8: jemanden in seinen Bann ziehen In der idiomatischen Konstruktion jemanden in seinen Bann ziehen (Bedeutung: ganz gefangen nehmen, fesseln) gibt es zwei Stellen, die von Fillern besetzt werden müssen: die Subjekt-Stelle und die [NP direkt ] vor der Behälter-Meta‐ pher-Konstruktion in seinen Bann. Das Personalpronomen hinter der Präposi‐ tion in hängt von der Subjekt-Stelle ab und dies wird festgelegt, wenn die Subjekt-Stelle bestimmt wird. In einem frame-übergreifenden Verwendungss‐ zenario kann diese Konstruktion ein Faszinationsframe auslösen. Die Filler an der Subjekt-Stelle in diesem Verwendungsszenario können berühmte Persön‐ lichkeiten, bestimmte Sachen, Sachverhalte oder Organisationen sein: (1) Theodor Storm, einer der anziehendsten Dichter des 19. Jahrhunderts und ein großer Kenner der unbeherrschbaren menschlichen Seele, hat den sehr norddeut‐ schen Dichter Jochen Missfeldt in seinen Bann gezogen. (Die Zeit, 22.11.2017, Nr.-48) (2) „Der Verein hat mich in seinen Bann gezogen“, sagte der Fußballlehrer (Die Zeit, 28.02.2014, Online) (3) Kein Handyspiel hat mich in diesem Jahr stärker in seinen Bann gezogen als Dots, eine App, wie sie minimalistischer nicht sein könnte. (Die Zeit, 19.12.2013, Nr. 52) (4) „Das kleine Gespenst“ hat unzählige Kinder in seinen Bann gezogen. (Die Zeit, 04.11.2013, Online) Für die Bedeutung der Subjekt-Stelle im Beispiel (4) muss man jedoch zusätz‐ liches frame-spezifisches Wissen eingeholt werden, besonders wenn die Nomi‐ nalphrasen-Konstruktion an der Subjekt-Stelle in Anführungszeichen steht. Die Filler der Subjekt-Stelle beziehen sich hier auf eines der bekanntesten Bücher des Kinderbuchautors Otfried Preußler. Dieses Werk zählt zu den Klassikern deutschsprachiger Kinder- und Jugendliteratur. Berücksichtigt man dieses frame-spezifische Wissen nicht, ist nicht zu verstehen, warum ein kleines Spukwesen zahlreiche Kinder fasziniert. Dies zeigt, dass die semantischen bzw. syntaktischen Aspekte dieser Konstruktion bei der konkreten Auslegung dieses Satzes nicht helfen und das frame-spezifische enzyklopädische Wissen zunehmend eine wichtige Rolle spielt. 5.4 Analysedimensionen der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen 261 <?page no="262"?> (5) Auch Obama ist es nicht wirklich gelungen, die eigene Basis in seinen Bann zu ziehen. (Die Zeit, 01.11.2012, Online) (6) Die Flut von Krimiserien im Fernsehen zeugt davon, wie sehr das Töten uns in seinen Bann zieht. (Die Zeit, 11.10.2012, Nr.-42) Im Beispiel (5) wird die [NP direkt ]-Stelle von einer Nominalphrase die eigene Basis besetzt. Diese Nominalphrase bezieht sich in diesem parteipolitischen Verwendungsszenario auf die Unterstützung der demokratischen Partei, die hinter Obama steht. Durch die Negation wird eine implizite Kritik an der politischen Rückhaltlosigkeit von Obama ausgeübt. Aus den Beispielen (1) bis (4) ist ersichtlich, dass die Filler an der Subjekt-Stelle üblicherweise Bezug auf die bewundernswerten Persönlichkeiten, Sachen oder Sachverhalte nehmen. Je‐ doch wird die Subjekt-Stelle im Satz (6) von einer unerwarteten Nominalphrase das Töten besetzt. Die Handlung der Tötung ist in einem frame-übergreifenden Verwendungsszenario nicht unbedingt ein Sachverhalt, der per se fasziniert. Jedoch bietet der Hauptsatz davor ein frame-spezifisches Szenario, in dem von Krimiserien im Fernsehen geredet wird. Dies stellt die Besetzung der Subjekt-Stelle in der idiomatischen Konstruktion in einen sinnvollen und nachvollziehbaren Zusammenhang. 5.5 Schlussbetrachtung Das vorangegangene Kapitel hat unter Verwendung des vierdimensionalen Ansatzes der Konstruktionsanalyse die idiomatischen Konstruktionen zu Raum- und Bewegungskonzepten im Chinesischen und Deutschen anhand zahlreicher Korpusbelege untersucht. Der von mir geforderte Analyseansatz soll als Annä‐ herung an ein neues Analysemodell in der Konstruktionsgrammatik aufgefasst werden, das den prosodischen, den strukturellen, den semantischen sowie den pragmatischen Aspekt berücksichtigt. Um dieses Modell zu benennen, werden die jeweiligen Anfangsbuchstaben der bezogenen Dimensionen zusammenge‐ stellt. Dieses vierdimensionale Modell für die Konstruktionsanalyse wird bei mir als PSSP-Modell bezeichnet. Nun werden die wichtigen Dimensionen des PSSP-Modells nochmals zusammengefasst: Prosodie. Für eine Tonalsprache wie die chinesische Sprache ist wichtig zu analysieren, welche Muster in der Untersuchung in welcher Vorkommensfre‐ quenz im Korpus zu beobachten sind. Für eine nicht Tonalsprache wie die deutsche Sprache spielen die Analyse der Silbenzahl sowie die Silbenstruktur 262 5 Metapher und idiomatische Konstruktionen <?page no="263"?> bestimmter Teilkonstruktionen eine gewichtige Rolle. In beiden Sprachen gibt es prosodische Constraints, die die Produktivität einer Konstruktion sowie die Struktur einer Konstruktion maßgeblich beschränken können. Die prosodischen Beschränkungen einer Konstruktion gilt es zu berücksichtigen. Struktur. Die Konstruktionsanalyse auf der strukturellen Ebene beinhaltet zumindest sechs zentrale Dimensionen. Zunächst muss das grundlegende struk‐ turelle Muster aus zahlreichen konkreten Konstruktionen abstrahiert werden. Danach muss von diesem strukturellen Muster ausgegangen werden und seine mögliche Konstruktionsbedeutung resümiert werden. Im dritten Schritt müssen die stabilen Slots und die variablen Slots dieser Konstruktion festgelegt werden. Es ist dann besonders interessant zu überprüfen, was für Konstruktionen die va‐ riablen Stellen einer Konstruktion besetzen können. Dabei müssen die typischen Filler der variablen Stellen framebezogen analysiert werden. Die letzten zwei Dimensionen aus der strukturellen Perspektive betreffen die Prinzipien der Iko‐ nizität sowie die Produktivität einer bestimmten Konstruktion. Beispielsweise ist die morphologische Ikonizität in den chinesischen Chengyu-Konstruktionen für die strukturelle Analyse von großer Bedeutung (vgl. besonders die Analyse zu XXXR- und RXXR-Muster in Kap. 5.3.2). Semantik. Zunächst muss die Schematizität-Metapher-Konstellation in der Konstruktion genau betrachtet werden, wobei die verschiedenen Schemata in der Konstruktion analysiert werden müssen und die Metonymie-Meta‐ pher-Konstellation ebenfalls mitgerechnet werden muss. Danach müssen die syntaktischen und die semantischen Rollen der Teilkonstruktionen deskriptiv immer in einem konkreten Fall bestimmt werden. Besonders bei den chinesi‐ schen Chengyu-Konstruktionen fällt auf, dass die Teilkonstruktionen einer Chengyu-Konstruktion verschiedene syntaktische und semantische Rollen ein‐ nehmen können und dieselbe Chengyu-Konstruktion als Ganzheit in einem Satz dann möglich andere syntaktische bzw. semantische Funktionen übernehmen kann. Diese rollensemantische Eigenschaft wird als syntaktische und semanti‐ sche Doppelrolle der Chengyu-Konstruktion bezeichnet (vgl. Kap. 5.3.3). Pragmatik. Die letzte Analysedimension bezieht sich auf die pragmatische Seite der Konstruktion. Damit ist gemeint, ob man zur vernünftigen Deutung einer Konstruktion ausschließlich frame-übergreifendes Wissen heranziehen muss (also die Semantik einer Konstruktion). Für manche Konstruktionen sind zusätzliches frame-spezifisches Wissen und der pragmatische Kontext für die Auslegung erforderlich (also die Pragmatik einer Konstruktion). Dies gilt als ein wichtiger Ausgangspunkt für die folgenden zwei Kapitel, in denen eine spezifische metaphorische Konstruktion immer in einem bestimmten Verwen‐ dungsszenario analysiert wird. 5.5 Schlussbetrachtung 263 <?page no="265"?> 6 Metaphorische Konstruktionen im Text Im letzten Kapitel wird der Versuch unternommen, den bis jetzt gängigen Konstruktionsbegriff, der Konstruktionen als Form-Bedeutungspaar bzw. Form-Funktionspaar definiert, zu reflektieren und durch chinesische und deutsche Korpusdaten das traditionelle Verständnis über Konstruktionen zu überprüfen. Daraus ableitend fordere ich einen vierdimensionalen Ansatz zur Beschreibung einer idiomatischen Konstruktion, der die prosodische, die struk‐ turelle, die semantische und die pragmatische Seite dieser Konstruktion umfasst, der anhand der korpusbasierten Untersuchung in Kapitel 5 validiert wird. Die umfangreiche Analyse der Konstruktionen auf der idiomatischen Ebene durch das neue vier-dimensionale Modell im letzten Kapitel deutet zudem darauf hin, dass besonders die bisher vernachlässigten Aspekte wie Prosodie und Pragmatik in der zukünftigen konstruktionsgrammatischen Forschung deshalb verstärkt berücksichtigt werden sollen. Das vorliegende Kapitel 6 setzt sich vor allem mit der pragmatischen Perspek‐ tive der Konstruktionsdefinition auseinander. Speziell beschäftigt sich dieses Kapitel mit dem Zusammenhang zwischen metaphorischen Konstruktionen, Frames und Argumentationen auf einer textuellen Ebene (Kap. 6.1), weil die Betrachtungsweise des letzten Kapitels überwiegend auf die syntaktische Ebene fokussiert und dieses Kapitel nun den vorgestellten Ansatz aus dem vorherigen Kapitel (vgl. Kap. 5) auf eine größere Spracheinheit, nämlich Texte, überträgt und ihn überprüft. In einer sachlichen Argumentation, insbesondere im politischen, wirtschaft‐ lichen sowie kulturellen Kontext, kommen fachsprachliche Konstruktionen un‐ vermeidlich vor. Jedoch werden sie nicht so einfach und willkürlich ausgewählt und zum Einsatz im Leitartikel gebracht. Die eingesetzten Fachkonstruktionen in einem Leitartikel geben den Anschein, dass der thematisierte Sachverhalt dort möglichst sachlich, objektiv und professionell behandelt wird, besonders wenn der Artikel von den relevanten wissenschaftlichen Autoritäten verfasst wird. Diese Sichtweise kann nur teilweise und bedingt als richtig betrachtet werden, wenn die verwendeten Fachkonstruktionen dort nur in ihren fachlichen Bedeutungen auftreten. Jedoch kann eine Fachkonstruktion im Leitartikel in metaphorischer Bedeutung verwendet werden. In manchen Fachkonstrukti‐ onen findet man auch noch die Kategorien der Metaphern, die im Kapitel 6.1 zusammengefasst werden. Anhand von zwei chinesischen Fachkonstruktionen ( 道德风险 , moralisches Risiko; 发展压差 , Entwicklungsdifferenzdruck) und einer <?page no="266"?> deutschen Fachkonstruktion (Respirator) wird in Kapitel 6.2 argumentiert, dass sich die Fachkonstruktionen durchaus subjektiv, persuasiv, manipulativ und emotiv auswirken können. Darüber hinaus bemerkt man, dass die in den drei Fachkonstruktionen verwendeten Metaphern auch in den Kategorien der Metaphern aus dem Kapitel 6.1 zu finden sind. Dies soll aber nicht als unnötige Überscheidung angesehen werden. Dies bekräftigt noch, dass die im Kapitel 6.1 zusammengefassten Metaphern einen breiten Anwendungsbezug haben, sie durchaus auch in den Fachkonstruktionen einfließen und den Fachkonstrukti‐ onen ein manipulatives Persuasionspotenzial zuschreiben können. In einem Leitartikel werden nicht nur Fachkonstruktionen gebraucht, son‐ dern auch neue und kreative Konstruktionen. In den neuen bzw. kreativen Konstruktionen findet man ebenfalls die Metaphern, die in Kapitel 6.1 zu‐ sammengefasst werden. Dies verdeutlicht, dass die dort zusammengefassten Metaphern nicht nur Anwendung in der Fachkonstruktion, sondern auch in der neuen Konstruktion finden. Daher sollen die Kategorien der Metaphern aus dem Kapitel 6.1 als grundlegende Kategorien der Metaphern im Leitartikel angesehen werden. Darüber hinaus werden die neuen Konstruktionen nicht nur anhand von solchen Metaphern kreiert. Die beiden Unterkapitel weisen nach, dass die Auswahl sowohl von den metaphorischen Konstruktionen als auch den fachlichen Konstruktionen im Leitartikel nicht beliebig ist. Sie hängt einerseits vom dargestellten Kontext und anderseits von der framebezogenen Argumenta‐ tionsentfaltung ab. Es gibt in diesem Auswahlprozess manche Konstruktionen, die bevorzugt verwendet werden und Konstruktionen, die eher vermieden werden. In diesem Sinne befinden sich alle potenziellen Konstruktionsalterna‐ tiven in einem Wettbewerb. Um besser in diesem Konstruktionskampf abzu‐ schneiden, muss eine Konstruktion eine bestimmte Strategie entwickeln. Diese Strategie verfolgt auch bestimmte Regeln hinsichtlich des Aufbaus der neuen und kreativen Konstruktionen. Solche Regeln werden bei mir als Konkurrenz‐ strategien benannt. Im letzten Unterkapitel 6.3 werden die vier am häufigsten verwendeten Konkurrenzstrategien der kreativen Konstruktionen vorgestellt. 6.1 Metaphorische Konstruktion, Frame und Argumentation Schon in Kapitel 2 wurde deutlich, dass Metaphern den Deutungsrahmen bestimmen und unterstützendes Argumentationspotenzial besitzen. In diesem Kapitel wird dieser Eigenschaft bzw. Funktion der metaphorischen Konstruk‐ tionen empirisch und korpusgestützt nachgegangen. In der Untersuchung kommen die folgenden sieben Kategorien von Metaphern aus unterschiedlichen 266 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="267"?> Ursprungslebensbereichen sehr häufig vor: Naturmetapher, Tiermetapher, Frei‐ tzeitbeschäftigungsmetapher, Reisemetapher, Essensmetapher, Krankheitsme‐ tapher und letztlich Wirtschaftsmetapher. Das heißt aber nicht, dass die anderen Metaphern nicht in den untersuchten Leitartikeln erscheinen. In jedem unter‐ suchten Leitartikel treten unterschiedliche Metaphern aus unterschiedlichen Lebensbereichen auf. Jedoch nehmen die oben aufgelisteten sieben Kategorien einen vergleichsweise hohen Stellenwert in der Argumentation ein bzw. werden quantitativ öfter zum Einsatz gebracht. Im Folgenden wird erläutert, wie genau die metaphorischen Konstruktionen den Deutungsrahmen begleiten, festlegen bzw. beschränken und somit die aufgestellten Thesen und Argumentationen in den entsprechenden Leitartikeln untermauern. 6.1.1 Naturmetaphorik Metaphern, die sich beispielsweise auf die Witterungslagen, das Klima, die Jahreszeiten oder sogar Naturkatastrophen beziehen, können häufig die tex‐ tuelle Argumentation begleiten. Verschiedene Naturmetaphern sind dement‐ sprechend kulturell unterschiedlich konventionalisiert bzw. verfestigt. Von daher können sie auch den Deutungsrahmen und die Argumentation in eine gewünschte Richtung lenken. Zum Beispiel erwacht die Natur im Frühling zum Leben: Die Sonnenstrahlung wird stärker, der Tag wird länger, die Temperaturen steigen, die ersten Blumen blühen, vieles kommt in Bewegung und Menschen sind wieder aktiv. Der Frühling ist deswegen häufig mit positiven Konnotationen verbunden. Daher wird der Frühling üblicherweise als Wiederbelebung metaphorisiert. Ein Leitartikel aus Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan (Ausgabe 3, 2015) benutzt bewusst diese Metapher schon im Titel, um die Wiederbelebung der klein- und mittelständischen chinesischen Privatbanken zu bezeichnen, indem man von „ 民营银行的春天 “ (Der Frühling der Privatbanken) redet. In diesem chinesischen Leitartikel über die aktuelle Entwicklung der kleinbzw. mittelständischen Un‐ ternehmen in China und im chinesischen Bankwesen meint der Autor, dass die Privatbanken in einem hohen Ausmaß die chinesische wirtschaftliche Ökologie verbessern können. Die Frühlingsmetapher deutet zum einen auf die Hauptthese des Artikels und zum anderen auf die positive Einstellung des Autors gegenüber der aktuellen Privatbankentwicklung hin. Hingegen ist der Winter nach einer menschlichen Alltagserfahrung in der Regel kalt und anstrengend. Überträgt man diese natürliche Erfahrung auf den Wirtschaftsbereich, ist die WINTER IST WIRTSCHAFTLICH SCHLECHT-Metapher deutlich ganz am Anfang eines Leitartikels zu spüren: 6.1 Metaphorische Konstruktion, Frame und Argumentation 267 <?page no="268"?> 中国经济正经历一场痛苦而深刻的转型。企业家往往是最早感受到市场寒冬的人,他们 也比任何人都能更加快速地找到御寒的方法,市场的残酷往往让他们更加清楚常识的重 要性 (Die chinesische Wirtschaft durchläuft einen schmerzhaften und tiefgreifenden Wandel. Unternehmer sind oft die ersten, die den kalten Winter des Marktes spüren, und sie können auch schneller als jeder andere einen Weg finden, die Kälte draußen zu halten. Die Grausamkeit des Marktes macht ihnen oft mehr bewusst, wie wichtig die allgemeinen Marktregeln sind. Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 11/ 2016: 新常态更需要“草根精神 ”) Die Diskussion über das jetzige Soll-Verhalten der chinesischen Unternehmen im Kontext des wirtschaftlichen Strukturwandels in China wird durch die einlei‐ tende Winter-Metapher in diesem Leitartikel eröffnet. Anschließend bespricht der Autor viele Probleme während der rapiden chinesischen Wirtschaftsent‐ wicklung in den letzten 30 Jahren, die der Winter der chinesischen Volkswirt‐ schaft symbolhaft zur Sprache bringt: Vernachlässigung der Produktqualität und Kundenservice. Um den wirtschaftlichen Winter zu überstehen, müssen nach der Ansicht des Autors die chinesischen Unternehmen jetzt Innovation, Ausdauer und Durchhalten aufgreifen. Diese Winter-Metapher übernimmt in diesem Leitartikel die Funktion, symbolisch die jetzigen Herausforderungen, die den chinesischen Unternehmen bevorstehen, veranschaulicht darzustellen. Zudem leitet man von dieser Winter-Metapher natürlich und argumentativ lo‐ gisch ab, dass die chinesischen Unternehmen unbedingt Maßnahmen ergreifen müssen (z. B. interne Kompetenzfähigkeiten fördern), um diese winterliche Kälte überwinden zu können. Dies wird ganz am Ende des Artikels mit der Frühlingsmetapher kombiniert dargestellt: 经济危机未必会很快会过去,越是寒冬越要苦练内功,迎接更大的挑战。爬过这个漫长 的寒冬,迎接你的将是鲜花烂漫的春天。 (Die Wirtschaftskrise wird vielleicht nicht so schnell vorübergehen. Je kälter der Winter ist, umso wichtiger ist es, interne Fähigkeiten zu fördern und sich größeren Herausforderungen zu stellen. Wenn Sie durch diesen langen Winter klettern, werden Sie vom blühenden Frühling begrüßt. Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 11/ 2016: 新常态更需要“草根 精神 ”) Die Naturmetaphorik umfasst nicht nur die positiven Aspekte in der Natur. Auch die negativen Seiten in der Natur können als Ursprungsbereiche der Metapher dienen. Zum Beispiel ist die Katastrophen-Metapher besonders auffällig und produktiv, sowohl in den chinesischen als auch in den deutschen Leitartikeln. Hochwasser-, Brandbzw. Erdbeben-Metaphern sind zum Beispiel die häu‐ figsten Katastrophen-Metaphern in den untersuchten Texten. Im Folgenden möchte ich die Erdbeben-Metapher aus einem Leitartikel von Der Spiegel etwas 268 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="269"?> näher betrachten. Bereits im Titel des Leitartikels schlägt sich diese Metaphorik nieder: Ein Beben im Zentrum Europas. Die Berliner Regierungskrise und der Siegeszug der Autokraten. (Der Spiegel, 48/ 2017) Das Erbeben im Titel kann zuerst nur wörtlich interpretiert werden, weil man ohne zusätzliche Informationen nicht weiß, ob es sich tatsächlich um ein echtes und großes Beben im europäischen Zentrum handelt. Mit dieser Beben-Me‐ taphorik wird eine Reihe von Frames bzw. framebezogene Fragenkomplexe aktiviert: Wo ist es besonders stark betroffen (das Epizentrum)? Wie stark ist dieses Beben (Erdbebenskala)? Wie viele Leute sind gestorben bzw. verletzt? Erst der Untertitel verrät, dass dieses Beben sich auf die deutsche Regierungskrise bezieht. Überträgt man diese Beben-Metapher auf den politischen Bereich, dann erwartet man schon vor dem Lesen Antworten auf beispielweise die folgenden Fragen: Was für ein politisches Ereignis ist passiert? Welche Staaten bzw. Parteien sind wie betroffen? Welche Faktoren führen zu diesem Beben? Welche Maßnahmen werden ergriffen? Welche Konsequenzen muss man ziehen? Bevor der Autor die aktuelle Regierungskrise, die durch den Abbruch der Jamaikagespräche (zur Konstruktion Jamaikagespräche vgl. Kap. 6.3.2) entsteht, ins Auge fasst, lässt er kurz viele politische Ereignisse seit dem 11. September 2001 im Westen als andere politische Beben Revue passieren: die planlosen Interventionen im Irak, in Afghanistan und in Libyen sowie die Wirtschaftskrise seit 2008. Er weist zudem darauf hin, dass die nicht mehr verlässliche und fragile Demokratie für den Gewinn der Präsidentschaftswahl von Donald Trump und den Brexit verantwortlich ist. Und danach kommt der Autor auf das politische Beben in Berlin zurück und fasst den jetzigen Stand nach dem politischen Beben zusammen: Eine geschäftsführende Regierung ist im Amt, der Bundespräsident agiert um‐ sichtig, das Land ist wirtschaftlich robust, das System funktioniert. Auch die Kanzlerin, die ihr Tun meist lustlos erklärte und das Land in zwölf Jahren dahin geführt hat, wo es jetzt angekommen ist, behandelt in diesen Tagen bedächtig und erwachsen. Eine SPD, die vorschnell, nämlich kindisch-trotzig, zweimal Nein gesagt hat, kann kaum mehr in die Große Koalition eintreten - das würde sie marginalisieren. In vier Jahren läge sie bei 15 Prozent. Inzwischen sind allein baldige Neuwahlen sinnvoll, die dann, hoffentlich, zu einem zweifelsfreien Regie‐ rungsauftrag und, gewiss, zu Dringlichkeit und Verantwortungsbewusstsein bei den nächsten Sondierungen führen werden. Dies ist das eigentlich Verstörende an Christian Lindners Coup, an dem Geschrei der CSU, an dem wochenlangen Feilschen um Details ohne den Blick fürs Ganze: dieser 6.1 Metaphorische Konstruktion, Frame und Argumentation 269 <?page no="270"?> Unernst. Die Priorisierung: Individualismus vor Allgemeinwohl. Dieser wohlstands‐ verwahrloste Narzissmus. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel, 48/ 2017: Ein Beben im Zentrum Europas. Die Berliner Regierungskrise und der Siegeszug der Autokraten) Durch die Beschreibung oben ist klar, dass dieses politische Beben von mehreren parteipolitischen Faktoren bzw. Fehlverhalten verursacht wird. Die Verwendung von Konstruktionen wie Verstörende, Coup, Geschrei, Feilschen um Details und Unernst bringt die verantwortungslosen, chaotischen und individualistischen Gespräche zwischen den Parteien zur Sprache. Nach der Beschreibung des politischen Bebens wird die Perspektive gewechselt, indem der Autor die rapide Entwicklung Chinas und das erfolgreiche chinesische Modell kritisch vorstellt. Er weist zudem auf die undemokratische bzw. autokratische Entwicklung in der Türkei, Russland, Polen, Ungarn und in den USA hin. Dadurch wird das politische Beben in Berlin als ein demokratisches Beben im internationalen Kontext dargestellt. Der Autor hält am Ende fest, dass die Berliner Regierung sich nun Gedanken über das demokratische Beben und die internationale Entwicklung der Autokratie machen muss, um ein solches Beben in Zukunft zu vermeiden. Die Beben-Metapher unterstützt und formt die Argumentation des Leitartikels folgendermaßen: Nun ist Berlin das Epizentrum des politischen Bebens, das durch parteipolitische Fehlpraktiken ausgelöst wird. Jedoch kann China nach der Ansicht des Autors als ein Gegenmodell zur Demokratisierung in den letzten Jahren durch den rasanten wirtschaftlichen Anstieg solche Beben vermeiden. Viele anderen Ländern versuchen dieses chinesische Modell nachzuahmen und „sich aus dem Kreis der Demokratien“ zu verabschieden. Von daher muss die Berliner Regierung endlich den politischen Kontext neu bedenken und Konsequenzen hinsichtlich des politischen Bebens ziehen. 6.1.2 Tiermetaphorik In der Untersuchung ist als besonders auffällig anzumerken, dass die Tierme‐ taphorik eine wichtige Rolle im chinesischen Antikorruptionskampf-Diskurs spielt, der im 18. Nationalkongress der KP China offiziell angekündigt wurde. Zu den häufig metaphorisch konzeptualisierten Tieren im chinesischen Kontext gehören Ratten, Tiger und Fliegen. Im Vergleich zu Ratten und Fliegen sind Tiger viel mächtiger und stärker. Daher bezeichnet man die hohen Beamten als Tiger und die mit niedrigeren Rängen als Ratten oder Fliegen. Diese Meta‐ phorik ( HOCHRANGIGE BEAMTE SIND MÄCHTIGE TIGER UND KLEINE BEAMTE SIND WENIGER MÄCHTIGE FLIEGEN/ RATTEN ) wird besonders 2015 im Kampf gegen Korruption in China mehrfach verwendet. Die Einführung 270 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="271"?> der relevanten Tiermetaphern in Anführungszeichen zeigt, dass es sich hier um einen absichtlichen Metapherngebrauch (deliberate metaphors) handelt. Diese absichtlichen Metaphern beziehen sich erstens auf die direkte Wortübernahme dieser Tiermetaphern aus der Aussage vom Präsidenten Jinping Xi im 18. Volks‐ kongress der KP China und lenken zweitens das Augenmerk der Leserschaft bewusst auf diese Metaphern: (1) 还有一些“硕鼠”“小官巨腐”,越过法律的准绳,滥用职权、贪污受贿,窃取 “黑色收入”。 (Es gibt auch einige „große Ratten“, „kleine Beamten, die Beste‐ chung in hoher Summe nehmen“, die Gesetze verletzt, ihre Macht missbraucht, Bestechungsgelder unterschlagen und akzeptiert haben und „schwarzes Ein‐ kommen“ gestohlen haben. Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 05/ 2015: 公务员加薪不可缺少透明 ) (2) 十八大召开时,人民网曾做过一次民意测验,反腐倡廉仅次于民主政治,排在第二 位。此后的两年,“打虎拍蝇”的反腐风暴就在中国大地上迅猛刮起。 (Anlässlich des 18. Nationalkongresses der KP Chinas führte People's Daily Online eine öffentliche Meinungsumfrage durch: Korruptionsbekämpfung und der Aufbau einer sauberen Regierung standen nach Demokratisierung an zweiter Stelle. In den folgenden zwei Jahren wütete der Anti-Korruptionssturm der „Tiger und Fliegen schlagen“-Bewegung rasant über das ganze Land in China. Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 11/ 2015: 警惕适度腐败可以促进经济论 ) (3) 曾有报道,某“大老虎”被抓后,有乡邻仍因当初未沾光而抱怨。分析“大老虎” 落马的教训,不难发现,其身边的一些部属和家人难逃干系。 (Es gab Berichte, dass sich nach der Festnahme eines „großen Tigers“ einige Nachbarn immer noch beschwerten, weil sie noch nicht von ihm profitierten. Analysiert man die Fälle der „großen Tigers“, ist es nicht schwer festzustellen, dass einige seiner Untergebenen und Familienmitglieder ihre Korruption erduldet haben. Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 16/ 2015: 必须铲除腐败文化的土壤 ) (4) 随着反腐败的深入,我们不难发现一个规律:每一个打下的“老虎”背后,都有 几个成功的商人,而每一个垮掉的老板背后,也常常会带出若干“苍蝇”或“老 虎”。 (Mit der Vertiefung der Korruptionsbekämpfung fällt es uns nicht schwer, eine Regel zu finden: Hinter jedem niedergelegten „Tiger“ stehen mehrere erfolg‐ reiche Geschäftsleute und hinter jeder festgenommenen Geschäftsperson oft eine Reihe von „Fliegen“ oder „Tiger“. Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 37/ 2015: “ 靠山 ” 即 “ 火山 ”) 6.1.3 Freizeitbeschäftigungsmetaphorik Die Metaphern, die aus dem Bereich der Freizeitbeschäftigung stammen, bilden den größten Teil der verwendeten metaphorischen Konstruktionen in den untersuchten chinesischen und deutschen Leitartikeln. Diese Freizeitbeschäfti‐ gungsmetaphorik kann zum Beispiel Bezug auf Kartenspiel, Theater, Laufen 6.1 Metaphorische Konstruktion, Frame und Argumentation 271 <?page no="272"?> oder Schachspiel nehmen. Besonders die Theater-Metaphorik wird mehrfach in den deutschen Leitartikeln eingesetzt. Meistens werden die Theater-Metaphern im politischen Diskurs eingesetzt, wobei die unterschiedlichen politischen Akteure (z. B. Staaten, Parteien oder politische Organisationen) diverse Rollen bezüglich einer politischen Angelegenheit auf der internationalen Bühne über‐ nehmen: (1) Mindestens 1750 tote Flüchtlinge schon in diesem kurzen Jahr, ertrunken im Mittelmeer. Das europäische Drama, zu dem es jetzt hektische Konferenzen gab, ereignet sich seit über zwei Jahrzehnten. Inzwischen sind wohl weit mehr als 25000 Menschen ertrunken auf ihrer Reise in das gelobte Land, in dem wir leben und das Europa heißt. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel, 18/ 2015: Abwehr der Trauer. Warum es wegen des Massensterbens im Mittelmeer keine Proteste gibt) (2) Das Ringen um das Freihandelsabkommen Ceta ist insofern ein typisches Euro‐ drama. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel, 44/ 2016: Ein Eurodrama. Der Streit um das Freihandelsabkommen Ceta zeigt die tiefe Krise der EU) (3) Die amerikanische Tragödie (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel, 21/ 2017: Wie werden wir Trump los? Die amerikanische Tragödie und ihre weltpolitischen Folgen) (4) Es ist leicht, das alles zu kritisieren. Das Gipfeltheater, die gestellten Fotos, den Sicherheitswahnsinn, die Lippenbekenntnisse. Viel zu teuer, zu wenig konkret, alles nur Symbole. Zu undemokratisch, zu aufwendig, zu unverbindlich. (Hervor‐ hebung von BZ, Der Spiegel, 28/ 2017: Die Weltregierung. Die G20 mag viele Fehler haben, trotzdem ist sie wichtiger denn je) Die Theater-Metapher kann dementsprechend auch in chinesischen Leitartikeln beobachtet werden. Jedoch wird diese Kategorie der Metapher nicht so häufig gebraucht wie im deutschen Leitartikel. Zum Beispiel wird im Titel eines Leitartikels die Strukturreform der chinesischen Wirtschaft als ein wichtiges Theater bezeichnet ( 结构性改革才是重头戏 : Die Strukturreform ist das wich‐ tigste Theater, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 24/ 2016). Im chinesischen Leitar‐ tikel wird die Schachspiel-Metapher (eigentlich ein spezifisches Schachspiel, nämlich das Xiangqi-Spiel in China) vielfältig im politischen Kontext zum Einsatz gebracht: (1) 走活“一带一路”这盘大棋,安全问题应是第一考量 (Um das Xiangqi-Spiel der „Seidenstraße“ gut zu spielen, soll man zuerst das Sicherheitsproblem bedenken. Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 14/ 2015: 海外安全需要战略设计 ) (2) “ 三权分置”是涉及全国 9 亿农村人口的一盘大棋 (Die Verteilung der Eigentums‐ rechte, Vertragsrechte bzw. Managementrecht ist ein riesiges Xiangqi-Spiel, das 272 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="273"?> 900 Millionen Landbevölkerung in ganz China betrifft. Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 42/ 2016: 农村土地“三权分置”重在保护农民自主权 ) Theaterbzw. Schachspiel-Metaphern sind besonders im politikbezogenen Leit‐ artikel in den beiden Sprachen häufig verwendet worden. Die handelnden Politiker, politische Parteien bzw. politische Organisationen werden als Haupt‐ figuren bzw. Spieler dargestellt. Der Entscheidungsprozess wird dementspre‐ chend als Aufführung eines Theaters bzw. eines Schachzugs metaphorisiert. Darüber hinaus können solche Metaphern auch zusammen mit anderen Meta‐ phern aus dem Freizeitbeschäftigungsbereich den Deutungsrahmen des Leitar‐ tikels bzw. die Argumentation unterstützen. Im Folgenden möchte ich dies anhand eines chinesischen Leitartikels etwas näher betrachten. In diesem chinesischen Leitartikel wird dargelegt, dass einer der wichtigsten Schritte hinsichtlich der umfassenden Vertiefung der Reformen in China in der Vereinfachung der Verwaltung bzw. der Ermöglichung einer unbürokrati‐ schen Verwaltungsweise liegen soll. Schon im ersten Abschnitt des Artikels werden zwei Metaphern, die von dem chinesischen Premierminister Keqiang Li verwendet wurden und ursprünglich aus dem chinesischen Schachspiel (Xiangqi-Spiel) stammen, eingesetzt: 国务院总理李克强 9 月 16 日主持召开国务院常务会议强调,必须把简政放权放管结合 等改革推向纵深。简政放权是全面深化改革的“先手棋”和转变政府职能的“当头炮” (Premierminister Keqiang Li leitete am 16. September eine Sitzung des Staatsrates und betonte, dass Reformen und unbürokratische Verwaltung vorangetrieben werden müssen. Die unbürokratische Verwaltung ist ein „erster Zug“ für eine umfassende Vertiefung der Reformen und ein „Kopfschuss“ für die Transformation von Regie‐ rungsfunktionen. Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 36/ 2015: 简政放权不是“放下心”, 而是“用上心 ”) Die dreisilbigen Konstruktionen 先手棋 (vorne + Hand + Schach: erster Schachzug) und 当头炮 (gegen + Kopf + Kanone: die Kanone wird am Anfang des Spiels in die Mittelinie des Spielfelds hinter Soldaten gesetzt, sodass der Feldherr des Feindes in potenzielle Gefahr gerät. Bezeichnet, dass Gefahr bzw. ein Angriff bevorsteht) sind zwei wichtige Fachkonstruktionen bzw. Spielstrategien im chinesischen Schachspiel. Durch die Verwendung der beiden Schachspiel-Me‐ taphern wird der Gesamttext in einen Schachspiel-Frame gesetzt. In einem Schachspiel gibt es kluge bzw. dumme Züge. Die klugen Züge beziehen sich auf die positive Entwicklung sowie die Errungenschaften seit der Öffnungs- und Reformpolitik vor 30 Jahren in China. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei der Konstruktion 当头炮 nicht um eine 6.1 Metaphorische Konstruktion, Frame und Argumentation 273 <?page no="274"?> Kriegsmetapher handelt, obwohl die Konstruktion 炮 (Kanone) einem Konzept aus dem militärischen bzw. kriegerischen Bereich stammt. Diese Konstruktion nimmt hierbei keinerlei Bezug auf die echte Kanone im Krieg, sondern eine Figur aus dem chinesischen Schachspiel. Von daher soll man diese Metapher immer noch dem Ursprungsbereich der Freizeitbeschäftigung bzw. des Schachspiels zuordnen. Jedoch hat der Autor eingeräumt, dass es durchaus viele historisch hin‐ terlassene Probleme in der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas gibt, die die schlechten Züge bilden. Oder im Wortlaut des Autors: 不到位 (nicht + ankommen + Position: nicht an die richtige Position gelangen). Nachstehend sieht man deutlich, dass die nicht richtig verstandenen, geplanten bzw. durch‐ gesetzten Punkte in den vorherigen Reformen in China als falsch positionierte Schachzüge aufgefasst werden: 但是,在改革的进程中,总难免会有一些不到位的地方,有的是理解不到位,有的是设 计不到位,有的是执行不到位。总的来说都是观念不到位。简政放权的实施也是如此。 ( Jedoch gibt es im Prozess der Reformen einige Sachen, die nicht richtig positioniert werden. Manche Sachen werden nicht richtig verstanden, manche nicht richtig geplant oder andere nicht richtig durchgesetzt. Alles in allem hat dies mit der falschen Haltung gegenüber Reformen zu tun. Die Durchsetzung einer unbürokratischen Verwaltung hat auch solche Probleme. Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 36/ 2015: 简政 放权不是“放下心”,而是“用上心 ”) Um die jetzige bürokratische Verwaltungsweise zu verdeutlichen bzw. ihre negative Auswirkung auf den Wirtschaftsmarkt, die Dynamik der Gesellschaft respektive die Bürgerschaft zu veranschaulichen, wird eine Trommelspiel-Me‐ tapher an der entsprechenden Stelle eingeführt. Der Autor beschreibt zuerst die jetzige Situation, dass es großer Anstrengungen und vieler Behördenbesuche bedarf, um eine offizielle Bescheinigung zu bekommen. Dann bewertet er diese Situation folgendermaßen: 因为显而易见,这种方式不但不能使得社会的活力被激发,经济的动力被催动,还弄得 群众灰心丧气,打起了退堂鼓 (Es liegt auf der Hand, dass diese Methode die Vitalität der Gesellschaft und die Dynamik der Wirtschaft nicht stimuliert. Zudem werden die Massen entmutigt und sie zeigen konservatives Konsumverhalten. Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 36/ 2015: 简政放权不是“放下心”,而是“用上心 ”) Die viersilbige Konstruktion 打退堂鼓 (schlagen + zurücktreten + Gericht + Trommel) beschreibt ursprünglich eine Szene in altchinesischem Gericht 公堂 (öffentliches Gericht). Wenn der Hofbeamte ein Urteil über einen Fall fällt oder eine Pause macht, schlagen die auf den beiden Seiten im Hofgericht stehenden 274 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="275"?> Offiziere die große Trommel. So kann der Hofbeamte sich zurückziehen und den Fall beenden bzw. pausieren. Nun bezeichnet diese idiomatische Konstruktion die Leute, die inmitten einer Sache plötzlich austreten wollen oder aus Angst vor Schwierigkeiten oder Gefahr etwas nicht mehr mitmachen. An dieser Stelle im Leitartikel wird durch diese idiomatische Konstruktion mit einer Trommel-Me‐ tapher der negative Aspekt der Bürokratie dargestellt. Dieser negative Aspekt wäre in einem guten Schachspiel dementsprechend nicht wünschenswert. Von daher muss das bürokratische Verfahren als ein dummer Schachzug vermieden werden. Die folgende Darstellung veranschaulicht zusammenfassend die Argu‐ mentation anhand von den zwei Metaphern: Zentrales Argument: Forderung der unbürokratischen Arbeitsweise ist eine wichtige Voraussetzung der Vertiefung der Reformen → Zentrale Metapher (Schachspiel-Metapher): Ein kluger Schachzug ist eine wichtige Voraussetzung für den Sieg. Entfaltung der Argumentation: 1. Es gibt Errungenschaften und Probleme in den letzten dreißig Jahren in Bezug auf die Wirtschaftsreform in China. Die Wirtschaftsreform betrifft viele Bereiche. → In einem Schachspiel unterscheidet man zwischen guten und schlechten Schachzügen. Ein Schachspiel besteht in der Regel aus mehreren Zügen. 2. Die bürokratische Arbeitsweise ist ein negatives Beispiel der Reform‐ spraxis, welche nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die gesellschaftliche Dynamik und das Vertrauen der Bürger beeinträchtigt. → Ein schlechter Schachzug kann das gesamte Schachspiel zerstören (sekundäre Metapher: Trommelspiel-Metapher). 3. Die Regierung muss ihre Funktionen neu definieren bzw. positionieren und sich an den Bedürfnissen der Bürger orientieren. Daher muss eine unbüro‐ kratische Arbeitsweise als eine wichtige Voraussetzung der Vertiefung der Reform weiter durchgesetzt werden. Dadurch werden viele Probleme in der Reform gelöst. → Die Kanone bereits am Anfang des Spiels im Mittelfeld hinter den Soldaten zu setzen ist ein kluger Schachzug, der den Gegner in Gefahr bringt und die Gewinnchance des Schachspiels erhöht. Darüber hinaus findet man auch andere Metaphern im Freizeitbeschäftigungs‐ bereich, die in chinesischen und deutschen Leitartikel vorkommen. In der folgenden Tabelle finden sich einige Beispiele dafür: 6.1 Metaphorische Konstruktion, Frame und Argumentation 275 <?page no="276"?> Freizeitbe‐ schäftigung Beispieltext Tischtennis‐ spielen 另一方面, 法治不健全也为各种经济成分、市场主体的无约束成长提 供了较为宽松的环境,我们所谓的“打擦边球”即是 (Andererseits bietet die unvollkommene Rechtsstaatlichkeit auch ein entspanntes Umfeld für das uneingeschränkte bzw. unkontrollierte Wachstum verschiedener Wirtschaftskomponenten und Markteinheiten. Dies nennen wir „den Ball am Rand des Tischtennistisches schlagen“. Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 08/ 2015: 党纪国法不能虚置 ) Zocken Der Erfolg des Politik-Zockers Johnson war nicht nur eine Niederlage für die britischen Europafreunde, sondern auch für die Anhänger der direkten Demokratie. (Der Spiegel, 27/ 2016: Plebiszit des Grauens. Das Brexit-Votum lehrt, wie leicht die direkte Demokratie missbraucht werden kann) Marathon- Rennen Müde, alle sind so müde, die Politiker, die Bürger, die Medien, die Institutionen, die Demokratie. Europa ist müde, erschöpft, ausgezehrt. Wieder ein Verhandlungsmarathon, der wievielte eigentlich? Wieder diese großen, überanstrengten Augen der Verhandler. (Der Spiegel, 27/ 2015: Nicht Europa, sondern Anti-Europa. Die Griechenlandkrise hat einen alten Traum zerstört. Die Lösung muss radikal sein) Fußball‐ spielen Bundeskanzlerin Angela Merkel gefiel sich lange darin, die Hüterin eines stabilen Euro zu sein und dabei die wirtschaftliche Macht Deutschlands auszuspielen. (Der Spiegel, 49/ 2015: Der böse Vater ist zurück. Europa muss sich in der Krise auf sein politisches Projekt besinnen) Tab. 66: Die anderen häufig verwendeten Metaphern aus dem Bereich der Freizeitbe‐ schäftigung 6.1.4 Reisemetaphorik Unter den verwendeten Reisemetaphern ist die Weg-Metapher besonders auf‐ fällig in den chinesischen Leitartikeln, wo sie unterschiedlich kontextualisiert wird. Nachstehend möchte ich anhand von zwei Leitartikeln verdeutlichen, wie die Weg-Metapher jeweils in Leitartikeln bezüglich der Wirtschaftsreform und des Bildungssystems framespezifisch und argumentativ verwendet wird. Die folgende Weg-Metapher als Leitartikeltitel stammt aus einer Aussage vom chinesischen Premierminister Keqiang Li auf einer Pressekonferenz über die niedrigste Wachstumsrate der chinesischen Wirtschaft: 276 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="277"?