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„Contre tous les silences“: Weibliche Identitätsentwürfe in Romanen algerischer Autorinnen

0717
2023
978-3-8233-9617-8
978-3-8233-8617-9
Gunter Narr Verlag 
Jessica Wilzek
10.24053/9783823396178

Die algerischen Autorinnen Maïssa Bey, Assia Djebar und Malika Mokeddem bezeichnen ihr literarisches Schaffen als Engagement gegen das (Ver-)Schweigen insbesondere der Erfahrungen von Frauen in der Gesellschaft. Wenn Kulturpolitik und nationale Identitätsbildung eng verknüpft sind, ist es von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung, dass in Literatur soziale Prozesse, politische Entscheidungen und traditionelle Lebensweisen hinterfragt werden. In der Arbeit wird die narrative Konstruktion weiblicher Identitäten im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit und dem Bedürfnis nach Freiheit des eigenen Lebensentwurfs in Romanen der drei Autorinnen untersucht. Literatur wird dabei zu einem Ort des Verhandelns alternativer Lebensentwürfe und der expliziten Darstellung von Identitätskrisen in einem postkolonialen Kontext.

<?page no="0"?> „Contre tous les silences“: Weibliche Identitätsentwürfe in Romanen algerischer Autorinnen von Jessica Wilzek <?page no="1"?> „Contre tous les silences“: Weibliche Identitätsentwürfe in Romanen algerischer Autorinnen <?page no="2"?> études littéraires françaises · 81 <?page no="3"?> Jessica Wilzek „Contre tous les silences“: Weibliche Identitätsentwürfe in Romanen algerischer Autorinnen <?page no="4"?> Diese Dissertation wurde vom Fachbereich Sprache, Literatur, Kultur der Justus-Liebig- Universität Gießen in 2022 angenommen. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823396178 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0344-5895 ISBN 978-3-8233-8617-9 (Print) ISBN 978-3-8233-9617-8 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0494-4 (ePub) Umschlagabbildung: Purple and magenta watercolor feathers. Bird feathers are hand-drawn and isolated on a white background. Adobe, Stock-ID: 488789857. Bildnachweis: Kateryna Polishchuk Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 9 1 11 1.1 11 1.2 16 1.3 21 1.4 22 2 27 2.1 27 2.2 35 2.2.1 40 2.2.2 43 2.3 46 3 51 3.1 51 3.2 53 3.3 59 3.4 66 3.5 68 Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Contre tous les silences“ - Weibliches Schreiben in Algerien Zum Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thesen und Ziele der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weibliche Identitätskonzepte in den französischsprachigen Romanen algerischer Schriftstellerinnen: Auswahl der Texte und Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Überlegungen zur Konstruktion weiblicher Identitäten in Algerien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechterverhältnisse im postkolonialen Algerien . . . . . . . Identitätskonzepte (und Literatur) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialpsychologische Ansätze der Identitätstheorie - Theorie des Symbolischen Interaktionismus . . . . . . . . . Narrative Konstruktion von Identität . . . . . . . . . . . . . . . Literatur als Gegendiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weibliches Schreiben im Kontext Algeriens - Selbstverständnis und Strategien der Autorinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schreiben aus der Marginalität - „écrire dans la marge“ . . . . . Verortung der Schriftstellerinnen im Literaturbetrieb . . . . . . . Funktionen weiblichen Schreibens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung des Schreibens auf Französisch . . . . . . . . . . . . . . . . Der Raum künstlerischen Schaffens „au-dehors et au-dedans“ <?page no="6"?> 4 71 4.1 71 4.1.1 72 4.1.1.1 73 4.1.1.2 75 4.1.1.3 80 4.1.1.4 85 4.1.1.5 90 4.1.1.6 93 4.1.1.7 94 4.1.1.8 96 4.1.2 98 4.1.2.1 99 4.1.2.2 101 4.1.2.3 102 4.1.2.4 103 4.1.2.5 106 4.1.2.6 107 4.1.2.7 111 4.1.2.8 114 4.1.2.9 116 4.1.3 117 4.2 119 4.2.1 121 4.2.1.1 121 4.2.1.2 126 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten . . . . (Re-)Konstruktion der Identität - Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen bei Maïssa Bey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sich selbst (er)finden: Je suis autre und die Suche nach Identität in Beys Cette fille-là . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählter Raum: Das asile als ambivalenter Ort der Marginalität und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pluralität der Erzählstimmen und unzuverlässiges Erinnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hauptfigur Malika - Die Andere sein . . . . . . . . . . . Körperlichkeit und Sexualität als konstituierende Merkmale weiblicher Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Widerstand und Revolte im Schweigen und in der folie Die Andere als Chronistin: Identität durch Erzählen . . Fugue - Identität als Errance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit Cette fille-là . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnisverlust und Fragmentarisierung der Identität(en) in Beys Surtout ne te retourne pas . . . . . . . Das Erdbeben als Unterbrechung der gesellschaftlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarisierte Identität(en) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählperspektive: Pluralität des Ichs und unzuverlässiges Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amnesie und unzuverlässige Erinnerung . . . . . . . . . . . Namensfindung - Finden der eigenen Individualität und -Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identität als Narration - „Mektoub“ . . . . . . . . . . . . . . . . Errance und Semantisierung des Raums . . . . . . . . . . . . . Körperlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit Surtout ne te retourne pas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der dérangeante zur Chronistin - Strategie des Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identität in Bewegung - Grenzüberschreitungen, Mobilität und Raum im Werk Malika Mokeddems . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Ma vie est ma première œuvre“ - La Transe des insoumis von Malika Mokeddem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wieder-schreiben der Geschichte als Autobiographie . Insomnie als „transe des insoumis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> 4.2.1.3 131 4.2.1.4 134 4.2.1.5 139 4.2.1.6 142 4.2.1.7 143 4.2.1.8 145 4.2.1.9 147 4.2.2 150 4.2.2.1 151 4.2.2.2 155 4.2.2.3 158 4.2.2.4 162 4.2.2.5 166 4.2.2.6 168 4.2.2.7 170 4.2.3 172 4.3 175 4.3.1 176 4.3.1.1 177 4.3.1.2 180 4.3.1.3 185 4.3.1.4 189 4.3.1.5 193 4.3.1.6 195 4.3.1.7 198 4.3.1.8 203 4.3.2 205 5 209 Körperlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen, Schreiben und Inneres Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategie des dédoublement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weibliche Genealogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mémoire und Errance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung der écriture . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit La Transe des insoumis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Mal de mère“ - Mutter-Tochter-Beziehung in Malika Mokeddems Je dois tout à ton oubli . . . . . . . . . . . . . . . . . Autobiographie oder Roman? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erinnerung vs. Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mal de mère I: Mutter-Tochter-Beziehung . . . . . . . . . . . Mal de mère II: Frankreich-Algerien . . . . . . . . . . . . . . . . Selma als „fugueuse“ und das Mittelmeer als „vrai territoire“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gemeinschaft der fugueuses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit Je dois tout à ton oubli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der insomniaque zur fugueuse - Strategie der Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar . . Duplizität der Frauenfiguren in Assia Djebars Ombre Sultane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hajila und Isma, je et tu: Duplizität der Frauenfiguren Isma - Die Erzählerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hajila - „La fuyarde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektivwechsel und Jeu des doubles . . . . . . . . . . . . . Ver- und Enthüllen: Symbolik des Schleiers und Sichtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polygamie und Harem: Die Gemeinschaft der Frauen . Semantisierung des Raums und Grenzüberschreitung . Schéherazade und Dinardze: Das Ermöglichen weiblichen Erzählens in Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . Gemeinschaft der Frauen als Voraussetzung weiblichen Erzählens - Strategie der Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählen, Bewegung, Solidarität - Strategien und Möglichkeiten weiblicher Identitätskonstruktion in französischsprachigen Romanen algerischer Autorinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> 6 219 219 219 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> Danksagung Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die Anfang des Jahres 2022 vom Fachbereich 05 der Justus-Liebig-Universität Gießen angenommen wurde. In der langen Zeit von den ersten Ideen bis zur Veröffentlichung haben mich viele Personen begleitet, denen ich danken möchte. Ganz besonders möchte ich mich bei Prof. Dr. Hartmut Stenzel bedanken. Neben der intensiven und umfassenden fachlichen Unterstützung wäre diese Arbeit vor allem ohne seine ermutigende und konstante Begleitung nicht möglich gewesen. Ich bin froh, dass ich vor vielen Jahren nach Seminaren bei ihm meinen Mut zusammengefasst und Ideen für ein Promotionsprojekt mit ihm besprochen habe. Meine Zweitbetreuerin, Prof. Dr. Verena Dolle, hat mich mit fachlichen Im‐ pulsen, differenzierter Kritik und vor allem Diskussionen über das theoretische Fundament meiner Arbeit begleitet. Ich danke ihr ebenso für Gespräche über potentielle weitere Karrierewege, die für mich wichtig waren, um die doch manchmal unsichere Zeit der Promotion zu navigieren. Viele weitere Personen haben mich fachlich und darüber hinaus auf meinem Weg begleitet und einen wichtigen Beitrag zur Entstehung der Arbeit geleistet. Ich danke Prof. Dr. Kirsten von Hagen und Prof. Dr. Barbara Holland-Cunz, die mich in unterschiedlichen Phasen der Promotionszeit unterstützt und meine Forschung erweitert haben. Ich bin außerdem sehr dankbar für die vielen zeitintensiven Gespräche, das konkrete und ausführliche Feedback und die vielfältigen Impulse von Dr. Esther Suzanne Pabst, ohne die ich über die Anfangs- und Eva Hilus, ohne die ich über die Abschlussphase der Diss nicht hinausgekommen wäre. Mara Tabea Sarcevic möchte ich fürs kritische Lesen und Korrigieren danken. Ein ganz besonderer Dank geht an meine Kolleg*innen im Akademischen Auslandsamt der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ohne die Ermutigung, die Zeit und die Unterstützung, die mir Petra, Karin, Julia, Szilvia, Meike, Patrycja, Marina und Saltanat geschenkt haben, wäre ich nicht so weit gekommen. Ich bin die Erste in meiner Familie, die studiert hat. Eine Promotion zu beginnen (und zu beenden), erforderte Mut und Unterstützung von Menschen, die an die Machbarkeit des Projekts und an mich geglaubt haben. Meine Freundinnen haben mich als Rat- und Ideengeberinnen, kritische Leserinnen und Helferinnen in der Not getragen: danke Helen, Anne, Steffi, <?page no="10"?> Valentina, Eva und allen, die in den unterschiedlichen Phasen meinen Weg intensiv begleitet haben. Ich möchte mich auch bei den wichtigen Menschen in meinem Leben bedanken, die mich vor allem beim Abschluss der Arbeit und der Disputation aufgefangen und daran erinnert haben, was mir wichtig ist zu sagen. Ein großer Dank geht an meine Familie, die immer fest daran geglaubt hat, dass ich es schaffen kann; auch wenn ich mal Umwege gegangen bin. Diese Art der Unterstützung ist unschätzbar. Abschließend geht mein Dank an Steffen, der mich über den gesamten Zeitraum des Projekts unterstützt, mir oft den Rücken freigehalten, alle Krisen gesehen und begleitet und mir Mut gemacht hat, nicht aufzugeben. Und an meine Tochter, deren Anwesenheit in meinem Leben, meine Motivation zu schreiben und meine Stimme zu nutzen noch verstärkt hat. 10 Danksagung <?page no="11"?> 1 Einleitung 1.1 „Contre tous les silences“ - Weibliches Schreiben in Algerien Mon écriture est un engagement contre tous les silences. (B. 2004) Die algerische Autorin Maїssa Bey bezeichnet in diesem Zitat ihr literarisches Schaffen als Engagement gegen jegliches (Ver-)Schweigen oder Tabuisieren. Ihre Romane, Novellen und Theaterstücke beschäftigen sich mit Themen, die die algerische Gesellschaft und die algerische Geschichtsschreibung zu vergessen oder sogar zu verdrängen versuchen. So geht es zum Beispiel um die Frage nach Schuld und Opfer des Algerienkriegs (in Entendez-vous dans les montagnes…), die verdrängte Gewalt und fehlende Aufarbeitung des Bürgerkriegs in den 1990er Jahren (in Puisque mon coeur est mort), sowie die Gewalt gegenüber Frauen, ihre eingeschränkten Rechte und die gesellschaftlichen, religiösen und sozialen Regeln, die ihren Alltag und ihre individuellen Lebensentwürfe belasten und massiv einschränken. Ihr fiktionales Schreiben wird zum Mittel ihres Engagements gegen das Schweigen. Es wird für sie und ihre Leser: innen zum Ort, an dem eine Offenlegung verdrängter oder verschwiegener Ereignisse und gesellschaftlicher Mechanismen ebenso möglich zu sein scheint wie deren Verarbeitung. Die wohl bekannteste algerische Autorin der Gegenwart, Assia Djebar, hat sich ebenfalls mit dem Schweigen und den Konsequenzen eines Schreibens dagegen auseinandergesetzt. Für sie wird das Schreiben zu einer politischen Handlung, die über das inhaltlich in literarischen Texten Verhandelte hinaus‐ geht: Une femme algérienne qui se met à écrire risque d’abord l’expulsion de sa société. […] En fait la société veut le silence. A un moment donné toute écriture devient provocation. (Chaulet-Achour 1998, S.-21) Ihrer Ansicht nach begrüßt die Gesellschaft das Verschweigen bestimmter Ereignisse und sozialer Tabus. Eine schreibende Frau ist an sich bereits ein Tabubruch, mit dem sie soziale Ausgrenzung riskiert. Das Risiko verdoppelt sich, wenn in ihrem Schreiben Themen in den Fokus rücken, die in anderen <?page no="12"?> öffentlichen Diskursen mit Rücksicht auf den gesellschaftlichen Konsens fehlen. Das Zitat Djebars stammt aus den 1990er Jahren und damit aus der Zeit des Bür‐ gerkriegs, in der eine öffentliche Stellungnahme lebensgefährlich sein konnte. Auch wenn algerische Intellektuelle aktuell nicht mehr in gleichem Ausmaß um ihr Leben fürchten müssen, besteht eine Bedrohung - insbesondere für Frauen - nach wie vor. So wird die algerische Schauspielerin und Dramatikerin Rayhana 2010 Opfer eines versuchten Säureattentats in Paris (vgl. Hahn 2010). Die Attentäter beschimpfen sie mit sexistischen und islamistischen Parolen kurz vor der Aufführung ihres Theaterstücks A mon âge je me cache encore pour fumer, in dem Frauen in einem Hammam über weibliche Sexualität diskutieren. Assia Djebar macht in ihrem Zitat das Potential von Literatur als Provokation und damit als Auslöser gesellschaftlicher Debatten und Konflikte deutlich. Die drei für die vorliegende Arbeit ausgewählten Autorinnen, neben Djebar, die 2015 verstarb, und Bey auch Malika Mokeddem, schreiben im Bewusstsein dieser exponierten Position einer weiblichen Intellektuellen aus und in Algerien. Sie sind erfolgreiche und in Frankreich mit Preisen ausgezeichnete Autorinnen und stehen dennoch auf gewisse Weise am Rand der Gesellschaft. In ihrem Her‐ kunftsland Algerien werden ihre Erfolge gefeiert, aber die Inhalte ihrer Bücher teilweise scharf kritisiert. Sie verkörpern nach Djebar die ambivalente Stellung französisch-schreibender, algerischer Schriftsteller: innen zwischen „au-dehors“ und „au-dedans“, zwischen Marginalität und Popularität. Zuletzt wurde dies deutlich am Beispiel des Erfolgs der marokkanisch-stäm‐ migen Autorin Leїla Slimani. Die Auszeichnung mit dem Prix Goncourt im Jahr 2016 macht sie auch in ihrem Herkunftsland zum Star. Die Thematik ihrer Publikation - Sexe et mensonges. La vie sexuelle au Maroc (2017) - allerdings, wird in Marokko sehr unterschiedlich aufgenommen. Die erste Ausgabe des Buchs war bereits nach kurzer Zeit ausverkauft, aber konservative Kreise der Gesellschaft betrachten sie als Nestbeschmutzerin (vgl. Pham 2018). In einem Interview reflektiert sie die Bedeutung des Schreibens für Frauen: […]dès que vous écrivez, dès que vous décidez d’être publiée, en tant que femme, par rapport au rôle social des femmes, c’est extrêmement subversif puisque vous acceptez de vous mettre à nu. (Slimani 2018, S.-43) Sie beschreibt es als Überschreitung einer sozialen Grenze, als geradezu subver‐ sives Handeln. Das Erheben der Stimme und der Eintritt in die Öffentlichkeit ist, wie auch bei Bey und Djebar, ein politischer Akt, mit dem sich die Autorin einerseits exponiert und angreifbar macht. Andererseits allerdings fügen sie dem öffentlichen Diskurs ihre Stimmen hinzu und ergänzen ihn damit um bisher fehlende Positionen und Themen. 12 1 Einleitung <?page no="13"?> Die für die vorliegende Arbeit ausgewählten algerischen Autorinnen Bey, Djebar und Mokeddem brechen in ihren literarischen Werken vor allem das Schweigen über die individuelle Situation von Frauen in ihrem Herkunftsland Algerien, in dem Frauen rechtlich und sozial vielen Restriktionen und Diskri‐ minierungen unterliegen. Zentrales Thema der hier untersuchten Romane ist die narrative Konstruktion weiblicher Identitäten im Spannungsfeld zwischen Wunsch nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Bedürfnis nach Freiheit des eigenen Lebensentwurfs. Literatur wird dabei zu einem Ort des Verhandelns al‐ ternativer Lebensentwürfe und der expliziten Darstellung von Identitätskrisen, deren Thematisierung in anderen öffentlichen Diskursen nur eingeschränkt bis gar nicht möglich ist. Die drei Autorinnen sprechen ihrem Schreiben eine spezifische Bedeutung zu, die sich aus ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft und der Wahl ihrer Schriftsprache vor dem Hintergrund der langen Kolonialzeit Algeriens ergibt. Weibliches Schreiben ist in ihrem Verständnis ein Engagement für die Thematisierung weiblicher Lebenswelten in Algerien, mit den entsprechenden Folgen in Form von sozialen Sanktionen bis hin zu Gewalt als Konsequenz des Tabubruchs. Es bedeutet für sie, die Stimme zu ergreifen und das durch soziale Konventionen, rechtliche und religiöse Rahmenbedingungen verhängte Schweigen zu brechen und so einen öffentlichen Raum für die Belange, Bedürfnisse, Lebenswege, Leiderfahrungen und Identitätskonflikte von Frauen zu schaffen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich daher mit der Bedeutung des Erzäh‐ lens und Schreibens für Frauen in patriarchalen Gesellschaften mit geschlechts‐ bedingten Rollenzuweisungen: Es werden die Möglichkeiten, weibliche Identi‐ täten in Literatur frei zu inszenieren, d. h. alternative Identitätsentwürfe zu erproben, aufgezeigt. Aber Literatur bietet auch die Möglichkeit, die Unfrei‐ heiten der weiblichen Identitätskonstruktion zu thematisieren. Ich gehe davon aus, dass Erzählen und Literatur das spezifische Funktionspotential haben, ein Spiegel gesellschaftlicher Prozesse zu sein und diese gleichzeitig transzendieren, indem sie sie in Fiktion verarbeiten. Es gibt eine wechselseitige Beziehung zwischen literarischem Text und außerliterarischer Wirklichkeit (vgl. Pabst 2007, S. 15). Daraus ergibt sich, dass, wer erzählt, eine Stimme in der Gesellschaft hat. Es ist relevant, wer erzählt und wessen Geschichten erzählt werden, wessen Stimme gehört oder eben nicht gehört wird. Die Situation in Algerien für schreibende Frauen unterliegt spezifischen Rahmenbedingungen. Auch wenn die für diese Studie ausgewählten Autorinnen nicht alle dauerhaft in Algerien wohnhaft waren oder sind, bleibt es dennoch ihr Herkunftsland und zentraler geographischer, emotionaler und kultureller Bezugspunkt sowie Handlungsort der ausgewählten Romane. 1.1 „Contre tous les silences“ - Weibliches Schreiben in Algerien 13 <?page no="14"?> 1 Thielmann spricht von „extremen Nationalismus“ (Thielmann 2006, S.-8.). 2 Darüber hinaus kommt dem Versuch ökonomische Souveränität herzustellen besondere Bedeutung zu (vgl. Thielmann 2006, S.-5). Die Werke, die im Folgenden untersucht werden, sind seit den 1980er veröffentlicht worden. Der Zeitraum von Ende der 1980er Jahre bis heute markiert in Algerien eine Phase radikaler Veränderungen und innenpolitischer Konflikte. Nach der Unabhängigkeit im Jahr 1962 gibt es eine längere Phase des inneren Friedens, allerdings bewirkt durch eine nationale Einheitspolitik, die innergesellschaftliche Konflikte unterdrückt. Durchgesetzt wird diese Politik von der regierenden sozialistischen Einheitspartei FLN (Front de Libération Nationale bzw. ğabhat at-tahrīr al-waţanī), die sich als Gewinnerin des Unab‐ hängigkeitskrieges als alleinige Machtoption inszeniert und sich dadurch lange politisch und gesellschaftlich legitimiert (vgl. Stora 1994, S.-89ff.). In den 1980er Jahren bröckelt die Herrschaft des FLN bis es schließlich, hervorgerufen durch Demonstrationen und ein vermehrtes Engagement der Zivilbevölkerung, zu ersten freien Wahlen kommt. Diese kurze Zeitspanne der Demokratisierung endet, als die islamistische Partei FIS die Kommunalwahlen gewinnt (vgl. ebd., S. 17). Die Regierung erkennt das Ergebnis nicht an und annulliert die Wahlen. In der Folge kommt es zum Bürgerkrieg - der soge‐ nannten „décennie noire“ -, der über ein Jahrzehnt dauern soll (vgl. Heiler 2005). Zunächst richten sich die Attentate gegen Intellektuelle und Ausländer: innen. Beide Gruppen verlassen nach und nach das Land. Die spezifische Situation Algeriens nach dem Ende der Kolonialzeit und wäh‐ rend der Unabhängigkeitsprozesse ist geprägt von dem Wunsch, eine nationale und kulturelle Einheit herbeizuführen 1 . Der Versuch, kulturelle Unabhängigkeit 2 von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich zu erlangen, äußert sich u. a. durch eine homogenisierende Sprachpolitik, Islamisierung und eine arabische Kulturpolitik (vgl. Stora 2012). Literatur als Teil des Kultursystems nimmt hierbei einen besonderen Stellenwert ein. In einer Situation, in der Kulturpolitik und nationale Identitätsbildung eng verknüpft sind, ist es von besonderer Bedeutung, wenn in Literatur gesell‐ schaftliche Prozesse, politische Entscheidungen und traditionelle Lebensweisen hinterfragt werden. Auch die gesellschaftliche Stellung, familiäre und gesell‐ schaftliche Rolle von Frauen kann dann in Literatur eine differenzierter und kritischer betrachtet werden als es der kulturpolitische und nationalidentitäre Diskurs möglicherweise zulässt. Während des Arabischen Frühlings 2011 gibt es auch in Algerien Demonst‐ rationen. Die Bewegung (wenn auch in Algerien weniger dominant im Vergleich zu Tunesien) offenbarte den Wunsch der Bevölkerung einer Veränderung 14 1 Einleitung <?page no="15"?> hin zu einer gesellschaftspolitischen Öffnung. Algerien ist nach wie vor mit innenpolitischen und gesellschaftlichen Problemen konfrontiert, zu denen für einen großen Teil der Bevölkerung u. a. Jugendarbeitslosigkeit, Korruption, Wohnungsnot, Terrorismus, fehlende wirtschaftliche und persönliche Entfal‐ tungsspielräume zählen. Hinzu kommen fehlende Freiheiten in Meinungsäuße‐ rung und individueller Lebensgestaltung. Zum Narrativ der Wiederaneignung einer algerischen Eigenständigkeit ge‐ hört als konkrete Konsequenz die Erklärung des Islam zur Staatsreligion. Das führte verstärkt zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über die Reich‐ weite des Islam im gesellschaftlichen und politischen Leben, die auch heute noch stattfinden und durch die Ereignisse von 2011 und auch aktuelle Entwicklungen in vielen arabischsprachigen Ländern wiederum an Brisanz zunehmen. Zu diesen Auseinandersetzungen gehört auch die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle der Frauen und ihrem rechtlichen Status. Die Infragestellung einer eher traditionellen und stark sozial reglementierten Rolle der Frauen und ihrer durch islamische Rechtsprechung eingeschränkten Rechte hat vor diesem Hintergrund weitreichende Auswirkungen, da sie das bestehende gesellschaftliche Ordnungssystem angreift. Die Kritik von Bewahrer: innen des Status Quo gilt dem vermeintlichen Bezug auf „westliche“ Werte des Individualismus und der individuellen Freiheit. Diese Werte wie‐ derum widersprächen einer Tradition, in der die Gesamtgesellschaft besondere Bedeutung hat. Der Bezug auf diese Werte stünde außerdem im Widerspruch zu dem Versuch der Abgrenzung zum Westen. Darüber hinaus verhindere es die Herstellung kultureller Eigenständigkeit durch Alterität. All diese Aspekte liefern Konfliktpotential. Zudem ist die Auseinandersetzung um die Rolle der Frauen auch in Algerien ein zentraler Aushandlungspunkt für grundsätzliche gesellschaftliche Veränder‐ ungsprozesse, die durch wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung, Techno‐ logisierung etc. auf die Gesellschaft einwirken (vgl. Thielmann 2006, S. 11ff.). Der Wunsch nach mehr individueller Freiheit, Wohlstand und Mitbestimmung nimmt zu. Im Zuge dieser Prozesse gibt es regressive, traditionalistische Kräfte, die um Bewahrung des Status Quo bemüht sind. Deren Ziel ist die Verhinderung von weiblicher Emanzipation, eine - im Patriarchat - konsensfähige und somit vergleichsweise einfache Handlungsoption. Ein nach wie vor national-patriotisch geprägter offizieller politischer Diskurs in Algerien scheint geprägt von dem Versuch eine einheitsstiftende National‐ geschichte zu verbreiten. Die Infragestellung bestehender Geschlechterverhält‐ nisse, die notwendigerweise Reformen der Familienpolitik nach sich ziehen 1.1 „Contre tous les silences“ - Weibliches Schreiben in Algerien 15 <?page no="16"?> 3 Vgl. Dejeux (1992 und 1993, S.-47-49) sowie Déjeux (1994, S.-21-44). würden, wird dabei als bedrohlich für das Gesellschaftsmodell und dessen Einheitspostulat empfunden. Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung des besonderen Stellen‐ werts von Literatur ist es aufschlussreich, sich die literarischen Inszenierungen von Weiblichkeit und weiblichen Identitätsentwürfen anzuschauen. Die vorlie‐ gende Arbeit beschäftigt sich daher mit folgenden Leitfragen: Welche Möglich‐ keiten gibt es, diese Inszenierungen bzw. auch die Auseinandersetzung mit Rollenzuschreibungen in Literatur darzustellen? Welches besondere Potential birgt Fiktion bei der Umwertung dominanter Frauenrollen und der Darstellung alternativer Weiblichkeitsentwürfe? Der besondere Handlungsbzw. Inszenie‐ rungsspielraum von Literatur nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. 1.2 Zum Stand der Forschung Überblicksdarstellungen zu von Frauen verfasster Literatur aus Algerien, bzw. dem Maghreb insgesamt, stammen zumeist bereits aus den 1990er Jahren. Dies kann auf die bedeutende Zunahme der Veröffentlichungen von Frauen in Alge‐ rien ab den 1980er Jahren zurückgeführt werden (vgl. Bonn 1994). Zu den um‐ fangreichsten Einführungen gehören sicherlich neben den Arbeiten von Charles Bonn die Publikationen von Jean Déjeux 3 und Christiane Chaulet-Achour (vgl. 1998). Im deutschsprachigen Raum wird dies ergänzt durch Sammelbände herausgegeben von Ernstpeter Ruhe (vgl. 1993). In neueren Publikationen lässt sich eine Verschiebung des theoretischen Fokus in Richtung der Analyse von postkolonialen Merkmalen maghrebinischer Literatur beobachten. Dazu finden sich u. a. Studien in dem von Gesine Müller und Susanne Stemmler herausgegebenen Band Raum-Bewegung-Passage. Post‐ koloniale frankophone Literaturen (Müller und Stemmler 2009) sowie in Najib Redouanes Diversité littéraire en Algérie (Redouane 2010). Das Fehlen aktuellerer Überblicksdarstellungen kann auch durch eine er‐ schwerte Zuordnung zur ohnehin problematischen Kategorie der National‐ literatur erklärt werden, da ab den 1990er Jahren eine wachsende Anzahl an französisch-schreibenden Autorinnen zwar Algerien als Bezugspunkt und Handlungsort ihrer Texte behalten, aber zunehmend nach Frankreich emig‐ rieren. Aus dem Korpus der vorliegenden Studie betrifft dies Malika Mokeddem und zeitweise Assia Djebar. Beide zeichnen sich durch Migrationserfahrung im Erwachsenenalter nach Frankreich und die Wahl des Französischen als Schrift‐ 16 1 Einleitung <?page no="17"?> 4 Arend sieht es als Aufgabe der Literaturgeschichtsschreibung, „den hybriden Charakter und die Polyphonie der französischsprachigen Maghrebliteratur in einem ebenfalls polyphonen literaturgeschichtlichen Diskurs umzusetzen“ (Arend 1998, S.-143). sprache sowie eine Kindheit und Jugend und im Falle Djebars regelmäßige weitere Aufenthalte in Algerien und eine inhaltliche Fokussierung der literari‐ schen Werke auf Algerien aus. Das Konzept einer Nationalliteratur aufgrund von Herkunft/ Wohnort und Schriftsprache der Autorinnen greift hier nicht. Im Sinne Saids wird dadurch die „rhetorische Trennung von Kulturen“ (Said 1994, S. 77) aufgehoben und zeigt die Komplexität literarischer und kultureller Verflechtungen auf 4 . Trotz der breiten Rezeption der ausgewählten Autorinnen liegen Forschungs‐ arbeiten hauptsächlich zum Werk Assia Djebars vor, die sicherlich die Bekann‐ teste der drei ist. Als eines der ersten Werke im deutschsprachigen Raum vereint der Band Assia Djebar, herausgegeben von Ernstpeter Ruhe (2001), vereint Artikel der Djebar-Expert: innen, u. a. Claudia Gronemann, Mireille Calle-Gruber, Priscilla Ringrose, Clarisse Zimra, Allison Rice und Winifred Woodhull. Zum Werk Malika Mokeddems gibt es u. a. einen ausführlichen Sammel‐ band von Redouane, Bénayoun-Szmidt, Elbaz (Redouane et al. 2003), darunter Analysen von Christiane Chaulet-Achours zum Thema der gesellschaftlichen Stellung der Autorin und Intellektuellen Malika Mokeddem. Zu Maїssa Bey finden sich ebenfalls Artikel in Sammelbänden u. a. im von Gronemann und Pasquier herausgegebenen Band Scènes des genres au Maghreb. Masculinités, critiques queer et espaces du féminin/ masculin (Gronemann und Pasquier 2013). Ausführliche Monographien, die sich auf das Einzelwerk Mokeddems und Beys fokussieren, fehlen bisher. Auch in der Quantität der vorhandenen Studien gibt es eine bedeutende Lücke zwischen den Publikationen zum literarischen Schaffen Djebars auf der einen und dem Mokeddems und Beys auf der anderen Seite. Inhaltlich richtet sich ein zentrales Interesse der Forschung zum Werk maghrebinischer Autorinnen auf die autobiographischen Aspekte in ihrem Schreiben (vgl. Richter 2004). Gronemann (2002) arbeitet die autobiographische Dimension der fiktionalen Texte verschiedener Autor: innen heraus, darunter u. a. Assia Djebar. Ihre Überlegungen beziehen sich auf die postmoderne Vorreiterrolle maghrebinischer Autor: innen in Bezug auf die Verknüpfung von Autobiographie und Fiktion. In einer weiteren Arbeit (2012) vertieft sie Djebars Konzeption von Autorschaft, und kommt zu dem Schluss, dass sie „Autorschaft als Subversion klassischer patriarchaler Autoritätsmodelle [ent‐ wirft]“ (Gronemann et al. 2012, S. 197). Diese These, die gestützt wird von der 1.2 Zum Stand der Forschung 17 <?page no="18"?> Herausarbeitung narratologischer Besonderheiten wie multiperspektivischem Erzählen und Pluralität der Erzählstimmen in Djebars Texten, ist auch für die spätere Analyse der vorliegenden Arbeit fruchtbar. Sie kann daher an die Arbeit Gronemanns in diesem Punkt anknüpfen. Im Gegensatz zu Gronemann, die theoretische Überlegungen zur Gattung der Autobiographie und dem innovativen Potential des autobiographischen Schreibens aus dem Maghreb betrachtet, sind für Alison Rice die autobiogra‐ phischen Aspekte in Anlehnung an Derrida „testimonies“ (Rice 2012, S. 3ff.) zentraler Bestandteil ihrer Auseinandersetzung mit dem Werk Djebars. Rice untersucht u. a. auch die Texte Djebars, Mokeddems und Beys unter diesem Aspekt. Sie untersucht die Beziehungen zwischen „testimony and fiction“ (ebd.). In ihrer Studie finden sich kaum detaillierte Textanalysen einzelner literarischer Texte. Sie stellt allerdings fiktionale, autobiographische und theoretische Texte der ausgewählten Autorinnen auf eine fruchtbare Art in einen Zusammenhang und kommt zu dem Schluss, dass die von ihr untersuchten Texte sich über Gattungsgrenzen hinwegsetzen (vgl. Rice 2012, S. 16), was sie zu einer Vielzahl an Verstehensmöglichkeiten führt. Rice sieht in Djebars und Beys Texten die Zerstreuung des stereotypen Bildes von algerischen Frauen und eine Ausei‐ nandersetzung mit den multiplen Herausforderungen im Algerien nach der Unabhängigkeit (vgl. Rice 2012, S.-22). Auch Mildred Mortimer (2013) sowie Clarisse Zimra (1992 und 1993) setzen sich, wie auch Rice, mit Djebars Sicht auf die patriarchalen Strukturen in der algerischen Gesellschaft und deren literarischer Inszenierung auseinander. Mireille Calle-Gruber hingegen beschäftigt sich in ihrer Studie Assia Djebar ou la résistance de l’écriture. Regards d’un écrivain d’Algérie (Calle-Gruber 2001) mit der besonderen sprachlichen Situation Djebars, in deren Familie Arabisch ebenso wie Berbersprachen gesprochen wurden und die dennoch auf Franzö‐ sisch schreibt. Calle-Gruber nimmt in ihrer Studie neben dem inhaltlichen Schwerpunkt zur Wahl der Schriftsprache Djebars detaillierte Textanalysen vor. Sie entgeht damit der Versuchung einer vornehmlich feministischen oder post‐ kolonialen Lesart, sondern fokussiert auf das literarische Potential der Texte. Ein weiterer zentraler Schwerpunkt ist die Thematisierung des Schweigens. Damit bezieht sie sich auch auf das Hör- und Lesbarmachen weiblicher Stimmen durch Djebars Texte. Gleichzeitig verweist Calle-Gruber in der Analyse ihres Werks damit aber allgemeiner auf die zentrale Bedeutung des Zuhörens für die Inszenierung vielfältiger Perspektiven, Lebensweisen und Erfahrungen. Die Studie von Priscilla Ringrose (2006) setzt sich mit ausgewählten Texten Assia Djebars unter der Prämisse auseinander, Parallelen und Widersprüche zwischen ihrem Schreiben und den theoretischen Texten der französischen Fe‐ 18 1 Einleitung <?page no="19"?> ministinnen Hélène Cixous, Julia Kristeva und Luce Irigaray sowie Leila Ahmed und Fatima Mernissi auszumachen. Ein ähnlicher Ansatz findet sich bei Jane Hiddleston, indem sie in Untersuchungen, ebenfalls aus 2006, Djebars Leben sowie ihr Werk in Bezug zu postkolonialen und aktuellen französischen philo‐ sophischen Theorieansätzen setzt. Ihr Erkenntnisinteresse gilt dabei Djebars Beschäftigung mit einer algerischen Identität, die sie außerhalb von Dualismen wie Islam und Westen, Kollektivität und Individualität zu verorten sucht (vgl. Hiddleston 2006). Einen anderen Ansatz bei der Analyse des Werks von Assia Djebar verfolgt Beatrice Schuchardt. Der interdisziplinäre Ansatz in ihrer 2006 erschienenen Dissertation Schreiben auf der Grenze. Postkoloniale Geschichtsbilder bei Assia Djebar (Schuchardt 2006) will postkoloniale Literatur als Teil der Geschichts‐ schreibung begreifen. Ihrer Ansicht nach kann ein derartiger Analyseansatz das subversive Potential postkolonialer Literatur in Bezug auf die Historiographie verdeutlichen, da in der Literatur als kreativem und damit vom herrschenden Machtdiskurs weitgehend befreitem Medium eine differenziertere, ambivalen‐ tere Geschichtsschreibung möglich sei. Mertz-Baumgartner beschäftigt sich in ihrer Untersuchung Ethik und Ästhetik der Migration (Mertz-Baumgartner 2004) u. a. mit Mokeddem. Sie entwirft mit Hilfe theoretischer Konzepte der Postcolonial Studies (u. a. Homi K. Bhabha) eine Ethik der Migration, die sie mit Beispielen literarischer Texte algerischer Autorinnen belegt. Anhand des Konzepts der Transkulturalität stellt sie die These auf, dass die Autorinnen einen Gegenentwurf zu „monovalenten Kultur- und Nationenkonzepten“ (Mertz-Baumgartner 2004, S. 18) verwirklichen. Als Teil dieses Gegenentwurfs, so arbeitet sie heraus, werden Identitäts- und Kulturbegriff als Folge der Auseinandersetzung mit der Migrationserfahrung revidiert (vgl. ebd., S. 24). Grundlage ihrer Analyse sind dabei literarische Texte von Malika Mokeddem, Latifa Ben Mansour, Leїla Marouane und Fatima Gallaire. Methodisch bezieht Mertz-Baumgartners Studie die Aussagen der Auto‐ rinnen des Korpus selbst mit ein, um die theoretischen Überlegungen zu ergänzen. Dazu werden Äußerungen aus Interviews oder Artikeln, in denen sich die Autorinnen mit dem Thema Migration auseinandersetzen, gegenübergestellt (vgl. Mertz-Baumgartner 2004, S. 66ff.). Diese Methodik wird auch in der vor‐ liegenden Arbeit in Kapitel 3 übernommen, um den theoretischen Überlegungen eine weitere Dimension zu verleihen und die Reflektionen der Autorinnen zu ihren Texten, ihrer Stellung im Literaturbetrieb und die Thematik des weiblichen Schreibens mit einzubeziehen. 1.2 Zum Stand der Forschung 19 <?page no="20"?> 5 Zur Auseinandersetzung mit dem Identitätsbegriff bzw. mit Identitätsdiskursen in den Kulturwissenschaften sind u. a. Sammelbände von Sonja Altnöder und Martin Lüthe (2011), Aleida Assmann und Heidrun Friese (1999) und Astrid Erll, Marion Gymnich, Asgar Nünning (Erll et al. 2003) als Grundlage genommen worden. Sie bieten einen Überblick über den Umgang mit dem Identitätsbegriff in der Literatur(analyse) und die Entwicklung der Identitätsdiskurse. In Kapitel 2.2 wird zu weiterer Literatur aus der Identitätsforschung Bezug genommen. 6 Der Band Arab women’s lives retold. Exploring identity through writing (Golley 2007), herausgegeben von Nawar Al-Hassan Golley, setzt sich gezielt mit der literarischen Inszenierung weiblicher Identitäten in den Texten von Autorinnen aus dem arabischen Sprachraum auseinander. Im Fokus der vorgestellten Studien liegen die Analyse autobiographischen Schreibens sowie die theoretische Auseinandersetzung damit. Darüber hinaus finden sich die Untersuchung des historiographischen Potentials im Schreiben der Autorinnen und die Beschäftigung mit dem Unabhängigkeits- und Bürger‐ krieg in Algerien. Ein weiterer Schwerpunkt sind Vergleiche mit und das Aufzeigen von inhaltlichen Übereinstimmungen mit theoretischen Positionen der französischen feministischen Philosophie. Außerdem gibt es eingehende Analyse der Spuren migratorischen Erlebens sowie der narrativen Verarbeitung desselben. Die Studien bilden Anknüpfungspunkte für die vorliegende Arbeit, u. a. methodisch in der Nebeneinanderstellung fiktionaler sowie theoretischer, au‐ tobiographischer bzw. essayistischer Texte der ausgewählten Autorinnen (vgl. Kapitel 3). Jedoch findet sich keine umfassende Auseinandersetzung mit dem Fokus auf der Inszenierung von weiblichen Identitäten in den Texten Djebars, Beys und Mokeddems. Die vorliegende Arbeit fragt nach der Konstruktion eines weiblichen Identitätsentwurfs 5 unter den am Handlungsort Algerien gegebenen Bedingungen. So wird untersucht wie Identitäten narrativ 6 konstruiert werden, ob ein stabiler freier Identitätsentwurf gelingen kann, welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen und wie die Protagonistinnen mit Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten in der Identitätskonstruktion umgehen. Methodisch werden dabei die ausgewählten Texte der Autorinnen nebenei‐ nandergestellt und in ihrer gesamten Länge narratologisch untersucht. Diese Vorgehensweise zielt auf ein weiteres Forschungsdesiderat, da die ästhetische Komponente der Texte in den Studien der anglo-amerikanische Wissenschaft‐ lerinnen, die sich auf die kontextuelle Einordnung der Literatur konzentrieren und die Literatur als Medium bzw. Darstellungsform der Stellung der Frauen in der algerischen Gesellschaft betrachten, häufig zu kurz kommt. Indem die vorliegende Arbeit die ausgewählten Texte systematisch narratologisch 20 1 Einleitung <?page no="21"?> untersucht, hebt sie sich methodisch von einem Großteil der vorliegenden Forschungsliteratur ab. 1.3 Thesen und Ziele der Arbeit Aufbauend auf kulturwissenschaftlichen, soziologischen und literaturwissen‐ schaftlichen Studien geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass die Darstel‐ lung weiblicher Identitätsentwürfe in den Romanen vielschichtiger und wider‐ sprüchlicher ist als es andere Diskurse dies in Algerien öffentlichkeitswirksam abbilden. Die literarischen Figuren in den ausgewählten Texten stellen traditionelle weibliche Identitätsentwürfe und -narrative in Frage, bzw. verweigern sich ihnen. Gleichermaßen wird die Vorstellung eines stabilen Identitätsentwurfs hinterfragt. Eine der Forschungsfragen der Studie ist daher, inwiefern diese Verweigerung in einen positiven eigenen Identitätsentwurf, im Sinne der Mög‐ lichkeiten freier Identitätskonstruktionen, überführt werden kann, oder ob dies scheitert (scheitern muss). Die zugrundeliegenden literarischen Texte beziehen sich auf zwei kulturelle Referenzsysteme: Frankreich und Algerien. Die weiblichen Figuren setzen sich mit den algerischen Identitätsangeboten auseinander. In einigen Fällen emigrieren sie nach Frankreich bevor ihre Lebensentwürfe vollends zu scheitern drohen. Frankreich, bereits ein inhärentes Bezugssystem durch die Wahl der Schriftsprache, stellt dadurch zunächst einen Sehnsuchtsort dar, dennoch treffen die Figuren auch dort auf Grenzen ihrer Lebensentwürfe. Im Kapitel zu den theoretischen Überlegungen werden verschiedene Iden‐ titätskonzepte vorgestellt. Das ist einerseits relevant für die Textanalyse, in der gefragt wird, wie sich die Identität der weiblichen Figuren konstituiert und wogegen sie sich abgrenzt. Andererseits werden die Konzepte auch auf der Ebene der Textkonstruktion und -entstehung angewandt. Das Schreiben bzw. die schriftstellerische Tätigkeit der Autorinnen wird als Prozess der Iden‐ titätskonstruktion verstanden. In der Produktion literarischer Texte eröffnet sich für die Autorinnen die Option weibliche Identitäten zu entwerfen, die sich gegen bestehende (traditionelle) Identitätsentwürfe in Algerien abgrenzen, bzw. das Scheitern (freier) weiblicher Identitätskonstruktion in der algerischen Gesellschaft zu dokumentieren. Damit bezieht sich der Begriff Identität auf zwei Bereiche der vorliegenden Arbeit, die somit ineinandergreifen: Identitätskonstruktion findet im Prozess des Schreibens statt, der wiederum als Ergebnis der literarischen Texte weibliche 1.3 Thesen und Ziele der Arbeit 21 <?page no="22"?