> 走一条更为艰难但可持续的路 (einen noch härteren, aber nachhaltigen Weg gehen, Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 12/ 2016: 走一条更为艰难但可 持续的路 ) Die wirtschaftliche Entwicklung in China wird als eine Reise konzeptualisiert und auf einer Reise stehen verschiedene Wege zur Auswahl, so auch in der chinesischen Wirtschaftsentwicklung. Der harte, aber nachhaltige Weg, den China einschlägt, ist laut einer Ankündigung des Premierministers auf der Pressekonferenz die Durchsetzung der wirtschaftlichen Strukturreform. Der Autor schildert zuerst drei wichtige Wendepunkte, die die aktuelle chinesische Wirtschaft charakterisieren. Diese betreffen die wirtschaftliche Entwicklungs‐ geschwindigkeit, die Antriebskraft der Entwicklung sowie den Strukturwandel. Die Wendepunkte-Frames sind auch semantisch solidarisch mit der gesamten Reisebzw. Weg-metapher. Nach der Vorstellung der drei Wendepunkte in der chinesischen Wirtschaftsreise wird dann ein Versuch unternommen, zu erörtern, warum dieser Weg, der zur wirtschaftlichen Strukturreform führt, hart ist. Nach der Meinung des Autors tragen die internationale Wirtschaftsbzw. Finanzkrise, die Komplexität und die Instabilität der Außenwirtschaft sowie die verfestigte Exportstruktur zu den Schwierigkeiten des chinesischen Strukturwandels bei. Um diesen Schwierigkeiten bzw. Herausforderungen auf der chinesischen wirtschaftlichen Reise des Strukturwandels gerecht zu werden, werden noch zwei interessante Metaphern eingeleitet. Anhand dieses Beispiels soll exemplifiziert werden, dass die Reise-Metapher auch zusammen mit anderen Kategorien der Metaphern die Argumentation unterstützen. Die verschiedenen Kategorien der Metaphern befinden sich in einer dynamischen Interaktion: 怎么办?要下大力气调整经济结构。改革到现在,不得不啃那些一直存在的难啃的硬骨 头,必须以壮士断腕的勇气和魄力全面深化改革进一步释放制度红利,对固有的存量必 须要实行更为强力的改革举措 (Was muss man dagegen tun? Es sollten große An‐ strengungen unternommen werden, um die Wirtschaftsstruktur anzupassen. Bis jetzt müssen wir an den harten Knochen nagen, die es immer gegeben hat. Wir müssen die Reform mit dem Mut eines starken Mannes umfassend vertiefen, um die Systemdividenden weiter freizusetzen. Zudem müssen wir noch schlagkräftigere Reformmaßnahmen ergreifen. Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 12/ 2016: 走一条更为艰难但可持续的路 ) Die Harte-Knochen-Metapher wird gleich im kommenden Unterkapitel aus‐ führlich als eine Kategorie der häufig verwendeten Essensmetapher im chine‐ sischen Kontext behandelt. Deswegen möchte ich hier nicht näher darauf eingehen. Die andere interessante Chengyu-Konstruktion 壮士断腕 (stark + 6.1 Metaphorische Konstruktion, Frame und Argumentation 277 <?page no="278"?> Mann + brechen + Handgelenk) referenziert auf eine Geschichte aus den Chroniken der Drei Reiche ( 《三国志》 ) : 蝮蛇蛰手,壮士解其腕 (Der mutige Mann wurde von einer giftigen Schlange gebissen und er bricht sofort sein Handgelenk ohne jegliche Verzögerungen, um die Ausbrei‐ tung des Schlangengifts durch seinen ganzen Körper zu meiden.) 《三国志・魏书・陈泰传》 Nun bezeichnet man mit dieser Chengyu-Konstruktion, dass die Teilinteressen in einer kritischen Situation entschlossen aufgegeben werden müssen, um die Gesamtinteressen zu bewahren. Aus den Harte-Knochen- und Handgelenk-Me‐ taphern fasst der Autor dann zusammen, dass die Durchsetzung des Struktur‐ wandels im Bereich der chinesischen Wirtschaftsentwicklung keine leichte Aufgabe ist. Dieser Wandel verlangt mehr Entschlossenheit, Mut und Ausdauer. Am Ende des Leitartikels greift der Autor wiederum auf die Weg-Metapher zurück, um diesen Reise-Deutungsrahmen zu reaktivieren und hält fest: 推进经济结构性调整,无捷径可走 (Es gibt keine Abkürzung für uns, um die struktu‐ relle wirtschaftliche Anpassung zu fördern. Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 12/ 2016: 走一条更为艰难但可持续的路 ) Strukturell ist dieser Leitartikel klar aufgebaut und die Reisebzw. Weg-Me‐ tapher ziehen sich durch den ganzen Text hindurch: Durch die direkte und wörtliche Übernahme der Weg-Metapher aus der Aussage vom Premierminister auf der Pressekonferenz wird die Wirtschaftsreform als eine harte Reise kon‐ zeptualisiert. Gestützt auf sachlichen Analysen gelangt der Autor zu dem Fazit, dass diese hartnäckigen Knochen nur mit Entschlossenheit und Mut gebissen werden können. Somit muss dementsprechend ein nachhaltiger Weg für die weitere wirtschaftliche Reise in China eingeschlagen werden. Jedoch gibt es für diesen Weg keine Abkürzung. Man muss sich für die Strukturreform anstrengen. An diesem Beispiel sieht man, dass die Reisebzw. Weg-Metaphern den Aufbau der Argumentationskette sehr zentral unterstützen und den Gesamtdeutungsf‐ rame bestärken. Jedoch ist zu beachten, dass die zentralen Metaphern auch mit anderen Metaphern, die eventuell keinen besonders prominenten Platz einnehmen, komplementär und interaktionell den zentralen metaphorischen Rahmen begleiten. In dieser Analyse sind beispielsweise die Harte-Knochen- und Handgelenk-brechen-Metaphern solche Fälle. Darüber hinaus können Verkehrsmittel-Metaphern ebenfalls im chinesischen wirtschaftlichen Kontext gebraucht werden, die die Reise-Metapher unter‐ stützen, weil Verkehrsmittel auch zu einem Reiseframe gehören: 278 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="279"?> 改革开放以来,出口作为三驾马车之一,对于中国经济增长的贡献可谓居功至伟 (Seit der Reform- und Öffnungspolitik hat der Export als eine der Troikas stark zum Wirtschaftswachstum Chinas beigetragen. Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 17/ 2015: 经济新常态促目光内转 ) 2015 年 4 月,国务院总理李克强在福建自贸区厦门片区考察时说,创立自贸区,简政 放权和对外开放相辅相成,两个“轮子”要一起转 (Im April 2015 besuchte Minister‐ präsident Keqiang Li das Xiamen-Gebiet in der Fujian-Freihandelszone und sagte, dass sich die Einrichtung einer Freihandelszone durch unbürokratische Verwaltung sowie die Öffnung nach außen gegenseitig ergänzen müssen. Und die beiden „Räder“ müssen zusammengedreht werden. Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 34/ 2016: 自贸区助力下一步改革 ) 6.1.5 Essensmetaphorik In den untersuchten chinesischen Leitartikeln zählen die Essensmetaphern zu einer Besonderheit. Genauer gesagt sind die folgenden vier Essensmeta‐ phern von großer Bedeutung: Kuchen-Metapher, Harte-Knochen-Metapher, Braten-Metapher und Reis-in-großem-Kessel-Metapher. Am Vorabend des G20-Gipfels in Hangzhou beschloss die Zentralregierung, sieben neue Pilot-Freihandelszonen in den Provinzen Liaoning, Zhejiang, Henan, Hubei, Chongqing, Sichuan und Shaanxi einzurichten. Ein Leitartikel aus dem Jahr 2016 beschäftigt sich mit der Einrichtung der 7 neuen Frei‐ handelszonen und geht davon aus, dass die neue Politik hinsichtlich der Freihandelszonen die weiteren Schritte der wirtschaftlichen Reform in China weitgehend unterstützt bzw. vertieft. Der Autor stellt zuerst die Eigenschaften der 7 neuen eingerichteten Freihandelszonen in China vor und geht über zu den Herausforderungen bzw. den Vorschlägen für deren Entwicklung, wobei drei Essensmetaphern genutzt werden: 必须看到,自贸区最根本的精神,不是向中央争取到政策的倾斜和财政的扶持,更不是 借自由贸易区来重新炒作房价楼市,在土地财政上大捞一笔,而是把这一机遇当作变革 的机会,将自贸区的开放自由包容转化为地方发展新动力的来源。 (Es muss darauf hin‐ gewiesen werden, dass der grundlegende Geist der Freihandelszone weder darin besteht, politische Präferenzen und finanzielle Unterstützung von der Zentralregie‐ rung zu erhalten, noch die Freihandelszone zu nutzen, um den Wohnungsmarkt neu zu spekulieren und ein Vermögen mit Land zu machen. Stattdessen soll man die Freihandelszonen als Chance für Veränderungen nutzen, um die Offenheit, Freiheit und Toleranz der Freihandelszone in neue Impulse für die lokale Entwicklung zu 6.1 Metaphorische Konstruktion, Frame und Argumentation 279 <?page no="280"?> verwandeln. Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 34/ 2016: 自贸区 助力下一步改革 ) Hier wird auf den Sinn der Einrichtung der Freihandelszonen hingewiesen. Die idiomatische Konstruktion 炒作房价楼市 (braten + machen + Wohnung + Preis + Gebäude + Markt: die Wohnungspreise hochtreiben und dadurch mit dem Wohnungsmarkt spekulieren) enthält eine Essensmetapher, oder genau gesagt, eine Braten-Metapher. Jedoch werden nicht Steaks oder Kartoffeln gebraten, sondern die Wohnungspreise in den neu eingerichteten Freihandelszonen. Diese Metapher beleuchtet implizit, dass es in der früheren Entwicklungsphase Leute gab, die spekulativ in den Immobilienmarkt oder in den Kauf der Bauländer für Immobilien investierten und somit die neue Politik ausnutzten, um den Marktpreis der Immobilien hochzutreiben und mit den Wucherpreisen riesige Gewinne zu erzielen. In dieser metaphorischen Konstruktion wird dabei ver‐ anschaulicht, dass die Sachen bzw. die Sachverhalte, die gebraten werden, letztendlich heiße Waren, also im Sinne von gut verkauften Waren, darstellen. Die Parallelkonstruktion 在土地财政上大捞一笔 (auf + Erde + Boden + Finanzen + Politik + oben + groß + fischen + eins + Stift: große Gewinne durch die prä‐ ferierten Finanzpolitiken mit Land machen) gibt Auskunft über die möglichen positiven Ergebnisse der Spekulation in Bezug auf die Braten-Metapher zuvor. In diesem Sinne sind die beiden idiomatischen Konstruktionen hier auch eng miteinander verwoben. Außerdem weist der Autor darauf hin, dass die neu eingerichteten Freihan‐ delszonen in Zukunft eine leitende Funktion bzw. eine Vorbildfunktion für die Reform- und Öffnungspolitik in China übernehmen sollen, aktiv an der wirtschaftlichen Entwicklung und der Vertiefung des Strukturwandels in China teilnehmen, und Erfahrungen für weitere Reformen ansammeln. Um diesen Vorschlag zu veranschaulichen, führt der Autor eine weitere Essensmetapher, nämlich die Kuchen-Metapher, ein: 自贸区建设各方要摆脱“抢蛋糕”(政策红利)的思维,发挥“做蛋糕”(制度红利) 的智慧,自贸区不是政策洼地,而是要为全面深化改革积累经验 (Alle am Bau der Frei‐ handelszone Beteiligten müssen sich von dem Gedanken des „Kuchen-Beraubens“ (Politikdividende) verabschieden und die Weisheit des „Kuchen-Backens“ (Systemdi‐ vidende) voll ausspielen. Die Freihandelszone ist keine politische Depression. Sie sollen hingegen Erfahrungen für eine umfassende Vertiefung der Reformen sammeln. Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 34/ 2016: 自贸区助力下一步改 革 ) Der zitierte Abschnitt verwendet zwei unterschiedliche Konstruktionen, die Kuchen-Metaphern enthalten. Nach der Meinung des Autors sollen die neu 280 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="281"?> eingerichteten Freihandelszonen auf die Idee verzichten, von der Politik der Zentralregierung abzuhängen und somit die durch die Politik entstandenen Gewinne (Kuchen) passiv zu genießen. Stattdessen soll man die Idee aufgreifen, aktiv und selbstständig neue Felder zu erschließen und dadurch neue Gewinne zu erzielen (also im Sinne von „selbst Kuchen backen“). Diese Kuchen-Metapher ist vielfältig in den chinesischen Leitartikeln verwendet worden. Unten ist noch ein Beispiel aus dem Bereich der Reform der Einkommensverteilung: 形象地讲,收入分配改革是个“做大蛋糕”和“分蛋糕”问题,一方面我们要千方百计 做大财富蛋糕即效率问题,另一方面又要分好财富蛋糕即公平问题 (Etwas veranschau‐ licht ausgedrückt ist die Reform der Einkommensverteilung ein Problem des „Backens von größeren Kuchen“ und der „Verteilung des Kuchens“. Einerseits müssen wir alles tun, um den Wohlstandskuchen größer zu machen, was eine Effizienzfrage darstellt. Anderseits müssen wir den Wohlstandskuchen gut verteilen, was Gleichberechtigung betrifft. Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2017: 收入分配改革 应精准激发社会活力 ) Am Ende des Artikels bespricht der Autor, dass sowohl vor den neu eingerich‐ teten Freihandelszonen als auch vor der Vertiefung des umfassenden Struktur‐ wandels und der chinesischen Wirtschaftsreform viele Schwierigkeiten stehen, die zu bewältigen sind. Dementsprechend wird eine Harte-Knochen-Metapher im letzten Abschnitt des Leitartikels in den Vordergrund gerückt: 未来几年将是全面深化改革的关键时期,对于中国经济而言,仍需在多个领域 “ 啃硬骨 头 ” (Die nächsten Jahre stellen eine kritische Phase für eine umfassende Vertiefung der Reformen dar: Für die chinesische Wirtschaft wird es in vielen Bereichen noch „harte Knochen“ geben müssen. Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 34/ 2016: 自贸区助力下一步改革 ) Die metaphorische Konstruktion 啃硬骨头 (beißen + hart + Knochen + Kopf: harte Knochen beißen) deutet veranschaulichend darauf hin, dass man sich an‐ strengen muss, um besseres Essen zu bekommen (wirtschaftliche Gewinne) und sich dadurch besser zu ernähren (Verbesserung der wirtschaftlichen Struktur). Die letzte Kategorie der häufig verwendeten Essensmetaphern in der vor‐ liegenden Untersuchung, nämlich die Reis-im-großem-Kessel-Metapher, kann frühestens auf eine chinesische Form der landwirtschaftlichen Kollektivierung in den 1950er Jahren (besonders 1957/ 1958 in den Großen-Sprung-nach-Vorne- und Volkskommune-Bewegungen) zurückgeführt werden. Diese Metapher nimmt Bezug auf den Egalitarismus bezüglich der Einkommensverteilung. Die Lebensmittelrationen wurden damals je nach Anzahl der Familienmitglieder eines Haushalts gleichmäßig verteilt. Dabei waren die Volkskommunen und die 6.1 Metaphorische Konstruktion, Frame und Argumentation 281 <?page no="282"?> Produktionsteams zuständig für die Verteilung der Lebensmittelrationen in den Großer-Sprung-nach-Vorne- und Volkskommune-Bewegungen. Dort wurde das Essen gleichmäßig an die Mitglieder der Volkskommune oder des Produkti‐ onsteams verteilt, das in einem großen Kessel in der Gemeinschaftskantine vorbereitet wird. Mit dieser bildhaften und historisch bedeutsamen Essensme‐ tapher bezeichnet man in der Regel den absoluten Egalitarismus in Bezug auf die Verteilung, ohne Rücksicht auf die unterschiedliche Produktionseffizienz der Individuen, die die Produktionsbereitschaft stark beeinträchtigen kann. Deswegen ist diese metaphorische Konstruktion in der jetzigen chinesischen Marktwirtschaft immer negativ konnotiert und dieses Phänomen wird in der modernen Wirtschaft ablehnend beschrieben: 中国的改革是从打破“大锅饭”开始的。收入分配改革可谓是牵一发而动全身,牵涉到 公平与效率的问题,其成功的重要标准就是看是否最大限度激发了社会活力,在当前语 境下就是是否能激发改革新动力 (Chinas Reformen begannen damit, den „großen Reis‐ kessel“ zu brechen. Die Reform der Einkommensverteilung betrifft Gerechtigkeits- und Effizienzfragen. Ein wichtiges Kriterium für eine erfolgreiche Verteilungsreform besteht darin, zu überprüfen, ob sie die gesellschaftliche Vitalität maximal stimuliert und ob sie im aktuellen Kontext neue Impulse für Reformen setzen kann. Hervorhe‐ bung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2017: 收入分配改革应精准激发社会活 力 ) Nicht zuletzt ist auch interessant anzumerken, dass drei der oben genannten häufig gebrauchten Essensmetaphern aus den chinesischen Leitartikeln zu den sogenannten deliberate metaphors (absichtliche Metaphern) zählen, weil immer Anführungszeichen mit den Reiskessel-, Kuchen- und Hart-Knochen-Meta‐ phern zusammen vorkommen. Die Verwendung der absichtlichen Metaphern in chinesischen Leitartikeln ist sehr auffällig und dies führt dazu, dass die me‐ taphorische Konstruktion noch prominenter und bewusster in den Mittelpunkt der Darstellung bzw. der Veranschaulichung der Argumente rückt. 6.1.6 Krankheitsmetaphorik Gesellschaftliche oder wirtschaftliche Probleme werden manchmal in chinesi‐ schen oder deutschen Leitartikeln als Krankheiten metaphorisiert. Nachstehend möchte ich anhand von zwei Leitartikeln die Beziehung zwischen der Krank‐ heitsmetaphorik, Krankheitsframes und deren Funktion in der Argumentation verdeutlichen. Der eine Leitartikel bezieht sich auf die Frage, wie man als Parteimitglied oder Führungsmitglied der KP Chinas die Korruption vermeiden kann und 282 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="283"?> welche Maßnahmen die relevanten Disziplinabteilungen ergreifen können. Hier sollen auch ein paar Worte über die Textstruktur gesagt werden: Eingangs werden einige Fälle, in denen die Parteimitglieder gegen die Parteiregeln verstoßen, genannt, um die These im 5. Abschnitt abzuleiten, dass die großen Korruptionsfälle nicht über Nacht entstehen können: 大贪官不是一夜变成的。“大贪”都是从姑息纵容、监管不力的“小贪”一步一步逐渐 形成的 (Die korrupten Beamten entwickeln sich nicht über Nacht. Aus der „kleinen Gier“ kann aufgrund übermäßiger Toleranz und mangelhafter Aufsicht nach und nach „große Gier“ werden, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 46/ 2015: 小病严治,将廉洁变成 习惯 ) Um die Korruptionsprobleme der Parteimitglieder zu lösen, führt der Autor im Sinne der Argumentation die Krankheitsmetapher in die Diskussion ein: 处理群众身边的违纪,从过去的息事宁人转化为着力解决苗头性问题,小病严治,把廉 洁变成习惯,真正体现了各级党组织对党员的严格要求和关心爱护。 (Der Umgang mit der Disziplinlosigkeit konzentrierte sich früher darauf, dass sie immer klein geredet und nicht ernst genommen wird. Jedoch gibt es jetzt eine Wende zur Lösung der Keimprobleme. Die strikte Behandlung kleiner Krankheiten und die Unbestechlichkeit als Gewohnheit zeigen, dass die Parteiorganisationen auf allen Ebenen einerseits die strengen Anforderungen für die Parteimitglieder stellen und anderseits sich fürsorglich um sie kümmern, Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 46/ 2015: 小病严治,将廉洁变成习惯 ) Hier wird die Korruption als eine Krankheit metaphorisiert. Nach der Ansicht des Autors ist es ein gutes Mittel gegen diese Krankheit, sie frühzeitig und vorsorglich im Keim zu ersticken. Dies ist zum einen analog zu der Analyse, dass stark korrumpierte Beamte nicht plötzlich über Nacht entstehen. Die mensch‐ liche Gier entwickelt sich und dies gilt auch für korrupte Beamte. Die kleine Gier oder die kleinen Regelbzw. Gesetzverstöße werden als kleine Krankheiten oder Krankheiten mit leichten Symptomen dargestellt. Zum anderen ergibt sich aus der Alltagserfahrung, dass eine Krankheit schnell geheilt wird, wenn sie frühzeitig entdeckt bzw. ärztlich behandelt wird. Dies gilt dementsprechend auch für die Vorbeugung der Korruption. In diesem Leitartikel sieht man, dass die Argumentationsstruktur stark von der KORRUPTION IST EINE KRANKHEIT-Metapher geleitet wird. Zuerst wird vorgestellt, dass Korruption eine Krankheit darstellt. Dies wird anhand einer Reihe von Krankheitsframes aktiviert: Symptome, Arztbesuch, medizinische Behandlung, Medikament, Heilung etc. Davon leitet der Autor ab, dass man diese Krankheit so früh wie möglich entdecken bzw. ärztliche Behandlung 6.1 Metaphorische Konstruktion, Frame und Argumentation 283 <?page no="284"?> aufsuchen muss, um sie vorzubeugen oder zu heilen. Die Parteiorganisationen, die einschlägigen Aufsichtsbehörden sowie das ganze Volk übernehmen dann in diesem Krankheitsframe die Rolle der ärztlichen Behandlung. In dem deutschen Leitartikel wird zum Beispiel die Fremdenfeindlichkeit als Krankheit wie folgt wiedergegeben: Fremdenfeindlichkeit ist eine Krankheit. Sie kann einzelne Menschen befallen, aber auch eine ganze Gesellschaft. Sie ist eine Plage, sie breitet sich aus, sie ist ansteckend. Und sie kommt - wie es scheint - immer wieder zum Ausbruch. Wenn Menschen jegliche Selbstbeherrschung verlieren, sobald von Ausländern, Flüchtlingen, Asyl‐ bewerbern die Rede ist, möchte ich ehr Ärzte zu Hilfe rufen als Polizisten. (Der Spiegel, 37/ 2015: Was heilt. Es hilft nicht, wenn der Westen dem Osten vorrechnet, wie fremdenfeindlich er ist) Bereits im Titel des deutschen Leitartikels wird der Krankheitsdeutungsrahmen explizit durch die Verwendung der Verbkonstruktion „heilen“ zum Ausdruck gebracht. Gleich im Anschluss greift der Autor erneut den Krankheitsrahmen auf, indem er von zwei unterschiedlichen medizinischen Ansätzen gegen die schweren Krankheiten im ersten Abschnitt des Leitartikels redet: Zum einen kann man versuchen, alles, was krank macht, zu begrenzen sowie zu beseitigen. Zum anderen kann das gesunde System, also das zuständige Immunsystem, verstärkt werden. Danach folgt das obige Zitat und verdeutlicht, dass der Autor mannigfaltige sprachliche Konstruktionen für die Aktivierung des Krank‐ heitsframes verwendet: Krankheit, befallen, Plage, ausbreiten, ansteckend, zum Ausbruch kommen, Hilfe und Arzt. Im dritten Abschnitt spricht er schließlich davon, dass ein Mensch heil und krank sein kann. Es gibt in einer Gesell‐ schaft Menschen „mit gesunden Herzen, mit offenen Ohren und helfenden Händen“ und Menschen, die „offenbar irgendwann die Fähigkeit, sich selbst zu lieben, verloren haben, und nun andere beschuldigen, um ihre Unzufrieden‐ heit loszuwerden“ (Der Spiegel, 37/ 2015). Wiederum werden Körpermetaphern eingesetzt, um die Krankheitsmetapher zu unterstützen, weil eine bestimmte Krankheit spezifische Körperorgane betrifft. Gesunde Herzen, offene Ohren und helfende Hände sind zum Beispiel Symbole für die menschliche Sympathie, Warmherzigkeit, eine offene Weltanschauung und Hilfsbereitschaft. Solche Eigenschaften gehören also zu einem „gesunden“ menschlichen Körper und Geist. In der Gegenüberstellung der anderen Gruppe von Menschen werden sodann die Kranken in der Gesellschaft definiert. Daran anschließend kommt der Autor zu der Frage, „warum sich friedliche, freundliche Leute plötzlich in Menschenfeinde verwandeln? “ (ebd.) Er weist darauf hin, dass es, um diese Krankheit zu heilen, zum Beispiel in der Politik einen mathematischen Ansatz 284 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="285"?> gibt. Jedoch lehnt er diesen kategorisch ab, indem er die nachstehenden Zeilen verfasst: Und auch nicht, indem man gegen den Rechtsextremismus die Mathematik zum Einsatz bringt wie manche Politiker, die vermutlich das Übel an der Wurzel packen wollen. Wurzel ziehen, das ist ja Mathematik. Allerdings Berechnungen werden angestellt, um herauszufinden, wo mehr oder weniger rechtsextreme Straftaten begangen werden. Als läge ein Trost darin, dass die Quote an einem Ort niedriger ist als am anderen. Gäbe es denn eine Quote, die akzeptabel wäre, vielleicht 10 rechtsextreme Straftaten auf 100000 Einwohner pro Jahr? (Der Spiegel, 37/ 2015: Was heilt. Es hilft nicht, wenn der Westen dem Osten vorrechnet, wie fremdenfeindlich er ist) Der Autor räumt ein, dass es im Osten ein besonderes Problem und eine besondere Geschichte gibt. Jedoch ist es nicht angebracht und vernünftig, Frem‐ denfeindlichkeit als reine Ostproblematik darzustellen. Letztendlich verweist er darauf, dass die Stärkung der Heilenden ein Behandlungsmittel gegen diese Fremdenfeindlichkeitskrankheit sein kann. Durch die oben aufgeführte Argumentationskette sowie die diskursive Ent‐ faltung der Krankheitsmetaphern ist ersichtlich, dass die Krankheitsmetapher eine besonders zentrale Rolle in der Argumentation einnimmt: Die explizite Vorprogrammierung des Deutungsrahmens findet bereits im Titel des Leitar‐ tikels statt. Zunächst werden zwei medizinische Ansätze gegen Krankheiten vorgestellt. Danach wird die Fremdenfeindlichkeit ausdrücklich als Krankheit metaphorisiert. Daraufhin werden bis jetzt verwendete Behandlungen kritisch in die Diskussion eingeführt. Am Ende des Artikels wird dann das eigene Behandlungsrezept von dem Autor selbst verschrieben. Die Entfaltung der Krankheitsmetapher wird durch vielfältige semantisch kohärente Konstruk‐ tionen oder relevante Metaphern (z. B. die Verwendung von Körpermetaphern) unterstützt, die wiederkehrend im Text erscheinen und auf den Krankheitsdeu‐ tungsrahmen referieren. 6.1.7 Wirtschaftsmetaphorik Wirtschaftsmetaphern werden besonders im deutschen politischen Kontext öfter eingesetzt. Beispielsweise werden politische Verhandlungen oft als Deals konzeptualisiert: Wer sich abhängig macht, wird erpressbar. Schon als die Europäische Union im Frühjahr den Flüchtlingsdeal mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan abschloss, stand zu befürchten, dass er das Abkommen als Druckmittel nutzen würde. 6.1 Metaphorische Konstruktion, Frame und Argumentation 285 <?page no="286"?> Nun tut er es. (Der Spiegel, 32/ 2016: Nicht erpressbar. Europa braucht einen Plan B für den Flüchtlingsdeal mit der Türkei) Allein der Titel öffnet schon den wirtschaftlichen Frame durch die Verwendung des Deal-Konzepts. Ein Deal ist erst zustande gekommen, wenn zumindest zwei beteiligte Parteien an einer Sache Interesse zeigen, nach einer Verhand‐ lung gemeinsame Beschlüsse erzielen und sie von diesem Deal gegenseitig profitieren können. Der Titel des Leitartikels verrät, dass die an diesem Deal beteiligten beiden Parteien Europa und die Türkei sind. Zudem muss auch drauf hingewiesen werden, dass Europa hier metonymisch für die EU gebraucht wird. Jedoch wird dieser Deal plötzlich fragil, weil der Außenminister in der Türkei warnt, dass das Flüchtlingsabkommen aufgekündigt wird, falls die EU nicht innerhalb von Monaten die Visafreiheit für die Türkei gewähren kann. Die zentrale These des Leitartikels findet man bereits im Untertitel. Oder im Wortlaut des Leitartikels: „Die EU darf sich von Erdogan, der sein Land in eine Autokratie umbaut, nicht erpressen lassen“. In der Analyse aus der türkischen Sicht wird dementsprechend eine Schachspiel-Metapher verwendet, die darauf hindeutet, dass der Druck aus der Türkei keine vernünftige Entscheidung ist: Es ist ungewiss, ob die Türkei sie am Ende wahr macht. Auch aus türkischer Sicht wäre das kein kluger Schachzug. Erdogan gäbe damit zum einen das vermeintliche Druckmittel aus der Hand, zum anderen ist die Türkei für ihre wirtschaftliche Entwicklung auf Europa angewiesen - die wiederentdeckte Freundschaft zum russi‐ schen Präsidenten Wladimir Putin ist keine wirkliche Alternative zur EU. Doch der türkische Präsident ist ein unberechenbarer Akteur, er handelt nicht immer rational. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel, 32/ 2016: Nicht erpressbar. Europa braucht einen Plan B für den Flüchtlingsdeal mit der Türkei) Wie in einer Geschäftsverhandlung analysiert der Autor die strategischen Aspekte der Drohung aus der Türkei und kommt zu dem Ergebnis, dass das Aufgreifen dieses Druckmittels keine gute strategische Idee in einem Deal mit der EU ist. Dies wird durch die Schachspiel-Metapher deutlich zum Ausdruck gebracht. Dass die türkische Wirtschaftsentwicklung auf Europa angewiesen ist und die türkisch-russische Partnerschaft nicht die Beziehung zwischen der Türkei und der EU ersetzen kann, bekräftigen diese Metapher eines schlechten Schachzugs. Genau wie beim Schachspielen braucht man in einer Geschäftsverhandlung auch den richtigen Schachzug bzw. eine vernünftige Verhandlungsstrategie. Auch der handelnde Akteur in der Geschäftsverhand‐ lung muss rational und zuverlässig sein. Jedoch schreibt der Autor, dass der türkische Präsident nicht immer rational handelt. In diesem Sinne wäre der türkische Präsident auch kein idealer Verhandlungspartner. Somit geht der 286 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="287"?> Autor zu der zweiten These des Leitartikels über: „Europa braucht einen Plan B ohne Erdogan“. Die Deal-Metapher unterstützt wie folgt die Argumente: Der Deal zwischen der EU und der Türkei ist strategisch falsch, weil die Türkei als Geschäftspartnerin die vereinbarten Kriterien nicht eingehalten hat und jetzt mit Druckmitteln die EU erpresst. Dies deutet darauf hin, dass die Türkei keine vernünftige und berechenbare Partnerin ist und mehr Problempotential in sich umfasst. Demzufolge ist es für die EU besser, sowohl strategisch als auch moralisch diesen Deal zu beenden und eventuell neue Kooperationspartner (Plan B) auszusuchen. Die Wirtschaftsmetapher wird auch im chinesischen Kontext gebraucht. Im Folgenden ist ein Beispiel aus dem parteipolitischen Kontext zu entnehmen, wo die KP Chinas als das beste Start-up in China metaphorisch konzeptualisiert wird: 如果将中国共产党比作中国最牛创业团队,那么该创业团队 1921 年开始创业,最初成 员仅 50 余人。如今,创业 96 年,成员已经超过 8900 万,事业规模突破 74 万亿元, 将中国打造成为全球第二大经济体 (Wenn man die Kommunistische Partei Chinas mit dem besten Start-up Chinas vergleicht, dann begann der Start-up erst 1921 mit seinem Geschäft und hatte damals nur mehr als 50 Mitglieder. Heute, im 96. Jahr seiner Gründung, überschreitet die Zahl der Mitglieder 89 Millionen. Sein Geschäftsumfang überschreitet 74 Billionen Yuan, was China zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt macht. (Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 40/ 2017: 不忘初心,砥 砺前行 ) 6.2 Metaphern in der Fachkonstruktion Im letzten Kapitel werden zuerst die häufig verwendeten Metaphern in den chinesischen und deutschen Leitartikeln zusammengefasst und kategorisiert. Anhand von konkreten Textstellen aus den Leitartikeln wird genauer betrachtet, wie die eingesetzten Metaphern die Argumentation unterstützen. Die zahlrei‐ chen Metaphern und metaphorischen Konstruktionen im Leitartikel bekräftigen die persuasive Eigenschaft des Leitartikels. Eine noch wichtigere Texteigen‐ schaft des Leitartikels besteht darin, dass dieser meinungsbildende Text immer versucht, mit sachlichen und fachlichen Konstruktionen die Argumentation scheinbar wertneutral zu entfalten, weil die Verwendung der Fachkonstrukti‐ onen der potenziellen Leserschaft den Eindruck gibt, dass der Leitartikel immer noch auf einer fachlichen bzw. sachlichen Ebene einen Sachverhalt behandelt. Jedoch ist der Einsatz einer Fachkonstruktion nicht immer wertneutral. Die Fachkonstruktionen können zum Beispiel auch Metaphern enthalten, die bereits 6.2 Metaphern in der Fachkonstruktion 287 <?page no="288"?> im letzten Kapitel besprochen worden sind. Durch die Verwendung der Meta‐ phern in einer Fachkonstruktion wird der Deutungsrahmen in einer gewollten Richtung beschränkt. Die Fachkonstruktionen im Leitartikel können in zwei Arten vorkommen: Erstens können sie ohne jeglichen metaphorischen Bezug nur in ihrer fachspezi‐ fischen Bedeutung verwendet werden. Es ist auch zu beobachten, dass die Fach‐ konstruktionen dieser Art üblicherweise im Leitartikel nicht zusätzlich erklärt werden. Dies hat damit zu tun, dass ein bestimmtes Fachwissen vorausgesetzt wird oder der Leitartikel nur für eine bestimmte Lesegruppe (also meistens eine Lesegruppe mit besseren sozialökonomischen Bedingungen) geschrieben wird. Die Fachkonstruktionen dieser Art interessieren das vorliegende Projekt nicht, weil es versucht, zu überprüfen, wie Metaphern in einer Fachkonstruktion die scheinbar wertneutrale Haltung manipuliert und die Argumentation unter‐ stützt. Zweitens können die Fachkonstruktionen mit metaphorischem Bezug verwendet und solche Fachkonstruktionen werden nun ausführlich behandelt. Aus der Untersuchung werden im Folgenden drei fachspezifische Konstruk‐ tionen aus den chinesischen und deutschen Leitartikeln ausgewählt, die jeweils ursprünglich aus dem Bereich des Versicherungswesens ( 道德风险 , moralisches Risiko), der Physik ( 发展压差 , Entwicklungsdifferenzdruck) und der Medizin (Respirator) stammen. Damit wird aufgezeigt, dass die Fachkonstruktionen in einem Leitartikel manchmal nur einen sachlich argumentativen Anschein geben können. In den drei Fachkonstruktionen findet man ebenfalls die häufig verwendeten Kategorien der Metaphern aus dem letzten Kapitel. Dies soll aber nicht als eine unnötige Wiederholung sowie Überschneidung betrachtet werden. Das Ziel der Analyse für solche Fachkonstruktionen mit erkennbarem Metaphernbezug besteht darin, das dahinter versteckte Persuasionspotenzial und die meistens vernachlässigte Manipulationskraft solcher Konstruktionen anhand der vorliegenden Analyse zu beleuchten. So wird ersichtlich, dass sich Fachkonstruktionen in einem meinungsbildenden Leitartikel nicht nur sachlich, objektiv oder fachlich, sondern vielmehr manipulativ, persuasiv oder emotiv auswirken können. 道德风险 (moralisches Risiko, 21/ 2015) 破解塌方式腐败,培育清明政治生态,就需要反腐不计成本,特别是从制度设计上消除 政治领域中的“道德风险”。道德风险原是一个经济学术语。该术语最初来源于保险行 业,典型例子就是投了保险之后的人会改变自己的行为。道德风险一般应用于委托代理 关系,存在部分公职人员入职(或受委托)之前信誓旦旦,入职后则相机抉择。 (Um Serien-Korruptionen zu vermeiden und eine klare politische Ökologie zu pflegen, ist es notwendig, Korruption um jeden Preis zu bekämpfen, insbesondere das sogenannte 288 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="289"?> „moralische Risiko“ im politischen Feld aus dem Systemdesign zu eliminieren. Das moralische Risiko war ursprünglich ein wirtschaftlicher Begriff und stammt aus der Versicherungsbranche. Ein typisches Beispiel dafür ist, dass Personen, die eine Versicherung abgeschlossen haben, ihr Verhalten dementsprechend ändern. Das moralische Risiko bezieht sich vor allem auf eine Beziehung der Beauftragung oder Bevollmächtigung. Es gibt einige Beamte, die vor dem Eintritt in die Stelle (oder der Beauftragung) geschworen haben und dann nach ihrem Eintritt das Versprechen nicht einhalten bzw. nur zugunsten eigener Interessen Entscheidungen treffen.) (Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 21/ 2015: 反腐就应不计成本 ) Das aus der Versicherungsbranche stammende Konzept „moralisches Risiko“ wird in diesem chinesischen Leitartikel auf die Analyse der Korruptionsmoti‐ vation bzw. des Korruptionsverhaltens der Beamten übertragen. Die zentrale These des Artikels ist, dass Korruption um jeden Preis in allen Formen bekämpft werden muss. Zuerst wird darauf hingewiesen, dass es durchaus ein solches mo‐ ralisches Risiko im politischen Bereich gibt. Danach erklärt der Autor, auf was der Fachbegriff Bezug nimmt und inwiefern er mit dem Korruptionsverhalten der Beamten zu tun hat. Die Annahme einer bestimmten Beamten-Stelle wird hier metaphorisch als Abschluss eines Versicherungsvertrags angesehen. Dabei besteht die Gefahr, dass die Person sich abgesichert und versichert fühlt, und dann das Verhalten nach dem Abschluss dieses Versicherungsvertrags entspre‐ chend ändert. In diesem Kontext bedeutet dann diese Verhaltensänderung die Korruption. Deshalb redet der Autor davon, dass man dieses moralische Risiko systematisch vermeiden soll, indem man Korruptionen aller Arten bekämpfen muss. In diesem Sinne argumentiert er weiter mit den Tier-Metaphern, dass die Bekämpfung der Korruption um jeden Preis das moralische Risiko aus der Sicht des Systemdesigns am besten vermeiden kann und sie daher vernünftig bzw. notwendig ist: 比如反腐败,如果只打老虎不拍苍蝇,苍蝇便会滋生繁衍,而且由苍蝇做大而成的老虎 亦会打杀不绝;如果只追究国内的腐败分子而任逃出国境者逍遥法外,便会鼓励更多的 腐败分子潜逃,国内也会出现更多的裸官。 (Wenn man zum Beispiel in der Korrupti‐ onsbekämpfung nur gegen Tiger kämpft, aber nicht gegen Fliegen, vermehren sich die Fliegen. Auch die Tiger, die sich aus den Fliegen entwickeln, vermehren sich dementsprechend. Wenn nur die korrupten Beamten in China bestraft werden und diejenigen, die ins Ausland fliehen unbestraft bleiben, dann werden mehr korrupte Beamten ermutigt, ins Ausland zu fliehen, um ihre Strafe zu umgehen. (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 21/ 2015: 反腐就应不计成本 ) Hier macht der Autor zwei Vorschläge, um das moralische Risiko in der Antikorruptionskampagne zu vermeiden. Zum einen müssen die korrupten 6.2 Metaphern in der Fachkonstruktion 289 <?page no="290"?> Beamten mit niedrigen (Fliegen-Metapher) und hohen Rängen (Tiger-Metapher) gleichzeitig bestraft werden. Zum anderen müssen sowohl die korrupten Be‐ amten in China als auch die wegen Korruption ins Ausland fliehenden Beamten bestraft werden. 发展压差 (Entwicklungsdifferenzdruck, 39/ 2015) Zwei große Unterschiede in Bezug auf die Entwicklung zwischen Stadt und Land, zwischen Ost-, Mitte- und Westchina sind immer noch in der chinesischen Wirtschaft zu beobachten. Der Stadt-Land-Unterschied und der regionale Un‐ terschied werden noch eine Weile in China existieren. Der Autor des Leitartikels geht davon aus, dass diese Entwicklungsunterschiede nicht nur Probleme darstellen und neue Entwicklungschancen anbieten. Um dies zu beleuchten, leitet er zu Beginn des Artikels den Fachbegriff „Differenzdruck“ aus der Physik wie folgt ein: 压差是一个物理学概念,是指体系内两点间的压强差。所谓发展压差,是指在一个经济 体内部,处于不同发展阶段的地域存在着产业结构上的自上而下的自然分工,随着处于 发展高阶地域的产业升级,发展低阶地域自然承接产业转移。 (Der Differenzdruck ist ein physikalisches Konzept, das sich auf den Differenzdruck zwischen zwei Punkten in einem physischen System bezieht. Der sogenannte Entwicklungsdifferenzdruck bezeichnet die natürliche Arbeitsteilung von oben nach unten in der Industriestruktur in Regionen mit unterschiedlichen Entwicklungsstadien innerhalb einer Volkswirt‐ schaft. Während die Industriesektoren mit hohen Entwicklungsstadien weitere Up‐ grades erleben, sollen die Industriesektoren mit niedrigen Entwicklungsstadien von den bereits entwickelten Industriesektoren profitieren bzw. diese im Sinne von Industrietransfer weiterentwickeln.) (Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 39/ 2015: 利用发展压差助力中国经济 ) Gleich am Anfang erklärt der Autor, dass der Differenzdruck im Wesentlichen den Druckunterschied zwischen zwei gegebenen Punkten beschreibt. Überträgt man diesen Begriff in die Wirtschaftsentwicklung, gibt es zwei Kategorien von Industriesektoren: Manche Sektoren sind bereits hoch entwickelt und manche befinden sich noch in einer niedrigen Entwicklungsphase. Der Unter‐ schied zwischen den hochentwickelten Industriesektoren und den weniger gut entwickelten Industriesektoren wird bei dem Autor metaphorisch als Entwicklungsdruckunterschied bezeichnet. Er vertritt den Standpunkt, dass mithilfe dieses Entwicklungsdruckunterschieds das Stadt-Land-Gefälle und das regionale Gefälle verringert werden kann. Zur Verringerung des Stadt-Land-Gefälles sollen die ländlichen Regionen modernisiert bzw. umgebaut werden. So sollen zum Beispiel die Gewinne aus 290 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="291"?> den bereits hochentwickelten Industriebranchen aufgewendet werden, um die Infrastruktur der ländlichen Regionen zu verbessern (z. B. neue Wege bzw. Autobahnen anlegen, die Strombzw. Wasserleitung verbessern sowie das Telekommunikationsnetz erneuern). Außerdem soll mehr Geldkapital in die Provinzen fließen, um die lokalen Geschäfte dynamischer agieren zu lassen. Nicht zuletzt muss der Staat durch Sonderzuschüsse oder Transferleistungen die ländliche Entwicklung im Bildungsbzw. Gesundheitswesen zusätzlich unterstützen. Zur Verringerung des regionalen Gefälles sollen die westlichen, weniger stark entwickelten Regionen in China das Geld- und Humankapitel aus den östlichen, hoch entwickelten Provinzen nutzen können und mithilfe derer Entwicklungserfahrungen aus östlichen Städten die lokalen Industriesektoren neu strukturieren. Die Einführung des physischen Konzepts veranschaulicht das Stadt-Land-Ge‐ fälle und das regionale Gefälle in der aktuellen chinesischen Wirtschaftsent‐ wicklung. Ausgehend von diesem unterschiedlichen Entwicklungsdruck argu‐ mentiert der Autor, dass mithilfe dieses Differenzdrucks viele Probleme gelöst werden können. Besonders die noch nicht entwickelten Städte, Regionen sowie Industriesektoren können von den bereits Entwickelten profitieren. So kommt der Autor zum Ergebnis, dass es bei der Verringerung des Stadt-Land-Gefälles und des regionalen Unterschieds darauf ankommt, wie sinnvoll der Entwick‐ lungsdifferenzdruck genutzt wird. Respirator (07/ 2017) In vielen deutschen Leitartikeln werden abstrakte Konzepte wie Staat oder Demokratie metaphorisch als Organismen zum Ausdruck gebracht oder ver‐ menschlicht. Um gesund aufzuwachsen, brauchen Organismen in der Regel genügend Sonne, Wasser, Sauerstoff und Nahrungsmittel. Bereits der Leitarti‐ keltitel „Endlich Sauerstoff! “ deutet auf diese Organismen-Metapher hin. Jedoch können Organismen in ungesundem Zustand nicht aktiv Sauerstoff einatmen. Dafür bedarf es beispielsweise einer intensivmedizinischen Behandlung, in der ein Beatmungsgerät zur Verfügung gestellt wird. Ein Respirator ist ein Beatmungsgerät, das den Kranken Sauerstoff, Wiederbelebung und schließlich weitere Lebenshoffnung bringt. Besonders für die Kranken mit Atemnot ist das Beatmungsgerät lebensrettend. Bereits im ersten Abschnitt des folgenden Leitartikels findet man diesen intensivmedizinischen Fachjargon und diese Patient-Metapher: Der Respirator ist ein Beatmungsgerät für Patienten, denen der Sauerstoff ausgeht. Martin Schulz ist derzeit der führende Respirator der deutschen Politik. Er belebt die Demokratie, macht Leuten Lust auf die SPD, Hoffnung auf einen Wechsel in der 6.2 Metaphern in der Fachkonstruktion 291 <?page no="292"?> Regierung. Endlich ist da eine Alternative zu Bundeskanzlerin Merkel, die seit über elf Jahren regiert und so müde und lustlos wirkt, als wäre ihr das selbst zu lange. (Der Spiegel, 07/ 2017: Endlich Sauerstoff. Der gute Start von SPD-Kanzlerkandidat Schulz ist eine Hoffnung für die liberale Demokratie) Genauer betrachtet geht es darum, dass die aktuelle deutsche Politik als Schwerkranke eingestuft wird bzw. eines Beatmungsgeräts bedarf, um zu überleben bzw. wiederbelebt zu werden. Der SPD-Politiker Martin Schulz ist der Respirator für die schwerkranke deutsche Politik und kann nach der Meinung von Dirk Kurbjuweit ihr Leben noch rechtzeitig retten, was auch die zentrale These des Leitartikels darstellt. Um diese Patient-Metapher kon‐ sistent zu bewahren, schildert der Autor zunächst die Krankheitssymptome der deutschen Politik: Merkel wollte nicht, dass sich die Deutschen allzu viel mit Politik beschäftigen, sie wollte die Bevölkerung über viele Jahre beruhigen, beschwichtigen, einschläfern. Die Demokratie war unterversorgt mit politischem Sauerstoff, also mit Debatten, Emotionen, Ideen. Die Wahlbeteiligung sank. (Der Spiegel, 07/ 2017: Endlich Sauerstoff. Der gute Start von SPD-Kanzlerkandidat Schulz ist eine Hoffnung für die liberale Demokratie) Er diagnostiziert die durch Merkels jahrelanges Regieren ausgelöste Emotions‐ losigkeit, Diskussionsmüdigkeit und Alternativlosigkeit als Sauerstoffunterver‐ sorgung. Aufgrund dieser politischen Sauerstoffunterversorgung befindet sich die deutsche Politik in einer Demobilisierungsphase. Der Autor beobachtet jedoch, dass es weitere Ansätze gegen diese Atemnot in der deutschen Politik gibt. Zum Beispiel unternehmen die rechten Flügel der Politik den Versuch, der Kranken durch Ängste, Hass und Enttäuschung bei ihren Atemschwierigkeiten zu helfen. Mithilfe dieser Versuche wird die krankhafte und einschlafende deutsche Politik wach, aber sie rutscht in eine neue kritische Situation. Der Autor sieht die Kanzlerkandidatur Schulz’ als neue Kraft bzw. Hoffnung, die die Mitte und die Linken der Gesellschaft mobilisiert und gegen das rechte „Heilungsmittel“ der Gesellschaft kämpft. Bis jetzt sieht man ganz klar, dass die Schwerkrankebzw. das Beatmungs‐ gerät-Metapher in einem intensivmedizinischen Frame reibungslos zu inte‐ grieren sind. Die aktuelle deutsche Politik ist so lebensgefährlich, weil die regierende Kanzlerin die Mehrheit nicht mobilisieren kann und die rechten Par‐ teien mit fragwürdigen „Heilungsmitteln“ diese Situation „verbessern“ wollen. Von daher muss eine intensivmedizinische Behandlung sofort in Anspruch genommen bzw. praktiziert werden. Dann gibt es diesen Hoffnungsträger, diesen SPD-Politiker als Beatmungsgerät, der die schwerkranke Politik wieder‐ 292 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="293"?> zubeleben versucht. Um zu zeigen, dass er in der politischen Praxis tatsächlich wie ein Respirator für Patienten, denen der Sauerstoff ausgeht, funktioniert, bringt der Autor weitere Argumente: 1. Von Merkel unterscheidet ihn vor allem Leidenschaft. Schulz brennt für Europa, er hat für dieses schwierige Projekt immer lustvoll gekämpft. Man kann ihm zutrauen, dass er das für andere Projekte tut. Merkel dagegen, die immer zurückhaltend war in ihren Äußerungen, wirkt in diesen Tagen ausgebrennt […]. 2. Für die Sozialdemokratie ist Schulz ein Geschenk, weil da endlich einer ist, der einen ungebrochenen Machtwillen zeigt. Die Spitzenkandidaten der vergan‐ genen beiden Wahlkämpfe, Frank-Walter Steinmeier (2009) und Peer Steinbrück (2013) wirkten aus verschiedenen Gründen gehemmt, zaudernd, zweifelnd. Parteichef Sigmar Gabriel reihte sich da ein. Das alles war krumm, unstimmig, und die Wähler merkten das. 3. Schulz dagegen wirkt so frisch wie machthungrige, seine SPD scheint ihn zu lieben. Wenn Kandidat und Partei es schaffen, eine Einheit zu bleiben, ist das ein Gewinn für alle Demokraten - wegen der Alternative. (Der Spiegel, 07/ 2017: Endlich Sauerstoff. Der gute Start von SPD-Kanzlerkandidat Schulz ist eine Hoffnung für die liberale Demokratie) In den oben aufgeführten drei Auszügen findet man drei wichtige Eigenschaften des hoffnungstragenden Respirators für die schwerkranke deutsche Politik: Er zeigt lustvolle Leidenschaft, besitzt ungebrochenen Machtwillen und bietet Alternativen. Genau die drei wichtigen Eigenschaften braucht die damalige deutsche Politik nach der Ansicht des Autors. Dementsprechend hält der Autor im allerletzten Satz des Leitartikels fest: „Ein guter, leidenschaftlicher Wahl‐ kampf könnte die liberale Demokratie aus ihrer Krise befreien“ (Der Spiegel, 07/ 2017). Anhand dieses Leitartikels und seiner Argumentationslinie ist ersichtlich, dass das ursprünglich aus der Intensivmedizin stammende Konzept Respirator bereits eingangs den Gesamttext in einen Schwerkranken-Deutungsrahmen ge‐ leitet hat. Die damalige deutsche Politik wird als eine Schwerkranke betrachtet, die ärztliche Hilfe benötigt. Die unterschiedlichen Parteien im demokratischen Parlament symbolisieren die verschiedenen Ärzte in einem Krankenhaus, die entsprechend auch diverse Handlungskonzepte haben. Das Handlungskonzept des rechten Flügels als Krise für die liberale Demokratie wird in Frage gestellt. Zugleich bietet die SPD-Ärztin ein Beatmungsgerät namens Schulz, um die Schwerkranke aus der Luftnot zu befreien. Anscheinend kann diese medizi‐ nische Behandlung funktionieren und die Schwerkranke auf einen liberal demokratischen Weg bringen. Vereinfacht und schematisch dargestellt sieht 6.2 Metaphern in der Fachkonstruktion 293 <?page no="294"?> die Argumentationsstruktur mithilfe dieser die Fachkonstruktion begleitenden Metaphern so aus: Argumentationsebene die deutsche Politik → Mobilisierungsbzw. Wiederbelebungsbedarf → Konzepte aus unterschiedlichen Parteien → Konzept aus der rechten Partei ist gefährlich → SPD-Kandidatur bietet ein leidenschaftliches und wiederbelebendes Konzept durch Fachkonstruktion ausgelöste Metapher-Ebene Schwerkranke → ärztlicher Handlungsbedarf → Behandlungskonzepte aus unter‐ schiedlichen Ärzten → das vorgelegte Konzept ist voller Risiken → Respirator versorgt die Schwerkranke mit ausreichendem Sauerstoff 6.3 Kreative Konstruktionen und Konkurrenzstrategien Wie bereits zu Beginn des Kapitels angedeutet, finden sich auch Anwendungen der in Kapitel 6.1 zusammengefassten Metaphern in den neuen bzw. kreativen Konstruktionen aus den untersuchten Leitartikeln. Es muss an dieser Stelle vorab angemerkt werden, dass keine Diskussion über die verwendeten Meta‐ phern in den neu kreierten Konstruktionen aus den Leitartikeln im vorliegenden Kapitel stattfinden wird, obwohl manche Konstruktionen sich durchaus auf die bestimmten Kategorien der Metaphern aus dem Kapitel 6.1 beziehen. Der Schwerpunkt dieses Unterkapitels liegt darin, die strukturellen und se‐ mantischen Eigenschaften der neuen Konstruktionen zu betrachten. Nach der vorliegenden Untersuchung verfolgen die neuen bzw. kreativen Konstruktionen die folgenden vier Konkurrenzstrategien: Übernahme, Umdeutung, Umwertung und Anpassung. Die Konkurrenzstrategie der Übernahme greift eine bereits vorhandene Konstruktion aus anderen Kommunikationsmodi bzw. Sprachvariationen auf. In den untersuchten chinesischen Leitartikeln werden solche kreativen Kon‐ struktionen sogar explizit in Anführungszeichen verwendet, was eine direkte Übernahme aus einer anderen sprachlichen Quelle widerspiegelt. Bei dieser Strategie werden sowohl die semantischen als auch die bewertenden, emotiven Aspekte der Ursprungskonstruktion übernommen. Die zwei anderen ähnlichen Strategien, die spezifische Fälle der Übernahme darstellen, sind Umdeutung bzw. Umwertung. Bei der Strategie der Umdeutung handelt es sich um eine neue semantische Aufladung einer alten Konstruktion je nach Gebrauchskontext sowie Kommunikationszweck, während die Strategie der Umwertung sich auf die bewertenden bzw. emotiven Seiten der neu kreierten Konstruktion konzen‐ 294 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="295"?> triert. Die letzte Konkurrenzstrategie übernimmt nur einen morphologischen Teil einer bereits existierenden Konstruktion und der andere Teil der neuen Konstruktion wird kreativ an den pragmatischen Kontext angepasst. 6.3.1 Übernahme Die erste und einfache Konkurrenzstrategie, mit der man eine kreative Kon‐ struktion in einem neuen Kontext schafft, liegt bei der direkten Übernahme einer Konstruktion aus anderen Kommunikationsmodi bzw. Sprachvariationen. So sind die folgenden zwei Kategorien der direkten Übernahme im Leitartikel zu verzeichnen: Übernahme einer dialektischen Konstruktion Beispielsweise wird in einem chinesischen Leitartikel geschildert, dass viele mittelgroßen Städte wie Chengdu, Changsha oder Wuhan verschiedene Kon‐ zepte herausgearbeitet bzw. Angebote gemacht haben, um begabte Menschen zu gewinnen. Am Ende stellt der Autor die folgende Frage: 在竞争中,哪座城市能成为人才“钟意的菜 " (Welche Stadt kann den klugen Köpfen in der Konkurrenz am besten gefallen? ) (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 26/ 2017: 制度环 境是最好的人才政策 ) Bei der Konstruktion in Anführungszeichen handelt es sich um eine direkte Übernahme einer kantonesischen Konstruktion, die zugleich eine Essensmeta‐ pher versprachlicht ( 菜 : Gericht). Die Wörter 钟意 (Bedeutung: lieben, bevor‐ zugen) stammen ursprünglich aus dem Altchinesischen und finden ihre aktu‐ elle Verwendung überwiegend im Kantonesischen und Wu-Dialekt in China. Durch die Konstruktion 钟意的菜 (Lieblingsgericht) werden hier einerseits die verschiedenen Angebote aus unterschiedlichen mittelgroßen Städten als die Auswahlmöglichkeiten auf einer Speisekarte bzw. Serviceangebote eines Restaurants veranschaulicht und anderseits werden die Städte als Restaurants und die klugen Menschen als Besucher angesehen. So wird das Ringen der unterschiedlichen Städte um die klugen Köpfe in einen Restaurantbesuch-Frame eingebettet. Die Restaurants mit den besten Speisen und einem hervorragenden Service können mehr Besucher anlocken. Darüber hinaus wirkt diese Konstruk‐ tion mit kantonesischer Einfärbung im Gesamtleitartikel, in dem durchgängig das Standardchinesisch gebraucht wird, stilistisch lockerer und interessanter. 6.3 Kreative Konstruktionen und Konkurrenzstrategien 295 <?page no="296"?> Übernahme einer internetlinguistischen Konstruktion Neben der direkten Übernahme der dialektischen Konstruktion bildet die Sprache aus neuen Kommunikationsbzw. Medienkanälen (z. B. Twitter, Facebook oder Instagram) eine neue Quelle für kreative Konstruktionen. Im Folgenden werden zwei Beispiele für diese Kategorie genannt: (1) 荣耀当然还应归于嫉恶如仇、为他人权益挺身而出的斗士。当他们于邪恶势力搏 斗,当它们孤军奋战,人们不应当只是当旁观者或“吃瓜群众”。 (Natürlich sollte der Ruhm den Kämpfern zugeschrieben werden, die aufrichtig sind und für die Rechte und Interessen anderer eintreten. Wenn sie gegen böse Mächte allein kämpfen, sollen die anderen Menschen nicht nur Zuschauer oder „Schaulustige in Menschenmassen“ sein. Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 02/ 2017: 汇聚细微的变 革力量 ) (2) 今年春节,马伊琍吐槽国内机场母婴室形同虚设获网友“怒赞 ” (Beim diesjährigen Frühlingsfest beklagte sich Ma Yili, dass die speziell für Frauen und Babys eingerichtete Lounge im Inlandsflughafen nicht funktioniert, als ob es sie nicht gäbe. Dies wurde von Internetnutzern „stark lobend geliked“ Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 06/ 2016 : “匠人精神”是一种信仰 ) Die kreative Konstruktion 吃瓜群众 (essen + Wassermelone/ Sonnenblumen‐ kerne + Massen + Volk: die Wassermelonen/ Sonnenblumenkerne essenden Massen. Bezeichnung für Schaulustige in Menschenmassen) hat ihre Wurzel in der chinesischen Internetforumskultur. Diese Konstruktion bezeichnet in ihrer ursprünglichen Bedeutung die Forumsnutzer, die hinter einem Diskussi‐ onsbeitrag über ein bestimmtes Thema keine eigenen Beiträge hinterlassen und nur die Beiträge von den anderen lesen. Später wird dieses Konzept aus der Forumskultur auf den allgemeinen Sprachgebrauch übertragen, um die Menschengruppe bzw. die Menschen zu benennen, die eine Sache nur aus der Perspektive der Schaulustigen betrachten, gleichgültige Gefühle zeigen, keine eigene Stellung zu einem Sachverhalt nehmen und dementsprechend nicht en‐ gagiert darauf reagieren bzw. handeln. Besonders die VP als Modifikator (Was‐ sermelonen essen/ Sonnenblumenkerne essen) vor der NP (Menschenmassen) ruft einen Schaulustigen-Deutungsrahmen hervor. Somit wird die Gleichgültig‐ keit der Schaulustigen gegenüber einem Sachverhalt veranschaulichend zur Sprache gebracht. Zu den wichtigsten Begriffen in den sozialen Netzwerken gehören twittern, liken und posten. Schon 2009 ist die eingedeutschte Variante „twittern“ in die 25. Auflage des Dudens für Rechtschreibung aufgenommen worden. Im Vergleich zu dieser flexiblen Einstellung zur Internetsprache ist das Moderne Chinesische Standardwörterbuch konservativer. Bis jetzt wird die chinesische Entsprechung 296 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="297"?> für Twitter 推特 noch nicht als ein eigenständiger Eintrag lexikalisiert. Die interlinguistische Konstruktion 怒赞 (wütend + loben/ liken: stark lobend liken) ist auch bis jetzt nicht in die neueste Auflage des Modernen Chinesischen Wörterbuchs integriert worden. Die Konstruktion 赞 bedeutet ursprünglich „loben“ und wird während der zunehmenden Internetkommunikation direkt von den Internetbenutzern übernommen. Beiträge in sozialen Netzwerken mit dem Button-Klick von „like“ bzw. „gefällt mir“ führen zu der Verbreitung dieser Konstruktion. Der adverbiale Modifikator 怒 (würtend) wird von den Benutzern der sozialen Netzwerke häufig gebraucht, um den außergewöhnlichen Grad dieser Freude auszudrücken. Es ist auch interessant anzumerken, dass alle oben genannten kreativen Konstruktionen in Anführungszeichen vorkommen. Dies kann auf zweierlei Art und Weise interpretiert werden: Zum einen wirken diese metaphorischen Konstruktionen absichtlich und zielgerichtet und zum anderen kann die Ver‐ wendung der Anführungszeichen auch auf die direkte Übernahme der anderen variationslinguistischen Quelle referieren. 6.3.2 Umdeutung Die zweite Strategie liegt bei der Umdeutung einer bereits vorhandenen Kon‐ struktion. Beispielsweise können manche Ortsnamen im deutschen politischen Kontext umgedeutet werden bzw. kreativ andere Referenten bezeichnen: (1) Einer ähnlichen Logik folgen CDU, SPD und Grüne, wenn sie sich in diesen Tagen in Sachsen-Anhalt zu einer sogenannten die Kenia-Koalition zusammenschließen. (Der Spiegel, 17/ 2016: Die Kenia-Republik. Es ist gefährlich, wenn die Parteien der Mitte gemeinsam regieren) (2) Die Jamaikaparteien haben sich zum gesetzt, die Digitalisierung Deutschlands voranzutreiben. (Der Spiegel, 45/ 2017: Digitaler Darwinismus. Die Internetökonomie braucht neue Regeln, die alten Gesetze greifen nicht) Die Ortsnamen wie Kenia oder Jamaika kommen besonders häufig vor, wenn man über einen potenziellen Zusammenschluss der Regierungskoalition dis‐ kutiert. Offensichtlich handelt es sich bei solchen Staatsnamen nicht um die konkreten geopolitischen Staaten. Um überhaupt solche Konstruktionen zu verstehen, müssen zumindest politisches und geographisches Wissen in dreierlei Hinsicht vorausgesetzt werden. Erstens muss klar sein, aus welchen Farben die Nationalflaggen der betroffenen Staaten bestehen. Schwarz, Rot und Grün bilden zusammen die Nationalflagge des ostafrikanischen Staats Kenia. 6.3 Kreative Konstruktionen und Konkurrenzstrategien 297 <?page no="298"?> Zweitens muss man auch wissen, wie die Logos der aktuellen deutschen Parteien aussehen. Ausschlaggebend ist zu erfahren, welche Farbe für welche Partei bzw. welche Farbe für welchen politischen Flügel steht. Bündnis 90/ Die Grünen sind bekannt für den grünen Hintergrund ihres Logos mit einer Sonnenblume. Au‐ ßerdem steht das Grün hier symbolisch für eine umweltengagierte bzw. ökologi‐ sche Partei. Schwarz wird verwendet für eine konservative oder demokratische Partei (hier CDU) und Rot steht für eine sozialistische bzw. sozialdemokratische Partei (hier SPD). Drittens muss man dann den Zusammenhang zwischen der betroffenen Nationalflagge und der Farbenzusammensetzung der deutschen Parteien herausfinden. Nur durch den Einbezug der politischen Farbsymbole und die Farbsetzung der betroffenen Nationalflaggen wird metaphorisch die neue Konstruktion für eine spezifische Form des Koalitionszusammenschlusses geschaffen. Zusammengefasst werden die Ortsnamen wie Jamaika und Kenia hier bezüglich der ähnlichen Farbensymbolik im deutschen parteipolitischen Kontext kreativ umgedeutet. Somit ist ein politisch-inhaltlicher Bezug zu dem jeweiligen Staat nicht zu finden. Darüber hinaus ist eine andere kreative Konstruktion „digitaler Darwi‐ nismus“ aus dem Beispielsatz (2) oben zu beobachten. Der Begriff Darwinismus bezieht sich auf das Theoriensystem zur Erklärung der menschlichen Evolution, wobei das Selektionsprinzip im Vordergrund steht. In diesem Leitartikel wird beispielsweise dargelegt, dass die weltumspannenden Internetkonzerne wie Amazon, Google oder Facebook nicht nur Onlinehändler bzw. Anbieter des so‐ zialen Netzwerks darstellen, sondern digitale Neumächte, die die Kundendaten absaugen, durch gezielte Werbungen Milliarden verdienen und menschliche Präferenzen voraussagen. Bei der Einführung des digitalen Darwinismus ist gemeint, dass das Selektionsprinzip nicht in der Internetökonomie stattfinden soll. Die Regierungen bzw. die relevanten Behörden müssen sich einmischen, um die „Supermächte“ in der Internetökonomie neu zu regulieren bzw. zu begrenzen. Folglich weist der vom Autor aufgestellte digitale Darwinismus in eine andere Bedeutungsrichtung des Theoriekonzepts des Darwinismus, wobei die staatliche Intervention bzw. Regulierung der Monopole statt der natürlichen Auslese im Internetmarkt im Vordergrund stehen sollen. So wird das Konzept des Darwinismus im Kontext der aktuellen Internetökonomie umgedeutet: The winner takes it all: Das ist das darwinsche Gesetz der digitalen Ökonomie, die deshalb zu Monopolen neigt. Allerdings zu Monopolen, denen mit dem klassischen Werkzeug des Kartellrechts nicht beizukommen ist. (Der Spiegel, 45/ 2017: Digitaler Darwinismus. Die Internetökonomie braucht neue Regeln, die alten Gesetze greifen nicht.) 298 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="299"?> 6.3.3 Umwertung Die ersten beiden Strategien beziehen sich mehrheitlich auf die bereits vorhan‐ denen Konstruktionen. In der Konkurrenzstrategie der Übernahme kann eine Konstruktion aus anderen linguistischen Varietäten in einem neuen Kontext gebraucht werden, in dem sogar die ursprüngliche emotive Auslösung dabei ist. In der Konkurrenzstrategie der Umdeutung kann eine bereits existierende Kon‐ struktion kontextuell neu gebraucht werden. Allerdings wird ihre Bedeutung anders aufgeladen. Die dritte Konkurrenzstrategie, die Umwertung, kann auf zweierlei Art und Weise ausgelegt werden. Der eine Fall der Umwertung betrifft eine Konstruktion, die bereits im Laufe der Zeit in einem Sprachsystem etabliert wurde. Indessen wird die Bedeutung neu bewertet und kann in einem neuen Kontext dementsprechend aufbzw. abgewertet werden. Zum Beispiel wird die ursprünglich negative Bewertung der Konstruktion „Kollateralschäden“ im folgenden Kontext neutral relativiert: Die Europäische Zentralbank tut des Guten zu viel, und die Kollateralschäden könnten bald weltweit zu spüren sein. Wenn Schwellenländer wie Brasilien oder China unter dem Druck billiger europäischer Exporte die Notenpresse anwerfen, droht ein Währungskrieg, bei dem am Ende alle verlieren. (Der Spiegel, 13/ 2015: Höchste Zeit zur Umkehr. Die EZB heizt mit ihrer Geldpolitik die Spekulation an, statt die Konjunktur zu beflügeln) Die Konstruktion „Kollateralschäden“ ist wegen ihrer Verharmlosung der Tö‐ tung unschuldiger Zivilmenschen als Nebensächlichkeit, 1999 zum Unwort in der deutschen sprachkritischen Aktion „Unwort des Jahres“ ausgewählt worden. Dabei werden sämtliche negative und inhumane Aspekte im Kosovo-Krieg heruntergespielt. Jedoch referiert diese Konstruktion im oben aufgeführten Leitartikel nicht auf die Konnotation im Kontext des Kosovo-Kriegs. Vielmehr geht es um die durch die jetzige Geld- und Finanzpolitik der EZB entstandene negative Auswirkung, die nicht im Zusammenhang mit dem Ziel einer solchen Politik steht, aber hingenommen wird. Der andere Fall der Umwertung sieht so aus, dass ein Teil der kreativen Konstruktion aus einer alten Konstruktion erkennbar ist und dabei die emotive Bewertung der kreativen Konstruktion neugestaltet wird. Die Konstruktion X-ismus ohne Flexionsendung in Singularform kann zum Beispiel nach der Er‐ klärung im Duden folgende Bedeutungsaspekte kennzeichnen (Duden-Online, letzter Zugriff: 19.11.2021): 6.3 Kreative Konstruktionen und Konkurrenzstrategien 299 <?page no="300"?> 1) in Bildungen mit Substantiven (meist Namen) eine Geisteshaltung oder po‐ litische Richtung, die von jemandem stammt, sich von jemandem herleitet (z.-B. Maoismus, Titoismus) 2) in Bildungen mit Adjektiven die entsprechende Geisteshaltung oder kultu‐ relle, geistige Richtung (z.-B. Humanismus, Liberalismus) 3) in Bildungen mit Adjektiven die entsprechende einzelne Erscheinung, Sache, Handlung o. Ä. (z.-B. Anachronismus, Infantilismus) Die kreative Konstruktion „Merkelismus“ unten bezieht sich auf den ersten Fall der oben aufgeführten Bedeutungsaspekte. Jedoch wird die Bedeutung der neuen Konstruktion emotiv negativ besetzt, in der Merkels Art des Regierens sowie die von ihr betriebene deutsche Politik während ihrer Amtszeit insgesamt in Frage gestellt werden: Es kann noch eine Weile dauern, bis Angela Merkel abtritt, aber der Merkelismus ist eindeutig in seine Spätphase getreten. Seit zwölf Jahren prägt diese Regierungsform das Land. Sie stellt Konsens, Ruhe, Stabilität über alles. Deshalb darf die Anführerin des Merkelismus nicht provozieren, keine klaren Konturen zeigen, sie muss den Streit meiden, die Bürger beruhigen. Sein natürlicher Ort ist die Mitte, wo der Wunsch nach einem gesellschaftlichen Konsens am größten ist, weil sich die Mitte selbst für den Konsens hält. (Der Spiegel, 51/ 2017: Die Trümmer des Merkelismus. Nicht nur bei SPD und FDP liegt das Problem, sondern auch bei der Bundeskanzlerin) 6.3.4 Anpassung Die letzte Konkurrenzstrategie bezeichne ich als Anpassung, wobei die kreative Konstruktion auf der Basis eines Teils der alten Konstruktion beruht und der neue Teil in dieser kreativen Konstruktion dem neuen pragmatischen Kontext angepasst wird. Anders als die Konkurrenzstrategie der Umwertung wird sich in dieser Strategie wenig auf die bewertende Seite der kreativen Konstruktion bezogen. Die Konstruktion 北漂 (Norden/ Beijing + driften: die Berufstätigen ohne das Hukou in Beijing) bezeichnet die Menschengruppe, die aus anderen Regionen in China kommen und ohne das Beijing-Hukou (also das Anmeldebzw. Sozi‐ alsystem in China) in Beijing arbeiten. Da solche Menschen üblicherweise in der Frühphase der Karriere keine festen Wohnsitze in Beijing besitzen und deshalb häufig umziehen müssen, ist die Situation ähnlich wie ein zielloses Boot auf dem Wasser, das „driften“ muss. Infolgedessen ist von den in Beijing driftenden Menschen die Rede. Darüber hinaus besitzen solche Menschen oft kein Zuge‐ hörigkeitsgefühl bzw. Geborgenheitsgefühl in Beijing und befinden sich auch 300 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="301"?> psychisch in einem driftenden Zustand. Abgeleitet von dieser Konstruktion wird dieses X- 漂 auch im chinesischen Leitartikel produktiv. Die X-Stelle wird in der Regel durch die Abkürzung der betroffenen chinesischen Stadt besetzt. Die kreative Konstruktion 蓉漂 (die in Chengdu driftenden Menschen) unten ist ein solches Beispiel, wobei 蓉 ein Kürzel für die Stadt Chengdu darstellt: 成都“蓉漂”计划,推行大学本科无条件落户,可以“先落户后就业 ” (Die Stadt Chengdu stellt ein sogenanntes „Rong Piao“ (die in Chengdu driftenden Men‐ schen)-Konzept vor und gesteht den Universitätsabsolventen bedingungslos zu, von dem lokalen Hukou-System zu profitieren. Zum Beispiel können sie das Recht in Anspruch nehmen, sich zuerst im Hukou-System angemeldet zu haben, angesiedelt zu sein und dann eine Stelle in Chengdu auszusuchen. Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 26/ 2017: 制度环境是最好的人才政策 ) Die Konstruktion wie X-Effekt oder X-politik ist ebenfalls ein Fall, in dem die X-Stelle je nach Gebrauchskontext angepasst wird. Die folgenden Kon‐ struktionen „Schluckaufpolitik“ und „Franziskus-Effekt“ sind zwei prominente Beispiele im deutschen Leitartikel: (1) Merkel selbst bildet bei dieser Schluckaufpolitik undeutlich. Sie verändert das Land mit der postheroischen Methode: ohne sich mit diesen Veränderungen leidenschaftlich zu identifizieren. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel, 27/ 2017: Schluckaufpolitik. Kein Anschlag auf die Demokratie, aber ein Skandal: Merkels Art zu regieren) (2) Zwar füllt der Papst weiter die Piazza vor dem Petersdom, aber in den Gottes‐ häusern und Priesterseminaren der alten Welt setzt sich der Niedergang des Katholismus ungebremst fort. Der „Franziskus-Effekt“, klagen Kleriker innerhalb der vatikanischen Mauern, das ganze Mediengeschnatter also um diesen Papst samt den dazugehörigen symbolträchtigen Bildern, dürfe über eines nicht hinweg‐ täuschen: Von einer Trendwende im christlichen Abendland sei nichts zu spüren. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel, 05/ 2015: Der Mann der vielen Worte. Papst Franziskus amüsiert die Welt. Aber hilft das seiner von Krisen geschüttelten Kirche? ) Bislang sind die vier Konkurrenzstrategien der kreativen Konstruktion getrennt mit authentischen Beispielen aus der Untersuchung im chinesischen und deut‐ schen Leitartikel ausführlich dargestellt worden. Jedoch bedeutet dies nicht, dass die neue und kreative Konstruktion ganz isoliert nur eine Einzelstrategie berücksichtigt. Es ist möglich, unterschiedliche Strategien zu kombinieren, um kreative Konstruktionen zu kreieren. 政府要严格把控特色小镇的定位与特色,防止一哄而上,防止沦为新一轮的圈地、圈钱 运动 (Die Regierung auf der lokalen Ebene muss die neu konzipierten Kleinstädte 6.3 Kreative Konstruktionen und Konkurrenzstrategien 301 <?page no="302"?> mit Eigenschaften genau positionieren bzw. vernünftig planen. Ein Ansturm des planlosen Neubaus von Kleinstädten muss auf jeden Fall vermieden werden. Die lokalen Regierungen dürfen diese Gelegenheit nicht ausnutzen, um mehr Land zu verkaufen und dadurch mehr Gewinn zu erzielen. Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 24/ 2017: 打造特色小镇不是做房地产 ) Die Produktivität der chinesischen Konstruktion X- 运动 (X-Bewegung) ist hoch und die ableitenden Konstruktionen lassen sich in unterschiedlichen Bereichen beobachten: 直线运动 (Lineare Bewegung), 五四运动 (Bewegung des vierten Mai), 新文化运动 (Bewegung für eine neue Kultur), 洋务运动 (Selbststär‐ kungsbewegung), 妇女解放运动 (Frauenemanzipationsbewegung) und 有氧运动 (Sport-an-der-frischen-Luft-Bewegung). Bei der Konstruktion 圈地运动 oben handelt es sich um die Umdeutungsstrategie und bei 圈钱运动 um die Strategien der Umwertung bzw. der Anpassung. Die Konstruktion 圈地运动 (einhegen + Land + Bewegung) bezieht sich ursprünglich auf die Enclosure Movement in der britischen Landwirtschaft. Jedoch wird hier diese alte Konstruktion aus dem historischen Kontext umgedeutet. In dem Leitartikel geht es darum, dass die lokalen Regierungen in China das frei verfügbare Land nicht „einhegen“ und es an Immobilienunternehmen zu einem hohen Preis verkaufen sollen. Stattdessen sollen sie sich Gedanken darüber machen, wie man auf diesem Neuland neue Kleinstädte mit eigenen Eigenschaften aufbauen kann. Die andere Konstruktion 圈钱运动 (einhegen + Geld + Bewegung) hat zunächst drei Stellen aus der historischen Konstruktion 圈地运动 übernommen und dann die Stelle an ihren Gebrauchskontext angepasst. Jedoch kann die Konstruktion 圈钱 darauf refe‐ rieren, dass durch illegale Wege Wucherpreise von Investoren verlangt werden, die dementsprechend keine Angebote machen oder keine Gegenleistungen anbieten. So wird diese neue Konstruktion negativ besetzt. Nun werden die wesentlichen Aspekte nochmals zusammengefasst: Die Konkurrenzstrategien der Übernahme und der Anpassung betreffen die strukturellen Eigenschaften der neuen Konstruktionen, wobei die anderen Strategien, Umdeutung und Umwertung, Bezug auf die semantischen Eigen‐ schaften der neuen Konstruktionen nehmen. Bei der Konkurrenzstrategie der Übernahme wird die Struktur einer alten Konstruktion für die neue Konstruk‐ tion komplett kopiert. Jedoch wird die neue Konstruktion in einem anderen Kontext benutzt. Die Konkurrenzstrategie der Anpassung bezieht sich auf eine teilweise Kopie der Struktur (z. B. Prosodie oder Morphologie) einer alten Konstruktion. Die anderen Konkurrenzstrategien sind auf die semantischen Aspekte der neuen Konstruktionen bezogen. Mit der Umdeutung ist damit gemeint, dass die neue Konstruktion durch die Extension bzw. Verengung der alten Konstruktionsbedeutung hergestellt wird. Die Strategie der Umwertung 302 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="303"?> hebt die emotive Hinzufügung der alten Konstruktion hervor. Außerdem ist wichtig darauf hinzuweisen, dass die frame-bezogenen Verwendungsszena‐ rios (also die Ebene der Pragmatik) eine übergeordnete Rolle in Bezug auf die Gestaltung der neuen Konstruktionen spielen. Das heißt, die neu geschaffenen Konstruktionen müssen sich an dem pragmatischen Ziel orientieren. Nicht zuletzt soll auch angemerkt werden, dass die vier Konkurrenzstrategien nicht komplett getrennt eingesetzt werden müssen. Sie können in der Praxis beliebig kombiniert werden, um neue und kreative Konstruktionen zu kreieren. Die nachstehende Tabelle verdeutlicht noch die wichtigen Eckpunkte, die bis jetzt diskutiert worden sind: Verwendungsszenario (Ebene der Pragmatik) Ebene der Semantik Ebene der Struktur Umdeutung Herstellung der neuen Konstruktion durch semantische Extension bzw. Veren‐ gung der vorhandenen Konstruktion Übernahme komplette Kopie der prosodischen oder morphologischen Struktur einer vorhan‐ denen Konstruktion Umwertung Herstellung der neuen Konstruktion durch emotive Ergänzung der vorhan‐ denen Konstruktion Anpassung teilweise Kopie der prosodischen oder morphologischen Struktur einer vorhan‐ denen Konstruktion Tab. 67: Konkurrenzstrategien für die neuen und kreativen Konstruktionen 6.4 Zwischenfazit Das vorliegende Kapitel schenkt insbesondere der Verwendung der metaphori‐ schen Konstruktionen auf der textuellen Ebene Aufmerksamkeit. Ausgehend von dem vorgestellten Beschreibungsansatz aus dem letzten Kapitel argumen‐ tiere ich mit vielen authentischen Sprachdaten, dass die Konstruktionsbedeu‐ tung sich nur aus ihrem pragmatisch spezifischen Verwendungsszenario ergeben kann. Zudem können die metaphorischen Konstruktionen bzw. unter‐ schiedliche Metaphern in einem Leitartikel zum Deutungsrahmen beitragen bzw. ihn „manipulieren“. In der nachstehenden Tabelle werden die wichtigsten verwendeten Metaphern aus den untersuchten Leitartikeln nochmals zusam‐ menfassend resümiert: 6.4 Zwischenfazit 303 <?page no="304"?> Kategorien Verwendungsbeispiele im Leitartikel Natur • FRÜHLING IST GUTE WIRTSCHAFTSENTWICKLUNG • WINTER IST SCHLECHTE WIRTSCHATFSENTWICKLUNG • KATASTROPHE IST NEGATIVE POLITISHCE ENTWICKLUNG Tier • GROSSE TIERE SIND MÄCHTIG UND SOZIAL ÜBERLEGEN • KLEINE TIERE SIND MACHTLOS UND SOZIAL UNTERGEOR‐ DENT Freizeit • POLITISCHE HANDLUNG/ AKTION/ VERHALTEN SIND THEATER ODER VERSCHIEDENE SPIELE Reise • POLITISCHE RICHTLINIE IST WEG • STAATLICHE ENTWICKLUNG IST REISE • TREIBKRFAFT DER WIRTSCHAFT IST VERKEHRSMITTEL (z.-B. Pferdwagen-, Rad-Metapher) Essen • WIRTSCHAFTSPOLITIK IST KUCHENBACKEN • SCHWIERIGKEITEN IN DER WIRTSCHAFTLICHEN ODER GE‐ SELLSCHAFTLICHEN ENTWICKLUNG SIND HARTE KNOCHEN • DEN PREIS HOCH ZU TREIBEN IST BRATEN Krankheit • NEGATIVE ENTWICKLUNGEN IN EINER GESELLSCHAFT ODER EINER ORGANISATION SIND KRANKHEITEN (z.-B. KORRUP‐ TION IST KRANKHEIT, FREMDENFEINDLICHKEIT IST KRANK‐ HEIT) Wirtschaft • POLITISCHE AUSHANDLUNG IST DEAL • POLITISCHE PARTEI IST WIRTSCHAFTSSUBJEKT (z.-B. Startups-Metapher) Tab. 68: Liste der häufig in der Argumentation eingesetzten Kategorien der Metaphern und Beispiele Anhand einiger Beispiele aus Kapitel 6.1 wird deutlich, dass die im Leitartikel eingesetzten Metaphern mindestens zwei Funktionen übernehmen können. Zum einen können sie den Deutungsrahmen vorausdeuten. Viele der verwen‐ deten Metaphern treten am Anfang des Leitartikels oder gar im Titel des Artikels auf und dies ermöglicht, die Aufmerksamkeit der Leserschaft bereits auf den ersten Blick in die voreingestellte Richtung bzw. den voreingestellten Deutungs‐ rahmen zu leiten. Danach kommen andere Metaphern, die in einem kohärenten Netzwerk-Zusammenhang mit der bereits eingeführten oder angedeuteten zentralen Metapher stehen, im jeweiligen Leitartikel zum Einsatz. Die neu eingeführten Metaphern - parallel zu der jeweiligen zentralen Metapher - un‐ terstützen meistens ein Teilargument der aufgestellten Gesamtthese. Außerdem 304 6 Metaphorische Konstruktionen im Text <?page no="305"?> können die zentral eingesetzten Metaphern in einem Leitartikel die sachliche Argumentation durch eine parallel konkretisierte Projektion anhand von un‐ terschiedlichen Metaphern veranschaulichen, was einerseits den kognitiven Bearbeitungsaufwand der Sprachdaten verringern kann aber andererseits die framebezogenen Stereotypen aus allen möglichen Lebensbereichen wiederum hervorrufen bzw. durchaus nochmals verstärken können. Es ist auch ersichtlich, dass viele Fachkonstruktionen in der Argumentation in einem Leitartikel erscheinen. Einige davon werden ohne zusätzliche Erläute‐ rungen im Leitartikel verwendet und dies kann darauf zurückgeführt werden, dass die Artikel nur für diejenigen geschrieben werden, die dieses vorausge‐ setzte Wissen, gut situierte sozioökonomische Bedingungen oder ein hohes Bil‐ dungsniveau besitzen. Dementsprechend behindert bestimmtes Fachvokabular den Zugang zum Textverständnis für andere Lesergruppen. Die Metaphern in den Fachkonstruktionen werden in Kapitel 6.2 behandelt. Die ausführliche Analyse der drei ausgewählten Fachkonstruktionen aus den untersuchten Leitartikeln weist nach, dass die eingesetzten Metaphern beim Verstehen der Fachkonstruktionen geholfen und wiederum die Argumentationskette begleitet haben. Darüber hinaus weist die Analyse nach, dass die Fachkonstruktionen in einem meinungsbildenden Leitartikel viel mehr manipulativ, persuasiv oder emotiv auswirken können. Der letzte Aspekt in diesem Kapitel fokussiert die Konkurrenzstrategien der neu geschaffenen Konstruktionen in einem Leitartikel. Die Konkurrenzstra‐ tegien sind in einem pragmatisch frame-spezifischen Verwendungsszenario eingebettet (vgl. Tab. 67) und beziehen sich auf die strukturellen und die seman‐ tischen Eigenschaften der Konstruktionen. Sie umfassen 1) direkte Übernahmen einer vorhandenen Konstruktion aus einem anderen Kommunikationsbereich bzw. einem anderen Kommunikationsmodus, 2) Konstruktionsumdeutungen (Verengung der Extension einer Konstruktionsbedeutung), 3) Konstruktions‐ umwertungen (Aufbzw. Abwertung einer Konstruktion, Relativierung sowie Tabuisierung einer Konstruktion) und 4) Konstruktionsanpassungen (morpho‐ logische, semantische, syntaktische und pragmatische Anpassung einer Kon‐ struktion). Zudem muss darauf hingewiesen werden, dass die vier entdeckten Konkurrenzstrategien nicht isoliert zueinanderstehen und sie durchaus kombi‐ niert werden, um kreativ neue Konstruktionen zu erschaffen. 6.4 Zwischenfazit 305 <?page no="307"?> 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion Das letzte Kapitel der Empirie beschäftigt sich mit der Verwendung der me‐ taphorischen Konstruktionen auf einer multimodalen Ebene der Sprachver‐ wendung (Bild-Konstruktion-Zusammensetzung). Untersuchungsgegenstände dieses Kapitels bilden die Titelbilder, die Konstruktionen auf den Titelbildern sowie die Titelgeschichten. Zuerst wird versucht, eine Typologie der Titel‐ bild-Konstruktion-Konstellation aufzustellen (Kap. 7.1). Danach werden die metaphorischen Konstruktionen in den Titelbildern bzw. Titelgeschichten aus zwei ausgewählten authentischen Ausgaben der chinesischen und deutschen Zeitschriften auf der idiomatischen, textuellen und diskursiven Ebene interaktiv überprüft (Kap. 7.2 und 7.3). Die wichtigsten Eckpunkte der Analyse aus der titelstory-diskursiven sowie multimodalen Perspektive werden abschließend in Kapitel 7.4 gebündelt. 7.1 Kategorien der Titelbild-Konstruktion-Konstellation Das vorliegende Unterkapitel versucht, eine Typologie hinsichtlich der Titel‐ bild-Konstruktion-Konstellation anhand der ausführlich behandelten 100 Titel‐ bilder in jeweils 52 deutschen Ausgaben von Der Spiegel und 48 chinesischen Ausgaben von Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan. Grundsätzlich lassen sich die Konstruktionen auf einem Titelbild der untersuchten beiden Zeitschriften in die folgenden drei Hauptkategorien eingliedern: 1. Konstruktionen auf einem Titelbild beschreiben genau das Titelbild; 2. Konstruktionen auf einem Titelbild beschreiben teilweise das Titelbild und 3. Konstruktionen auf einem Titelbild deuten implizit (meistens durch die Verwendung von Metaphern) auf das Dargestellte auf dem Titelbild hin. Nachstehend wird auf jede Kategorie mit authentischen Titelbildern ausführlich eingegangen. 1. Konstruktionen auf einem Titelbild beschreiben genau das Titelbild Sprachliche Konstruktionen auf einem Titelbild können das auf dem Titelbild dargestellte Thema oder den relevanten Sachverhalt genauer beschreiben, was die grundlegende Kategorie der Titelbild-Konstruktion-Konstellation in der vor‐ <?page no="308"?