> Identitätsentwürfe produziert. Die weiblichen Figuren in den Texten grenzen sich vor allem von den traditionellen und konventionellen Identitätsangeboten in Algerien ab, ebenso entziehen sie sich Zuschreibungen, die ihnen als Migran‐ tinnen in Frankreich widerfahren. Aus dieser Skizzierung der Thesen der Arbeit ergibt sich eine dreigeteilte Fragestellung und Zielsetzung, die sich auf die unterschiedlichen Ebenen eines Textes beziehen: 1. Textebene: Es wird betrachtet, wie weibliche Identitäten in den ausgewählten Texten der drei Autorinnen literarisch inszeniert werden. Außerdem wird unter‐ sucht, mit welchen Mitteln die in der narrativen Darstellung der Identitäts‐ konstruktionen erkennbare Instabilität und Ambivalenz umgesetzt werden und welche Wirkung sich daraus ergibt. 2. Konstruktionsebene: Eine zweite Grundannahme der vorliegenden Studie bezieht sich darauf, dass der Schreibprozess als Prozess der Identitätsfindung eine Analogie zwischen den literarischen Figuren und ihren Schöpferinnen schafft, d. h. eine autobiographische Dimension beinhaltet. Das Erzählen als Kulturtechnik verbindet die Ebene der Figuren und die der Autorinnen. Gleichzeitig wird so der Konstruktionscharakter von Identität und dessen narrative Gestaltung offengelegt. 3. Rezeptionsebene: Eine weitere Grundannahme ist, dass Literatur in dem Fall der analysierten Texte die Funktion eines Gegendiskurses übernimmt. Es wird zu zeigen sein, ob und wie dies an den untersuchten Texten auszumachen ist. 1.4 Weibliche Identitätskonzepte in den französischsprachigen Romanen algerischer Schriftstellerinnen: Auswahl der Texte und Aufbau der Arbeit Als Untersuchungsgegenstand wurden Texte der Autorinnen Maїssa Bey, Ma‐ lika Mokeddem und Assia Djebar gewählt. Die Wahl ergibt sich einerseits aus der Popularität und breiten Rezeption dieser Schriftstellerinnen, die einen leichten Zugang zu ihrem Werk ermöglichen, aber auch eine breite Leser: in‐ nenschaft ausdrücken. Ihre Bedeutung innerhalb des literarischen Feldes in Frankreich und Algerien ist vergleichbar. Die 2015 verstorbene Assia Djebar ist sicherlich die bekannteste. Sie war u. a. Mitglied der Académie française 22 1 Einleitung <?page no="23"?> 7 Maїssa Bey (geb. 1950), Malika Mokeddem (geb. 1949) und Assia Djebar (1936 - 2015). 8 Dazu auch Maissa Bey: „Pour moi, enfant, le première rencontre avec l’autre s’est faite dans la violence. Dans le bruit des bottes des militaires venus une nuit chercher mon père“ (Bey 2009, S.-39). und Preisträgerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Aber auch Malika Mokeddem und Maїssa Bey sind vielfach ausgezeichnet, z. B. mit dem LiBeraturpreis (Bey), dem Prix de l’Afrique Méditerranée (Bey, Mokeddem) oder dem Prix Littré (Mokeddem) (vgl. Baddoura 2009). Die drei Autorinnen verbindet außerdem das Französische als gemeinsame Sprache ihres literarischen Schaf‐ fens. Sie setzen sich darüber hinaus mit der Wahl ihrer Schriftsprache ebenso wie mit ihrer Stellung als Schriftstellerinnen und Intellektuelle in der algerischen sowie der französischen Gesellschaft auseinander. Die ausgewählten Autorinnen sind noch zur Kolonialzeit geboren 7 und haben den Krieg um die Unabhängigkeit miterlebt. Sie sind mit dem Einfluss zweier unterschiedlicher und widersprüchlicher Welten aufgewachsen. Maїssa Bey beschreibt es als „sensation de me tenir à la lisière de deux mondes entre lesquels l’écart ne cessait de se creuser“ (Bey 2009, S. 40). Für sie prägt die Kolonialzeit nicht nur die Wahrnehmung der Welt, sondern auch die Eigenwahrnehmung. Sie begreift sie als identitätsstiftend. Si je m’attarde ainsi sur la période coloniale, c’est en premier lieu parce qu’indéniab‐ lement, c’est la colonisation qui a forgé ma représentation du monde et qui a sans nul doute donné sens (à la fois signification et direction) à mes engagements d’adulte, mais aussi parce que la question de l’identité passe nécessairement par l’histoire […]. (Bey 2009, S.-36) Die Erfahrung des Kolonialismus führt zur ersten Selbstwahrnehmung als Andere, die intersektionaler Diskriminierung und Gewalterfahrung ausgesetzt ist. 8 Dadurch ist er präsent im Werk der drei Autorinnen und wird konkret sichtbar durch die Wahl des Französischen als Schriftsprache. Die Autorinnen verbindet darüber hinaus die Erfahrung des Bürgerkriegs in den 1990er Jahren, den u. a. Bey in ihrem Roman Puisque mon coeur est mort (2010) und Djebar in Le Blanc d’Algérie (1996) thematisiert. Ein weiterer Grund für die Wahl der Autorinnen ist ihre wiederholte Thema‐ tisierung der Situation von Frauen in Algerien, die sich durch ihre jeweiligen Werke ziehen. Die ausgewählten Romane Cette fille-là (Bey 2001), Surtout ne te retourne pas (Bey 2005), La transe des insoumis (Mokeddem 2003), Je dois tout à ton oubli (Mokeddem 2008) sowie Ombre Sultane (Djebar 1987) legen dabei insbesondere den Fokus auf die durch innere Konflikte geprägte Auseinandersetzung mit Identitätsentwürfen und die Suche nach Stabilität. 1.4 Weibliche Identitätskonzepte in französischsprachigen Romanen 23 <?page no="24"?> Mit der Untersuchung der Romane Beys und Mokeddems, die in den 2000er Jahren erschienen, will diese Studie auch einen Beitrag zur Erforschung alge‐ rischer Gegenwartsliteratur in französischer Sprache leisten. Assia Djebars Roman dient dabei als zeitliche Klammer, da er noch vor dem Bürgerkrieg in den 1990er Jahren und den daraus resultierenden gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Folgen erschien. Es erlaubt somit eine diachrone Perspektive auf die Darstellung weiblicher Lebens- und Identitätsentwürfe in den Romanen algerischer Autorinnen. Die Analyse der Figuren der ausgewählten Romane beschreibt die Identi‐ tätssuche von Frauen in Algerien, die in jedem Text eng verknüpft mit dem Schreiben ist. Es werden von jeder Autorin zwei zentrale Figuren eingehend analysiert. Bei Mokeddem und Bey sind es jeweils zwei Romane mit einer Protagonistin. Bei Djebar ist es ein Roman mit zwei Protagonistinnen. Djebars Text steht an letzter Stelle obwohl er chronologisch der älteste ist, da er in der Zeit vor dem Bürgerkrieg geschrieben und veröffentlicht wurde und die Erwartungen an eine gesellschaftliche Entwicklung thematisiert. Er bietet damit eine historische Verortung, aber auch eine inhaltliche Klammer der Analyseer‐ gebnisse. Der intertextuelle Bezug in Ombre Sultane auf den traditionellen Text aus Tausendundeiner Nacht und der fiktiven Erzählerin Scheherazade bildet gewissermaßen den Rahmen weiblichen Erzählens ab, wie er in der vorliegenden Arbeit untersucht wird. Die Textanalyse konzentriert sich bewusst auf die vollständige Untersuchung der Texte, anstatt einzelne Textstellen als Beispiele für spezifische Themen oder Fragestellungen heranzuziehen. Diese Art der Analyse ermöglicht es, den einzelnen Text in seiner Gesamtheit unter dem Blickwinkel der der Arbeit zugrundgelegten Fragestellungen zu betrachten. Der Vorteil dieses Vorgehens ist die Möglichkeit dabei eine thematische und formale Entwicklung zu be‐ obachten, die sich in höherem Maße aus den Texten selbst ergibt als dies bei einer Konzentration auf spezifische Einzelfragestellungen, zu denen Fragmente der Texte herangezogen würden, der Fall wäre. An den beispielhaft ausgewählten Romanen werden die Thesen überprüft. Diese Arbeit kann es nicht leisten das gesamte Œuvre der drei Autorinnen zu analysieren und konzentriert sich daher auf die Werke, deren Inhalt für das angestrebte Erkenntnisinteresse am fruchtbarsten scheint. Der erste Teil der Arbeit, in dem die theoretischen Grundlagen gelegt werden, beginnt mit einer Überblicksdarstellung der Geschlechterverhältnisse im post‐ kolonialen Algerien und betrachtet dabei die besonderen Auswirkungen auf die gesellschaftliche Stellung und Rollenzuschreibung von Frauen in kolonialen Strukturen und in postkolonialen Prozessen. Im Weiteren werden theoretische 24 1 Einleitung <?page no="25"?> Konzepte von Identität vorgestellt und diese insbesondere auf ihr narratives Potential beleuchtet. Daran anschließend werden Überlegungen zum Wirkungs‐ potential von Literatur als Gegendiskurs zu den traditionellen politischen und gesellschaftlichen Diskursen im Kontext Algeriens vorgestellt. Vor der Analyse verknüpft ein Übergangskapitel die theoretischen Grundlagen mit der folgenden Untersuchung der Romane, indem es explizit weibliches Schreiben im Kontext Algeriens und die Funktionen weiblichen Schreibens anhand des Selbstverständnisses und der Strategien der Autorinnen thematisiert. Im Zuge der Annahme, dass Identitätskonstruktion im Prozess des Schreibens stattfindet, wird untersucht, welche Strategien die Autorinnen in ihrem Schreiben entwi‐ ckeln und welches Selbstverständnis daraus resultiert. Die nicht-fiktionalen Texte der Autorinnen sind Teil eines Diskurses über weibliches Schreiben. Dabei wird die Frage gestellt, welcher Stellenwert der literarischen Textproduktion innerhalb dieses Diskurses zukommt. Daran schließen sich im zweiten Teil der Arbeit die Romananalysen an, in denen die Möglichkeiten der literarischen Inszenierung von weiblichen Identi‐ tätsentwürfen im Kontext Algeriens an konkreten Beispielen illustriert werden. Im abschließenden Kapitel werden schließlich Strategien und Möglichkeiten weiblicher Identitätskonstruktion in den französischsprachigen Romanen der drei algerischen Autorinnen unter den thematischen Schwerpunkten des Erzäh‐ lens, der Bewegung und der Solidarität zusammengefasst. 1.4 Weibliche Identitätskonzepte in französischsprachigen Romanen 25 <?page no="27"?> 9 Bei Verwendung des Begriffs „postkolonial“ müssen zwei Ebenen unterschieden werden: Auf Ebene einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit bestehenden gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen einerseits bezeichnet das Präfix „post“ keine Zeitlichkeit im Sinne einer Zeitspanne nach Ende der Kolonialzeit, sondern eine kon‐ tinuierliche Auseinandersetzung mit nachwirkenden diskursiven Machtverhältnissen (vgl. Fischer-Tiné 2010, Abschn. 6). So verstanden bleibt er zielführend für eine Analyse dieser Verhältnisse im Kontext Algeriens. Andererseits aber ist er auf Ebene herrsch‐ ender politischer Diskurse kritisch zu sehen: das Attribut „postkolonial“ kann von der politischen Elite einer ehemaligen Kolonie als Legitimation für politischen Stillstand benutzt werden, wenn es erlaubt gesellschaftspolitisch unerwünschte Veränderungen als kolonialen Einfluss zu diskreditieren. 2 Theoretische Überlegungen zur Konstruktion weiblicher Identitäten in Algerien 2.1 Geschlechterverhältnisse im postkolonialen Algerien Die spezifische Entwicklung von Geschlechterverhältnissen unter dem Einfluss kolonialer Herrschaft bzw. in der Herausbildung postkolonialer Gesellschaften ist aufgrund der mehr als 130jährigen Kolonialgeschichte Algeriens mit Frank‐ reich ein bedeutender Aspekt bei der Betrachtung weiblicher Lebensentwürfe in den ausgewählten Romanen. Auch wenn auf Handlungsebene der Romane keine explizite Reflexion der Wechselwirkungen zwischen ehemaliger Kolonialmacht und ehemaliger Kolonie stattfindet, ist Frankreich implizit schon durch die Verwendung der französischen Sprache als Referenzpunkt präsent. Frankreich ist außerdem ein Möglichkeitsraum, der nicht zuletzt das Potential eines (Bildungs-) Aufstiegs für die weiblichen Figuren bietet und die Option gewisser, wenn auch nicht bedingungsloser, Freiheiten in Aussicht stellt. Der postkoloniale Bezug ist auch auf Ebene der Textproduktion von Bedeu‐ tung, wenn die Position, von der aus die Autorinnen sprechen bzw. schreiben, betrachtet wird: Denn diese ist durchaus beeinflusst von der kolonialen Ver‐ gangenheit und den darauf folgenden postkolonialen Aushandlungsprozessen zwischen Algerien und Frankreich 9 . Die kritische Betrachtung der Geschlech‐ terverhältnisse und der gesellschaftlichen Rollenerwartungen an Frauen in den untersuchten Romanen findet in einem spezifischen Kontext statt, der von der kolonialen Vergangenheit geprägt ist. Eine Auseinandersetzung mit der Situation von Frauen in Algerien muss sich daher mit der historischen <?page no="28"?> Entwicklung sowie den Dynamiken kolonialer Diskurse auseinandersetzen. Dabei bewegt sie sich zwischen folgenden Polen: Auf der einen Seite die historische Instrumentalisierung von Frauenrechten als ein Legitimationsgrund für die Kolonialisierung und Zeichen eines kulturellen Überlegenheitsdenkens Frankreichs sowie die gleichzeitige Orientalisierung bzw. Exotisierung von Frauen aus den Kolonien. Auf der anderen Seite die bis in die Gegenwart spürbare Gegenreaktion auf hegemoniale Machtansprüche, die sich häufig in der Ablehnung alles „Westlichen“, worunter auch Emanzipationsbestrebungen von Frauen fallen, und der Rückbesinnung auf eine vermeintlich eigenkulturelle Tradition äußern. Auf letzteren Punkt nimmt u. a. die marokkanische Soziologin Fatima Mer‐ nissi Bezug. Sie beobachtet die zunehmenden gesellschaftlichen Restriktionen, denen Frauen im Maghreb ausgesetzt sind, sowie die Tendenz zur religiös-orien‐ tierten Retraditionalisierung schon seit mehreren Jahrzehnten und begreift sie als „Angst vor dem Weiblichen“, die als Ausdruck einer innergesellschaftlichen Bedrohung gilt: Die Angst vor dem Weiblichen steht für die Bedrohung von innen, und die Debatte über die Globalisierung, in der es im Wesentlichen um die Angst geht, von fremden Kulturen überrannt zu werden, wird sich notwendigerweise auf die Frauen konzent‐ rieren. (Mernissi 2005, S.-27-28) So befinden sich Frauen (insbesondere, aber bei weitem nicht ausschließlich) in postkolonialen Gesellschaften einerseits im Zentrum eines Konfliktfeldes, in dem es um Aushandlungsprozesse zwischen traditionell-konservativen und liberaleren Denk- und Lebensweisen geht. Andererseits kommen sie selbst kaum zu Wort und sind im öffentlichen Diskurs selten als Subjekte oder politische Akteurinnen präsent. Das führt zu einer besonderen Situation, die Frauen laut Spivak in postkolonialen gesellschaftlichen Entwicklungen verschwinden lässt: Zwischen Patriarchat und Imperialismus, Subjektkonstituierung und Objektformie‐ rung, verschwindet die Figur der Frau, und zwar nicht in ein unberührtes Nichts hinein, sondern in eine gewaltförmige Pendelbewegung, die in der verschobenen Gestaltwerdung der zwischen Tradition und Modernisierung gefangenen „Frau der Dritten Welt“ besteht. (Spivak 2011, S.-101) Diese „gewaltförmige Pendelbewegung“ lässt sich illustrieren mit Blick auf die Nationalisierungsprozesse in Gesellschaften nach der politischen Unabhän‐ gigkeit, die stark verknüpft sind mit spezifischen Rollenerwartungen an die Geschlechter (vgl. Zettelbauer 2002, S. 253f.). Wie Zettelbauer bemerkt, stellen „Nationen als Konzepte, die von außen wie von innen konstituiert werden, 28 2 Theoretische Überlegungen zur Konstruktion weiblicher Identitäten in Algerien <?page no="29"?> 10 Vgl. auch Bulbeck (1998): „Others align nationalism with a return to ‚authentic‘ precolonial traditions which are seen as unchanging and almost unconscious. In this case […] women are the standard-bearers of the nation’s culture. It is often only women, and not men, who are commanded to uphold tradition“ (Bulbeck 1998, S.-29). unterschiedliche Ansprüche an Identität und Differenz“ (Zettelbauer 2002, S. 254). Darüber hinaus ist „die Veränderung der jeweiligen Ansprüche […] stets unmittelbar verbunden mit politischen Zielvorstellungen und hängt mit der Veränderbarkeit von politischen, kulturellen und ökonomischen Prozessen zusammen“ (ebd., S. 254). Zettelbauer identifiziert u. a. in Bezugnahme auf Nira Yuval-Davis (1997) fünf funktionale Zuschreibungen, „in denen Geschlecht im Rahmen von Nationskonzepten einen zentralen Stellenwert einnimmt“ (Zettelbauer 2002, S.-255-256): 1. Frauen in ihrer Funktion als Mütter, bzw. als „Reproduzentinnen der Nation“. 2. Frauen als Verkörperung der nationalen Grenzen: Frauen „reprodu‐ zieren […] auch die Grenzen des nationalen oder ethnischen Kollektivs (dies zeigt sich beispielsweise im Verbot von Mischehen oder in Exogamie‐ verboten)“. 3. Frauen als Hüterinnen der Tradition 10 : „Frauen spielen in nationalen Bewegungen nun eine zentrale Rolle als konstruierte ‚Hüterinnen‘ dieser kulturellen Codes [Kleidung, Benehmen, Bräuche, Religion, Sprache], sie erweisen sich aber auch vielfach als ihre Reproduzentinnen.“ 4. Frauen als „Zeichen oder Symbol nationaler oder ethnischer Kol‐ lektive“: in „Analogiesetzungen (von Haus/ Familie/ Körper mit dem Volk) oder in Allegorien (z.-B. Germania, Marianne)“. 5. Der Ausschluss von Frauen als grundlegendes Element der Kon‐ struktion gesellschaftlicher Hierarchien: Als Beispiel sei hier das Bild des die Nation ‚nach außen‘ verteidigenden Mannes genannt, der vor allem kämpft, um Frau und Kinder zu beschützen und sich dadurch gewisse Rechte verdient (vgl. Zettelbauer 2002, 255 f.). All diese Funktionszuschreibungen lassen sich auch in gesellschaftlichen Ent‐ wicklungsprozessen Algeriens nach der Unabhängigkeit ausmachen und sind teilweise bereits durch algerische Frauenorganisationen und -bewegungen kritisiert worden. Die Objektivierung und Instrumentalisierung von Frauen im Rahmen eines Nationalisierungsprozesses (in Folge oder als Begleiterscheinung von postkolonialen Prozessen), wie in Anlehnung an Zettelbauer dargelegt, birgt die Gefahr der Herausbildung und/ oder Verfestigung starrer und wenig differenzierter Identitätsangebote für Frauen. Frauenbewegungen in Algerien, 2.1 Geschlechterverhältnisse im postkolonialen Algerien 29 <?page no="30"?> 11 Suleri bezieht die Frage „which comes first, gender or race? “ (Suleri 2004, S. 273) nicht nur auf das konkrete politische Dilemma der Frauen in postkolonialen Gesellschaften, sondern befürchtet, dass diese Frage auch in der postkolonialen Theoriebildung zu Ungunsten des Gender-Aspekts gelöst wurde und die komplexen Interrelationen von Gender und Race übergeht: „The coupling of postcolonial with woman, however, almost inevitably leads to the simplicities that underlie unthinking celebrations of oppression […].“ (Suleri 2004, S.-273). die versuchen die Verknüpfung von Nationalisierungsprozess und Geschlecht zu hinterfragen, sehen sich in der Folge häufig dem Vorwurf der ‚Verwestlichung‘ ausgesetzt: Women who refuse to ‚return‘ to ‚tradition‘ are attacked as the dupes of imperialism, manifested as western feminism. (Bulbeck 1998, S.-30) Holst Petersen fasst dies in der Frage zusammen „which is the more important, which comes first, the fight for female equality or the fight against Western cultural imperialism? “ (Holst Petersen 2004, S. 252). Dies bringt das zentrale Dilemma für Frauen in postkolonialen Gesellschaften auf den Punkt. 11 Feminismus und Antikolonialismus haben ein gespaltenes und konflikt‐ reiches Verhältnis. Castro Varela/ Dhawan stellen fest, dass „antikoloniale männliche Nationalisten durchweg feindlich eingestellt gegenüber einer femi‐ nistischen Bewegung [sind], da diese ihrer Meinung nach die notwendigen nationalen Allianzen im Dekolonialisierungsprozess zu irritieren drohe“ (Castro Varela und Dhawan 2005, S. 124). Diese Beobachtung weist auf verschiedene Ängste und Mechanismen hin, die Frauenbewegungen zur Kolonialzeit und nach der Unabhängigkeit ihren Kampf um Freiheit und Rechte erschweren. Nach der Unabhängigkeit von der Kolonialmacht versuchen viele neu ge‐ gründete Staaten eine Anknüpfung an prä-koloniale Traditionen und Werte zu finden. Nach Jahrzehnten - oder wie im Fall Algeriens fast zwei Jahrhunderten - kolonialer Unterdrückung und Herabsetzung der eigenen kulturellen Praktiken und gesellschaftlichen Strukturen, beginnt zunächst die Suche nach einem genuinen Erbe jenseits der Kolonialkultur. Dies geschieht nicht selten zum Leidwesen der Frauen, die sich einerseits einer wiederbelebten Tradition mit signifikanten misogynen Anteilen und andererseits der Allegorisierung als ‚Hüterinnen‘ dieser Tradition gegenübersehen: [Les femmes] sont, pour longtemps, figées dans un rôle extrêmement lourd: celui de gardiennes de Tradition et de garantes de l’ordre masculin, chargées d’assurer la surcompensation des humiliations subies et déifiées pour être mieux piétinées. […] La stagnation de leur condition est la garante de la stabilité sociale. (Daoud 1996, S.-12) 30 2 Theoretische Überlegungen zur Konstruktion weiblicher Identitäten in Algerien <?page no="31"?> 12 Bulbeck geht in ihrer Analyse noch einen Schritt weiter und stellt fest: „It is often only [Hervorhebung im Original, JW] women, and not men, who are commanded to uphold tradition“ (Bulbeck 1998, S.-29). Hier wird deutlich, dass die Hinterfragung der Rolle, die Frauen in dieser Retraditionalisierung spielen, mit der Bedrohung gesellschaftlicher Stabilität verknüpft wird. Die Fokussierung auf eine vermeintliche, gemeinsame Tradition und traditionelle Werte soll heterogene Gruppen und Interessen einen und so zu Stabilität führen. Bei dem Versuch, zu einer als authentisch imaginierten präkolonialen Ver‐ gangenheit zurückzufinden, werden Frauen zu „standard-bearers of the nation’s culture“ (Bulbeck 1998, S. 29) stilisiert. 12 Demnach trifft zu, dass „women’s issue was not only ignored […] it was conscripted in the service of dignifying the past and restoring African self-confidence.“ (Holst Petersen 2004, S.-253). Holst Petersen betont das Dilemma für Frauen in dieser Zeit der nationalen und kulturellen Selbstfindung für ihre eigenen Rechte und Freiheiten einzutreten und diese einzufordern. Das Konzept und die politischen Implikationen des westlichen Feminismus bieten Anknüpfungspunkte, bergen aber auch die Ge‐ fahr sich wiederum der kulturellen Hegemonie der ehemaligen Kolonialmacht zu beugen - noch dazu in deren Sprache: This … is a more difficult and therefore more courageous path to take in the African situation than in the Western one, because it has to borrow some concepts - and a vocabulary - from a culture from which at the same time it is trying to disassociate itself and at the same time it has to modify its admiration for some aspects of a culture it is claiming validity for… . (Holst Petersen 2004, S.-254) Die Zerreißprobe, insbesondere für Frauen, besteht darin, sich zwischen den Errungenschaften der aus der Kultur der Kolonialmacht hergeleiteten Denkka‐ tegorien und den wiederbelebten Traditionen der eigenen Kultur einzuordnen. In den post-kolonialen nationalistischen Diskursen scheinen diese beiden Pole unvereinbar als sich einander ausschließende Konstrukte gegenüber zu stehen. Die Konsequenz für den Versuch feministische Forderungen zu formulieren und Frauenrechte einzufordern, ist häufig eine Stigmatisierung von Feminis‐ tinnen als ‚Marionetten‘ des Westens oder Opfer neo-kolonialer Missionie‐ rungen. Frauen, die die erzwungene Rückkehr zu prä-kolonialer Tradition kritisieren, werden „attacked as the dupes of imperialism, manifested as western feminism“ (Bulbeck 1998, S.-30). Ein gesellschaftlich erwartetes (unkritisches) patriotisches Auftreten und uneingeschränktes Bekenntnis zum offiziell propagierten nationalen Einheits‐ diskurs scheint mit feministischen Positionen unvereinbar zu sein. Diese Hal‐ 2.1 Geschlechterverhältnisse im postkolonialen Algerien 31 <?page no="32"?> tung wird begründet mit der Befürchtung von innerkulturellen Konflikten und gesellschaftlicher Destabilisierung. Die ehemalige Kolonialmacht wird häufig zum Feindbild stilisiert und damit der Versuch unternommen, sämtliche kultur‐ ellen Errungenschaften aus der Kolonialzeit ex negativo aus postkolonialen nationalen Identitätsangeboten auszuschließen bzw. sich zu eigen zu machen. Der kategorische Ausschluss des ‚westlichen‘ Feminismus hatte außerdem den Effekt von „Grenzziehungen zwischen ‚weißen‘ und ‚indigenen‘ Frauen“ (Castro Varela und Dhawan 2005, S. 124). Eine internationale Verbindung feministischen Engagements wird dadurch erschwert. Soziale Bewegungen (z. B. Frauenbewegungen) werden von der institution‐ ellen Macht zu unterbinden versucht, da sie die Illusion von Kohärenz der Widerstandserzählung stören (vgl. Spivak 1988, S. 245). Die Konstruktion einer kohärenten Nationalgeschichte erfordert das Ausblenden von Minderheitenin‐ teressen oder vom Machtdiskurs ausgeschlossener Anteile der Bevölkerung (vgl. Castro Varela und Dhawan 2005, S. 70). Als Konsequenz gehen diese Bewegungen nicht in die offizielle Geschichtsschreibung und somit in das kollektive Gedächtnis ein (vgl. ebd., S.-70). Ihr Aufbegehren wird als subversiv, die gesellschaftliche Ordnung und den Prozess der nationalen Identitätsfindung bedrohend, angesehen. Feministischen Forderungen wird eine Instrumentalisierung durch den Westen unterstellt. Dies offenbart patriarchale Machtansprüche wie auch die Befürchtung einer kulturellen Infiltrierung durch die ehemalige oder neo-ko‐ lonialistisch agierende Kolonialmacht. Es offenbart außerdem „the extent to which the nation authenticates its distinct cultural identity through its women“ (Ghandi 1998, S.-96). Daraus ergibt sich eine konfliktgeladene und diskursiv unauflösbare Situa‐ tion für Feministinnen. Das Bekenntnis zum Feminismus unterstellt sie dem Verdacht dem hegemonialen Einfluss der ehemaligen Kolonialmacht zu unter‐ liegen und dadurch einen Mangel an Patriotismus zu zeigen. Indem sie die traditionellen Identitätsangebote, die als genuin und kulturell ‚ursprünglich‘ inszeniert werden, ablehnen, geraten sie in einen Konflikt zwischen starren kul‐ turellen Identitätszuschreibungen - wie sie in nationalen Diskursen konstruiert werden - und dem Wunsch nach offenen, differenzierten, variablen Identitäts‐ entwürfen. Sie stellen u. a. die für die Konstruktion und Inszenierung einer kulturellen Identität fundamental wichtige Funktion der Identitätszuschreibung von Frauen als ‚Hüterinnen‘ oder ‚Bewahrerinnen der Kultur‘ in Frage. Dieses feste Korsett, geschnürt aus statisch definierten Rollenzuweisungen, die ideo‐ logisch untermauert werden, erschwert jede kritische Auseinandersetzung - sowohl mit Rollenzuweisungen der Tradition (die Frau als Jungfrau, Ehefrau, 32 2 Theoretische Überlegungen zur Konstruktion weiblicher Identitäten in Algerien <?page no="33"?> 13 McClintock zitiert in diesem Zusammenhang als eindrückliches Beispiel die Aussage der ANC Delegation bei der Frauenkonferenz in Nairobi 1985: „It would be suicidal for us to adopt feminist ideas. Our enemy is the system and we cannot exhaust our energies on women’s issues“ (McClintock 1996, S.-118). 14 Frauen werden als „Marker für nationale und kulturelle Differenz instrumentalisiert“ (Castro Varela und Dhawan 2005, S. 19). Den Kolonialherren geht es zunächst im Namen der mission civilisatrice darum, die Frauen aus einer vermeintlich frauenfeindlichen und als rückständig identifizierten Tradition zu ‚befreien‘ [„Weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern“ (Spivak 2011, S. 78)]. Dies stellt einen Dominanzgestus gegenüber der anderen Männlichkeit dar und impliziert eine Eroberungshaltung in Bezug auf die Frauen. In der Folge wird der Versuch unternommen, die ‚eigenen‘ Frauen, Töchter etc. vor den Kolonialherren zu schützen, unter anderem durch stärkere Nutzung der Verschleierung und die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit in der Öffentlichkeit. Nach dem Ende der Kolonialzeit wird wiederum versucht mithilfe Mutter, die im Privaten agiert), mit denen der postkolonialen Identitätsdiskurse (die Frau als Hüterin der Vergangenheit, der kulturellen Tradition und Werte) als auch mit den von ‚außen‘, d. h. aus dem ‚Westen‘ herangetragenen (als Reformerinnen, bzw. als unterdrückte arabische Frau). Die Stigmatisierung als ‚unpatriotisch‘ verhindert auch die Möglichkeit Kritik am Nationalismus und seinen essentialistischen Identitätsangeboten zu üben: The needs of the nation are identified with the needs, frustrations, and aspirations of men. As in the translated (not original) title of Fanon’s famous essay “Algeria Unveiled,” women are construed as the “bearers of the nation,” its boundary and symbolic limit, but lack a nationality of their own. In such instances, women serve to represent the limits of national difference between men. (McClintock 1996, S.-105) Die postkoloniale, kulturelle Identitätszuschreibung beinhaltet eine starre Vor‐ stellung von weiblicher Identität und der Funktion, Aufgaben und Rollen von Frauen in der Gesellschaft. Kritik an Rollenzuschreibungen für Frauen wird damit zu einer Kritik am Nationalismusdiskurs in Bezug auf seine starren, monoidentitären Tendenzen. Die Aufweichung kultureller Identitätszuschrei‐ bungen zugunsten pluraler und dynamischer Identitätsentwürfe für Frauen (und Männer) innerhalb nationaler und nationalkultureller Diskurse stellt damit ak‐ tuelle Nationalismuskonzepte und -vorstellungen in Frage. Daher wird versucht ebendies zu verhindern. 13 Chatterjee (1993) kritisiert in diesem Zusammenhang Nationalismusdiskurse als „a discourse about women; women do not speak here“ (Chatterjee 1993, S.-133). Die kolonialen Eroberer instrumentalisierten Frauen und deren (vermeint‐ liche) Unterdrückung als Legitimationsgrund ihrer mission civilisatrice und der Affirmation ihrer kulturellen Überlegenheit. 14 In der Folge der Unabhän‐ gigkeit instrumentalisiert die neue (männliche) Macht Frauen als Mittel zur 2.1 Geschlechterverhältnisse im postkolonialen Algerien 33 <?page no="34"?> klarer gender-Rollen dem westlichen Familien-, Frauen- und auch Männerbild etwas entgegenzusetzen. 15 „Die Herausforderung bestehe darin, kulturelle Produktionen aus nicht-westlichen Kontexten in die dominanten Diskurse des Nordens einzuschreiben, ohne dass die Literatur des Südens subalternisiert wird.“ (Spivak 1988, S.-241) 16 Der Begriff der Marginalität ist nicht unumstritten: Ghandi (1998) kritisiert ihn fol‐ gendermaßen: „[…] the metropolitan demand for marginality is also troublingly a command which consolidates and names the non-West as interminably marginal“ (Ghandi 1998, S. 82). Der Begriff sei geprägt aus westlicher Sicht und funktioniere nur, wenn der Westen die Norm darstellt. Er dient allerdings dazu die spezifischen Diskriminierungserfahrungen während der Kolonialzeit und auch danach als Ausdruck hegemonialer Macht zu benennen. Es ist nicht als Ausgrenzung zu verstehen. Wenn sich allerdings Frankreich als das kulturelle ‚Zentrum‘ innerhalb der Frankophonie begreift, dann gehören Marginalisierungserfahrungen zu den Erfahrungen der vorgestellten Autorinnen und finden sich auch in den Texten wieder. Demonstration eigener kultureller Werte und Traditionen, die im Versuch einer postkolonialen Machtumkehr bzw. eines Gegendiskurses ebenfalls als Überlegenheitsmerkmal herhalten sollen: „Beide Male spricht das (koloniale und einheimische) Patriarchat für [Hervorhebung im Original, JW] die subalterne Frau, während man an keiner Stelle auf die Stimme der Frau selber trifft“ (Castro Varela und Dhawan 2005, S.-75). Was Frauen selbst zu sagen haben, bleibt ungehört bzw. wird zu Legitimati‐ onszwecken der einen oder anderen Position benutzt. Eine Artikulation des eigenen Standpunkts hat für Frauen der Bevölkerung vor Ort, also in Algerien, selbst wenn sie erfolgt, keinen Bestand, da ihr kein eigenständiges Element zugestanden wird. Vorgegebene Interpretationsmuster und eine bestimmte (imperialistische) Lesart der historischen Ereignisse verhindern, dass Frauen ‚gehört‘ werden. 15 Das führt(e) nach Spivak dazu, dass weibliche Erfahrungen und Bedürfnisse keinen Eingang in gesellschaftliche Diskurse und Narrative finden, selbst wenn Frauen sich aus ihrer marginalisierten Position 16 heraus äußern; bzw. werden ihre Äußerungen „auf dieselbe Art interpretiert […], wie wir historisch alles interpretieren“ (Spivak 2011, S. 126). Eine postkoloniale Betrachtungsweise (im Sinne von nicht-hegemonial, nicht-marginalisierend) scheint unmöglich und daher bleiben die Frauen selbst im Sprechen stumm, sie sind eingeschlossen in einer „gewaltförmigen Pendelbewegung“ (Spivak 2011, S.-101). 34 2 Theoretische Überlegungen zur Konstruktion weiblicher Identitäten in Algerien <?page no="35"?> 17 Eine allgemeine Einführung in die Entwicklung des Begriffs und eine umfassende Darstellung der Theoriengeschichte würde den Rahmen dieser Arbeit übersteigen. Daher sei an dieser Stelle auf die Überblicksdarstellungen von Keupp und Höfer (1998) verwiesen. 18 Prominentes Beispiel ist die von der Regierung Sarkozy initiierte nationale Identitäts‐ debatte in Frankreich in 2009 (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2009), die von Emmanuel Macron Ende 2020 in einem Interview mit der Zeitschrift L’Express wieder aufgenommen wurde (vgl. L’Express 2020). 2.2 Identitätskonzepte (und Literatur) Identität ist ein in wissenschaftlichen wie nicht-wissenschaftlichen Kontexten häufig überbeanspruchtes Konzept und ein in den unterschiedlichsten Diszip‐ linen bemühter Begriff 17 . Niethammer bezeichnet den Begriff „Identität“ nach Uwe Pörksen (1988) sogar als „Plastikwort“. „Plastikwörter“ zeichnen sich in dieser Darstellung u. a. durch Inhaltsarmut, Reduktionismus, Elitensprech und Stereotypisierung aus (vgl. Niethammer 2000, S. 33f.). Dennoch ist, bei aller Kritik daran, „Identität“ ein zentraler Bestandteil gesellschaftlicher und politischer Diskussionen und birgt nach wie vor und insbesondere in gesell‐ schaftlichen Debatten großes Konfliktpotential 18 . Die Frage der Identität und Identitätszugehörigkeit sowie die Verhandlung von Identitäten und Identitäts‐ politiken bleibt in verschiedenen Diskursen höchst relevant. Auch für die vorliegende Untersuchung ist Identität ein zentrales psychologi‐ sches und gesellschaftliches Leitkonzept sowie eine zentrale Analysekategorie. Aufgrund der Komplexität des Diskussionsfeldes um den Begriff ist allerdings eine Reduzierung des Bezugsfeldes für die Verwendung in der weiteren Analyse notwendig. Es wird daher eine Fokussierung auf zwei Aspekte erfolgen: 1. Identität wird als Resultat eines Aushandlungsprozesses begriffen und nicht als feststehendes Konzept: Identität konstruiert sich demzufolge in der Auseinandersetzung mit der Umwelt, d.-h. in sozialer Interaktion. 2. Identität und Narration sind eng miteinander verknüpft. Die Bedeutung von Identität für Frauen aus arabischen Ländern wird anhand eines Zitats der jordanischen Journalistin und Publizistin Joumana Haddad in ihrer Streitschrift „Wie ich Scheherazade tötete“ verdeutlicht: Worauf es ankommt, vor allem in der arabischen Welt, ist, dass die Frau in vielen kleinen einzelnen Schritten ihr Leben feste Kontur gewinnen lässt, ohne sich irgend‐ etwas von irgendjemandem zu erwarten, ohne als Projektionsfläche für fremde Erwar‐ tungen herzuhalten. Es geht für sie darum, ihre verworrene, ihr abspenstig gemachte Identität wiederzugewinnen. Die Rückeroberung jener unbekannten, verschleppten 2.2 Identitätskonzepte (und Literatur) 35 <?page no="36"?> Identität, jenes kompromittierten Geschöpfs, das unter dem Einfluss verschiedenster Formen von Angst, Konditionierung und Frustration zu einem Zerrbild seiner selbst wurde, ist der schwerste Kampf, den eine Frau zu kämpfen und zu bestehen hat. (Haddad 2010, S.-89) Sie verweist auf den Konflikt von Frauen in arabischen Ländern, in dessen Zentrum ihrer Meinung nach die Frage nach Identität steht. Dabei betrachtet sie die Aneignung der eigenen Identität als entscheidenden Aspekt der weiblichen Selbstermächtigung und der Befreiung von „fremden Erwartungen“. Sie spricht von Rückeroberung und Rückgewinnung einer verlorenen Identität der Frauen, die nun wieder freigelegt werden müsse. Dies ist ein zentraler Gedanke, verbindet sie doch den von ihr postulierten Kampf von Frauen um ihre Identität mit einer (persönlichen und/ oder kollektiven) Vergangenheit, in der es einen Zugang zu ebenjener weiblichen Identität zu geben schien. Besondere Relevanz für die vorliegende Untersuchung literarischer Texte haben zwei Gedanken Haddads: Erstens, dass weibliche Identität nur durch Konflikte zu erlangen ist. Dabei handelt es sich genauso um innere Konflikte mit dem eigenen Selbstbild, geprägt durch „verschiedenste Formen von Angst, Konditionierung und Frustration“, wie auch um eine Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt, die sehr konkrete Erwartungen an das Verhalten und das Selbstverständnis von Frauen heranträgt und sie zur „Projektionsfläche“ macht. Zweitens stellt Haddad einen Bezug zu der Vergangenheit her. Mit dem Hinweis auf Rückeroberung und Rückgewinnung der weiblichen Identität stellt sie fest, dass diese den Frauen in arabischen Ländern verwehrt wurde, sei es in ihrer persönlichen Biographie oder in der kollektiven Entwicklung der Gesellschaft. Sowohl der Aspekt der inneren und äußeren Konflikte bei der Konstruktion eines eigenen Identitätsentwurfs als auch der Versuch sich dabei auf die persönliche oder kollektive Geschichte (z. B. der Frauen in der Familie) zu beziehen, werden in den in dieser Arbeit analysierten Romanen thematisiert. Joumana Haddads Verständnis von Identität in diesem Zitat ist allerdings ein essentialistisches: Sie beschreibt weibliche Identität als eine verschüttete bzw., mehr noch, durch gesellschaftliche Regeln schwer zugänglich gemachte Entität, zu der Frauen nur durch eine kämpferische Auseinandersetzung zurück‐ finden können. Dies ist ein problematisches Konzept von Identität, impliziert es doch eine spezifische „Wesenheit“ oder bestimmte feststehende weibliche Identität. Vor dem Hintergrund einer sozialkonstruktivistischen Auffassung von Identität(en), die auch dieser Arbeit zugrunde liegt, ist diese Vorstellung zu hinterfragen. Der Impuls, eine verschüttete spezifische weibliche Identität freizulegen, ist jedoch nachvollziehbar - insbesondere in Bezug auf den im 36 2 Theoretische Überlegungen zur Konstruktion weiblicher Identitäten in Algerien <?page no="37"?> obigen Kapitel thematisierten Konflikt zwischen monoidentitären nationalkul‐ turellen Tendenzen, die ebenfalls eine spezifische Vorstellung von weiblicher Identität vertreten. Haddads Appell kann vor diesem Hintergrund im Sinne des Spivak’schen strategischen Essentialismus als Versuch gesehen werden, dem Konzept von kultureller Identität mit einer spezifischen Vorstellung davon, welche Funktionen und Rollen Frauen in der Gesellschaft haben und womit sie sich identifizieren sollten, etwas entgegenzusetzen. Bereits 2011 verweisen Altnöder et al. darauf, dass auch die Abkehr von einer essentialistischen Vorstellung von Identität die Konflikte um Identitäten und Identitätszugehörigkeiten nicht gelöst hätten: Es kann daher weder Ziel und Aufgabe sein, eine virtuell unendliche Reihe von Identitätsbegriffen und - feldern zu dekonstruieren und als Effekt kultureller Bedeu‐ tungsprozesse bloßzustellen, noch darf davon ausgegangen werden, dass die Einsicht in den konstruktiven und prozessualen Charakter von Identitäten und Identifikati‐ onen die Problematisierung von Identitäten als zentrales Element gesellschaftlicher, politischer und eben auch gewaltsamer Phänomene und Konflikte obsolet gemacht hätte. (Altnöder et al. 2011, S.-9) Über den sozio-politischen Aspekt hinaus ist die Frage nach (der eigenen) Identität im Verlauf der individuellen Persönlichkeitsentwicklung von Bedeu‐ tung. Lindau (2010) sieht u. a. einen engen Zusammenhang zwischen dem Grad der Individualisierung einer Gesellschaft und einer starken Präsenz der Identitätsdiskurse. Diese Beobachtung ist für die in dieser Arbeit vorgenom‐ mene Betrachtung weiblicher Identitätsentwürfe in der algerischen Gesellschaft durchaus interessant, da diese mit immer stärkeren Individualisierungsten‐ denzen konfrontiert wird. Eine verstärkte Individualisierung impliziert eine Priorisierung der Bedürfnisse einzelner vor denen der Gemeinschaft und legt in diesem Zusammenhang auch Abweichungen von der Norm des Kollektivs offen. Darunter fallen ebenfalls die Forderungen von Frauen die ihnen zugewiesenen gesellschaftlichen Rollen und Identitätsangebote zu überschreiten. Dieser konfliktbeladene Charakter von Auseinandersetzungen mit gesell‐ schaftlichen Identitätszuschreibungen und die individuelle, persönliche Identi‐ tätsentwicklung sind Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Die Fragestellungen beziehen sich darauf, wie Identitäten von Frauen in den ausgewählten Texten konstruiert und dargestellt werden. In der Analyse wird es darum gehen, auf welche Art und Weise die Protagonistinnen Identität(en) entwerfen (biogra‐ phisch, narrativ), welche Schwierigkeiten, Konflikte, Störungen dabei auftreten (Gedächtnisverlust, Unkenntnis über Familienherkunft, Restriktionen eines freien Identitätsentwurfs aufgrund ihres Geschlechts) und ob es ihnen gelingt 2.2 Identitätskonzepte (und Literatur) 37 <?page no="38"?> kohärente Identitätsentwürfe zu konstruieren. Es wird sowohl in den Blick ge‐ nommen wie die Protagonistinnen die Frage „wer bin ich? “ für sich beantworten als auch, worauf sie ihre Identitätsentwürfe aufbauen und welche Strategien sie dazu einsetzen. Dieses Vorgehen lehnt sich an die Herangehensweise Lindaus (2010) an: Die Identität eines Individuums kann über zwei Wege untersucht werden: Zum einen kann die Identität inhaltlich bestimmt werden. […] Zum anderen kann die Identität über den Herstellungsprozess erklärt werden. (Lindau 2010, S.-42) Um die Konstruktionsprozesse von Identitäten in den Romanen untersuchen zu können, ist es erforderlich eine Definition des Begriffs Identität zu Grunde zu legen, die für die Analyse der Texte operationalisierbar ist. Als allgemeine Ausgangsdefinition, um eine geeignete theoretische Herangehensweise für die Analyse zu finden, bietet sich Altnöders Definition an: […] Identitäten befinden sich permanent in Bewegung und Transformation; sie sind kulturelle Konstruktionen, die abhängig von den Praktiken einer Kultur stets aufs Neue ausgehandelt werden müssen. (Altnöder et al. 2011, S.