> liegenden Studie darstellt. Manchmal können die sprachlichen Konstruktionen sogar zusätzliche Informationen, die nicht durch das Titelbild zu erfassen sind, zum Ausdruck bringen. Im Folgenden werde ich mithilfe von zwei Titelbildern diese Kategorie etwas ausführlicher vorstellen. Abb. 16: Titelbild „ 握手言核 “ (Quelle: Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, Nr.-22/ 2018) Das Titelbild oben dokumentiert eine Szene, in der der damalige US-Amerika‐ nische Präsident Donald Trump und der nordkoreanische der Vorsitzende des Komitees für Staatsangelegenheiten der DVRK, Kim Jong-un, sich lächelnd die Hände geben. Thematisch bezieht sich die Titelgeschichte auf das historische Gipfeltreffen in Singapur zwischen den beiden Politikern. Dieses Treffen ist historisch bedeutend, weil es die erste Begegnung zwischen einem US-Ameri‐ kanischen Präsidenten und einem nordkoreanischen Staatsoberhaupt seit der Staatsgründung Nordkoreas vor mehr als 50 Jahren darstellt. Zentrale Themen ihres Gesprächs sind das Atomprogram sowie der Ausstieg aus der Atomkraft auf der koreanischen Halbinsel. Alle Titelgeschichten deuten darauf hin, dass das Treffen zwischen den beiden Staatsführern ein positives Signal hinsichtlich des Problems auf der koreanischen Halbinsel gesendet hat. Somit wird eine beispiellose friedliche Entwicklung auf der Halbinsel ermöglicht und Frieden statt Konfrontation ist in der fernen Zukunft sichtbar, obwohl der Weg immer noch steinig ist. 308 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="309"?> Die entsprechende sprachliche Konstruktion 握手言核 (halten + Hand + reden + Atomkraft: die Hände schlagen und über die Atomkraft reden), die auf eine viersilbige Chengyu-Konstruktion im Chinesischen 握手言和 (halten + Hand + reden + Frieden: die Hände schlagen und über Frieden reden, was bedeutet, dass die Beziehung zwischen beiden Personen bzw. Parteien locker bzw. normalisiert wird) rekurriert. Hier sieht man auch, dass die Konkurrenzstrategie der Anpas‐ sung in der kreativen Konstruktion 握手言核 auf dem Titelbild Verwendung findet. Diese neue Konstruktion wird aufgebaut, indem die ersten drei Stellen aus der ursprünglichen Chengyu-Konstruktion direkt übernommen werden und die letzte Stelle durch ein kreatives Homophon ersetzt wird (vgl. 握手 言核 : [uɔ 51 ] [ʂoʊ 214 ] [jɛn 35 ] [xɤ 35 ]; 握手言和 : [uɔ 51 ] [ʂoʊ 214 ] [jɛn 35 ] [xɤ 35 ]). Die innovative Besetzung der letzten flexiblen Stelle durch 核 (Atomkraft) bringt das Gesprächsthema der beiden politischen Akteure zur Sprache und die ersten beiden Konstruktionen 握手 (Hände schütteln) drücken die auf dem Titelbild dargestellte Szene aus. Das Beispiel zeigt, dass die zum Einsatz gebrachten Konstruktionen die auf dem Titelbild dargelegte Hände-schütteln-Szene schil‐ dern und außerdem zusätzlich Hinweise auf das Gesprächsthema geben. Nicht zuletzt soll auch bemerkt werden, dass die Homophone 和 (Frieden) und 核 (Atomkraft) als eine durchaus gewollte Symbolik interpretiert werden können, weil das Treffen rund um das Atomprogramm auf der koreanischen Insel eine Friedenshoffnung bringt. Das Titelbild oben besteht aus drei Ebenen. Die durchgängig blaue Farbe im Hintergrund des Titelbildes bildet die erste Ebene des Titelbilds. Die schwarze, männliche Silhouette auf dem blauen Hintergrund zählt zu der zweiten Ebene des Titelbildes. In der Regel kann solch eine schwarze, männliche Silhouette symbolhaft für einen geheimnisvollen Hintermann bzw. einen Täter stehen. Die letzte Ebene basiert auf der schwarzen, männlichen Silhouette auf dem blauen Hintergrund. Auf der letzten Ebene sind vier Menschenfiguren, eine große Menge Geld und ein Pfeil zu sehen. Die vier Menschen sind Alexander Gauland (Ehrenvorsitzender), Tino Chrupalla (Bundessprecher), Alice Weidel (stellvertretende Bundessprecherin) sowie Beatrix von Storch (stellvertretende Bundessprecherin), die sich repräsentativ auf der Führungsebene der deutschen politischen Partei Alternative für Deutschland (AfD) befinden. Der Pfeil wird ge‐ nauso wie der Logopfeil der AfD dargestellt. Man kann somit aus dem Titelbild ablesen, dass ein geheimnisvoller Mann mit der AfD bzw. der Führungsriege der AfD unlautere Geschäfte tätigt. Alternativ kann man dies auch so interpretieren, dass ein geheimnisvoller Mann massiv in die AfD investiert, und hinter der AfD steht. 7.1 Kategorien der Titelbild-Konstruktion-Konstellation 309 <?page no="310"?> Abb. 17: Titelbild „Der Milliardär und die AfD“ (Quelle: Der Spiegel, Nr.-48/ 2018) Die sprachlichen Konstruktionen „Der Milliardär und die AfD. Wie geheime Spenden die Rechtspopulisten groß machen“ beschreiben bzw. verdeutlichen die auf dem Titelbild dargestellten Personen sowie den Sachverhalt. Die schwarze, männliche Silhouette bezieht sich auf einen geheimen Milliardär, der viel für die rechtspopulistische Partei AfD spendet. Die ersten fünf Wörter „Der Milliardär und die AfD“ bilden ein weiteres interessantes syntaktisches Phänomen im Deutschen. Konstruktionen wie diese werden in der deutschen Grammatik üblicherweise als koordinative Binominale (oder auch als Paarformel, Zwil‐ lingsformel) bezeichnet (vgl. Müller 1997). Die koordinative binominale Kon‐ struktion auf dem Titelbild weist darauf hin, dass die parallel vorkommenden Substantive in einer engen Beziehung zueinanderstehen. Bei ähnlichen Kon‐ struktionen wie „Vater und Sohn“, „Frage und Antwort“ oder „Leben und Tod“ darf man die Wortstellung der beiden Nomina nicht beliebig wechseln, weil das Nomen im vorderen Teil und das Nomen im hinteren Teil meistens eine Ursache-Folge-Relation aufweist (vgl. Pörings & Schmitz 2003: 10). Anders gesagt bildet das Nomen im vorderen Teil eine wichtige Voraussetzung für den hinteren Teil. Im Falle des Titelbildes spielen die geheimen Spenden für die Entwicklung der rechtspopulistischen Partei AfD eine herausragende Rolle. Diese koordinative binominale Konstruktion suggeriert, dass es der rechtspo‐ pulistischen AfD ohne diese Spenden nicht möglich gewesen wäre, so groß bzw. mächtig in Deutschland zu werden. Die beiden Subjekte stehen auch in 310 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="311"?> einer abhängigen Relation (also die AfD ist auf die Spenden des Milliardärs angewiesen). Aus den beiden Beispielen oben wird ersichtlich, dass die betroffenen Sub‐ jekte (meistens die betroffenen politischen Akteure bzw. Organisationen) bzw. die zu besprechenden Sachverhalte in dieser Kategorie der Titelbilder direkt dar‐ gestellt werden. Die begleitenden Konstruktionen auf dem Titelbild beschreiben in der Regel genau, was auf dem Titelbild zu sehen ist. In den meisten Fällen werden noch genauere Informationen geliefert, die eventuell nicht aus dem Titelbild zu entnehmen sind. 2.-Konstruktionen auf einem Titelbild beschreiben teilweise das Titelbild Die zweite Kategorie in Bezug auf die Titelbild-Konstruktion-Konstellation be‐ schreibt ebenfalls das Titelbild, aber nur teilweise. Das liegt meistens daran, dass das Titelbild per se nicht so konkret wie die Titelbilder aus der ersten Kategorie dargestellt wird. Die meisten Titelbilder aus dieser Kategorie bestehen aus symbolhaften Komponenten (also nicht konkreten politischen Akteuren bzw. politischen Organisationen), die zugleich eine Vielfalt der Interpretierbarkeit hervorrufen. Dementsprechend können die sprachlichen Begleitkonstruktionen auf dem Titelbild nicht in einer begrenzten Wortanzahl alle Aspekte des zu beschreibenden Titelbilds versprachlichen. Im Folgenden werde ich ebenfalls anhand zweier Titelbilder diese Kategorie erläutern. Abb. 18: Titelbild „ 改革的海南命题 “ (Quelle: Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, Nr. 13/ 2018) 7.1 Kategorien der Titelbild-Konstruktion-Konstellation 311 <?page no="312"?> Auf dem Titelbild in Abb. 18 wird eine Insel illustriert, um die herum noch einige Schiffe zu sehen sind, die wahrscheinlich Waren nach außen transportieren. Rechts unten ist darüber hinaus eine kleine Landkarte zu sehen. Dies deutet darauf hin, dass die Insel ein Teil eines Landes ist. Auf der Insel sind verschieden‐ artige Vegetationen, Landschaften bzw. Gebäude zu sehen. Man kann mit diesem Titelbild viel assoziieren. Es könnte zum Beispiel um die Industrieentwicklung, das Umweltthema oder den Tourismus auf der Insel gehen. Ohne die Begleit‐ konstruktionen wäre es nicht möglich, das Thema der Titelgeschichte genauer zu bestimmen. Erst nach dem Lesen der Begleitkonstruktionen auf dem Titelbild wird ersichtlich, dass sich die Titelstory auf die Reformen auf der Hainan-Insel in China bezieht. Die Titelstory wurde anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik auf Hainan veröffentlicht. Durch die Begleitkonstruktionen kann darauf geschlossen werden, dass die kleine Landkarte rechts unten die chinesische Landkarte abbildet und die Form der Insel der der Hainan-Insel ähnelt. somit lässt sich festhalten, dass die Begleitkonstruktionen auf solchen abstrakt dargestellten Titelbildern die Funktion übernehmen können, den durch die Titelbilder ausgelösten breiten Deutungsspielraum zu verengen bzw. zu spezifizieren. Das Titelbild unten aus Der Spiegel (Abb. 19) zeigt eine typische Szene eines Sommerurlaubs aus einer Vogelperspektive, in der zahlreiche Touristen sich an den Strand legen und die Sonne genießen, was für viele Leute ein sommerliches Paradies bzw. Urlaubsideal darstellt. Es könnte zum Beispiel für viele Deutsche eine Szene in Mallorca oder an den norddeutschen Küsten sein. Jedoch können durch diese sommerliche touristische Szene auch andere, vielleicht nicht so schöne Aspekte innerhalb des Urlaub-am-Strand-Frames hervorgerufen werden, die ebenfalls zu den menschlichen Alltagserfahrungen während eines Urlaubs am Strand zählen: Menschengedränge, Kämpfe um einen Platz am Stand (typischerweise Besetzung eines Platzes von Frühaufstehern durch das Hinlegen eines Badetuchs), Diebstahl, Unfälle oder die plötzliche Einstufung des Urlaubsorts als Risikogebiet im aktuellen Corona-Kontext. Es wird nicht ersichtlich, in welche Richtung diese Titelgeschichte gehen würde. Die Auslegungsmöglichkeit des Titelbildes ist also vielfältig. Die begleitenden Konstruktionen „Das verlorene Paradies. Wie der Reisende zerstört, was er liebt“ beschränkt dann die Deutungsmöglichkeit auf die negativen Aspekte des touristischen Verhaltens. 312 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="313"?> Abb. 19: Titelbild „Das verlorene Paradies“ (Quelle: Der Spiegel, Nr.-33/ 2018) Anders als die erste Kategorie werden keine konkreten Personen bzw. Sachver‐ halte auf dem Titelbild dieser Kategorie offenbart. Die Titelbilder aus dieser Kategorie sind meistens illustrierte, durch Computertechnik retuschierte oder montierte Bilder, die viele symbolische Komponenten beinhalten und Referenz auf unterschiedliche Sachverhalte nehmen. Dadurch können vielfältige Inter‐ pretationsmöglichkeiten entstehen. Die begleitenden sprachlichen Konstruk‐ tionen können insbesondere durch die begrenzten Sprachmittel das Augenmerk auf ein bestimmtes Feld richten. So werden die bald zu besprechenden Aspekte in den unterschiedlichen Titelgeschichten zuerst framebezogen hervorgehoben. Die anderen Aspekte, die eigentlich auch zu diesem Frame gehören, werden somit heruntergespielt. 3.-Konstruktionen auf einem Titelbild deuten implizit (meistens durch die Verwendung von Metaphern) auf das Dargestellte auf dem Titelbild hin In der letzten Kategorie hinsichtlich der Titelbild-Konstruktion-Konstellation ist die Verwendung von Metaphern von großer Bedeutung. Die Titelbilder aus dieser Kategorie sind noch abstrakter und werden überwiegend durch Montage oder Retuschieren erstellt. 7.1 Kategorien der Titelbild-Konstruktion-Konstellation 313 <?page no="314"?> Das Beispiel unten (Abb. 20) thematisiert den kontrovers diskutierten, ver‐ mutlich ersten gentechnischen Eingriff in die Keimbahn eines menschlichen Embryos durch Genome Editing. Im November 2018 behauptete der chinesische Biophysiker Jiankui He, dass er das Erbgut von durch künstliche Befruchtung gezeugten Zwillingsschwestern mit der CRISPR/ Cas-Methode verändert habe, um sie immun gegen HIV zu machen. Daraus folgte seine Behauptung, gen‐ manipulierte Zwillingsmädchen erschaffen zu haben. Auf dem dunkelgrünen Hintergrund wird ein Mann mit weißem Kittel gezeigt, der zwei Stricknadeln in seiner Hand hält. Statt Strümpfe oder Pullover zu stricken, strickt er die DNA-Helix. Die Begleitkonstruktion auf dem Titelbild bringt auch die grund‐ sätzliche Einstellung des Autors gegenüber diesem Sachverhalt zum Ausdruck: 基因莽夫 (Der rücksichtlose Genomforscher/ Genom-Mann). Der Modifikator 莽 (rücksichtlos, fahrlässig) vor dem Nomen 夫 (Mann) bestimmt in dieser expliziten Art und Weise auch die grundlegende bzw. kritische Stimmung der Titelgeschichte gegenüber dem gentechnischen Eingriff in die menschliche Keimbahn. Auf dem Titelbild sind zwei Metaphern deutlich spürbar: GEN‐ TECHNISCHE EINGRIFFE IN DIE MENSCHLICHE DNA-HELIX SIND STRICK‐ EREIEN und DIE HÄNDE DER GENOMFORSCHENDEN SIND DIE HÄNDE EINES SCHÖPFERISCHEN GOTTES. Die erste Metapher GENTECHNISCHSE EINGRIFFE IN DIE MENSCHLICHE DNA-HELIX SIND STRICKEREIEN veran‐ schaulicht die biomedizinische Genome Editingbzw. CRISPR/ Cas-Methode für die nicht-fachliche Leserschaft. Anhand dieser Strickerei-Metapher kann mehr oder weniger nachvollzogen werden, was mithilfe dieser Methode ge‐ macht wird: Die DNA-Helix wird durch die eingesetzten gentechnischen Ein‐ griffe neu editiert bzw. neu organisiert (gestrickt). Eigentlich verlangen die gentechnischen Eingriffe in die menschliche Keimbahn von den Forschenden mehr Besonnenheit. Die Strickerei-Metapher deutet zudem auf die ethische Rücksichtslosigkeit bzw. Fahrlässigkeit des Forschers hin, da das Stricken eine Freizeitaktivität ist und die menschliche Keimbahn nicht so beliebig wie in einer Strickerei verändert werden darf. Die zweite Metapher DIE HÄNDE DER GENOMFORSCHENDEN SIND DIE HÄNDE EINES SCHÖPFERISCHEN GOTTES bringt die Machtdemonstration der Genomforschenden zum Ausdruck und bezweifelt dieses eher nicht natürliche Verfahren aus moralischen Gründen. Die Hände sind metaphorisch in diesem Bild so konzipiert worden, weil sie die Assoziation zum Schöpferischen hervorbringen und damit der Forscher quasi die Rolle eines Gottes übernimmt. 314 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="315"?> Abb. 20: Titelbild „ 基因莽夫 “ (Quelle: Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, Nr.-45/ 2018) Auf Titelbild in Abbildung 21 versteckt sich die Metapher DER ALLMÄCH‐ TIGE KONZERN FACEBOOK IST EIN BÖSES MONSTER. Der dunkelblaue Hintergrund und der weiße F-Buchstabe zusammen erinnern an das Logo des sozialen Netzwerks Facebook. Anders gesagt ist die Farbzusammensetzung sowie das Logo meronym zu dem Konzern Facebook. Eine schöne und moderne Benutzerin des sozialen Netzwerks sitzt am Computer und genießt die virtuelle Welt, die von dem mächtigen sozialen Netzwerkkonzern angeboten wird. Jedoch besteht die Gefahr, dass die Nutzerin von diesem wütenden bzw. monströsen Netzwerk gefressen werden kann. In diesem Abschnitt wurden die drei grundlegenden Konstellationen zwi‐ schen Titelbild und Begleitkonstruktion vorgestellt. In der ersten Kategorie werden meistens die politischen Akteure bzw. Organisationen, die eng mit der Titelgeschichte verbunden sind, auf dem Titelbild dargestellt. Die begleitenden Konstruktionen beschreiben in der Regel genau, was auf dem Titelbild zu sehen ist. Zudem liefern sie zusätzliche und detaillierte Informationen über das Geschehen auf dem Titelbild. In der zweiten Kategorie werden abstrakte, symbolhafte und illustrierte Titelbilder aufgezeigt, die eine Vielzahl an Interpre‐ tationen auslösen können. Die sprachlichen Konstruktionen beschränken den Interpretationsraum und bringen einen spezifischen Fokus in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. In der letzten Kategorie erscheinen oft durch Computer‐ 7.1 Kategorien der Titelbild-Konstruktion-Konstellation 315 <?page no="316"?> Abb. 21: Titelbild „Die Falle Facebook“ (Quelle: Der Spiegel, Nr.-13/ 2018) technik retuschierte Titelbilder, die Metaphern enthalten. Die metaphorische Verwendung in den Titelbildern veranschaulicht einerseits den dargestellten Sachverhalt und hebt die emotive Haltung der Titelgeschichte anderseits hervor. 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) Das vorliegende Unterkapitel greift eine spezifische Ausgabe aus Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan aus dem Jahr 2018 auf und versucht, die bisher besprochenen Eckpunkte in der Empirie zu validieren. Als Erstes werden das Titelbild der ausgewählten Ausgabe und der Zusammenhang zwischen dem Titelbild und den sprachlichen Begleitkonstruktionen dargelegt. Danach werden die idioma‐ tischen Konstruktionen, die in den Titelgeschichten auftreten, analysiert. Im dritten Schritt fokussieren sich die Analysen auf die Textbzw. die Diskursebene. Letztendlich werden weitere Dimensionen, die durchaus relevant für eine ver‐ nünftige und praxisorientierte Analyse der Konstruktionen in Titelgeschichten sind, kurz angesprochen. Somit wird das von mir vorgeschlagene Analyseraster vervollständigt und empirisch getestet. 316 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="317"?> Bevor das Titelbild und die Titelbild-Konstruktion-Konstellation vorgestellt werden, müssen noch einige Worte über die Ausgangssituation der ausge‐ wählten Ausgabe gesagt werden. So hoffe ich, dass man sich zuerst einen inhaltlichen, kontextuellen bzw. strukturellen Überblick über die ausgewählte Titelstory-Ausgabe verschaffen kann. Die ausgewählte 23. Ausgabe von Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan wurde am 25. Juni 2018 veröffentlicht. Insgesamt besteht die Titelstory aus einer kurzen Einleitung, nämlich 中国球途 (Der Zukunftsweg des chinesischen Fuß‐ balls), und den folgenden drei Titelgeschichten: 中国足球改革进入深水区 (Die chinesische Fußballreform geht nun in die Tiefe), 造血: 少年足球发展的梦想与 焦虑 („Hämatopoese“: Der Traum sowie die Zukunftsangst der chinesischen Fußballentwicklung unter den Jugendlichen) und 为什么要对国足愤怒 (Warum soll man auf die chinesische Fußballmannschaft wütend sein? ). Thematisch be‐ handelt jeder Einzeltext einen spezifischen Aspekt der Fußballentwicklung bzw. Fußballreform in China. Der Entstehungshintergrund dieser Titelgeschichte war die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 vom 14. Juni bis zum 15 Juli 2018 in Russland. Die chinesische Fußballmannschaft hat es nicht geschafft, die Quali‐ fikation zu erreichen und eine Eintrittskarte in diese Fußball-Weltmeisterschaft zu ergattern. 7.2.1 Titelbild und Titelbild-Konstruktion-Konstellation Die erste Analysedimension beginnt mit der deskriptiven Beschreibung des Titelbilds aus Abbildung 22. Die dunkelgelbe Hintergrundfarbe des Titelbilds er‐ innert an das bekannte Xuan-Papier, das einen einzigartigen hohen Stellenwert besonders für die altchinesischen Gelehrten hat. Dieses Papier wird vor allem für Kalligraphie und Tuschmalerei verwendet. Im Hintergrund sieht man außerdem dunkelblaue Holzgeländer, Bäume bzw. Pflanzen in einem Kleingarten sowie einen Teil eines ziegelroten Palastes. In der Mitte des Titelbilds sind sechs Männer stehend um einen weißen Ball zu beobachten. Der Mann in der weißen Kleidung hält einen goldenen Pokal in seiner linken Hand, der wahrscheinlich Assoziationen zum Weltmeisterpokal hervorrufen soll. Der weiße Ball liegt im Mittelpunkt eines Kreises bzw. einer weißen Linie, der den modernen Fußball‐ platz symbolisiert. Hier erfährt man durch die oben aufgeführte Beschreibung sowohl das moderne Fußballspiel (zum Beispiel durch den Aufbau des Fußball‐ platzes sowie den Weltmeisterpokal) als auch eine Lebensszene (gekennzeichnet durch das Architekturstil, die häuslichen Einrichtungen bzw. die getragenen Kleidungen der dargestellten Personen) aus dem kaiserlichen China. 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 317 <?page no="318"?> Abb. 22: Titelbild „ 中国球途 “ (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, Nr.-23/ 2018) Um dieses Titelbild richtig auszulegen, müssen zusätzlich mindestens zwei Arten von Weltwissen herangezogen werden: Zum einen ist es wichtig zu wissen, wie sich der Fußball historisch, insbesondere in China entwickelt hat (geschichtliches Wissen bezogen auf Fußball). Zum anderen muss auch geklärt werden, ob es sich bei der die Tuschmalerei auf dem Cover um eine retuschierte und innovative Darstellung der Zeitschriftenredaktion handelt oder sie in der chinesischen Kunstgeschichte tatsächlich vorhanden ist (kunstgeschichtliches Wissen). In der westlichen Hemisphäre kann der Ursprung der modernen Fußballspiel‐ arten auf England in der früheren Phase der Industrialisierung zurückgeführt werden. Allerdings sind viele früheren Treibballspielarten schon länger in der menschlichen Geschichte zu beobachten. Fußball hat zum Beispiel in China eine außergewöhnlich lange Tradition. Bereits in der Zeit der Streitenden Reiche (von 475 v. Chr. bis 221 v. Chr.) wurde ein fußballähnliches Spiel mit dem Namen Cu Ju ( 蹴鞠 ) ausgetragen. Auch die semantische Zusammensetzung der beiden Wörter verraten die lange Geschichte der Fußballspielentwicklung in China: 蹴 hat die Bedeutung von „treten“ und 鞠 von „Ball“. Cu Ju war aus Lederstücken zusammengenäht und meistens mit Federn oder Tierhaaren erfüllt. Es ist leider nicht mehr möglich genau zu rekonstruieren, wie die damaligen Spielregeln festgelegt wurden. Es gilt jedoch als weniger strittig, dass Cu Ju zuerst als 318 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="319"?> militärisches Ausbildungsprogramm durchgeführt wurde. Das folgende Zitat aus einer altchinesischen Enzyklopädie unterstreicht diesen Punkt: 蹴鞠者,传言黄帝所做,或曰起战国时。记黄帝,蹴鞠,兵势也,所以练武士,知有才 也。令军事无事,得使蹴鞠。 (Überlieferungen zufolge wurde Cu Ju von Huang Di (dem Gelben Kaiser) erfunden oder der Fußball entstammt der Zeit der Streitenden Reiche. Es ist tradiert, dass der Gelbe Kaiser den Cu Ju, einen militärischen Stil, entwickelte, um seine Krieger zu trainieren und zu prüfen, ob sie Talent hatten. Wenn die Soldaten frei sind, werden sie aufgefordert, Cu Ju zu spielen.) 《太平御览》 (Taiping Yulan, Band-754) Nun ist die Verbindung zwischen den Chinesen im Titelbild aus dem kai‐ serlichen China und dem modernen Fußballspiel hergestellt. Um die zweite Frage - ob solch eine ähnliche Tuschmalerei tatsächlich in der chinesischen Kunstgeschichte existiert - zu beantworten, müssen die kunstgeschichtlichen Vorkenntnisse hinzugezogen werden. Eine sehr ähnliche Tuschmalerei stammt von Dunli Zhang, ein bekannter Maler der Song-Dynastie (960-1279). Abb. 23: Die Tuschmalerei „Xian Ting Cu Ju Tu“ von Dunli Zhang In Abbildung 23 ist ein Teil der Tuschmalerei von ihm mit dem Namen Xian Ting Cu Ju Tu (Das Gemälde eines Cu Ju-Spiels im ruhigen Hof) zu sehen. Das Titelbild und seine Tuschmalerei unterscheiden sich vor allem in zweierlei 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 319 <?page no="320"?> Hinsicht: Einerseits befindet sich der weiße Ball in der Tuschmalerei rechts und anderseits sind der Weltmeisterpokal, der Mittelpunkt, die Mittellinie sowie der Anstoßkreis auf dem Titelbild nicht in der Tuschmalerei vorhanden. Dies deutet darauf hin, dass der Aufbau des modernen Fußballspielplatzes sowie die Weltmeisterschaftsspiele moderne Entwicklungen in Bezug auf die geschichtliche Entstehung des Fußballspiels bzw. Spielregeln darstellen. Durch die obige Analyse kann festgehalten werden, dass das Fußballspiel eine lange historische Tradition besitzt und in der Geschichte glänzende Epo‐ chen erlebt hat. Der Mann, der den Pokal hält, bringt metaphorisch zum Ausdruck, dass das Fußballspiel im alten China einen hohen Rang erreicht hat, sowohl hinsichtlich der Popularität als auch der Leistungen. Jedoch muss in der nächsten Dimension untersucht werden, wie dieses Titelbild zusammen mit der sprachlichen Konstruktion auf dem Titelbild inhaltlich bzw. framesemantisch wirkt. Bis jetzt wurde ein Blick auf die Zusammensetzung der Elemente aus dem Ti‐ telbild geworfen. Insbesondere wurden zwei framebezogene Wissensstrukturen (fußballgeschichtlich bzw. kunstgeschichtlich) zur Auslegung des Titelbilds herangezogen. Die vorliegende Dimension fokussiert nun auf die Titelbild-Kon‐ struktion-Konstellation. Unten rechts im Titelbild kann man den Titel dieser Ausgabe sehen: 中国球途 (Mitte + Staat + Ball + Weg: Der Zukunftsweg der chinesischen Fußballmann‐ schaften). Schon im Titel versteckt sich ein metonymischer Sprachgebrauch. Das Wort 球 (Ball) steht hier symbolhaft für die chinesischen Fußballmannschaften. Zudem ist es auch wichtig zu erwähnen, dass diese Titelgeschichte gerade im Kontext der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 entstanden ist. Die chinesische Fußballnationalmannschaft hatte es nicht geschafft, die Qualifikation zu be‐ stehen und sich die Eintrittskarte für die Teilnahme am 21. FIFA World Cup in Russland zu sichern. In dieser Kontextualisierung ist es nachvollziehbar, warum ausgerechnet dieses Titelbild ausgewählt wurde. China hat während seiner langen Geschichte auch glänzende bzw. führende Epochen in der Ent‐ wicklungsgeschichte des Fußballspiels erleben dürfen (z. B. durch Halten des Weltmeisterpokals eines Manns aus dem chinesischen Kaiserriech im Titelbild). Die heutige chinesische Nationalmannschaft ist jedoch nicht in der Lage an diese glänzende Tradition anzuknüpfen und so stellt sich die Frage: Welchen Zukunftsweg soll die chinesische Fußballmannschaft einschlagen, um erneut erfolgreich zu sein? 320 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="321"?> 7.2.2 Analyse der idiomatischen Konstruktionen Einschließlich der kurzen Einleitung in das Thema gibt es zahlreiche idiomati‐ sche Konstruktionen in jedem Text. Nun werden die besonders interessanten Chengyu-Konstruktionen aus jedem Einzeltext in ihrer spezifischen Verwen‐ dungsszene genauer analysiert. Schon in den ersten zwei Abschnitten der Einleitung findet man die folgende idiomatische Konstruktion: Idiomatische Konstruktion 1: 习 以 为 常 xi 35 yi 214 wei 35 chang 35 [ɕi 35 ] [i 214 ] [weɪ 35 ] ʈʂʰɑŋ 35 ] gewöhnen mit für normal man gewöhnt sich und hält etwas für selbstverständlich, wenn es öfter erscheint 世界杯赛场上,可以看到令人眼花缭乱的中国商业广告,还有中国球童站在赛场旁,但 唯独不见中国足球队。中国球迷似乎已经对此习以为常。 (Bei der WM sieht man schil‐ lernde chinesische Werbespots und chinesische Balljungen, die neben dem Stadion stehen. Aber die chinesische Fußballmannschaft ist die Einzige, die man bei der WM nicht beobachten kann. Daran scheinen sich chinesische Fußballfans längst gewöhnt zu haben. Hervorhebung von BZ, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018: 中国球途 ) Die Chengyu-Konstruktion 习以为常 hat ein prosodisches Muster 2322 (vgl. Kap. 5) und befindet sich am Ende des Satzes. Die nachstehende Tabelle verdeutlicht die prosodischen Eigenschaften, die prosodische Kontur, die Satz‐ bedeutung, die semantischen und die syntaktischen Rollenzuweisungen im Satz, in denen diese Konstruktion verwendet wird: Abkürzungen: S = Satz B = Bedeutung Ü = Übersetzung SyR = Syntaktische Rolle P = Prosodie SeR = Semantische Rolle PK = Prosodische Kontur VS = Verwendungsszenario 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 321 <?page no="322"?> S 中国球迷 似乎 已经 对此 习以为常。 Ü Chinesische Fußballfans scheinen schon daran gewöhnt P [ʈʂʊŋ 55 ] [kuɔ 35 ] [tɕʰjoʊ 35 ] [mi 214 ] [sɯ 51 ] [xu 55 ] [i 214 ] [tɕɪŋ 55 ] [tweɪ 51 ] [tsʰɯ 214 ] [ɕi 35 ] [i 214 ] [weɪ 35 ] [ʈʂʰɑŋ 35 ] PK — // ∨ (zweifach stei‐ gende Kontur) \ — (fallende Kontur) ∨ — (fallendsteigende Kontur) \ ∨ (fallend-stei‐ gende Kontur) / ∨ // (zweifach stei‐ gende Kontur) B Daran scheinen sich chinesische Fußballfans längst gewöhnt zu haben. SyR Subjekt Prädikat 1 Adver‐ bial zeit Pronominalad‐ verb als Objekt Prädikat 2 SeR Handlungs‐ träger Handlung 1 Temporativ Handlungs‐ sachverhalt Handlung 2 VS implizite Kritik an der Leistungsfähigkeit der chinesischen Fußballmannschaft bei der WM Tab. 69: Idiomatische Konstruktionsanalyse 1 Die erste wichtige Dimension, um diese Chengyu-Konstruktion zu analysieren, liegt in der Überprüfung der prosodischen Distribution. Setzt man die verschie‐ denen prosodischen Teilkonturen zusammen, ist die folgende Satzkontur zu sehen: — // ∨ \ — ∨ — \ ∨ / ∨ // Vereinfacht kann die Gesamtsatzkontur als steigende Kontur zusammengefasst werden. Die Konstruktionen mit der ersten steigenden Kontur befinden sich im linken Feld des Satzes und übernehmen die Rollen des Subjekts sowie des Handlungsträgers. Die analysierte Chengyu-Konstruktion ist auf der rechten Spalte der Gesamtkontur zu sehen. Nun ist interessant zu hinterfragen, ob die Konstruktionen hinter dem Subjekt beliebig ausgetauscht werden können, ohne die Gesamtsatzbedeutung zu ändern und ob es dabei prosodische Constraints gibt. 1. 中国球迷似乎已经对此习以为常 (— // ∨ \ — ∨ — \ ∨ / ∨ // ) 2. 中国球迷已经似乎对此习以为常 (— // ∨ ∨ — \ — \ ∨ / ∨ // ) 322 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="323"?> 3. 中国球迷似乎对此已经习以为常 (— // ∨ \ — \ ∨ ∨ — / ∨ // ) 4. * 中国球迷已经习以为常对此似乎 (— // ∨ ∨ — / ∨ // \ ∨ \ —) 5. * 中国球迷已经习以为常似乎对此 (— // ∨ ∨ — / ∨ // \ — \ ∨) Die prosodischen Gesamtkonturen der ersten drei Konstruktionsvariationen lassen sich grundsätzlich mit der Formel „steigend → fallend → steigend“ umschreiben. Oder vereinfacht betrachtet verfolgen die ersten Konstruktions‐ variationen die zweifach steigende Kontur. Jedoch ist die prosodische Kontur in der vierten Konstruktion etwas anders organisiert als die ersten drei Konstruk‐ tionen. Die letzte prosodische Kontur in der vierten Konstruktion stellt eine fallende Kontur dar, was der Gesamtkontur der ursprünglichen Konstruktion (nämlich die steigende Kontur) widerspricht. Die prosodische Kontur in der letzten Konstruktion ist der steigenden Kontur teilweise ähnlich. Jedoch ist im letzten Teil der Konstruktion eine tief-steigende Kontur vorhanden (vgl. \ — \ ∨ in der letzten Konstruktion), was einen deutlichen Unterschied im Vergleich zu den ersten drei Konstruktionen ausmacht. Die Unterschiede der prosodischen Konturen können hierbei zu grammatischen Fehlern führen, da die letzten zwei Konstruktionen aus der muttersprachlichen Perspektive nicht akzeptabel sind. Eine andere Erklärungsmöglichkeit für die Nicht-Akzeptabilität der letzten Konstruktionen kann auf der semantischen bzw. der syntaktischen Ebene vor‐ handen sein. Aus der oben aufgezeigten Tabelle ist ersichtlich, dass die idioma‐ tische Konstruktion die semantische Rolle einer Handlung und die syntaktische Rolle eines Prädikats übernimmt. Das an der zweiten Stelle erschienene Prä‐ dikat 1 bildet mit dieser Chengyu-Konstruktion eine Zirkus-Konstruktion. Das heißt, dass diese implizite Zirkus-Konstruktion, die aus einem Modalitätsverb „ 似乎 “ (scheinen) und einer prädikativen idiomatischen Konstruktion „ 习以为 常 “ besteht, eine explizite Reihenfolge auf der oberflächlichen Struktur fordert: Das Modalitätsverb muss vor die prädikative idiomatische Konstruktion gesetzt werden, um überhaupt Modalität ausdrücken zu können (also 似乎 < 习以 为常 ). In der vierten oder fünften Konstruktion oben tritt die idiomatische Konstruktion „ 习以为常 “ deutlich vor der Modalitätsverbkonstruktion „ 似乎 “ auf, was gegen die implizite Beschränkung dieser Zirkus-Konstruktion auf der syntaktischen Ebene verstößt. Dies kann möglicherweise dazu führen, dass die letzten beiden Konstruktionen als grammatisch nicht richtig wahrgenommen werden. Zudem können die semantischen Constraints ebenfalls die Nicht-Akzeptabi‐ lität der letzten beiden Konstruktionen oben erklären. Im letzten Abschnitt wird argumentiert, dass das Modalitätsverb und die analysierte Chengyu-Konstruk‐ tion eine Zirkus-Verbkonstruktion bilden, wobei die Chengyu-Konstruktion die semantische Rolle der Handlung 2 einnimmt. Diese strukturelle Besonder‐ 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 323 <?page no="324"?> heit fordert auch, dass der Handlungssachverhalt innerhalb dieser Zirkus-Ver‐ bkonstruktion erscheinen muss. In diesem Fall würde es heißen, dass die Konstruktion „ 对此 “ zwischen „ 似乎 “ und „ 习以为常 “ auftreten muss ( 似乎 < 对 此 < 习以为常 ). Die letzten zwei Konstruktionen verstoßen gegen diese implizite semantische Beschränkung. Von daher sind sie grammatisch nicht korrekt bzw. akzeptabel. Die Besetzung des Prädikats 1 durch ein Modalitätsverb hat die Funktion, den Wahrheitswert dieser Äußerung zu modifizieren. Vergleicht man die folgenden Sätze: (1) Daran scheinen sich chinesische Fußballfans längst gewöhnt zu haben. (2) Daran haben chinesische Fußballfans sich längst gewöhnt. Durch einen modalen Ausdruck in der ersten Äußerung wird keine Verallge‐ meinerung über die Einstellung der chinesischen Fußballfans getätigt, sodass ausgedrückt wird, dass die Autoren nicht absolut sicher sind, ob tatsächlich alle chinesischen Fußballfans dieselbe Einstellung teilen, während die zweite Äußerung im Perfekt eine vergleichsweise sichere Aussage über den Hand‐ lungsträger, und zwar die chinesischen Fußballfans, macht. Die Chengyu-Konstruktion 习以为常 beschreibt in der Regel eine Situation, an die man sich gewöhnt hat oder als normal empfindet, wenn sie regelmäßig vorkommt. Die Stelle vor dieser idiomatischen Konstruktion wird durch ein Pronominaladverb „ 对此 “ (daran) besetzt, das eine Anapher-Resolution auslöst. Dieser anaphorische Gebrauch kann erst vollständig ausgelegt werden, wenn das spezifische Verwendungsszenario des Pronominaladverbs mitberücksichtigt wird. Durch den dargestellten Sachverhalt aus dem vorderen Satz ist deutlich geworden, dass sich dieses Pronominaladverb auf die wiederkehrende Tatsache bei der WM bezieht, dass sowohl die schillernden Werbungen als auch die an dem Stadion stehenden chinesischen Balljungen zu sehen sind, jedoch kein einziges Fußballspiel der chinesischen Fußballnationalmannschaft bei der WM besucht werden kann. Anders formuliert scheinen sich die chinesischen Fuß‐ ballfans an die dauerhafte Niederlage der chinesischen Fußballnationalmann‐ schaft gewöhnt zu haben. So wird der idiomatischen Konstruktion in diesem spezifischen Verwendungsszenario eine implizite und scherzhafte Kritik an der Leistungsfähigkeit der chinesischen Fußballmannschaft zugeschrieben. Diese Kritik verbirgt sich nicht in der ursprünglichen Konstruktion per se, sondern ergibt sich aus dem spezifischen Verwendungskontext. 324 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="325"?> Die folgende Chengyu-Konstruktion stammt aus dem zweiten Teil des zweiten Texts der Titelstory, wo die Korruptionsfälle innerhalb der China League One thematisiert werden: Idiomatische Konstruktion 2: 沉 渣 泛 起 chen 35 zha 55 fan 51 qi 214 [ʈʂʰən 35 ] [ʈʂa 55 ] [fan 51 ] [tɕʰi 214 ] fallen Abfall hervorkommen steigen Der Abfall, der eigentlich auf den Boden eines Flusses fällt, treibt wieder auf dem Fluss. Bedeutet, dass die bereits aussterbenden korrupten und schlechten Sachen bzw. Sachverhalte wiederbeleben. 两个方面说,一方面是社会风气的影响,让足球内部的腐朽浮出水面,沉渣泛起;另一 方面也是深层次的就是体制,他们总力图用行政管理市场。 (Zum einen hat dies einen Einfluss auf die soziale Umgebung. Man lässt den inneren Verfall des Fußballspiels ans Tagelicht kommen und bringt den Abschaum an die Oberfläche. Zum anderen hat das dahinter stehende System Korruptionsfälle verursacht, da korrupte Beamten immer wieder versuchen, durch ihre Verwaltungsmacht den Fußballmarkt zu steuern. Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018: 中国足球改革进入深水区 ) S 让 足球内 部的 腐朽 浮出 水面, 沉渣 泛起 Ü lassen inner‐ halb des Fußballs Morschheit treiben Wasser‐ ober‐ fläche der Abfall treiben P [ʐɑŋ 51 ] [tsu 35 ] [tɕʰjoʊ 35 ] [neɪ 51 ] [pu 51 ] [tɤ] [fu 214 ] [ɕjoʊ 214 ] [fu 35 ] [ʈʂʰu 55 ] [ʂweɪ 214 ] [mjɛn 51 ] [ʈʂʰən 35 ] [ʈʂa 55 ] [fan 51 ] [tɕʰi 214 ] PK \(fal‐ lende Kontur) // \ \ ° (fal‐ lende Kontur) ∨ ∨ (zweifach steigende Kontur) / — (stei‐ gende Kontur) ∨ \ (zwei‐ fach fal‐ lende Kontur) / — (steigende Kontur) \ ∨ (fallendsteigende Kontur) B Lass die dunklen Seiten innerhalb des Profifußballs ans Tageslicht kommen. 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 325 <?page no="326"?> SyR Prä‐ dikat 1 Objekt 1 Prä‐ dikat 2 Adver‐ bial ort Objekt 2 Prädikat 3 SeR Hand‐ lung 1 Handlungsgegenstand 1 Hand‐ lung 2 Lokativ Hand‐ lungsgegen‐ stand 2 Hand‐ lung 3 VS Korruptionsfälle innerhalb des Profifußballs sind Abschaum bzw. Abfälle. Tab. 70: Idiomatische Konstruktionsanalyse 2 Auf der prosodischen Ebene hat der oben aufgeführte Satz im Imperativ die nachstehende Gesamtkontur. Insgesamt kann die Gesamtkontur als eine fallende-steigende Kontur betrachtetet werden: \ // \ \ ° ∨ ∨ / — ∨ \ / — \ ∨ Dieser Satz wird im Imperativ aufgebaut und die Konstruktion mit einem Hilfsverb „ 让 “ (lassen) kann im Chinesischen in der Regel eine Aufforderung, einen Vorschlag oder eine Bitte zum Ausdruck bringen. Das zweite Verb folgt dem Hilfsverb und bildet mit ihm zusammen eine Art Zirkus-Konstruktion. Die analysierte Chengyu-Konstruktion oben nimmt die Stelle des zweiten Prädikats 3 ein. Die Kommasetzung im Satz symbolisiert einen Parallelismus: Es soll den Verfall sowie den Abschaum innerhalb des Profifußballs ans Tagelicht bringen. Die Metaphern KORRUPTIONSFÄLLE IM PROFIFUSSBALL SIND AB‐ SCHAUM bzw. ABFÄLLE und KORRUPTIONSFÄLLE IM PROFIFUSSBALL SIND DUNKLE SEITEN spielen eine wichtige Rolle in dieser Chengyu-Konstruk‐ tion. Die Chengyu-Konstruktion „ 沉渣泛起 “ bedeutet, dass die bereits ausster‐ benden morschen und schlechten Sachen bzw. Sachverhalte wiederbeleben. An der konkreten Textstelle bezieht sich diese Abschaum-Metapher auf die Korruptionsfälle in der China League One. Aus dieser Abschaum-Metapher kann auch die implizierte negative Einstellung des Autors zur Korruption im Profifußball abgelesen werden. Metonymie kann teilweise ebenfalls eine besondere Rolle in einer chi‐ nesischen idiomatischen Konstruktion spielen. Beispielsweise enthält die Chengyu-Konstruktion zwei Bezeichnungen für Waffen, nämlich großes Messer und breite Axt. Die beiden scharfen Waffen werden metonymisch als gut aus‐ gerüstete Militärkraft angesehen. In erweitertem Sinne kann diese Bezeichnung für drastische Maßnahmen stehen. Diese Konstruktion wird im Kontext der neuen Einrichtung des chinesischen Profifußballverbands verwendet: 326 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="327"?> Idiomatische Konstruktion 3: 大 刀 阔 斧 da 51 dao 55 kuo 51 fu 214 [ta 51 ] [tɑʊ 55 ] [kʰuɔ 51 ] [fu 214 ] groß Messer breit Axt Bezeichnung für zwei Waffen. Bedeutet, dass eine Armee gut ausgerüstet, die militä‐ rische Kraft stark ist oder drastische Maßnahmen ergriffen werden. (…) 中国足协进行了一系列大刀阔斧的改革,调整组建了 27 个职能部门,对中层管理 人员也进行了重新选拔任用 (…) (Der chinesische Fußballverband hat eine Reihe dras‐ tischer Reformen durchgeführt: 27 funktionale Abteilungen wurden neu organisiert bzw. eingerichtet. Zudem wurden die Führungskräfte auf der mittleren Ebene neu ausgewählt und ernannt. Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018: 中国足球改革进入 深水区 ) S 中国足协 进行了 一系列 大刀阔斧的 改革 Ü der chinesi‐ sche Fußball‐ verband haben durch‐ geführt eine Reihe drastisch Reformen P [ʈʂʊŋ 55 ] [kuɔ 35 ] [tsu 35 ] [ɕjɛ 35 ] [tɕɪn 51 ] [ɕɪŋ 35 ] [lɤ] [i 55 ] [ɕi 51 ] [ljɛ 51 ] [ta 51 ] [tɑʊ 55 ] [kʰuɔ 51 ] [fu 214 ] [tɤ] [kaɪ 214 ] [kɤ 35 ] PK — /// (hoch-stei‐ gende Kontur) \ / (fallendesteigende Kontur) \ \ (fallende Kontur) \ — \ ∨ ° (fallendesteigende Kontur) ∨ / (fallendesteigende Kontur) B Der chinesische Fußballverband hat eine Reihe von drastischen Reformen durchgeführt. SyR Subjekt Prädikat Objekt SeR Handlungsträger Handlung Handlungsgegenstand VS Mit der neuen institutionellen Einrichtung des chinesischen Profifußballver‐ bands werden drastische Maßnahmen ergriffen, um die Fußballreform in China voranzutreiben. Tab. 71: Idiomatische Konstruktionsanalyse 3 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 327 <?page no="328"?> Die beiden ursprünglichen Begriffe für militärische Waffen, großes Messer und breite Axt, können zuerst ein militärisches Frame hervorrufen. So wird die Profifußballreform in China in einen militärischen Deutungsrahmen gesetzt und die Chengyu-Konstruktion bringt die Entschlossenheit sowie den starken Reform-Willen zum Ausdruck. Bei dieser idiomatischen Konstruktion handelt es sich eigentlich um eine binominale Konstruktion. Jedoch wird sie durch das Hinzufügen einer adjektivischen Markierung „ 的 “ im Chinesischen adjektiviert. So wird die idiomatische Konstruktion befähigt, die syntaktische Rolle eines Adjektivs zu übernehmen. An dieser Stelle kann ein Blick auf die folgenden Konstruktionsvariationen geworfen werden: 1. 中国足协进行了一系列大刀阔斧的改革 2. 中国足协进行了大刀阔斧的一系列改革 3. * 中国足协进行了一系列改革大刀阔斧的 Die oben aufgeführten drei Konstruktionsvariationen unterscheiden sich von der Reihenfolge der drei Teilkonstruktionen, die zusammen die syntaktische Rolle des Objekts sowie die semantische Rolle des Handlungsgegenstands ein‐ nehmen. Die Adjektivierung der Chengyu-Konstruktion durch die adjektivische Markierung verändert nicht nur die syntaktische Zusammensetzung dieser Konstruktion, sondern auch die mögliche Zusammensetzung der Wortstellung. Da diese Chengyu-Konstruktion nun die syntaktische Funktion eines Adjek‐ tivs komplett übernimmt, ist es grammatisch erforderlich, direkt hinter diese Chengyu-Konstruktion das zu modifizierende Wort anzuhängen. So gilt eine syntaktische Beschränkung für die Stelle hinter dieser idiomatischen Konstruk‐ tion. Oder vereinfacht formuliert muss das Substantiv „ 改革 “ (Reform) nach der Konstruktion auftreten (also 大刀阔斧的 < 改革 ). Mit dieser syntaktischen Beschränkung lässt sich erklären, warum die dritte Variation oben nicht akzep‐ tabel ist, da die erforderliche Substantivkonstruktion vor der idiomatischen Konstruktion auftritt. Die Konstruktion „ 一系列 “ (eine Reihe) ist eine Mengenbezeichnung und dies bestimmt, dass die Konstruktion auch vor dem zu modifizierenden Sub‐ stantiv „ 改革 “ (Reform) erscheinen muss (also 一系列 < 改革 ). Die semantische Beschränkung erklärt, warum die beiden Konstruktionen „ 一系列大刀阔斧的改 革 “ und „ 大刀阔斧的一系列改革 “ richtig wahrgenommen werden können, weil die beiden Konstruktionen sowohl die semantische Bedingung 一系列 < 改革 als auch die syntaktische Bedingung 大刀阔斧的 < 改革 erfüllen. Am Ende der ersten Titelgeschichte wird die Ausgangsthese nochmals her‐ vorgehoben und die beiden Autoren betonen, dass die Fußballreform in China nun in die Tiefe geht. Jedoch weisen sie auch darauf hin, dass die Fußballent‐ 328 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="329"?> wicklung in China starke regionale Unterschiede bzw. ungleichmäßige Entwick‐ lungsstufen aufweist. Es gibt zum Beispiel in den ländlichen Regionen enorme Schwierigkeiten hinsichtlich der Finanzierung für die lokalen Fußballvereine. An der nachstehenden Textstelle werden die finanziellen Schwierigkeiten als Feuer und die finanzielle Spritze als Wasser metaphorisch konzipiert: Idiomatische Konstruktion 4: 杯 水 车 薪 bei 55 shui 214 che 55 xin 55 [peɪ 55 ] [ʂweɪ 214 ] [ʈʂʰɤ 55 ] [ɕɪn 55 ] Becher Wasser Schubkarren Heu Man versucht, mit einem Becher Wasser das riesige Feuer auf einem Schubkarren mit vollem Heu zu löschen. Bedeutet, dass die eingesetzte Kraft sowie Sache zu wenig ist, um ein Problem zu lösen. 县足协在 2003 年成立后,丁常保到处拉赞助,但这只是杯水车薪。 (Nachdem der ländliche Fußballverein 2003 gegründet wurde, suchte Changbao Ding überall Spon‐ soren. Aber das war nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018: 中国足球改革进入深水区 ) S 但 这 只是 杯水车薪 Ü aber das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein P [tan 51 ] [ʈʂɤ 51 ] [ʈʂɚ 214 ] [ʂɚ 51 ] [peɪ 55 ] [ʂweɪ 214 ] [ʈʂʰɤ 55 ] [ɕɪn 55 ] PK \(fallende Kontur) \(fallende Kontur) ∨ \ (fallend-steigende Kontur) — ∨ — — (fallend-steigende Kontur) B Aber das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. SyR Adverbial Subjekt Prädikat Objekt SeR - Zustandssach‐ verhalt Zustand Zustandsträger VS Die ländlichen Fußballvereine stoßen oft auf finanzielle Schwierigkeiten Tab. 72: Idiomatische Konstruktionsanalyse 4 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 329 <?page no="330"?> Nicht zuletzt ist in der idiomatischen Analyse im chinesischen Text wichtig anzumerken, dass die idiomatischen Konstruktionen im Chinesischen im spezi‐ fischen Kontext sogar in einer Reihenkonstruktion auftreten können. Das heißt, mehr als zwei idiomatische Konstruktionen können hintereinander gereiht werden. Diese idiomatische Reihenkonstruktion wird üblicherweise strukturell durch ein Komma getrennt und teilt die gleiche oder semantisch relevante Bedeutung. Diese idiomatische Reihenkonstruktion hat oft die Funktion einen speziellen Bedeutungsaspekt hervorzuheben und durch diesen Parallelismus die Argumentation zu verstärken, obwohl er manchmal ein wenig pleonastisch wirkt. Beispielsweise findet man in den Titelgeschichten die folgenden drei Bei‐ spielsätze, in denen jeweils zwei, drei und sogar vier Chengyu-Konstruktionen nebeneinandergestellt werden: Idiomatische Konstruktion 5: 逆 水 行 舟 ni 51 shui 214 xing 35 zhou 55 [ni 51 ] [ʂweɪ 214 ] [ɕɪŋ 35 ] [ʈʂoʊ 55 ] gegen Wasser fahren Schiff gegen die Strömung das Schiff fahren. Bedeutet, dass man Rückschritte macht, wenn man sich nicht bemüht und fleißig lernt oder arbeitet (…) 我们深知触及利益比触及灵魂还难,但改革如逆水行舟,不进则退 ( …) (Wir wissen, dass es noch schwerer ist, die Interessen als die Seele zu berühren. Aber eine Reform ist wie das Segeln gegen die Strömung: Wer nicht vorankommt, zieht sich zurück. Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018: 中国足球改革进入深水区 ) S 但 改革 如 逆水行舟, 不进则退。 Ü aber Reform wie Gegen die Strö‐ mung Schiff fahren Wenn es nicht vor‐ ankommt, zieht es sich zurück P [tan 51 ] [kaɪ 214 ] [kɤ 35 ] [ʐu 35 ] [ni 51 ] [ʂweɪ 214 ] [ɕɪŋ 35 ] [ʈʂoʊ 55 ] [pu 51 ] [tɕɪn 51 ] [sɤ 35 ] [tʰweɪ 51 ] 330 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="331"?> PK \(fallende Kontur) ∨ / (fallendesteigende Kontur) / (steigende Kontur) \ ∨ / — (tief-steigende Kontur) \ \ / \ (zweifach fallende Kontur) B Aber Reform ist wie Segeln gegen die Strömung: Wer nicht vorankommt, zieht sich zurück. SyR - Subjekt Prädikat 1 Objekt Prädikat 2 SeR - Zustands‐ träger Zustand 1 Zustandssach‐ verhalt Zustand 2 VS Eine wörtliche Äußerung vom Sekretär des Parteikomitees des Chinesischen Fußballverbandes Zhaocai Du und er betont somit die Notwendigkeit einer tiefgehenden Fußballreform in China Tab. 73: Idiomatische Konstruktionsanalyse 5 Idiomatische Konstruktion 6: 连 篇 累 牍 lian 35 pian 55 lei 214 du 35 [ljɛn 35 ] [pʰjɛn 55 ] [leɪ 214 ] [tu 35 ] binden Artikel vermehren Bambusleiste (darauf schrieb man, bevor das Papier in China erfunden wurde) Bedeutet, dass der Umfang eines Artikels ziemlich lang ist. Idiomatische Konstruktion 7: 汗 牛 充 栋 han 51 niu 35 chong 55 dong 51 [xan 51 ] [njoʊ 35 ] [ʈʂʰʊŋ 55 ] [tʊŋ 51 ] Schweiß Rinder erfüllen Gebäude Man hat so viele Bücher beim Umzug, dass Pferde oder Rinder beim Transportieren häufig schwitzen. Bedeutet, dass man viele Bücher gesammelt hat oder viele Werke geschrieben hat. 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 331 <?page no="332"?> Idiomatische Konstruktion 8: 见 仁 见 智 jian 51 ren 35 jian 51 zhi 51 [tɕjɛn 51 ] [ʐən 35 ] [tɕjɛn 51 ] [ʈʂɚ 51 ] sehen Nächstliebe sehen Weisheit Bedeutet, dass man unterschiedliche Einstellungen zu einem Sachverhalt hat. 长久以来,针对国足落后的原因分析,可谓连篇累牍,汗牛充栋,见仁见智。 (Die Analyse über die möglichen Gründe für die Rückständigkeit des Nationalfußballs taucht lange Zeit in verschiedenen zahlreichen Artikeln auf und jede Analyse hat ihre eigenen Ansätze sowie Einstellungen. Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018: 为什么 要对国足愤怒 ) S 针对 国足落后 的 原因分析 可谓 连篇累牍 汗牛充栋 见仁见智 Ü über die Rück‐ ständig‐ keit des Natio‐ nalfuß‐ balls die Ana‐ lyse über die mögli‐ chen Gründe für kann man sagen der Um‐ fang eines Ar‐ tikels ist lang man hat viele Bü‐ cher ge‐ sammelt hat oder viele Werke geschrieben man hat unter‐ schied‐ liche Ein‐ stellungen zu einem Sachver‐ halt P [ʈʂən 55 ] [tweɪ 51 ] [kuɔ 35 ] [tsu 35 ] [luɔ 51 ] [xoʊ 51 ] [tɤ] [ɥœn 35 ] [ɪn 55 ] [fən 55 ] [ɕi 55 ] [kʰɤ 214 ] [weɪ 51 ] [ljɛn 35 ] [pʰjɛn 55 ] [leɪ 214 ] [tu 35 ] [xan 51 ] [njoʊ 35 ] [ʈʂʰʊŋ 55 ] [tʊŋ 51 ] [tɕjɛn 51 ] [ʐən 35 ] [tɕjɛn 51 ] [ʈʂɚ 51 ] PK — \ (fal‐ lenden Kontur) // \ \ ° (stei‐ gendfallende Kontur) / — — — (stei‐ gende Kontur) ∨ \ (zwei‐ fach fal‐ lende Kontur) / — ∨ / (zwei‐ fach stei‐ gende Kontur) \ / — \ (zweifach fallende Kontur) \ / \ \ (zweifach fallende Kontur) B Die Analyse über die möglichen Gründe für die Rückständigkeit des Natio‐ nalfußballs lässt sich in verschiedenen zahlreichen Artikeln sehen und jede Analyse hat ihre eigenen Ansätze sowie Einstellungen. 332 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="333"?> SyR Prä‐ dikat SeR - Zustand - - - VS Die zahlreichen Analyseartikel über die Misserfolge der chinesischen Fußball‐ nationalmannschaft deuten auf die Wut gegenüber dem chinesischen Fußball hin Tab. 74: Idiomatische Konstruktionsanalyse 6 Idiomatische Konstruktion 9: 顺 其 自 然 shun 51 qi 35 zi 51 ran 35 [ʂuən 51 ] [tɕʰi 35 ] [tsɯ 51 ] [ʐan 35 ] entlang es selbst so/ verstehen/ als Präfix gemäß den natürlichen Gesetzen Idiomatische Konstruktion 10: 水 到 渠 成 shui 214 dao 51 qu 35 cheng 35 [ʂweɪ 214 ] [tɑʊ 51 ] [tɕʰy 35 ] [ʈʂʰɤŋ 35 ] Wasser kommen Kanäle entstehen Die Kanäle entstehen da, wo Wasser hinfließt. Bedeutet, dass etwas erfolgreich wird, wenn alle Bedingungen reif sind. 在对待足球运动这件事上我们应当重拾道德经的智慧,顺其自然,不求功利,百年筑 基,水到渠成。 (Im Umgang mit der Fußballreform sollten wir die Weisheit von Dao De Jing wieder aufleben lassen. Man soll gemäß den natürlichen Gesetzen keinen Utilitarismus suchen und einen langfristig Plan entwickeln, der über mehrere Jahre hinausgeht. So kann die Fußballreform erfolgreich sein. Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018: 为什么要对国足愤怒 ) 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 333 <?page no="334"?> S 我们 应当 重拾 道德经 的 智慧 顺其自 然 不求功 利 百年筑 基 水到渠 成 Ü wir sollen wieder auf‐ heben Dao De Jing’s Weis‐ heit Gemäß den natür‐ lichen Ge‐ setzen keinen Utilita‐ rismus suchen einen lang‐ fristig Plan entwi‐ ckeln es wird erfolg‐ reich, wenn alle Be‐ din‐ gungen reif sind P [uɔ 214 ] [mən 35 ] [ɪŋ 55 ] [tɑŋ 55 ] [ʈʂʰʊŋ 35 ] [ʂɚ 35 ] [tɑʊ 51 ] [tɤ 35 ] [tɕɪŋ 51 ] [tɤ] [ʈʂɚ 51 ] [xweɪ 51 ] [ʂuən 51 ] [tɕʰi 35 ] [tsɯ 51 ] [ʐan 35 ] [pu 51 ] [tɕʰjoʊ 35 ] [kʊŋ 55 ] [li 51 ] [paɪ 214 ] [njɛn 35 ] [ʈʂu 51 ] [tɕi 55 ] [ʂweɪ 214 ] [tɑʊ 51 ] [tɕʰy 35 ] [ʈʂʰɤŋ 35 ] PK ∨ / (fal‐ lendstei‐ gende Kontur) — — (flache Kontur) // (stei‐ gende Kontur) \ / \ ° (zwei‐ fach fal‐ lende Kontur) \ \ (fal‐ lende Kontur) \ / \ / (fal‐ lendstei‐ gende Kontur) \ / — \ (zwei‐ fach fal‐ lende Kontur) ∨ / \ — (zwei‐ fach fal‐ lende Kontur) ∨ \ // (fal‐ lendstei‐ gende Kontur) B Wir sollten die Weisheit von Dao De Jing wieder aufleben lassen. Man soll gemäß den natürlichen Gesetzen keinen Utilitarismus suchen und einen langfristig Plan entwickeln, der über mehrere Jahre funktioniert. Nur so kann die Fußballreform erfolgreich sein SyR Sub‐ jekt Prä‐ dikat 1 Prä‐ dikat 2 Objekt Prä‐ dikat 3 Prä‐ dikat 4 Prä‐ dikat 5 - SeR Hand‐ lungs‐ träger Hand‐ lung 1 Hand‐ lung 2 Handlungsge‐ genstand Hand‐ lung 3 Handlung 4 Handlung 5 - VS Die Fußballreform ist eine lange Reise und dies verlangt einen langfristigen bzw. nachhaltigen Entwicklungsplan. Tab. 75: Idiomatische Konstruktionsanalyse 7 7.2.3 Text bzw. Diskursanalyse Die Titelgeschichte besteht insgesamt aus einer kurzen Einleitung ( 中国球途 , Der Zukunftsweg der chinesischen Fußballmannschaften) und drei unterschied‐ lich langen Texten, die jeweils aus diversen Perspektiven das im Titelbild dargelegte Thema behandeln. Der erste Text 中国足球改革进入深水区 (Die chinesische Fußballreform geht nun in die Tiefe) setzt sich ausführlich mit 334 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="335"?> der Fußballreform in China auseinander und die beiden Autoren behaupten, dass die Reform sich in einer kritischen Phase befindet und die zukünftige Fußballentwicklung in China betrifft. Der zweite Text 造血 : 少年足球发展的梦想 与焦虑 („Hämatopoese“: Der Traum sowie die Zukunftsangst der chinesischen Fußballentwicklung unter den Jugendlichen) betrachtet die Fußballentwicklung unter den Jugendlichen genauer, stellt den jetzigen Entwicklungsstand der jugendlichen Fußballspiele bzw. Fußballmannschaften vor und weist zudem auf die potenziellen Probleme hin. Mit einer Frage im Titel eröffnet der letzte Text 为什么要对国足愤怒 (Warum soll man auf die chinesische Fußballmannschaft wütend sein? ) eine spannende Diskussion spezifisch über die Entwicklung der chinesischen Fußballnationalmannschaft. Nachstehend wird zuerst auf die verwendeten Metaphern und die Argumentationen der drei Einzeltexte einge‐ gangen. Danach wird überprüft, welche Metaphern welchen spezifischen Deu‐ tungsrahmen hervorrufen und wie sie dann die Entfaltung der Argumentation unterstützen. Darüber hinaus ist ebenfalls wichtig zu analysieren, welche Fach‐ konstruktionen bzw. kreative Konstruktionen verwendet werden. Metapher und Argumentation, Metapher und Frame, Metapher und Fachkonstruktion und eingesetzte Konkurrenzstrategien in den kreativen Konstruktionen bilden die vier grundlegenden Analysesäulen der Textanalyse. - 7.2.3.1 Metaphern, Frames und Argumentation Schon im Titel des ersten Texts 中国足球改革进入深水区 (Die chinesische Fußballreform geht nun in die Tiefe) ist von einer Tiefwassergebiet-Metapher die Rede. Die Tiefwasser-Metapher kann zwei unterschiedliche Frames hervor‐ rufen. Zum einen kann das Tiefwassergebiet mit Risiken oder Ungewissheiten assoziiert werden. Zum anderen kann es auch geheimnisvolle Schätze sym‐ bolisieren, die sich im Tiefwasser befinden. Überträgt man die beiden sehr unterschiedlichen Frames auf die chinesische Fußballreform, kann es dann bedeuten, dass es in dieser Reform sowohl Verbesserungschancen und damit verbundene Erfolge in der chinesischen Fußballentwicklung als auch unsichere Risiken geben wird. Trotz keiner aktiven Teilnahme der chinesischen Fußballnationalmannschaft an der Weltmeisterschaft in Russland haben viele chinesische Unternehmen zum Beispiel in die Werbebranche dieser Meisterschaft investiert. Die Investitionen in der Werbebranche der chinesischen Unternehmen liegt bei 83,5 Milliarden US-Dollar und macht ungefähr 35 % der gesamten Investitionen während der gesamten Weltmeisterschaft aus. Dass sich die chinesischen Unternehmen für die Weltmeisterschaft in einem großen Ausmaß engagieren, große Investitions‐ erfolge erziehen und die chinesische Nationalelf nicht mal die Qualifikation 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 335 <?page no="336"?> überlebt, stellt einen dramatischen Kontrast dar. Dementsprechend haben die beiden Autoren im ersten Abschnitt des Texts eine ironische Äußerung des berühmten chinesischen Moderators Yansong Bai zitiert: “ 这么说吧,除了中国足球队没去,其他该去的都去吧。”央视主持人白岩松调侃道。 („Sagen wir es so, außer der chinesischen Fußballmannschaft müssen alle an der dies‐ jährigen Fußballweltmeisterschaft teilnehmen, die dorthin gehen sollen.“ CCTV-Mo‐ derator Yansong Bai kommentiert scherzhaft.) Dieser scherzhafte Kommentar vom CCTV-Moderator spiegelt auch den kri‐ tischen Zustand der chinesischen Fußballentwicklung wider. Anschließend stellen die beiden Autoren die jetzige Ausgangssituation der chinesischen Fußballnationalmannschaft vor. Zum einen schaffen es manche lokalen Fuß‐ ballclubs aufgrund der finanziellen Spritze gute Plätze in AFC Champions League zu belegen. Guangzhou FC hat sogar zweimal den Meistertitel der AFC Champions League bekommen und somit einen historischen Rekord errungen. Zum anderen befindet sich die Leistung der chinesischen Fußballna‐ tionalmannschaft auf einem historischen Tiefpunkt. Sie hat nur jeweils zweimal für die Fußball-Asienmeisterschaft (2002, 2004) und die Olympischen Spiele (1988, 2008) Eintrittskarten erzielt. Um die Leistungsfähigkeit der chinesischen Nationalelf zu verbessern sowie die Fußballentwicklung in China langfristig zu fördern, wurde am 16. März 2015 ein „Gesamtkonzept der chinesischen Fußballreform und -entwicklung“ ( 中国足球改革发展总体方案 ) vorgelegt und im Anschluss daran eine Leitungsgruppe für die chinesische Fußballreform und -entwicklung gegründet. Der damalige Vize-Premierminister Yandong Liu übernahm die Rolle des Leiters für diese Leitungsgruppe. Die Entschlossenheit sowie die besondere Rücksicht auf die Fußballentwicklung der Regierung zeigen auch, dass Fußball in China eigentlich einen hohen Stellenwert hat und 足球历来被认为是中国体育改革的“突破口”和“试验田 ” (Die Fußballreform wird seit langem als „Durchbruch“ sowie „Testfeld“ der chinesischen Sportreform angesehen.) Dass die chinesische Fußballentwicklung sich nun in einer kritischen Phase befindet und die Reform in die Tiefe geht, bildet die grundlegende Ausgangs‐ these des vorliegenden Texts. Die sechs Aspekte, die durch die sechs Untertitel des Texts symbolisiert werden, bilden zusammen die zentralen Vorschläge der beiden Autoren in Bezug auf eine vernünftige Fußballreform in China: 管 办分离 (Trennung der Verwaltung und der Veranstaltungen), 中国职业足球联 盟 (Gründung der chinesischen Berufsfußballliga), 专业人干专业事 (Lass die Fachleute die Sachen fachlich behandeln), 地方足协改革 (Reform der lokalen Fußballverbände), 青训与校园足球 ( Jugendtraining und Fußballentwicklung in 336 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="337"?> der Schule) und 改革进入深水区 (Reform geht in die Tiefe). Jeder Teil des Texts setzt sich mit einem spezifischen Problemfeld hinsichtlich der chinesischen Fußballreform auseinander. Die sechs Aspekte stellen zusammen die sechs zen‐ tralen Argumentationen dar. Um die Argumentation zu entfalten, verwenden die beiden Autoren die folgenden Kategorien von Metaphern: 1-Kriegsmetaphern Schon im ersten Teil werden verschiede Metaphern, die aus dem militärischen oder kriegerischen Bereich stammen, verwendet. Im Oktober 2010 hat der Staatsrat der Volksrepublik China „Stellungnahmen zur Beschleunigung und Entwicklung der Sportbranche und zur Förderung des Sportkonsums“ (abge‐ kürzt als „Stellungnahmen“) veröffentlicht. Die Stellungnahmen beziehen sich darauf, dass China Fußballs-, Basketballs- und Volleyballentwicklung als Aus‐ gangspunkte betrachtet werden sollen und die Gesamtsportindustrie sowie Sportkonsummarkt so gefördert werden, dass vorrangig die Massensportarten und populären Sportarten mit hohem Gewinn und Marktanteil entwickelt werden. Bei der Bewertung dieser Veröffentlichung des Staatsrats haben die zwei Autoren eine Reihe von Kriegsmetaphern verwendet: 《意见》的出台,打破了制约群众体育和竞技体育之间平衡发展的壁垒,开拓了发展体 育产业的新思路,被认为是打响了中国深化改革的“第一枪”。 2015 年也被许多体育 人称作是中国体育产业“元年”。 (Die Veröffentlichung der „Stellungnahmen“ durch‐ brach die Befestigung, die eine ausgewogene Entwicklung von Massen- und Leis‐ tungssport behindert, eröffnete neue Ideen für die Entwicklung der Sportindustrie und galt als der „erste Schuss“ der sich vertiefenden Reform Chinas. 2015 wird von vielen Beschäftigten in der Sportbranche auch als das „erste Jahr“ der chinesischen Sportindustrie bezeichnet) Die Faktoren, die eine ausgewogene Entwicklung von Massen- und Leistungs‐ sport verhindern, werden als Befestigung metaphorisiert. Dadurch wird ein Befestigungsdeutungsrahmen aktiviert: Eine Befestigung ist ein großes militä‐ risches und ziviles Bauwerk, das zum Schutz eines Ortes und der örtlichen Bevölkerung errichtet wird. Dadurch wird auch der Kontakt zur Außenwelt mehr oder weniger erschwert. Die Befestigungsmetapher beleuchtet hier, dass ohne diese „Stellungnahmen“ die Entwicklung von Massen- und Leistungssport in China getrennt und geschlossen wäre. Diese offiziellen Stellungnahmen sind so bedeutend, als ob eine Truppe den ersten Schuss in einer Schlacht geben und somit den Beginn der Schlacht ankündigen würde. Die Erster-Schuss-Metapher und die Durchbruch-der-Befestigung-Metapher zusammen heben die besondere Rolle der offiziellen Stellungnahmen zur Sportentwicklung sowie Sportkonsum‐ 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 337 <?page no="338"?> förderung in China hervor. Die Kriegsmetaphern sind auch semantisch relevant mit der abschließenden ersten-Jahr-Metapher, weil das erste Jahr einer Dynastie im kaiserlichen China eine komplett neue historische Ära markiert und dies meistens eine Folge der militärischen Erfolge des an die Macht kommenden Kaisers demonstriert. In diesem zitierten Abschnitt ist zu sehen, dass die Entwicklung der Sportindustrie und die Förderung des Massensportkonsums als Kriegführung angesehen wird und die offiziellen Stellungnahmen als Strategien in diesem Krieg besonders vorteilhaft eingesetzt werden können. Mit diesem intensiven Gebrauch von Kriegsmetaphern wird das Kriegsframe aktiviert. Somit ist es kein Wunder, dass die Fördermaßnahmen dementsprechend als militärische Strategien bezeichnet werden. In dem Leitartikel finden sich viele Beispiele dafür: (1) 2015 年 3 月,国务院发布的《足改方案》,从国家层面确定了足球改革的战略意 义,其高度和力度前所未有。 (Der vom Staatsrat herausgegebene „Fußballreform‐ plan“ im März 2015 hat eine strategische Bedeutung hinsichtlich der chinesi‐ schen Fußballreform auf nationaler Ebene, die in noch nie dagewesener Tiefe und Intensität demonstriert wird.) (2) 《足改方案》提出了中国战略“三步走”战略,即近期目标是要理顺足球管理体 制,制定足球中长期发展规划,创新中国特色足球管理模式;中期目标是要实现青 少年足球人口大幅增加,职业联赛组织和竞赛水平达到亚洲一流,国家男足跻身亚 洲前列,女足重返世界一流强队行列;远期目标则是要使中国成功申办世界杯足球 赛 , 男 足 打 进 世 界 杯 、 进 入 奥 运 会 。 (Der „Fußballreformplan“ stellt die „Drei-Schritte“-Strategie der chinesischen Strategie dar: Das kurzfristige Ziel besteht in der Optimierung des Managementmodells im Fußballbereich, in der Festlegung des mittelsowie langfristigen Entwicklungskonzepts und in der Etablierung eines Fußballmanagementmodells mit chinesischer Prägung. Das mittelfristige Ziel setzt Schwerpunkte auf die Förderung der Jugendfußballspieler und die erstklassige Organisation der professionellen Ligaspiele. Darüber hinaus soll der chinesische Männerfußball an der Spitze in Asien rangieren und der chinesische Frauenfußball soll auf die Ränge der stärksten Weltmannschaften zurückkehren. Das langfristige Ziel ist, dass China sich erfolgreich um die Organi‐ sation einer Fußballweltmeisterschaft bewirbt und der chinesische Männerfußball Eintrittskarten für die Weltmeisterschaft und die Olympischen Spiele ergattert.) (3) 上世纪 80 年代后期,国家体委出台了“奥运战略”。 (In den 80er Jahren letzten Jahrhunderts hat die Chinesische Generaladministration des Sports die soge‐ nannte „Olympischen-Spiele-Strategie“ konzipiert.) In den oben aufgeführten Beispielen werden der chinesische Fußballreformplan und die sogenannte „Olympische-Spiele-Strategie“ als konkrete strategische Maßnahmen zur Förderung der Fußballentwicklung in China betrachtet, die auch kohärent mit den militärischen bzw. kriegerischen Frames sind. 338 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="339"?> Dass die offizielle Förderung sowie systematische Unterstützung der Fußball‐ entwicklung in China auf der staatlichen Ebene bereits eine Tradition darstellen, haben die beiden Autoren über eine wichtige Konferenz 1992 in Hong Shan Kou bewiesen. Bei dieser Konferenz wurde die Entwicklung des Profifußballs in den Diskussionsmittelpunkt gerückt. Besonders ausdiskutiert wurden der Zu‐ kunftsweg der Profifußballentwicklung in China und die Beziehung zwischen den nationalen und den lokalen Fußballverbänden. Darüber hinaus gab es während der Diskussion einen endlosen Streit zu den Fragen, ob der chinesische Fußball ein Leistungssowie Berufssport werden kann und wie er sich als eine Profisportart weiterentwickelt. Trotz der heftigen Auseinandersetzung mit den oben aufgeführten Themen auf der Konferenz hat das damalige Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas, Tieying Li, die Durchsetzung der Fußballreform in China befürwortet. Zudem hat er konkrete Maßnahmen für die Fußballreform ergriffen, wodurch die Reform des Profifußballs in China im Vergleich zu den anderen Profisportarten fortgeschritten ist. Um den Kriegsdeutungsrahmen erneut zu bedienen, nehmen die beiden Autoren eine Äußerung eines bekannten chinesischen Fußballkommentators hinzu, die den chinesischen Fußball als Vorreiter bezeichnet: “中国足球也因此成为践行中国体育职业的排头兵。但足协的行政、权力思维也一直被 球迷所诟病。”张路对《中国新闻周刊》说。 („Der chinesische Fußball ist daher zu einem Vorreiter der chinesischen Sportberufsausübung geworden. Die Verwaltung und das Machtausüben des Fußballverbands wurden jedoch von den Fans immer kritisiert“, sagte Lu Zhang zu Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan) In Bezug auf die strukturelle Fußballreform in China gebrauchen die beiden Autoren einen weiteren militärischen Begriff, und zwar 扩军 . Die Konstruktion 扩军 (Expansion + Armee: Ausbau der Armee) bezieht sich im Chinesischen ursprünglich auf den Ausbau der militärischen Kräfte einer staatlichen Armee. Jedoch wird hier der Ausbau der Fußballclubs aus der China League One und der China League Two metaphorisch in einen Kriegsframe gesetzt und die Fußballclubs aus den beiden chinesischen professionellen Ligen werden dementsprechend als Armeen betrachtet: “而在此之前,职业联赛理事会执行局更大的职责是为中超服务,中甲和中乙经常无所 适从,很简单的例子,中甲扩军就因为没有完善的管理机制而被搁置,现在中国足协在 逐步推进中乙扩军之后,已经重启了中甲扩军。”原中国足协职业联赛理事会执行局局 长马成全对《中国新闻周刊》说。(„Die zentrale Aufgabe des Vorstands des Chinese Professional League Council bestand früher darin, der Chinesischen Super League zu dienen. Die China League One und die China League Two gehören nicht zu dessen Hauptaufgabe und dementsprechend sind sie oft ratlos. Ein einfaches Beispiel dafür 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 339 <?page no="340"?> ist, dass die Vergrößerung sowie die Erweiterung der China League One aufgrund der fehlenden Verwaltungsmechanismen eingestellt werden muss. Dank der Forde‐ rung aus dem Chinesischen Fußballverband wurden die Vergrößerung sowie die Erweiterung der China League Two stufenweise vorangetrieben und die Expansion der China League One wird dementsprechend wieder aktiviert.“ Chengquan Ma, der ehemalige Direktor des Exekutivdirektors des Professional League Council des Chinesischen Fußballverbands, berichtete der Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan.) 2-Reisemetaphern Neben den oben aufgeführten Kriegsmetaphern werden in den Titelgeschichten noch viele Reisemetaphern verwendet. Besonders im Teil über die Trennung von der Verwaltung und den Veranstaltungen hat der berühmte Fußballspiel‐ kommentator Lu Zhang ein Motto eines bedeutenden Wirtschaftspolitikers der Volksrepublik China, Yun Chen, übernommen und dies in eine Reisemetapher integriert: 1994 年的时候,谁也不知道职业足球应该怎么搞,就是摸着石头过河,在实践中探索 出一条正确的道路。 (1994 wusste niemand, wie man Profifußball in China fördern könnte. Es ist quasi wie eine Situation, dass man die Steine im Fluss unter den Füßen vorsichtig erfühlt und in der Praxis einen richtigen Weg erkundet, um den Fluss zu überqueren.) In dem Teil 管办分离 (Trennung der Verwaltung und der Veranstaltungen) haben die beiden Autoren des ersten Texts zuerst den Versuch unternommen, alles hinsichtlich der modernen Fußballentwicklung in der Volksrepublik China Revue passieren zu lassen. Der oben aufgezeigte Satz aus der Äußerung des Fußballspielkommentators beleuchtet die Situation des Profifußballs 1994 in China. Wie bereits angedeutet geht die Konstruktion „ 摸着 +石头 + 过河 “ (be‐ rühren + Steine + Fluss überqueren: die Steine unter den Füßen vorsichtig berühren und den Fluss überqueren. Bedeutet, dass man vorsichtig mit einer Sache bzw. einem Sachverhalt umgehen soll) auf ein Motto von Yun Chen zurück. Dieses Motto hat der Wirtschaftspolitiker bei einem Regierungstreffen des Regierungsverwaltungsrats der Zentralen Volksregierung am 7. April 1950 aufgestellt, um die steigenden Marktpreise sowie Inflation zu behandeln. Seiner Ansicht nach sollen die Marktprobleme vorsichtig behandelt werden und somit eine stabile gesellschaftliche Umgebung für die weitere Wirtschaftsentwicklung gewährleistet werden. Das Motto wurde danach mehrfach auf unterschiedlichen parteipolitischen Konferenzen hervorgehoben und später als eine verfestigte Konstruktion im modernen Chinesischen überliefert. Die Fußballreform in China wurde hierbei als Überqueren eines Flusses konzeptualisiert. Die vor‐ 340 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="341"?> sichtige Steine-im-Fluss-Berührungsmethode kann dementsprechend als eine Strategie angesehen werden, die beim Überqueren eines Flusses hilft. Dass man vorsichtig mit der Fußballreform in China umgeht und einen eigenen Weg einschlägt, der sich an der chinesischen Fußballpraxis orientiert, ist nach der Meinung des Fußballspielkommentators von großer Bedeutung. Um die Verwaltung der Fußballvereine und die Veranstaltung der Fußball‐ spiele zu trennen, hat der sogenannte „Fußballreformplan“ deutlich darauf hin‐ gewiesen, dass neue Führungsbzw. Managementbehörden eingerichtet werden sollen. Wiederum findet man hier eine Konstruktion mit der Reisemetapher und diese Entwicklungstendenz wird als eine Richtungsentscheidung während einer Reise aufgefasst: 《足改方案》中,明确提出成立全新的职业联赛管理运营机构。这也是管办分离的具体 体现。按照这个方向,新成立的中围职业足球联盟与原来的职业联赛理事会由着本质的 区别。 (Im „Fußballreformplan“ wird klar aufgestellt, dass neue Führungsbzw. Ma‐ nagementorganisationen für die Profi-Ligen etabliert werden sollen. Dies entspricht auch der leitenden Philosophie im Sinne der Trennung von der Verwaltung und den Veranstaltungen. Entlang dieser Richtung unterscheidet sich die neu gegründete China Central Professional Football League maßgeblich vom ursprünglichen Rat der Profi-Liga.) Zudem sind die nachstehenden drei Beispiele in der Titelgeschichte zu finden, die jeweils mindestens eine Reisemetapher enthalten. So wird der Reise-Frame wiederkehrend mit lexikalischen Mitteln aufgegriffen: (1) 但仍不规范的足球市场、尚未成熟的成长通道还是摆出了很多难题。 (Der noch nicht gut kontrollierte Fußballmarkt und der unreife Wachstumsweg bereiten jedoch noch viele Probleme.) (2) 这注定是一条有些漫长的道路。尽管中国被确认为是足球运动的发源地,但这项运 动并没有像乒乓球那样成为整个民族的荣光,也很少有机会参与国家形象的建构。 (Dies wird ein langer Weg werden. Obwohl China als Geburtsort des Fußballs anerkannt ist, ist dieser Sport nicht wie Tischtennis zum Ruhm der ganzen Nation geworden, und es gibt nur wenige Möglichkeiten für den chinesischen Fußball, sich am Aufbau des nationalen Images zu beteiligen.) (3) 长期以来,中国足球靠政府行政力量来推动,计划色彩过浓,严重阻碍了足球的职 业化和市场化改革步伐,现代意义的职业联赛体系始终没有形成 [… ] 相反,黑哨 问题、行政干预问题严重阻碍了中国足球的现代进程。 (Der chinesische Fußball wurde lange Zeit von der Verwaltungsmacht der Regierung gefördert. Der Plan der Regierung nimmt riesigen Einfluss auf die Fußballentwicklung. Deshalb werden die Reformprozesse der Professionalisierung sowie Vermarktung des chinesischen Fußballs heftig behindert. Dies führt dazu, dass kein System der professionellen Ligaspiele im modernen Sinne aufgebaut wurde. […] Im Gegenteil 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 341 <?page no="342"?> verhindern die Probleme wie Bad Calls oder administrative Interventionen ernst‐ haft den Modernisierungsprozess des chinesischen Fußballs.) In den ersten zwei Beispielen wird die Fußballentwicklung in China als Weg metaphorisch zum Ausdruck gebracht. Die Lexeme wie 步伐 (Schritte) sowie 进程 (gehen + Weg) in den oben fett gedruckten Konstruktionen aus dem dritten Beispiel gehören ebenfalls zu den Konstruktionen, die innerhalb eines Reiseframes vorkommen. 3.-Theatermetaphern Eine weitere Kategorie der Metaphern, die Anwendung in Titelgeschichten findet, stellt die Theatermetapher dar. Anders als die Kriegsmetaphern wird die Theatermetapher nur vereinzelt gebraucht. Dies weist darauf hin, dass sich die Titelgeschichten meistens auf einen spezifischen Deutungsrahmen konzentrieren, wobei nur die Metaphern häufig verwendet werden, die stets zur Formierung sowie Konsolidierung dieses Deutungsrahmens beitragen. In den analysierten Titelgeschichten spielen die Kriegsmetaphern eine zentrale Rolle hinsichtlich der Formierung des Deutungsframes sowie der Argumentation. Jedoch veranschaulicht die nachstehende Theatermetapher ein Subargument in der Gesamtargumentation, indem der Beginn der Fußballreformen auf der lokalen Ebene der Fußballverbände in China als Öffnung des Theatervorhangs thematisiert wird. 据媒体报道,在中国足协的引领示范下,各地足协陆续跟进,拉开了地方足协改革的帷 幕。 (Laut Medienberichten haben lokale Fußballverbände unter der Führung des chinesischen Fußballverbands die lokalen Reformen nach und nach durchgeführt und somit den Vorhang für die Reform der lokalen Fußballverbände geöffnet.) 4.-Architekturmetaphern Der vorletzte Teil des ersten Texts 青训与校园足球 ( Jugendtraining und Fußball‐ entwicklung in der Schule) schenkt insbesondere der Fußballentwicklung in einer spezifischen Zielgruppe in China Aufmerksamkeit, und zwar der Jugend‐ fußballentwicklung. Eine zentrale These dieses Teils besteht darin, dass die Fußballentwicklung unter den chinesischen Jugendlichen ebenfalls von großer Bedeutung ist und die Jugendfußballentwicklung als ein wichtiges Fundament der gesamten Fußballreformbzw. -entwicklung dienen soll. Dadurch wird ein Architektur-Frame hervorgerufen und die sogenannten Architekturmetaphern spielen selbstverständlich eine dominante Rolle in der gesamten Argumenta‐ tion: 342 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="343"?> “足球运动最根本就是两条,第一个是基础,就像盖房子一样打基础,基础就是要把青 少年发展上去 [… ] ” („Es gibt zwei Grundregeln, um den Fußball zu fördern. Die erste Grundregel betrifft die Grundlage der Fußballentwicklung. Die wichtige Grundlage der Fußballentwicklung ist wie das Fundament eines Hauses. Dies bedeutet, dass man zuerst den Fußball unter den Jugendlichen fördern soll. […]“) Ein weiteres Problem in der Fußballreform in China unter den Jugendlichen liegt bei den Unterschieden zwischen dem Bildungssystem und dem Sportsystem. Um dieses Problem zu veranschaulichen, verwenden die beiden Autoren zwei Architekturmetaphern: Zum einen werden die Unterschiede zwischen den beiden Systemen in China als 壁垒 (Wand + Festung: Barrieren) bezeichnet, die eine reibungslose Fußballreform eventuell hindern. Die Wände zwischen den beiden Systemen sollen daher abgebaut werden, um eine gesunde Entwicklung der Fußballreform in China zu gewährleisten. Die beiden Autoren argumen‐ tieren anhand dieser Barriere-Metapher weiter, dass das Ausbildungsbzw. Trainingssystem für die Jugendlichen nur durch den Abbau der systematischen Barrieren im Bildungssowie Sportwesen möglich wären: 这一计划旨在打破体育与教育两个系统之间的壁垒,让青训体系更具有广泛、更扎实的 底座基础。 (Dieser Plan zielt darauf ab, die Barrieren zwischen den Bildungs- und Sportsystemen abzubauen, damit das Ausbildungsbzw. Trainingssystem für die Jugendlichen auf eine breitere und solidere Grundlage gestellt wird.) 5.-Krankheitsmetaphern Im abschließenden Teil des ersten Texts, und zwar, 改革进入深水区 (Reform geht in die Tiefe), findet man die Anwendung der Krankheitsmetaphern. Die beiden Autoren greifen eine Äußerung des Sekretärs des Parteikomitees des Chinesischen Fußballverbandes Zhaocai Du auf, um zu zeigen, dass viele heikle Probleme in den chinesischen Ligen immer noch zu beobachten sind. Solche Probleme werden von ihm als 虚火 (falsch/ irreal + Feuer: falsches Feuer) und 顽疾 (hartnäckig + Krankheit: hartnäckige und chronische Krankheiten) bezeichnet, die in der zukünftigen Fußballreform auf jeden Fall beseitigt werden müssen: 中国足协党委书记杜兆才在 2018 年赛季联赛动员大会上表示,中国联赛的虚火必须降 下来,要敢于向顽疾开刀。他说,“盲目投资、恶性竞争等联赛的虚火必须降降温,只 有这样职业联赛才能走上良性的健康轨道。我们深知触及利益比触及灵魂还难,但改革 如逆水行舟,不进则退。要敢于涉深水区,啃硬骨头。敢于向存积多年的顽疾开刀,敢 于触及深层次利益关系和矛盾。”( Zhaocai Du, Sekretär des Parteikomitees des chine‐ sischen Fußballverbandes, erklärte auf der Mobilisierungskonferenz der Sommerliga 2018, dass das falsche Feuer der chinesischen Liga gebremst werden muss und man 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 343 <?page no="344"?> wagen muss, die chronischen und hartnäckigen Krankheiten anzugreifen. Er sagte: „Blinde Investitionen und bösartige Wettbewerbe rund um die verschiedenen Ligen müssen gestoppt werden. Nur so können Profi-Ligen auf einen gesunden Entwicklungsweg gebracht werden. Wir wissen, dass es noch schwieriger ist, Interessen als Seelen zu berühren. Jedoch ist eine Reform wie eine Schifffahrt gegen den Wind. Wenn man nicht gegen den Wind kämpft, dann kommt das Schiff nicht voran. Man muss den Mut haben, die Reform ins Tiefwassergebiet voranzutreiben und die harten Knochen zu beißen. Somit werden die langjährig bereits existierenden bzw. angehäuften hartnäckigen Krankheiten behandelt und notwendige Ope‐ rationen dementsprechend durchgeführt. Zudem müssen auch die tiefgehenden Beziehungen von verschiedenen Interessenparteien berührt werden.) Das Konzept 虚火 (falsch/ irreal + Feuer: falsches Feuer) lässt sich auf die Tradi‐ tionelle Chinesische Medizin (TCM) zurückführen. Allein das metaphorische Konzept 火 (Feuer) ist eine extrem wichtige und zentrale Begrifflichkeit in der TCM. Das Feuer spielt in der menschlichen Geschichte eine besondere Rolle. Feuer kann Hitze herstellen, Menschen Wärme geben und wird genutzt, um warmes Essen vorzubereiten. Mit der Hitze, der Wärme sowie dem warmen Essen wird die menschliche Durchschnittslebenslänge wesentlich verbessert. In diesem Sinne profitiert die Menschheit in großem Maße vom Feuer. Die po‐ sitiven Seiten des Feuers werden in der TCM als physiologisches und gesundes Feuer im menschlichen Körper betrachtet. Jedoch ist das Feuer in der Natur nicht immer unproblematisch. Es kann zum Beispiel auch Brände auslösen und somit Schäden verursachen. Von daher werden die zerstörerischen Seiten des Feuers in der TCM als pathologisches und krankes Feuer im menschlichen Körper angesehen. Zudem unterscheidet die TCM das menschliche Feuer (auch als Yang) zwischen realem Feuer und irrealem Feuer. Das reale Feuer bedeutet, dass es zu viel Feuer bzw. Hitze im menschlichen Körper gibt, während das irreale Feuer den Zustand beschreibt, dass das Feuer bzw. die Hitze im menschlichen Körper ausreichend und ausgeglichen, aber das Wasser (also Yin) viel mehr als das Feuer (also Yang) ist. Nach der TCM sollen das Feuer (also Yang) und das Wasser (also Yin) immer in einem ausgeglichenen Verhältnis stehen, sonst können sowohl das reale als auch das irreale Feuer zu Krankheiten führen. Das oben aufgeführte Konzept aus der TCM weist darauf hin, dass der jetzige Entwicklungsstand des chinesischen Fußballs krank ist. Somit wird ein Krankheitsframe hervorgerufen. Um der Leserschaft noch genauer zu erläutern, welche konkreten Bereiche in der heutigen chinesischen Fußballentwicklung besonders problematisch sind, werden blinde Investitionen und bösartige Wett‐ bewerbe zwischen den verschiedenartigen Ligen in China im direkten Zitat als die Symptome des irrealen Feuers eingeführt. Die Konstruktion 虚火 + 必须 + 344 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="345"?> 降降温 (irreales Feuer + müssen + sinken Temperatur) bedeutet, dass das irreale Feuer gekühlt werden muss. Übertragen auf den Kontext, ergibt sich dann die kontextuelle Bedeutung, dass blinde Investitionen in die Fußball-Ligen sowie bösartige Wettbewerbe in der Zukunft möglichst vermieden werden müssen. Jedoch ist eine Reform in solchen Bereichen außergewöhnlich schwer, weil sie unterschiedliche Interessengruppen berührt bzw. ihren Interessen schadet. Des Weiteren führt der Sekretär des Parteikomitees des Chinesischen Fußball‐ verbandes eine zusätzliche Krankheitsmetapher in den Diskurs ein, um diesen spezifischen Aspekt hervorzuheben. Die langjährig angehäuften Krankheiten werden von ihm als hartnäckige und chronische Krankheiten bezeichnet. Um solche Krankheiten zu behandeln, bedarf es seiner Meinung nach einer noch in‐ tensiveren Behandlung in der Medizin, sprich einer Operation. Körpertherapie, Medikamenteneinnahme oder Infusionstherapie können anscheinend solche Krankheiten nicht behandeln bzw. heilen. Diese Schwerkrankheitsmetapher weist einerseits auf die schweren Krankheiten, an denen der chinesische Fußball gerade leidet, und anderseits auf die Notwendigkeit einer gründlichen und intensiven Behandlung sowie Durchführung einer Operation, um die schweren Krankheiten erfolgreich zu bekämpfen, hin. Im dritten Text kommen die Krankheitsmetaphern ebenfalls vor. Dies lässt sich bereits im Titel des dritten Texts beobachten: 造血: 少年足球发展的梦 想与焦虑 („Hämatopoese“: Träume und Zukunftsängste in der chinesischen Fußballentwicklung unter den Jugendlichen). 2015 年的《中国足球改革发展总体发展方案》,设定了中远期规划,并提出要“改进 专业足球专业人才培养发展方式”,试图在校园足球、社会足球和职业足球之间建立有 效的成长通道,为职业足球“造血”。 (Das 2015 vorgelegte „Gesamtentwicklungs‐ konzept der Chinesischen Fußballreform“ legte einen mittelbzw. langfristigen Plan fest und schlug zugleich vor, „die Ausbildungs- und Entwicklungskonzepte für Fuß‐ ballprofis zu erneuern und verbessern“. Das Gesamtentwicklungskonzept unternimmt den Versuch, einen effektiven Wachstumskanal zwischen Fußball im Campus, in der Gesellschaft und unter den Fachleuten einzurichten und mehr „Blut“ für den Profifußball „herzustellen“.) 6.-Essensmetaphern Am Ende des ersten Texts fassen die beiden Autoren zusammen, dass mehr un‐ erwartete Schwierigkeiten vor der chinesischen Fußballreform stehen würden, wenn sie in die Tiefe gehe. Die unerwarteten Schwierigkeiten, die bevorstehen, werden als „harte Knochen“ metaphorisiert. Im Deutschen heißt das eigentlich eine harte Nuss zu knacken haben: 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 345 <?page no="346"?> 随着中国足球改革进入深水区,更多的“硬骨头”摆在改革者面前,这份足球大 考有待时间的检验。( Je mehr Chinas Fußballreform in die Tiefwasserzone vor‐ dringt, desto mehr „harte Knochen“ werden den Reformern vor die Füße gelegt. Dieser Fußballtest muss im Laufe der Zeit noch bestanden werden.) - 7.2.3.2 Interaktion der Metaphern, Konstruktionen und Frames im Diskurs Im letzten Unterkapitel werden die Metaphern und die metaphorischen Kon‐ struktionen aus den unterschiedlichen Titelgeschichten dargelegt. Jedoch ist bis hierhin noch nicht geklärt, wie die Metaphern, die metaphorischen Konstruk‐ tionen und die durch solche Konstruktionen aktivierten Frames im gesamten Titelstory-Diskurs zusammenhängen bzw. interagieren, obwohl dies in der Argumentation des letzten Unterkapitels angedeutet wurde. Es wird im vorlie‐ genden Unterkapitel versucht, die dreifache Interaktion vorzustellen sowie zu systematisieren. Mit Ausnahme der kurzen Einleitung der Titelstory (Text 1) kommen Metaphern und metaphorische Konstruktionen in jedem Einzeltext der Titel‐ story-Reihe vor. Aus der Tabelle unten ist ersichtlich, dass Metaphern und metaphorische Konstruktionen im zweiten Text besonders auffällig auftauchen. Der mögliche Grund liegt im deutlich längeren Umfang des zweiten Texts verglichen mit den zwei darauffolgenden Texten. Der längere Umfang des zweiten Texts ermöglicht mehr Raum für metaphorischen Sprachgebrauch. Die nachstehende Tabelle veranschaulicht die Verteilung der Metaphern und metaphorischen Konstruktionen in den Titelgeschichten: Text Metaphern Metaphorische Konstruktionen 1) 中国球途 (Der Zu‐ kunftsweg der chi‐ nesischen Fußball‐ mannschaften) keine keine 2) 中国足球改革进入深 水区 (Die chinesische Fußballreform geht ins Tiefwassergebiet) Kriegsmetaphern • 打破壁垒 (die Barriere brechen/ die Festung zerstören) • “ 第一枪 ”(„der erste Schuss“) • 战略意义 (strategische Bedeutung) • “三步走”战略 (die „Drei-Schritte “-Strategie) • “奥运”战略 (die „Olympi‐ schen-Spiele“-Strategie) • 排头兵 (Vorreiter) • 扩军 (Ausbau der Armee/ Ligen) 346 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="347"?> Text Metaphern Metaphorische Konstruktionen Reisemetaphern • 摸着石头过河 (die Steine im Fluss unter den Füßen vorsichtig er‐ fühlen und den Fluss überqueren) • 探索一条正确的道路 (einen rich‐ tigen Weg erkunden) • 按照这个方向 (entlang dieser Rich‐ tung) Theatermeta‐ phern • 拉开地方足协改革的帷幕 (den Vor‐ rang der Reform von den lokalen Fußballvereinen öffnen) Architekturmeta‐ phern • 基础就是要把青少年发展上去 (För‐ derung des Jugendfußballs ist grundlegend) • 让青训体系具有更广泛的底座基础 (damit das Jugendtrainingssystem auf eine noch breitere Grundlage gestellt wird) Krankheitsmeta‐ phern • 虚火 (das irreale Feuer) • 向顽疾开刀 (die hartnäckigen Krankheiten werden behandelt und notwendige Operationen werden dementsprechend durchgeführt) Essensmetaphern • 啃硬骨头 (wagen, in die harten Kno‐ chen zu beißen) 3) “造血”:少年足球 发展的梦想与焦虑 („Hä‐ matopoese“: Der Traum sowie der Zu‐ kunftsangst der chi‐ nesischen Fußball‐ entwicklung unter den Jugendlichen) Krankheitsmeta‐ phern • 为职业足球“造血 ”(für den Profi‐ fußball „Blut herstellen“) Reisemetaphern • 漫长的道路 (langer Weg) • 梦想的出路 (Ausgang der Träume) 4) 为什么总要对国足愤 怒 (Warum soll man auf die chinesische Fußballmannschaft wütend sein? ) Reisemetaphern • 阻碍了足球的职业化和市场化改革 步伐 (die Fortschritte hinsichtlich der Professionalisierung sowie der Vermarktungsreform des chinesi‐ schen Fußballs verhindern) Tab. 76: Die häufig verwendeten Metaphern und metaphorischen Beispielkonstrukti‐ onen in den Titelgeschichten (1) 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 347 <?page no="348"?> Aus der oben aufgeführten Tabelle wird ersichtlich, dass die Reisemetaphern und die Kriegsmetaphern eine besonders dominante Rolle im zweiten Text einnehmen. Auch im dritten und vierten Text spielen Reisemetaphern eine wichtige Rolle. Auch wegen des stark asymmetrischen Textumfangs gibt es wesentlich mehr Metaphern in der zweiten Titelgeschichte. Im Folgenden wird zuerst anhand des zweiten Texts analysiert, wie die Metaphern, die metaphorischen Konstruktionen und die hervorgerufenen spezifischen Deu‐ tungsrahmen interaktiv zusammenhängen. Die linguistische Konstruktion im Titel des zweiten Texts „X geht in die Tiefe“ eröffnet schon ein Frame mit einer Reisemetapher. Normalerweise kann die variable Stelle X durch eine konkrete Person wie Thomas oder durch ein Personalpronomen wie er besetzt werden, sodass die Stelle X die semantische Rolle eines Handlungsträgers übernimmt. In der Konstruktion des Titels wird diese variable Stelle hingegen durch eine abstrakte Phrasen-Konstruktion besetzt. Es kann also interpretiert werden, dass die Reform des chinesischen Fußballs in dieser Konstruktion personifiziert wird. Ausgangspunkte der zweiten Titelgeschichte sind die WM in Russland und die bisherige schlechte Leistung der chinesischen Fußballnationalmannschaft bei der WM und anderen Ligaspielen. Die Konkurrenz in einem sportlichen Wettbewerb wird so hart wie die Kriegsführung dargestellt. Aufgrund der harten Konkurrenz sowie der fehlenden Leistung muss die chinesische Fußball‐ nationalmannschaft viele schmerzhaften Niederlagen hinnehmen. Hier wird zuerst die sportliche Konkurrenz mit einem Kriegsframe aktiviert und so ist es kein Wunder, dass zunächst zahlreiche Kriegsmetaphern im ersten Teil der Titelgeschichte zu sehen sind (vgl. die Kriegsmetaphern in der Tabelle). Um die Oberhand in der sportlichen Kriegsführung zu gewinnen, braucht es natürlich gute Strategien. Um gute Strategien zu entwickeln, muss in der Kriegsführung experimentiert werden. Eine Art der Kriegsführung kann zum Beispiel als eine militärische Reise (ein Fußballspiel) für die Soldaten (Fußballspielende) konzeptualisiert werden. Dafür werden Reisemetaphern an der entsprechenden Stelle eingeführt, da ausgedrückt werden soll, dass man die richtigen Entwicklungsstrategien für den Fußball in China erst aus der Praxis finden kann (vgl. die Reisemetaphern in der Tabelle). Im zweiten und dritten Teil der zweiten Titelgeschichte, in denen die Einrichtung des chinesischen Profifußballverbands und das Management der Fußballvereine bzw. Ligaspiele durch das Fachpersonal ganz ausführlich behandelt werden, treten die Kriegsmetaphern und die Reisemetaphern abwechselnd auf, um diesen Deutungsrahmen zu verstärken. Erst im vierten Teil wird die einzige Theatermetapher der zweiten Titelgeschichte eingeführt, um die Fußballreform auf der lokalen Ebene zu veranschaulichen. Der fünfte Teil bezieht sich auf die 348 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="349"?> jugendliche Fußballentwicklung in China. Hier werden das Trainingssystem für die Jugendlichen sowie der Jugendfußball als Fundament eines Hauses konzep‐ tualisiert. Daher finden sich hierbei die relevanten Architekturmetaphern. Im letzten Teil werden die Probleme in der Fußballentwicklung als Krankheiten und harte Knochen metaphorisch dargelegt. Die dritte Titelgeschichte fokussiert auf den Jugendfußball in China und lässt sich thematisch in den fünften Teil der zweiten Titelgeschichte einordnen. Hier wird ebenfalls die Wichtigkeit des Fußballnachwuchses bezüglich der Fußballentwicklung in China hervorge‐ hoben. Es wird jedoch keine Architekturmetapher eingeführt. Der jugendliche Fußballnachwuchs wird hier als frisches Blut für den chinesischen Fußball konzeptualisiert, während der chinesische Fußball als ein Lebewesen betrachtet wird. Die letzte Titelgeschichte behandelt spezifisch die Leistungsunfähigkeit der chinesischen Fußballnationalmannschaft und analysiert, warum der Fußball sich in den westlichen Ländern gut entwickelt. Im Folgenden werden zunächst die besprochenen inhaltlichen Aspekte anhand der nachstehenden Mindmap zusammengefasst, bevor die Interaktionen zwischen Metaphern, Frames und Argumentationen im Diskurs veranschaulicht werden: Abb. 24: Thema der chinesischen Titelstory und die wesentlichen Analyseaspekte in den Argumentationen der vier Titelgeschichten 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 349 <?page no="350"?> Abb. 25: Interaktion zwischen Metaphern und den hervorgerufenen Frames in der chinesischen Titelstory 350 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="351"?> 7.2.4 Zusatzdimensionen Wie bereits in Kapitel 4.2.3 angedeutet, sollen die anderen zusätzlichen Dimensionen wie Autorenschaft, Textsorte oder Einsetzung der Visualisie‐ rungsmethoden (z. B. Diagramme, Bilder oder Karikatur) bei der Analyse der Konstruktionen mitberücksichtigt werden. Im vorliegenden Unterkapitel werden weitere relevante Zusatzdimensionen, die in der Analyse der chine‐ sischen Titelstory in Frage kommen, abschließend mit einigen Beispielen kurz diskutiert. Autorenschaft und Multiperspektivität: Die Titelstory über den Zu‐ kunftsweg des chinesischen Fußballs enthält insgesamt vier Titelgeschichten, wobei es sich bei der ersten Titelgeschichte lediglich um einen kleinen Text mit zwei Abschnitten handelt. Die zweite Titelgeschichte wurde von zwei Journalisten dieser Zeitschrift verfasst, während die dritte und die vierte Titelgeschichte jeweils von einem Journalisten geschrieben werden. Anders als die deutliche Mehrautorenschaft bei Der Spiegel wird die zweite lange Titelgeschichte nur von zwei Autoren fertig gestellt (bei der ersten Titelgeschichte bei Der Spiegel gibt es hingegen ein Team von 14 Autoren, vgl. Kap. 7.3). Auch die thematische Konzentration auf die Fußballentwicklung in China ist in jeder Titelgeschichte etwas anders organisiert. Mit Ausnahme der einleitenden Titelgeschichte werden viele unterschiedliche Aspekte wie die Geschichte der Fußballreform in China, die Einrichtung der chinesischen Profi‐ fußballvereine, der Jugendfußball und die Fußballreform auf der ländlichen und lokalen Ebene besprochen. Jedoch greift die dritte Titelgeschichte nur die Fuß‐ ballentwicklung unter den Jugendlichen auf, wobei die vierte Titelgeschichte sich hauptsächlich mit dem Misserfolg der chinesischen Fußballnationalmann‐ schaft auseinandersetzt. Textlänge und Frequenz der Metaphern: In der Textbzw. Diskursanalyse ist ersichtlich, dass die meisten Metaphern und metaphorischen Konstruktionen in der zweiten und umfangreichsten Titelgeschichte auftreten. Dies kann so inter‐ pretiert werden, dass die Textlänge einen positiven Einfluss auf die Verwendung der Metaphern ausüben kann: Je länger der Text ist, desto häufiger buzw. wahrscheinlicher kommen Metaphern in der Argumentation vor. Derartige Zusammenhänge zwischen der Textmenge und der Verwendung von Metaphern kann zum Beispiel auch in politischen Reden beobachtet werden (vgl. Müller 2012: 208-209). 7.2 Fallbeispiel 1: 中国球途 (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, 23/ 2018) 351 <?page no="352"?> Bilder und Diagramme im Diskurs der Titelstory: Der Abbildung 26 begegnet die Leserschaft bereits in der einleitenden Titelgeschichte. Auf dem Bild sind viele chinesische Jugendfußballspieler zu sehen. Das Bild hat hierbei zweierlei Funktionen. Zum einen heißt die Titelstory dieser Ausgabe „Der Zu‐ kunftswege des chinesischen Fußballs“ und der Jugendfußball symbolisiert die Nachwuchskraft des chinesischen Fußballs in China. Zum anderen gibt es einen spezifischen Teil in der zweiten Titelgeschichte über das Jugendtrainingssystem in China und die Fußballreform für die Jugendlichen. Auch der Jugendfußball ist ein zentrales Thema in der dritten Titelgeschichte. Dieses Bild kann im Voraus den zu besprechenden inhaltlichen Aspekt implizieren. Abb. 26: Bild aus der Titelstory „Der Zukunftswege des chinesischen Fußballs“ (Quelle: Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, Nr.-23/ 2018) 7.3 Fallbeispiel 2: Ciao amore! Italien zerstört sich selbst - und reißt Europa mit (Der Spiegel, 23/ 2018) Genau wie im letzten Unterkapitel wird nun eine deutsche Ausgabe von Der Spiegel herausgegriffen, um zu zeigen, wie man die bereits in den letzten Kapiteln etablierten Analysedimensionen in der deutschen Anwendungspraxis implementieren kann. Die ausgewählte 23. Ausgabe des Der Spiegel wurde am 2. Juni 2018 veröffentlicht. Die Titelstory besteht aus einem Titelbild und zwei Titelgeschichten. Die erste lange Titelgeschichte „La tragedia“ nimmt einen Textumfang von 8 DIN-A4-Seiten in Anspruch, die von 14 Journalistinnen bzw. Journalisten aus dem Redaktionsteam dieser Zeitschrift zusammen verfasst wurde. Neben der langen Titelgeschichte sind außerdem 8 Fotos sowie ein Balkendiagramm zu sehen. Die zweite Titelgeschichte aus der ausgewählten Ausgabe, „Noch ist Zeit, aber nicht mehr viel“, ist ein Gastbeitrag von Henrik 352 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="353"?> Enderlein, Professor für politische Ökonomie und designierter Präsident der Hertie School of Governance sowie Direktor des Thinktanks „Jacques-Delors-In‐ stitut“ in Berlin. Dieser zweiseitige Gastbeitrag wurde in einem Essay-Format präsentiert. Einschließlich eines Fotos des Autors ist auf Seite 19 dieser Ausgabe eine Karikatur mit dem Titel „after Michelangelo“ zu finden. 7.3.1 Deskriptive Beschreibung des Titelbilds Ähnlich wie die Analyse im chinesischen Fallbeispiel wird zuerst ein Blick auf das Titelbild und die sprachlichen Konstruktionen auf diesem Titelbild geworfen. Das Titelbild erscheint auf einem durchgängigen grünen Hintergrund und lässt sich von oben nach unten in drei Teile eingliedern. Im oberen Teil sieht man eine rotfarbige Gabel. Im mittleren Teil wird eine aus Spagetti (in Gelb) geformte Schlinge dargestellt. Unten am Titelbild werden die Überschrift in größerer Schriftgröße bzw. der Untertitel in kleinerer Schriftgröße in weißer Farbe präsentiert. Abb. 27: Titelbild “Ciao amore! ” (Quelle: Der Spiegel, Nr.-23/ 2018) 7.3 Fallbeispiel 2: Ciao amore! Italien zerstört sich selbst - und reißt Europa mit 353 <?page no="354"?> Die Gabel wird üblicherweise als ein wichtiger Bestandteil des Bestecks in der westlichen Esskultur angesehen. Insofern kann die Gabel als symbolische Be‐ deutung zum Beispiel „westliche Kultur“ oder „westliche Staaten“ ausdrücken. Mit den dünnen Nudeln und der Überschrift im Italienischen „Ciao amore! “ wird diese westliche Kultur bzw. der westliche Staat spezifiziert bzw. identifiziert. Spagetti dient hier als ein Symbol der italienischen Esskultur und die italienische Überschrift deutet auf das betroffene Land in diesem Artikel. Darüber hinaus gibt die Zusammensetzung von Farben (Weiß, Grün, Rot) Auskunft über das zu besprechende Land im Leitartikel, weil die italienische Nationalflagge ebenfalls aus denselben drei Farben besteht. In der Regel ist eine Gabel im Alltagsleben meistens aus Silber. Eine rote Gabel gehört nicht zum Prototyp der Gabel. Jedoch kann die Farbzusammensetzung eine Erklärung liefern, warum hier die prototypische Farbe einer Gabel abweichend ausgewählt wurde. Anders wäre es nicht möglich, durch dieselbe Farbsetzung den Staat Italien metonymisch zu veranschaulichen. Die durch gelbe Spagetti gekreiste Schlinge kann in zweierlei Hinsicht beschrieben werden. Zum einen kann eine Schlinge in der Selbstmordpraxis genutzt werden. Zum anderen kann sie in der alten Hinrichtungsart zum Einsatz gebracht werden. Ob es sich hier symbolhaft um Selbstmord oder Hinrichtung handelt, muss mit den sprachlichen Konstruktionen in der Überschrift bzw. der Unterschrift zusammen betrachtet werden. Dies bildet die Aufgabe der nächsten Analysedimension. Die sprachlichen Konstruktionen „Ciao amore! Italien zerstört sich selbst - und reißt Europa mit“ geben Hinweise darauf, dass die im Titelbild dargestellte Schlinge als Selbstmordsversuch Italiens interpretiert werden muss. Besonders die gedoppelt reflexive Verbkonstruktion „sich selbst zerstören“ bestätigt bzw. verstärkt den italienischen Selbstmordversuch. In diesem Sinne kann die Leser‐ schaft bereits erwarten, dass die Grundstimmung dieser Titelstory eher kritisch gegen das aktuelle politische Verhalten Italiens ist. So hat das Titelbild eine Pref‐ raming-Funktion erfüllt und den möglichen italien-kritischen Deutungsrahmen impliziert. 7.3.2 Analyse der idiomatischen Konstruktionen Ähnlich wie in Kapitel 7.2.2 wird nun die Analyse der verwendeten idiomati‐ schen Konstruktionen in den deutschen ausgewählten Titelgeschichten durch‐ geführt. Ausgewählt wurden insgesamt drei idiomatische Konstruktionen aus den beiden Titelgeschichten, die jeweils unterschiedliche Kategorien von Bewe‐ gungsverben enthalten (bringen, kommen und stehen). Die jeweilige Analyse der 354 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="355"?> idiomatischen Konstruktionen verläuft gemäß dem Verfahren im Chinesischen, sodass das Einzelergebnis der Analyse dementsprechend anhand einer mehrdi‐ mensionalen und deskriptiven Tabelle präsentiert wird. Abkürzungen: S = Satz P = Prosodie SeR = Semantische Rolle SyR = Syntaktische Rolle VS = Verwendungsszenario - - S In Rom bringen Populisten das europäi‐ sche Projekt ernsthaft in Gefahr. P - zweisilbig - - - zweisilbig SyR Adverbial Ort Prädikat 1 Subjekt Objekt Adverbial Prädikat 2 SeR Lokativ Hand‐ lung 1 Handlungs‐ träger 1 Handlungs‐ gegenstand - Hand‐ lung 2 VS Kritik am Aufleben des Populismus in Italien und Warnung für die EU Tab. 77: Idiomatische Konstruktionsanalyse 8 Die oben aufgeführte idiomatische Konstruktion hat ein strukturelles Muster „X bringen Y in Z“. In dieser idiomatischen Konstruktion übernimmt die Stelle X die semantische Rolle des Handlungsträgers, während die Stelle Y sich auf das Akkusativobjekt bezieht und die semantische Rolle des Handlungsgegenstands einnimmt. Die Stelle hinter der Präposition „in“ wird von unterschiedlichen Substantiven besetzt. Die folgende Abbildung zeigt, welche Substantive am häufigsten die variable Stelle von Z besetzen können, wie viele der Silben Substantive haben und wie viele Belege dieser Konstruktionskombination in Referenz-und Zeitungskorpora von DWDS zu finden sind: 7.3 Fallbeispiel 2: Ciao amore! Italien zerstört sich selbst - und reißt Europa mit 355 <?page no="356"?> Abb. 28: bringen + Y + in + Substantive-Konstruktionen Die idiomatische Konstruktion hat eine implizierte Konstruktionsbedeutung, die den Zustand des Handlungsgegenstands (also die Y-Stellen) durch die Hand‐ lung des Bringens verändert. Der neue Zustand des Handlungsgegenstands wird an der variablen Stelle von Z ausgedrückt. Zum Beispiel wird der Zustand des europäischen Projekts durch die Handlung der Populisten verändert. Der neue Zustand des europäischen Projekts ist gefährdet, da die Populisten durch ihre Handlung den Handlungsgegenstand in Gefahr bringen. Man kann diese Konstruktionsbedeutung der Zustandsänderung des Handlungsgegenstands auch in anderen Konstruktionsvariationen beobachten: 1. etwas in Ordnung bringen → etwas ist ordentlich 2. etwas in Fahrt bringen → etwas ist fahrbereit 3. etwas in Fluss bringen → etwas ist im Fluss 356 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="357"?> Mit dieser idiomatischen Konstruktion wird somit eine implizite Kritik am Aufleben des Populismus in Italien geäußert und somit ein Warnungssignal für die EU gesendet, weil der Zustand des sicheren und stabilen Europas durch die Handlung des populistischen Handlungsträgers gefährdet wird. Darüber hinaus ist interessant zu betrachten, welcher mögliche Zusammen‐ hang zwischen der Silbenanzahl des Handlungsverbs und der Silbenanzahl der Filler an der Stelle Z in dieser idiomatischen Konstruktion besteht. Die nachstehende Tabelle dokumentiert die häufigsten Kombinationen: bringen (zweisilbiges Handlungsverb) einsilbige Filler Fahrt (146), Fluss (104), Gang (1509), Schwung (682) zweisilbige Filler Ansatz (77), Anschlag (407), Gefahr (1219), Harnisch (173), Ordnung (1973), Wallung (189) dreisilbige Filler Anwendung (478), Erfahrung (1253), Si‐ cherheit (4491) Tab. 78: bringen und die Silbenanzahl der Filler Aus der obigen Tabelle ist ersichtlich, dass die zweisilbigen Filler an der Stelle Z am häufigsten vorkommen. Die einsilbigen bzw. dreisilbigen Filler besetzen fast gleichmäßig die Stelle Z in der idiomatischen Konstruktion „X bringen Y in Z“. Die idiomatische Konstruktion „X kommen in Y“ drückt eine Tätigkeit aus, indem die X-Stelle eine gegenstandsbezogene semantische Rolle des Sub‐ jekts eines Tätigkeitsprädikats übernimmt. Diese Tätigkeitsverbkonstruktion hebt besonders den Aspekt hervor, dass der Tätigkeitsträger ohne zusätzliche Treibkraft von außen eigenaktiv ist. Zum Beispiel können die folgenden fettge‐ druckten Konstruktionen auch die Rolle der Tätigkeit einnehmen: (1) Thomas schreit laut in der Nacht. (2) Sie kam nach einem langen Tag endlich nach Hause. (3) Der Verkehrslärm machte die Kinder schlaflos. 7.3 Fallbeispiel 2: Ciao amore! Italien zerstört sich selbst - und reißt Europa mit 357 <?page no="358"?> S Taumelt dieses Land, kommt die gesamte europäische Architektur ins Wanken. P - - einsilbig - zweisilbig SyR - - Prädikat 1 Subjekt Prädikat 2 SeR - - Tätigkeit 1 Tätigkeitsträger Tätigkeit 2 VS Die Italienkrise würde die Stabilität Europas stark beeinträchtigen Tab. 79: Idiomatische Konstruktionsanalyse 9 Die Filler der variablen Stelle Y können auch dieselbe satzsemantische Be‐ deutung zur Sprache bringen, wenn die Filler die aus Verben abgeleiteten Substantive sind. Hier sind ein paar Beispiele dafür: 1. fahren: etwas kommt in Fahrt → etwas fährt 2. gehen: etwas kommt in Gang → etwas geht 3. betrachten: etwas kommt in Betracht → etwas wird betrachtet 4. ordnen: etwas kommt in Ordnung → etwas wird geordnet Die nachstehende Tabelle zeigt wiederum die Silbenanzahl der Filler für die Stelle Y in dieser idiomatischen Konstruktion auf. Hier sieht man, dass die einsilbigen bzw. zweisilbigen Filler bevorzugt nach dem zweisilbigen Tätigkeits‐ verb „kommen“ auftreten, während nur zwei dreisilbige Konstruktionen in die variable Stelle Y eingebettet werden können: kommen (zweisilbiges Tätigkeitsverb) einsilbige Filler Fahrt (511), Fluss (134), Gang (2388), Gleis (4), Lot (38), Sinn (1620) zweisilbige Filler Betracht (2978), Harnisch (4), Kehle (4), Kreide (2), Ordnung (172), Pötte (10), Pu‐ schen (27), Quere (884) dreisilbige Filler Gedränge (34), Schlusslinie (8) Tab. 80: kommen und die Silbenanzahl der Filler In dieser idiomatischen Konstruktion „das europäische Projekt kommt ins Wanken“ spielt die Architektur-Metapher eine bedeutende Rolle. Hierbei wird das geopolitische Europa als ein Bauprojekt oder ein Haus in anderen Textstellen konzeptualisiert. Italien ist aufgrund seiner historischen Bedeutung für die Etablierung der EU ein Stützpfeiler oder ein Grundstein dieses Bauprojekts. 358 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="359"?> So unterstützt diese Metapher auch die kontextuelle Argumentation in der Titelgeschichte. Die idiomatische Konstruktion „X stehen unter Y“ drückt einen Zustand des betroffenen Zustandsträger X aus. In dieser Konstruktion spielt die UNTEN-IST-UNTER-DRUCK-GESETZT-Metapher eine wichtige Rolle in Bezug auf die Konstruktionsbedeutung. Die variable Stelle von Y kann auch von drei Kategorien der Filler besetzt werden. Die Tabelle unten zeigt wieder auf, dass die einsilbigen und die zweisilbigen Filler häufig in die Konstruktion integriert werden können: S Macron steht auch innenpolitisch unter Druck. P - einsilbig - einsilbig SyR Subjekt Prädikat 1 Adverbial Prädikat 2 SeR Zustandsträger Zustand 1 - Zustand 2 VS In Frankreich drängt Macron weiter auf die einzige Lösung, die er für nach‐ haltig hält: eine grundsätzliche Reform der EU. Tab. 81: Idiomatische Konstruktionsanalyse 10 stehen (zweisilbiges Tätigkeitsverb) einsilbige Filler Dampf (38), Druck (760), Strom (64) zweisilbige Filler Beschuss (47), Fuchtel (3), Waffen (36), Wasser (368) dreisilbige Filler Alkohol (11) Tab. 82: stehen und die Silbenanzahl der Filler 7.3.3 Text bzw. Diskursanalyse Wie bereits eingangs kurz vorgestellt, besteht diese Titelstory aus zwei Titelge‐ schichten. Die längere Titelgeschichte ist ein Produkt des kollektiven Schaffens von 14 Journalistinnen sowie Journalisten. Thematisiert wurde in der ersten Titelgeschichte der Anti-Euro-Kurs der aktuellen italienischen Regierung unter der Führung des 45-jährigen Anführers der rechtsnationalen Lega, Matteo Sal‐ vini, wobei die anderen wirtschaftlich, gesellschaftlich oder politisch relevanten Themen wie Finanzkrise und riesige Staatsverschuldung Italiens, die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit sowie drastische regionale ökosoziale Unterschiede in Italien, der von Trump aufgezwungene Handelskrieg in EU und das Aufleben 7.3 Fallbeispiel 2: Ciao amore! Italien zerstört sich selbst - und reißt Europa mit 359 <?page no="360"?> des Nationalismus sowie Populismus in Europa ebenfalls behandelt wurden. Außerdem deutet der Titel im Italienischen „La tragedia“ (Die Tragödie) auf die derzeitige Krise in Italien hin. Die zweite Titelgeschichte, verfasst von einem politikwissenschaftlichen Professor im Essay-Format, nimmt ebenfalls Bezug auf die derzeitige Krise in Italien. Er geht davon aus, dass die Krise in Italien nur mit der Hilfe von Deutschland zu bewältigen ist, um ein stabiles Europa zu gewährleisten. Zudem ist der Professor der Meinung, dass die derzeitigen Herausforderungen dringend zeitig überwunden werden müssen, weil die Krise in Italien über ein riesiges Zer‐ störungspotenzial verfügt und somit die Entwicklung Gesamteuropas durchaus stark beeinträchtigen kann. - 7.3.3.1 Metaphern, Frames und Argumentation In den beiden Titelgeschichten sind die folgenden sieben Kategorien von Me‐ taphern zu finden: Reisemetaphern, Theatermetaphern, Freizeitbeschäftigungs‐ metaphern, Kriegsmetaphern, Architekturmetaphern, Krankheitsmetaphern und Naturkatastrophe-Metaphern. Im Folgenden wird auf jede Einzelkategorie der Metaphern eingegangen, wobei der Zusammenhang zwischen Metaphern, Frames und Argumentation im Text ebenfalls behandelt wird. 1. Reisemetaphern Reisemetaphern sind eine der zentralen und die häufigste verwendete Kategorie der Metaphern in den beiden Titelgeschichten. Breits direkt unter dem Titel „La tragedia“ findet sich die erste Reisemetapher: Im Rom bringen Populisten mit ihrem Anti-Euro-Kurs das europäische Projekt ernsthaft in Gefahr. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) Die Konstruktion „Anti-Euro-Kurs“ und die Konstruktion „Populisten bringen das europäische Projekt in Gefahr“ werden zusammen in ein Reiseframe einge‐ bettet. Die letzte Konstruktion weist darauf hin, dass die Populisten in dieser Reise eine führende Position einnehmen, weil „Populisten“ die semantische Rolle eines Handlungsträgers übernehmen und einen Anti-Euro-Weg auf dieser Reise einschlagen. Hier bemerkt man auch, dass die Handlungsträger in Plu‐ ralform auftreten. Dies impliziert, dass mehrere stellvertretende Populisten, populistische Interessengruppen oder der Populismus in Italien bzw. Europa insgesamt im kommenden Text wahrscheinlich vorgestellt werden. Diese Ver‐ mutung wird gleich im ersten Abschnitt des Textes bestätigt, in dem der erste Handlungsträger, der sich für einen Anti-Euro-Kurs während dieser Reise entscheidet, zum Gegenstand der Darstellung gemacht wird: 360 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="361"?> Matteo Salvini, 45, Anführer der rechtsnationalen Lega, hat seit Jahren immer wieder angekündigt, dass Italien unter seiner Führung den Euro verlassen werde (…) (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) Hier ist die Reisemetapher durch die Präpositionalkonstruktion „unter seiner Führung“ deutlich spürbar. Der 45-jährige Salvini spielt die Reiseführer-Rolle und möchte eine Reise ohne Euro machen. Bei der Einwort-Konstruktion „Euro“ handelt es sich um einen metonymischen Gebrauch. Diese Konstruktion bezieht sich hierbei nicht auf eine konkrete Währungseinheit wie US-Dollar, Schweizer Franken, Russischer Rubel oder Chinesischer Renminbi. An dieser Stelle kann die Konstruktion so gedeutet werden, dass Herr Salvini mit seiner rechtsnationalen Politik das geopolitische und wirtschaftliche Europa aufgeben und einen eigenen Weg für Italien ebnen möchte. Neben Salvini gebe es in der italienischen politischen Geschichte auch noch weitere wichtige Figuren, die maßgeblich den heutigen Populismus in Italien geprägt haben. Silvio Berlusconi, der viermal zum Ministerpräsidenten Italien ausgewählt worden ist, gehört zu diesen leitenden Figuren im Bereich der Politik: Es ist einer von ihnen, Silvio Berlusconi, der den heutigen Populisten den Weg geebnet hat (…) (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) Die hier verwendete Konstruktion „jemanden den Weg ebnen“ ist mit der Reisemetapher semantisch kohärent. Zudem gibt die anschauliche Weg-Meta‐ pher-Konstruktion Auskunft darüber, dass der Populismus oder der Aufstieg des Populismus in Italien auf die ausgelotete Historizität zurückzuführen ist. Metaphorisch ausgedrückt beginnt die populistische Reise in Italien bereits in den Neunzigern. Während einer Reise liegen unterschiedliche Wege vor den Reisenden. Den richtigen Weg während einer Reise einzuschlagen ist besonders wichtig, weil eine schlechte Entscheidung die Reisenden leicht in (Lebens)Gefahr bringen kann. Dies gilt auch für die politische Reise eines Staates. In der Eröffnungs‐ rede der OECD-Ministerkonferenz bringt Emmanuel Macron zum Beispiel die folgende Scheideweg-Metapher zur Sprache: (…) „Wir befinden uns an einem Wendepunkt unserer Geschichte.“ (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) Bis jetzt werden vier zentrale Reisemetaphern aus der ersten Titelgeschichte angesprochen. Die Einführung der Reisemetaphern am Anfang des Texts setzt die Politiker und ihre politischen wegweisenden Entscheidungen in einen Reisedeutungsrahmen. Die führenden Politiker, egal ob in Geschichte oder Gegenwart, sind die Reiseführer einer staatlichen Entwicklungsreise. Die ver‐ 7.3 Fallbeispiel 2: Ciao amore! Italien zerstört sich selbst - und reißt Europa mit 361 <?page no="362"?> schiedenen Entscheidungen, die von den Politikern getroffen werden, sind unterschiedliche Wege auf dieser Reise. Die früheren Politiker können zum Beispiel Wege durch ihren politischen Einfluss für die nächste Generation ebnen und das Ziel dieser Reise bestimmen. Dementsprechend ist es besonders wichtig, immer am Scheideweg eine richtige Entscheidung zu treffen bzw. einen ver‐ nünftigen Weg auszuwählen. So wird die Entfaltung der Argumentation durch die verschiedenen Reisemetaphern in der ersten Titelgeschichte unterstützt. Man findet auch reisemetaphorische Anwendungen in der zweiten Titelge‐ schichte. Folgend wird thematisiert, wie die Reisemetaphern dort eingesetzt werden. Der Autor der zweiten Titelgeschichte argumentiert zunächst, dass die derzeitige Krise in Italien unbedingt bewältigt werden muss und eine neue Rettungsmethode erfunden werden muss, um Italien zu helfen. Wie die neue Rettungsmethode aussieht, erläutert er wie folgt: Nötig sind politisch klar festgelegte Schritte, um Zug um Zug die wirtschaftliche Stabilität Italiens zu sichern und so den Nährboden für politische Reformen im Land zu schaffen, den eine Regierung dann aber auch bestellen muss. (Hervorhe‐ bung von BZ, Der Spiegel, 23/ 2018: Noch ist Zeit, aber nicht mehr viel) Die Konstruktion „klar festgelegte Schritte“ weist darauf hin, dass die italieni‐ sche Regierung als Reiseführerin eines Staats einen klaren Reiseplan entwickeln muss. Die darauffolgende Konstruktion „Zug um Zug“ deutet an, dass der Weg zur wirtschaftlichen Stabilität Italiens nicht über Nacht gesichert werden und die Regierung nur allmählich die Reise in einen richtigen und langfristigen Entwicklungsweg führen kann. Nur so kann ein gesicherter Nährboden für politische Reformen in Italien geschaffen werden. Natürlich gibt es während einer Reise viele Mitreisende. Die anderen EU-Staaten sind zum Beispiel die Mitreisenden von Italien. Es ist wichtig, sich mit den Mitreisenden auf eine gemeinsame Richtung der Reise zu einigen. Der Autor ist der Ansicht, dass die italienische Regierung nun in eine heikle Situation während dieser Reise geraten ist. Der Ausgangspunkt ist die mehrheitliche Entscheidung des italienischen Volks in der Parlamentswahl am 4. März 2018 für die Abkehr vom Sparkurs, den die europäischen Mitreisenden für Italien eingeschlagen haben. Diese Entscheidung führt aktuell zu immer größerem Misstrauen gegenüber den Mitreisenden Italiens, nämlich Europa. Jedoch wird Italien eine innenpolitische Krise erleben, falls die italienische Regierung gegen das Votum des Volks weiter den Sparkurs führt: Seit die Mehrheit im Parlament für die Abkehr vom Sparkurs steht, lassen sich die Optionen der italienischen Politik auf eine einfache Formel bringen: entweder weiter sparen - gegen den Wunsch der politischen Mehrheit, mit der Folge einer immer 362 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="363"?> tieferen Krise der italienischen Politik und immer größerem Misstrauen gegenüber Europa. (Der Spiegel, 23/ 2018: Noch ist Zeit, aber nicht mehr viel) Diese schwierige Situation Italiens bzw. die Zwickmühlen-Metapher wird im letzten Abschnitt der zweiten Titelgeschichte nochmals aufgegriffen. Die Lö‐ sungsansätze dieser heiklen Situation werden in einer Weg-Metapher konzipiert: Jeder Lösungsweg für Italien wird kompliziert sein und damit angreifbar für populistische Vereinfachungen überall auf dem Kontinent. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel, 23/ 2018: Noch ist Zeit, aber nicht mehr viel) 2. Theatermetaphern Schon im letzten Kapitel (vgl. Kap. 6.1.3) werden verschiede Theatermetaphern vorgestellt. Konstruktionen wie Nebenkriegsschauplatz, große politische Bühne, das europäische Drama, ein typisches Eurodrama, die amerikanische Tragödie oder das Gipfeltheater zählen zu den am häufigsten verwendeten Theatermetaphern im politischen Diskurs. Allein der auf Italienisch verfasste Titel der ersten Titelgeschichte „La tragedia“ (Die Tragödie) setzt den gesamten Text in einen Theater-Deutungsrahmen. An dieser Stelle ist auch nicht uninteressant anzu‐ merken, dass vor der Substantivkonstruktion ein bestimmter Artikel platziert wird. Dieser bestimmte Artikel hat hier die Funktion des Fokus und referiert somit auf eine spezifische Tragödie, nämlich die bald im Text besprochene wirtschaftliche und politische Tragödie Italiens. Am Anfang des Texts wird diese italienische Tragödie zusammen mit dem Griechenland-Drama und dem Brexit-Etscheid besprochen und bezeichnet die Tragödie in Italien, die von den Populisten ausgelöst wurde, als die nächste große Krise: Sie treiben ihr Land und Europa nach dem Griechenland-Drama und dem Brexit-Entscheid in die nächste große Krise. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) Diese Krise kann so bedeutend sein, dass sie sogar die europäische Stabilität stark beeinflussen wird, weil dies auch die Zukunft der Eurozone betrifft. Die Autorenschaft spricht in diesem Sinne von „einer italienischen Sommerposse“ und benutzt dabei zusätzlich eine Organismus-Metapher, in der der Euro als ein Lebewesen betrachtet wird: Es geht um so viel mehr als um eine italienische Sommerposse. Es geht um die Zukunft der drittgrößten Volkswirtschaft der Eurozone und vor allem um das Überleben des Euro. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) 7.3 Fallbeispiel 2: Ciao amore! Italien zerstört sich selbst - und reißt Europa mit 363 <?page no="364"?