-6) Hier wird von folgenden Charakteristika des Konzepts Identität ausgegangen: • Identitäten sind im Fluss, nicht statisch: Ihre Konstruktion bzw. ihre Aus‐ handlung ist abhängig von den Praktiken einer Kultur und wird permanent verhandelt. • Identitäten sind sozial bzw. kulturell konstruiert. Identität kann somit als spezifisches Produkt eines Kulturraums verstanden werden. Kulturkontakte und Medien beeinflussen allerdings die Identitätsdis‐ kurse und Bedürfnisse persönlicher Entwicklung von Lebensentwürfen. Der Wunsch nach individuellen Lebensentwürfen unabhängig von traditionellen Rollenerwartungen kann dabei zunehmen und damit im Gegensatz zu nach wie vor gesellschaftlich akzeptierten Erwartungen stehen. Daraus ergibt sich die Frage wie weibliche Identität in Algerien konzipierbar ist, sowie auf welche Art die Lebensentwürfe der Protagonistinnen in den ausgewählten Texten diese Identitätsangebote hinterfragen oder ablehnen. Bei Ablehnung bleibt die Frage nach der Möglichkeit einer alternativen Identitätskonstruktion im gegebenen gesellschaftlichen Rahmen. Hall (2008) geht ebenso auf den prozessualen, nicht abgeschlossenen Cha‐ rakter von Identität ein und ersetzt den Begriff durch Identifikation. Statt von der Identität als einem abgeschlossenen Ding zu sprechen, sollten wir von Identifikation sprechen und dies als einen andauernden Prozeß sehen. Identität besteht 38 2 Theoretische Überlegungen zur Konstruktion weiblicher Identitäten in Algerien <?page no="39"?> nicht bereits in der tiefen Fülle unseres Innern, sondern entsteht aus dem Mangel an Ganzheit, der in den Formen, in denen wir uns vorstellen, wie wir von anderen gesehen werden, von Außen erfüllt wird. (Hall 2008, S.-196) Im Zitat kommt noch ein weiterer Aspekt der Identitätskonstruktion, nämlich die Bedeutung des Außen, eines/ einer Interaktionspartners/ -partnerin, hinzu. Das Außen übernimmt laut Hall die Funktion einer Projektionsfläche, die für die Reflektion der eigenen Identität bzw. in Halls Worten Identifikation zentral ist. Ohne dieses Außen, dessen Sichtweise man sich nie sicher sein kann und das daher eine Unsicherheit und Wandelbarkeit bedeutet, wäre eine Identfikation kaum möglich. Die Bedeutung der sozialen Interaktion bzw. von Kommunikationsprozessen betont auch Huber (2008): In jeder Situation werden wir unsere persönliche Geschichte anders gestalten, sie anders arrangieren, an unseren eigenen Bedürfnissen ausrichten und sie auf die Erwartungen unserer ZuhörerInnen hin modellieren. (Huber 2008, S.-38) Wie bei Hall ist hier das Außen bei der Konstruktion der eigenen Geschichte und Identität ausschlaggebend. Das Außen und dessen vermeintliche Sichtweise zwingen zur Anpassung und sorgen für einen prozessualen, wandelbaren Cha‐ rakter der Identität. Huber führt hier aber noch den Aspekt der Selbsterzählung ein, die sich je nach Gesprächspartner: in verändert. Die Gestaltung der eigenen Geschichte ist eine aktive Handlung, die dem Individuum Macht über die persönliche Identitätskonstruktion verleiht. Damit sind den Charakteristika des Begriffs „Identität“ und seines Kon‐ struktionsprozesses zwei weitere Elemente hinzugefügt: die Konstruktion von Identität durch soziale Interaktion sowie die Gestaltung der persönlichen Ge‐ schichte oder die Selbstnarration. Wenn man diese beiden Aspekte mitbedenkt, wird deutlich, dass im Prozess der Identitätsentwicklung, „nicht eine stabile Selbstzuschreibung, sondern der Herstellungsprozeß der Identität“ (Gymnich 2000, S. 33) von Bedeutung ist. In der Konsequenz bedeutet dies, dass „das Individuum fortwährend seine Identität [interagierend] nach außen darstellt und psychisch wie handelnd auf die Identitätsentwürfe, die an es herangetragen werden, reagiert“ (Gymnich 2000, S.-30). Um diese Definitionen und Beschreibungen von Identität(smerkmalen) und des Konstruktionsprozesses näher zu beleuchten, werden im Folgenden kurz einzelne theoretische Ansätze vorgestellt. Analog zu Gymnich (2000) und Lindau (2010) beziehe ich mich dabei zunächst auf sozialpsychologische An‐ sätze, insbesondere auf die Theorie des Symbolischen Interaktionismus, bevor ich diese im Weiteren durch Aspekte der narrativen Identitätstheorie ergänze. 2.2 Identitätskonzepte (und Literatur) 39 <?page no="40"?> Diese theoretischen Ansätze erweisen sich für die Analyse der literarischen Texte vor dem Hintergrund der Forschungsfragen dieser Arbeit als besonders geeignet, wie sich im Folgenden zeigen wird. Dabei werden nur die Aspekte der Theorien dargestellt, die für die spätere Analyse sinnvoll erscheinen. 2.2.1 Sozialpsychologische Ansätze der Identitätstheorie - Theorie des Symbolischen Interaktionismus Die sozialpsychologischen Ansätze der Identitätstheorie fokussieren auf die Bedeutung des Handelns, der intersubjektiven Kontakte und des sozialen Umfelds im Prozess der Identitätskonstruktion. Identität ermöglicht dabei das Handeln und konstituiert sich gleichzeitig darüber (vgl. Gymnich 2000, S. 30). In diesem Verständnis werden Identität in der psychosozialen Forschung folgende Eigenschaften zugeordnet: Flüchtigkeit, Fluidität, Unabgeschlossenheit und damit einhergehend beständige Konstruktion (d. h. die Identitätskonstruktion findet im Alltag statt und nicht nur durch besonders einschneidende Erlebnisse oder Krisen) (vgl. ebd.). Es gibt mehrere Modelle um dieses Verständnis der Identitätskonstruktion zu beschreiben, von denen ich hier auf zwei exempla‐ risch kurz eingehe: die Theorie der Symbolischen Interaktionismus und die Theorie Erving Goffmans. Theorie des Symbolischen Interaktionismus: Besonders fruchtbar für die Textanalyse erscheint die Bedeutung der Interaktion mit anderen im identitären Konstruktionsprozess (vgl. Lindau 2010, S. 44). Das Grundverständnis des Individuums als handelndes Subjekt, als „GestalterInnen der Umwelt“ (ebd.) scheint sinnvoll für die Analyse der vorliegenden Texte, da sich in ihnen beobachten lässt, wie Protagonistinnen ihre Identität durch Handeln konstruieren. Der soziale und gesellschaftliche Rahmen innerhalb dessen dies geschieht, ist z. T. sehr restriktiv, sodass Handlungen und Interaktion mit Sanktionen belegt sind oder belegt sein können. Dadurch bekommen der/ die Andere(n) besondere Bedeutung (durch Verhaltenserwartungen und Deutungen) für Identitätskonstruktionsprozesse. Im Symbolischen Interaktionismus wird das Bild von sich selbst aus einer externen Perspektive, bzw. auf viele verschiedene Sichtweisen, in Anlehnung an Mead als „Me“ bezeichnet (vgl. Lindau 2010, S. 45ff.). Die verschiedenen Sichten auf sich selbst sowie Verhaltenserwartungen - also die unterschiedlichen „Me(s)“ - muss ein Individuum nun miteinander verknüpfen, abstimmen und für sich bewerten. Diese Aufgabe wird durch das „I“, die zweite Komponente der Ich-Identität (neben den „Me(s)“), erfüllt. Das „I“ gibt die Antworten auf die ver‐ 40 2 Theoretische Überlegungen zur Konstruktion weiblicher Identitäten in Algerien <?page no="41"?> 19 Lindau (2010) verweist auf die umstrittene Zuordnung Goffmans zur Theorie des Symbolischen Interaktionismus (vgl. Lindau 2010, S. 65). Da der Schwerpunkt dieser Arbeit nicht auf der umfassenden Darstellung und Abgrenzung der Identitätstheorien liegt, kann an dieser Stelle auf eine weitere Differenzierung verzichtet werden. 20 Weitere Aspekte der Identitätsbildung, neben sozialer Interaktion und eigener Identi‐ tätsarbeit (vgl. Keupp und Höfer 1998), sind die „kognitiven, emotionalen und motiva‐ tionalen Anteile“ (Gymnich 2000, S. 32). Dahinter verbergen sich das Selbstkonzept, das Selbstwertgefühl und das Gefühl der Selbstermächtigung (vgl. ebd.). schiedenen „Me(s)“. […] Die Ich-Identität entsteht dann aus dem Zusammenspiel der beiden gleichberechtigten Komponenten „I“ und „Me(s)“ (vgl. ebd.). Anhand dieser Theorie der Identitätskonstruktion wird bereits deutlich, dass es bei der Integration des „I“ und „Me“ zu einer Ich-Identität zu Aushandlungsprozessen bzw. auch Konflikten kommen kann. Theorie Goffmans 19 (2014): Goffman erweitert die Me-I-Struktur um eine weitere Komponente und unter‐ scheidet soziale, persönliche und Ich-Identität (vgl. Gymnich 2000, S.-31): Soziale Identität Soziale und persönliche Identität „wird dem In‐ dividuum […] seitens der sozialen Umwelt zuge‐ schrieben“ (ebd. S.-31) „Anpassung der Rollen-erwar‐ tungen“ (ebd. S.-31) Persönliche Identität - „Erwartung an das Individuum, eigene Einzigartigkeit darzu‐ stellen“ (ebd. S.-32) Ich-Identität - „individueller Kompromiß zwischen sozialer und per‐ sönlicher Identität“ (ebd. S.-32) - Tabelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Gymnich 2000, S.-31f. Auch in dieser weiter ausdifferenzierten Darstellung des Identitätskonstrukti‐ onsprozesses wird deutlich, dass den Zuschreibungen der sozialen Umwelt auf die Identität des Individuums eine große Bedeutung zukommt. 20 Sie bilden die Grundlage für die Herausbildung der sozialen und ebenso der persönlichen Identität, die wiederum für die Herausbildung der Ich-Identität als Ergebnis eines individuellen Aushandlungsprozesses verantwortlich sind. Wenn man davon ausgeht, dass die soziale Identität wie oben beschrieben durch eine Anpassung an Rollenerwartungen und die persönliche Identität durch Abgren‐ zung von anderen und Herausstellung der eigenen Individualität gebildet wird, dann offenbart sich hierin Konfliktpotential bei der Integration dieser beiden 2.2 Identitätskonzepte (und Literatur) 41 <?page no="42"?> 21 Amnesie ist ein zentrales Motiv in Maїssa Beys Roman Surtout ne te retourne pas. Fehlende Erinnerungen spielen ebenso in Malika Mokeddems Je dois tout à ton oubli eine bedeutende Rolle. Sie verweisen auf einen Bruch der Kontinuität, eine Störung in der Identitätskonstruktion. In beiden Romanen wird die fehlende Erinnerung als Aspekt der Identitätskonstruktion erkannt, aber letztendlich unterschiedlich verhandelt: Die Protagonistin in Surtout ne te retourne pas konstruiert eine alternative Identität, die ins Wanken gerät, als ihr von außen ein anderer Entwurf angetragen wird. Die Prota‐ gonistin von Mokkedems Roman hingegen versucht sich zu erinnern, um Kohärenz in ihrer Biographie und dem Verhältnis zu ihrer Mutter als Basis ihres Selbstbildes herzustellen, obgleich sie emotional stark darunter leidet. Identitätsentwürfe zur Ich-Identität. Diese Aushandlungskonflikte sind später zentraler Aspekt der Analyse. Gymnich ergänzt außerdem u. a. im Rückgriff auf Erikson (2017) die zeitliche Dimension von Identitätskonstruktion durch eine synchrone und diachrone Perspektive. In der synchronen Dimension geht es um die zentrale Annahme, dass Identität in einem permanenten Aushandlungsprozess konstruiert wird (vgl. Gymnich 2000, S. 34). Die diachrone Dimension betont das Verhältnis der Identität zur eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (vgl. Gymnich 2000, S. 30) und geht daher auch auf die „biographische Dimension“ (Gymnich 2000, S.-34) der Identitätskonstruktion ein. Gymnich schließt sich Krappmann (1982) in der Vorstellung an, dass „die subjektive Herstellung von biographischer Kontinuität in einer Aufarbeitung früherer Interaktionen [erfolgt], die vom jeweils aktuellen Standpunkt immer wieder neu erfolgen muß“ (Gymnich 2000, S. 34). Das Subjekt konstruiert die eigene Identität durch Integration vergangener Ereignisse und Handlungen in sein gegenwärtiges Identitätskonzept. Die persönlichen Erinnerungen erlauben dem Subjekt außerdem sich als einzigartig zu entwerfen (vgl. ebd., S. 35), was laut Goffman Merkmal der persönlichen Identität ist. So kann es im Fall von Gedächtnisverlust oder Amnesie zu einer Störung der Identitätskonstruktion kommen: „Mit dem Fehlen von Erinnerungen mangelt es dem Individuum an der Grundlage, auf der die Erfahrung von Kontinuität wie auch von Einzigartigkeit erst möglich scheint“ (Gymnich 2000, S.-35). 21 Gymnich weist außerdem darauf hin, dass „die Erinnerungsfähigkeit […] auch für auf die Zukunft gerichtete Identitätsprojekte eine zentrale Vorausset‐ zung dar[stellt]“ (Gymnich 2000, S. 36) . Dies gilt meinem Verständnis nach ebenso für individuelle wie kollektive Identitätsprojekte. Die Störung der Erinnerungsfähigkeit würde somit einer aktiven Zukunftsgestaltung im Weg stehen. Amnesie fungiert in diesem Verständnis als Metapher für die Vergangenheits‐ losigkeit, wodurch die Projektion auf die Zukunft erschwert ist. Dies ist relevant 42 2 Theoretische Überlegungen zur Konstruktion weiblicher Identitäten in Algerien <?page no="43"?> bei der späteren Analyse des Romans Surtout ne te retourne pas, deren Protago‐ nistin durch den Gedächtnisverlust und eine extern vorgeschriebene Version ihrer Vergangenheit zeitweise handlungs- und entscheidungsunfähig scheint. Indem Frauen ihre Vergangenheit, darunter verstehe ich z. B. auch die weibliche Genealogie und die Geschichte der Frauen einer Familie bzw. einer Gesellschaft, genommen wird, werden sie zukunftsgerichteter Handlungsoptionen beraubt. Eine externe und männlich dominierte Festlegung der Vergangenheit erschwert eine selbst- und nicht fremdbestimmte Zukunftsgestaltung sowie das Gefühl von Selbstermächtigung. Aber auch wenn die Erinnerungsfähigkeit nicht gestört wurde, ist diese eng mit der Identitätsbildung des Individuums verknüpft: „Was erinnert und was vergessen wird, das hängt ab vom subjektiven wie vom sozialen Identitätsma‐ nagement, welches wiederum von Affekten, Bedürfnissen, Normen und Zielen gesteuert wird“ (Schmidt 2004, S.-216). Die Art der Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte, die Anordnung der einzelnen biographischen Abschnitte kann der Logik einer Erzählung folgen. Mit diesem Konzept der narrativen Konstruktion von Identität beschäftigt sich die folgende Theorie. 2.2.2 Narrative Konstruktion von Identität Der theoretische Ansatz der narrativen Konstruktion von Identität geht davon aus, dass „individuelle Identität durch Narrationen über das Selbst konstruiert wird“ (Lindau 2010, S. 55). Auch in den Überlegungen zur narrativen Konstruk‐ tion von Identität spielt die soziale Einbettung, d. h. die Interaktion mit anderen im Konstruktionsprozess eine entscheidende Rolle, da „über eine Erzählung Aspekte der eigenen Identität zum Ausdruck gebracht, zugleich […] die eigene Identität aber auch im Erzählprozess mit den Interaktionspartner: innen […] weiterentwickelt [wird]“ (ebd., S. 56). Damit fällt der Kommunikationssituation und dem Austausch des Individuums mit Zuhörer: innen entscheidende Bedeu‐ tung zu. Die Narration der eigenen Identität bietet die Möglichkeit Kohärenz zu erzeugen, wobei das Individuum diesen Prozess aktiv gestalten kann bzw. muss: Das Individuum wird als GestalterIn der eigenen Identität konzeptualisiert. Narrative Identität wird zwar von gesellschaftlichen Strukturen und InteraktionspartnerInnen beeinflusst, aber dem Individuum wird ein entscheidender Part in der Ausgestaltung der eigenen Identität zugesprochen. (Lindau 2010, S.-57) Auch wenn die Vorstellung eine biographisch kohärente Identität zu kon‐ struieren aus Sicht einer dynamischen, fluiden und auch fragmentarischen 2.2 Identitätskonzepte (und Literatur) 43 <?page no="44"?> Konzeption von Identität widersprüchlich scheint, wird „de facto ein subjek‐ tives Gefühlt von biographischer Kontinuität und lebensweltlicher Konsistenz“ (Gymnich 2000, S. 38) erzeugt. Dies erfolgt durch Identitätsnarrative. Narrative sind nicht identisch mit der erfahrenen Identität des Subjekts; sie vereinfachen, schaffen Kohärenz und lassen sich dadurch leichter vermitteln: „Identitätsnar‐ rative wirken […] der Diversifizierung der Identität zu einem gewissen Grad entgegen. […] Sie sind veränderbar, aber relativ stabil“ (Gymnich 2000, S. 38-39). Ein wichtiger Aspekt in der Gestaltung der Identitätsnarrative und damit einer eigenen kohärenten Identität sind Erinnerungen, deren Ordnung, Auswahl sowie bereits der Akt des bewussten Erinnerns: „Nicht nur die Artikulation von Erinnerungen, sondern auch schon der Akt des bewußten Erinnerns geht mit der Tendenz einher, Erinnerungen in einer bestimmten Form zu verfestigen“ (Gym‐ nich 2000, S. 39). Dadurch kann es dazu kommen, dass auch nicht auf Erleben oder Erfahrungen beruhende Erinnerungen in Identitätsnarrative einfließen, z. B. durch ständige Wiederholung. Durch Identitätsnarrative offenbart sich der Konstruktionscharakter von Erinnerungen und somit auch von Identität. Das Konzept der narrativen Konstruktion von Identität ist für die spätere Textanalyse insbesondere von Interesse, da das Erzählen bzw. das Schreiben der Protagonistinnen in den einzelnen Texten eine zentrale Rolle bei dem Versuch einer Identitätsfindung spielen. In Beys Cette fille-là versucht die elternlose Hauptfigur über fiktive Erzählungen ihrer Vergangenheit Kohärenz und Sinn in ihrer Biographie zu finden. In Mokeddems La Transe des insoumis wiederum, ein Text der mit autobiographischen Elementen arbeitet, wird die Identität als Schreibende zentrales Thema des Textes. Die hier vorgestellten theoretischen Ansätze der Identitätskonstruktion betonen den Konstruktionsprozess und nicht das Ergebnis einer Identitätskonstruktion. Dies findet seine Entsprechung in den ausgewählten literarischen Texten, in denen ebenfalls der Hauptfokus auf dem Versuch der Konstruktion eigener Identität(en) liegt. Die Analyse der Romane wird zeigen, dass verschiedene Motive und erzähler‐ ische Elemente eine zentrale Rolle bei der Konstruktion von Identitäten spielen werden: 3. Isolation und soziale Abgrenzung: In den Texten geht es um Außen‐ seiter: innentum, Distanzierung von der Familie, fehlende Gründung eigener Familien und problematische (Liebes-)Beziehungen. Diese Stö‐ rungen sozialer Identität sind Ausgangspunkt der Identitätssuche und ihres Konstruktionsprozesses. Ihre sozialen Identitäten scheinen mit den 44 2 Theoretische Überlegungen zur Konstruktion weiblicher Identitäten in Algerien <?page no="45"?> 22 Zum Begriff des Meeres: in Lexika zu Symbolen in der Literatur wird eine Verbindung zum „Weiblichen“ hergestellt; die Zuordnung bestimmter Bedeutungen zu einzelnen Symbolen erscheint problematisch, da diese sich auf „westliche“ Literatur- und Kultur‐ traditionen und Standards beziehen (z. B. Christentum, griechische Antike, Orientdar‐ stellungen aus westlicher Perspektive) (vgl. Butzer und Jacob 2012). persönlichen nicht (mehr) integrierbar. Die Protagonistinnen erfahren Alterität. 4. Bewegung, Flucht und Grenzüberschreitung: Diese Motive tauchen immer wieder in den Texten auf, deren Protagonistinnen sich Bewegungsfrei‐ heiten verschaffen, ins Exil gehen, aus dem familiären Umfeld flüchten oder generell Unstetigkeit und einen Drang nach Bewegung beschreiben. Das Mittelmeer wird dabei häufig zur Metapher 22 der Bewegung, der Freiheit durch Bewegung, der Grenzüberschreitung, aber auch der Freiheit von Zuschreibungen (‚Dazwischen‘: weder in der alten noch der neuen Heimat verortet). Die Bewegungen der Protagonistinnen verweisen dabei auf die verweigerte oder nicht mögliche Festlegung und damit auf fluide, dynamische Identitäten. 5. Kollektivität und Genealogie: In den Texten wird durch unterschiedliche erzählerische Mittel versucht Kollektivität oder auch eine Verbindung zu Frauenfiguren der (persönlichen und historischen) Vergangenheit her‐ zustellen, z. B. durch autobiographisches oder multiperspektivisches Er‐ zählen. Hierbei geht es auch darum, eine alternative soziale Identität zu konstruieren und ein kollektives Gedächtnis zu rekonstruieren. 6. Schreiben: Eine besondere Rolle in der Konstruktion und Darstellung von Identitäten spielt Literatur durch die „[…] Möglichkeiten des Mediums […] Erinnerungs- und Identitätskonzepte ihres kulturellen Kontextes durch ästhetische Formen zu inszenieren, zu thematisieren und zu problemati‐ sieren“ (Erll et al. 2003, S. V) . Literatur wird in dieser Auffassung zum „Medium der Darstellung und Reflexion, der Modellierung und Konstruk‐ tion von Erinnerung und Identität“ (ebd.). Über die Thematisierung der Be‐ deutung des Schreibens, insbesondere in den autobiographischen Passagen der Romane Mokeddems, wird auf das Potential des Mediums Literatur, Identitäten aktiv zu konstruieren, Bezug genommen. Identität wird durch Narration konstruiert: Die Entwicklung alternativer Identitätsentwürfe, die Integration sozialer und persönlicher Identitäten kann in der Narration gelingen. Literatur, bzw. die literarische Produktion ist damit auf zweierlei Ebenen relevant: auf Ebene des Textes in der Schilderung von Schreibproz‐ essen der weiblichen Figuren; sowie auf Ebene der Textproduktion selbst. 2.2 Identitätskonzepte (und Literatur) 45 <?page no="46"?> Der von einer problematischen Integration von sozialer und persönlicher Identität ausgehende Versuch der Protagonistinnen in den ausgewählten Texten eine alternative Identität zu konstruieren, führt demnach zu unterschiedlichen Ergebnissen: dem Versuch sich zu entziehen, sich in ein anderes als das familiäre Kollektiv oder eine Genealogie zu integrieren und/ oder sich eine narrative Identitätskonstruktion durch das Schreiben zu erarbeiten. Literatur wird sowohl auf Ebene des Textes als auch auf Ebene der Textpro‐ duktion zum Medium der Identitätskonstruktion und ermöglicht alternative Identitätsentwürfe zu den für Frauen in der algerischen Gesellschaft vorge‐ gebenen. In Bezug auf die Wirkung von Literatur in der außerliterarischen Wirklichkeit übernimmt sie dadurch die Funktion eines Gegendiskurses. 2.3 Literatur als Gegendiskurs Wie bereits oben geschildert dominiert im postkolonialen Algerien ein natio‐ naler gesellschaftspolitischer Einheitsdiskurs, der Entwicklungen in Richtung eines pluraleren Gesellschaftsentwurfs inklusive multipler Identitätsangebote kritisch bis ablehnend gegenübersteht. Feministinnen befinden sich dadurch in dem politischen und diskursiven Dilemma einerseits innerhalb der algerischen Gesellschaft Veränderungen zu Gunsten der Situation von Frauen bewirken zu wollen, andererseits aber kaum Möglichkeiten zur Partizipation an politi‐ schen Diskursen über die Rolle von Frauen in der Gesellschaft zu haben. Die gesellschaftlich dominante Vorstellung von Geschlechterrollen, in der Frauen die private Sphäre der Familie zugewiesen wird, erschwert den Zugang zu gesellschaftlichen und politischen Machtpositionen für Frauen ohnehin. Ihre Einflussnahme wird zusätzlich dadurch eingeschränkt, dass feministischen Positionen häufig der Vorwurf der ‚Verwestlichung‘ zugrunde gelegt wird. Diese Unterstellung einer externen Einflussnahme des Westens auf die algerische Gesellschaft verhindert einen offenen Diskurs über Geschlechterrollen. Das führt dazu, dass bestehende Konflikte und Unterdrückungsszenarien keinen Raum in öffentlichen Diskursen finden. Die folgenden Überlegungen gehen von der These aus, dass Literatur - hier betrachtet die Romane algerischer Autorinnen - die Funktion eines Gegendis‐ kurses in Bezug auf das Diskursfeld der gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Situation von Frauen in Algerien übernehmen und damit einen Raum für die Thematisierung von Identitätskonflikten bieten kann: Der kulturelle Wert des literarischen Textes […] ergibt sich aus seiner Mehrfachco‐ dierung innerhalb einer plural verstandenen Welt. So bietet der intertextuell geprägte 46 2 Theoretische Überlegungen zur Konstruktion weiblicher Identitäten in Algerien <?page no="47"?> Umgang mit literarischen Texten ein Modell und Trainingsfeld für den Umgang mit mehrfach codierten, komplexen Identitäten - imaginären Gemeinschaften -, die sich innerhalb des pluralen Bezugsrahmens ‚Welt‘ ansiedeln. (Bronfen und Marius 1997, S.-7) Literatur bildet ein „Modell und Trainingsfeld“ für das Verhandeln von alter‐ nativen Identitätsentwürfen (oder auch nur der expliziten Darstellung von Identitätskrisen und -konflikten), das in anderen öffentlichen Diskursen keinen Platz findet. Der Begriff des Diskurses wird dabei folgendermaßen verstanden: Nach Foucault bezeichnen Diskurse spezielle Wissensbereiche, deren Ordnung durch die Grenzen zwischen dem, was innerhalb ihrer Normen gesagt werden kann, und dem, was nicht gesagt werden kann, bestimmt wird. (Zapf 2005, 71 f.) Literatur würde in diesem Verständnis den Raum für dasjenige bilden, „was nicht gesagt werden kann“. Der Begriff des Gegendiskurses bezeichnet in dem Zusammenhang einen Diskurs unter anderen, der sich jedoch durch eine fehlende Machtposition im Gegensatz zu den dominanten gesellschaftlichen Diskursen auszeichnet. Der literarische Gegendiskurs ist gekennzeichnet durch Funktionen, die anderen Diskursen ebenso eigen sind, darunter die Bildung, Speicherung und Transformation kulturellen Wissens (vgl. Neumeyer 2004). Ob eine Transformation kulturellen Wissens langfristig und mit breiter gesell‐ schaftlicher Wirkung erfolgen kann, hängt jedoch wiederum an der Wirkmacht des jeweiligen Diskurses. Im Sinne Zapfs (2005) kann im Fall von Literatur auch von einer „gegen‐ diskursiven Inszenierung“ dessen gesprochen werden, „was im kulturellen Realitätssystem marginalisiert, vernachlässigt oder unterdrückt ist“ (Zapf 2005, S. 69). In Anlehnung daran bildet das kulturelle Realitätssystem des postkolo‐ nialen Algeriens einen Raum, in dem Frauen in unterschiedlichen Bereichen marginalisiert werden. Die ausgewählten Romane thematisieren die von den weiblichen Figuren erfahrene Marginalisierung bzw. Diskriminierung im alge‐ rischen Kontext. Schreiben wird auf doppelter Ebene - für die Autorinnen ebenso wie einige ihrer Figuren auf Textebene - zum Mittel, den männlich dominierten Diskursen etwas entgegen zu setzen. Wie oben bereits beschrieben birgt dies Konfliktpo‐ tential, weil Frauen durch Teilnahme an öffentlichen Diskursen den ihnen zugewiesenen privaten Raum überschreiten und dadurch gesellschaftliche Ver‐ änderungsprozesse in Gang setzen könnten, die nicht gewünscht sind: 2.3 Literatur als Gegendiskurs 47 <?page no="48"?> 23 […] diese Besonderheit [von Literatur] kann erst herausgearbeitet und begründet werden, wenn man im Sinne der Foucaultschen Diskursanalyse historisch beobachtet, wie in unterschiedlichen Diskursen etwa der Medizin, der Theologie, der Jurisprudenz und eben der Literatur ein bestimmtes Problemfeld je spezifisch konstruiert wird, um daraus Aufschluß über Formen der kulturellen Wahrnehmung und Sinnstiftung zu gewinnen (Stenzel 2004, S.-73). Writing is one way the female member of post-colonial Algerian society challenges the male voice that attempts to suppress, indeed erase other voices that do not conform to their patriarchal agenda. (Kyoore 2014, S.-5) Die Teilnahme an Diskursen, die maßgeblich an der Konstruktion weiblicher Lebensentwürfe bzw. an der Voraussetzung dieser beteiligt sind (d. h. Diskurse, die die gesellschaftliche, rechtliche, politische Situation der Frauen definieren) ist nur eingeschränkt möglich. Nach Kyoore hat Literatur das Potential diese patriarchalen Machtstrukturen zu entlarven, in Frage zu stellen und somit das Unterdrückte und Marginaliserte zu offenbaren: sie übernimmt die Funktion eines Gegendiskurses. Um die Funktion von Literatur als Gegendiskurs untersuchen zu können, wird im Folgenden der Zusammenhang zwischen Diskurs(analyse) und Lite‐ ratur betrachtet. Nach Neumeyer (2004) ist das Programm einer literarischen Diskursanalyse folgendermaßen zu verstehen: Ein spezifisches Thema, das Gegenstand unterschiedlicher Diskurse ist und in diesen Diskursen zu einem Wissenskomplex gebildet wird (etwa die Sexualität), und die mit diesem Wissenskomplex verbundenen Prozeduren von Macht (etwa das Verbot) sind in literarischen wie wissenschaftlichen Diskursen zu untersuchen. (Neumeyer 2004, S.-179) Das spezifische Thema des hier betrachteten literarischen Diskurses, ist die weibliche Identitätskonstruktion unter den gegebenen Bedingungen einer pat‐ riarchalen, postkolonialen Gesellschaft. Es wird sowohl in religiösen, in juristi‐ schen und in politischen Diskursen verhandelt. Mit diesen Wissenskomplexen ist patriarchale Machtausübung verbunden. Der literarische Diskurs 23 hingegen erlaubt eine freiere, entgrenzte Darstellung des Themas und kann sich als Reaktion auf die Tabuisierung des Themas in anderen Diskursen eine alternative Perspektive aneignen. Er kann konkret Themen wie die Diskriminierung von Frauen im täglichen Leben, Gewalt an Frauen aufgrund der gesellschaftlichen und institutionellen Machtstrukturen, aber auch die alternativen Identitäts‐ konstruktionen von Frauen jenseits der ihnen zugewiesenen gesellschaftlichen Rollen aufgreifen. 48 2 Theoretische Überlegungen zur Konstruktion weiblicher Identitäten in Algerien <?page no="49"?> 24 Das Verhältnis von Literatur zur außerliterarischen Wirklichkeit ist in verschiedenen literaturtheoretischen Ansätzen unterschiedlich ausgelegt worden (siehe New Histo‐ ricism bis New Criticism). Das Funktionspotential von Literatur bietet besondere An‐ knüpfungspunkte für eine Gender-kritische, feministische und postkoloniale, kritische Lesart. Damit sie als Gegendiskurs fungieren kann, wird von einem spezifischen Funktionspotential 24 von Literatur ausgegangen. Sie erzeugt, stabilisiert, prob‐ lematisiert und hinterfragt Geschlechtskonstruktionen, geltende Normen und Identitäten (vgl. Pabst 2007, S. 15). Dadurch entsteht ein „Freiraum“ (Fluck 2005, S. 46), der als „Experimentierfeld“ (Stritzke 2005, S. 112) genutzt werden kann, „um kulturelle Normen herauszufordern und einen Prozess einzuleiten, an dessen Ende schließlich die kulturelle Akzeptanz steht“ (Fluck 2005, S. 46). Literarische, erzählerische Produktionen (also auch Filme, Theaterstücke etc.) ermöglichen den Entwurf „alternativer Welten“ (Stritzke 2005, S. 112). In dem freien Raum der literarischen Darstellung können Themen verhandelt werden, die in anderen gesellschaftlichen Diskursen tabuisiert sind. Auf diese Weise können alternative Identitätsentwürfe als literarische Inszenierung ‚aus‐ probiert‘ werden. Darüber hinaus eröffnet das Schreiben eines fiktionalen Textes bzw. die narrative Konstruktion fiktionaler Welten die Möglichkeit der reflexiven Aus‐ einandersetzung mit dem eigenen Selbst und dessen Platz und Rolle in der Gesellschaft. In diesem Sinn liegt das Funktionspotential von Literatur u. a. in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Mechanismen. Nach Neumann besteht in diesem reflexiven Potential die „genuine Leistung“ von Literatur: Durch ihre literarische Neustrukturierung werden kulturell geltende Konventionen zum Gegenstand der Wahrnehmung und damit hinterfragbar gemacht. […] fiktionale Werke [sind] also nicht primär auf die Konventionalisierung kulturellen Wissens angelegt. Indem sie Habitualisiertes neu perspektivieren, können sie vielmehr zur Bedingung der Möglichkeit von kulturellem Wandel werden. (Neumann 2006, S.-92) Wie Neumann im obigen Zitat geht auch Spivak von einer Rückbewegung der Literatur in die Gesellschaft hinein aus: „The role of literature in the production of cultural representation should not be ignored“ (Spivak 2004, S. 269). Beide Zitate betonen die potentielle Wirkmacht von Literatur als Medium der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konventionen und dadurch als eine Art gesellschaftlicher Spiegel, der die Funktionsweisen, z. B. geschlechtliche Rollenzuweisung, sichtbar und dadurch hinterfragbar macht. Die ausgewählten literarischen Texte der algerischen Autorinnen sind als Teil der gesamtgesellschaftlichen Kulturproduktion, als Teil eines gesellschaftlichen 2.3 Literatur als Gegendiskurs 49 <?page no="50"?> Diskurses zu begreifen, aus dem heraus sie entstehen, den sie reflektieren und gleichzeitig beeinflussen. Mills betont darüber hinaus die diskursive Pluralität eines literarischen Textes: So werden Texte also nicht nur durch einen Diskurs determiniert (wie oft scheint dies so in Debatten zur Ideologie! ), vielmehr können gleichzeitig mehrere, miteinander in Konflikt stehende Diskurse auf die Konstruktion eines bestimmten Textes einwirken. (Mills 2007, S.-108) In der Aufgreifung möglicher Konflikte zwischen Diskursen liegt nach Mills ein weiteres besonderes Potential von Literatur. Sie kann durch die narrative Konstruktion von Figuren, Handlungsmustern und fiktionalen Welten diese oft verdeckten Konflikte offenbaren und damit die Möglichkeit zu Veränderung‐ sprozessen der außerliterarischen Wirklichkeit schaffen. In den für die vorliegende Untersuchung ausgewählten litarischen Texten werden konkret weibliche Lebensentwürfe thematisiert, die durch Brüche gekennzeichnet sind. Diese weisen auf gesellschaftlichen Bedingungen hin, die keine freie Identitätskonstruktion ermöglichen. Durch das (Er-)Schreiben weiblicher Identitäten werden erstens diese Brüche sichtbar, und zweitens Sub‐ jekte konstruiert, die nach alternativen Identitätskonstruktionen suchen. Das Schreiben ermöglicht in der Konsequenz eine freiere Identitätskonstruktion. Literatur, verstanden als Gegendiskurs, kann demnach den gesellschaftlichen Diskursen durch die Verdeutlichung der Identitätsbrüche in den Lebensent‐ würfen von Frauen einen wichtigen kritischen Punkt hinzufügen. Die Thema‐ tisierung der weiblichen Identitätsbrüche ist aufgrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Algerien in kaum einem anderen Diskurs(feld) in dieser Deutlichkeit möglich. Darüber hinaus eröffnet Literatur spezifische Möglichkeiten durch die narrative Konstruktion weiblicher Identitätsentwürfe: sie macht sie erfahrbar und durch die Konstruktion alternativer Welten möglich. Im Folgenden werden nun die vorangegangenen allgemeineren Überle‐ gungen zur Funktion von Literatur als Gegendiskurs in den konkreten Kon‐ text der für diese Untersuchung ausgewählten Texte, deren Produktionsbedin‐ gungen und dem Selbstverständnis der Autorinnen gestellt. 50 2 Theoretische Überlegungen zur Konstruktion weiblicher Identitäten in Algerien <?page no="51"?> 25 Konkret meint Marginalisierung hier einen eingeschränkten Zugang zu gesellschaftli‐ chen Machtpositionen. 3 Weibliches Schreiben im Kontext Algeriens - Selbstverständnis und Strategien der Autorinnen Doch wie könnte ich nicht von der Macht der Literatur überzeugt sein, wo sie es doch war, die mir zuerst die Freiheit schenkte? Darin bin ich beileibe keine Ausnahme, denn für viele arabische Frauen wie mich war die Literatur der Ausgangspunkt auf dem Weg in ein untypisches Leben. (Haddad 2010, S.-40) In diesem Zitat betont die jordanische Publizistin Joumana Haddad die Bedeu‐ tung von Literatur für ihr eigenes Leben, aber darüberhinausgehend auch für das vieler arabischer Frauen. Literatur ist für sie die Basis des Wegs in ein freies, selbstbestimmtes Leben. Auch wenn es in den Formulierungen Haddads etwas pathetisch anmutet, wurde doch in den vorangegangenen Kapiteln bereits auf das Potential von Literatur, in einer Gesellschaft tabuisierte Konflikte zu offenbaren sowie alternative Weltentwürfe zu entwickeln, hingewiesen. Im folgenden Kapitel soll nun gezeigt werden, welche Bedeutung und welche Funktionen die ausgewählten Autorinnen Assia Djebar, Maїssa Bey und Malika Mokeddem Literatur und ihrem eigenen Schreiben zuweisen. Daraus lassen sich Folgerungen zur Analyse der Texte herstellen, um Fragestellungen nach den Möglichkeiten weiblichen Schreibens und weiblicher Identitätsentwürfe in Algerien zu beleuchten. 3.1 Schreiben aus der Marginalität - „écrire dans la marge“ Wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln erläutert, sehen sich Frauen in Algerien mit einer gesellschaftlichen Marginalisierung 25 konfrontiert, von der die Autorinnen gleichermaßen betroffen sind. Der Marginalisierung von Frauen liegen vielfältige Ursachen zugrunde: die religiös-traditionell angelegte geschlechtlich konnotierte Aufteilung in einen privaten (weiblich konnotierten) <?page no="52"?> 26 Der Überschreitung der Grenze in das „territoire essentiellement masculin“ des öffentli‐ chen Sprechens sind mehrere Konfrontationen (und Überschreitungen) der Autorinnen mit den geschlechtlich definierten gesellschaftlichen Restriktionen vorausgegangenen, die sie in ihren autobiographischen Texten thematisieren. Unter anderem finden sich bei Djebar, Bey und Mokeddem Berichte von Momenten in der Kindheit, in denen ihnen die herrschenden geschlechtlichen Differenzen und deren gesellschaftliche Konsequenzen bewusst werden (z. B. bei Djebar die Rüge ihres Vaters als sie als kleines Mädchen mit einem befreundeten Jungen Fahrradfahren lernt und man ihre Beine unter dem wehenden Rock erkennen kann; eine ähnliche Szene ebenso bei Bey). Die Marginalisierung, die sie als Schriftstellerinnen erfahren, ist ihnen, wenn auch von anderer Qualität, durchaus vertraut. und öffentlichen (männlich konnotierten) Raum; die rechtliche Diskriminie‐ rung von Frauen u. a. im Familienrecht; eine spezifische Vorstellung von weiblicher Sexualität, die wiederum mit einer spezifischen Vorstellung von Ehre, Sittsamkeit und weiteren geschlechtlich unterschiedlich festgelegten Verhaltensnormen verbunden ist. Die Situation schreibender Frauen in Algerien bewegt sich in dem Span‐ nungsfeld dieser hier nur zusammenfassend und beispielhaft wiedergegebenen Gründe der Marginalisierung. Für algerische Schriftstellerinnen ergibt sich eine weitere Problematik, wenn sie sich - wie im Falle der in dieser Arbeit untersuchten Autorinnen - entscheiden auf Französisch zu schreiben und zu veröffentlichen. Das literarische Schaffen in der Sprache der ehemaligen Kolonialmacht wird seit der Unabhängigkeit des Landes in der algerischen Öffentlichkeit ambivalent gesehen und kann u. U. als Mangel an Patriotismus gedeutet werden. Intellektuelle, die auf Französisch publizieren, sehen sich häufig mit dem Vorwurf der ‚Verwestlichung‘ konfrontiert, wodurch ihre Pub‐ likationen und insbesondere auch ihre kritischen Äußerungen diskreditiert werden. Daraus ergibt sich eine schwierige Situation für Schriftstellerinnen in der algerischen Gesellschaft und dem algerischen Kulturbetrieb: Sie nehmen als Frauen am öffentlichen Diskurs, namentlich dem literarischen, teil und über‐ schreiten damit geschlechtlich konnotierte Grenzen und Diskursregeln. Da‐ rüber hinaus wählen sie Französisch als Schriftsprache. Bey beschreibt diese Grenzüberschreitung 26 aus dem privaten Raum in den öffentlichen Diskurs explizit als ein Eintreten in männliches Territorium, das für sie als Schriftstel‐ lerin Mut zu einem Tabubruch - dem öffentlichen Sprechen von sich selbst - erfordert: Mais il est ici question de moi. De celle qui a osé dire, qui a osé se dire. Entrer par effraction dans un territoire essentiellement masculin, celui de la parole publique. Aller à contre-silence. (Bey 2009, S.-55) 52 3 Weibliches Schreiben im Kontext Algeriens <?page no="53"?> Gegen das Schweigen, d. h. die Unterrepräsentanz weiblicher Stimmen im öffentlichen Diskurs, anzugehen, ist ein wiederkehrendes Motiv in den Selbst‐ aussagen der Schriftstellerinnen. Bey verweist hier auf das bewusste Eindringen in den öffentlichen Raum mit ihren Texten. Sie wagt es, das männliche Territo‐ rium zu betreten, um in ihren Texten über Themen zu sprechen, die sonst keine Öffentlichkeit finden würden. Darüber hinaus spricht und schreibt sie von sich selbst und stellt sich damit öffentlich und in ihrer Individualität dar. 3.2 Verortung der Schriftstellerinnen im Literaturbetrieb Die drei hier untersuchten Schriftstellerinnen haben allerdings, mögen sie auch zunächst als (schreibende) Frauen einer Marginalisierung ausgesetzt gewesen sein, mittlerweile einen großen Bekanntheitsgrad in Algerien und ebenso in Frankreich erlangt. Insbesondere Assia Djebar war seit 2005 bis zu ihrem Tod als eine der Unsterblichen (immortels) der Académie française ein etabliertes Mitglied des frankophonen und internationalen Literatur- und Kulturbetriebes. Aber auch Malika Mokeddem und Maїssa Bey sind mehrfach mit Preisen für ihr literarisches Werk ausgezeichnet und ihre Texte in mehrere Sprachen übersetzt worden. Insbesondere Djebar und Mokeddem sind zudem dem europäischen Lesepublikum bekannt. Beide verließen Algerien während ihres Studiums und leben bzw. lebten - mit Unterbrechungen im Falle Djebars - seit dieser Zeit in Frankreich. Trotz hohen Bekanntheitsgrads und literarischem Erfolg der Autorinnen, vor allem in Frankreich, ist ihre Stellung sowohl im algerischen als auch im französischen Literaturbetrieb ambivalent. Die Publikation literarischer Texte auf Französisch und ihre Zusammenarbeit mit französischen Verlagen wird in der algerischen Presse kritisiert thematisiert. In Frankreich sehen sich die Schriftstellerinnen einer weiteren Art von Marginalisierung ausgesetzt: Insbesondere französischschreibende Schriftsteller: innen aus dem Maghreb unterliegen im französischen Literaturbetrieb häufig Kategorisierungen, die sie exklusiv einer bestimmten Ausrichtung von Literatur zuordnen, so z. B. Migrationsliteratur oder „Dritte-Welt“-Literatur aus französischer Perspektive. Diese besondere Stellung im Literaturbetrieb wird von den Autorinnen sowohl als Chance zu einer kritischen Distanzierung von der Gesellschaft als auch als stereotype Reduzierung ihres Schaffens begriffen. Malika Mokeddem sieht insbesondere algerische, französisch schreibende SchriftstellerInnen „dans la marge“ (Mokeddem 2003b, S. 282), als vom Rand 3.2 Verortung der Schriftstellerinnen im Literaturbetrieb 53 <?page no="54"?> aus schreibend. In dieser Position sieht sie das Potential, aus der Distanz heraus Kritik zu üben: sowohl am Herkunftsland Algerien als auch an der neuen Heimat Frankreich. Die Rand- oder Zwischenstellung ermöglicht künstlerische Freiheit und erlaubt einen klaren, unabhängigen Blick von außen auf gesellschaftliche Verhältnisse und Zusammenhänge. Wenn diese Position zur Kritik genutzt wird, kann sie von konservativen gesellschaftlichen Kräften durchaus als Bedrohung der herrschenden Machtverhältnisse wahrgenommen werden, die die Kritik in diesem Fall nicht selten als Bedrohung für die Stabilität der geltenden sozialen Ordnung stilisieren: Est-ce qu’un véritable écrivain peut être dans l’État? Enfin j’en doute… À partir du moment où on parle de la marge… […] le retrait suppose une certaine lucidité…[…] parfois une capacité d’analyse… une liberté de propos… une liberté dans l’écriture. […] Je pense que c’est pour ça que les gens du monde de la création ont toujours été persécutés […]. Parce que leur propos peut être considéré comme menacant pour les régimes… pour les individus… pour une norme sociale voulue. Ces personnes sont dérangeantes. (Mokeddem 2003b, S.-282) In diesem Zitat hebt Mokeddem das kritische Potential schöpferischen Schaffens heraus, das bestehende soziale Ordnungen hinterfragen und dadurch aufbre‐ chen kann. Mokeddem stellt in Frage, ob ein Schriftsteller/ eine Schriftstellerin überhaupt Teil der etablierten Ordnung („être dans l’Etat“) sein kann oder grundsätzlich vom Rand aus schreiben muss. Für sie beinhaltet das Sprechen bzw. Schreiben von einer Position am Rand eine spezifische Klarheit, die sich aus der Distanz zur Gesellschaft ergibt. Diese Distanz ermöglicht ihr Freiheit in ihrem Schreiben, darunter auch die Freiheit Tabuthemen zu bearbeiten. Indem schriftstellerisches Schaffen geltende Normen und soziale Standards hinterfragt, entwickelt es nach Ansicht Mokeddems ein bedrohliches Potential für das politische Establishment und bestehende soziale Strukturen. Gleichzeitig birgt die Randstellung die Gefahr, dass die Texte in der Be‐ deutungslosigkeit verschwinden oder durch bestimmte gesellschaftliche (Iden‐ titäts-)Diskurse vereinnahmt werden. Dem französischen oder europäischen Lesepublikum werden die Romane und Erzählungen als Darstellungen algeri‐ scher Lebenswirklichkeit angepriesen, was wiederum von der algerischen Kritik nicht selten aufgegriffen wird, in dem Versuch, mögliche negative Darstellungen als Zeugnisse ‚europäisierter‘ Intellektueller zu diskreditieren. Mokeddem thematisiert diese Ambivalenz zwischen der isolierten Produk‐ tion von Literatur und deren Rezeption und Wirkung: […] tu écris, comme ça, dans la solitude et ensuite tu donnes ton texte à tous. Tu as l’impression que ton texte n’engage que toi et même toi, à un moment précis, de 54 3 Weibliches Schreiben im Kontext Algeriens <?page no="55"?> ta vie. Et puis tu te rends compte que ton texte peut avoir cette résonance-là pour certains. C’est-à-dire que tu es rendue comptable de toute une société. (Mokeddem 2003b, S.-282) In dem Zitat wird die Diskrepanz zwischen der Entstehung und der Wirkung des Textes deutlich. Mokeddem beschreibt den einsamen Prozess des Schreibens, aus dem heraus ein Text entsteht, der zunächst nur Bedeutung für die Autorin selbst zu einem spezifischen Zeitpunkt ihres Lebens hat. Und der dann aber durch eine breite Rezeption eine andere Bedeutung bekommt, die sich der Kontrolle der Autorin entzieht. Sie fühlt sich in die Verantwortung gezogen, eine gesamte Gesellschaft zu repräsentieren. In der Folge versucht sie sich diesen Zuschreibungen gesellschaftlicher und politischer Bedeutung in Hinsicht auf algerische sowie französische Identitäts‐ politiken zu entziehen. Sie thematisiert in unterschiedlichen Zusammenhängen ihre Bedenken durch externe Zuschreibungen in ihrem Schreiben eingeschränkt zu werden. Daraus lässt sich auch ihr vorsichtiger Umgang mit Selbstzuschrei‐ bungen (u. a. als Feministin) ableiten. Eine Einordnung (z. B. als feministische, maghrebinische, frankophone, „Dritte-Welt“-Autorin) durch den Buchmarkt oder die Medien lehnt sie ab. Dies würde eine erneute Eingrenzung und Unfreiheit der Äußerung bedeuten. Mokeddem ist der externe Druck des Buchmarkts bewusst, ihre Texte und sie selbst als Autorin zu kategorisieren. Sie spricht im Hinblick auf die Strategien der Verlage sogar von Ghettoisierung: Il y a aussi un côté moins satisfaisant. Je bénéficie de certains chlichés: femme, Algérienne, je n’ai pas peur d’écrire ce que je veux. Je réponds à certains fantasmes. Je ne peux pas y échapper, je suis consciente de cela. Mais ce n’est pas une raison pour me taire. […] Au début, alors que je ne savais rien du monde de l’édition, je savais que je ne voulais pas me retrouver dans un ghetto, ni dans un ghetto tiers-mondiste, ni dans un ghetto féministe. (Mokeddem in einem Interview mit Chaulet-Achour 1995, zitiert nach Chaulet-Achour 2003, 206 f.) Die Gefahr besteht in Mokeddems Wahrnehmung darin, dass ihre Texte als die einer algerischen Autorin, die über weibliche Lebensentwürfe in Algerien schreibt, in bestimmte literarische Nischen gedrängt und damit auf eine Bedeu‐ tung festgelegt werden. Gängige Einsortierungen der Werke von Djebar, Bey und Mokeddem in den großen französischen Buchhandelsketten bestätigen zum Teil diese einseitige Wahrnehmung ihrer Texte und die Vermarktungsstrategie. Man findet die Autorinnen sowohl in den Sektionen „Frauenliteratur“, als auch „Frankophonie“ etc.. Gerade Mokeddem, die sich allen Zuschreibungen zu entziehen versucht (einschließlich der Gattungszuordnungen Autobiographie 3.2 Verortung der Schriftstellerinnen im Literaturbetrieb 55 <?page no="56"?> 27 Die Lizenzen für bekanntere Autor: innen sind für algerische Verlage oft nicht zu bezahlen, die Gewinnmarge ist bei geringer Kaufkraft außerdem überschaubar. Die meisten Autor: innen veröffentlichen bei französischen, libanesischen oder ägyptischen Verlagen mit größerer Reichweite (vgl. Ghozali 2010). und Fiktion), findet ihre Werke den Mechanismen des literarischen Kanons und des internationalen Buchmarktes untergeordnet. Maghrebinische Texte werden nach wie vor - wie die Einsortierung im Buchhandel illustriert - als ‚exotisch‘ wahrgenommen: Maghrebian texts are read for their exoticism by the French public, and that is made possible because marketing strategies of publishing houses are linked to capitalize on cultural practices that are perceived to affirm their “exoticism” and their alterity. (Kyoore 2014, S.-8) Die Exotisierung der Texte ist eine Strategie der Vermarktung, die an traditio‐ nelle orientalistische Stereotype anknüpft und gleichzeitig die Wahrnehmung von Alterität perpetuiert. In dem der Fokus auf Alterität gelegt wird, wird eine Bedeutung der Texte als Schilderungen einer „fremden“ Gesellschaft konstru‐ iert. Der literarische Anspruch der Texte wird dadurch in den Hintergrund gerückt. Die Art der Veröffentlichung der Texte spiegelt aber auch ein Spannungsfeld ihrer Entstehung wider. Die Autorinnen müssen z. T. damit rechnen, nicht in Algerien veröffentlicht zu werden; entweder aufgrund des Inhalts ihrer Texte, oder aber - was häufiger der Fall ist - aufgrund des im Vergleich zu Frankreich ökonomisch kleineren Buchmarktes 27 . Chaulet-Achour geht auf die besondere Stellung der algerischen französisch‐ sprachigen Autor: innen ein, die - zum Teil in Frankreich lebend - eine Randstel‐ lung im nationalen und weltweiten Literaturbetrieb einnehmen. Ihrer Analyse nach bewegen sich die Autorinnen zwischen Assimilation und Differenzierung auf eine Form der „métissage“, der Vermischung, zu; dabei unternehmen sie den Versuch auf beiden Buchmärkten eine Leserschaft zu erreichen: Car chez les écrivains francophones, il y a toujours en partie assimilation, en partie différenciation et, au bout du parcours, forme de métissage c’est-à-dire l’affirmation de son apport par et dans sa différence, par et dans son assimilation dans les espaces, national et international. (Chaulet-Achour 2003, S.-213) Sie beleuchtet die Schwierigkeiten der Texte, sich auf dem algerischen Buch‐ markt zu etablieren. Im Falle der französischsprachigen algerischen Literatur kann diese nur auf den einheimischen Literaturbetrieb wirken, wenn offizielle nationale Instanzen dies zulassen. Selbst ohne literarische Zensur kann ihre 56 3 Weibliches Schreiben im Kontext Algeriens <?page no="57"?> Wirkung über die Festlegung des Kanons für die Schullektüre und die offizielle Presse verhindert werden; u. a. durch Ausgrenzung aus dem Kanon und fehlende Berichterstattung in der Presse (vgl. Chaulet-Achour 2003, S.-212). Zu Beginn ihrer Rede als neu gewähltes Mitglied der Académie française beschreibt Assia Djebar ihre Stellung als „me plaçant donc « à la fois au-dehors et au-dedans »“ (Djebar 2006b). Sie sieht sich als gleichzeitig innerhalb und außer‐ halb des Literaturbetriebs stehend - sowohl in Frankreich als auch in Algerien. Djebar entspricht damit Chaulet-Achours Analyse der besonderen Stellung frankophoner SchriftstellerInnen in Form einer „métissage“ (Chaulet-Achour 2003, S.-213), einer Position zwischen Anpassung und Abgrenzung. Assia Djebar selbst situiert sich sowohl in ihrem Essayband „Ces voix qui m’assiègent. En marge de ma francophonie“ als auch in ihrer Rede zur Aufnahme in die Académie française 2006 in einer Reihe mit anderen europä‐ ischen sowie arabischen AutorInnen und weist sich damit selbst einen Platz in den europäischen und arabischen Kulturtraditionen zu. Sie thematisiert die unterschiedlichen auf ihr Schreiben wirkenden kulturellen Einflüsse sowie ihre eigene Stellung im Kulturbetrieb und stellt sie in den globalen Kontext weltli‐ terarischer Einflüsse (vgl. auch bei Woodhull 2001). In ihrer Académie-Rede z. B. ordnet sie sich in die Geschichte und Literaturgeschichte Algeriens mit Hinweisen auf berühmte Denker seit dem ersten Jahrhundert n. C. ein, so u. a. Apuleius, Tertullian und Augustinus. Damit zeigt sie einerseits die jahrhunder‐ tealte Kulturgeschichte des Maghreb auf, die lange vor der Kolonialisierung durch Frankreich begann und weist damit zugleich auf den nordafrikanischen Ursprung antiker Traditionen hin. Dadurch hinterfragt sie (einmal mehr) den Rechtfertigungsmythos der „mission civilisatrice“ Frankreichs. Andererseits verweist Djebar auf die wechselvolle Geschichte des Territoriums, die von einer Vielzahl an Kulturen geprägt wurde. Mit der Nennung der drei lateinischen Autoren und insbesondere Augustinus’ wird die gemeinsame Kulturgeschichte Nordafrikas mit Europa betont, die maßgeblich nicht zuletzt auf die französische Literatur eingewirkt hat. Djebar bezieht sich gleichfalls auf arabische Philoso‐ phen wie Ibn Battouta, Ibn Rochd, Ibn Arabi und Ibn Khaldoun, die für den späteren arabischen Einfluss auf den Maghreb stehen. Dadurch geht sie auf ihre persönliche Prägung durch diese Denker und Schriftsteller ein, ebenso wie auf die multikulturelle Vergangenheit Algeriens. Ihr Fazit dieser Prägung ist die Konstruktion einer fruchtbaren künstlerischen Heimat in der „doppelten Sprache“, in diesem durch viele Kulturen geprägten geographischen Raum. Sie entlarvt damit den Konstruktionscharakter nationalkultureller Zuschreibungen und Vereinnahmungen. 3.2 Verortung der Schriftstellerinnen im Literaturbetrieb 57 <?page no="58"?> Ihr Schreiben charakterisiert Djebar mit der Nahezu-Homophonie „en marge“ und „en marche“ (Djebar 1999, S. 7), als vom Rand kommend und in Bewegung seiend. Sie steht als französischsprachige algerische Autorin gleichzeitig außer‐ halb des sprachlich-kulturell dominanten Frankreichs; durch ihre Popularität sowie ihre Mitgliedschaft in der Académie française aber auch innerhalb des Diskursfeldes. « En marge de ma francophonie », annonce mon sous-titre; je serais tentée de le compléter: « en marge » mais aussi « en marche ». Oui, mon écriture française est vraiment une marche, même imperceptible; la langue, dans ses jeux et ses enjeux, n’est-elle pas le seul bien que peut revendiquer l’écrivain? (Djebar 1999, S.-7) Französisch wird für Djebar zu einem Freiraum, in dem sie sich bewegt. Gleichzeitig verkörpert sie die ambivalente Stellung französisch-schreibender, algerischer SchriftstellerInnen zwischen „et au-dedans“, zwischen Marginalität und Popularität und vielkulturellen Einflüssen. Djebars Selbstzuordnung zu den literarischen und kulturellen Traditions‐ linien sowohl Europas als auch der ‚arabischen Welt‘ ist ein Versuch der eigenmächtigen Aneignung eines Platzes in den literarischen Traditionen des Maghreb, Frankreichs und der arabischen Kulturen. Als Frau und fran‐ zösisch-schreibende Algerierin ist sie in gängigen Kategorien schwierig einzu‐ ordnen, „sans nul héritage“ (Woodhull 2001, S. 19), und bietet so eine Projekti‐ onsfläche für Fremdzuschreibungen. Sie setzt diesem fehlenden Erbe die eigene Zuweisung eines Platzes unter den bedeutendsten europäischen und arabischen Schriftsteller: innen entgegen. Darüber hinaus spürt sie in ihren Texten, ihren Romanen und Essays, als gelernte Historikerin auch der Geschichte der schreib‐ enden Frauen in Algerien und damit ihrem Erbe nach. Die Geschichte und die Spuren der Frauen, auf die sie stößt, sind geprägt von Marginalisierung und Isolation. Als Beispiel sei hier die Geschichte Zoraidés aus Don Quichote genannt, die sie in in Vaste est la prison weitererzählt. Djebar beschreibt Zoraidé, die aus Algiers fliehende Tochter eines Kaufmanns, als erste Algerierin, die schrieb, aber ihre erkämpfte Freiheit letztendlich mit ihrem Schweigen bezahlt. Ihr Schreiben ist das einer Flüchtigen; einer Frau, die nicht dazugehört. Ihr Schreiben bleibt daher ebenso flüchtig: „Son écriture illisible, s’avère par la même inutile et s’efface[…]. Ecriture de fugitive, écriture par essence éphémère“ (Djebar 1995, S.-168). Das fiktionale Beispiel Zoraidés zeigt das Risiko schreibender Frauen in Algerien an den Rand der Gesellschaft verdrängt oder gar für ihr nicht sozi‐ alkonformes Verhalten mit Gewaltanwendung bedroht zu werden. Die Figur 58 3 Weibliches Schreiben im Kontext Algeriens <?page no="59"?> Zoraidé entschließt sich letztendlich ins Exil zu gehen und deutet damit die häufige Konsequenz auch für zukünftige schreibende Frauen ihres Landes an. 3.3 Funktionen weiblichen Schreibens Der Versuch als auf Französisch schreibende algerische Schriftstellerinnen die Marginalität (die für die literarische Produktion laut Mokeddem fruchtbar sein mag, den Wirkungsgrad der Texte aber einschränkt) zu überwinden, ist nur eine von mehreren Funktionen, die Djebar, Bey und Mokeddem dem Schreiben in ihren Texten zuordnen. Entsprechend den Ausführungen in Kapitel 2.3 haben vor allem folgende Funktionen von Literatur Bedeutung in den Aussagen der Autorinnen: die Konstruktion alternativer Identitätsentwürfe in literarischen Inszenierungen, die Möglichkeit der reflexiven Auseinandersetzung mit der eigenen Subjektivität und die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Me‐ chanismen. Eine weitere von Bey eingangs dieses Kapitels erwähnte Funktion muss an dieser Stelle ebenfalls ergänzt werden: die Erweiterung des Themen‐ spektrums literarischer Schilderungen von Lebensentwürfen um die weibliche Perspektive: „aller à contre-silence“ (Bey 2009, S.-55). Das Schreiben wird von den Autorinnen gleichzeitig als ein die Marginali‐ sierung verstärkendes Element und ein Instrument zu deren Überwindung wahrgenommen. Es wird als Mittel zur Selbsterkenntnis und zum Ausdruck von Subjektivität begriffen. Mokeddem und Bey beschreiben mit ähnlichen Worten, wie das Schreiben darüber hinaus einen Mangel zu lindern, eine Leerstelle zu füllen scheint: C’est tout simplement que l’écriture comble mes manques. (Mokeddem 2003b, S. 297) Impuissance? Peut-être… écriture compensation? Peut-être… recourir à l’écriture pour combler les vides, pallier les manques et les insuffisances, creuser, creuser, jusqu’à atteindre le lieu où prend forme l’insu en soi. (Bey 2009, S.-56) Dem Schreiben wird hier von Bey eine kompensatorische Funktion zugeordnet, die über das Gefühl erlebter Machtlosigkeit hinweghelfen soll. Damit wird Literatur das Potential eines Gegendiskurses zugeschrieben. Bey beschreibt diese Machtlosigkeit in Bezug auf die teilweise prekäre Situation von Frauen in Algerien, die in öffentlichen Diskursen kaum thematisiert oder aber in der Literatur männlicher arabischer Autoren nostalgisch verklärt dargestellt wird: Parce que j’ai eu l’audace ou la prétention de me libérer de l’étau du silence, de découvrir, de dévoiler et d’éclairer autrement ce que l’on croyait connaître. De dire les exils quotidiens, insidieux, destructeurs. D’aller au-delà de la décence, de la pudeur, des 3.3 Funktionen weiblichen Schreibens 59 <?page no="60"?> 28 Vgl. „Lettre à Paul Demeny (15.5.1871)“, in Rimbaud (1990). convenances, de sortir les femmes des réserves dans lequelles l’imaginaire masculin les a parquées, du harem, des gynécées et autres lieux domestiques pleins de mystères. (Bey 2009, 56 f.) Bey setzt dieser verzerrten Darstellung weiblicher Lebensentwürfe in der Litera‐ turtradition mit ihrem eigenen Schreiben etwas entgegen: Die Schilderung von komplexen und ambivalenten Frauenfiguren, die tradierte Rollenzuweisungen durchbrechen und sich den gesellschaftlichen Grenzen entgegenstellen. Ihre Frauenfiguren entsprechen damit nicht den Narrativen (männlicher) algerischer Schriftsteller und nicht dem westlichen Bild der ‚arabischen Frau‘. Algerische Frauen sind in der Literatur ebenso wie in der medialen Berichter‐ stattung der „malédiction“ (ebd.) einer identitätspolitischen Fremdbestimmung unterworfen, von der sich auch Bey selbst als beeinflusst beschreibt: […] j’ai voulu échapper à cette malédiction qui pèse de tout son poids sur ma vie et celle de mes semblables, malédiction que je pourrais formuler ainsi: tu ne seras jamais toi-même. (Bey 2009, S.-57) Hier wird der zentrale Aspekt des Bedürfnisses nach Selbsterkenntnis und Selbstfindung jenseits von Rollenzuschreibungen deutlich. Das Schreiben er‐ möglicht es Bey, die objektivierenden Bilder von Frauen auf zwei Ebenen zu hinterfragen und zu durchbrechen: Einerseits erweitert sie in ihren fiktionalen Texten die Darstellungsmöglichkeiten weiblicher Lebensentwürfe. Andererseits ermöglicht das Schreiben der Autorin selbst die Auseinandersetzung mit der eigenen Subjektivität und den vielfältigen Ich-Entwürfen, die ebenso das Eigene wie das Andere einschließen. Schreiben (das hier die Publikation der Texte impliziert), als Akt des öffentlichen Sprechens, führt zur Konfrontation mit dem/ den Anderen und damit zur Erkenntnis von Identität als Alterität. Écrire dans l’oubli de soi… mais en même temps dans la découverte de l’autre en soi. Prodigeuse contradition! L’une et l’autre. Je suis autre, parce qu’écrivant, portant la parole, je suis allée à la rencontre de l’autre, de toutes les autres. (Bey 2009, S.-56). Identität wird in diesem Zitat als Anders-Sein entworfen. Beys Aussage verweist auf das Zitat Arthur Rimbauds - „Je est un autre“ 28 - das ihrem Roman Surtout ne te retourne pas vorangestellt ist (s. Kapitel 4.1.2). Sie begreift, ebenso wie Rimbaud, Identität als Alterität und Überschreitung der Normen. Schreibend begegnet sie den anderen Facetten ihrer selbst und erreicht so die Befreiung ihres Selbst. 60 3 Weibliches Schreiben im Kontext Algeriens <?page no="61"?> 29 U.a. „Femmes d’Alger dans leur appartement“ von Eugéne Delacroix. In einem Beitrag von 1989 - „Algérienne, le regard qui recule…“ - zieht Assia Djebar eine Verbindungslinie von berühmten Gemälden des 19. Jahrhun‐ derts 29 , die die algerische Frau als Inbegriff der Orientalin zeigen, bis zu den schreibenden Algerierinnen heute. Sie zeigt, wie der fremde, dominante und vereinnahmende Blick der französischen Maler auf die algerischen Frauen zurückgewiesen wird, indem die Frauen sich selbst betrachten und sich selbst erkennen im Schreiben. Damit wird der fremde Blick, die Objektivierung ersetzt durch das eigene Schaffen, die Subjekt-Werdung: L’Algérienne a décidé de ne plus „se taire à soi“. De se regarder elle. De se peindre elle et à elle. De parler d’elle et à elle. Bref d’écrire. (Djebar 1993, S.-12) Allerdings stellt die Kolonialgeschichte Algeriens und die daraus hervorgegan‐ gene Situation der Diglossie insbesondere schreibende Frauen vor das Problem, dass sie auf Französisch, d. h. in der Sprache der kulturellen Vereinnahmung durch die ehemalige Kolonialmacht, schreiben. Auch wenn das Französische im heutigen Algerien noch die Stellung einer Bildungssprache innehat, kann das Schreiben auf Französisch in die Isolation führen: Es ist die Sprache der Wissenschaften und der Technik, „[…] mais, lorsqu’il s’agit de la création, c’est la voix, je le sens, de la solitude, de la marginalité, de la contestation rigoureuse“ (Djebar 1993, S. 15). Dadurch wird die französische Sprache selbst Bestandteil der Marginalisierung. Mokeddems in weiten Teilen autobiographisches Schreiben erfüllt eine weitere, persönliche Funktion: Sie findet Trost in ihrem Schreiben, das die Familie und die Alltagswelt durch etwas Anderes ersetzt und ihr die Möglichkeit bietet, sich selbst zu erfinden und anders zu entwerfen als vorgesehen. Durch das Erzählen entzieht sie sich externen Zuschreibungen. Gleichzeitig füllt sie die Lücken, die durch ihr Außenseiterinnentum entstehen und mildert die soziale Isolation, in die sie sich mehr und mehr begibt: […] j’ai essayé de trouver refuge dans la lecture. Mais je ne pouvais plus y entrer. Il ne restait plus, dans mon être, d’espace disponible aux mots des autres. […] Alors, j’ai écrit, d’abord comme on soigne, par nécessité. (Malika Mokeddem in Christiane Chaulet-Achour, « Malika Mokeddem: Ecriture et implication », Algérie Littérature / Action, Paris, Éd. La Marsa, N° 14, 1997, S. 187 ; zitiert nach Ali-Benali 2003, S.-44) Ali-Benali zitiert Mokeddems Äußerung zu einem Wendepunkt in ihrer Biogra‐ phie. In ihrem autobiographischen Schreiben und den meisten ihrer fiktionalen 3.3 Funktionen weiblichen Schreibens 61 <?page no="62"?> 30 Aktuelle Informationen zum LiBeraturpreis: www.litprom.de/ beste-buecher/ liberaturp reis/ historie/ (zuletzt geprüft am 08.10.2021) Texte spielt das lesende Mädchen eine besondere Rolle. Mokeddem beschreibt, dass das Lesen zu einem bestimmten Zeitpunkt seine ursprüngliche Funktion, die des Hinweg-Tröstens über die empfundene Isolation, die fehlende Bewe‐ gungsfreiheit, die starren gesellschaftlichen Restriktionen, nicht mehr erfüllen konnte. Daraufhin beginnt sie zu schreiben. Sie beschreibt es als Notwendigkeit, als Überlebensstrategie. Für Mokeddem beinhaltet das Schreiben die Möglichkeit eines Transforma‐ tionsprozesses (vgl. Redouane 2003): das Werden einer Schriftstellerin, die aus der Einsamkeit heraus schreibt - Redouane beschreibt es als „pratique de la solitude“ (ebd., S. 37) - um einen existentiellen Mangel zu füllen. Ihr Schreiben ist gleichzeitig die Suche nach einer Verwurzelung: L’écriture se veut alors trajet, parcours pour combler le manque et cherche à se réenraciner dans un espace symbolique différent pour se frayer une ouverture vers d’autres possibles. (Mokaddem 2003, S.-93) Mokeddem sieht das Schreiben als Möglichkeit, sich sowie den Leser: innen einen anderen Raum und dadurch Perspektiven zu eröffnen, die das Gefühl des Mangels überwinden könnten und ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln. Das Schreiben wird somit Ausdrucksmittel eines Kampfes um Subjektivität. Es ist der Versuch, die Definitionsmacht über die eigenen Lebensentwürfe zu erlangen und dabei den von außen wirkenden Repräsentationszwängen entgegenzuwirken. Der Versuch, durch das Schreiben Subjektivität zu gewinnen und Deutungs‐ hoheit zu erlangen, charakterisiert die Texte der drei genannten Autorinnen. Bey weist ihnen darüber hinaus eine weitere Funktion zu, die sie im Zusammenhang mit dem Erhalt des LiBeraturpreises 2007 folgendermaßen beschreibt: „Ecrire contre la violence du silence, de l’injustice, de l’indifférence et de l’oubli“ (Rede zum LiBeraturpreis 2007) 30 . Damit ordnet sie ihrem Schreiben die Funktion eines Gegendiskurses zu, der es möglich macht, alternative Welten zu versprachlichen sowie Geschichten zu thematisieren, die sonst einem Tabu unterliegen. Bey nennt dies „aller à contre-silence“ (Bey 2009, S. 55). Für sie bietet ihr literarisches Schaffen dadurch auch die Möglichkeit, Solidarität zu zeigen und sich durch das Aussprechen von Missständen für andere einzusetzen: […] même si ma voix n’est qu’un souffle fragile au point de rupture de mon être, j’ai choisi l’inconfort de l’exposition à la lumière, mais aussi la solitude, mais aussi la solidarité avec les miens. Ceux que je porte en moi, dont les voix, les silences et les 62 3 Weibliches Schreiben im Kontext Algeriens <?page no="63"?> blessures sont présents, au centre de ma solitude. Car écrire, c’est aussi et surtout, je le crois profondément, écouter les battements du coeur de nos semblables en humanité, être solidaire. (Bey 2009, S.-58) In diesem Zitat wird der zentrale Aspekt in Beys Selbstverständnis ihres Schreibens deutlich. Sie setzt sich den persönlichen Konsequenzen eines Lebens als Schriftstellerin, der damit verbundenen Einsamkeit, aber auch der Öffent‐ lichkeit aus, um von den Verletzungen anderer zu sprechen. Dies erinnert an Barthes’ Verständnis von Literatur in ihrer gesellschaftlichen Einbettung und Funktion: […] l’écriture est un acte de solidarité historique. Langue et style sont des objets, l’écriture est une fonction: elle est le rapport entre la création et la société, elle est le langage littéraire transformé par sa destination sociale, elle est la forme saisie dans son intention humaine liée aussi aux grandes crises de l’Histoire. (Barthes 1972, S. 14) Er versteht Literatur als Verbindungsglied zwischen künstlerischem Schaffen und Gesellschaft. In dieser Funktion ist sie Teil der gesellschaftlichen und historischen Entwicklungen und somit kontextgebunden. Sie ist Teil des gesell‐ schaftlichen Diskurssystems; kann aufgrund ihrer spezifischen Funktionen als solcher aber auch als Korrektiv, als Gegendiskurs zu den anderen (politischen, rechtlichen, religiösen etc.) Diskursen fungieren (s. Kapitel 2.3). Damit übernimmt das Schreiben für die Autorinnen, neben der persönlichen Funktion einen Mangel zu füllen, Trost zu spenden und der Suche nach Sub‐ jektivität jenseits von Fremdzuschreibungen, auch eine gesellschaftspolitische Funktion. Mokeddem formuliert ein Verständnis ihres Schreibens als „écriture fémi‐ nine“, die Tabus und das Schweigen darüber bricht, in dem es die Diskurse der Frauenunterdrückung offenlegt, sich kritisch mit ihnen auseinandersetzt und sie als rückständig darstellt: L’écriture féminine se veut libératrice d’un malaise réel, d’un grave mal-être, de l’humiliation subie sans cesse, elle se veut écriture de la transgression, transgression de l’interdit et du non-dit, du refoulé, de la frustration, de la castration, des tabous. Elle est l’expression de la violence sociale, culturelle et politique schizophrènique et mutilante dans laquelle les femmes sont nées et ont grandi. (Bougherara 1995, S. 188) Sie beschreibt „écriture féminine“ als Ausdruck der sozialen, kulturellen und politischen Gewalt, der Frauen ausgesetzt sind. Sie soll daher die Funktion einer „écriture de la transgression“ übernehmen, Verbote und Tabus brechen und überschreiten. 3.3 Funktionen weiblichen Schreibens 63 <?page no="64"?> Auch Bey bezeichnet ihr Schreiben als Mittel, die patriarchalen Geschlechts‐ konstruktionen und -repräsentationen offenzulegen und zu durchbrechen: Parce que j’ai eu l’audace ou la prétention de me libérer de l’étau du silence, de découvrir, de dévoiler et d’éclairer autrement ce que l’on croyait connaître. De dire les exils quotidiens, insidieux, destructeurs. D’aller au-delà de la décence, de la pudeur, des convenances, de sortir les femmes des réserves dans lequelles l’imaginaire masculin les a parquées, du harem, des gynécées et autres lieux domestiques pleins de mystères. (Bey 2009, 56 f.) Bey spricht konkret vom alltäglichen, zerstörerischen Exil, in dem sich Frauen befinden. Auch sie bricht Tabus mit ihrem Schreiben, befreit Frauen aus dem Raum, den ihnen der männliche Blick zugewiesen hat. Sie benennt den Harem als einen solchen Raum, aber auch den häuslichen Bereich im Allgemeinen, die in ihren Augen imaginierte Konstrukte männlicher Vorherrschaft sind. Sie bezeichnet sie als „pleins de mystère“ geradezu mystische Orte, aus denen die Frauen sich befreien sollten. Dabei überschreitet Bey in ihren eigenen Worten sozial gesetzte Grenzen; sie bewegt sich außerhalb von Anstand, Schicklichkeit und Konvention. Sie selbst hat sich mit Hilfe des Schreibens vom Schweigen befreit, das für sie nun aber über Selbsterkenntnis hinausgeht: Es kann Mittel sozialen Wandels sein. Djebar begreift das Schreiben als Mittel der Transformation/ „moyen de transformation“ (Djebar 1999, S. 68), als einen Versuch sich selbst und die Welt zu verstehen (vgl. Woodhull 2001, S. 23) und in diesem Versuch einen Entwicklungsprozess zu bewirken: Si la langue est comme on dit « moyen de communication », elle est pour un écrivain/ une écrivaine aussi un « moyen de transformation », une action - mais cela, dans la mesure où il - ou elle - pratique l’écriture comme aventure, comme recherche de soi et du monde. (Djebar 1999, S.-68) Schreiben kann in Djebars Überlegungen über die Funktion eines Kommunika‐ tionsmittels hinausgehen und Veränderungen anstoßen, wenn die/ der Schrei‐ bende bereit ist, sich auf die Suche nach sich selbst und der Welt zu machen. Dies beinhaltet Risiken; sie spricht von einem Abenteuer. Bei Bey ist es das Überschreiten sozialer Konventionen, das Konsequenzen nach sich zieht. Djebar thematisiert in diesem Zusammenhang explizit die Verbindung von Schreiben und Macht: […] dès les premiers temps de l’islam, on a peu à peu expulsé les femmes de l’écriture comme pouvoir […]: plus on concède aux femmes le rôle de porte-parole (surtout quand la femme prend de l’âge, et aussi parce que cette parole chante ou déplore le 64 3 Weibliches Schreiben im Kontext Algeriens <?page no="65"?> 31 Hiermit ist insbesondere die Einführung des auf der Scharia basierenden Code du Statut Personnel et de la Famille (1984) verwiesen. Er konsolidiert eine Geschlechterordnung nach patriarchalen Strukturen und beschneidet die Frauenrechte fundamental. Es legalisiert unter anderem die Polygamie und schränkt das Erbrecht der Frauen erheblich ein. Das Gesetz enthält Teile, die in eklatantem Widerspruch zur Verfassung stehen, was sein Inkrafttreten allerdings nicht verhindert hat (vgl. Brac de la Perrière 1997, S.-175). 32 Laut Woodhull bricht Djebars fragmentiertes Schreiben essentialistische Identitätsent‐ würfe auf, die der Macht des kolonialistischen Frankreichs zugeschrieben wurden (vgl. passe, l’irréversibilité des choses), plus la femme s’absente de l’écriture. (Djebar 1999, S.-75-76) In ihren Augen sind Frauen systematisch vom Schreiben und damit von einer Machtposition, dem Beeinflussen öffentlicher Diskurse ausgeschlossen worden. Ambivalent ist dabei ihrer Analyse nach die Rolle von Frauen als „porte-parole“: Je mehr ihr die Rolle als Sprecherin zugeschrieben wurde, desto mehr entfernte sie sich vom Schreiben. Woodhull sieht daher die wichtigste Funktion in Djebars Schreiben nicht in der Wahrnehmung als Sprecherin, „porte-parole“, sondern in der Betonung von weiblicher Subjektivität und weiblicher Freiheit (vgl. Woodhull 2001, S. 27). Das entspricht der Forderung Spivaks, Frauen aus postkolonialen Kontexten nicht als „porte-paroles“ zu instrumentalisieren, sondern sie in ihrer Subjektivität und Individualität zu begreifen. Durch die rechtlichen Restriktionen 31 für Frauen, ihr Vermögen zu vererben, scheint für Djebar das weibliche Erbe in einem konkreten sowie übertragenen Sinn in Algerien verloren. Die Verbindung der meisten Frauen zur Vergan‐ genheit und zur weiblichen Sicht auf die Geschichte ist damit unterbrochen. Durch ihr Schreiben versucht sie einen Weg zu eröffnen, die Genealogie wiederherzustellen. In ihren Texten versucht sie, die Hegemonie sowohl der Diskurse der Tradition als auch der postkolonialen Gesellschaft über die Dar‐ stellung historischer Ereignisse und Figuren in Algerien aufzubrechen. Damit beansprucht sie eine eigene Deutungshoheit und bietet alternative Zugänge zur Geschichtsdarstellung. Sie eröffnet einen Zugang zur Geschichte der Frauen in Algerien und ermöglicht die Rekonstruktion einer Erbschaftslinie, die in der offiziellen Geschichtsschreibung nicht vorhanden ist. Schreiben ist somit auch Bewusstwerdung der Geschichte der (schreibenden) Frauen. Djebars Schreiben bricht durch die differenzierte Darstellung weiblicher Identitätsentwürfe aus dem aktuellen und historischen Algerien essentialisti‐ sche Identitätsmodelle auf und konterkariert Versuche der Etablierung von national-kulturellen Identitäten 32 . Damit läuft es Machtdiskursen zuwider und 3.3 Funktionen weiblichen Schreibens 65 <?page no="66"?> Woodhull 2001, S. 20). Unter anderem in „Le Blanc de l’Algérie“ stellt sich Djebar gegen die Gewalt des Bürgerkriegs in Algerien der 1990er Jahre. Woodhull macht darin eine differenzierte Darstellung der Komplexität von Identitäten aus, die auf die wechselhafte Geschichte Algeriens verweist und der Darstellung einer einheitlichen, arabischen Identität widerspricht (vgl. Woodhull 2001, S. 25) Weiterhin sieht sie in „Vaste est la prison“ den Versuch die Dualismen von Peripherie und Zentrum, von universal versus partikular zu durchbrechen (vgl. Woodhull 2001, S. 28). Damit zwingt Djebars Schreiben zu einem Denken außerhalb dieser Kategorisierungen. 33 Arend ordnet die französischsprachige Literatur des Maghreb einem „dritten Raum“ außerhalb nationaler Literaturen zu (vgl. Arend 1998, S. 155). Sie erkennt eine prägende Bedeutung des französischen kulturellen Einflusses trotz vielfältiger sprachlicher (ara‐ bisch, berberisch, französisch) und kultureller (muslimisch, jüdisch etc.) Hintergründe (vgl. Arend 1998, S.-143). 34 Dadurch wird die Zwei- (oder Mehr-) Sprachigkeit ebenso wie Arend es im Zusammen‐ hang der Analyse des Werks von Khatibi beschreibt, nicht mehr einzig als Leiden wie wirft einen kritischen Blick sowohl auf algerische Machthaber: innen und reli‐ giöse Fundamentalist: innen als auch auf die einseitige französische Perspektive auf Migrant: innen. 3.4 Bedeutung des Schreibens auf Französisch Die dominante kulturelle Orientierungsinstanz ist zur Zeit der Kolonialisierung der Kulturraum Frankreich, vermittelt durch das französische Bildungssystem und die französische Sprache 33 . Mokeddem, Djebar und Bey erfahren den ersten Teil ihrer Schulausbildung noch zur Kolonialzeit. Sie erleben den Umbruch vom Französischen zum Arabischen, das nach der Unabhängigkeit Nationalsprache wird, mit. Die Arabisierung ist allerdings - wie Mokeddem beschreibt - gleich‐ zeitig eine Islamisierung, die durch wenig ausgebildete Geistliche vorgenommen wird und somit dem Französischen als Sprache der Bildungseliten zunächst keine Alternative bieten kann. Die Autorinnen erfahren die Situation ihrer Diglossie als ambivalent: Die französische Sprache und die dadurch vermittelte Bildung eröffnet einen Frei‐ raum, da das Französische nicht wie das Arabische an religiöse und traditionelle Diskurse geknüpft ist. Gleichzeitig erfordern die politische Situation nach der Unabhängigkeit und die Politik der nationalen Einheit kulturelle Eigenstän‐ digkeit von Frankreich, die sich zuerst in der Wahl der arabischen Sprache als alleiniger Amtssprache äußert. Im Sinn der politischen und kulturellen Unabhängigkeit wird gefordert sämtliche Kulturproduktionen in arabischer Sprache zu verfassen 34 . 66 3 Weibliches Schreiben im Kontext Algeriens <?page no="67"?> noch bei Kateb Yacine beschrieben (vgl. Arend 1998, S. 148), sondern gleichzeitig als perspektivenschaffend. Chaulet-Achour (2003) weist daraufhin, dass dies zu Legitimationsdruck für maghrebinische Autor: innen führt, die auf Französisch schreiben. Die Sprache, ebenso wie die Literatur, gehört zu den Kulturmitteln, die Differenz markieren und sich zur Abgrenzung von den Anderen benutzen lassen. In einer post-ko‐ lonialen Situation wie derjenigen, in der sich Algerien und Frankreich befinden, ist die Benutzung der Sprache der ehemaligen Kolonisatoren niemals unschuldig und ohne Implikationen möglich (vgl. Chaulet-Achour 2003, S.-205). Für Djebar, Mokeddem und Bey bedeutet der Zugang zu zwei Sprachen jedoch zunächst auch die Erschließung zweier Welten. Das Arabische ist der Zugang zur Familie, zur Heimat, zum Vertrauten, zur Kindheit, aber auch zur Welt der strikten Geschlechtertrennung, zu einer Welt der Grenzen, insbesondere für Frauen. Die französische Sprache öffnete den Autorinnen in ihrer Kindheit die Tür zur Bildung und den Zugang zum Lesen, zu Büchern und damit zur Welt. Sie erlaubte ihnen einen Bildungsweg einzuschlagen, der den meisten Frauen ihrer Familie und ihrer Generationen noch verschlossen blieb. Gleichzeitig ermöglichte ihnen das Verfassen von Texten auf Französisch größere Freiheit in der Wahl der Themen, da es weniger mit Tabus religiöser und gesellschaftlicher Natur belegt ist. Französisch wird zur Sprache der Grenzüberschreitung-: J’écris avec ce que je suis: une femme ayant vécu en Algérie. J’écris avec ce mélange-là. Il ne me pose pas problème à moi. Il pose problème aux autres. Les uns essaient de m’exclure du domaine maghrébin, les autres de m’y inclure exclusivement. Je suis une femme des frontières […] Frontière qui est dans le frottement de cette langue maternelle et de ce vécu algérien avec tout ce qu’il comporte de frustrations, d’effervescences et ce monde de la littérature française qui t’apporte les autres. Je ne suis bien qu’à cheval entre ces deux langues, entre ces deux mondes […]. Dans le monde littéraire français, ils sont en train de se rendre compte qu’il y a un souffle nouveau, impulsé à la langue française par ces gens des frontières […]. (Mokeddem im Interview mit Chaulet-Achour 1995, zitiert nach Chaulet-Achour (2003, S.-213) Mokeddem beschreibt sich hier als Grenzgängerin, als Frau auf der Grenze bzw. zwischen den Grenzen. Sie steht außerhalb jeder und gleichzeitig innerhalb der beiden Grenzen. Sie reibt sich („frottement“) an beiden Sprachen, beiden Kulturtraditionen, fügt sie zusammen und schafft dadurch etwas Neues. Sie wehrt sich gegen Zuschreibungen, denen sie immer wieder ausgesetzt ist und versucht sich von keiner der beiden Seiten vereinnahmen zu lassen. Diese 3.4 Bedeutung des Schreibens auf Französisch 67 <?page no="68"?> Stellung (die auch den beiden anderen Autorinnen zu eigen ist) fordert einen Tribut: eine marginale, isolierte und exponierte Stellung. Französisch - die Sprache der ehemaligen Kolonialmacht - wird damit auch zum Mittel der kulturellen wie der politischen Emanzipation. Dies ist weniger im Sinn einer Übernahme französischer Kulturstandards und wissenschaftli‐ cher Ideale zu verstehen, mittels derer eine postkolonial-kritische Haltung eingenommen wird. Vielmehr wird die Sprache innovativ benutzt, um die spezifische Situation Algeriens als postkolonialer Nation darzustellen. Aus der Verbindung von französischen Kulturstandards mit dem Heranwachsen und der Sozialisation in Algerien entsteht etwas genuin Eigenes. 3.5 Der Raum künstlerischen Schaffens „au-dehors et au-dedans“ In den Personen der drei Autorinnen durchkreuzen sich mehrere Figuren der Ausgrenzung: diejenige als Frau, die von der Kulturtradition ausgeschlossen bleibt sowie diejenige der Schriftstellerin, die die einseitige nationale Identitäts‐ konstruktion Algeriens in Frage stellt und sich der Einverleibung durch die Frankophonie widersetzt. Der nationale Identitätsdiskurs Algeriens gründet sich u. a. auf der Ableh‐ nung des französischen, kolonialen Erbes und dem Versuch der Wiederbele‐ bung einer vorgeblich vorkolonialen Kultur. Dazu gehören u. a. der Islam als Staatsreligion, Arabisch als Amtssprache sowie bestimmte aus einer Tra‐ dition begründete gesellschaftliche Strukturen und Verhaltensmuster wie die Geschlechtertrennung in einigen Bereichen. Diesem Versuch der homogenen Identitätskonstruktion widersprechen die Autorinnen, in dem sie sich über sprachliche, kulturelle und geschlechtsbezogene Grenzen hinwegsetzen. Ihre Stellung „dans la marge“ kann zweierlei bedeuten: Einerseits haben ihre Texte die Fähigkeit gesellschaftliche Mechanismen aufzubrechen und dadurch die soziale Ordnung zu bedrohen. Andererseits sind sie der Gefahr einer Vereinnah‐ mung durch bestimmte gesellschaftliche (Identitäts-)Diskurse ausgesetzt. Dazu gehört die Einordnung als frankophone Autorinnen. Wenn die Frankophonie in Abgrenzung zur ‚métropole‘, d. h. zu Frankreich gesehen wird, bleibt in der Wahrnehmung der Autorinnen als frankophon ein Element von Alterität bestehen. Sie gehören nicht vollständig zum (ur-)franzö‐ sischen Literaturbetrieb hinzu und werden u. a. im Buchhandel unter einem anderen Label geführt. Die Autorinnen reagieren auf diese besondere Stellung zwischen fehlender Zugehörigkeit und möglicher Instrumentalisierung mit Ab‐ 68 3 Weibliches Schreiben im Kontext Algeriens <?page no="69"?> lehnung gegenüber sämtlichen Zuschreibungen sowie dem Versuch sich in einer über das nationalkulturelle hinausgehenden Literatur- und Kulturtradition zu verorten. Sie nehmen die Position des gleichzeitigen „au-dehors et au-dedans“ (Djebar 2006b) als Besonderheit und Raum ihres künstlerischen Schaffens an. 3.5 Der Raum künstlerischen Schaffens „au-dehors et au-dedans“ 69 <?page no="71"?> 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten Im Folgenden wird durch die Analyse unterschiedlicher Darstellungsverfahren und Inszenierungen weiblicher Identitäten ein genauer Einblick in die fiktionale Verarbeitung weiblicher Identitätsentwürfe in ausgewählten Romanen gegeben. Dabei werden die in vorangegangenen Kapiteln entworfenen theoretischen Überlegungen konkretisiert. Jedem Kapitel ist die kurze Vorstellung der jeweiligen Autorin vorangestellt. Es folgen die Analysen der ausgewählten Romane sowie eine kurze Zusammen‐ fassung am Ende jedes Kapitels. 