> Neben den Populisten wie Di Maio und Salvini gab es früher auch Sozialdemo‐ kraten wie Matteo Renzi, die versuchten, Italien aus der Krise zu befreien. Renzi hat wegen des Versprechens bei den Europawahlen 2014 mit einem beispielhaften Ergebnis von mehr als 40 Prozent der Stimmen gewonnen, während er einen rasanten Absturz bei den Wahlen 2018 mit weniger als 19 Prozent erleben musste. Die Autorenschaft betrachtet dies als ein Versagen der italienischen Politiker und bezeichnet das schmerzhafte Wahlergebnis von Renzi als ein politisches Drama: Er war nicht nur ein persönliches Drama für Renzi, sondern zeigt auch, dass die Italiener den Glauben an ihre Politiker endgültig verloren haben. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) Da die Sozialdemokraten wie Renzi nicht mehr auf der Bühne aktiv sind, treten nun Populisten wie Salvini auf, den die Autorenschaft als „Putin-Freund und Eurohasser, der Ausländerfeind und Mussolini-Verteidiger, der gern gegen Deutschland hetzt“, bezeichnet. Zudem wird dieser rechtspopulistische Politiker aus Italien stark negativ bewertend als „Schreckgespenst Europas“ metaphorisiert. Die Schreckgespenst-Metapher bringt zum einen eine starke Abneigung der Autorenschaft gegenüber seinem politischen Verhalten und zum anderen eine zunehmende Sorge für die europäische Stabilität sowie den Euro zur Sprache: Der Mann, der in den Tagen seit der Wahl zum wichtigsten Politiker seines Landes und zum Schreckgespenst Europas geworden ist, will jetzt ein Staatsmann werden. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) Virtuos betrieb er seinen Machtpoker, stellte sich als Opfer des Staatspräsidenten und des Establishments dar, drohte mit Neuwahlen und ließ sich am Ende dann doch auf eine Koalition mit den Fünf Sternen ein. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) Die Antwort auf die Frage, was der rechtspopulistische Aufstieg in Italien, die wirtschaftliche Tragödie oder die Flüchtlingskrise zur weiteren zukünftigen Entwicklung in Europa beitragen können, lässt sich in den folgenden drei Beispieltexten lesen: (1) (…) Früher habe sie sich „die EU immer als große Familie vorgestellt, doch so ist es nicht“. Kurz gesagt: „Die anderen spielen ein Spiel, bei dem Italien nicht dabei ist.“ (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) (2) Es ist dieses Horrorszenario, vor dem Europa sich seit Jahren fürchtet. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) 364 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="365"?> (3) Und der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber verkündete: „Das Worst-Case-Szenario wäre, dass Italien wie Griechenland zahlungsfähig wird, weil es keinen mehr gibt, der Italien Geld leiht. Dann müsste die Troika in Rom einmarschieren, den Haushalt übernehmen, das Finanzministerium übernehmen. Aber wir reden bei Italien von über zwei Billionen Euro Schulden. Das würde unsere Möglichkeiten in Europa sprengen.“ (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) Im Beispieltext (1) wird die EU metaphorisch als eine große Familie angesehen, wobei die Mitgliedstaaten der EU als die Familienmitglieder angesehen werden können. In einer harmonischen Familie gehen die Familienmitglieder freundlich und solidarisch miteinander um und sie können gemeinsam etwas unternehmen oder gegenseitig unterstützen. Nach dieser Große-Familie-Metapher wird eine Theaterspiel-Metapher oder eine Spiel-Metapher eingeführt. Die anderen Fami‐ lienmitglieder spielen zusammen, ohne das Familienmitglied Italien zu berück‐ sichtigen. In diesem Kontext wurde besonders das Flüchtlingsproblem genannt. Viele andere Mitgliedstaaten der EU haben Mauern errichtet, um die Flüchtlinge abzuwehren und sich zu schützen. Jedoch hat die EU nicht genug für Italien getan. So wird die jetzige Situation in Italien veranschaulicht und die fehlende Solidarität innerhalb der EU kritisch reflektiert. Die zweite Sorge, die die Auto‐ renschaft über die italienische Krise zum Ausdruck bringt, liegt im Staatsbankrott Italiens. Falls Salvini und Di Maio wie angekündigt den Plan mit den Mehraus‐ gaben durchsetzen, betragen die italienischen Staatsschulden dann mehr als zwei Billionen Euro. Italien könnte somit sehr schnell vor dem Staatsbankrott stehen und wäre nicht mehr zu retten, wenn die Europäische Zentralbank keine italienischen Staatsanleihen mehr kaufen dürfen würde. Diese Szene wird von der Autorenschaft als ein Horrorszenario metaphorisiert. Auch im dritten Beispieltext ist von diesem Horrorszenario der Rede. In der Verkündung des CSU-Europaabgeordneten Markus Ferber werden neben der Horrorszenario-Me‐ tapher weitere Metaphern aus dem militärischen Bereich eingeführt. Die im Umgang mit der griechischen Staatsschuldenkrise eingerichtete Troika, die eine engere Kooperation von Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungs‐ fonds und Europäischer Kommission ermöglicht, wird hier als eine militärische Truppe konzeptualisiert, die in Rom einmarschiert und den italienischen Haushalt sowie das Finanzministerium übernehmen könnte. Der Einmarsch sowie die Übernahme der Troika sind hierbei mit dem institutionellen Eingriff der EU in Italien gleichzusetzen, wobei die Konstruktion „Rom“ Italien metonymisch ausdrückt (Teil-Ganze-Relation: Die Hauptstadt Italiens steht für Italien). 7.3 Fallbeispiel 2: Ciao amore! Italien zerstört sich selbst - und reißt Europa mit 365 <?page no="366"?> Durch die obige ausführliche Analyse der Metaphern in den drei Beispiel‐ texten ist ersichtlich, dass die Autorenschaft zumindest drei wichtige Sorgen hinsichtlich der derzeitigen Krise in Italien äußert: 1. Diese Krise kann sich langfristig negativ auf die harmonische und solida‐ rische Stimmung innerhalb der EU-Familie auswirken; 2. Die Krise kann unter der Führung der Populisten zu einer neuen Schulden‐ krise führen, was möglicherweise den Staatsbankrott auslösen kann; 3. Die Krise kann im schlechtesten Fall eine drastische Staatsschuldenkrise wie damals in Griechenland herbeiführen und verlangt einen institutio‐ nellen Eingriff auf der EU-Ebene. 3. Kriegsmetaphern Durch die Verwendung der Reise- und Theatermetaphern werden viele Her‐ ausforderungen in Italien besprochen. Die Autorenschaft nimmt bei der Argu‐ mentation nicht nur Bezug auf die innenpolitischen sowie die wirtschaftlichen Herausforderungen in Italien. Zum Beispiel berücksichtigt sie auch den inter‐ nationalen Aspekt und geht davon aus, dass die internationalen Rahmenbedin‐ gungen leider nicht besonders ideal für die Rettung Italiens sind, indem sie den Handelsstreit, der von Trump entfesselt wurde, als eine Kriegsführung konzeptualisieren: (1) Trump zwingt Europa einen Handelskrieg auf, mehr noch, er droht all jene Regeln außer Kraft zu setzen, mit denen die Europäer ihren Platz in der Welt gefunden hatten, den Handel in der WTO, die Sicherheit in der Nato. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) (2) Doch wie soll die EU in einen Handelskrieg ziehen, wenn Italien ins Chaos abzugleiten droht? (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) 4. Architekturmetaphern Um die besonders auffällige Position Italiens in der EU zu veranschaulichen, wird eine Reihe von Architekturmetaphern an den entsprechenden Textstellen vorgestellt: (1) Nun also Italien, Gründungsstaat der EU, Stützpfeiler der Nato und dritt‐ größte Volkswirtschaft der Eurozone? Taumelt dieses Land, kommt die gesamte europäische Architektur ins Wanken. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) 366 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="367"?> (2) Was hält Europa zusammen, wenn dieses Fundament erschüttert wird? (Her‐ vorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) (3) In Rom wurde vor gut 60 Jahren der Grundstein für die politische Integration Europas gelegt. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel, 23/ 2018: Noch ist Zeit, aber nicht mehr viel) Historisch gesehen spielt Italien eine besonders wichtige Rolle bezüglich der Gründung der EU. Besonders im Beispieltext (3) wird auf die Unterzeichnung der Römischen Verträge von Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden am 25. März 1957 in Rom referiert. In den Verträgen wurden der freie Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr vereinbart. Durch die Unterzeichnung dieser Reihe von Verträgen wurden die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atom‐ gemeinschaft (EURATOM) gegründet, was zugleich als Gründungsdatum der EU angesehen wird. Metaphorisch betrachtet bildet Italien also ein wichtiges Fundament des EU-Hauses. Die Fundament-Metapher betont hier die Notwen‐ digkeit der Rettung und verdeutlicht auf diese Weise, dass das Europa-Haus abstürzen würde, wenn man nicht darauf reagieren würde. Wie bereits in den letzten drei verwendeten Kategorien der Metaphern thematisiert, zählt die Darstellung der italienischen wirtschaftlichen Rückstän‐ digkeit sowie Krisensituation zu einer der zentralen Aspekte bei der Argumen‐ tationsentfaltung in den beiden Titelgeschichten. Um die Ernsthaftigkeit der wirtschaftlichen Krisensituation in Italien zu verdeutlichen, werden nachste‐ hend die Armenhaus-Metapher und die Schuldenberg-Metapher aufgebaut: (1) Um die italienische Krise zu verstehen, um zu verstehen, weshalb die Populisten inzwischen einen derartigen Erfolg haben, reicht es nicht, auf Rom zu blicken. Besser, man geht dahin, wo Italien fast schon zu Ende ist, nach Sizilien, in das Armenhaus des Landes. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) (2) Italien braucht mehr Wachstum, um den Schuldenberg abbauen zu können. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel, 23/ 2018: Noch ist Zeit, aber nicht mehr viel) Obwohl die beiden Metaphern sich im Bereich der Architektur befinden, haben sie unterschiedliche argumentative Funktionen in den beiden Titelgeschichten. Italien sei nach Meinung der Autorenschaft ein tief gespaltetes Land, „wo der Süden dem Maghreb gleicht und der Norden zu den reichsten Regionen Europas zählt“ (Der Spiegel, 23/ 2018: La tragedia, S. 15). Sizilien ist zum Bei‐ spiel besonders von der Korruption, der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit sowie der wesentlich schlechteren Wirtschaftsleistung im Vergleich zu den 7.3 Fallbeispiel 2: Ciao amore! Italien zerstört sich selbst - und reißt Europa mit 367 <?page no="368"?> norditalienischen Regionen (im Durchschnitt im Süden: 18600 Euro, im Norden: 34000 Euro) betroffen. Die Armenhaus-Metapher verdeutlichtet die schwierige Wirtschaftssituation im Süden Italiens und deutet zugleich darauf hin, dass die abgeschwächte Wirtschaftskraft im Süden eine breite Akzeptanz der nationa‐ listischen sowie protektionistischen Politik ermöglicht, die von den Populisten getrieben wird. Mit dieser Schuldenberg-Metapher konkretisiert der Autor der zweiten Titelgeschichte die Staatsverschuldung Italiens, die er vor zwei Paragrafen mit Statistiken wie folgt argumentiert: Italien hat den mit 2,3 Billionen Euro höchsten Schuldenstand und die aktuelle wohl niedrigste Wachstumsrate in der gesamten Europäischen Union. Jeder dritte junge Italiener ist arbeitslos. (Der Spiegel, 23/ 2018: Noch ist Zeit, aber nicht mehr viel) Die beiden Titelgeschichten machen jeweils an unterschiedlichen Stellen einen gemeinsamen Vorschlag, der besagt, dass eine funktionsfähige und zukunftswei‐ sende Rolle Italiens in der EU und der Eurozone nur gespielt werden kann, wenn das Aufleben des Rechtspopulismus und Nationalismus in Italien abgehalten wird. In der ersten Titelgeschichte wird neben der Konstruktion „ein Hort der Vernunft“ (Architekturmetapher) noch eine Kriegsmetapher („ein Bollwerk“) eingesetzt, während die Eurozone als ein Haus in der zweiten Titelgeschichte konzipiert wird: (1) Eine Welt also, in der EU ein Bollwerk sein müsste, ein Hort der Vernunft. Aber diese Rolle kann eine EU nicht spielen, in der künftig Männer wie Salvini den Ton angeben. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) (2) Wenn sich Europa aus Angst vor dem Populismus allerdings davon abhalten lässt, die richtigen Lösungen zu suchen, dann ist der Zusammenbruch des Euro unabwendbar. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel, 23/ 2018: Noch ist Zeit, aber nicht mehr viel) 5. Krankheitsmetaphern Smart, rotzig und entschlossen, den Symptomen der italienischen Krankheit rücksichtslos zu Leibe zu rücken: der Korruption, der Vetternwirtschaft, der überbor‐ denden Bürokratie und Gerontokratie. Es war, als wäre in einem lange nicht mehr gelüfteten Zimmer urplötzlich ein Fenster aufgerissen worden. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel 23/ 2018: La tragedia) In der Kategorie der Theatermetaphern wird bereits der bittere Absturz Renzis bei den Europawahlen behandelt. Dabei wurde kurz erwähnt, dass der Sozi‐ aldemokrat Matteo Renzi den Wählern versprach, Italien aufzuräumen. Die oben aufgeführte Krankheitsmetapher verdeutlicht die zentralen Probleme 368 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="369"?> in der italienischen Gesellschaft: die Korruption, die Vetternwirtschaft, die überbordende Bürokratie und Gerontokratie. Im Anschluss an die Krankheits‐ symptom-Metapher wird zusätzlich eine Satzkonstruktion im Konjunktiv II vorgeführt. Die Plötzlich-Aufgerissenes-Fenster-Metapher bringt die damals positive Einstellung gegenüber der Kandidatur Renzis zum Ausdruck und den Nimbus seine versprochene Politik wäre frische Luft für den stark kranken Staat Italien. Das Wort „Krise“ stammt ursprünglich aus dem Bereich der Medizin und bezeichnet einen „kritischen Wendepunkt bei einem Krankheitsverlauf “ (Duden-Online, letzter Zugriff: 19.11.2021). Abgeleitet davon gewinnt dieses Wort die semantische Bedeutung, dass eine Situation besonders schwierig bzw. kritisch ist. Die Spuren dieser abgeleiteten metaphorischen Bedeutung lassen sich beispielsweise in zahlreichen Konstruktionen ausfindig machen, die eben‐ falls häufig in unterschiedlichen Medientexten auftreten: Golfkrise, Weltwirt‐ schaftskrise, Finanzkrise, Hungerkrise, Grundlagenkrise, Investitionskrise, Geld‐ krise, Dauerkrise, Energiekrise, Ölkrise, Transformationskrise und Bankenkrise. In der zweiten Titelgeschichte finden sich ebenfalls diese Krisenmetaphern: (1) Gefährlich an der außer Kontrolle geratenen Situation ist nicht nur die mögliche Rückkehr der Eurokrise mit weitreichenden Konsequenzen für Wachstum und Wohlstand, sondern auch die neue toxische Atmosphäre des Misstrauens europäischer Länder und Bürger untereinander. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel, 23/ 2018: Noch ist Zeit, aber nicht mehr viel) (2) Ein Austritt Italiens aus dem Euro würde ganz Europa in eine noch viel tiefere Krise reißen, als sie gerade hinter uns liegt. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel, 23/ 2018: Noch ist Zeit, aber nicht mehr viel) Der Autor der zweiten Titelgeschichte geht davon aus, dass die derzeitige Krise in der italienischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ein noch grö‐ ßeres Zerstörungspotenzial als der Brexit darstellen kann, das Europa in einer nachhaltigen Art und Weise beschädigt. Zudem ist zu bemerken, dass die Konstruktion „die neue toxische Atmosphäre des Misstrauens“ ebenfalls einen Krankheitsdeutungsrahmen aktivieren kann, indem das Misstrauen unter den Staaten und den Leuten in der EU als Toxikum aufgefasst wird. 6. Naturkatastrophe-Metaphern Um die Notwendigkeit der Hilfe für Italien sowie die Dringlichkeit der Rettung nochmals zu bekräftigen, leitet der Autor der zweiten Titelgeschichte im letzten Abschnitt eine Sturm-Metapher in die abschließende Diskussion ein. Mit dieser 7.3 Fallbeispiel 2: Ciao amore! Italien zerstört sich selbst - und reißt Europa mit 369 <?page no="370"?> Sturm-Metapher wird ein Naturkatastrophe-Frame hervorgerufen. Um unnö‐ tige Schäden zu vermeiden und nicht vom Zerstörungspotenzial des Sturms ge‐ troffen zu werden, sollen dementsprechend vorzeitig Vorkehrungsmaßnahmen ergriffen werden. Übertragen auf den italienischen Fall, sollen Deutschland bzw. die EU zum Beispiel ein sicheres und vernünftiges Rettungspaket für Italien vorbereiten. Nur so kann diese Naturkatastrophe vermieden werden: In Italien zieht ein Sturm herauf, dessen Zerstörungspotenzial groß sein kann. Deutschland und Europa sind darauf nicht vorbereitet, weder politisch noch institutio‐ nell. (Hervorhebung von BZ, Der Spiegel, 23/ 2018: Noch ist Zeit, aber nicht mehr viel) - 7.3.3.2 Interaktion der Metaphern und Frames im Diskurs Im letzten Kapitel werden die sechs zentralen metaphorischen Kategorien, die eine deutlich spürbare Anwendung in den beiden Titelgeschichten finden, vor‐ gestellt. Man sieht, dass die eingesetzten Metaphern zugunsten der Argumenta‐ tion und der pragmatischen Ziele unterschiedliche Frames hervorrufen können. Das vorliegende Unterkapitel versucht, die Beziehung zwischen Metaphern und Frames in einem relativ überschaubaren Diskurs, in dem die Titelstory themati‐ siert wird, zu untersuchen. Wichtig zu überprüfen ist, wie die Metaphern und die durch Metaphern aktivierten Deutungsrahmen interaktional zusammenhängen und wie diese Interaktion den Diskurs gestaltet. Als Erinnerung werden in der folgenden Tabelle zuerst die für die Entfaltung der Argumentation zentralen Metaphern sowie die metaphorischen Konstruktionen in den beiden deutschen Titelgeschichten zusammenfassend dargelegt: Text Metaphern Metaphorische Konstruktionen La tragedia Reisemetaphern • Anti-Euro-Kurs • unter seiner Führung den Euro verlassen • den heutigen Populisten den Weg ebnen • sich an einem Wendepunkt der Geschichte befinden Theatermetaphern • Nach dem Griechenland-Drama • Schreckgespenst Europas • eine italienische Sommerposse • dieses Horrorszenario, vor dem Europa sich seit Jahren fürchtet • EU als große Familie, ein Spiel spielen • ein persönliches Drama für Renzi • Das Worst-Case-Szenario • Machtpoker • eine Rolle spielen • die politische Bühne 370 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="371"?> Text Metaphern Metaphorische Konstruktionen Kriegsmetaphern • die EU in einen Handelskrieg ziehen • Trump zwingt Europa einen Handelskrieg auf Architekturmetaphern • Gründungsstaat der EU • Stützpfeiler der Nato • die gesamte europäische Architektur • dieses Fundament • ein Bollwerk • ein Hort der Vernunft • das Armenhaus des Landes Krankheitsmetaphern • Symptomen der italienischen Krankheit Noch ist Zeit, aber nicht mehr viel Reisemetaphern • klar politisch festgelegte Schritte • Zug um Zug • Nährboden für politische Reformen schaffen • die Abkehr vom Sparkurs • Lösungsweg Architekturmetaphern • den Grundstein für die politische Integration Eu‐ ropas legen • den Schuldenberg abbauen • der Zusammenbruch des Euro Krankheitsmetaphern • die mögliche Rückkehr der Eurokrise • die neue toxische Atmosphäre des Misstrauens • in eine noch viel tiefere Krise reißen Naturkatastrophe- Metaphern • In Italien zieht ein Sturm auf Tab. 83: Die häufig verwendeten Metaphern und metaphorischen Beispielkonstrukti‐ onen in den Titelgeschichten (2) Die beiden Titelgeschichten nehmen einen sehr unterschiedlichen Textumfang in Anspruch und verfolgen verschiedene Ansätze, um die auf dem Titelbild dar‐ gestellte Italienkrise zu analysieren. Jedoch werden drei gemeinsame Kategorien der Metaphern in den beiden Titelgeschichten eingesetzt: Reisemetaphern, Architekturmetaphern und Krankheitsmetaphern. In der ersten Titelgeschichte geht es darum, dass der mögliche Zusammenbruch der Eurozone und die Erosion der gemeinsamen Werte durch die Italienkrise die zwei zentralen Herausforderungen der EU darstellen. Betrachtet man eine Krise in ihrem ursprünglichen medizinischen Sinne, ist die Italienkrise auch eine Krankheit. Eine Krankheit hat spezifische Krankheitssymptome, mit denen sie diagnostiziert werden kann (vgl. Krankheitssymptome der italienischen Krankheit). 7.3 Fallbeispiel 2: Ciao amore! Italien zerstört sich selbst - und reißt Europa mit 371 <?page no="372"?> Wie bereits in Kapitel 6 erwähnt, wird eine politische Handlung sehr häufig als eine Theateraufführung konzeptualisiert. Ein besonders auffälliges politi‐ sches Ereignis ist dementsprechend die drastische Szene in einem Theaterstück, zu der die derzeitige Italienkrise zählt. Dementsprechend nehmen die Mitglied‐ staaten in der EU verschiedene Rollen im Theaterstück ein. Die Theatermeta‐ phern finden sich durchgängig in der gesamten ersten Titelgeschichte. Auf der anderen Ebene wird statt der politischen Handlung Italiens Europa als ein stabiles Haus konzeptualisiert. In diesem Sinne gehören die Mitgliedstaaten der EU zu den Bausteinen dieses Hauses. Die Unterzeichnung der Römischen Verträge gilt als das Gründungsdatum der EU und Italien ist in diesem histori‐ schen Kontext von großer Bedeutung für die EU. Dies erklärt, warum viele Architekturmetaphern im Text eingesetzt werden. Zudem wird die staatliche Entwicklung als eine Reise unter der Führung von bedeutenden politischen Figuren konzeptualisiert. Die politischen Figuren können die staatliche Entwicklungsreise in unterschiedliche Richtungen lenken und die politischen Entscheidungen sind die Auswahl der Reisewege in einer Reise. Natürlich gibt es außer innenpolitischen und wirtschaftlichen Bedingungen andere Faktoren von außen, die die Italienkrise noch vertiefen. Die eingeführten Kriegsmetaphern im Sinne von „Handelskrieg“ sind ebenfalls Rahmenbedin‐ gungen auf der europäischen sowie der internationalen Ebene, die einen nega‐ tiven Einfluss auf die Rettung der Italienkrise ausüben werden. Die zweite Titelgeschichte bespricht einen konkreten Ansatz, um die Italien‐ krise zu retten. Die EU und Deutschland brauchen eine stabile Eurozone und ein stabiles Europa, in dem Italien ebenfalls ein Teil ist. Neue Rettungsmethoden müssen erfunden werden, um Italien zu helfen. Dazu gehören schrittweise festgelegte wirtschaftliche Pläne und politische Reformen, die hoffentlich zu einer Ablehnung des Populismus in Italien führen. In der zweiten Titelgeschichte kommen ebenfalls viele Reisemetaphern vor. Die verschiedenen Rettungsansätze sind dementsprechend unterschiedliche Wege auf dieser Rettungsreise. Darüber hinaus werden Europa und die Eurozone als Häuser metaphorisch zur Sprache gebracht. Die Italienkrise kann wegen der italienischen geopolitischen Besonderheit die wirtschaftlichen und politischen Europa-Häuser zerstören. Darüber hinaus kann das Toxikum, das sich aus dieser Krise (also vgl. Krankheitsmetaphern) ergibt, das Vertrauen unter den EU-Staaten vernichten. Die besonders auffällige Sturm-Metapher am Ende der zweiten Titelgeschichte kann als ein dringender Appell an Deutschland und die EU aufgefasst werden. Die nachstehende Abbildung 29 veranschaulicht zuerst das Thema der Titel‐ story und die wesentlichen Aspekte in den Argumentationen der beiden Titelge‐ 372 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="373"?> schichten. Die Interaktionen zwischen Metaphern, Frames und Argumentation im Diskurs werden in der Abbildung 30 dargestellt: Abb. 29: Thema der deutschen Titelstory und die wesentlichen Analyseaspekte in den Argumentationen der beiden Titelgeschichten 7.3 Fallbeispiel 2: Ciao amore! Italien zerstört sich selbst - und reißt Europa mit 373 <?page no="374"?> Abb. 30: Interaktion zwischen Metaphern und den hervorgerufenen Frames in der deutschen Titelstory 374 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="375"?> 7.3.4 Zusatzdimensionen Bis jetzt wurden die Dimensionen wie Titelbild-Konstruktion-Konstellation, idiomatische Analyse und Interaktion zwischen Metaphern und Frames in der diskursiven Argumentation ausführlich mit zahlreichen Beispielen aus der Empirie behandelt. Nun werden die bereits in der Tab. 26 angekündigten Zusatzdimensionen kurz angesprochen. Autorenschaft und Multiperspektivität: Die beiden Titelgeschichten bilden zusammen die Titelstory dieser ausgewählten Ausgabe. Die Auflistung der Autoren am Ende der ersten Titelgeschichte weist darauf hin, dass diese achtseitige Titelgeschichte ein kollektives Schreibprodukt ist. Jedoch gibt es außer dieser Namenliste keine zusätzlichen Informationen über die Autoren. Es ist auch interessant zu bemerken, dass bei Bedarf mehr Information zum Thema über einen QR-Code am Ende der ersten Titelgeschichte aufgerufen werden können. Durch das Scannen dieses QR-Codes kann ein zusätzliches Video über die Partei Lega Nord in Italien abgerufen werden. Die zweite Titelgeschichte ist hingegen ein individuelles Schreibprodukt. Außerdem gibt es speziell ein Porträtfoto des Autors sowie eine siebenzeilige biographische Vorstellung des Autors, in der man erfährt, dass dieser Beitrag aus der Hand eines politikwissen‐ schaftlichen Professors in Berlin stammt. Dieser biographische Bezug kann zum einen die Autorität des relevanten Fachbereichs hervorheben und zum anderen die Argumentation dahingehend stützen, dass ein Fachmann den Sachverhalt analysiert, der sich auf seinen Forschungsbereich bezieht. Zudem bringen die beiden Titelgeschichten trotz des gleichen Themenbezugs der Leserschaft unterschiedliche Perspektiven in der Darstellung sowie der Analyse mit. Die erste Titelgeschichte konzentriert sich hauptsächlich auf die Darstellung der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Probleme Italiens und dies wird in einem außergewöhnlich ausführlichen Ausmaß mit‐ hilfe von verschiedenen Diagrammen, politischen Fakten oder wirtschaftlichen Statistiken vorgestellt. Die zweite Titelgeschichte stellt direkt am Anfang die These auf, dass Italien nur mit Hilfe von Deutschland die derzeitige Krise bewältigen kann und Deutschland Italien retten muss, um ein stabiles Europa zu sichern. Textsorte, Textlänge und Verwendung der Metaphern: Schon in der Textbzw. Diskursanalyse ist zu bemerken, dass mehr Metaphern und metaphorische Konstruktionen in der ersten als in der zweiten Titelgeschichte benutzt werden. Anscheinend haben hier der Textumfang und die Textmenge einen Einfluss auf die Verwendung der Metaphern. 7.3 Fallbeispiel 2: Ciao amore! Italien zerstört sich selbst - und reißt Europa mit 375 <?page no="376"?> Bilder und Diagramme im Diskurs der Titelstory: Bilder und Diagramme sind wichtige Instrumente der Visualisierung einer Titelgeschichte, die unter‐ schiedliche Funktionen übernehmen können. Im Folgenden werden zuerst die in der ersten Titelgeschichte verwendeten Diagramme analysiert und danach wird ein Blick auf eine Karikatur aus der zweiten Titelgeschichte geworfen. Abb. 31: Balkengramme aus der ersten Titelgeschichte (Der Spiegel, 23/ 2018: S.-14, 16) Die beiden Balkendiagramme aus der ersten Titelgeschichte veranschaulichen die Italienkrise aus der politischen und der wirtschaftlichen Sichtweise. Das Balkendiagramm zeigt eine Wahlumfrage kurz vor der Veröffentlichung dieser Ausgabe, aus der man entnehmen kann, dass die Populisten bzw. die Rechts‐ populisten deutlich die politische Oberhand in Italien gewinnen und die Po‐ litik der Sozialdemokraten bzw. der Linken scheitert. Dies unterstützt auch die Drama-Metapher, die den rasanten Absturz des Sozialdemokraten Matteo Renzis thematisiert. Das rechte aus der EZB bzw. Europäischen Kommission stammende Balkendiagramm verdeutlicht die wirtschaftlichen Situationen in Italien und Deutschland. Durch diesen Vergleich wird die Italienkrise für die deutsche Leserschaft wahrscheinlich nachvollziehbarer. 376 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="377"?> Abb. 32: Karikatur aus der zweiten Titelgeschichte (Der Spiegel, 23/ 2018: S. 19) und das Freskogemälde „Die Erschaffung Adams“ von Michelangelos Die oben links aus der zweiten Titelgeschichte stammende Karikatur basiert auf einem Freskogemälde von einem der bedeutendsten Künstler der italie‐ nischen Hochrenaissance. Um die Funktionen der Karikatur in der zweiten Titelgeschichte zu entschlüsseln, muss zunächst eine vergleichende Bildanalyse durchgeführt werden. Auf dem originalen Freskogemälde Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan sind Gott und Adam als die beiden zentralen Figuren zu sehen. Adam liegt nackt auf grüner Erde unten links auf dem Gemälde, während die vom Wind aufgebauschte Gestalt Gottes mit einem offenen Manteltuch umfangen wird. Die beiden Figuren halten Arm und Hand aufeinander und ihre Zeigefinger kommen sich so nah, als ob die Fingerspitzen sich gleich berühren würden. Dieser Abstand, der durch die beinahe Berührung der Fingerspitzen zwischen Gott und Adam auf dem berühmtesten Fresko der Sixtinischen Decke zum Ausdruck gebracht wird, bezieht sich auf den unüberwindbaren Unterschied zwischen Gott und Mensch. Die Karikatur nimmt einen erkennbaren Bezug auf das Meisterwerk Michel‐ angelos, insbesondere wenn man die kleinen Schriften „after Michelangelos“ (nach Michelangelos) oben links in der Karikatur sieht. In der Karikatur in der zweiten Titelgeschichte werden ebenfalls zwei zentrale Figuren dargestellt: ein junger Mann auf der Erde und ein alter Mann am Himmel. Der junge Mann mit einer schicken Sonnenbrille liegt nicht nackt direkt auf grüner Erde, sondern auf einem Picknick-Tuch mit roter und weißer Farbe. Die beiden 7.3 Fallbeispiel 2: Ciao amore! Italien zerstört sich selbst - und reißt Europa mit 377 <?page no="378"?> Farben aus dem Tuch und das Grün der Erde bilden zusammen die Farben der italienischen Nationalflagge. In seiner rechten Hand hält der junge Mann ein Getränk, an dessen Oberfläche Eiswürfel, Pfefferminze, eine Scheibe Zitrone und ein Strohhalm zu sehen sind. Nicht ein offenes Manteltuch, sondern ein Tuch mit dem Motiv der Europaflagge, umfängt die Figur des alten Mannes. In diesem Sinne können der junge Mann Italien und der alte Mann die politische Institution EU symbolisieren. Zudem halten der junge Mann und der alte Mann die Arme aufeinander zu gestreckt. Die Fingerspitzen der beiden Figuren scheinen sich ebenfalls fast zu berühren. Jedoch zeigt der junge Mann dem Alten seinen Stinkfinger, um wahrscheinlich seine Wut, Unzufriedenheit oder Verachtung ihm gegenüber auszudrücken. Hier wird offensichtlich kein Abstand zwischen Gott und Mensch abgebildet, sondern Misstrauen oder Ärger zwischen den beiden Figuren. Für die Deutung dieser Karikatur spielt das Produktionsdatum eine gewichtige Rolle. Unten rechts sieht man noch kleine Schrift „31 V 18“. Diese Schrift bezieht sich anscheinend auf die Produktionszeit, nämlich am 31. Mai 2018 (also kurz vor der Publikation dieser Der-Spiegel-Ausgabe am 2. Juni 2018). So hat die Karikatur einen aktuellen politischen Bezug auf die Italienkrise und das Misstrauen Italiens gegen die EU. Mithilfe der Karikatur werden die bereits in der zweiten Titelgeschichte besprochenen Aspekte wie Spaltung der europäischen Union, Verlust der Solidarität sowie das zunehmende Misstrauen unter den EU-Mitgliedstaaten nochmals bekräftigt und die Karikatur hilft der Leserschaft, die ablehnende Haltung Italiens zur EU im Gedächtnis zu behalten. 7.4 Zwischenfazit Das vorliegende Kapitel behandelt die Metaphern und metaphorischen Kon‐ struktionen auf dem Titelbild und in den Titelgeschichten. Als Erstes werden die möglichen Kategorien der Titelbild-Konstruktion-Konstellation untersucht. Nach der Untersuchung sind die folgenden drei Beziehungen zwischen einem Titelbild und der sprachlichen Begleitkonstruktion zu beobachten, resümiert in der nachstehenden Tabelle: 378 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="379"?> Kategorien der Titelbild-Konstruktion-Konstellation Kategorie I: Die linguistische Begleitkonstruktion beschreibt genau das Titel‐ bild • Meistens werden politische Akteure bzw. politische Organisationen direkt darge‐ stellt • Fotos der politischen Akteure bzw. politischen Organisationen werden auf dem Titelbild gezeigt • Durch die Konstruktion und das Titelbild kann das Thema der Titelstory vermutet werden • In manchen Fällen kann die Begleitkonstruktion zusätzliche Informationen liefern, die man nicht aus dem Titelbild entnehmen kann Kategorie II: Die linguistische Begleitkonstruktion beschreibt teilweise das Titelbild • Abstrakte sowie symbolhafte Komponenten sind auf dem Titelbild zu sehen • Die Titelbilder sind meistens illustrierte bzw. durch Computertechnik retuschierte Bilder • Die Interpretationsmöglichkeit des Titelbilds lässt sich erst durch die linguistische Konstruktion beschränken Kategorie III: Die linguistische Begleitkonstruktion deutet implizit durch metaphorische Verwendung auf das Dargestellte hin • Abstrakte sowie symbolhafte Komponenten sind auf dem Titelbild zu sehen • Die Titelbilder sind meistens illustrierte bzw. durch Computertechnik retuschierte Bilder • Die Titelbilder und/ oder die linguistischen Begleitkonstruktionen enthalten Me‐ taphern • Die emotive Einstellung der Titelgeschichte wird durch Metaphern zum Ausdruck gebracht Tab. 84: Kategorien der Titelbild-Konstruktion-Konstellation Darüber hinaus werden zwei Titelstories jeweils aus der ausgewählten chine‐ sischen Zeitschrift Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan und aus der ausgewählten deutschen Zeitschrift Der Spiegel exemplarisch ausführlich auf unterschiedli‐ chen Ebenen behandelt. Zur Beschreibung sowie Analyse des Titelbilds ist wichtig, zuerst das Dargestellte auf dem Titelbild deskriptiv zu beschreiben. Auf dieser Basis wird dann das framebezogene Wissen herangezogen, um ein Titelbild erfolgreich deuten zu können. Nach der erfolgreichen Deutung eines Titelbilds ist es erforderlich, die dahinter versteckten Ziele bzw. die emotive Haltung des Titelbilds oder der Titelgeschichte zu entschlüsseln. Bei der Analyse der idiomatischen Konstruktionen in einer chinesischen Titelgeschichte spielen Dimensionen wie die Distribution der Töne, die proso‐ 7.4 Zwischenfazit 379 <?page no="380"?> dische Kontur einer Konstruktion, die semantischen bzw. die syntaktischen Rollen einer Teilkonstruktion sowie das konkrete Verwendungsszenario dieser Konstruktion eine besonders auffällige Rolle. Für die idiomatische Konstrukti‐ onsanalyse in einer deutschen Titelgeschichte sind die Dimensionen sowie der Zusammenhang zwischen der Silbenanzahl der Verben und der variablen Filler, die semantischen bzw. die syntaktischen Rollen einer Teilkonstruktion sowie das konkrete Verwendungsszenario von großer Bedeutung. Auf der Ebene der Textbzw. Diskursanalyse müssen zuerst die verwendeten Metaphern und metaphorischen Konstruktionen aus den Titelgeschichten zu‐ sammengefasst, kategorisiert und systematisiert werden. Danach ist besonders wichtig zu überprüfen, welche Deutungsrahmen durch welche Metaphern hervorgerufen werden und wie diese die Argumentation im Text und Diskurs unterstützen. Im letzten Schritt ist zu analysieren, wie dynamisch die Meta‐ phern, die durch Metaphern aktivierten Frames und das Argumentieren sich miteinander verbinden bzw. interagieren. Zu zusätzlichen Dimensionen in der Titelstory-Analyse gehören Autoren‐ schaft, Perspektivität der Titelgeschichten und der Zusammenhang zwischen dem Textumfang und der Verwendungsfrequenz der Metapher. Zudem können die in den Titelgeschichten eingesetzten Visualisierungsmethoden wie Dia‐ gramme oder Bilder auch die Thesen der Titelgeschichte verstärken oder einen bestimmten Aspekt in der Titelgeschichte hervorheben. 380 7 Metaphorische Konstruktionen in der Titelbild-Titelstory-Interaktion <?page no="381"?> 8 Zusammenfassung und Ausblick Now when he reached the foot of the hill, he turned again towards the sea, and he saw his ship approaching the harbour, and upon her prow the mariners, the men of his own land. Kahlil Gibran: The Prophet Dieser treffende Ausspruch aus dem bekanntesten Werk des libane‐ sisch-US-amerikanischen Philosophen und Dichters scheint den Finger in die Wunde eines Linguisten zu legen. Nun ist die lange Reise mit Metaphern und Konstruktionen an einem vorläufigen Ziel angelangt. Nach einer so langen Auseinandersetzung mit der Metapher-Konstruktion-Thematik ist es wichtig rückblickend zu hinterfragen, warum man als Linguist auf diese Reise aufbricht und ob man die vor dem Aufbruch zu dieser Reise gesetzten linguistischen Ziele erreicht. Ausgehend vom jetzigen Forschungsstand, dass keine systematische und korpusgestützte Untersuchung zum Zusammenhang zwischen (konzeptuellen) Metaphern und kognitiver Konstruktionsgrammatik vorliegt, hat die vorlie‐ gende Arbeit den Versuch unternommen, diesen Zusammenhang aus zwei wesentlichen theoretischen Perspektiven zu betrachten (vgl. Kap. 2 und 3). Aus diesem Versuch wurden die zwei zentralen Ziele der Arbeit abgeleitet. Zum einen wurde erwartet, dass die relevanten Dimensionen aus der Perspektive der Kognitiven Konstruktionsgrammatik für die Beschreibung sowie die Analyse von Metaphern und metaphorischen Konstruktionen herausgearbeitet werden. Zum anderen verfolgt die Arbeit das Ziel, die übergeordnete Frage aus der Per‐ spektive der Konzeptuellen Metapherntheorie - wie (konzeptuelle) Metaphern Konstruktionen motivieren, beschränken und lizenzieren - zu beantworten. Um zu den beiden übergeordneten Zielen zu gelangen, wurde der Zusammenhang zwischen (konzeptuellen) Metaphern und kognitiver Konstruktionsgrammatik - in Anlehnung an den Vorschlag von Ziem (2015: 77) - auf drei unterschiedli‐ chen Ebenen (Idiomatik, Text und Diskurs) bzw. Modalitäten (Bild) anhand einer integrativen Forschungsmethodik (vgl. Kap. 4) überprüft. Die umfangreiche Analyse der idiomatischen Konstruktionen mit Metaphern im Chinesischen und Deutschen hat zunächst aufgezeigt, dass die bis jetzt nur vereinzelt, aber nicht systematisch diskutierte prosodische Dimension sowie Beschränkung in der Konstruktionsgrammatik durchaus eine gewich‐ <?page no="382"?> tige Rolle hinsichtlich der Form bzw. der Produktivität einer metaphorischen Konstruktion spielt. Beispielsweise können sich 256 Möglichkeiten aus der tonalen Kombination in einer viersilbigen Chengyu-Konstruktion ergeben. Jedoch hat die vorliegende Studie erwiesen, dass bestimmte Typen der to‐ nalen Kombination wesentlich bevorzugt und häufiger in den untersuchten chinesischen Chengyu-Konstruktionen verwendet werden (z. B. Kombinationen wie 1244, 1144, 2244, 2243, 4411 oder 2144). Außerdem ist ersichtlich, dass einige Chengyu-Konstruktionen mit derselben Bedeutung sehr unterschied‐ liche Verwendungsfrequenzen im CCL-Korpus aufweisen (vgl. die Analyse der RXXR-Konstruktion in Kap. 5.3.2.2). Dazu trägt auch die prosodische Struktur solcher Konstruktionen bei. Die prosodische Beschränkung kann auch in deut‐ schen idiomatischen Konstruktionen beobachtet werden. Dabei sind die Anzahl der Silben und die Silbenstruktur von großer Bedeutung. Die Untersuchung der idiomatischen Konstruktionen im Deutschen hat verdeutlicht, dass die zweisilbigen Substantive innerhalb der [PP]-Stelle in der ([NP]) + [PP] + [Bewegungsverben]-Konstruktionen (z. B. Augen in jemandem aus den Augen gehen, Hammer in unter den Hammer kommen, Enge in jemanden in die Enge treiben oder Fugen in aus den Fugen geraten) die typischen und häufigsten Filler der entsprechenden Stelle darstellen. Darüber hinaus weist die Studie nach, dass die Silbenstruktur die Produktivität einer deutschen idiomatischen Konstruktion stark beeinflussen kann (vgl. Kap. 5.4.1.1). Dabei wurden die von Vennemann (1988) aufgestellten Präferenzgesetze teilweise bestätigt. So ist klar geworden, dass die prosodische Beschränkung in einer idiomatischen Konstruktion sowohl in einer Tonalsprache wie im Chinesischen als auch in einer Nicht-Tonalsprache wie im Deutschen existiert und die prosodische Mo‐ tivation in vielen Konstruktionen überwiegend eine leitende Funktion bezüglich der Gestalt sowie der Produktivität der Konstruktion übernommen hat. In der europäischen strukturalistischen Tradition nach de Saussure wird Ar‐ bitrarität als das wesentliche Merkmal eines Sprachzeichens angesehen. Jedoch weist die systematische Beschäftigung mit einigen Kategorien der chinesischen Chengyu-Konstruktionen nach, dass die unmittelbare Nachbildung der Außen‐ welt durch Sprachzeichen, die als Ikonizitätsmerkmal eines Sprachzeichens aufzufassen sind, beträchtlich häufig vorkommt (vgl. Kap. 5.3.2.2 und 5.3.2.4). Somit positioniert sich diese Arbeit auch als ein Beitrag zur Diskussion über die Ikonizität der Sprache, mit einem besonderen Fokus auf die chinesische Sprache (z. B. Bolinger 1977; Bybee 1985; Givón 1991; Haiman 1980; Tai 1993; Diessel 2008; Taigel 2021). In der Analyse der betroffenen Chengyu-Konstruktionen fallen zwei zentrale Ikonizitätsprinzipien ins Gewicht. Zum einen hat die mor‐ phologische Ikonizität, besonders Ikonizität in der Abfolge, die Struktur sowie 382 8 Zusammenfassung und Ausblick <?page no="383"?