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität - Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen bei Maïssa Bey Samia Benameur, die unter dem Pseudonym Maїssa Bey schreibt, wird 1950 in einem Dorf südlich von Algier geboren und lebt heute in Sidi bel Abbès, 50 km südlich von Oran. Nach einem Französisch-Studium in Algier arbeitet sie mehrere Jahre als Lehrerin sowie als Conseillère pédagogique. In den 1990er Jahren beginnt sie erste Texte zu veröffentlichen. Über die Wahl ihres Pseudonyms sagt sie selbst: „C’est ma mère qui a pensé à ce prénom qu’elle avait déjà voulu me donner à la naissance. Et l’une de nos grand-mères maternelles portait le nom de Bey. C’est donc par les femmes que j’ai trouvé ma nouvelle identité“ (o.A. 2014). So verweist bereits ihr Pseudonym, das ihr die Freiheit des Schreibens in der politisch schwierigen Zeit des Bürgerkriegs in den 1990ern gewährt, auf eine matriarchale Traditionslinie, in die sie ihre neue Identität als Schriftstellerin stellt. Ihre Werke - hauptsächlich Romane und Erzählungen, aber auch Essays und Theaterstücke - befassen sich häufig mit aktuellen Themen der algerischen Gesellschaft, u. a. der Situation von Frauen im heutigen Algerien, dem Erdbeben von 2003, der historischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung des Unabhän‐ gigkeitskrieges, dem Verhältnis Algeriens zu Frankreich sowie der algerischen Geschichte seit der Unabhängigkeit. Ein zentrales Thema ihrer Texte ist dabei die Schicksale von Frauen und Mädchen, deren Lebensumstände sie durch ihre fiktionalisierte Darstellung der Öffentlichkeit aufzeigt. <?page no="72"?> 35 Maїssa Bey engagiert sich über ihr Schreiben hinaus für Frauen und Lite‐ ratur. In ihrer Heimatstadt gründet sie die Organisation „Parole et écriture“, die Schreibkurse für Frauen anbietet, z. B. in biographischem Schreiben als Aufarbeitung der persönlichen Lebensgeschichte, und unterstützt maßgeblich die Einrichtung einer örtlichen Bibliothek (o.A. 2014). Im Jahr 2000 gründet sie außerdem zusammen mit drei anderen Frauen von beiden Seiten des Mit‐ telmeers (Behja Traversac, Edith Hadri und Marie-Noël Arras) die „Éditions Chèvre Feuille Etoilée - Éditions méditéranéennes“. Hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, publiziert der in Montpellier ansässige Verlag Werke von Auto‐ rinnen. Die „Éditions Chèvre Feuille Etoilée“ geben außerdem die Zeitschrift „Etoiles d’Encre“ heraus, deren Chefredakteurin Maїssa Bey ist. Die Zeitschrift soll den Frauen des Mittelmeerraums ein Forum für ihr Schreiben bieten: „Son but est de donner un espace privilégié à la créativité féminine“. 35 Auf der Website des Verlages findet sich folgende kurze Beschreibung von Maїssa Beys Werken: „Son œuvre tente de briser les secrets et les tabous de l’histoire et de la société algériennes, de rompre les silences et les non-dits dans la confrontation des passés et des générations“ (o.A. 2014). Sie erhielt für ihr Werk bereits mehrere Auszeichnungen, darunter den Prix de la nouvelle de la Société des gens de lettres 1998 für Nouvelles d’Algérie oder den Prix Marguerite Audoux 2001 für Cette fille-là (vgl. Bonn). Sie ist neben Boualem Sansal (Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2011) und Yasmina Khadra eine medial präsente und wichtige intellektuelle Stimme in Frankreich sowie in Algerien. 4.1.1 Sich selbst (er)finden: Je suis autre und die Suche nach Identität in Beys Cette fille-là In Maїssa Beys zweitem Roman Cette fille-là (Bey 2006b) wird die Geschichte einer jungen Frau, Malika, erzählt, die aufgrund psychischer Instabilität in einem Heim lebt. Der Roman handelt von den Erinnerungen Malikas an ihre Kindheit sowie von den Lebensgeschichten anderer Heimbewohnerinnen, die Malika schriftlich dokumentiert. Dabei behandelt der Roman die Frage nach den Grundlagen und Bedingungen für die Bildung einer eigenen Identität am Bei‐ spiel Malikas, deren Eltern und früheste Vergangenheit unbekannt sind. Darüber hinaus wird durch die Lebensgeschichten der anderen Heimbewohnerinnen ein Panorama an weiblichen Schicksalen erzählt, das die begrenzten Möglichkeiten 72 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="73"?> der Identitätskonstruktionen für Frauen im Algerien nach der Unabhängigkeit illustriert. - 4.1.1.1 Erzählter Raum: Das asile als ambivalenter Ort der Marginalität und Freiheit Der Ort der Handlung ist ein abgeschiedenes Heim, abseits jeder nächstgele‐ genen Ortschaft. Die Einrichtung wird als eine heterogene Sammelunterkunft ohne spezifische Ausrichtung beschrieben. Sie ist „ni maison de retraite, ni asile, ni hospice“ (Bey 2006b, S. 16) und damit zugleich Seniorenheim, Psychiatrie, Unterkunft für ledige Mütter und Menschen mit geistigen Behinderungen sowie Erziehungsheim für allgemein verhaltensauffällige oder psychisch labile Jugendliche, zu denen auch die Protagonistin Malika zählt. Damit beherbergt sie Menschen, die keine Angehörigen (mehr) haben und allgemein von der Gesellschaft als nicht nutzbringend angesehen werden bzw. darüber hinaus gar das gesellschaftliche Gleichgewicht bedrohen: Seul souci des gens dehors: y embarquer tous ceux qui pourraient porter préjudice à l’équilibre d’une société qui a déjà fort à faire avec ses membres dits sains de corps et d’esprit. (Bey 2006b, S.-17) Das Heim ist ein Ort abseits der Gesellschaft, an den all diejenigen verwiesen werden, deren Lebenssituation, Alter, Krankheit oder pure Existenz die Kon‐ strukte des gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhalts in Frage stellen könnten. Damit weist der Ort auf die Fragilität der gesellschaftlichen Ordnung hin, die mit Nicht-Integrierbarem nicht anders zu verfahren weiß, als es in die Marginalität zu verbannen. Zugleich ist der Ort auch die Umkehr der Gesellschaft: die Bewohner: innen sind Teil einer neuen Gemeinschaft, doch letztendlich bleiben sie in ihrer eigenen, individuellen Geschichte verhaftet und folgen nicht dem Primat der Kollektivität über die Individualität, das u. a. Matu als charakteristisch für die muslimische Gesellschaft bezeichnet (vgl. Matu 2014, S.-31). Die Bewohner: innen sind allerdings keine Gefangenen: „[…] la lourde porte de bois jamais fermée. […] ni gardiens, ni surveillantes“ (Bey 2006b, S. 15). Dennoch wird deutlich, dass ein Verlassen des Ortes kaum möglich ist. Für die meisten Bewohner: innen gibt es einerseits keinen Ort, an den sie gehen könnten. Andererseits wird im Verlauf der Handlung deutlich, dass die gesellschaftlichen Regeln und Tabus für die weiblichen Insassen ein internalisiertes Gefängnis darstellen: „Les vrais murs sont ailleurs. La prison est intérieure, elle est en soi“ (Derguini 2009). Die gesellschaftlichen Regeln und Gebote sind das eigentliche Gefängnis, innerhalb dessen Grenzen sich die Frauen bewegen. 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 73 <?page no="74"?> 36 Derguini bezieht diese Beobachtung insbesondere auf die weiblichen Insassen, die sie als „femmes exclues des normes et de la normalité“ (2009) beschreibt. Der abgeschiedene Ort des asile, das geographisch und sozial außerhalb der Gesellschaft liegt, wird gerade dadurch zu einem ambivalenten Raum begrenzter Freiheiten, an dem z. B. die Geschlechtertrennung aufgehoben ist (vgl. Bey 2006b, S.-15). Damit erfüllt das Roman-Setting, der Ort der Handlung, die Kriterien einer Heterotopie im Foucault’schen Sinn. Nach Foucault können Heterotopien unter anderem in Krisenheterotopien und Abweichungsheterotopien unterteilt werden (vgl. Foucault 2008, S. 321f. sowie Castro Varela, Maria do Mar 2007). Die Merkmale der Letzteren treffen auf das im Roman beschriebene Heim zu, sind sie doch Orte, „an denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht“ (Foucault 2008, S. 322). 36 Es sind „Orte des ausgeschlossenen Nicht-Normalen, die zeitgleich gesellschaft‐ liche Normalität und Normalisierungen sicherstellen“ (Castro Varela, Maria do Mar 2007, S. 59). Die Existenz des Heims und seiner Bewohner: innen stabilisiert gesellschaftliche Normen, indem das Unangepasste an einen bestimmten Ort außerhalb der Gesellschaft verwiesen wird. Als Ort des Nicht-Normalen, des gesellschaftlich Ausgegrenzten, sind die Bewohner: innen des Heims zugleich marginalisiert sowie innerhalb des Ortes frei bzw. nicht den gesellschaftlichen Regeln unterworfen. Dennoch reproduzieren sie die sozialen Ausgrenzungsme‐ chanismen, unter denen sie zu leiden hatten: Là, dans ce lieu oublié du monde des hommes, obstinément, elles sont quelques-unes à s’acharner, à tenter de reproduire les discordances d’une société qui les a exclues, avec les mêmes rejets, les mêmes principes, la même intransigeance. Et il leur faut trouver des victimes pour se sentir exister encore. (Bey 2006b, S.-55) Die erlernten Muster werden reproduziert sobald sich die Möglichkeit ergibt, diese auf sozial Schwächere anzuwenden. Eine Reflektion und Durchbrechung sozialer Muster findet nicht statt. Aufgrund der finanziellen und strukturellen Unterversorgung des Heims entsteht außerdem eine Situation des Existenz- und Überlebenskampfs. Im Winter gibt es nicht genügend Heizmaterial, die Versorgung mit Medikamenten ist rudimentär, die Leitung ist auf Spenden angewiesen, die immer zögerlicher kommen: „Ici, survivre est un défi quotidien. Défi au temps, à la misère, à la plus térébrante des misères: l’abandon“ (Bey 2006b, S.-107). Das Heim und die Bewohner: innen sind nicht nur von der Gesellschaft ausgeschlossen, sondern ebenso dem Vergessen überlassen. Sie werden zu 74 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="75"?> 37 Das Heim wird zwar von Männern und Frauen bewohnt, aber Malika erzählt nur die Geschichten einiger seiner Bewohnerinnen. doppelt Marginalisierten, in dem sie als die Außer-der-Norm-Stehenden an den Rand gedrängt und ihre Existenz sowie ihre Lebensgeschichten nicht erinnert werden. In diesem Zusammenhang kann das Bestreben der Hauptfigur Malika die Geschichten der Bewohnerinnen schriftlich zu dokumentieren als Akt des Widerstands gegen das Vergessen gesehen werden. Das Heim ist über die Funktion als Abweichungsheterotopie hinaus aus einem weiteren Grund für die Analyse interessant. Das Gebäude symbolisiert durch seine koloniale Architektur einen wichtigen Teil der Zeitgeschichte Alge‐ riens. Die architektonischen Besonderheiten und Extravaganzen der kolonialen Vergangenheit sind im Landschaftsbild bis in die Gegenwart präsent. Allerdings ist das Gebäude bereits zum Teil verfallen und reparaturbedürftig. Die einstige Pracht ist vergangen, es bleibt „l’impression de délabrement“ (Bey 2006b, S. 15). Das Gebäude scheint wie die Bewohner: innen dem Vergessen preisgegeben zu sein. Nach der Unabhängigkeit wird es zum asile für all jene, für die es keine speziellen Einrichtungen gab, auch um die neuen Machthaber zufrieden zu stellen, „afin de ne pas s’attirer les foudres des grands révolutionnaires qui se sont partagé le pays“ (Bey 2006b, S. 17). Das Land befindet sich nach 130jähriger Kolonialzeit im Aufbau und orientiert sich in die Zukunft. Malika, die Erzählerinfigur des Romans, wird in der Zeit des Unabhängigkeitskriegs von Frankreich geboren (vgl. Bey 2006b, S. 46). Damit wird eine Parallele zwischen der Entwicklung des Landes und der Geschichte der Hauptfigur gezogen. Sie ist jedoch von dem nationalen Gestaltungsprozess der auf die Unabhängigkeit folgt, ausgeschlossen, da sie den gesellschaftlichen Idealvorstellungen nicht entspricht oder sogar widerspricht. Ihre Lebensgeschichte und ihre daraus resul‐ tierenden Identitätsentwürfe werden von ihrem sozialen Umfeld als abweichend von der gesellschaftlichen Norm gesehen und entsprechend ausgegrenzt. - 4.1.1.2 Pluralität der Erzählstimmen und unzuverlässiges Erinnern Malika wendet sich mit direkter Ansprache an die impliziten Leser: innen und bittet sie, sich das Gebäude anzuschauen. Sie führt sie in das Setting ein, öffnet den Ort, den sonst niemand sieht, für ein Publikum und beginnt so ihre „quête“ (Bey 2006b, S. 18), die Suche nach ihrer eigenen Vergangenheit, in dem sie sich der Vergangenheit des Ortes und der Geschichten der Bewohnerinnen 37 nähert. Sie beschreibt den Ort und die Bewohner: innen nicht um Mitleid hervorzurufen, sondern damit die Geschichten der Einzelnen nicht in Vergessenheit geraten: 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 75 <?page no="76"?> Avant de sortir, de retrouver le monde des vivants, vous êtes priés de prendre simplement le temps d’un regard ou d’une histoire pour traverser la solitude de ces hommes et de ces femmes venus échouer là au bout d’un parcours dont eux seuls connaissent les méandres. (Bey 2006b, S.-17) In der Leser: innenansprache bittet die Erzählerin sich Zeit für einen Blick oder eine Geschichte zu nehmen. Es geht ihr darum, dass die Leben(sgeschichten) gesehen und gehört werden. Der Blick der Anderen, der Blick von außen scheint für sie von besonderer Bedeutung: Sie schreibt ihm die Kraft zu, die Existenz der Bewohner: innen zu bestätigen. Mit der direkten Ansprache der implizten Leser/ in eröffnet die Erzählerin einen Dialog. Der Leser/ die Leserin wird damit „le partenaire à part entière dans la lecture et le décodage du texte“ (Bendjelid 2009, S. 230). Sie überlässt ihm/ ihr die Rezeption des Textes und verweist auf die Bedeutung, die ihm/ ihr zukommt: „Libre à vous de découvrir ce que d’aucuns ici appellent des délires, ou de me réduire au silence en abandonnant ce livre“ (Bey 2006b, S. 11). Es ist die Entscheidung der Leser: innen, den Text zu rezipieren und damit den Geschichten der Frauen, einschließlich Malikas, Gehör zu verschaffen oder sie und die Erzählerin auf das Schweigen und damit die Bedeutungslosigkeit zu reduzieren. Damit verweist die Erzählerin einen Teil der Verantwortung für das Wissen über die Situation der Frauen, für das Verschweigen ihrer Lebensumstände, die Kenntnis über die Tabus, Prinzipien und Regeln, denen sie unterworfen sind, an die Leser: innen zurück („à vous de découvrir […]“, Bey 2006b, S. 11). Die Gesellschaft außerhalb des Heims, in diesem Fall repräsentiert durch die Leser: innen, soll von der Existenz der Bewohner: innen wissen und somit als Mitwissende an ihrem Schicksal beteiligt sein. Durch die direkte Ansprache schafft sich Malika Kommunikations‐ partner: innen und stellt eine Verbindung zur Außenwelt her, von der die Bewohner: innen sonst völlig abgeschnitten zu sein scheinen: „Avant de sortir, de retrouver le monde des vivants, vous êtes priés de prendre simplement le temps d’un regard ou d’une histoire […]“ (Bey 2006b, S. 17). Die Leser: innenansprache und die dadurch hergestellte Kommunikationssituation evoziert außerdem die Illusion der Unmittelbarkeit und appelliert an das Mitgefühl der impliziten Leser: innen. Darüber hinaus wird Malikas Status als Erzählerin, im Sinne einer mündlichen Erzähltradition, durch die direkte Ansprache verstärkt. Malika selbst wird zum Medium durch das die Geschichten der Be‐ wohner: innen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Sie macht sich zur Chronistin der einzelnen biographischen Entwicklungen, die letztendlich in einer Unterbringung in dem Heim münden. Der Roman gliedert sich in siebzehn kapitelähnliche Abschnitte. Eine explizite Aufteilung in Kapitel gibt es nicht. 76 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="77"?> 38 Vgl. dazu auch Lanser (1992 und 2005). Alternierend werden Abschnitte Malikas Vergangenheit gewidmet, sowie auch ihren gegenwärtigen Beobachtungen und Gedanken. Die dazwischenliegenden Abschnitte handeln von den Lebensgeschichten einiger Heimbewohnerinnen. Diese sind jeweils mit den Vornamen der Frauen, deren Schicksal erzählt wird, betitelt. Es entsteht der Eindruck, Malikas Geschichte werde von den anderen Erzählungen unterbrochen und dadurch fragmentarisiert. In den namentlich nicht gekennzeichneten Kapiteln berichtet Malika über ihre Kindheit und Jugend als Waise. Malikas Sichtweise wird aus der autodiege‐ tischen Erzählperspektive geschildert. Dieses explizite von-sich-Sprechen, das „Ich-sagen“, und die damit eindeutige Markierung von Individualität/ Subjekti‐ vität stellt nach wie vor in einer dominant kollektiv geprägten Gesellschaft für Frauen einen Tabubruch dar. Die autodiegetische Erzählhaltung der Kapitel zu Malikas Geschichte ist durchsetzt mit Wechsel in die heterodiegetische Perspektive in einzelnen Kapiteln. Es wirkt daher, als träte die Erzählerin Malika in diesen Momenten zurück in eine weniger exponierte Erzählhaltung und ließe die Erzählung durch die anderen Frauen weiterführen. Diese Pluralität der Stimmen schafft „a safe refuge of anonymity for both narrator and author“ (McIlvanney 2013, S. 63). Die Erzählung in der dritten Person bedeutet eine Distanznahme zum Erzählten (vgl. Bendjelid 2009, S. 232), die Erzählinstanz bleibt im Schutz der Anonymität und der emotionalen Dis‐ tanz zu den traumatischen Geschichten. Der Wechsel der Erzählperspektive legt den Schwerpunkt auf die Darstellung unterschiedlicher Sichtweisen und betont damit eine Alternative zu einer einzigen, dominanten, autoritären Erzähl‐ stimme 38 (vgl. McIlvanney 2013, S. 63). So werden Malikas Versuche, sich durch die Erzählungen eine Vergangenheit und dadurch Identität zu konstruieren, narrativ gespiegelt, in dem sie sich als Ich setzt und zum Subjekt der Geschichte macht. Laut Bendjelid nimmt Malika in den Episoden über die anderen Heim‐ bewohnerinnen die Stellung einer Zeugin ein und „son statut de narratrice est extradiégétique“ (ebd. 2009, S. 233). Sie ist zugleich „an extradiegetic and homodiegetic narrator […], who plays the role of Ur-matriarchal storyteller, into whose meta-narrative all other tales are woven“ (McIlvanney 2013, S. 63). Malika ist eine intradiegetische Zuhörerin der Geschichten der anderen (vgl. ebd., S.-64). Durch die Strukturierung des Textes und den Eindruck des Unterbrechens von Malikas Geschichte entsteht eine achronologische, fragmentarische Dar‐ stellungsweise, die die Kohärenz der Erzählung stört. Malikas Geschichte wird in eine Reihe mit den Lebensgeschichten der anderen Frauen gestellt. Malika 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 77 <?page no="78"?> 39 McIlvanney (2013) arbeitet ebenso die Bedeutung von Namensgebung in Cette fille-là heraus und verweist auf die Verknüpfung zu Beys Pseudonym, mit dem sie sich selbst einen eigenen Namen gab, der auf ihre weiblichen Vorfahren verweist, statt den Namen ihres Vaters zu benutzen: „she has adopted names originating from her mother and grandmother, not the patrilinear identity imposed on her by the state. Indeed, the atrophying distortive effects of state-sanctioned acts of naming and categorization on the female self are repeatedly critized in Cette fille-là.“ (ebd., S.-60). hat damit eine ambivalente Stellung inne: Sie ist gleichzeitig sowohl die Stimme, die die Lebensgeschichten der anderen Frauen erzählt, als auch eine von ihnen. Die Romanstruktur ermöglicht so die Darstellung unterschiedlicher weiblicher Lebensgeschichten erzählt aus der Perspektive einer weiteren Frau, die sich in der gleichen Situation befindet. Es wirkt daher wie ein Chor weiblicher Stimmen, in den sich die Erzählerin einreiht. So entsteht anhand mehrerer individueller Geschichten eine kollektive der Bewohnerinnen. Die alternierende Erzählweise hat noch eine weitere Funktion, die darin besteht Malikas traumatische Erinnerungen nicht am Stück, sondern fragmen‐ tarisch wiederzugeben. Durch die Darstellung einzelner Versatzstücke ihrer Kindheit ist sie nicht gezwungen sich den Erinnerungen in ihrer Gesamtheit zu stellen. Es wirkt als rücke Malika in ihrer Funktion als Erzählerin die Geschichten der anderen Frauen in den Vordergrund, um sich eine Zeit lang aus ihrer eigenen zurückzuziehen bis sie wieder darauf zurückkommen kann. Eine alternierende Erzählweise kann demnach auf einen psychologischen Schutzme‐ chanismus, sich den traumatischen Erinnerungen nur nach und nach zu stellen, oder auf einen schwierigen Erinnerungsprozess verweisen. Die Geschichten der Heimbewohnerinnen und Malikas Erinnerungen haben außerdem jeweils eine gemeinsame inhaltliche Komponente. Durch die biographischen Erzählungen der anderen Frauen wird es Malika möglich sich ihrer eigenen Geschichte zu erinnern. Der Erinnerungsprozess wirkt dadurch assoziativ und ist achronolo‐ gisch. Bei der Betrachtung der Struktur des Romans ist auffällig, dass ein inhaltlich wichtiges Element - die Namensgebung und -findung 39 - auch in der Gliede‐ rung eine Rolle spielt. Nur die Episoden der anderen Heimbewohnerinnen sind mit dem jeweiligen Vornamen überschrieben; die Kapitel, in denen Malika von sich erzählt, bleiben ohne Titel. Die Nachnamen der Frauen bleiben unbekannt. Die Erzählerin schützt durch diese Anonymität die Identität der Frauen. Darüber hinaus wird ohne den Verweis auf die Nachnamen die Verbindung zur väterli‐ chen Verwandtschaftslinie gekappt (vgl. McIlvanney 2013, S. 60). Es wird eine Gemeinschaft der Frauen suggeriert, die außerhalb der Verwandtschaftsbezie‐ 78 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="79"?> 40 Ich beziehe mich auf Tausendundeine Nacht (2006), übersetzt ins Deutsche von Claudia Ott nach der Ausgabe von Muhsin Mahdi. 41 Bey wendet sich in neuesten Publikationen tatsächlich dem Theater zu. hungen und institutioneller Zuschreibungen durch Namens- und Gesetzgebung liegt. Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass die Struktur mit einer Rahmen‐ erzählung und Binnenerzählungen an eine der berühmtesten dieser Art des Erzählens erinnert: die Geschichten aus Tausendundeine Nacht 40 . Die Erzähler‐ infigur Scheherazade ist ein bekanntes Vorbild für Erzählerinnen, allerdings findet sich im vorliegenden Text kein expliziter Hinweis auf einen möglichen intertextuellen Bezug. Implizit ist jedoch in Cette fille-là das Motiv des Erzählens um zu (über-)leben präsent (vgl. dazu McIlvanney, 2013, S. 70). Malikas Motiva‐ tion des Erzählens ist ihre Wut darüber, ihre Eltern und ihre Herkunft nicht zu kennen, sowie über die gesellschaftlichen Tabus, die Frauen betreffen und zu ihrem Leben als Waise geführt haben. Sie macht diese Intention bereits im ‚avertissement‘ des Textes deutlich (vgl. Bey 2006b, S.-11). Malika steht in einer langen Tradition des (oralen) Erzählens. Allerdings sind die Geschichten in Cette fille-là keine ‚kanonischen‘, männlichen Heldenerzäh‐ lungen, sondern die Leidensgeschichten von Frauen in einer frauenfeindlichen Gesellschaft. Der Effekt des Mündlichen wird auch durch die häufige Verwen‐ dung von Ein-Wort-Sätzen und Ellipsen erzeugt, z. B. „Nous décelons là des dysfonctionnements organiques d’origine inconnue, ou consécutifs à…“ (Bey 2006b, S.-13), „Mémoire. Histoire. Souvenirs.“ (Bey 2006b, S.-14) oder auch „[…] filles-mères. De passage seulement. Sans leur enfant“ (Bey 2006b, S. 16). Die Sprache bekommt dadurch einen poetischen Charakter und ist teilweise auch im Schriftbild wie ein Gedicht gesetzt. Diese Art der Sprachverwendung erzeugt einerseits Musikalität, sorgt allerdings andererseits auch für Unterbrechungen des Leseflusses. So verstärkt sich der Eindruck einer mündlichen Erzählung der Handlung mit einer Erzählerin, die die Geschichte poetisch und spannungsauf‐ bauend konzipiert, aber ob der Brutalität und des Traumatischen des Erzählten dennoch ins Stocken gerät. Die Sprache evoziert an manchen Stellen darüber hinaus eine Theater-Per‐ formance, z. B. die explizite Erwähnung von Dramenvokabular „Acte I“ (Bey 2006b, S. 41), „rideau“ (Bey 2006b, S. 46) oder ein Monolog über Mütter (vgl. Bey 2006b, S. 46). Es finden sich außerdem Stellen mit einer szenischen Beschreibung des Geschehens (vgl. Bey 2006b, S. 83f.). 41 Der Textteil, den Malika mit „Acte I“ bezeichnet, handelt allerdings von Malikas bewusster Nicht-Performance der Rolle der guten Tochter. Sie verweigert ihrer Adoptivmutter den Gehorsam und verweigert sich auch dem Gespräch mit einer Psychologin. Malika entzieht 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 79 <?page no="80"?> 42 Hier wird auf die besondere Bedeutung der Umma, der Gemeinschaft der Gläubigen, in einer muslimischen Gesellschaft verwiesen, die dazu führt, dass die kollektiven Bedürfnisse und Sozialstrukturen über diejenigen des Individuums gestellt werden. sich darin der Performanz einer Weiblichkeit, die mit Gehorsam und Passivität assoziiert wird. Die Theaterreferenzen lassen an eine Entlarvung des Weiblichen als perfor‐ mativen Prozess im Sinne der dekonstruktiven Literatur der 1970er denken, die „der Thematisierung des Frauseins die Thematisierung des Frauwerdens entgegenstell[en], wenn Erzählungen und Theaterstücke Weiblichkeit als per‐ formativen Prozess, Selbstinszenierung, Maskerade vorführen“ (Schabert 2006, S. 333). Malika entzieht sich diesem Prozess, indem sie sich zu Beginn der Pubertät mental weigert eine Frau zu werden, worauf hin u. a. ihre Menstruation ausbleibt. - 4.1.1.3 Die Hauptfigur Malika - Die Andere sein Das erste Kapitel des Romans schließt mit der Aussage: „Je suis différente. Autre“ (Bey 2006, S. 24). Dieser Satz ist zugleich das Leitmotiv des Romans und Verweis auf Malikas Konstruktion von Identität als Alterität. Malikas Andersartigkeit/ ihre Alterität wird durch verschiedene Faktoren markiert: Sie ist adoptiert und damit ohne familiäre und verwandtschaftliche Beziehungen in einer Gesellschaft, die das Kollektiv als hohen Wert betrachtet 42 . Sie gilt als schwer erziehbar und unbeherrschbar, was dazu führt, dass sie von Psy‐ cholog: innen als charakterlich instabil („FIC: forte instabilité caractérielle“) eingestuft und ihr Verhalten pathologisiert wird. Hinzu kommt, dass sie in der Begegnung mit einem Unbekannten sexuell aktiv geworden ist, obwohl die sozialen Rollenzuschreibungen von Frauen sexuelle Zurückhaltung erwarten. Nach Altnöder (2011) erfüllt die Konstruktion von Alterität folgende Funk‐ tion: „Identität bedarf stets ihres Gegenpols, der kulturellen und psychologi‐ schen Konstruktion von Alterität, mit welcher sie sich in einem spannungsrei‐ chen Verhältnis befindet“ (Altnöder et al. 2011, S. 3). Die „konstitutive Funktion der Alterität“ ist demnach „für die Konstruktion und Kontinuität kollektiver wie individueller Identitäten“ (Altnöder et al. 2011, S. 3) von großer Bedeutung. Im Verlauf der Entkolonialisierung und nach dem Ende des Unabhängigkeits‐ krieges beginnt in Algerien ein Prozess der Stärkung eines nationalen und kulturellen Selbstgefühls in Abgrenzung zur französischen Kolonialmacht. Dazu gehören u. a. die Arabisierungspraxis sowie Rückbesinnung auf als traditionell markierte soziale Werte (Familie als Kern der Gesellschaft, Geschlechtertren‐ nung, Islam als Religion etc.). In der Folge dieses Prozesses kommt es im Bemühen um eine nationale Einheit zu kulturellen und sozialen Homogeni‐ 80 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="81"?> 43 Die Aufbruchsstimmung nach der Unabhängigkeit und die Euphorie über einen Neu‐ anfang werden durch die politische Machtübernahme der Einheitspartei FLN nach und nach enttäuscht. Maїssa Bey selbst beschreibt die gesellschaftlichen Entwicklungen in dieser Zeit in dem Roman Bleu Blanc Vert (Bey 2006a). 44 Beide Gruppen hatten sich am Krieg um die Unabhängigkeit beteiligt und sich von der Neugründung eines eigenen Staates deutliche Veränderungen versprochen. sierungstendenzen (vgl. Stora 2012). Von einer monolithischen algerischen Identität wird eine stabilisierende Funktion in den (innen-)politischen Ausei‐ nandersetzungen nach der Unabhängigkeit erwartet. 43 Dabei bleiben u. a. die Versuche der berberischen Bevölkerung auf politische und rechtliche Anerken‐ nung sowie die emanzipatorischen Forderungen der Frauen auf eine Änderung ihres rechtlichen Status erfolglos 44 . Weiter oben wurde bereits das Heim, in dem Malika lebt, als ein Ort der Marginalisierung des Anderen, Nicht-Normalen beschrieben. Es entspricht damit der Tendenz, im Sinne der Konstruktion einer kollektiven, möglichst homogenen Identität, das Andere (und die Anderen) entweder in das Konzept einer monolithischen Identität zu integrieren oder bei Nicht-Integrierbarkeit zu marginalisieren. Malika sowie die anderen Heimbewohner: innen entziehen sich den Identi‐ tätszuschreibungen durch offen ausgelebte Unangepasstheit: Zum Teil ist diese selbst gewählt, zum Teil resultiert sie aus einer erzwungenen gesellschaftlichen Marginalisierung. In der Konzeption von nationaler Einheit und Stabilität über eine kollektive und dabei möglichst homogene Identität gilt das Sich-Entziehen als bedrohlicher, weil gesellschaftlich destabilisierender Faktor. Malika und die Heimbewohner: innen sind demnach nicht nur ein Störfaktor, sondern bergen das Potential gesellschaftlicher Sprengkraft. Obwohl sie außerhalb der Gesellschaft stehen, erfüllen die Heimbe‐ wohner: innen und Malika als „dérangeante“ (Bey 2006, S. 16) auch eine stabi‐ lisierende Funktion: Die Konstruktion von Identität setzt das als das Andere Markierte als Abgrenzung voraus. Diese kann außerhalb der Nationalgrenzen liegen (z. B. Frankreich) oder innerhalb (Berberische Minderheit etc.). Dennoch beinhaltet die Konstruktion des Anderen eine systemdestabilisierende Kompo‐ nente, wenn sie aus dem System selbst kommt. Malika ist Teil der algerischen Identität. Sie ist das, was nicht sein darf und trotzdem ist. Sollten andere ihrem Beispiel der Individualisierung folgen und sich den vorgegebenen Identi‐ tätsangeboten widersetzen, würde dies gesellschaftliche Veränderungsprozesse nach sich ziehen, die möglicherweise mit Anerkennungsforderungen einzelner oder bestimmter Gruppen verknüpft wären. Dies bedroht die Tendenz zur Homogenisierung des Gesellschaftsentwurfs. 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 81 <?page no="82"?> Malikas Alterität ist auf verschiedene Weise markiert. Durch ihre Adoption steht sie symbolisch für eine in der algerischen Gesellschaft als dysfunktional wahrgenommene Beziehung zwischen Mann und Frau. Das äußert sich erstens durch die Unfruchtbarkeit der Adoptivmutter, d. h. diese kann die gesellschaft‐ lich erwartete Funktion der Mutterschaft nicht erfüllen. Unfruchtbarkeit, die in der Regel den Frauen zugeschrieben wird, stellt eine ökonomische und soziale Bedrohung für die Frauen dar: Women are still being damaged by the society’s high valuation of women’s reproduc‐ tive capacities above all other qualities and capacities, making infertility a common reason for repudiation, leaving unmarried women to suffer due to their reduced status. (Faulkner 1996, S.-854) Letztendlich bekommen die Adoptiveltern dennoch eigene Kinder, womit Ma‐ lika innerhalb der Familie die Position der Anderen, des fremden Kindes, annimmt. Nach Außen wird dies offensichtlich durch Malikas Nachnamen, der nicht der Name der Familie ist. Zweitens sind Malikas leibliche Eltern und die Umstände ihrer Geburt unbekannt. Von ihrem Umfeld wird daher vermutet, dass sie unehelich geboren wurde und aus einer außerehelichen Beziehung stammt. Aufgrund des Zeitpunkts ihrer Geburt zu Beginn der algerischen Unabhängigkeit und des Endes der französischen Kolonialherrschaft ist es wahrscheinlich, dass sie das Kind einer Algerierin und eines Franzosen ist. Eine außereheliche Beziehung zwischen Vertreter: innen dieser beiden Bevölkerungs‐ gruppen während der Kolonialzeit bricht zwei gesellschaftliche Tabus zugleich. Dabei ist auch unerheblich, ob Malikas Mutter konsensuellen Geschlechtsver‐ kehr hatte oder vergewaltigt wurde. Eine uneheliche Schwangerschaft stellt eine gesellschaftlich inakzeptable Situation dar. Malika ist eine „Farkha“, ein Bastard. Unter anderem wird die Züchtigung Malikas durch die Pflegemutter von dieser durch Malikas vorgebliche Erbschuld gerechtfertigt: Farkha. Une des insultes les plus graves […]. Impardonnable puisqu’elle met en cause l’honneur d’une femme. Pire encore. L’honneur d’une mère. Même inconnue. Rien ne se pardonne chez nous. Et surtout pas le déshonneur. Il se transmet, rejaillit, aussi visible qu’une tare congénitale. Sans jamais s’enfoncer dans l’oubli, il rejaillit par ricochets, de génération en génération. Fait partie de l’héritage. Du seul héritage que peuvent recevoir tous ce qui, comme moi… etc. (Bey 2006, S.-47) Es wird deutlich, welcher Bedeutung dem Konzept der Ehre beigemessen wird. Die mit der verlorenen Ehre ihrer Mutter verbundene Schuld wird auf die Tochter übertragen, die dadurch bereits von Geburt an eine gesellschaftliche Außenseiterin ist. In trotziger Auflehnung eignet sich Malika die Zuschreibung 82 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="83"?> 45 In den Texten Malika Mokeddems findet sich ebenfalls häufig das Motiv der abwesenden Mutter. In einem Interview sagte sie dazu: „Je pense que la mère… elle est absente. Elle n’existe pas“ (Mokeddem 2003b, S.-280). als „Farkha, la bâtarde“ (Bey 2006, S. 47) an und integriert sie in ihren Identi‐ tätsentwurf. Dadurch überwindet sie das Bedürfnis einen Gegenentwurf der Umstände ihrer Geburt zu imaginieren, der ihre Eltern und insbesondere ihre Mutter gesellschaftlich rehabilitieren würde: L’accepter, en raison de son Irréversibilité Évidente. Répétez après moi: tout déguisement est révolte inutile. Jamais plus je ne raconterai des histoires. Faire mienne enfin cette question: à quoi bon vouloir travestir la vérité? Oui, je suis une bâtarde. (Bey 2006, S.-47) Die psychologische Voraussetzung dafür ist eine positive Deutung der Tatsache, ohne leibliche Mutter aufgewachsen zu sein. Oui…que j’ai sur les autres, les enfants dits légitimes, non naturels, des avantages certains. […] Ah! - soupir de satisfaction - Naître loin des tumultes de la mère. Pas d’amour donné, pas d’amour à rendre. Va mon enfant, tu es libre! N’est-ce pas le plus beau cadeau que l’on puisse offrir à un enfant? Va, tu ne dois rien à personne. (Bey 2006, S.-47f.) Malika legt die Abwesenheit ihrer Mutter als Möglichkeit in Freiheit zu leben aus. Vor dem Hintergrund dieser Deutung analysiert Malika die Leben der Mütter im asile und kritisiert schonungslos die gesellschaftliche Mütterideo‐ logie. Ahnungslose Mädchen würden in Erfüllung der ihnen zugeschriebenen Rollenerwartung zu Müttern und litten anschließend an der häuslichen Be‐ lastung, dem gesellschaftlichen Druck und der Diskrepanz zwischen ihren Wünschen und den realen Einschränkungen ihres Handlungsspielraums. Da‐ durch dass ihre Mutter sie frühzeitig verließ, „erlöst“ sie Malika davon mit‐ zuerleben, wie ihre Mutter zunächst zu einer überforderten und später zu einer verhärmten, verbitterten Frau wird (vgl. Bey 2006, S. 48). In Malikas Interpretation durchbricht ihre Mutter das gesellschaftliche Muster und entlässt ihre Tochter dadurch in die Freiheit, sich ihren Lebensweg selbst zu wählen. 45 Je suis l’héritière d’une histoire que je dois sans cesse inventer. Mais c’est peut-être cela ma richesse. Ma seule richesse. Fille de rien. Fille de personne. Du ventre qui me porta, je n’ai gardé qu’une certitude: celle du reniement. C’est à cela, à cela seulement que je dois être fidèle. (Bey 2006, S.-52) 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 83 <?page no="84"?> 46 Laut Bendjelid ist dies der Hauptgrund des Aufenthalts der Frauen im asile: „les personnages féminins incarnent tour à tour la transgression des interdits“ (Bendjelid 2009, S.-228). Den Schmerz über die Zurückweisung nach ihrer Geburt versucht Malika in eine positive Freiheit von Erwartungen zu kanalisieren. Sie wird dabei zur Gestalterin ihrer eigenen Vergangenheit, die sie selbst erfinden muss. Im Text wird Malikas Position als Andere und Außenseiterin zum ersten Mal in ihrer Kindheit bei ihrer Einschulung und somit ihrem Eintritt in die Gesellschaft deutlich (Bey 2006, S. 77ff.). Die islamische Gesetzgebung der Scharia verbietet, dass adoptierte Kinder den Namen ihrer Adoptiveltern tragen, weshalb sie sofort aufgrund ihres Namens als Waise und damit potentiell uneheliches Kind erkennbar ist: Conformément aux préceptes religieux de la Charia, basés sur le Coran et jusqu’à une époque très récente, les enfants adoptés ne pouvaient être inscrits sous le nom de famille des parents adoptifs. (Bey 2006, S.-77) Auf diese Weise markiert, ist Malika den verbalen Abwertungen ihrer Mitschü‐ lerinnen ausgesetzt. Zusätzlich zu ihrem Namen ist sie durch ihr Äußeres als Andere gekennzeichnet, da sie sich durch helleres Haar und helle Augen von den Mädchen in ihrer Umgebung unterscheidet. Nach und nach begreift Malika, dass sie aus Sicht der anderen Schülerinnen ein „sang-mêlé“, eine „fille de la légion“ (Bey 2006, S. 78) ist, d. h. vermutlich die Tochter einer Algerierin und eines französischen Soldaten. Malika stellt bereits zu Anfang des Textes fest: „Je ne serai jamais tout à fait comme les autres“ (Bey 2006, S. 14). Die letztendliche Ursache für ihre Einweisung in das Heim ist ein wiederholtes Davonlaufen aus dem Haus ihrer Adoptivfamilie sowie aus einem Internat für schwererziehbare Mädchen. Das Schlüsselereignis ist jedoch insbesondere eine mysteriöse sexuelle Begegnung mit einem unbekannten Mann (vgl. Bey 2006, S. 147ff.). Bei dieser Begegnung geht die Polizei von Vergewaltigung aus, während Malika davon überzeugt scheint, mit diesem Mann, der für sie ein völlig Fremder ist, eine romantische, er‐ füllte Liebe erlebt zu haben. Nach diesem Ereignis wird sie als psychisch instabil eingestuft und anschließend in das asile überwiesen. Ihr wird unter dem Kürzel „FIC“ eine „forte instabilité caractérielle“ (Bey 2006, S. 16) diagnostiziert. Malika selbst glaubt, den eigentlichen Grund für ihre Einweisung in das Heim in ihrem normabweichenden Verhalten zu erkennen 46 . Sie sei „ni folle, ni débile. Juste un peu dérangée. Ou plutôt dérangeante pour l’ordre public“ (Bey 2006, S. 16). Ihre ‚Verrückt-heit‘ besteht demnach in einer mangelnden Anpassungsfähigkeit 84 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="85"?> 47 Im Text heißt es dazu: „Dossier qui me suit depuis mes débuts dans la vie“ (Bey 2006, S.-67). 48 Vgl. dazu u. a. Kaplan (2000) oder die Überblicksdarstellung in Chaudhuri (2006) zu den Werken von Laura Mulvey, Kaja Silverman und Teresa De Lauretis. und Adaptionsleistung bzw. der fehlenden Integrierbarkeit in gesellschaftliche Strukturen. Malikas Leben ist dokumentiert in einer Akte, ihrem Dossier 47 , das ihre Krankheitsgeschichte enthält. Das Wort „Dossier“ (Bey 2006, S. 43) ist im Text durch Großschreibung besonders hervorgehoben. Darin finden sich Be‐ merkungen zu Malikas Verhalten, insbesondere Hinweise auf ihre Ausbrüche („fugues“) und ihre Fantasie: „Enfant imaginative. Forte tendance à la fabulation“ (Bey 2006, S. 45). Das Dossier wird damit zu einer pathologisierten Form ihrer Biographie. Es dokumentiert ihre Andersartigkeit und weist ihr Zuschreibungen und Charaktereigenschaften zu (im Text kursiv markiert), die eine externe Be‐ schreibung ihrer Persönlichkeit darstellen. Diese gewinnt an Gewicht durch die Evokation von Objektivität und Rationalität durch medizinisch-wissenschaft‐ liche Diagnostik. - 4.1.1.4 Körperlichkeit und Sexualität als konstituierende Merkmale weiblicher Identität Mit dem Eintritt in die Pubertät und den ersten körperlichen Anzeichen des „Frau-Werdens“ beginnt Malikas Adoptivvater sich ihr sexuell zu nähern. Malika betrachtet ihre Weiblichkeit daraufhin als „Malédiction. Souffrance. Honte.“ (Bey 2006b, S. 70), die sie zu verstecken sucht, indem sie ihre Brust durch Bandagen verdeckt. Ihre Weiblichkeit wird ihr zunächst dadurch bewusst, dass sich der Blick ihres Adoptivvaters in ihrer Gegenwart ändert. Parce que c’est dans le regard d’un homme, l’homme qui avait fait de moi sa fille aux yeux du monde, qu’un jour j’ai compris que j’étais devenue femme. (Bey 2006b, S.-70) Der sich verändernde Blick des Adoptivvaters ist es, der Malika abrupt aus der Kindheit verdrängt. Durch seinen Blick wird Malika nun endgültig zum (Sexual-) Objekt, das sich in seinem Besitz befindet. Dietze bezeichnet in Anlehnung an die Male-Gaze-Theorien der feministischen, psychoanalytischen Filmforschung 48 den männlichen Blick als „panoptische männliche Herrschaft“ (Dietze 2009, S. 40), also als ein Mittel der Machtausübung und Stabilisierung der bestehenden Geschlechterverhältnisse. Eine Durchbrechung und Umkehrung der durch den Blick manifestierten Herrschaftsverhältnisse wird in der Geschichte Fatimas, einer weiteren Heim‐ 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 85 <?page no="86"?> bewohnerin deutlich. Sie flieht mit ihrer Mutter und ihrer Schwester vor dem Vater, der droht sie umzubringen, nachdem sie mit einem Jungen gesehen wurde. Als er nach ihrer langen Flucht ihr Versteck ausfindig macht, richtet Fatima ihren Blick auf ihn: Elle le fixe. Elle capte son regard enfin. Tout disparaît autour d’eux. Projetée hors d’elle-même, elle a l’impression que son père transpercé par son regard se réduit, que son corps s’amenuise, lentement, comme s’il était en train de se liquéfier, de se laisser absorber par ce regard […]. C’est cela, il fond sous ses yeux, sous la force de sa haine, de sa certitude à elle. (Bey 2006b, S.-97) Der männliche Blick wird in dieser Episode mit ganzer Wucht zurückgeworfen. Die Szene wirkt surreal, der Blick wird fast schon zur weiblichen „Superkraft“ mit der Macht den Mann zu zerstören: „Elle le regarde, simplement. Il lui a infusé sa haine, elle la lui retourne renforcée de son dégoût, de la violence de son désir de le voir disparaître. […] elle le tient sous son joug“ (Bey 2006b, S. 97). Fatima „wirft den männlichen Blick zurück und macht dem Sender die Zumutung seines Aneignungsversuches klar“ (Dietze 2009, S. 40). Der Vater verliert den Zweikampf, wendet sich von seiner Tochter ab und verschwindet. Fatima allerdings kann sich von diesem Hass nicht lösen. Ihre weitere Lebensgeschichte, die mit einem Aufenthalt im Heim endet, wird nicht erzählt, aber Malika beschreibt die Verzweiflung und den Hass, den sie nach wie vor in ihren Augen zu erkennen glaubt. Fatimas Hass auf ihren Vater, der sie im Moment akuter Bedrohung durch Gewalt schützt, stürzt sie danach in eine Krise, aus der sie sich nicht zu erholen vermag. Der Hass scheint sie zu definieren und sich auch gegen sie selbst zu wenden. Eine positive Identitätsfindung ohne diesen Hass scheint nicht möglich. Ihr Vater ist körperlich abwesend, aber übt durch den gegen ihn gerichteten Hass nach wie vor einen dominanten Einfluss auf Fatima aus. Malika ist in dem Augenblick, in dem der Blick des Adoptivvaters sich in ihrer Gegenwart ändert, überzeugt, dass die Veränderung aus ihr herauskommt. Es ist die sich abzeichnende Weiblichkeit, die Gefahr und folie birgt. À dix ans, je savais déjà. Un danger me guettait. C’était là autour de moi, tout près de moi, une onde maléfique, perceptible sans qu’il me soit possible de l’identifier. […] C’est peut-être en moi qu’est le mal. La folie. L’instinct de destruction. (Bey 2006b, S.-71) Mit zehn Jahren spürt Malika eine Veränderung, die sie als „onde maléfique“, als Unheil bringende Welle, überrollt und sich jeglicher Kontrolle entzieht. Sie bezieht es auf sich und beginnt an sich zu zweifeln, sich als zerstörerisch 86 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="87"?> 49 Charrad verweist auf die weiblicher Sexualität zugeschriebene destabilisierende Kraft im traditionellen Islam: „Images of female sexuality reflect the position of women as a potential source of division among the men of the kin group. The Islamic tradition represents female sexuality as overpowering, destructive, and divisive“ (Charrad 2001, S.-56). wahrzunehmen. Als Reaktion darauf verweigert sie sich dem Erwachsenwerden und hört tatsächlich auf zu wachsen. Auch ihre Menstruation als sicheres Zeichen des Frau-werdens stellt sich nicht ein: „À treize ans, j’ai refusé de grandir. […] J’ai même décidé à l’âge des premières règles que je ne serai jamais femme. Aménorrhée primaire […]“ (Bey 2006b, S.-13). Malika verweigert sich der im traditionellen Islam als Bedrohung 49 empfun‐ denen Weiblichkeit und weiblichen Sexualität, die durch patriarchale Repres‐ sionen eingedämmt werden soll. Sie versucht, in der relativen Geschlechts‐ losigkeit der Kindheit zu verbleiben, um als androgynes und damit nicht zuzuordnendes Gesellschaftsmitglied Entwicklungsmöglichkeiten für sich zu eröffnen und vor allem um der potentiellen männlichen Gefahr, repräsentiert durch ihren Adoptivvater, zu entgehen. Es gelingt ihr nicht und nach einem Vergewaltigungsversuch flieht sie. In der Folge überfallen Malika die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend unwillkürlich als „ombres du passé elles [die Erinnerungen, Anm. d. Verf.] sortent des ténèbres“ (Bey 2006b, S. 103). Auch die Angst vor dem Mann „au visage rouge et grimaçant“ (Bey 2006b, S. 105), ihrem Adoptivvater und Beinah-Vergewaltiger, kehrt immer wieder. Vergessen und unbeschwerte Zärtlichkeit kann sie nach diesem traumati‐ schen Erlebnis nur mit einer Mitbewohnerin der Pension erfahren, die ihr bei nächtlichen Panikattacken beisteht. Malika empfindet sexuelles Verlangen durch die körperliche Nähe der anderen. Doch dieses homosexuelle Begehren muss als „plaisir interdit“ (Bey 2006b, S. 105) geheim gehalten werden. Es wird so zu einem weiteren Faktor ihrer Andersartigkeit und Isolation, die sie nun umso stärker spürt: Douleur de savoir, sans rémission possible, que l’on n’est pas, que l’on ne sera jamais comme les autres, insouciante, légère, protégée par des certitudes. Que l’on porte en soi, plus profonde et plus visible qu’une entaille, l’insupportable certitude de n’avoir pas connu, de ne jamais pouvoir connaître la douleur d’aimer à perdre souffle, de manquer d’un être à en perdre raison. (Bey 2006b, S.-105) Die romantische Konzeption von Liebe scheint für Malika nicht möglich zu sein und damit auch keine Überwindung ihrer Einsamkeit durch die gegenseitige Zuneigung und Verbindung mit einer anderen Person. Ihre homosexuellen 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 87 <?page no="88"?> 50 Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Mernissi (1987), die die Unterscheide in der Konstruktion weiblicher Sexualität im Christentum und im Islam herausarbeitet. Gefühle darf sie nicht öffentlich zeigen. Ihre erste Liebe zu einem Jungen in ihrer Jugend wird durch das allgemeine Verbot jeden Kontakts zwischen den Geschlechtern noch im Entstehen beendet. Doch während Malika daran gehindert wird ihre Sexualität sowie Gefühle auszuleben, schützt sie niemand vor den sexuellen Übergriffen ihres Adoptivvaters, die ungestraft bleiben, da sie rechtlich sein Besitz ist. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und eine sexuelle Doppelmoral führen somit zu einer Unfähigkeit zu gelungenen Beziehungen. Zu diesen Bedingungen gehört auch das gesellschaftliche Tabu offener, aktiver weiblicher Sexualität und weiblichen Begehrens. Charrad führt aus, welches gesellschaftliche Destruktionspotential 50 aktiver weiblicher Sexu‐ alität und weiblicher sexueller agency zugeschrieben wird: […] what must be controlled, is not sexuality in general. It is female sexuality, since female nature is the symbol of destruction. […] Her subversive tendencies must therefore be restrained, and her behaviour regulated, if social disruption is to be avoided. (Charrad 2001, S.-57) Die Tatsache, dass Malika ein uneheliches Kind ist, provoziert bei den Menschen in ihrer Umgebung zudem Spekulationen über eine mögliche Tätigkeit der Mutter als Prostituierte. Malika weist dieses Bild ihrer Mutter zunächst empört zurück, setzt sich schließlich aber mit der ambivalenten Situation von Prostitu‐ ierten während der Kolonialzeit auseinander. Die traditionellen Imaginationen der meist männlichen Autoren des „Westens“ von „orientalischen“ Frauen sind stark sexualisiert und kolonial-sentimental eingefärbt: Lascivité de ces Mauresques imprégnées de mystère. Odeur de musc et d’ambre. Souvenirs de cartes postales couleurs sépia, particulièrement recherchées par les nostalgiques de la Grande Époque Coloniale. (Bey 2006b, S.-52) Die koloniale Realität, in der Algerierinnen u. a. zur Prostitution mit französi‐ schen Soldaten gezwungen wurden, zeigt die andere Seite dieser verklärten, in Europa verbreiteten Vorstellung. In einer „[…] kulturelle[n] Logik der sexu‐ ellen Aneignung“ wird diese zu einem „entscheidende[n] Relais, an dem die Unterordnung von Ethnien verhandelt wird. Sie ist eine Sprache, um die Männer der unterworfenen Ethnien zu demütigen“ (Dietze 2009, S. 39). So ergänzt nach Dietze der Diskurs „ethnischer männlicher Herrschaft“ (ebd., S. 40) die Praxis der (sexuellen) Aneignung 51 von Frauen in den Kolonien. 88 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="89"?> 51 Rita Faulkner weist dazu auch auf den Missbrauch „made of the female body during the war [gemeint ist der Algerienkrieg; Anm. d. Verf.] for propaganda purposes“ (Faulkner 1996, S.-854) hin. Malika entwirft zwei mögliche Versionen ihrer Mutter als Prostituierte: als Opfer der kolonialen, soldatischen Gewalt oder im Gegensatz dazu als Verstoßene, aber freie Frau, die sich nicht den ehelichen Restriktionen (zu denen u.-U. auch Vergewaltigung gehört) unterwerfen muss. Filles honnies, réprouvées, maudites, à jamais maudites pour avoir osé enfreindre les lois fondamentales - Soumission, Pureté, Enfermement - sur lesquelles repose l’honneur de la tribu. […] Inventer, imaginer la détresse, la souffrance ou au contraire cette force indomptable attisée par le désir de rompre les chaînes, d’aller au-delà d’une vie promise à d’autres contraintes, d’autres humiliations plus acceptables parce qu’inscrites dans sa destinée de femme, endurées dans le silence et dans le respect d’un ordre moral inaliénable. (Bey 2006b, S.-53) Malika imaginiert hier das Leben der Mutter als Prostituierte als einen Gegen‐ entwurf zu dem als Ehefrau und Mutter. Sie stellt sich vor, dass ihre Mutter sich den zugewiesenen Rollenentwürfen entzieht. Sie gibt sich freiwillig in die gesellschaftliche Ausgrenzung, die ein Leben als Prostituierte bedeutet, aber wählt somit ihren Lebensentwurf selbst. Sie eignet sich ihre Subjektivität durch freie Wahl an. Wie oben zitiert wird weiblicher Sexualität ein hohes gesellschaftliches Destruktionspotential zugeschrieben. Das wiederum wird als Legitimations‐ grundlage für die Implementierung von Maßnahmen, Normen und rechtlichen Regelungen zur Abwertung und Kontrolle weiblicher Sexualität genutzt. Kon‐ sequenterweise gilt das Ausleben der weiblichen Sexualität als Ausdruck der Revolte mit dem Potential, gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken: Si la femme viole, avec son kayd, ou pouvoir destructeur et subversif, les règles supposées de l’homogénéité sociale, se dresse contre la sakina, la paix, autre mythe, si sa séduction et sa nymphomanie supposée conduisent au désordre et à la folie, ce fantasme de persécution et lui seul transforme la lutte des classes en une variante de la lutte des sexes. (Daoud 1996, S.-17) In ihrer Position als Andere wird Malika niemals integriert werden, da ihre Alterität nicht nur in ihrem eigenen Verhalten, in ihrer Unangepasstheit besteht, sondern ebenfalls extern durch ihren Nachnamen und ihr Äußeres markiert ist, und insbesondere durch ihr Frau-sein selbst. Im Verlauf ihrer Entwicklung er‐ kennt Malika, dass ihr kein Recht auf eine freie Identitätskonstruktion inklusive 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 89 <?page no="90"?> einer Wahl ihrer Sexualität oder ihrer Beziehungen zugestanden wird. Auf die Fatalität dieser Erkenntnis reagiert sie mit Wut und Widerstand. - 4.1.1.5 Widerstand und Revolte im Schweigen und in der folie Dem Roman ist ein „Avertissement“, ein Hinweis vorangestellt. Die von der Erzählerin Malika unterschriebene Warnung richtet sich an die impliziten Leser: innen des folgenden Textes (vgl. Bey 2006b, S. 11). Malika führt darin den Auslöser für die Darstellung der erzählten Lebensgeschichten auf ihre Wut zurück, deren Auflösung durch einen Prozess der Versöhnung sie gleich zu Beginn ausschließt. In ihrer Wut liege die Motivation für ihr Schreiben und das Bedürfnis zu erzählen, „de dire ma rage“ (Bey 2006b, S. 11), begründet. Ihre Intention ist es, sowohl ihr eigenes Schweigen als auch das gesellschaftliche Verschweigen der Situation der Frauen zu brechen: J’ai tout simplement envie de dire ma rage d‘être au monde, ce dégoût de moi-même qui saisit à l’idée de ne pas savoir d’où je viens et qui je suis vraiment. De lever le voile sur les silences des femmes et de la société dans laquelle le hasard m’a jetée […]. (Bey 2006b, S.-11) Die völlige Unkenntnis ihrer Herkunft resultiert in Selbstekel („dégoût de moi-même“) und Selbstentfremdung bzw. der Schwierigkeit eine Identität zu konstruieren („qui je suis vraiment“). Ihre Wut richtet sich gegen die gesell‐ schaftlichen Strukturen und Normen, die ihr Leben und die Leben anderer Frauen entscheidend prägen und einschränken. Aus der Wut heraus beginnt sie zu erzählen und zu schreiben, auch um einen Dialog, eine Möglichkeit der Kommunikation zu eröffnen und dadurch die Unmöglichkeit der Kommunika‐ tion, einen Zustand der Aphasie zu überwinden. Sie erzählt ihre erste Erinnerung, vermutlich aus einem Waisenhaus, in der sie sich mehr als alles andere wünscht adoptiert zu werden, um ihrer Einsamkeit zu entkommen: […] je projette mon désir vers eux […] qu’ils m’emportent, loin de là, loin du froid, du vide et de la nuit, loin de l’effrayante solitude où je suis plongée depuis que je suis née. (Bey 2006b, S.-69) Malika, noch zu klein, um sich verbal zu verständigen, versucht einem Ehepaar, ihren Wunsch adoptiert zu werden mitzuteilen und erfährt zum ersten Mal das Scheitern der Kommunikation und ein Unverständnis ihrer Umgebung: […] il faut qu’ils comprennent, il le faut, j’essaie de le dire comme je peux le dire avec mes yeux rivés à leur visage 90 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="91"?> 52 McIlvanney (2013) bezeichnet Malika als eine „internal exile“ (ebd. S.-67). 53 Schweigen als Ausdruck des Widerstands taucht u. a. bei Assia Djebar (L’ombre sultane) in Form einer Aphasie der Protagonistin auf. Die Aphasie geht der Emanzipation der Protagonistin voraus. Diese distanziert sich zunehmend von der ihr zugeschriebenen Rolle, indem sie heimlich, ohne Erlaubnis ihres Ehemannes die gemeinsame Wohnung verlässt. Während dieser verbotenen Ausflüge scheint es ihr unmöglich mit jemandem zu sprechen, bis sie letztendlich ihre Emanzipation vollzieht und ihren Widerstand gegen das ihr aufgezwungene Leben überwindet (vgl. Kap. 4.3.1). avec mes mains tendues vers eux je veux […] Impuissance des mots. (Bey 2006b, S.-69) Diese Szene ist ihre erste Erinnerung, ihr „Geborenwerden“ (vgl. Bey 2006b, S. 68f.). Sie gelangt erst während ihres Aufenthaltes im asile wieder in ihr Bewusstsein, nachdem sie lange Zeit verdrängt war, überlagert von dem Leid, das Malika in der Folgezeit von ihren Adoptiveltern erfahren hat. Malika versucht ihre Einsamkeit, „l’effrayante solitude“, zu überwinden, in dem sie ihr Begehren dem Ehepaar mitzuteilen versucht. Der Sprache noch nicht mächtig, verlegt sie ihre Wünsche in ihren Blick in der Hoffnung auf Verständnis. Der Versuch sich mitzuteilen gelingt allerdings nicht. Malika macht die Erfahrung, dass ihr Begehren und ihre Wünsche ohne Widerhall bleiben. Es kommt nicht zur gewünschten Reaktion ihres Umfelds. Malikas erste Erinnerung beinhaltet das Scheitern ihr Begehren in die Welt zu tragen. Noch bevor sie zu sprechen lernt, verfällt sie ins Schweigen. 52 Das Schweigen wird im Folgenden zur Form des Protests. Der „cri de rage“ ihrer Geburt wird unterdrückt (vgl. Bey 2006b, S. 68) und zum stummen Schrei, „crier en silence“ (Bey 2006b, S.-179): Il faut de l’entraînement pour tout retenir. Pour tout garder en soi, ne rien laisser échapper. […] prenant garde à ne pas laisser entrevoir la moindre ombre de colère ou de chagrin sur son visage. (Bey 2006b, S.-179f.) Sie nimmt sich vor, ihre Gefühle, ihre Wut und Trauer nicht auszudrücken sondern zu verschweigen. Es scheint, als sei die Unterdrückung und das Verschweigen jeglicher Emotion eine bewusste Entscheidung, „il faut de l’entra‐ înement pour tout retenir“, also ein willentlicher Akt Malikas. Das Schweigen 53 wird zum Widerstand und zur einzigen Möglichkeit, sich gegen ihre Adoptiv‐ eltern und die Missbrauchsversuche ihres Adoptivvaters zur Wehr zu setzen sowie gleichzeitig ihre Würde und ihre Subjektivität zu bewahren. Es steht symptomatisch für die Isolation und die Nicht-Kommunikation der Figuren 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 91 <?page no="92"?> im Roman. Ihm wird eine doppelte, ambivalente Funktion zuteil. Es schützt einerseits die weiblichen Figuren vor der offenen Konfrontation, verhindert aber zugleich den Weg aus der Isolation und somit die Möglichkeit der Solidarität, z. B. innerhalb der Gemeinschaft der Frauen. Für Malika ist das Schweigen ein Akt des Widerstands. So wehrt sie sich auch durch Schweigen gegen die misstrauischen Blicke und Fragen der Heimbewohner: innen zu Beginn ihres Aufenhalts: „Les questions auxquelles je répondais par des silences […]. Elles ont fini par comprendre que j’étais entourée de murs“ (Bey 2006b, S.-55). Es wird deutlich, dass das Schweigen als Form des Widerstands und Protests Malika gleichzeitig gefangen hält („entourée de murs“). Ihr Schweigen, resultie‐ rend aus der Erfahrung, dass ihr Begehren nicht gehört und enttäuscht wird oder laut geäußert sogar gefährlich ist, schließt sie gleichzeitig zunehmend aus und verstärkt das Gefühl der Isolation, dass sie zu überwinden sucht. Durch ihr Schweigen entzieht sich Malika aber auch der Annahme einer ihr zugewiesenen Rolle als folgsame, gehorchende, unterwürfige Tochter. Dieses unangepasste Verhalten führt zur Überforderung der Adoptiveltern und zu den ersten Zuschreibungen Malikas als nicht-normal, verrückt: „Mais cette enfant, là, toute raide, rigide plutôt, qui s’obstine dans son silence. Qui ne veut répondre à aucune question. Qu’en faire? “ (Bey 2006b, S.-45). Die folie („La folie. L’instinct de destruction.“ Bey 2006b, S. 71) ist eine weitere Form des Unangepassten und auch des Widerstands. Malika ist der Überzeugung, dass être femme einer „malédiction“ (Bey 2006b, S. 70) gleich‐ kommt. Verrücktheit oder auch Hysterie sind in der feministischen Forschung breit untersuchte Konzepte. Showalter z. B. sieht Hysterie als „Begriff, der Feministinnen aufbringt, weil er jahrhundertelang benutzt wurde, um die körperlichen Leiden und die politische Kritik von Frauen zu bagatellisieren und lächerlich zu machen.“ (Showalter 1997, S. 18) In ihrem Werk „Hystorien“ zeichnet sie u. a. die Geschichte der Hysterie nach, in der hauptsächlich Frauen mit unspezifischen Leiden, die nicht selten unter Traumata in Folge von (sexueller) Gewalt litten, als Patientinnen behandelt wurden (vgl. Showalter 1997). Weiter führt sie aus, dass „nach altem Muster noch immer alle weibliche Frustration als sexuell bedingt zum einen und irrational zum anderen gedeutet und der Erfahrungsaustausch von Frauen untereinander grundsätzlich als eine Form des hysterischen Geständnisses gebrandmarkt [wird].“ (Showalter 1997, S. 20) Malikas folie, ihre psychatrisch diagnostizierte „forte instabilité caractérielle“ ignoriert ihre Gewalterfahrungen und die sexuellen Übergriffe ihres Adoptivvaters und trägt zu ihrem Anderssein und ihrer Ausgrenzung bei. Es ist der Versuch ihre Unangepasstheit zu pathologisieren und damit zu relativieren. 92 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="93"?> 54 U.a. in der Geschichte um Aїcha/ Jeanne (vgl. Bey 2006, S. 27ff.); vgl. dazu auch Bendjelid (2009, S.-234). Die Figur Malika wird mit verschiedenen Ausgrenzungsmechanismen kon‐ frontiert: ihrer Herkunft, ihrem Aussehen, ihrem Geschlecht, ihrer psychischen Verfassung. Ihre Suche nach Identität reflektiert diese Alteritätserfahrungen. Sie reagiert darauf mit der Infragestellung der Geschlossenheit von Identität selbst. Sie erkennt in sich mehrere Identitätsentwürfe, ist zugleich M’laika, die Besessene, Malaika, der Engel und Malika, „la reine, ou encore celle qui possède“ (Bey 2006b, S. 19). Die Pluralisierung oder auch Fragmentierung der Identitäten äußert sich ebenso in einer Imagination verschiedener Versionen ihrer frühesten Kindheit. So wird die Narration, die Fiktionalisierung ihrer Vergangenheit und diverser Identitätsentwürfe, eine Möglichkeit mit der Schwierigkeit der Identitätskonstruktion, der Trostlosigkeit des Lebens im Heim und den Zu‐ schreibungen weiblicher Identitäten umzugehen. Malika konstruiert „ihren Selbstentwurf im Prozess des Erzählens, wobei die Unzuverlässigkeit ihrer Erinnerungen und der daraus resultierende Eindruck der Unabgeschlossenheit ihrer Erzählung dazu beitragen, dass ihre Identität nicht eindeutig und statisch ist.“ (Allrath und Surkamp 2004, S.-159). Identität wird zu einem fluiden Konstrukt, das narrativ gebildet wird, instabil ist und sich durch Pluralisierung und Fragmentierung auszeichnet. Auf der Ebene des Textes wird somit ein homogenes, stabiles Konzept von Identität zugunsten einer Vielfalt von Identitäten verworfen, sowohl in der Figur Malikas und ihren diversen imaginierten Vergangenheiten und Identitäten als auch auf struktureller Ebene des Textes, der mehrere weibliche Lebensgeschichten miteinander verknüpft. Wut und Widerstand Malikas äußern sich in Schweigen und folie. Sie werden letztendlich durch ihr Erzählen und die narrative (Wieder-)Herstellung ihrer Vergangenheit in ein Konzept multipler Facetten ihrer Identität transformiert. Ihr Widerstand findet nun im Schreiben statt („dire ma rage“) und tritt damit in den Dialog mit anderen, u. a. den impliziten Leser: innen. Dadurch tritt sie aus ihrer Isolation heraus und bricht ihr individuelles sowie das kollektive Schweigen der anderen Frauen. - 4.1.1.6 Die Andere als Chronistin: Identität durch Erzählen Malika imaginiert sich ihre eigene Vergangenheit in unterschiedlichen Versi‐ onen und schließt narrative Lücken in den Geschichten der anderen Frauen 54 , indem sie sie für sich weitererzählt. Wenn eine der Frauen in ihrer biographi‐ schen Erzählung an einen traumatischen und schmerzhaften Punkt anlangt und 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 93 <?page no="94"?> 55 Vgl. auch Bendjelid (2009): „Face à une parole absente […] la narratrice invente une version à sa guise“ (S.-234). daraufhin stockt, füllt Malika die entstandene Lücke durch Fiktion. 55 Einerseits wird dadurch das Schweigen der Frauen ob ihrer eigenen Lebensgeschichten und Traumata evident, andererseits ermöglicht Malikas Weiter-erzählen Tabu‐ themen unter dem Deckmantel der Fiktion zu explizieren: Le fondement de ce processus de la création littéraire se fonde sur […] le mécanisme de l’invention de l’histoire face à la parole absente, censurée, restrictive ou réticent des personnages. (Bendjelid 2009, S.-241) So wird der Prozess der Fiktionalisierung zur Möglichkeit, das Schweigen der Frauen zu durchbrechen und Tabus (wie Vergewaltigung in der Ehe, Missbrauch und Gewalt, weibliche (Homo-)Sexualität) zu thematisieren. Gleich‐ zeitig wird durch die Offenlegung des teilweise fiktionalen Charakters der Lebensgeschichten auch der Konstruktionscharakter von Identität offengelegt: beide werden narrativ inszeniert. Für Malika impliziert das Erzählen ihrer Geschichte außerdem die Erobe‐ rung/ Rückgewinnung der Deutungshoheit über ihre Vergangenheit und somit auch über eine zentrale Grundlage der Identitätskonstruktion. Malika steht au‐ ßerhalb familiärer und damit auch gesellschaftlicher Strukturen. Der Zugang zu einem sozial-konformen Leben bleibt ihr verwehrt. Als ihren einzigen Reichtum bezeichnet sie die Notwendigkeit ihre Vergangenheit und Familiengeschichte zu erfinden und damit zu konstruieren. Die Erzählung/ Erfindung ihrer eigenen Vergangenheit und die aktive Einnahme der Rolle als deren Erzählerin werden selbst zu identitätskonstituierenden Elementen. Malika wird zur Erzählerin ihrer eigenen Geschichte und damit zur Autoritätsinstanz im Sinne Lansers (vgl. Lanser 1992). Das wiederum ermöglicht es ihr, eine gewissen Kontrolle über ihr Leben zu erlangen, indem sie Autorität über ihre eigene Lebenserzählung ausübt. - 4.1.1.7 Fugue - Identität als Errance Die Flucht wird ein Leitmotiv im Leben Malikas. Im Text wird darauf mit einem Exkurs über den Begriff der „fugue“ verwiesen, der sich durch eine doppelte Bedeutung auszeichnet. Es steht für den musikwissenschaftlichen Begriff der Fuge als musikalischer Struktur, die Flucht impliziert. Die Bedeutung des Begriffs deutet bereits auf das wiederkehrende Thema in Malikas Leben hin: Sie bezeichnet sich selbst als „fugueuse“ (Bey 2006b, S. 147) und damit als eine Variante der errante, wie sie in den Texten Assia Djebars und Malika Mokeddems 94 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="95"?> 56 Auf den Begriff der errante wird in späteren Kapiteln zu den Texten Mokeddems und Djebars noch einmal eingegangen. Er impliziert die Suche, die Flucht, ein Gefühl der Heimatlosigkeit, aber auch Freiheit. auftaucht. 56 Malika wünscht sich „de traverser des étendues de sable […] me laisser […] emporter par le vent […]. Je me laisse envelopper d’un voile bleu, mon corps peu à peu se recouvre de tatouages indélébiles. […] Je suis de la tribu des hommes de vent et de sable, fille de ces nomades qui connaissent les secrets des étoiles […]“ (Bey 2006b, S. 183f.). Sie begreift sich als Nachkommin der Nomaden. Dies ist die verwandtschaftliche Zugehörigkeit, die sie durch die Imagination ihrer Vergangenheit selbst wählt. Ein Leben als Nomadin legitimiert und erklärt ihr Leben in Bewegung, das keine Wurzeln benötigt. Sie wird Teil einer Traditionslinie und somit einer größeren Gesamtheit, der tribu, die sie mit der Metapher eines Sandkorns in der Immensität der Wüste beschreibt: […] n’être plus qu’un grain de sable pris dans l’immensité d’un espace, sans répère, sans autre certitude que la douleur de ne pas avoir de racines, rien qui puisse me retenir. (Bey 2006b, S.-183) In dieser Imagination geht Malika in der Gemeinschaft, darunter die Gemein‐ schaft der Frauen des Stamms, „femmes couleur de terre et d’ombre“ (Bey 2006b, S. 184), auf. Ihr Körper löst sich auf, wird zu Sand, zur Flamme, scheint zu tanzen. Darin liegt die Möglichkeit einer Überwindung der Körperlichkeit und somit der Festlegungen und Zuschreibungen, die mit dem weiblichen Körper verknüpft sind. Malika knüpft ihre Identitätsbildung an die imaginierte Zugehörigkeit zu einem Nomadenstamm. Die Bewegung, die Auflösung der Körperlichkeit durch den Tanz, durch das Aufgehen in der Gemeinschaft (Sandkorn-Metapher) ermöglichen ein Verständnis von Identitätskonstruktion als fluiden Prozess, der unabgeschlossen bleibt. Identität als errance zu begreifen bedeutet daher Identität als Prozess zu verstehen. Dies offenbart ein dynamisches, variables, offenes Verständnis von Identitätskonstruktion. Gegen Ende des Romans verdeutlicht eine Häufung der Bezeichnungen von Weite des Raums („étendues de sable, l’immensité d’un espace, l’espace“, Bey 2006b, S. 183) das Bedürfnis Malikas sich zu befreien, in letzter Konsequenz auch von ihrem Körper. Djebar greift das Motiv der Weite in einem Vorwort zu el-Saadaouis Ferdaous, une voix en enfer (2007) auf: „[…] ces errances du corps solitaire […]. […] un corps de femme libéré des autres corps, en espace…[…] simplement en mouvement“ (Saadaoui 2007, S.-17). Djebar beschreibt hier, wo‐ rauf auch die Figur Malikas verweist: Das Gefühl der Freiheit in der Bewegung 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 95 <?page no="96"?> und in der Weite des Raums, in der es gelingt, den als Einschränkung erfahrenen weiblichen Körper zu verlassen („me laisser emporter par le vent“), d. h. die Reduktion auf den Körper zu überwinden, nicht nur als weiblicher Körper gesehen zu werden, sondern außerhalb der stark dominanten Körperlichkeit zu sich selbst zu finden. Malikas Sehnsucht nach der Weite des Raums steht außerdem in einem starken Kontrast zur Enge des Heims, in dem sie wohnt. Die Bilder des verfallenden Hauses aus der Kolonialzeit und der Weite der Wüste bilden die beiden Pole ihrer Identitätsentwicklung. Malika ist eine fugueuse, eine Flüchtende, immer in Bewegung. Sie ersetzt die Bewegung, die körperliche Flucht letztendlich durch das Erzählen. Ihre Sehnsucht nach der Unendlichkeit des Raums findet sie in den Möglichkeiten der Imagination. Nomadentum und errance, d. h. die Bewegung oder der Wunsch nach Bewegung, können so auch als Metapher für das Schreiben verstanden werden. Schreiben und Bewegung sind Prozesse, denen das Element der Unabgeschlossenheit und der Bewegung inhärent ist. Die Bewegung und das Schreiben werden zu Möglichkeiten, die existentielle Einsamkeit in einem alternativen Identitätsentwurf zu sublimieren. - 4.1.1.8 Fazit Cette fille-là An der Figur Malikas können einerseits die individuelle Unsicherheit der Identität und die Bedeutung des Wissens um die eigene Herkunft, d. h. die Ver‐ wandtschaftsbeziehungen, die in der algerischen Gesellschaft eine besondere Rolle spielen, gezeigt werden. Andererseits werden die spezifischen Schwierig‐ keiten weiblicher Identitätskonstruktion unter den Bedingungen patriarchaler Machtverhältnisse in Algerien in den Fokus gerückt. Malikas Lebensumstände und ihre Persönlichkeit zeichnen sie selbst unter den marginalisierten Bewohner: innen des Heims als die Andere aus. In ihrer Position als Andere übernimmt sie die Funktion der Chronistin. Sie ist die Außenstehende, die Beobachtende. Ihre besondere Position erlaubt ihr einen analytischen Blick auf die gesellschaftlichen Restriktionen für Frauen, die Gewalt, unter der sie zu leiden haben und die Unterdrückungsmechanismen und -strukturen, die einer autonomen Entwicklung der eigenen Subjektivität im Weg stehen. McIlvanney (2013) stellt die These auf, dass „women’s autonomy and inde‐ pendent expression, both linguistic and sexual, in a hyperpatriarchal society may only take place either through exile or transgressive behaviour - including the act of writing - which, in its most extreme form, manifests itself as madness“ (McIlvanney 2013, S. 59). Die gesellschaftlichen Strukturen lassen 96 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="97"?> weibliche Autonomie und individuelle Identitätsfindung nicht zu, bzw. letzteres nur im eng vorgegebenen Rahmen sozialer Rollenvorstellungen, Regeln und Tabus. Malikas „transgressive behaviour“ besteht darin, ihr Schweigen und das Schweigen der anderen Frauen im Hinblick auf die von ihnen erlebten Traumata zu überwinden, indem sie sie erzählt und schriftlich dokumentiert, d. h. öffentlich zugänglich macht. Ihr wird außerdem eine „forte instabilité caractérielle“ (Bey 2006b, S. 16) nach einer sexuellen Begegnung unterstellt. Sie drückt, nach McIlvanney, sowohl sprachliche als auch sexuelle Unabhängigkeit aus. In der Folge scheint Malika für die Gesellschaft ihrer „folie“ erlegen. Sie verhält sich von Kindheit an nicht normkonform, sondern strebt größtmögliche Autonomie an: durch ihr beharrliches Schweigen als Kind, die Weigerung ihren weiblichen Körper zu akzeptieren und stetiges Davonlaufen, ihr Leben als fugueuse. Letztendlich nimmt sie ihr Anderssein an, in dem sie die Lücken ihrer Lebensgeschichte imaginiert und ihre Identität in Alterität konstruiert. Im asile begegnet sie Frauen, die wie sie unter den patriarchalen Regeln der Gesellschaft gelitten haben und letztendlich wegen Regelverstößen marginali‐ siert wurden. Ihre Lebens- und Identitätsentwürfe stellen Normalitätsvorstel‐ lungen der algerischen Gesellschaft in Frage und werden daraufhin aus der Mitte der Gesellschaft verbannt. Im Sinne McIlvanneys finden sich in Cette fille-là Darstellungen von „trans‐ gressive behaviour“ in dem Versuch der Frauenfiguren der Gewalt patriarchaler Strukturen zu entgehen, das Schweigen über ihr Leid zu brechen und ihre Sexualität auszuleben. Das asile, in dem sie aufeinandertreffen, verdeutlicht ihre gesellschaftliche Randstellung, erfüllt aber nicht die Funktion eines Ge‐ fängnisses, sondern ermöglicht bestimmte Freiheiten. Dennoch werden auch hier gesellschaftliche Mechanismen perpetuiert und Malika kann u. a. die Zuneigung zu einer weiteren Bewohnerin nicht offen zeigen. Zudem wird für Malika deutlich, dass sie außerhalb des asile keine Möglichkeit hat, einen selbst‐ gewählten Identitätsentwurf zu verwirklichen. Sie bleibt auf den begrenzten Raum des asile beschränkt. Die Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit und ihres sexuellen Begehrens, der Wunsch sich eine Vergangenheit, eine Identität zu geben, münden schließlich im Akt des Erzählens von sich und den weiteren Heimbewohnerinnen. Das Erzählen wird zur letzten Möglichkeit, Autorität über das eigene Leben zu gewinnen. Die Hauptfigur Malika als Chronistin der Lebensgeschichten anderer Frauen zu inszenieren ist dabei nach Donadey ein Beispiel für postkoloniales rewriting: „Postcolonial writers feel the necessity of rewriting the past because the dominant versions of history have left blanks, gaps, and misrepresentations“ (Donadey 2008, S. 66). Insbesondere die Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 97 <?page no="98"?> 57 Dem Roman sind Zitate von Arthur Rimbaud und Paul Valéry vorangestellt. Sie verweisen auf die Hinterfragung des Selbst und einer kohärenten, singulären Identität. Damit nehmen sie die zentrale Thematik des Romans, der den Konstruktionscharakter, die Instabilität und Ambivalenz von Identitäten behandelt, vorweg. Zugleich bilden sie intertextuelle Bezüge zu zwei bedeutenden Dichtern der französischen Literatur. von Frauen finden keinen oder nur begrenzten Eingang in die offizielle Ge‐ schichtsschreibung. Daher steht Malikas unbekannte Vergangenheit auch für die Geschichtslosigkeit vieler Frauen; und ihr Versuch die Lücke mit Imagination zu füllen, gleichsam für die Versuche der Autorinnen mit Fiktion der offiziellen Vergangenheitsdiskurse in Algerien eine zentrale Perspektive hinzuzufügen. Nach einer Definition Felskis kann damit Cette fille-là der „feminist self-dis‐ covery narrative“ zugeordnet werden: The main types of feminist self-discovery narrative […] offer clear points of com‐ parison with the conflicting tendencies underlying oppositional movements: on the one hand, a desire for integration and participation within a larger social and public community as a means of overcoming a condition of marginalization and powerlessness, on the other, an insistence upon a qualitative difference of cultural perspective as a means of articulating a radical challenge to dominant values and institutions, a stress on difference which resists assimilation into the mainstream of social life. (Felski 1989, S.-150) Damit erfüllt der Text, in der Intention das Schweigen über die Lebensumstände der Frauen zu brechen, auch die Funktion eines Gegendiskurses gegenüber den dominanten gesellschaftlichen Diskursen, die sexuelle Gewalt an Frauen, Homosexualität und weibliches sexuelles Begehren allgemein tabuisieren. 4.1.2 Gedächtnisverlust und Fragmentarisierung der Identität(en) in Beys Surtout ne te retourne pas Das Ausgangsereignis der Handlung in Maїssa Beys Roman Surtout ne te retourne pas (Bey 2006c) ist das Erdbeben aus dem Jahr 2003 in der Region Algier-Boumerdès-Réghaïa-Thenia. Der Roman verweist mehrmals auf die Situation in Algerien nach der Katastrophe und nimmt so Bezug zur außerli‐ terarischen Wirklichkeit. Bey widmet zudem ihren Roman den Opfern des Erdbebens sowie auch den Opfern des Tsunamis in Asien 2004. Zentrale Figur in Surtout ne te retourne pas ist Amina, eine 23jährige Frau, die während des Erdbebens ihr Gedächtnis verliert 57 . In einer Notunterkunft schließt sie sich mit drei weiteren Erdbebenopfern zu einer Schicksalsgemein‐ schaft, aus der eine Ersatzfamilie wird, zusammen: Dazu gehören die resolute 98 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="99"?> 80jährige Dadda Aїcha, die 17jährige Nadia, die ihre Mutter und Schwester verloren hat, und Mourad, ein 15jähriger Junge, der bereits einige Jahre allein auf der Straße lebt. Der Roman ist in fünf Kapitel unterteilt. In den ersten beiden Kapiteln wird das unmittelbare Geschehen vor dem Erdbeben erzählt. Amina flieht vor einer arrangierten Ehe und gerät auf dem Weg zu ihrer Tante in das Erdbeben. Diese Version ihrer Vergangenheit wird allerdings gegen Ende des Romans in Frage gestellt und als Ausdruck einer posttraumatischen Störung und somit als Trugbild entlarvt. Ihre eigentliche Lebensgeschichte wird ihr in den letzten Kapiteln von Dounya erzählt, die sich als ihre Mutter zu erkennen gibt. In dieser Version wuchs Amina bei ihrer alleinstehenden Tante auf, da Dounya eine 20jährige Haftstrafe für die Ermordung ihres Ehemannes ableisten musste. Das Erdbeben und Aminas Gedächtnisverlust ereigneten sich am Tag der Rückkehr Dounyas aus dem Gefängnis. Amina glaubte, ihre Mutter sei verstorben und steht nach der Offenbarung Dounyas unter Schock. So verlässt sie das Haus in dem Moment, als das Erdbeben beginnt. Amina, und damit auch den Leser: innen bleiben bis zuletzt Zweifel, welche Version ihrer Vergangenheit die richtige ist. - 4.1.2.1 Das Erdbeben als Unterbrechung der gesellschaftlichen Ordnung Im dritten Kapitel wird ausführlich das Leben Aminas und ihrer Ersatzfamilie in einer Notunterkunft für Erdbebenopfer beschrieben. Dabei werden einzelne weitere Personen vorgestellt, denen Amina begegnet. Darunter sind vor allem Frauen, die sowohl unter den Folgen der Zerstörungen leiden, als auch unter der Brutalität religiöser Fundamentalisten, die die Strukturen nach der Natur‐ katastrophe ihren eigenen Vorstellungen entsprechend aufzubauen beginnen. Der gesellschaftliche und politische Umgang mit den Folgen der Ereignisse dominiert weite Teile der Erzählung. So wird beschrieben, dass ausländische Hilfsorganisationen erste Nothilfe leisten, sich aber in der Folge schnell zurück‐ ziehen und eine nachhaltige Unterstützung ausbleibt. Umfassende Hilfe von der Regierung scheint es nicht zu geben. Über die Funktion des Settings hinaus sind die Abschnitte der Erzählung, die das Erdbeben und dessen Konsequenzen betreffen, nur lose und nicht handlungsmotvierend mit der Erzählung Aminas verbunden. Selbst das hand‐ lungsgestaltende Element, die Amnesie der Hauptfigur, wird gegen Ende des Romans auf das erlebte Trauma der plötzlichen Rückkehr der verstorben geglaubten Mutter, das zeitlich vor dem Erdbeben stattfand, zurückgeführt. Das Erdbeben hat allerdings den Effekt, der jungen, weiblichen Hauptfigur ein zeitweise unabhängiges Leben zu ermöglichen und markiert so die Mög‐ lichkeit eines Neuanfangs für die Protagonistin. Amina, die sich selbst den 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 99 <?page no="100"?> Namen Wahida geben wird, lebt zunächst allein in einer Notunterkunft. Ein Leben unabhängig von der eigenen Familie wäre ohne die temporäre Lockerung gesellschaftlicher Strukturen in Algerien kaum möglich gewesen. Freie Entfal‐ tung (im Sinne eines kulturkritischen Metadiskurses nach Zapf (2005) kann allerdings nicht gelingen, da sich die gesellschaftlichen Normen nach einer ersten Konsolidierung der Situation in der Notunterkunft des Zeltlagers zügig reproduzieren. Hier besteht eine Ähnlichkeit zum asile in Cette fille-là, einem marginalisierten Ort, der gleichzeitig gesellschaftliche Normen durchbricht und perpetuiert. Auch weist das Notlager nach dem Erdbeben ebenso wie das asile Merkmale einer Heterotopie auf, indem es einen Ort darstellt, der „all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage [stellt] und ins Gegenteil verkehrt […]“ (Foucault 2008, S. 320). In der Notunterkunft sind familiäre und verwandschaftliche Strukturen aufgebrochen, Fremde müssen miteinander leben, zum Teil gibt es keine Trennung zwischen weiblichen und männlichen Räumen. Die Regeln und Strukturen des gesell‐ schaftlichen Raums sind dadurch zunächst relativiert. Dennoch bilden sich schnell wieder Verhaltensnormen heraus, die denen der durch das Erdbeben zeitweise zerstörten Gesellschaft ähneln, so z. B. familiäre Strukturen, denen aber keine Verwandtschaftsverhältnisse zugrunde liegen müssen. Die selbstge‐ wählte Familie, in der Amina/ Wahida leben wird, ermöglicht den einzelnen Mitgliedern dadurch Halt, aber auch mehr Freiheiten von Erwartungen als in konventionellen Familien. Diese Relativierung traditioneller Strukturen wird jedoch letztendlich durch die Entstehung fundamentalistischer Gruppen inner‐ halb des Lagers wieder bedroht. Die Kräfte, die ein großes Interesse an der Bewahrung traditioneller Strukturen - und dazu gehört in erster Linie auch die patriarchale Ordnung - haben, setzen sich und ihre Weltanschauung gegen Ende des Romans durch. Das Erdbeben fungiert so als Allegorie der politischen Verhältnisse in Alge‐ rien, deren kritische Betrachtung tabubelegt ist. Es deutet sich eine zirkuläre Entwicklung an: das Erdbeben bricht mit den Gesellschaftsstrukturen und weicht sie auf. Die Zerstörung öffnet aber auch Möglichkeiten des Neuanfangs, die letztendlich allerdings nicht greifen. Die Kontinuität der gesellschaftlichen Abläufe wird durch die Zäsur des Erdbebens unterbrochen, doch nicht weiter‐ gehend verändert. Eine permanente Veränderung scheint in den dargestellten gesellschaftlichen Strukturen nicht möglich. Damit wird eine pessimistische, veränderungsresistente Grundstimmung beschrieben. 100 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="101"?> 4.1.2.2 Fragmentarisierte Identität(en) Die Handlung wird aus einer personalen Erzählsituation heraus durch eine homodiegetische Erzählinstanz erzählt. Das Ich agiert erzählerisch allerdings nicht als geschlossen und kongruent. Vielmehr gibt es Brüche in seiner Erzäh‐ lung, die irritieren und unklar lassen, ob es sich um ein und dasselbe Ich handelt. Diese Brüche sind einerseits markiert durch den Namen der Figur bzw. ihre Namenlosigkeit und andererseits durch den inhaltlichen und räumlichen Wechsel auf Handlungsebene. Im ersten Kapitel irrt die Ich-Erzählerin, die namenlos bleibt, durch die zerstörte Stadt. Das Kapitel ist als einziges des Romans im Präsens geschrieben. Die Figur nimmt die Trümmer und verletzten Menschen um sie herum wahr, ihr gelingt es aber nicht sich zu orientieren. Die Zeit scheint sich zu dehnen: „Je marche dans les rues de la ville. […] Et le présent, démesurément dilaté, se fait stridence, espace nu où s’abolit le temps.“ (Bey 2006b, S. 13) Letztendlich kollabiert sie. Das zweite Kapitel ist eine Retrospektive. Das Ich erzählt von den Gescheh‐ nissen vor dem Erdbeben und von der Flucht vor einer arrangierten Ehe. Es endet mit Einsetzen des Erdbebens. Die Handlung setzt sich im dritten Kapitel mit der Schilderung der Ereignisse nach dem Erdbeben fort. Jetzt erst wird deutlich, dass die Ich-Erzählerin ihr Gedächtnis verloren hat und sich auch nicht an ihren Namen erinnert. Sie nennt sich schließlich Wahida. Gegen Ende des Kapitels begegnet Wahida Dounya, die vorgibt ihre Mutter zu sein und sie Amina nennt. Da Amina-Wahida ihre Erinnerungen bis zuletzt nicht wiedererlangt, bleibt eine Unsicherheit ob der Identität der Hauptfigur. Dadurch sowie durch Inkongruenzen und fehlende Kohärenzen im Text kann das Ich zugleich dieselbe und unterschiedliche Figuren sein. Es konstruiert seine Identität mehrmals neu bzw. bleiben die Identitäten fragmentarisch nebeneinanderstehen und verunsichern das Ich. Zusätzlich zu dieser uneindeutigen Anlage des erlebenden Ichs ist der Text ab dem zweiten Kapitel durch Kursivsetzung unterbrochen von Kommentaren des erzählenden Ichs. Dieses steht zunächst dem erlebenden Ich gegenüber. Dabei befindet es sich im Gespräch mit und richtet Überlegungen an ein ‚vous‘, das zunächst an die (impliziten) Leser: innen gerichtet scheint: „À vous mettre en condition, vous qui m’écoutez et cherchez à comprendre.“ (Bey 2006b, S. 25) Am Ende des Textes wird deutlich, dass sich das spätere Ich im Gespräch mit einem Psychologen/ einer Psychologin befindet (vgl. Bey 2006b, S. 206), für die sie im Behandlungsverlauf ihre Lebensgeschichte zu rekonstruieren versucht und sich dabei in Widersprüche verwickelt bzw. unterschiedliche Versionen ihrer 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 101 <?page no="102"?