> die Produktivität der Chengyu-Konstruktionen mit den Mustern RXRX und XRXR maßgeblich ausgeprägt. Zum anderen lässt sich anhand der syntaktischen Ikonizität gut erklären, warum die Chengyu-Konstruktionen mit ikonischer Kodierung wesentlich öfter als ihre synonymischen Chengyu-Konstruktionen ohne ikonische Kodierung im Korpus auftreten (vgl. die Analyse am Ende der XRXR-Konstruktion und die Analyse der RRRR-Konstruktion). Die Analyse der idiomatischen Konstruktionen auf der Ebene der Semantik hat angedeutet, dass die typischen Filler eines spezifischen Slots einen rele‐ vanten Deutungsrahmen transzendieren (vgl. Kap. 5.3.2 und 5.4.2). Diese seman‐ tische Motivation der Konstruktion beweist, dass Konstruktionsgrammatik sich als Inhaltsgrammatik versteht und Konstruktionen framesemantisch motiviert sind. Dabei spielen nicht nur Metapher, sondern auch Metonymie eine heraus‐ ragende Rolle. Metapher und Metonymie in den idiomatischen Konstruktionen können spezifische Schemata und Frames herausbilden. Die herausgebildeten Schemata und Frames leisten einen positiven Beitrag zur Interpretation der gesamten Konstruktionsbedeutung. Es kann zudem in der Studie beobachtet werden, dass die Konstruktionsbedeutungen der idiomatischen Konstruktionen in den beiden Sprachen, die stark durch Metapher bzw. Metonymie gekenn‐ zeichnet sind, aus den modularen Teilbedeutungen zu erschließen sind. Diese Beobachtung stellt die framesemantische und nicht modulare Grundlegung der Kognitiven Konstruktionsgrammatik in Frage und liefert Evidenz für die These von Welke (2021), dass diese Grundlegung nicht als eine theoretische Vorbedingung der Konstruktionsgrammatik angesehen werden sollte. Dies be‐ deutet einerseits nicht, dass die vorliegende Studie die Aufhebung der Trennung von Semantik und Pragmatik bzw. sprachlichem Wissen und enzyklopädischem Wissen in Frage stellt. Die vorliegende empirische Studie hat anderseits auf‐ gezeigt, dass ein modulares Konzept im Moment der Konstruktionsanalyse vorteilhaft durchgesetzt werden kann. Auch die Bestimmung der semantischen und der syntaktischen Rollen der Einzelkonstruktion in der Arbeit zeigt, dass die komplette Abkopplung von Semantik und Syntax zu Gunsten der deskriptiven Konstruktionsbeschreibung kaum möglich zu schaffen ist. Die rollensemanti‐ sche Analyse beleuchtet in diesem Sinne, dass die von Ágel & Höllein (2021) vorgeschlagenen semantischen Rollen in der Praxis unter Bedingungen situativ verwendet werden können. Jedoch muss bei der rollensemantischen Bestim‐ mung der chinesischen Chengyu-Konstruktion die Eigenschaft der doppelten semantischen Rollen mitberücksichtigt werden (vgl. Kap. 5.3.3). Zu den pragmatischen Beschränkungen einer Konstruktion wird das von mir vorgeschlagenen Konzept „Verwendungsszenario der Konstruktion“ eingeführt, wobei ein frame-übergreifendes Verwendungsszenario und ein 8 Zusammenfassung und Ausblick 383 <?page no="384"?> frame-spezifisches Verwendungsszenario unterschieden wurden. Vereinfacht erklärt verlangt die Beschreibung sowie die Analyse einer Konstruktion im vorderen Verwendungsszenario nur allgemeines Frame-Wissen. Jedoch ist für die Deutung einer Konstruktion im letzten Verwendungsszenario mehr kon‐ textuelles und pragmatisches Frame-Wissen erforderlich. Der pragmatische Aspekt einer Konstruktion umfasst nicht nur den linguistischen Kotext in der Syntax, sondern auch größere Verwendungsszenarios wie Text, Diskurs oder Multimodalität (vgl. Kap. 6 & 7). Dies impliziert, dass eine Konstruktion immer in einem Verwendungsszenario eingebettet wird und die Analyse der Konstruktion auch auf das spezielle Verwendungsszenario zurückgreifen muss. Die Analyse der Metaphern und der metaphorischen Konstruktionen auf der textuellen Ebene wurde anhand von zahlreichen Leitartikeln aus den beiden ausgewählten chinesischen und deutschen Nachrichtenmagazinen, Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan und Der Spiegel, realisiert. Das Auswertungsergebnis zeigt, dass die nachstehenden Kategorien der Metapher in einer argumentativen bzw. meinungsbildenden Textsorte häufig in den beiden Sprachen vorkommen: Naturmetapher, Tiermetapher, Freizeitbeschäftigungsmetapher, Reisemetapher, Essensmetapher und Krankheitsmetapher. Die Textuntersuchung hat veran‐ schaulicht, dass die verwendeten Metaphern und die metaphorischen Konstruk‐ tionen sich in einem interaktiven metaphorischen Netzwerk befinden und sie die entsprechende Argumentation im Leitartikel framespezifisch unterstützen. Dabei werden auch viele neue bzw. kreative Konstruktionen aufgebaut. Dies macht beispielsweise deutlich, dass Sprache wesentlich für die soziale Interak‐ tion und den Aufbau der menschlichen mentalen Welt ist und jede Konstruktion eine bestimmte Art enthält, konzeptuelle Inhalte zu erfassen. Die diverse Ver‐ wendung von Metaphern und metaphorischen Konstruktionen im Leitartikel hat das Construal-Konzept nach Langacker (2019) bekräftigt und bewiesen, dass Construal eine wichtige Fähigkeit der Menschen darstellt, dieselbe Situa‐ tion auf verschiedene Weisen zu betrachten. Es bieten sich immer alternative Ausdrucksmittel, um etwas anders darzustellen. Je nach Verwendungsszenario werden zum Beispiel die Konkurrenzstrategien unterschiedlich auf der Ebene der Semantik (Umdeutung und Umwertung) und auf der Ebene der Struktur (Übernahme und Anpassung) in den untersuchten Leitartikeln praktiziert (vgl. Tab. 67). Die Behandlung der Beziehung zwischen sprachlichen und nicht-sprachli‐ chen Komponenten greift die Titelbilder und die Titelgeschichten aus den beiden oben genannten Magazinen auf. Die Analyse der Beziehung zwischen sprachlichen Konstruktionen auf einem Titelbild und dem Titelbild hat gezeigt, dass die sogenannten mentalen Räume sowie die konzeptuelle Integration im 384 8 Zusammenfassung und Ausblick <?page no="385"?> Prozess einer erfolgreichen Deutung des Titelbilds und der linguistischen Be‐ gleitkonstruktion auf dem Titelbild eine wesentliche Rolle spielen (Fauconnier & Turner 1998, 2002; Turner 2019). Die mentalen Räume sind in der Regel durch linguistische oder soziodiskursive Praxis erworbene Deutungsframes und kognitive Modelle strukturiert. Sie haben eine enge Verbindung mit dem Langzeitgedächtnis, befinden sich aber im Kurzzeitgedächtnis. Besonders die Deutung eines Titelbilds mit (konzeptuellen) Metaphern hat erwiesen, dass der framespezifische Abruf eines mentalen Raums auf eine flüchtige Verwendungs‐ praxis ausgerichtet ist und zugleich in einem vorher schon linguistisch oder soziodiskursiv vorgegebenen Netzwerk integriert. Das Titelbild und die linguis‐ tische Begleitkonstruktion bilden jeweils zwei unterschiedliche mentale Räume (also als Input-Räume) und für die erfolgreiche Deutung des Zusammenhangs zwischen den beiden ist eine konzeptuelle Integration erforderlich. Durch diese Integration wird eine emergente Struktur erzeugt, die nur selektiv Elemente aus den beiden Input-Räumen (also Titelbild-Raum und Begleitkonstruktion-Raum) übernimmt, weil die Zusammensetzung der Elemente aus beiden Räumen neue Relationen herbeiführt. Das Ergebnis der Integration fügt dabei eine zusätzliche Wissensstruktur (also einen Raum der deontischen Bedeutung des Titelbilds) hinzu und führt dazu, dass sich die Elaboration der Input-Räume dynamisch verändert (vgl. Kategorie 3 in Kap. 7.1 sowie die Analysen in Kap. 7.2.1, 7.3.1 und 7.3.4). Sobald sich ein mentaler Raum durch die Titelbild-Praxis neu etabliert, wird er im Langzeitgedächtnis als kollektives und kulturelles Gedächtnis inner‐ halb der relevanten Sprachgemeinschaft als ein festes Deutungsframe innerhalb eines bestimmten Zeitraums gelagert. Die vorliegende Analyse des Zusammenhangs zwischen (konzeptuellen) Metaphern und Kognitiver Konstruktionsgrammatik auf drei verschiedenen Ebenen zeigt, dass sprachliche Struktur vom konkreten sprachlichen Verwen‐ dungsszenarios abgeleitet wird. Grammatik ist daher ein „emergentes Phä‐ nomen“ (vgl. Hopper 1987), das stark von allgemeinen kognitiven Mechanismen wie Kategorisierung, Metapher, sprachlicher Verfestigung oder Ikonizität be‐ einflusst wird. In diesem Kontext hat die vorgelegte Arbeit ein analytisches Modell vorgeschlagen, das (metaphorische) Konstruktionen in den konkreten Verwendungsszenarios beschreibt und in einer handlungsorientierten Kon‐ struktionsanalyse anwendbar ist. Durch die theoretische Fusion der konzep‐ tuellen metapherntheoretischen Perspektive und der konstruktionsgrammati‐ schen Perspektive, wird ein vierdimensionaler Ansatz als Vorschlag gemacht, der die Prosodie, die Struktur, die Semantik und die Pragmatik (einschließlich der Ebene des Texts sowie der Multimodalität) berücksichtigt. In diesem Sinne werden die Dimensionen der Konstruktionen als Form-Bedeutungspaare we‐ 8 Zusammenfassung und Ausblick 385 <?page no="386"?> sentlich erweitertet bzw. vervollständigt. Zur Formseite zählen prosodische und strukturelle Aspekte, und der Bedeutungsaspekt beinhaltet nicht nur se‐ mantische Informationen, sondern auch kontextuelle, textuelle, diskursive und multimodale Gebrauchsbedingungen. Die vier Bestandteile einer Konstruktion können in einer konkreten Konstruktion unterschiedlich gewichtet werden und die leitende Motivation einer Konstruktion hinsichtlich der Form sowie der Produktivität kann sich variieren. Die Arbeit beruht auf der chinesischen und der deutschen Standardschrift‐ sprache. Problematisch ist in dieser Hinsicht das Fehlen der Analyse der mündlichen sowie variationslinguistischen Sprachdaten in den beiden Spra‐ chen. Darüber hinaus muss dieses vorgeschlagene Modell noch in der Analyse‐ praxis ausgebaut bzw. revidiert werden. Nicht zuletzt sollte die multimodale Verwendung der metaphorischen Konstruktion in der zukünftigen Forschung verstärkt berücksichtigt werden (vgl. Forceville, 2019). Das Thema Metapher und Konstruktion ist damit natürlich nicht erschöpft. Weitere Aspekte, die nicht in dieser Arbeit behandelt wurden, sind z. B. der Erwerb sowie die kognitive Verarbeitung der metaphorischen Konstruktionen oder die gebrauchsbasierte Anwendungsmöglichkeit eines grammatischen Netzwerkmodells für metapho‐ rische Konstruktionen (vgl. Diessel 2019, 2020). In diesem Zusammenhang ist sicherlich auch ein Erkenntnisgewinn durch interdisziplinäre Arbeiten mit der Grammatikforschung, der Kognitionsforschung, der Spracherwerbsforschung und der Multimodalitätsforschung zu erreichen. 386 8 Zusammenfassung und Ausblick <?page no="387"?> Literaturverzeichnis Ágel, Vilmos (2004). Phraseologismus als (valenz)syntaktischer Normalfall. In Kathrin Steyer (Hrsg.), Wortverbindungen. Mehr oder weniger fest, 65-86. Berlin: de Gruyter. Ágel, Vilmos (2017). Grammatische Textanalyse. Textglieder, Satzglieder, Wortgruppen‐ glieder. Berlin: de Gruyter. Ágel, Vilmos & Dagobert Höllein (2021). 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Filler-123, 203, 216, 219, 238 <?page no="402"?> Fluid Construction Grammar-67 Form-Bedeutung-Dichotomie-72 Form-Bedeutungspaar-68, 265 Form-Funktionspaar-265 Frames-14, 335 Framesemantik-57, 79 frame-spezifisches Verwendungsszenario-384 frame-übergreifendes Verwendungsszenario-383 Funktionen von Metaphern-47, 53 Gebrauchsbasiertheit-67 Generative Grammatik-63 Generative Linguistik-28 Gestaltungspotenzial der Metaphern-52 Givón, Talmy-29 Grammatik-125 Haiman, John-29 Handlungsverb-239 Hochakzent-154 Hopper, Paul-29 Hudson, Richard-64 idiomatische Konstruktionen-78, 117 Idiomatizität-163 „Incredulity Response“-Konstruktion-126 indikativische Negation-80 Inhaltsgrammatik-82, 84, 383 Interaktionale Konstruktionsgrammatik-66 Interaktionale Linguistik-91 Johnson, Mark-34 Kasusgrammatik-65 klassische Metapherntheorie-23 Kognitive Konstruktionsgrammatik-63 Kognitive Linguistik-28 Kollektivkonstruktionen-247 Kombinationsmöglichkeit-120 Kombinatorik-179 Kompetenz-28 Konkurrenzstrategien-137, 266, 294 Konstruktion-69, 71, 74 Konstruktion-Bild-Interaktion-139 Konstruktion-Bild-Komposition-116 Konstruktionsbedeutung 69 f., 82, 122, 125 Konstruktionsgrammatik-11, 62, 66, 383 Kontinuum zwischen Lexikon und Grammatik-67, 89 konzeptuelle Metapherntheorie-11, 34 Kopula-160 Lakoff, George-34 Langzeitgedächtnis-385 Leipzig Glossing Rules-152 Leitartikel-113 f., 131, 267 let alone-Konstruktion-126 lexikalische Solidarität-26, 57 linguistischer Funktionalismus-29 Makro-Konstruktionen-78 manipulatives Persuasionspotenzial-266 Metapher-259, 383 Metonymie-259, 326 MIP (Metaphor Identification Procedure)-40 Modalitätskonstruktion-82 monosyllabische Repräsentation-92 morphologische Abfolge-216 morphologische Ikonizität-189 morphologisch ikonische Produktivitätshypothese-207 Motorcortex-33 Musterhaftigkeit-118 Negationskonstruktion-82 Negationstypen-80 Netzwerk-36, 58, 67 f., 304 Neurophysiologie-34 nicht-indikativische Negation-80 Nominalphrase-239, 248, 257 Notation-152 Nukleus-157 402 Register <?page no="403"?> Offline-Metapherngebrauch-45 Online-Metapherngebrauch-45 Orientierungsmetaphern-54, 117, 220 Ortsnamen-247, 297 Passiv-Konstruktion-240, 242 Performanz-28 Permutation-120, 178 Personalpronomen-240, 247 Personennamen-247 Perspektivität-36, 48 phonologische Ikonizität-194 Phraseologie-147, 171 Phraseologismen-171, 174 Phraseoschablone-172 Polylexikalität-174 Präferenzgesetze der Silbenstruktur-15, 158 Pragmatik-15, 95, 125 Präpositionalphrase-240 Produktivität-123, 245 Projektion-35 Prosodie-15, 90 PSSP-Modell-16, 100 Radical Construction Grammar-11, 66 Raumkonzept-117 f. Reduplikation-201 Referenz- und Zeitungskorpora des DWDS-109, 175 Reflexivpronomen-243 Rhythmus-155 Schematizität-45, 249, 263 Schwa-92 Selektivität-36 Semantik-15 Semantik-Pragmatik-Schnittstelle-95 semantische Doppelrolle-221 semantische Rollen-84, 383 semantisches Feld-24 sensomotorische Erfahrungen-72 sensomotorisches System-31 Sign-based Construction Grammar-66 signifikativ-semantische Rollen-86 Silbe-155, 157 Silbenkern-157 Silbenreim-157 Silbenschema-158 Slots-123, 216 Sonoritätshierarchie-233 Spracherwerb-29 Sprachproduktion-48 Sprachverarbeitung-33 statistical preemption (statistische Präferenz)-76 steigender Akzent-154 Stilistik-156 Struktur-15 Subjekt-239, 242 Substantiv-245 Textlänge-144 Textsorte-114, 144, 384 Thompson, Sandra-29 Tiefakzent-154 Titelbild-116, 139, 385 Titelbild-Konstruktion-Konstellation-307 Titelgeschichte-307, 334 Ton-15 Tonalsprache-93, 147 f. Tondistribution-94 Tonmuster-153 f. trochäische Repräsentation-92 Typikalität-245 Übernahme-294 f. Übertragung-21 Umdeutung-294, 297 Umwertung-294, 299 Universalgrammatik-28 Unterkonstruktionen-192, 195, 207, 238, 244 Register 403 <?page no="404"?> Ursprungsbereich-11, 35 Usage-based Construction Grammar-66 Variationsgrad-123 Vennemann, Theo-158 Verhaltenspsychologie-34 verkörperte Simulation-33 Verwendungsframe-59 Verwendungsfrequenz-196 Verwendungsrahmen-43 Verwendungssphäre-24 Verwendungsszenario-226, 248, 258, 383 Vier-Schriftzeichen-Pattern-118 Vorkommensfrequenz-190 Wahrheitsbedingung-96, 125 West Coast Functionalism-29 What’s X doing Y-Konstruktion-126 Wortart-Kategorien-80 Wortfeldtheorie-19, 57 Wortgrammatik-64 Zeichenmodell-72 Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan ( 中国新闻 周刊 )-110 Zielbereich-11, 35 404 Register <?page no="405"?> Abbildungsverzeichnis Abb 1: Titelbild „Sachsen. Wenn Rechte nach der Macht greifen“ (Quelle: Der Spiegel, Nr.-36/ 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Abb. 2: Die möglichen Analysedimensionen der Metaphern und der metaphorischen Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Abb. 3: Das PSSP-Modell für eine Konstruktionsanalyse . . . . . . . . . 100 Abb. 4: Schematische Darstellung von j-n. aus dem Dreck ziehen (links) und j-n. in Betracht ziehen (rechts) . . . . . . . . . . . . . . . 125 Abb. 5: Mindmap für die [[danke für] + [X]]-Konstruktion . . . . . . . 129 Abb. 6: Titelbild „Der Selbstmord“ (Quelle: Der Spiegel, Nr.-40. 26.09.2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Abb. 7: Tonhöhen und das FPS-System von Zhao (zitiert nach Zhu & Wang 2015: 507) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Abb. 8: Silbenstruktur von „laufen“ [laʊ̯fn̩] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Abb. 9: Sonoritätshierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Abb. 10: Mengentheoretische Darstellung der Permutation der Töne in einer Chengyu-Konstruktion mit vier Schriftzeichen . . . 179 Abb. 11: Mögliche Muster einer Chengyu-Konstruktion mit Raumkonzepten (n = 1703) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Abb. 12: Vier Kategorien der Chengyu-Konstruktionen mit Raumkonzepten und deren Frequenz (n = 1703) . . . . . . . . . 183 Abb. 13: Silbenstruktur der Konstruktion auf die Neige . . . . . . . . . . . 233 Abb. 14: Silbenstruktur der Konstruktion zur Neige . . . . . . . . . . . . . . 233 Abb. 15: Mögliche Bedeutungsframes in der idiomatischen Konstruktion mit drehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Abb. 16: Titelbild „ 握手言核 “ (Quelle: Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, Nr.-22/ 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Abb. 17: Titelbild „Der Milliardär und die AfD“ (Quelle: Der Spiegel, Nr.-48/ 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Abb. 18: Titelbild „ 改革的海南命题 “ (Quelle: Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, Nr.-13/ 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Abb. 19: Titelbild „Das verlorene Paradies“ (Quelle: Der Spiegel, Nr.-33/ 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Abb. 20: Titelbild „ 基因莽夫 “ (Quelle: Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, Nr.-45/ 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 <?page no="406"?> Abb. 21: Titelbild „Die Falle Facebook“ (Quelle: Der Spiegel, Nr.-13/ 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Abb. 22: Titelbild „ 中国球途 “ (Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, Nr.-23/ 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Abb. 23: Die Tuschmalerei „Xian Ting Cu Ju Tu“ von Dunli Zhang . 319 Abb. 24: Thema der chinesischen Titelstory und die wesentlichen Analyseaspekte in den Argumentationen der vier Titelgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Abb. 25: Interaktion zwischen Metaphern und den hervorgerufenen Frames in der chinesischen Titelstory . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Abb. 26: Bild aus der Titelstory „Der Zukunftswege des chinesischen Fußballs“ (Quelle: Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan, Nr.-23/ 2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Abb. 27: Titelbild “Ciao amore! ” (Quelle: Der Spiegel, Nr.-23/ 2018) . . 353 Abb. 28: bringen + Y + in + Substantive-Konstruktionen . . . . . . . . . . 356 Abb. 29: Thema der deutschen Titelstory und die wesentlichen Analyseaspekte in den Argumentationen der beiden Titelgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Abb. 30: Interaktion zwischen Metaphern und den hervorgerufenen Frames in der deutschen Titelstory . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Abb. 31: Balkengramme aus der ersten Titelgeschichte (Der Spiegel, 23/ 2018: S.-14, 16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Abb. 32: Karikatur aus der zweiten Titelgeschichte (Der Spiegel, 23/ 2018: S.-19) und das Freskogemälde „Die Erschaffung Adams“ von Michelangelos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 406 Abbildungsverzeichnis <?page no="407"?> Tabellenverzeichnis Tab. 1: Die unterschiedlichen Essensmetaphern im Chinesischen und Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Tab. 2: Dimension 1 - Traditionelle Metapherntheorien . . . . . . . . . . . 27 Tab. 3: Die grundlegenden Prämissen der Generativen bzw. der Kognitiven Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Tab 4: Die metaphorischen Projektionen der Theater-Metapher im politischen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Tab 5: Dimension 2 - Konzeptuelle Metapherntheorie . . . . . . . . . . . . 40 Tab. 6: Dimension 3 - Identifikation der Metaphern und der metaphorischen Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Tab 7: Four context types and their contextual factors (Kövecses 2020: 165) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Tab 8: Dimension 4 - Erweiterte Konzeptuelle Metapherntheorie . . . 47 Tab. 9: Dimension 5 - Funktionen der Metaphern aus einer kognitiv-linguistischen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Tab. 10: Dimension 1 - Konstruktionsdefinition nach Goldberg . . . . . . 77 Tab. 11: Die sechs Strukturen der idiomatischen Konstruktionen mit halten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Tab. 12: Dimension 2 - Struktur der Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Tab. 13: Die semantischen Kernrollen in der vorliegenden Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Tab. 14: Die rollensemantische Beschreibung der Konstruktion 否极泰 来 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Tab. 15: Die rollensemantische Beschreibung der Konstruktion 否极泰 来 in einem Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Tab. 16: Dimension 3 - Bedeutung der Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . 89 Tab. 17: Die häufig verwendeten 20 Chengyu-Konstruktionen aus der Untersuchung und ihre Tondistributionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Tab. 18: Dimension 4 - Prosodie der Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Tab. 19: Dimension 5 - Pragmatik der Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Tab. 20: Die Zusammensetzung der Textquellen sowie deren statistische Distribution der unterschiedlichen Textquellen im KMC (Zhan et al 2019: 73, Übersetzung von BZ) . . . . . . . . . . . . 106 Tab. 21: Die Statistik der verwendeten DWDS-Korpora (Stand 2021) . . 108 Tab. 22: Statistiken über die Referenz- und Zeitungskorpora im DWDS 109 <?page no="408"?> Tab. 23: Die Statistiken der Textkorpora von Zhong Guo Xin Wen Zhou Kan und Der Spiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Tab. 24: Checkliste für Analyse der idiomatischen Konstruktionen . . . 130 Tab. 25: Checkliste für die Analyse der metaphorischen Konstruktionen im Leitartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Tab. 26: Checkliste für die Analyse der metaphorischen Konstruktionen auf der multimodalen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Tab. 27: Repräsentation der standardchinesischen Töne . . . . . . . . . . . . 152 Tab. 28: Auswahl der Präferenzgesetze der Silbenstruktur nach Vennemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Tab. 29: Typische Modelle der Phraseoschablonen in der Phraseologie nach Fleischer (1997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Tab. 30: Kombinationsmöglichkeiten der Töne in einer Chengyu-Konstruktion mit vier Schriftzeichen . . . . . . . . . . . . . 180 Tab. 31: Kombinationsmöglichkeiten und die Frequenz in den analysierten Chengyu-Konstruktionen (n = 1703) . . . . . . . . . . . 180 Tab. 32: Die Top-10-Kombinationen der Töne in den analysierten Chengyu-Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Tab. 33: Die häufigsten 30 Chengyu-Konstruktionen mit dem Muster RXXX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Tab. 34: Die Häufigsten 15 Chengyu-Konstruktionen mit dem Muster XRXX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Tab. 35: Die häufigsten 10 Chengyu-Konstruktionen mit dem Muster XXRX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Tab. 36: Die häufigsten 10 Chengyu-Konstruktionen mit dem Muster XXXR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Tab. 37: OBEN-UNTEN-Metaphern in der XXXR-Konstruktion . . . . . . 197 Tab. 38: Die häufigsten 5 Chengyu-Konstruktionen mit dem Muster RXXR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Tab. 39: Zweisilbige Komposita, deren zwei Integrationen in bedeutungsgleiche Konstruktionen und die Vorkommensfrequenz der Konstruktionen im CCL-Korpus; F: Frequenz des zweisilbigen Kompositums im CCL-Korpus . . . . 205 Tab. 40: Gegenbeispiele, ihre prosodischen Strukturen und Frequenz im CCL-Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Tab. 41: Die häufigsten 20 Chengyu-Konstruktionen mit dem Muster RXRX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Tab. 42: Die häufigsten 20 Chengyu-Konstruktionen mit dem Muster XRXR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 408 Tabellenverzeichnis <?page no="409"?> Tab. 43: Die Chengyu-Konstruktionen mit der Muster XRRX . . . . . . . . 217 Tab. 44: Die häufigsten Chengyu-Konstruktionen mit drei Raumlexemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Tab. 45: Die Chengyu-Konstruktionen mit vier Raumlexemen . . . . . . . 218 Tab. 46: Verteilung der syntaktischen und der semantischen Rollen in der Konstruktion 攻心为上 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Tab. 47: Verteilung der syntaktischen und semantischen Rollen in der Konstruktion 其余都是攻心为上 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Tab. 48: Verteilung der syntaktischen und semantischen Rollen in der Konstruktion 美军采取“攻心为上”策略 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Tab. 49: Häufig verwendete idiomatische Konstruktionen mit der Motivation der beiden UNTEN-Metaphern . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Tab. 50: Die untersuchten Bewegungsverben im Deutschen . . . . . . . . . 230 Tab. 51: Anzahl der Silben der hinter der Präposition stehenden Substantive in der Konstruktion mit gehen . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Tab. 52: Anzahl der Silben der hinter der Präposition stehenden Substantive in der Konstruktion mit kommen . . . . . . . . . . . . . . 235 Tab. 53: Typische Filler für die Subjekt-Stelle in der Unterkonstruktion [NP] + [drehen] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Tab. 54: Typische Filler der variablen Stellen in der Unterkonstruktion [NP direkt ] + [PP] + [drehen] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Tab. 55: Typische Filler der drei variablen Stellen in der Konstruktion jemandem einen Strick aus etwas drehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Tab. 56: Typische Filler für die beiden variablen Stellen in der Unterkonstruktion [NP indirekt ] + [PP] + [fallen] . . . . . . . . . . . . . 246 Tab. 57: Typische Filler der variablen Stellen in der Konstruktion jemanden in den Arm fallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Tab. 58: Die häufig verwendeten Präpositionen in den bringen-Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Tab. 59: Typische Filler der Behälter-Metapher in der bringen-Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Tab. 60: Semantische Rollen in der Konstruktion auf den Tisch bringen 253 Tab. 61: Semantische Rollen in der Konstruktion auf den Weg bringen . 254 Tab. 62: Semantische Rollen in der Konstruktion unter einen Hut bringen 255 Tab. 63: Häufig verwendete Präpositionen in den geraten-Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Tab. 64: Semantische Rollen in der Konstruktion aus dem Lot geraten . 257 Tab. 65: Semantische Rollen in der Konstruktion aus dem Lot geraten . 258 Tabellenverzeichnis 409 <?page no="410"?> Tab. 66: Die anderen häufig verwendeten Metaphern aus dem Bereich der Freizeitbeschäftigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Tab. 67: Konkurrenzstrategien für die neuen und kreativen Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Tab. 68: Liste der häufig in der Argumentation eingesetzten Kategorien der Metaphern und Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Tab. 69: Idiomatische Konstruktionsanalyse 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Tab. 70: Idiomatische Konstruktionsanalyse 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Tab. 71: Idiomatische Konstruktionsanalyse 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Tab. 72: Idiomatische Konstruktionsanalyse 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Tab. 73: Idiomatische Konstruktionsanalyse 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Tab. 74: Idiomatische Konstruktionsanalyse 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Tab. 75: Idiomatische Konstruktionsanalyse 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Tab. 76: Die häufig verwendeten Metaphern und metaphorischen Beispielkonstruktionen in den Titelgeschichten (1) . . . . . . . . . 346 Tab. 77: Idiomatische Konstruktionsanalyse 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Tab. 78: bringen und die Silbenanzahl der Filler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Tab. 79: Idiomatische Konstruktionsanalyse 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Tab. 80: kommen und die Silbenanzahl der Filler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Tab. 81: Idiomatische Konstruktionsanalyse 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Tab. 82: stehen und die Silbenanzahl der Filler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Tab. 83: Die häufig verwendeten Metaphern und metaphorischen Beispielkonstruktionen in den Titelgeschichten (2) . . . . . . . . . 370 Tab. 84: Kategorien der Titelbild-Konstruktion-Konstellation . . . . . . . . 379 410 Tabellenverzeichnis <?page no="411"?> TÜBINGER BEITRÄGE ZUR LINGUISTIK (TBL) Die TBL bilden das ganze Spektrum aktueller linguistischer Forschung ab. In der Reihe erscheinen herausragende Monographien und Sammelbände, die in ihrer Gesamtheit die vielfältigen Zugänge der Sprachwissenschaft zu ihrem facettenreichen, wandelbaren Gegenstand widerspiegeln: Sie umfasst grammatische Studien ebenso wie empirische Forschungen und Untersuchungen zu Sprachgeschichte, Sprachvergleich und Übersetzung oder Spracherwerb. Der Vielzahl der Zugriffe entspricht die Vielzahl der behandelten Sprachen in Beiträgen aus Germanistik, Romanistik, Slavistik, aber auch etwa der Sinologie. Die Reihe versteht sich damit als Raum für die Diskussion und Weiterentwicklung der Perspektiven und Potenziale linguistischer Forschungen. Bisher sind erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: https: / / www.narr.de/ linguistik-kat/ linguistikreihen-kat? ___store=narr_starter_de 557 Benjamin Stoltenburg Zeitlichkeit als Ordnungsprinzip der gesprochenen Sprache 2016, 363 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8056-6 558 Lingyan Qian Sprachenlernen im Tandem Eine empirische Untersuchung über den Lernprozess im chinesisch-deutschen Tandem 2016, 366 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8057-3 559 Tingxiao Lei Definitheit im Deutschen und im Chinesischen 2017, 228 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8092-4 560 Fabienne Scheer Deutsch in Luxemburg Positionen, Funktionen und Bewertungen der deutschen Sprache 2017, 416 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8097-9 561 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Claudia Polzin- Haumann, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Sprachkritik und Sprachberatung in der Romania Romanistisches Kolloquium XXX 2017, 427 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8104-4 562 Martina Zimmermann Distinktion durch Sprache? Eine kritisch soziolinguistische Ethnographie der studentischen Mobilität im marktwirtschaftlichen Hochschulsystem der mehrsprachigen Schweiz 2017, 304 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8144-0 <?page no="412"?> 563 Philip Hausenblas Spannung und Textverstehen Die kognitionslinguistische Perspektive auf ein textsemantisches Phänomen 2018, 256 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8155-6 564 Barbara Schäfer-Prieß, Roger Schöntag (Hrsg.) Seitenblicke auf die französische Sprachgeschichte Akten der Tagung Französische Sprachgeschichte an der Ludwig-Maximilians- Universität München (13. - 16. Oktober 2016) 2018, 558 Seiten €[D] 128,- ISBN 978-3-8233-8118-1 565 Vincent Balnat L’appellativisation du prénom Étude contrastive allemand-français 2018, 298 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8185-3 566 Silvia Natale Informationsorganisation und makrostrukturelle Planung in Erzählungen Italienisch und Französisch im Vergleich unter Berücksichtigung bilingualer SprecherInnen 2018, 212 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8209-6 567 Ilona Schulze Bilder - Schilder - Sprache Empirische Studien zur Text-Bild-Semiotik im öffentlichen Raum 2019, 227 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-8233-8298-0 568 Julia Moira Radtke Sich einen Namen machen Onymische Formen im Szenegraffiti 2020, 407 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8330-7 571 Melanie Kunkel Kundenbeschwerden im Web 2.0 Eine korpusbasierte Untersuchung zur Pragmatik von Beschwerden im Deutschen und Italienischen 2020, 304 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8364-2 573 Mario Franco Barros Neue Medien und Text: Privatbrief und private E-Mail im Vergleich 2020, ca. 750 Seiten €[D] 119,90 ISBN 978-3-8233-8377-2 574 Sofiana Lindemann Special Indefinites in Sentence and Discourse 2020, 250 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8381-9 575 Junjie Meng Aufgaben in Übersetzungslehrbüchern Eine qualitative und quantitative Untersuchung ausgewählter deutschchinesischer Übersetzungslehrbücher 2020, 206 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-8233-8382-6 576 Anne-Laure Daux-Combaudon, Anne Larrory- Wunder (Hrsg.) Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue Syntaktische, semantische und textuelle Aspekte / aspects syntaxiques, sémantiques et textuels 2020, 392 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8386-4 577 Bettina Eiber Wikipedia und der Wandel der Enzyklopädiesprache Ein französisch-italienischer Vergleich 2020, 473 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8407-6 <?page no="413"?> 578 Lidia Becker, Julia Kuhn. Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Fachbewusstsein der Romanistik Romanistisches Kolloquium XXXII 2020, 327 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8418-2 579 Lidia Becker, Julia Kuhn. Christina Ossenkop, Anja Overbeck, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti (Hrsg.) Romanistik und Wirtschaft Romanistisches Kolloquium XXXIII 2020, 274 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8420-5 580 Claudia Schweitzer Die Musik der Sprache Französische Prosodie im Spiegel der musikalischen Entwicklungen vom 16. bis 21. Jahrhundert 2021, 201 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8493-9 581 Roger Schöntag Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua Eine Untersuchung zur Begriffsgeschichte im Rahmen einer sozio- und varietätenlinguistischen Verortung: Die sprachtheoretische Debatte zur Antike von Leonardo Bruni und Flavio Biondo bis Celso Cittadini (1435-1601) 2022, 763 Seiten €[D] 138,- ISBN 978-3-8233-8540-0 582 Lea Schäfer Onymische Flexion Strukturen und Entwicklungen kontinentalwestgermanischer Dialekte 2021, 486 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-8233-8521-9 583 Sarah Brommer, Kersten Sven Roth, Jürgen Spitzmüller (Hrsg.) Brückenschläge Linguistik an den Schnittstellen 2022, 324 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8518-9 584 Mohcine Ait Ramdan Konzeptualisierung von Konkreta und Abstrakta Eine kulturorientierte, kognitionslinguistische Vergleichsstudie zwischen dem Deutschen, dem Arabischen und dem Französischen 2022, 245 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8556-1 585 Steffen Hessler Autorschaftserkennung und Verstellungsstrategien Textanalysen und -vergleiche im Spektrum forensischer Linguistik, Informationssicherheit und Machine-Learning 2023, 426 Seiten €[D] 88,- ISBN 978-3-8233-8561-5 586 Jakob Wüest Une histoire des connecteurs logiques Causalité, argumentation, conséquence, finalité et concession 2023, ca. 319 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8615-5 587 Bin Zhang Metapherntheorie und Konstruktionsgrammatik Ein vierdimensionaler Ansatz zur Analyse von Metaphern und metaphorischen Konstruktionen 2023, ca. 400 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8614-8 <?page no="414"?> www.narr.de TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik In diesem Buch wird ein integratives Konzept ausgearbeitet, das konzeptuelle Metapherntheorie und Konstruktionsgrammatik zusammenführt und für die Analyse metaphorischer Konstruktionen verfügbar macht. Dieser Zusammenhang wird auf drei unterschiedlichen Ebenen (Idiomatik, Text und Diskurs) bzw. Modalitäten (Schri und Bild) überprü . Zu den verwendeten Sprachdaten gehören idiomatische Konstruktionen, Leitartikel, Titelbilder und Titelgeschichten aus zwei überregionalen Nachrichtenmagazinen. Die umfassende Korpusuntersuchung weist nach, dass vier unterschiedliche Dimensionen für einen opportunen Analyseansatz zu berücksichtigen sind: die Prosodie, die Struktur, die Semantik sowie die Pragmatik einer linguistischen Konstruktion (PSSP-Modell). Besonders hervorgehoben werden die in der Konstruktionsgrammatik bis jetzt wenig behandelten Rollen von Prosodie und Pragmatik. Das vorgeschlagene Modell gibt in dieser Hinsicht der funktionalen Linguistik, der Kognitiven Linguistik sowie der Konstruktionsgrammatik neue theoretische Impulse. 587 Zhang Metapherntheorie und Konstruktionsgrammatik Metapherntheorie und Konstruktionsgrammatik Ein vierdimensionaler Ansatz zur Analyse von Metaphern und metaphorischen Konstruktionen Bin Zhang ISBN 978-3-8233-8614-8