> 58 Die Kursivsetzung wird zur besseren Unterscheidung in den Zitaten wie im Originaltext beibehalten. Geschichte darstellt. Das erlebte Trauma erschwert zusätzlich einen kohärenten Erinnerungsprozess. Die Abgrenzung im Schriftbild ist nicht trennscharf. Im Text finden sich mehrere Beispiele für nicht kursiv gekennzeichnete Passagen des erzählenden Ichs: C’est tout. J’ai dû m’endormir très vite. Avec juste cette phrase dans la tête. Comme une prière adressée à la nuit, ou plutôt une épitaphe : que les vents se déchaînent pour effacer l’empreinte de mes pas. Oui, j’ai dû m’endormir très vite. J’ai dû rêver aussi. Je me suis réveillée avec l’odeur encore incrustée dans chacun des coins de la chambre, dans chaque repli de ma robe. (Bey 2006b, S.-31) Im Folgenden sollen weitere erzählerische Mittel, mit deren Hilfe die Fragmen‐ tarisierung des Ichs im Text umgesetzt wird, näher betrachtet werden. - 4.1.2.3 Erzählperspektive: Pluralität des Ichs und unzuverlässiges Erzählen Der Roman wird aus einer homodiegetischen bzw. autodiegetischen Erzählper‐ spektive heraus erzählt. In den Passagen, in denen das erzählende Ich den Fortgang der Handlung kommentiert, richtet es sich zugleich an ein Gegenüber: Cette entrée en matière, peut-être un peu trop longue, peut-être un peu trop raisonneuse, n’avait qu’un seul but: m’aider à trouver un commencement à ce récit. À vous mettre en condition, vous qui m’écoutez et cherchez à comprendre. (Bey 2006b, S.-25) 58 Die Doppelung der Ich-Erzählung in ein erzählendes und ein erlebendes Ich legt den Konstruktionscharakter des Erinnerungsprozesses offen und spiegelt in der narrativen Gestaltung des Textes die Zerrissenheit der Figur Amina-Wahidas wider. Ihre Suche nach der eigenen Vergangenheit und der Versuch, einen kohärenten Identitätsentwurf zu konstruieren, ist geprägt von Zweifeln an der Wahrhaftigkeit ihrer eigenen Erinnerungen. Das erzählende Ich gibt sich durch den Wissensvorsprung über die Ereignisse als Gestalterin der Erzählung, die sie „cette histoire“ (Bey 2006b, S. 23), „ce récit“ (Bey 2006b, S. 25) und ebenfalls „la narration“ (Bey 2006b, S. 25) nennt. Indem sie ihre Erlebnisse mit Begriffen der Fiktion beschreibt, offenbart sie aber ebenso ihre Unsicherheit gegenüber der Faktualität ihrer Schilderungen. Der Versuch 102 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="103"?> 59 Zum Funktionspotential erzählerischer Unzuverlässigkeit aus Sicht einer gender-ori‐ entierten Narratologie s. auch Allrath und Surkamp (2004, S.-159f.). der (Re-)Konstruktion der Ereignisse übernimmt die Funktion, Ordnung herzu‐ stellen und aus der zeitlichen und räumlichen Distanz heraus eine Chronologie und kausale Abfolge des Erlebten zu entdecken. Die Notwendigkeit der Ordnung ergibt sich aus dem Wunsch, selbst zu verstehen sowie sich einem Gegenüber verständlich zu machen. Es ist aber auch der Versuch, eine Erklärung oder sogar Rechtfertigung für den Ablauf der Ereignisse zu finden sowie Erkenntnis und Einblick in ihr eigenes Verhalten zu gewinnen: „Et peut-être une justification, une explication à tous les actes précisément rapportés dans la narration qui va suivre“ (Bey 2006b, S. 25). In erster Linie ist es der Versuch, sich selbst das eigene Verhalten zu erklären. Allerdings befindet sich das Ich im Gepräch, weshalb auch von dem Bedürfnis einer Rechtfertigung des Ablaufs der Ereignisse gegenüber Anderen ausgegangen werden kann. - 4.1.2.4 Amnesie und unzuverlässige Erinnerung Die Unsicherheit des Ichs und das Zerfallen (die Fragmentarisierung) der Iden‐ tität(en) haben ihren Ursprung in der Amnesie der Hauptfigur. Dadurch wird die Erzählung zum Versuch einer Rekonstruktion der verlorenen Erinnerung und gleichzeitig der Suche nach Sinnhaftigkeit im Geschehenen: „[…] à vous raconter mon histoire, et tenter de retrouver un ordre, une chronologie, une logique à mes actes“ (Bey 2006b, S. 33). Die Unsicherheit der Erinnerung wird vom erzählenden Ich offengelegt. „Je me suis réveillée avec l’odeur […]. Ou bien c’est l’odeur qui m’a réveillée. Je ne sais pas. Je ne sais pas. Je crois que c’est le lendemain que je suis partie. Oui, je crois bien“ (Bey 2006b, S. 31). Es scheint sich in der Erzählung bei seinem Gegenüber (den fiktiven Leser: innen bzw. dem/ der Psychologen/ Psychologin) ihrer selbst und der Richtigkeit der Ereignisse vergewissern zu wollen. Durch die Verortung der Hauptfigur in dem Szenario einer Erdbebenkata‐ strophe, die sich auf ein außerliterarisches Ereignis bezieht, und ebenso durch die Plausibilität der Amnesie nach einem Schock im Zusammenhang mit der Katastrophe, wird die Erzählfigur zunächst als verlässlich und überzeugend wahrgenommen. Auch die Zweifel des erlebenden Ichs am eigenen Erinne‐ rungsvermögen erwecken den Eindruck von Authentizität und unterstützen die Glaubhaftigkeit der Figur. Die Zuverlässigkeit der Figur wird allerdings in Frage gestellt durch die Zweifel des erzählenden Ichs, das aus der Distanz zum Geschehen heraus berichtet. Es entsteht der Eindruck eines unzuverlässigen Erzählens. 59 Die 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 103 <?page no="104"?> Unzuverlässigkeit des Erzählens spiegelt die Unsicherheit der Figur/ der Ich-Er‐ zählerin auf inhaltlicher Ebene wider. Ihre Erinnerungen, ihre Vergangenheit und ihre Identität sind nicht eindeutig bestimmbar. Es weist auch auf die Unsicherheit der eigenen Identität hin, die sich als konstruiert, instabil und ambivalent offenbart. Der einzige Anker, die eigene Vergangenheit, steht zur Stabilisierung der Identität nicht mehr zur Verfügung, die daher fragmentarisch bleibt. Gleichzeitig ist die Identitäts-Unsicherheit untrennbar verbunden mit dem Geschlecht der Hauptfigur. Amina ist seit ihrer Kindheit die Unangepasste, Verrückte, die nicht der Norm entsprechen kann oder will: „Je suis un peu folle, sans aucun doute.“ (Bey 2006b, S. 33). Sie ist „une folle, complètement dérangée… une traînée, une…“ (Bey 2006b, S. 46). Dabei bezieht sich ihre fehlende Konformität eindeutig auf ihr geschlechtsuntypisches Verhalten bzw. auf ihre Verweigerung, eine bestimmte Geschlechterkonzeption, der sie in Algerien und ihrem familiären Umfeld begegnet, zu akzeptieren: Chez nous, il faut le savoir, sont déjà considérée comme folles ou - pour rester dans la civilité des formules convenues - mentalement dérangées, celles qui, par exemple, dans une impulsion subite, irraisonnée, sortent de chez elles sans rien ne dire ni demander à personne. (Bey 2006b, S.-33) Das „nous“ bezieht sich auf den Heimatort der Ich-Erzählerin ebenso wie auf das gesamte Land. Es beschreibt die soziale Kontrolle, der die Erzählerin kaum ent‐ gehen kann: „Impossible de passer à travers les mailles du filet tendu au-dessus de toutes les maisons du village. Nous ne sommes qu’une seule et grande famille“ (Bey 2006b, S. 37). Die verwandtschaftliche und erweiterte Familie übernimmt die ambivalente Funktion des Schutzes und der Anteilnahme am eigenen Schicksal einerseits und der Kontrolle und Verurteilung abweichenden Verhaltens andererseits. Die Ich-Erzählerin kritisiert insbesondere, dass das Unglück der einen die Möglichkeit der Mitleidsbezeugung für die anderen und damit einen Beweis ihres festen Glaubens bedeutet. Die Erzählerin empfindet dies als heuchlerisch und vermisst echte Solidarität: […] une seule et grande famille. Solidaire et attentive à tout. Et plus particulièrement aux bonheurs et aux malheurs de chacun. Avec une nette préférence pour les calamités […]. Ainsi pourra étre multiplié le nombre de Bonnes Actions […], qui donnent droit à un accès direct au paradis. […] Des phrases totalement vides de sens […]. (Bey 2006b, S.-37) Als für Amina (in der im zweiten Kapitel dargestellten Version ihrer Vergan‐ genheit) der Zeitpunkt kommt, an dem sie sich der gesellschaftskonformen 104 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="105"?> 60 Die fragmentierten Identitäten, die durch unzuverlässiges Erzählen narrativ gestaltet werden, sind ebenfalls Merkmal postkolonialer Literatur. Die Ich-Erzählerin in Surtout ne te retourne pas ist Mitglied einer patriarchalen Gesellschaft im postkolonialen Alge‐ rien. Die Fragmentierung ihrer Identität kann ihren Ursprung sowohl in der Ablehnung ihres alternativen weiblichen Lebensentwurfs haben als auch in der Komplexität einer Identitätskonstruktion in einer postkolonialen Gesellschaft. Geschlechtsrolle nicht mehr zu entziehen vermag und verheiratet werden soll, flieht sie, wird Opfer des Erdbebens und verliert ihr Gedächtnis: „Oui, depuis toujours, je savais. Tous ces silences, ces regards fuyants… Comment avais-je pu vivre aussi longtemps avec cette chose qui m’oppressait? “ (Bey 2006b, S.-47). Der Verlust ihres Gedächtnisses und das unzuverlässige Erzählen treten in einer Version ihrer Erinnerung zu dem Zeitpunkt auf, an dem sie die geschlecht‐ liche Rollenerwartung nicht mehr zurückweisen kann. Somit wird auf narrativer Ebene der auf inhaltlicher Ebene thematisierte Konflikt zwischen der eigenen geschlechtlichen Identität und der gesellschaftlichen Geschlechterkonzeption in einem Bruch der Erzählstruktur umgesetzt. Ihr Lebensentwurf wie ihr Erzählen stehen damit im Widerspruch zu dem der patriarchalen Gesellschaft, in der sie lebt. 60 Allerdings entspricht das nur einer Version der Geschichte. In der zweiten Version, in der Amina-Wahida vor den Offenbarungen ihrer vermeintlichen Mutter und der Erkenntnis, dass ihr bisheriges Leben eine Lüge war, flieht, liegt kein Konflikt der geschlechtlichen Identität vor. Es gibt zwar einen Hinweis auf die Mechanismen einer patriarchalen Gesellschaft durch die verzweifelte Tat der Mutter, die ihren Ehemann ermordet, um ihre Tochter vor dessen Misshand‐ lungen zu schützen. Aber es wird suggeriert, dass der Grund für Amina-Wahidas Trauma die Lügen der Mutter und der Tante sind. Amina-Wahida wächst in dem Glauben auf, ihre Mutter sei vor 20 Jahren verstorben und steht unter Schock, als diese nun vor ihr steht. In dieser zweiten Version von Amina-Wa‐ hidas Lebensgeschichte ist das den Gedächtnisverlust auslösende Ereignis nicht unmittelbar verknüpft mit einer patriarchalischen Rollenzuschreibung, sondern mit der Bewusstwerdung, dass ihr bisheriges Leben (und damit auch ihr Identitätsentwurf) auf einer Lüge gründet. Dieser Widerspruch lässt die Leser: innen an Amina-Wahidas Erinnerungen zweifeln und die erste Version ihrer Erinnerungen als Schutzmechanismus der Verdrängung lesen. Was erinnert und was vergessen wird, das hängt ab vom subjektiven wie vom sozialen Identitätsmanagement, welches wiederum von Affekten, Bedürfnissen, Normen und Zielen gesteuert wird. (Schmidt 2004, S.-216) 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 105 <?page no="106"?> Es bleibt die Frage, ob Amina-Wahidas Erinnerung an eine bevorstehende Zwangsheirat eine durch das Trauma hervorgerufene „Ersatz“-Erinnerung ist, die die Erinnerung an das Wiedersehen mit ihrer Mutter überdeckt. Am Ende der Handlung wird keine der dargestellten Erinnerungsversionen und Identitäten als einzige oder einzig richtige, ursprüngliche festgelegt. Der Identitätsprozess bleibt offen und wird nicht abgeschlossen. Das erzählende Ich bittet am Ende des Romans den/ die fiktiven PsychologIn um Offenbarung der Wahrheit, die nicht erfolgt. Das Romanende ist inhaltlich offen. Der Text endet mit einem unvollständigen Satz, der auf eine grundlegende Überforderung und einen Kontrollverlust der Protagonistin hinweist, die ihren Gefühlszustand mit der Metapher der alles verschlingenden Welle beschreibt: „Et maintenant cette vague immense qui fonce, qui déferle, qui…“ (Bey 2006b, S.-207). - 4.1.2.5 Namensfindung - Finden der eigenen Individualität und Identität Ohne die Möglichkeit auf Erinnerungen zurückzugreifen, wird zunächst der Versuch unternommen, Identität über eine Namensgebung zu generieren. Der Namensfindung kommt im Text eine besondere Bedeutung zu. Dadda Aїcha und die anderen Mitglieder der Ersatzfamilie unterstützen Amina-Wahida dabei wieder Zugang zu ihren Erinnerungen zu erlangen; u. a. rufen sie sie bei zufällig gewählten Namen, um zu überprüfen, ob sie reagiert. Dadda Aїcha ist besonders engagiert in der Namenssuche, da sie diese für ausschlaggebend im Prozess der Identitätsfindung hält: „Dadda Aїcha est persuadée que l’essentiel est de me nommer. De m’aider à retrouver mon identité première“ (Bey 2006b, S. 83). Sie ist überzeugt von der Bedeutung des Namens als „premier mot, celui qui nous nomme, qui nous désigne et nous distingue“ (Bey 2006b, S. 84). Damit wird im Text die Markierung der Identität durch den Namen als erstes Identitätsmerkmal thematisiert. Da die Ich-Erzählerin sich nicht erinnern kann, will sie sich auf Anraten eines Arztes selbst einen neuen Namen geben. Il a dit que cela pouvait être un premier pas vers la re-connaissance de soi. Ou peut-être de la renaissance. […] Et je ne veux pas qu’on puisse me confondre avec une autre jeune fille. Une jeune fille qui aurait déjà une histoire, un passé, des rêves et des projets. J’aurais voulu qu’on invente un prénom absolument inédit, pour moi, pour moi toute seule. (ebd. S.-85) Sie empfindet die Wahl eines Namens als Wiedergeburt und Neuanfang, ohne Belastungen der Vergangenheit. Es ermöglicht ihr den Neubeginn als Indivi‐ duum, der unbeeinflusst von anderen ihrer freien Gestaltung überlassen ist. Dadda Aїcha nennt sie schließlich Wahida. Die Bedeutung dieses Namens - 106 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="107"?> „Première et unique, mais aussi seule.“ (Bey 2006b, S. 85f.) - entspricht dem Wunsch der Ich-Erzählerin nach Individualität. Die mit der neugefundenen Identität als Wahida verbundene Einsamkeit empfindet Wahida nicht als Bedro‐ hung. Es überwiegen die Vorteile ihrer selbst sicherer zu werden und in Freiheit ohne die Belastungen der Vergangenheit zu leben: „À défaut de certitude, j’aime et fais mienne cette idée d’être la première, l’unique, et la solitude ne m’effraie pas“ (Bey 2006b, S.-86). Der selbstgewählte Name wird zur neuen und selbstgewählten Identität. Die Wahida-Identität erlaubt der Ich-Erzählerin einen Neuanfang. Die fehlenden Erinnerungen verlieren an Bedeutung für ihre Identitätskonstruktion. Sie wird durch die Annahme des Namens wieder handlungsfähig. Es ist ein selbstbes‐ timmter Entwurf, der von Offenheit, Optimismus und Freiheit geprägt ist. Écoutez. Écoutez-moi. Laissez-moi dire ce que je sais. Ce que je suis. Je suis venue au monde dans un tournoiement de poussière, un jour de cris, de ciels retournés, de peur, de chaos […] le lendemain de la fin du monde. […] Depuis ce jour, on m’appelle Wahida, la seule et peut-être même l’unique. Désormais, tout est plausible. Et peut-être possible. Je me sens neuve. Je suis neuve. Sans histoire. Sans passé. (Bey 2006b, S.-107) Diese Selbst-Bewusstheit schlägt später, als Wahida zu Amina wird, in Lethargie um: „je me laisse glisser le long d’une pente […]. Sans désir ni impatience non plus“ (Bey 2006b, S. 159). Die Identität als Amina, die Dounya ihr zuschreibt, weckt in der Ich-Erzählerin ambivalente Gefühle. Einerseits wehrt sie sich dagegen und empfindet es als künstliche, nicht authentische Rolle: „C’est mon histoire, il ne faut pas que d’autres s’en emparent. Je ne sais pas jouer les rôles écrits par d’autres“ (Bey 2006b, S. 142). Andererseits bietet ihr Dounya eine lückenlose, geschlossene und dadurch sichere Identität mit Vergangenheit an: „Une femme qui me propose une histoire, un passé, un refuge et un amour que je ne peux mettre en doute“ (Bey 2006b, S. 147). Dieser Konflikt wird bis zuletzt ungelöst bleiben. Amina-Wahidas Wunsch nach Individualität und Offenheit der Identität wird Douyas Angebot einer identitären Bestimmung und Existenz‐ berechtigung entgegengesetzt. Dieses Spannungsverhältnis spiegelt sich im Versuch, ihre Erinnerungen wiederzugewinnen, u. a. im Gespräch mit dem/ der Psycholog: in, das gleichzeitig von der Angst vor ebendiesen Erinnerungen und dem Wunsch zu vergessen geprägt ist. - 4.1.2.6 Identität als Narration - „Mektoub“ Auf die Bedeutung des Wortes, des geschriebenen („Mektoub. C’était écrit.“ Bey 2006b, S. 59) ebenso wie des gesprochenen, wird im Verlauf des Erzähltextes wiederholt rekurriert. Das geschriebene Wort des Korans wie auch der Glaube 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 107 <?page no="108"?> an den Zufall - Mektoub - bzw. an einen göttlichen Plan determiniert den Umgang der Figuren mit der Erdbeben-Katastrophe. In der Konfrontation mit den persönlichen Verlusten und dem gesamten Ausmaß der Katastrophe bildet die Vorstellung einer göttlichen Vorsehung einen Sinn suggerierenden Erklärungsansatz. In der Rekapitulation der Ereignisse glauben die Figuren nun Vorzeichen zu erkennen, die auf die Katastrophe hingedeutet haben. Die Dechiffrierung der vermeintlichen Zeichen wird zu einer Strategie im Umgang mit der Willkür und in den Ausmaßen der Zerstörung nicht fassbaren Grausam‐ keit des Erdbebens. Bei dem Versuch eine Kohärenz zwischen Vorzeichen und Ereignis zu konstruieren und dadurch in gewisser Weise rückwirkend erneut Kontrolle über die Natur und das eigene Leben zu gewinnen, wird das Ereignis zur Schrift, die es zu entziffern gilt. On leur dit: Mektoub. C’était écrit. Alors ils tentent de déchiffrer les signes tracés: lézardes, sillons, fentes, fissures, crevasses, cicatrices, tranchées. Toute une écriture du vide et de l’absence, encore obscure pour qui n’a pas vécu ce fragment d’histoire. Les yeux creux et fixes, ils tentent vainement, inlassablement, de déchiffrer la trace scripturaire de leur douleur. (Bey 2006b, S.-59f.) Die Bedeutung der Schrift bleibt denjenigen, die noch kein gleichwertiges Ereignis erlebt haben, verschlossen. Das macht die Zeichen nur aus der Rück‐ schau, nur nachträglich durch Rekonstruktion, verständlich. Die Bedeutung der Schrift bzw. des Wortes ist somit nur aus dem Gedächtnis, aus der Erinnerung heraus verstehbar. Die fragmentierten Zeichen erhalten ihre Bedeutung erst nach Eintreffen der Katastrophe. Amina-Wahida glaubt ebenfalls an versteckte Zeichen und damit eine hinter den Ereignissen liegende Bedeutung: „Je crois que tout est signe“ (Bey 2006b, S. 23). Sie versucht ihre Vergangenheit zu rekonstruieren, um dadurch ihre gegenwärtige Situation und ihr Selbst zu verstehen. Dabei setzt sie die Ereig‐ nisse, ihr persönliches Schicksal sowie die Naturkatastrophe und die Personen, die ihr begegnen, in Beziehung und bezeichnet sie als Komponenten eines „réseau invisible“, der „une logique et parfois même à une volonté“ (Bey 2006b, S. 23) gehorcht. Diese Verbindung ist nicht sofort erkennbar, sondern erst nach Rekonstruktion des Ereignisses: Et même si les raisons premières de chaque événement ne sont pas évidentes dans un premier temps, elles deviennent très vite lisibles si l’on se donne la peine d’examiner le déroulement des événements […]. (Bey 2006b, S.-23) Eine mögliche Gleichsetzung des „réseau invisible“ mit göttlichem Willen oder gar Fatalismus, im Sinne eines nicht veränderbaren Schicksals, schließt 108 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="109"?> das erzählende Ich allerdings explizit aus. Die dogmatische Interpretation der Ereignisse als göttliche Bestrafung für menschliches Fehlverhalten begreift es als Unterdrückungsinstrument im Namen von Religion und Moral (vgl. Bey 2006b, S.-24). Das unsichtbare Netz, der Wille, den es in einzelnen Momenten zu fassen glaubt und der seinem Leben Kohärenz gibt, hinterlässt eine Spur, „la trace scriptuaire“ (Bey 2006b, S. 60). Das Netz, das einzelne Ereignisse verbindet, wird somit zu einem Text, der in bestimmten Momenten oder nach spezifischen Erfahrungen lesbar wird. Mektoub („c’est écrit“) verweist somit weniger auf eine göttliche Kraft als auf die Macht und Wirksamkeit der Schrift und damit auf das Projekt des Erzählens selbst. Es kann als narrative Struktur des einzelnen Lebens oder auch der kollektiven Geschichte verstanden werden und verweist damit auf das Bedürfnis nach Kohärenz und Kontingenz der individuellen und kollektiven (Lebens-) Erzählung. In dem Versuch eine „trace scriptuaire“ zu konstruieren, offenbart sich auch die narrative Struktur der Erinnerungen der Hauptfigur. Die Protagonistin strebt mit ihrer Suche nach einer kausalen Ordnung im Ablauf der Ereignisse und dem Versuch „[de] démêler les fils“ (Bey 2006, S. 61) eine narrative Strukturierung ihres Lebens und ihrer Vergangenheit, ein „narrative self-making“ (Neumann und Nünning 2008, S.-8) an. Laut der narrativen psychologischen Forschung besteht ein enger Zusam‐ menhang zwischen der Konstruktion persönlicher Identität und der Fähigkeit Kontingenz oder Verbindungslinien im eigenen Leben auszumachen (vgl. ebd.). Dabei erfolgen notwendigerweise Auslassungen bzw. Aufwertungen einzelner Erinnerungen an Ereignisse, Beziehungen oder Einstellungen. Die Lebenser‐ zählung und damit die Bedeutungszusammenhänge von Lebensabschnitten werden dabei nicht einfach entdeckt, sondern konstruiert (vgl. ebd., S. 6). Die Voraussetzung zur Konstruktion der eigenen Identität ist somit die Fähigkeit Zusammenhänge herzustellen und dem eigenen Leben einen Erzählstrang zuzuordnen. Amina-Wahida ist zugleich Leserin bzw. Interpretin der Ereignisse in ihrem Leben als auch deren Gestalterin: On peut sans cesse inventer. Fabuler, mentir, simuler. Surtout en de pareilles circonstances. Car c’est une occasion unique de faire table rase de tout, pour s’inventer autre, ne croyez-vous pas? (Bey 2006b, S.-94) Je n’aurais pas pu imaginer meilleur dénouement à mon histoire, ne pensez-vous pas? (Bey 2006b, S.-97) Sie bleibt aber auch eine Figur in ihrer eigenen Lebenserzählung, der nicht alles Wissen über die Gründe und Ursachen bestimmter Entwicklungen offenbart 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 109 <?page no="110"?> 61 Vgl. auch „We negotiate our narrative self-construction in a continuous dialogue with significant others and their (presumed) expectations; in fact, our identities cannot be upheld without the co-operation of others.“ (Neumann und Nünning 2008, S.-8) wird. Ihr sind nicht alle Informationen über den Verlauf der Geschichte zugäng‐ lich. Sie wendet sich daher an ihr Gegenüber, dem sie einen Wissensvorsprung unterstellt und spricht mit diesem ‚vous‘ sowohl den/ die PsychologIn als auch die fiktiven/ impliziten Leser: innen an: „Mais dites-moi, dites-moi, vous qui écoutez, vous qui savez. Pouvez-vous l’entendre? Pouvez-vous m’entendre? “ (Bey 2006b, S.-108). Der Figur ist es wichtig gehört zu werden. Ohne Erinnerungen und ohne Sicherheit familiärer Zugehörigkeit bleibt ihre „Identität auf einen Prozess des Sprechens und der Selbstreflexion reduziert“ (Allrath und Surkamp 2004, S. 159). Das angesprochene ‚vous‘ ist/ sind der/ die andere(n), durch deren Existenz Amina sich selbst als eigenständige Individualität begreifen kann. Erst der Dialog mit dem Gegenüber, ihr ‚Gehört-werden‘, macht es für sie möglich, ihr Leben narrativ zu konstruieren und ihm so einen sinnhaften Zusammenhang zu verleihen. 61 Narrative Elemente sind eng an die jeweilige Kultur ihrer Entstehung ge‐ knüpft (vgl. Neumann und Nünning 2008). Wenn Aminas Identitätsentwurf gegen kulturelle Wertvorstellungen und Regeln verstößt, bleiben ihre Narra‐ tive/ ihre Lebenserzählung ohne Bezug zur lebensweltlichen Realität. Die Kultur, in der sie angesiedelt sind, bietet ihr keine Ausdrucksmöglichkeiten. Es bleiben Lücken, symbolisiert durch den Gedächtnisverlust. Des images me reviennent par bouffées. Parfois très nettes, avec des détails d’une précision étonnante, parfois floues avec des interférences qui brouillent toute possibilité de reconstitution. Une sorte de va-et-vient […]. (Bey 2006b, S.-154) Eine abschließende Kohärenz und Kontingenz ihrer Lebensgeschichte bleibt ihr verwehrt, sie bleibt ‚unpassend‘ in Bezug auf ihr Umfeld und findet darin keinen Platz: Je sais, ne me demandez pas comment, je le sais: ma révolte et mon besoin d’errance et d’oubli viennent d’un autre lieu. Ils se nourrissent tout au contraire de trop de mensonges, de trop de silences, d’autres rejets et surtout de la sensation de n’être jamais vraiment à ma place, où que j’aille. (Bey 2006b, S.-114) Es bleibt offen, ob das Gefühl, von Lügen und Schweigen umgeben zu sein, an die Konfrontation mit der Mutter Dounya erinnert, die nach 20 Jahren wieder in ihr Leben tritt. An dieser Stelle im Text wissen die Leser: innen noch nichts von Dounya, so dass eine verallgemeindernde Interpretation der „mensonges“ und 110 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="111"?> „silences“ möglich ist. Gewissheit bleibt ihr durch den Verlust der Erinnerungen nur in Bezug auf das Gefühl der Zurückweisung und des Nicht-dazu-gehörens. In diesem Zusammenhang spricht die Erzählinstanz von dem Bedürfnis des Vergessens, und nicht von dem Wunsch sich zu erinnern, sowie von dem Bedürfnis der errance. - 4.1.2.7 Errance und Semantisierung des Raums Ihre Unangepasstheit, ihre Revolte hat ein Gefühl der Heimatlosigkeit und fehlender Zugehörigkeit zur Folge. Es äußert sich in der errance, der Unrast, der Bewegung. Bereits im ersten Satz des Romans ist die Hauptfigur und Erzählin‐ stanz in Bewegung: „Je marche dans les rues de la ville“ (Bey 2006b, S. 13). Sie versucht dem Erdbeben zu entkommen und irrt ziel- und orientierungslos durch die Trümmer. Tout n’est qu’illusion. Je ne dois pas m’y arrêter. Je ne dois pas. Je dois fuir. Continuer à marcher. Les yeux fermés. Ne pas voir. Ne pas entendre. […] Il faut que je continue. (Bey 2006b, S.-52) Das Gehen nimmt (alb-)traumwandlerische Züge an. Die Ich-Erzählerin emp‐ findet das Bild der Zerstörung um sie herum als surreal, als Illusion. Sie versucht ihre Wahrnehmung, die ihr trügerisch erscheint, auszublenden. Sie scheint keine andere Handlungsoption zu haben als weiterzugehen. Die permanente, fluchtartige Fortbewegung ohne Möglichkeit der Umkehr klingt bereits im Romantitel an und wird im Verlauf des Romans wiederholt. Das erzählende Ich versteht es als Imperativ weiterzulaufen und sich nicht umzudrehen: „[…] cette phrase, cette ordre: cours, cours et surtout ne te retourne pas“ (Bey 2006b, S. 53). Die Stimme, die diesen Befehl gibt, scheint aus ihr selbst zu kommen: Tout se tait, et s’élève enfin cette voix poussée par un vent venu des territoires les plus sombres enfouis en moi, cette voix née d’une infime mais terrifiante contraction de la terre, qui se faufile à travers toutes mes peurs, tous mes silences et qui me dit, avance, oui, avance. Surtout ne les regarde pas, surtout ne les écoute pas, surtout ne te retourne pas. Avance et va, va jusqu’au bout de toi. (Bey 2006b, S.-108) Die Aufforderung nicht hinzusehen und zu hören wird hier wiederholt. Es bleibt nur die Option des Weitergehens, einer in die Zukunft gerichteten Bewegung. Der Appell, den Blick keinesfalls zurückzuwenden, unterstellt eine 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 111 <?page no="112"?> 62 Dies ist ein möglicher Hinweis auf die biblische Erzählung um die Frau Lots, die sich nach der Flucht aus der von Gottes Zorn zerstörten Stadt Sodom entgegen der Anweisung der Engel umdreht und daraufhin zur Salzsäule erstarrt. Teile der Geschichte um Lot finden sich auch im Koran (2010), u. a. in den Suren 7: 80-84, 11: 81, 15: 58-77, 27: 54-58, 29: 28-35. damit verbundene Gefahr. 62 Der Rückblick und damit die Erinnerung stellen eine Bedrohung dar, der sich Amina-Wahidas Unterbewusstsein mit der Auffor‐ derung sich nicht umzudrehen und weiter voranzugehen entgegenstellt. Ihre Unfähigkeit sich zu erinnern erleichtert es ihr, den Blick zurück zu vermeiden. Bewegung bedeutet für Amina auch, sich der Konfrontation mit ihrer eigenen Vergangenheit, mit sich selbst zu entziehen. Durch das Vergessen und die errance löst sich die Figur von ihren Bindungen an andere Personen. Die Loslösung von den Anderen ist ein Heraustreten aus dem Kollektiv und führt zu Einsamkeit und fehlender Zugehörigkeit. Selbst in ihrer Ersatzfamilie fühlt sie sich nicht vollständig zugehörig. Daraus folgt das Gefühl des Nicht-Angekommenseins und damit das Bedürfnis, sich immer weiter fortzubewegen. Es ist allerdings kein rein negativ empfundenes. Es ängstigt sie nicht „la seule, l’unique“ zu sein, auch mit der Konsequenz der Einsamkeit. Parallel zu Amina-Wahidas Erinnerungsprozessen wechseln die Räume und Orte, an denen das Geschehen stattfindet. Wenn man davon ausgeht, dass die „Identitätskonstitution, wie sie durch die subjektive Raumwahrnehmung vermittelt wird, als psychische Relation der Figuren zum Raum“ (Birk und Neumann 2002, S. 136) gesehen werden kann, eröffnen sich weitere Interpre‐ tationsansätze. Insbesondere der Gegensatz zwischen der Flüchtigkeit und Prekarität des Zeltlagers, in dem die Ich-Erzählerin nach dem Erdbeben lebt und der Dauerhaftigkeit des Hauses, in das Dounya sie bringt, ist signifikant. Das Zeltlager ist eine Zwischenstation. Es impliziert Bewegung und Mobilität und erinnert an eine nomadische Wohn- und Lebensweise. Amina-Wahida lebt mit Dadda Aїcha, Nadia und Mourad in einer selbst gewählten Gemeinschaft zusammen. Ihr Leben ist geprägt von Improvisationen, Chaos, Enge aber auch Nähe zu den anderen Erdbebenopfern. Nachdem Dounya in ihr ihre verloren geglaubte Tochter erkannt hat, zieht Amina-Wahida schließlich zu ihr und verlässt das Zeltlager. Dounyas Haus bildet einen starken Kontrast zur vorherigen Behelfsunterkunft. Es ist leer, kalt (Amina friert permanent trotz der Hitze draußen) und wirkt unbewohnt und statisch. Es finden sich nur wenige Möbel und Gegenstände, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen. Bis zum Schluss fühlt sie sich unwohl. Das Haus weckt in ihr keine 112 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="113"?> Erinnerungen: „Et cette maison qui ne me reconnaît pas, que je ne reconnais pas“ (Bey 2006b, S. 207). Dounyas Haus widerspricht der Sehnsucht nach errance und der fluiden, instabilen, aber dadurch offenen Identität, die sie repräsentiert. Im Haus ist die Ich-Erzählerin mit der statischen Identität Aminas - Dounyas Tochter - konfrontiert, die ihr von Dounya vorgegeben wird. Es widerspricht dem Identitätsentwurf Wahidas aus der Zeit des Lebens im Zeltlager, in der sie sich als frei und losgelöst von Bindungen entworfen hat: Je me suis laissé aller à une émotion incompatible avec ce qui m’a amenée là. Je voulais, je veux avancer, seule, libre, sans m’encombrer de vains attachements, sans me laisser guider par des sentiments. (Bey 2006b, S.-142) Das Haus wirkt wie ein Gefängnis und vermittelt Amina ein klaustrophobisches Gefühl: Oui, ce que je vois, ce que je ressens ici, c’est, profonde et inquiétante, une immobilité, une espèce d’intemporalité. Un temps immobile. Oui, c’est ça. À donner le vertige. (Bey 2006b, S.-143) Die Atmosphäre des Hauses vermittelt den Eindruck eines konservierten Le‐ bens, das statisch, zeitlos und unveränderbar ist. Amina ist nicht eingesperrt und dennoch verliert sie die Kraft bzw. den Willen zu gehen, obwohl sie den Wunsch dazu verspürt: Engourdissement, pesanteur, oisiveté et silence. On dirait que, depuis mon arrivée ici, j’ai avalé une bonne dose de tranquillisants, ou, plus forts encore, des stupéfiants aux effets si puissants, si prolongés, qu’ils annihilent en moi tout désir, toute envie d’aller de l’avant. (Bey 2006b, S.-167) Ihre Zerrissenheit äußert sich in Bewegungsunfähigkeit. Die ihr zugeschriebene Identität ist wirkmächtig. Ihre Mutter bindet sie mit ihrer aufopfernden Zunei‐ gung und einem klaren Identitätsangebot. Une femme qui me propose une histoire, un passé, un refuge et un amour que je ne peux mettre en doute. Il y a aussi autre chose, un sentiment indéfinissable lié à l’atmosphère de la maison, aux portes fermées, aux mystères que je soupҫonne, aux objets qui, sous la lumière du jour, semblent avoir pris un tout autre aspect, une vie propre, comme détachée d’un environnement extérieur dans lequel il ne leur est fait aucune place. (Bey 2006b, S.-147) Obwohl Amina-Wahida sich unwohl fühlt und spürt, dass sie die Kontrolle verliert, geradezu willenlos wird, ist sie gleichzeitig angezogen von Dounyas Angebot eines sicheren Lebens: Dounyas Haus übt eine mysteriöse Kraft auf sie 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 113 <?page no="114"?> aus. Es sperrt sie ein und bietet zugleich Schutz vor der Außenwelt, zu der sie sich nie ganz zugehörig fühlen konnte. - 4.1.2.8 Körperlichkeit Durch den Gedächtnisverlust fehlen der Ich-Erzählerin die Möglichkeiten, ihre Identität auf der Grundlage ihrer Erinnerungen, ihrer Herkunft, ihrer familiären und verwandtschaftlichen Beziehungen, oder auch ihrer Arbeit zu konstruieren. Auch die Kontakte zu ihrer Ersatzfamilie scheinen nach dem Umzug in Dounyas Haus abzubrechen. Nach einiger Zeit besucht Amina-Wahida das Camp erneut. Alles hat sich in der Zwischenzeit verändert und die Mitglieder ihrer Ersatzfamilie haben sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt (vgl. Bey 2006b, S. 171ff.). Mourad hat sich auf den Weg nach Europa gemacht. Dadda Aїcha wirkt gealtert und resigniert, „moins vive, moins combative, vieillie, atteinte de faҫon brusque par l’âge, ou peut-être par une toute autre usure“ (Bey 2006b, S. 172). Auch Nadia hat sich verändert, allerdings ganz im Gegensatz zu Dadda Aїchas Resignation: „Elle apporte un tel souffle de vie que j’ai du mal à la reconnaître […]“ (Bey 2006b, S. 175). Es stellt sich heraus, dass sie verliebt ist. Eindrücklich schildert sie Amina-Wahida die Beziehung zu ihrem Freund und ihre sexuelle Beziehung: „J’aime quand il m’embrasse, quand il me touche, quand il pose ses mains sur moi, quand il caresse mes cheveux, quand il effleure mes seins.“ (Bey 2006b, S. 177) Amina-Wahida ist zunächst überfordert mit der offenen Schilderung von Nadias Beziehung und sexuellen Bedürfnissen: „Je l’écoute en silence, stupéfaite par la crudité de ses propos. […] Je n’aurais jamais pensé qu’une jeune fille de son âge pouvait parler aussi librement de son corps, de ses sensations les plus intimes“ (Bey 2006b, S. 177). Sie erkennt, dass sie sich ihrer eigenen Sexualität und ihres Körpers entfremdet hat: „[…] je m’aperҫois que depuis très longtemps je ne suis plus à l’écoute de mon corps. Mais l’ai-je été un jour ? Je ne sais pas. Je ne sais pas“ (Bey 2006b, S.-178). Sie kann nicht so offen und freizügig über ihre Sexualität sprechen oder auch denken, sondern hat sich (noch) nicht von der moralischen Erziehung freimachen können, die (weibliche) Sexualität mit Tabus belegt: „Je sais depuis toujours […] à quel point je suis marquée et corrumpue par une morale exclusivement basée sur la faute et le péché, sur le châtiment et l’expiation“ (Bey 2006b, S.-178f.). Doch das Gespräch mit Nadia bringt in Amina-Wahida eine Entwicklung in Gang, in deren Folge sie sich mit ihrem Körper auseinandersetzt. Die Beziehung zu ihrem eigenen Körper und die Entdeckung der eigenen Sexualität stellen für sie einen ambivalenten Prozess dar, der gleichzeitig zur Erkenntnis der eigenen Bedürfnisse und zu einem Gefühl der Entfremdung führt: 114 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="115"?> 63 Vgl. dazu: „Her amnesia is not only intellectual but corporeal as well, and she must become reacquainted with her body when she sees herself in the mirror“ (Rice 2012, S.-113). 64 Die Reminiszenz an Lacans Theorie des Spiegelstadiums in dem Roman legt bereits das dem Text vorangestellte bekannte Zitats Arthur Rimbauds - „Je est un autre“ (Bey 2006b, S.-9) - nahe. Je suis debout dans ma chambre. Je suis debout face au miroir de l’armoire. Je suis nue. Je me regarde. Je me découvre. Je découvre mon corps. Le mien, sans aucun doute possible. Je suis à la fois regardée et regardante. (Bey 2006b, S.-181) Sie erkennt den eigenen Körper 63 . Dennoch wird nun stärker als zuvor deutlich, dass durch den Verlust ihres Gedächtnisses keine Sicherheit und Identität außerhalb ihres Körpers existiert. Sie ist auf die Gegenwart und ihren Körper zurückgeworfen: Je ne lis aucune empreinte, aucune trace sur ce corps qui m’apparaît comme étrange, étranger, depuis le jour où la terre a expulsé ses entrailles. Oui, étranger, au point d’oublier qu’il pouvait s’émouvoir. Je ne sais pas, je n’ai jamais su ce qu’est la jouissance, sauf celle que je me donne en cet instant. Je comprends maintenant, maintenant seulement, la profondeur et les ravages de l’oubli. Et… et il y a, debout au centre de la chambre, cette fille, Amina, qui se regarde dans la glace, qui me regarde… (Bey 2006b, S.-182) Die Entdeckung des eigenen Körpers wird zum Katalysator der folgenden Ereignisse, indem sich Amina-Wahidas Selbstbewusstsein stärkt. Durch die Rückgewinnung eines Gefühls der Körperlichkeit bringt sie den Mut auf Dounya zu hinterfragen und nach Informationen über ihre Vergangenheit zu suchen. Die Betrachtung des Ichs im Spiegel evoziert Lacans Theorie des Spiegelsta‐ diums 64 : Man kann das Spiegelstadium als eine Identifikation verstehen im vollen Sinne, den die Psychoanalyse diesem Terminus gibt: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung. (Lacan 1996, S.-178) Wie im Zitat Lacans angedeutet, entdeckt sich Amina-Wahida über die Wahr‐ nehmung ihres Körpers selbst, macht aber gleichzeitig die Erfahrung der Entfremdung. Ihr Körper kommt ihr fremd vor. Ihr Spiegelbild zeigt Amina als Fremde, die das Ich nicht vollständig integrieren kann und die ihr als die Andere erscheint. Wenn man Lacans Unterteilung des Ichs in je und moi Amina-Wahidas Identitätsbildung zugrunde legt, entspräche der Teil, der Amina darstellt, das je (vgl. Lacan 1996), d.-h. die soziale Rolle als Tochter Dounyas, als Mitglied einer Familie und einer Gesellschaft. Diese soziale Rolle fühlt sich für sie fremd an und 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 115 <?page no="116"?> passt nicht in das gefühlte Selbst(bild). Der Teil ihrer selbst, der sich als Wahida sieht, entspräche dem moi Lacans, also eher dem „Ideal-Ich“, das allerdings in der statischen Atmosphäre von Dounyas Haus zunehmend überlagert wird. Je und moi würden sich nach diesem Verständnis nicht vereinbaren lassen und drohen sich zu spalten. Die Auseinandersetzung mit ihrem Körper und ihrer Sexualität holt die Ich-Erzählerin zunächst aus dem Zustand der Lethargie und erlaubt es ihr, ihren eigenen Identitätsentwurf wieder zu stabilisieren. Sie konfrontiert Dounya mit ihren Zweifeln und motiviert sie dazu, die Geschichte des Mordes an ihrem Ehemann und ihrer Inhaftierung zu erzählen. In der Folge fällt die Ich-Erzählerin allerdings in die Untätigkeit zurück. Es gibt keine Möglichkeit die beiden Ichs in ein identitäres Gesamtkonzept zu integrieren. Die Spaltung in ein je und moi führt zur Handlungsunfähigkeit. - 4.1.2.9 Fazit Surtout ne te retourne pas Der Roman zeigt die Fragmentarisierung des Ichs, die Konstruktion der Ich-Spal‐ tung und Identitätssuche der Hauptfigur. Auslöser ist eine traumainduzierte Amnesie, in deren Folge die Ich-Erzählerin zwar zunächst orientierungslos ist und versucht sich zu erinnern. Sie fügt sich aber schnell in das Leben in einem Camp für Erdbebenopfer mit ihrer Ersatzfamilie ein, gibt sich selbst den Namen „Wahida“ („Première et unique, mais aussi seule“ (Bey 2006b, S. 85f.) und nimmt diese Identität als gewählte, auch mit der möglichen Konsequenz der Einsamkeit, an. Als Dounya ihr eine andere Identität, die als ihre Tochter Amina, offenbart, ruft das ambivalente Gefühle in ihr hervor. Die Identität als Amina verspricht Sicherheit, Zugehörigkeit und Dounyas Zuneigung, wird aber zugleich als extern zugeschrieben wahrgenommen. Für die Protagonistin bleibt es eine ihr zugeteilte Rolle. Amina-Wahida wünscht sich zu vergessen oder vollständig zu erinnern. Beides bleibt ihr verwehrt. Der Konflikt entsteht aus der Erfahrung der Figur eine Zeit lang („le temps d’un été“) die selbstgewählte, selbstbestimmte Identität als Wahida gelebt zu haben (in einer selbstgewählten Familie, in einer provisorischen Unterkunft). Die nun extern zugewiesene Rolle Aminas als ‚gute‘ Tochter kommt ihr wie ein fremdes Leben vor, das zwar einige Vorzüge enthält, aber dennoch nicht als das eigene angenommen werden kann. Dieser zentrale Konflikt, der durch das Mittel der Amnesie noch verstärkt wird, ist bis zum Ende des Romans ungelöst und scheint sich für die Hauptfigur auch durch die Therapie nicht zu entzerren. Die Spaltung bzw. die Fragmentarisierung des Ichs bleibt bestehen. Die postkoloniale Gesellschaft Algeriens als Ort der Handlung ist ausschlag‐ gebend für die Situation der Figur. Nicht so sehr über das Erdbeben, das auf 116 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="117"?> der tatsächlichen Naturkatastrophe von 2003 verweist, sondern über die gesetz‐ lichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die u. a. Frauen und Kindern keinen Schutz vor Misshandlungen durch den Ehemann und Vater gewähren; die eine Verheiratung der Tochter ohne deren Zustimmung vorsehen; die es allgemein Frauen erschweren, eine ökonomisch unabhängige eigenständige Existenz aufzubauen. Das offene Ende des Romans, das eine andauernde Unsicherheit der Identi‐ tätskonstruktion und das Scheitern einer stabilen Identität insinuiert, kann auch als Betonung der Bedeutung von Erinnerung gelesen werden. Amina-Wahida bleibt eine vollständige und gesicherte Erinnerung verwehrt und ihre Identi‐ tätsfindung im Unsicheren. Bey betont in Interviews und anderen literarischen Werken die Bedeutung einer kollektiven Erinnerung an nationale Ereignisse und Traumata wie den Bürgerkrieg der 1990er Jahre. In diesem Verständnis gelesen, wirft der Roman einen pessimistischen Blick auf die Folgen von fehlender oder verwehrter Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit. Gleichzeitig erinnert er selbst an das Erdbeben von 2003 - und thematisiert darüber hinaus den mangelhaften Umgang der Regierung mit der Katastrophe - und wirkt damit im Sinn eines Gegendiskurses dem Vergessen entgegen. 4.1.3 Von der dérangeante zur Chronistin - Strategie des Erzählens Die Analysen der ausgewählten Romane Maїssa Beys offenbaren Gemeinsam‐ keiten der beiden Protagonistinnen Malika (Cette fille-là) und Amina-Wahida (Surtout ne te retourne pas). Beide Figuren werden als „dérangeantes“ ausge‐ grenzt. Ihr unangepasstes Verhalten ist zunächst eine Gegenmaßnahme gegen familiäre Bedrohung: Seien es die sexuellen Übergriffe des Adoptivvaters bei Malika oder die drohende Zwangsheirat bei Amina. Diese frühen traumatischen Erlebnisse - bei Amina kommt noch die erlebte Katastrophe des Erdbebens hinzu - führen zu einer starken Verunsicherung des Selbstwertgefühls und einer psychischen Labilität. Malika wird eine „forte instabilité caractérielle“ (Bey 2006, S. 16) diagnostiziert. Amina-Wahida ist ebenfalls in psychologischer Behandlung und bezeichnet sich selbst als „une folle, complètement dérangée… […]“ (Bey 2006b, S. 46). Ihre Unangepasstheit ist gleichermaßen Ursache, Folge und Ausdruck ihrer „Verrückt-heit“, die zu einer Form des Protests wird. Beide Figuren setzen sich außerdem mit einer Leerstelle in Bezug auf ihre Vergangenheit auseinander: Malika ist eine Waise, Amina hat ihr Gedächtnis verloren. Weder Malika noch Amina haben die Option, die Wahrheit über ihre Vergangenheit herauszufinden. Die Rekonstruktion der eigenen Herkunft und Genealogie kann dadurch nicht gelingen. Andererseits birgt die Erinne‐ 4.1 (Re-)Konstruktion der Identität 117 <?page no="118"?> rungslosigkeit bzw. Unkenntnis über die eigene Herkunft auch das Potential, sich diese Vergangenheit selbst zu konstruieren und damit aktiv eine selbst‐ gewählte Genealogie und familiäre Herkunft zu gestalten. Dadurch erobern sich die Protagonistinnen ihre Subjektivität und wählen ihre Verwandtschafts‐ bezüge selbst. Familiäre Restriktionen, gesellschaftliche Regeln und Tabus, traditionelle Rollenzuweisungen an Töchter und Ehefrauen werden auf diese Weise umgangen. Die Protagonistinnen entziehen sich ihnen. Sie nehmen die fehlenden Erinnerungen bzw. fehlenden Informationen über die eigene Herkunft als Ausgangspunkt für eine selbstbestimmte Identitätskonstruktion. Malika erfindet die Kennlerngeschichte ihrer Eltern, Amina gibt sich einen neuen Namen. Sie versuchen der Verunsicherung ihres Selbst durch Narration etwas entgegenzusetzen, konstruieren eine neue Lebensgeschichte und dadurch Identität. Amina macht dies deutlich: On peut sans cesse inventer. Fabuler, mentir, simuler. Surtout en de pareilles circonstances. Car c’est une occasion unique de faire table rase de tout, pour s’inventer autre, ne croyez-vous pas? (Bey 2006b, S.-94) Beide Figuren sind zugleich Erzählerinnen auf einer weiteren Ebene: Sie be‐ richten ihre Lebensgeschichte (und im Fall Malikas ebenso die Geschichten anderer Frauen) einem oder einer externen Dritten. Das Erzählen hat die psy‐ chologische Funktion ihnen eine Verarbeitung ihrer traumatischen Erlebnisse zu ermöglichen und ihnen Kontrolle über ihre Lebensgeschichte zu vermitteln. Darüber hinaus ist sie eine Möglichkeit ihre jeweilige aktuelle Situation zu transzendieren: Beide leben an einem abgeschiedenen Ort - Malika im Heim, Amina-Wahida im Haus Dounyas - den sie obwohl sie keine Gefangenen sind, nicht verlassen können. Sie sind nach Zeiten der „errance“ (Amina) und „fugue“ (Malika) auf Stillstand an einem Ort jenseits der Gesellschaft beschränkt. Amina nennt das Haus ihrer Mutter/ Dounyas gar „espèce d’intemporalité“ (Bey 2006b, S. 143). Die Orte befinden sich also nicht nur am Rande der Gesellschaft, sondern geradezu außerhalb der Zeit. Als „dérangeantes“, als Nicht-Normale und gesellschaftlich Störende scheint ihnen das Leben außerhalb dieser Orte nicht möglich, bzw. ist ihnen eine relative Freiheit ihres Identitätsentwurfs nur innerhalb der geschlossenen Grenzen dieser Orte gewährt. Die beiden Protagonistinnen sind Außenseiterinnen. Sie wehren sich gegen einen vorgezeichneten Lebensentwurf und die gewalttätige Bedrohung durch ihre Familien. Sie fliehen, aber entkommen nicht: Malika lebt in einem Heim, Amina verliert ihr Gedächtnis. Letztendlich versuchen sie durch das Erzählen ihrer Lebensgeschichten eine stabile Identität jenseits der ihnen zugeschrie‐ benen zu konstruieren und ihrer statischen Situation zu entkommen. 118 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="119"?> Es bleibt der Wunsch nach Zugehörigkeit, der ihnen verwehrt bleibt. Malika imaginiert sich als Teil „de la tribu des hommes de vent et de sable, fille de ces nomades qui connaissent les secrets des étoiles […]“ (Bey 2006b, S. 183f.). Sie wünscht sich als Sandkorn in der Weite der Wüste aufzugehen (vgl. Bey 2006b, S. 183). Amina-Wahida versucht sich als Tochter Dounyas zu sehen, um Teil der Familie zu werden, doch scheitert an der externen Zuschreibung einer Identität, die sie nicht als eigene empfindet. Die in ihr konkurrienden Erinnerungen finden keine Auflösung. In beiden Figuren wird der Konflikt zwischen dem Wunsch nach Anerken‐ nung und Zugehörigkeit zur Gesellschaft auf der einen und nach individueller Lebensgestaltung und Identitätskonstruktion jenseits von gesellschaftlichen Tabus, Regeln und Rollenvorstellungen auf der anderen Seite deutlich. Damit charaktersieren sie sich nach Felski als „feminist self-discovery narrative“ (Felski 1989, S.-150). Die Lösung aus diesem Konflikt liegt für sie im Erzählen. Indem sie sich an eine externe dritte Person wenden, erlangen sie durch (Re-)Konstruktion ihrer eigenen Lebensgeschichten Kontrolle über ihre Identitätsentwürfe, die durch ständige Zuweisungen von außen bedroht sind. Das öffentliche Sprechen - auf einer Meta-Ebene die Veröffentlichung des Textes - erlaubt außerdem die Möglichkeit ihre Schicksale anderen zugänglich zu machen und sich aus ihrer Isolation zu befreien. Beide Protagonistinnen Beys sind am Ende der Romane an einen Ort ge‐ bunden. Eine weitere Möglichkeit der Auflösung des inneren Konflikts wäre das Verlassen der Gesellschaft, die ihnen keine freie Entfaltung zugesteht. Diese Möglichkeit, und wie sich dies mit einer narrativen Identitätskonstruktion verknüpft, zeigen die ausgewählten Romane Malika Mokeddems im folgenden Kapitel. 4.2 Identität in Bewegung - Grenzüberschreitungen, Mobilität und Raum im Werk Malika Mokeddems Malika Mokeddem wird 1949 in Kenadsa in Algerien geboren. Ihre schriftstel‐ lerische Karriere beginnt, nachdem sie bereits einige Zeit in Frankreich gelebt hat. Sie geht als Medizinstudentin von Oran aus zunächst nach Paris, um schließlich in Montpellier ihre Ausbildung als Ärztin zu beenden und sich dort niederzulassen (vgl. Bonn). Erst mit Anfang 40 beginnt sie zu schreiben und sich in ihrem häufig autobiographisch beeinflussten Werk mit ihrer Vergangenheit in Algerien auseinanderzusetzen. Ihr Lebensmittelpunkt bleibt Frankreich, von 4.2 Identität in Bewegung 119 <?page no="120"?> wo aus sie aufmerksam die politischen Ereignisse in Algerien verfolgt, aber nicht in ihr Heimatland zurückkehrt. Mokeddem schreibt aus dem selbstgewählten Exil, das ihr, obwohl sie auch in Frankreich von den Ereignissen im Algerien der 1990er Jahre durch fundamen‐ talistisch motivierte Morddrohungen unmittelbar betroffen ist, räumliche (und dadurch in gewissem Ausmaß auch emotionale) Distanz zu ihrer Familie und ihrer Vergangenheit gewährt. Dies unterscheidet die Ausgangssituation ihres Schreibens von der Maїssa Beys, die, in Algerien lebend, die Entwicklungen im Land und deren gesellschaftliche, soziale und kulturelle Auswirkungen vor Ort erfährt. Mokeddem setzt sich in ihrem Schreiben und ihrem Beruf als Ärztin sowie politisch für die Verbesserung der Lebensumstände von Migrant: innen ein. Sie verzichtet auf eine Karriere als erfolgreiche Nephrologin und betreibt jahrelang eine Praxis in einem zum Großteil von männlichen Arbeitsmigranten aus dem Maghreb bewohnten Stadtteil Montpelliers. Mokeddem nimmt darüber hinaus an verschiedenen politischen Aktionen teil, so z. B. in 2003 an der Unterzeichnung und Veröffentlichung einer Petition in der Zeitschrift „Elle“, die sich für ein Schleierverbot als „sichtbarem Symbol der Unterordnung der Frau“ einsetzt, 2008 an der Unterzeichnung des Manifeste des menteuses als Antwort auf den Urteilsspruch eines Gerichts in Lille, das eine Ehe für ungültig erklärte, weil die Braut über ihre Jungfräulichkeit gelogen hatte oder 2009 an der Unterzeichnung des Manifeste de 144, mit dem die Unterzeichner: innen erklären, den „Sans-Papiers“ zu helfen, obwohl dies strafbar ist (vgl. Hervé 2010). Malika Mokeddems Werk ist stark autobiographisch geprägt. Ihr erster Roman Les hommes qui marchent (Mokeddem 1990) erzählt die Geschichte von Leila, die als Tochter einer sesshaft gewordenen nomadischen Familie in der algerischen Wüste aufwächst und als erstes Mädchen in der Verwandschaft die Schule und später die Universität besucht. Unterstützung erfährt sie durch ihre Großmutter, die ihr Geschichten von ihren nomadischen Vorfahren erzählt und sie dadurch motiviert ihren eigenen Weg zu gehen; auch wenn dies bedeuten würde, ihr altes Leben und ihre Familie zu verlassen. Diese Geschichte ähnelt der Lebensgeschichte Mokeddems, auf die sie in ihrem expliziter autobiogra‐ phischen Text La transe des insoumis eingeht. Mokeddems Werke wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Prix Littré 1991 für Les hommes qui marchent, dem Prix collectif du festival du Premier roman de Chambéry, sowie dem Prix algérien de la fondation Nourredine Aba ebenfalls für Les hommes qui marchent. Dem Prix Afrique -Méditerranée de l’ADELF im Jahr 1992 für ihren zweiten Roman Le Siècle des sauterelles (vgl. Bonn). 120 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="121"?> 65 Malika Mokeddem: Mes hommes Mokeddem 2005, Préface. 4.2.1 „Ma vie est ma première œuvre“ 65 - La Transe des insoumis von Malika Mokeddem La Transe des insoumis (Mokeddem 2003a) erzählt in einer alternierenden Kapitelstruktur, unterteilt in Ici und Là-bas, den Lebensweg der Ich-Erzählerin Malika von einem wissbegierigen Mädchen aus einem Dorf in der algerischen Wüste bis zur erfolgreichen Ärztin und Schriftstellerin in Frankreich. Die Kapitel Ici berichten aus dem Leben Malikas in Montpellier beginnend mit der Trennung von ihrem Ehemann. Die Nierenspezialistin und Allgemein‐ medizinerin praktiziert in einem Viertel mit hohem Anteil von Migrant: innen aus dem Maghreb. Neben ihrer Praxis wird sie zunehmend erfolgreicher als Schriftstellerin und dadurch sichtbarer in der Öffentlichkeit. Sie beschreibt, wie sie zunehmend der Bedrohung durch islamistische Extremisten ausgesetzt ist, bis sie ihre Praxis kurzzeitig schließen muss. Die Kapitel Là-bas erzählen Ereignisse aus ihrer Kindheit und Jugendzeit bis zum Studium in Oran und letztlich in Paris. Den roten Faden der Erzählung bildet die Schlaflosigkeit, die insomnie der Erzählerin, die sie seit frühester Kindheit begleitet und in der Ausgangssituation der Erzählung - nach der Trennung - wieder verstärkt auftritt. Die Schlaflosigkeit ist zentrales Element des Textes. Für die Erzählerin bedeutet sie einerseits Freiheit und Entkommen aus der familiären Enge und Monotonie. Nachts kann sie ungestört von ihren zahlreichen Geschwistern lesen. Andererseits erfährt sie durch die Schlaflo‐ sigkeit zum ersten Mal ihre Andersartigkeit als Ausgrenzung. Sie kann sich dem kollektiven Einschlafen und gemeinsamen Hinübergleiten in eine andere Welt nicht anschließen (vgl. Mokeddem 2005, S. 160). Einzig die Großmutter, eine sesshaft gewordene Nomadin und zentrale Bezugsperson der Erzählerin als Kind, leistet dem Mädchen in den durchwachten Nächten Gesellschaft und erzählt der kleinen Malika Geschichten von ihrem Leben in der Wüste. Malika, die hauptsächlich in der Welt der Bücher lebt, setzt gegen vehementen Widerstand ihres Vaters ihren Wunsch, über die Grundschulausbildung hinaus zur Schule zu gehen, durch und beginnt schließlich ein Medizinstudium. Der Text endet damit, dass sie nach 24jähriger Abwesenheit in das Dorf ihrer Eltern zurückkehrt und erstmals seit ihrem Studium ihren schwer erkrankten Vater wiedersieht. - 4.2.1.1 Wieder-schreiben der Geschichte als Autobiographie La Transe des insoumis entsteht dreizehn Jahre nach der Veröffentlichung von Mokeddems erstem Roman Les hommes qui marchent (Mokeddem 1990) und 4.2 Identität in Bewegung 121 <?page no="122"?> 66 Der Fokus soll hier nicht auf der Untersuchung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Texte liegen, daher ist Les hommes qui marchent nicht Gegenstand dieser Analyse. Von Interesse ist allerdings die Wiederaufnahme des Stoffes. 67 Mokeddem selbst sagt dazu in einem Interview: „Les Hommes qui marchent comporte une large part d’autobiographie. Le nombre d’auteurs qui abordent l’écriture par l’autobiographie montre qu’à l’évidence celle-ci est, parfois, une étape obligée. Dans le premier jet, sorti dans l’urgence, je disais „je“ et les membres de ma famille avaient leurs veritables prénoms. Ensuite, une réécriture s’imposait qui procédait à une sorte de nimmt die darin erzählte Geschichte in Teilen wieder auf 66 . Die Protagonistin Leїla in Les hommes qui marchent, ebenfalls ein junges Mädchen aus einem Dorf in der algerischen Wüste, das sich ihren Bildungsweg erkämpft und dabei von ihrer Großmutter maßgeblich unterstützt wird, ist, wie in La Transe des insoumis deutlich wird, ein Alter Ego Mokeddems. Ein großer Teil des Romans wird durch Parallelen zu La Transe des insoumis als autobiographisch bestätigt. Ein Grund für das erneute Aufgreifen der Thematik ist nach Green die Möglichkeit des Wieder-schreibens der Geschichte. Dieser Impuls stellt eine Verbindung zur nomadischen Großmutter, der Erzählerin der Geschichten ihrer Kindheit, her: „Like the grandmother she reincarnates in her writing, Mokeddem does not hesitate to tell the same story twice, reshaping it according to the circumstances of the telling […]“ (Green 2008, S. 532) Das Wieder-Erzählen ist eine Praxis des mündlichen Erzählens und Teil der nomadischen Kultur der Großmutter. Eine mündlich erzählte Geschichte ist nicht statisch, sondern ihre Schwerpunkte verändern sich über die Jahre mit den gesammelten Erfahrungen und Erinnerungen der jeweiligen erzählenden Person. Sie wird angepasst an die Erzählsituation, an die Bedürfnisse der Zuhörenden oder der Erzählerin. Mokeddem stellt sich in diese Tradition des mündlichen Erzählens, indem sie den Plot einer Geschichte, ihrer eigenen Lebensgeschichte, wieder aufgreift und neu erzählt. Mit größerer zeitlicher Distanz zum Geschehenen wird die emotionale Annäherung an die Ereignisse durch die Wahl der Erzählerfigur (sie vs. ich) und das explizit im Text markierte autobiographische Erzählen möglich. Laut Green (2008) sowie der Autorin selbst, kann sie nun, mit zeitlichem Abstand und schriftstellerischer Erfahrung, „Ich“ sagen und autobiographisch schreiben. Dreizehn Jahre zuvor bei der Veröffentlichung ihres ersten Textes hätte dies für sie eine zu weitreichende Enthüllung ihrer Person bedeutet, weshalb sie ihre Geschichte fiktionalisiert. Allerdings sind die Gattungszuschreibungen von Autobiographie und Roman hier als dynamisch zu verstehen. Die Texte entziehen sich einer eindeutigen Kategorisierung und bleiben dadurch für verschiedene Les- und Verstehens‐ arten offen. Les hommes qui marchent ist in der Sekundärliteratur ebenso als autobiographischer Text 67 gelesen worden wie La Transe des insoumis als 122 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="123"?> mise à plat. Cette remise à l’ouvrage de l’écriture épuisait l’émotion“ (Chaulet-Achour 1998, S.-176). 68 Redouane (2003) bezeichnet La Transe des insoumis als Roman (vgl. ebd. S.-33), wohin‐ gegen Mertz-Baumgartner (2004) den Text als „klassische“ Autobiographie begreift (vgl. ebd. S.-26). 69 Die vorliegende Fassung ist in der Reihe Livre de Poche bei Grasset erschienen. Roman. 68 Das Werk selbst enthält keine Gattungsbezeichnung als Titelzusatz. 69 Damit wird die Funktion des Paratextes (vgl. Genette 1989) als Zuschreibung von Seiten des Verlags und der Autorin, die das Leseverhalten beeinflussen kann, unterlassen. Allerdings ist dem Text anschließend ein avertissement vorangestellt, in dem das erzählende Ich sich als Autorin des Romans Les hommes qui marchent zu erkennen gibt und, in der Tradition der Erklärung des Bemühens um Wahrhaftigkeit im Vorwort (vgl. Genette 1989), verdeutlicht, dass „seuls comptent dans ce cas le contexte et le souci de vérité qui sous-tendent ce texte“ (Mokeddem 2003a, S. 12). Aufgrund der darauf folgenden mehrfachen Hinweise auf die Identität von Ich-Erzählerin und Autorin, u.-a. durch Zitieren ihrer Werke oder von Interviews sowie Erwähnung ihres Eigennamens, kann von einem autobiographischen Text im Sinne Lejeunes (1975) ausgegangen werden. Zu Mokeddems Autobiographie-Verständnis gehört, dass das Ich beim Schreiben nie ganz zurücktreten kann und sich somit ohnehin im Text wieder‐ findet. On écrit avec ce qu’on est et ce qu’on fait… avec son savoir, ses expériences, ses connaissances. Ça passe par le corps et par la tête. […] Même si on peut écrire quelque chose de totalement imaginé il n’empêche que les sensations on les a éprouvées. (Mokeddem 2003b, S.-283) Mokeddems weiter Autobiographie-Begriff begreift den Impuls zu schreiben und die ihm zugrunde liegenden Emotionen als autobiographischen Anteil der Textproduktion. Sie sieht autobiographisches Schreiben nicht ausschließlich als Darstellung von Fakten oder chronologische Berichterstattung eines Lebens. Christiane (Achour 1996) stellt zu dieser Herangehensweise Mokeddems fest: „M. Mokeddem revient sur la matière autobiographique comme appel de création et non comme témoignage ou véracité des faits“ (Achour 1996, S. 304). Die eindeutige Einordnung ihrer Texte ist letztlich nicht möglich, für die Autorin aber auch nicht bedeutsam. Mokeddems Texte entziehen sich einer Kategorisierung und spielen mit den konventionellen Grenzen von Roman und Autobiographie. 4.2 Identität in Bewegung 123 <?page no="124"?> 70 Das Ich steht außerdem im Gegensatz zu der kollektiven Protagonistin, der Familie, in Les hommes qui marchent wie Green (2008, vgl. S.-534) feststellt. Zwischen der Publikation von Les hommes qui marchent (1990) und La transe des insoumis (2003) liegt ein Prozess, an dessen Beginn eine autobiographische Erzählung in Form eines Romans, also eine Fiktionalisierung steht; und an dessen Ende die Autobiographie die Fiktionalisierung der Geschichte wieder ein Stück weit aufhebt. Zudem zeigt La Transe des insoumis diesen Prozess auf inhaltlicher Ebene auf. Es ist die Geschichte einer Selbstfindung und Identitäts‐ konstruktion als Schriftstellerin, die nach und nach die Distanz zu ihren Texten verringert und schließlich als autobiographisches Ich 70 in Erscheinung tritt. Mokeddem selbst betont in einem Interview in 2003 - dem Erscheinungsjahr von La Transe des insoumis - ihren Wunsch, von sich zu schreiben, aber auch die Zurückhaltung diesen Schritt gänzlich zu tun: „[…] j’aurai encore beaucoup de pudeur à me dévoiler complètement. […] J’aimerais peut-être un jour écrire sur moi“ (Mokeddem 2003b, S.-286). Für die schreibende Person birgt es Gefahren, sich als Individuum zu er‐ kennen zu geben und aus der Ich-Perspektive zu schreiben, insbesondere wenn sie eine Frau ist. Der soziale Druck, Teil des Kollektivs zu bleiben und nicht als Individuum in Erscheinung zu treten, ist in einer entsprechend geprägten Gesellschaft groß (vgl. Chaulet-Achour 1998). Dabei droht nicht nur der Ausschluss aus der Familie oder Gemeinschaft. Die Gefahr wird sehr konkret für Mokeddem, die zunehmend Drohanrufe erhielt und deren Lesungen gestört wurden, bis sie schließlich aus Sicherheitsgründen ihre Praxis schließen und ihre Wohnung verlassen hat. Das traditionelle, europäische Konzept von Autobiographie wird „verstanden als literarische Rückgewinnung“ (Gronemann 2002, S. 118) und geht einher mit einem ebenfalls traditionellen, europäischen Verständnis von Individualität bzw. auch Identität. Gronemann stellt fest, dass beide Konzepte für maghrebinische Autor: innen, die auf Französisch schreiben, nicht greifen. Das Schreiben in einer anderen als der Muttersprache, noch dazu in der Sprache der ehemaligen Kolonialmacht, erfordert größere (Identitäts-) Konstruktionsanstrengungen als das Schreiben in der eigenen Muttersprache. Green (2008, vgl. S. 531) ergänzt, dass neben der Sprache auch der kulturelle und literarische Hintergrund das autobiographische Schreiben stark beeinflussen. Das Schreiben-von-sich setzt dann zwar einen Prozess der Selbsterkenntnis in Gang, entfernt die Schreibende aber gleichzeitig von identitätsstiftenden Faktoren wie Sprache, Herkunft, Familie, gesellschaftlichen und kulturellen Normen: 124 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="125"?> The telling of a woman’s life may be perceived as a potential transgression against the writer’s own background. In the Maghreb, the act of writing itself ironically risks separating the writer from the life she claims as her own. (Green 2008, S.-531) Die im Schreibprozess erzeugte individuelle Identität wird als nicht vereinbar mit der kollektiv vorgegebenen empfunden. Durch den Verlust der Zugehörig‐ keit zur kollektiven Identität entsteht eine Leerstelle, die es zu füllen gilt. Mokeddem selbst spricht davon, dass das Schreiben diese Leerstelle für sie zu besetzen vermag: „l’écriture comble mes manques“ (Mokeddem 2003b, S. 297). Die Entscheidung zu schreiben und zu publizieren steht am Ende eines Prozesses der kämpferischen Selbst-Findung gegen alle Widrigkeiten: als Frau, aus ökonomisch schwierigen Verhältnissen in Algerien stammend, aus einer stark patriarchal-traditionalistischen Gesellschaft in dem Land der ehemaligen Kolonialmacht kommend. Der letzte Schritt dieses Prozesses ist das öffentliche Von-sich-sprechen, den intimen Selbstfindungsprozess mit allen Verletzlichkeiten offenzulegen, also autobiographisch zu schreiben. Während die autobiographischen Anteile in Les hommes qui marchent noch fiktionalisiert werden und, laut Green, damit der „European masculine autobi‐ ographical tradition“ (2008, vgl. S. 535) - eventuell auch als bewusste Strategie - widersprochen wird, gibt sich das Ich in La Transe des insoumis klar zu erkennen. Allerdings dient das autobiographische Schreiben bei Mokeddem nicht als Mittel der Selbstdarstellung (wie in ‚traditionellen‘, europäischen, männlichen Autobiographien), sondern als Mittel der Selbstaffirmation. Est-ce une habitude d’expatriée et d’insomniaque de se raconter des histoires ? Est-ce par peur de me perdre ? […] Est-ce une façon d’exister envers et contre tout ? Comme ma grand-mère, j’ai besoin des mots des départs et des arrivées pour trouver le répit. (Mokeddem 2003, S.-26) Damit wird die Konstruktion der Identität als Schreibende zentrales Thema des Textes. Gleichzeitig ist das Schreiben selbst ein Versöhnungsprozess mit sich selbst. Das autobiographische Schreiben ermöglicht es, die Identität als Schreibende und den Weg dahin zu erzählen. Laut Gronemann (2002) greift die ‚klassische‘ Definition autobiographischen Schreibens als „eine Auseinandersetzung des Ich mit der Wirklichkeit, in deren Verlauf dargestelltes und darstellendes Ich miteinander vermittelt werden“ (Gronemann 2002, S. 28) nicht mehr. Die von ihr untersuchten Autor: innen, zu denen neben Serge Doubrovsky und Alain Robbe-Grillet auch Assia Djebar gehört, hinterfragen, so ihre Analyse, das traditionelle Verständnis von Autobi‐ ographie (nach Lejeunes „pacte autobiographique“), dem ein Subjektverständnis 4.2 Identität in Bewegung 125 <?page no="126"?> 71 Zum Zusammenhang zwischen individueller Identität und Erinnerung siehe folgenden Aufsatz von Gymnich: „Individuelle Identität und Erinnerung aus Sicht von Identitäts‐ theorie und Gedächtnisforschung sowie als Gegenstand literarischer Inszenierung“ (Gymnich 2003). zugrunde liegt, „welches das Ich im Anschluss an Descartes als ein intentionales Bewusstsein beschreibt“ (Gronemann 2002, S.-26). Die Wahrhaftigkeit, die das autobiographische Genre erfordert, erscheint ihnen ein Kunstgriff, der lediglich über einen Mangel an Kausalität des Lebensverlaufs hin‐ wegtäuscht, den es jedoch rückhaltlos - im Sinne einer „aufrichtigen“ Darstellung - lückenlos aufzudecken gilt. Die Konsistenz und Plausibilität traditioneller Lebensge‐ schichten bilde, ihnen zufolge, lediglich einen Ersatz für das nicht vorhandene Ich und kompensiere die fundamentale Mehrdeutigkeit von Erfahrungen. (Gronemann 2002, S.-28) In diesem Verständnis kann es keine Authentizität der Aufzeichnung der eigenen Lebensgeschichte geben, sondern stets nur eine Annäherung an die Wahrheit (vgl. Gronemann 2002, S. 28f.). Das autobiographische Schreiben in diesem Sinn kann so traditionelle Gattungsgrenzen überschreiten und die Mehrdeutigkeit und Offenheit der Ich-Konstitution abbilden. - 4.2.1.2 Insomnie als „transe des insoumis“ Die Kapitelstruktur des Romans verdeutlicht die Verknüpfung von individueller Erinnerung und Identitätskonstruktion. Die Vergangenheit, das Aufwachsen in der Wüste verbunden mit zahlreichen Konflikten mit den Eltern wird von der Erzählerin aus einer gegenwärtigen Perspektive in einen kohärenten Sinn‐ zusammenhang überführt, der mit ihrer aktuellen Situation in engem Zusam‐ menhang steht. 71 Die Erzählerin zeichnet Schlüsselerlebnisse ihrer Biographie seit der Kindheit nach, die ihren Lebensweg und ihre jetzige Situation prägen. Green spricht dabei von der Wiedergabe der Ereignisse in Form von „meditation on a theme“ (Green 2008, S. 531f.). Statt einer chronologischen Berichterstattung vergangener Momente orientiere sich der Text am „associative memory […] where events become a point of departure for personal reflection“ (ebd.). Fil conducteur des Textes und ihres Lebens sowie gleichzeitig Folge traumatischer Erlebnisse aber auch Instrument zu deren Verarbeitung ist die Schlaflosigkeit, die insomnie ebenso wie die transe als permanenter Zustand der Unruhe und innerer Zerrissenheit. So ist es konsequent, dass das Bett den Ausgangspunkt des Textes bildet. Nach Ende einer 17jährigen Ehe mit einem Franzosen (im Text nur beim Vornamen Jean-Louis benannt) empfindet die Erzählerin die Einsamkeit des 126 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="127"?> 72 Nach Redouane (2003, S. 31f.) ist das zentrale Motiv der literarischen Aufarbeitung der Lebensgeschichte die Trennung von Jean-Louis. Ich denke, dass dies nur das auslösende Ereignis ist. 73 Sie beginnt zu schreiben, sobald ihr Haus fertiggestellt ist, von dem andere sagen, es sei „à mon image, arabe et méditerranéenne“: „Comme si l’écriture avait attendu ce lieu-là pour enfin venir“ (Mokeddem 2003, S.-26). ehemals gemeinsamen Bettes als unerträglich. 72 Sie, die auch zuvor bereits unter Schlaflosigkeit litt, findet nun in der Situation nach der Trennung geplagt von Depressionen und Rastlosigkeit, gar keinen Schlaf mehr. Sie zerstört das gemeinsame Ehebett in einem verzweifelten Ausbruch mit einer Axt. Hier werden die beiden ähnlich klingenden Leitbegriffe des Textes insoumis und insomnie inhaltlich zusammengeführt: das Objekt der gemeinsamen Nächte wird in einem Zustand der Schlaflosigkeit und in einem Akt der Aufsässigkeit zerstört. Um zur Ruhe zu kommen, zieht sie sich an den Ort ihres Schreibens, in ihr Arbeitszimmer, zurück. Dieser Raum, in dem die Auseinandersetzung und das Niederschreiben ihrer Vergangenheit in Algerien begannen, löst die Erinnerungen in den nun folgenden Là-bas Kapiteln aus: Une grande mezzanine au-dessus du salon me tient lieu de bureau. C’est là que j’écris. J’ai commencé à écrire là. L’Algérie. […].. J’ai écrit le pays après des années de rupture. Dans l’endroit suspendu de l’écriture. […] Ce soir de début mars 1994, le vent, l’errance entre les lits, la solitude peut-être me ramènent au désert. Là-bas […]. (Mokeddem 2003, S.-16f.) Ihr Arbeitszimmer wird damit zum Zwischenraum im doppelten Wortsinn: das Mezzanin, über dem Wohnzimmer zwischen den beiden Stockwerken konstruiert, ist „l’endroit suspendu“, in dem sie ihre schriftstellerische Tätigkeit und die Auseinandersetzung mit ihrem Herkunftsland Algerien, beginnt 73 . Es wird zu dem Raum, in dem sie sich Algerien nach langer Zeit über das Schreiben emotional wieder annähert. In diesem Raum wird das Schreiben zum symbolischen Zwischenraum zwischen ihrer Wahlheimat Frankreich und Algerien. Nach der Trennung flüchtet sie sich in diesen Raum und beginnt ihre „errance des lits“, den Erinnerungsprozess ausgelöst durch die Schlaflosigkeit, die sie mit ihrer Kindheit verbindet. Das Bett, für sie Symbol für Schlaflosigkeit statt für Schlaf, bildet den Raum der als „Reiz für den Abruf von individuellen Erinnerungen aus dem episodischen Gedächtnis“ (Gymnich 2003, S. 44) fungiert und sich „unmittelbar auf die Identität des Individuums [auswirkt]“ (ebd.). 4.2 Identität in Bewegung 127 <?page no="128"?> Là-bas, je n’avais eu un lit que bien tard. Là-bas, j’avais conquis de haute lutte le droit de dormir ou plutôt de veiller seule. Le droit à l’insomnie rivée aux livres, emportée par leurs ailleurs. Dans des couchages improvisés, menacés, nomades, l’insomnie, la solitude et la lecture avaient été mes premières libertés. (Mokeddem 2003, S.-17) Die Erzählerin kehrt damit in der Situation des verletzten Selbst(wert)gefühls nach der Trennung in ihre Kindheit, an den Beginn ihres Kampfes um Unab‐ hängigkeit und Selbstbestimmung zurück. Ihre Selbst-Werdung ist dabei eng verknüpft mit ihrer Schlaflosigkeit, der Einsamkeit und der Literatur (schreiben und lesen), einer Trias, die für ihre Identitätskonstruktion bestimmend ist. Sie beginnt einen Erinnerungsprozess, ausgelöst durch die Schlaflosigkeit. Das Schreiben mit einer expliziten Ich-Erzählerin ist der Versuch einer Verar‐ beitung. Das Ich steht dabei sowohl für einen Prozess der Rückeroberung des Selbstwertgefühls als auch für das Gefühl der Isolation (vgl. Green 2008, S. 536), ausgelöst durch die Trennung von Jean-Louis und verstärkt durch die Schlaflo‐ sigkeit. Beides, Schlaflosigkeit und Isolation, sind zentrale Themen seit ihrer frühesten Kindheit und seitdem für sie ambivalent besetzt. Die Ich-Erzählerin leidet darunter, aber gleichzeitig wird die Schlaflosigkeit ebenso zu einem Akt der identitätsstiftenden Rebellion, der titelgebenden Trance der Aufsässigen: […] insomnia becomes a site of resistance for a proudly separate identity: she finally calls it “la transe des insoumis”. (Green 2008, S.-536) Die Schlaflosigkeit beginnt als Kind mit der Angst unter der gemeinsam mit allen Geschwistern geteilten Decke zu ersticken (vgl. Mokeddem 2003, S. 20). Die Erzählerin ist das älteste Kind einer vielköpfigen Familie: ihre Eltern, die acht Geschwister, die Großmutter, sowie zeitweise der Onkel mit Familie leben auf engstem Raum zusammen. Zum Schlafen werden daher Matten auf dem Boden verteilt. Die Erzählerin kann nicht schlafen und ist von Beginn an von der geteilten Ruhe ausgeschlossen: […] j’observe avec effarement le sommeil des autres. Ainsi soudés par la même absence, les paupières jointes, ils figurent une coalition sournoise dont je me trouve exclue. […] Je hais le sommeil. Je voudrais pouvoir ne jamais dormir. (Mokeddem 2003, S.-20f.) Der Schlaf bzw. die Schlafsituation der vielen Geschwister ist für die Erzählerin kaum erträglich. Sie leidet unter der Enge, dem Geruch des Urins der jüngeren Geschwister und der De-Individualisierung der vielen Körper. Die Kinder scheinen nur noch einen gemeinsamen Körper zu bilden. Die Körpergrenzen zwischen ihnen lösen sich auf: 128 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="129"?> […] je me trouve enfin, sous tous les corps. Comme si la couche familiale s’était creusée en fosse commune. […] Comment vais-je pouvoir déboîter mes membres, ma poitrine, de ceux des autres? (Mokeddem 2003, S.-29) Zusätzlich zu dem Gefühl des Körperverlusts und der Selbstauflösung in der Masse der kindlichen Körper, belastet das gemeinsame Schlafen die Erzählerin durch die Nivellierung der Bedürfnisse der Einzelnen. Sie will sich nicht fügen, wodurch ihre Schlaflosigkeit zur ersten Rebellion wird: […] allonger les uns contre les autres comme des sardines dans une boîte. Je me réjouis d’avoir échappé à cette remise en ordre, ce nivelage du corps familial. […] Mon insomnie vient pour une part de là. Elle est une résistance d’abord instinctive à l’endormissement qui réduit tous les individus en un ensemble informe. (Mokeddem 2003, S.-49) Durch ihre Schlaflosigkeit distanziert sie sich von der Familie und steht als Beobachterin des Schlafs der anderen daneben. Es ist der erste Akt ihre Indivi‐ dualitätssuche vom kollektiven Körper der Familie abzugrenzen. Da sie sich nicht in den Schlaf der anderen integrieren kann, zieht sie sich zur Großmutter, der Mutter ihres Vaters, zurück, die ihr zur Beruhigung Geschichten erzählt: […] elle murmure des contes, des récits nomades. Grand-mère est toujours très en verbe la nuit. Peut-être a-t-elle des angoisses elle aussi. Maintenant je le pense. Exilée de sa vie de nomade à un âge tardif, elle n’a plus que les mots pour fuir l’immobilité sédentaire et retrouver ses départs et ses arrivées. (Mokeddem 2003, S.-21) Die Schlaflosigkeit der Erzählerin mischt sich hier bereits in ihren frühesten Erinnerungen (im Alter von vier Jahren) mit Erzählungen der Großmutter aus ihrem Leben als Nomadin. Sie wird als im Exil Lebende beschrieben, die ihr Leben als Nomadin im Alter aufgab, um bei der Familie ihres Sohnes zu bleiben. Ersatz für das Umerziehen sind ihre Erinnerungen und Geschichten. Die Zeit mit der Großmutter, in der sie dem Trubel und der Gemeinschaft der Großfamilie entkommt und alle anderen schlafen, wird prägend für die Erzählerin. ‚Exil‘ und ‚Nomadentum‘ werden von frühester Kindheit an zu Leitbegriffen ihres Lebens. Die Unruhe, die sie empfindet, und das Bedürfnis nach Individualität scheinen sich von der Großmutter auf die Enkelin zu übertragen und verbinden die beiden in einer kontinuierlichen, generationenübergreifenden Suche nach persönlicher Freiheit. Die Geschichten der Großmutter stellen für sie eine Fluchtmöglichkeit aus der Enge der familiären Verpflichtungen dar. Sie verknüpfen sich mit ihrer Schlaf‐ losigkeit und ihrem Bedürfnis nach Unabhängigkeit und einem Ausbruch aus der Enge der Verhältnisse. Die Großmutter erkennt die Verbindung zwischen 4.2 Identität in Bewegung 129 <?page no="130"?> 74 Die Analyse des Romans folgt in Kapitel 4.2.2. den Bedürfnissen nach Freiheit und der Insomnie ihrer Enkelin: „Tu ne dors pas parce que tu as soif. Et tu ne sais pas où ta soif va prendre fin“ (Mokeddem 2003, S. 163). Die Schlaflosigkeit wird zu ihrem ersten Akt der Unabhängigkeit und ihrem ersten Exil. Die Großmutter wird zur weiblichen Vorbildfigur für den Versuch des Ausbruchs aus dem (familiären) Kollektiv. Die Erzählerin empfindet den Schlaf insbesondere durch die Entgrenzung der Körper unter der geteilten Decke als bedrohlich. Durch eine Erzählung der Großmutter wird er außerdem in enge Verbindung zum Tod gebracht. Die Großmutter erzählt ihr von dem Tag, an dem ihre eigene Mutter stirbt. Sie war noch ein Kind, ihr Bruder noch ein Säugling. Als er zu schreien beginnt, ohne dass die Mutter reagiert, legt sie den Bruder an die Brust der Mutter. Als der Vater zurückkehrt, wird ihr bewusst, dass die Mutter bereits gestorben war. Sie kennt zu dem Zeitpunkt den Unterschied zwischen Schlaf und Tod noch nicht. Die Großmutter reagiert als Kind auf dieses Trauma mit einem übermäßigen Schlafbedürfnis, ihr Bruder hingegen mit Schlafstörungen (Mokeddem 2003, S. 161f.). Mit der semantischen Verknüpfung von Schlaf und Tod durch die Erzählung der Großmutter rührt die Erzählerin auch an ein eigenes Trauma, das sie allerdings nur andeutet. Sie sieht darin die eigentliche Ursache ihrer Schlaflosigkeit und weiterer sie prägender Dispositionen wie u. a. das von Konflikten geprägte Verhältnis zu ihrer Mutter: En réalité j’ai totalement enfoui un drame qui remonte à la prime enfance. C’est l’oubli originel, l’effacement fondateur. […] Il est à l’origine de tout. De ma relation à la mère. De mon insomnie. […] De mon absence du désir d’enfanter. (Mokeddem 2003, S. 182) Das traumatische Ereignis, das sie als Ursprung ihres Vergessens bezeichnet, wird in La transe des insoumis nicht weiter erwähnt. Allerdings weist die Erzählerin bereits darauf hin, dass sie es zu einem späteren Zeitpunkt gern in einem Text verarbeiten würde. 2008 schließlich erscheint bei Grasset der Roman Je dois tout à ton oubli  74 , in dem Mokeddem von dem gewaltsamen Tod eines „bébé de la honte“ erzählt, dessen Zeugin die Protagonistin des Romans, zu dem Zeitpunkt ein Kind, wird. Sie sieht ihre Mutter das Kind ersticken und erleidet ein Trauma, in dessen Folge sie diese Episode ihrer Kindheit verdrängt. Die Vermutung liegt nah, dass dies oder ein ähnliches Ereignis, Ursache des erwähnten Traumas ist. Die Schlaflosigkeit, die sie mit der im Alter nun auch insomnischen Groß‐ mutter sowie dem Großonkel teilt, bildet ein verbindendes Merkmal, eine Art Erbe, das von der Großmutter auf die Enkelin übergeht. Die Insomnie wird 130 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="131"?> 75 Die Bedeutungen von la transe werden im Petit Robert folgendermaßen definiert: „1. Inquiétude ou appréhension extrêmement vive. 2. État du médium dépersonnalisé comme si l’esprit étranger s’était substitué à lui“ (Rey et al. 2001, S.-2565). somit Erkennungszeichen einer Genealogie, die die Erzählerin mit der Familie des Vaters verbindet und eine andere Gemeinschaft zu der der schlafenden Geschwisterschar bildet. Das isolierte Ich konstruiert sich so eine alternative, selbst gewählte Genealogie und Familie. Die Familie bzw. das Kollektiv, dem sie durch Geburt, Tradition und sozialen Regeln angehört, von der sie aber durch ihre Schlaflosigkeit getrennt ist, wird ersetzt durch die Gemeinschaft der insomniaques. Die Schlaflosigkeit wird zum Mittel im Kampf für die eigene Individualität, gegen den Tod (des Selbsts). Gleichzeitig kann sich die Erzählerin der Tradition ihrer nomadischen Vorfahr: innen anschließen, die durch ihre Erzählungen und Geschichten den Tod überdauert. Die Tendenz zur Rebellion verbindet die Gemeinschaft der Schlaflosen. Sie verweigern sich der sozialen Konvention des nächtlichen Schlafens und werden zu einsamen Held: innen im Kampf gegen den Schlaf: „L’insomnie, c’est l’héroїsme du lit, dit Cioran. Pour moi, l’insomnie, c’est la transe des insoumis“ (Mokeddem 2003, S. 166). Diese Beobachtung, die gleichzeitig titelgebend ist, enthält die Homöonyme Insomnie/ insoumis und konstruiert so eine semantische Beziehung zwischen der Schlaflosigkeit und der Rebellion, der Aufsässigkeit. Auch der Begriff der transe ist doppeldeutig: das Homonym bezeichnet sowohl die Trance, d. h. einen Zustand der Extase oder Hypnose, in dem das Bewusstsein nicht mehr die Kontrolle über den Körper hat, als auch einen Zustand ängstlicher Qualen 75 . Damit wird die „transe des insoumis“ zu einem mehrdeutigen Zustand der Aufsässigen, der Rebellischen, der Unangepassten, die - wie in Trance - nicht anders handeln können als sie es tun; die aber auch die Kehrseite ihres Unangepasstseins, die der Ängste und Einsamkeit, sehen. - 4.2.1.3 Körperlichkeit Die Erzählerin zieht sich als Reaktion ihrer Schlaflosigkeit als Kind nachts immer öfter zu ihrer Großmutter zurück. Die Schlaflosigkeit trennt sie vom als Einheit empfundenen familiären Körper: „Avec le droit à l’insomnie, c’est celui d’avoir un corps à moi, distinct de la cellule familiale, que je conquiers“ (Mokeddem 2003, S. 11). Die Nacht wird zur Bedrohung der körperlichen Integrität durch die ununterscheidbare Masse der Kinderkörper unter der gemeinsamen Decke ebenso wie durch die Dunkelheit in dem am Rand der Siedlung stehenden Haus der Familie in der Wüste. Die sich in der Dunkelheit auflösenden Konturen empfindet die Erzählerin als bedrohlich, Licht und Tag hingegen schärfen die Konturen und sorgen für Integrität des Körpers. Sie spürt 4.2 Identität in Bewegung 131 <?page no="132"?> ihren Körper besonders in der Hitze der Wüste. Sie sucht immer wieder eine bestimmte Düne auf, um dort Zeit zu verbringen und ihren familiären Pflichten zu entkommen. Dabei werden ihr Körper und die Düne zu einer Einheit: „Je fais corps avec cette dune, la Barga“ (Mokeddem 2003, S. 88). Die Düne gibt ihr „une impression de plénitude“ (Mokeddem 2003, S. 92), die ihrem Körpergefühl sonst fehlt. Ihre Verschmelzung mit der Düne wird zum Bedürfnis, insbesondere nach dem sie mit 15 Jahren auf den Feierlichkeiten des „déclenchement de la révolution algérienne“ (Mokeddem 2003, S. 143) von einer Gruppe Männer angegriffen und fast getötet wurde. Sie trug kein Kopftuch und wehrte sich, nachdem sie sexuell belästigt wurde. Cependant, une fois, faute d’avoir eu ma peau, la sauvagerie a tué en moi l’Algérie pour longtemps. […] Un soir de 1er novembre […] j’avais failli être lynchée seulement parce que je n’étais pas voilée. (Mokeddem 2003, S.-81) Die Erzählerin berichtet, dass sie diesen Vorfall verschweigt bis sie ihn in Les Hommes qui marchent literarisch verarbeitet. In La Transe des insoumis sieht sie dieses Erlebnis als Ursprung ihrer emotionalen Heimatlosigkeit: „De tous les mots restés dans ma gorge avec leur entière monstruosité, un seul résume cette ruine: apatride. Je me suis sentie apatride“ (Mokeddem 2003, S. 81). Ihr sich gerade erst entwickelnder weiblicher Körper wird zum Objekt männlicher Begierde und gesellschaftlicher Verbote, zu ihrem Feind. Sie imaginiert sich einen Ersatzkörper durch das Aufgehen in der Düne: […] je me suis inventé un corps de substitution. Un corps fictif mais conquérant qui s’en allait à travers les aventures des lectures, qui transportait mes rêves hors du naufrage des dunes, abandonnant volontiers le corps blessé […]. Je l’observais alors de l’extérieur, de loin, ce corps et le persiflais: « Crève sur place et que ton pays crève en toi. Moi, je suis devenue apatride-! -» (Mokeddem 2003, S.-141) Dieses Ereignis ist führt zu einer emotionalen Trennung von Algerien, an dessen Feiertag der Unabhängigkeit, dem 1. November, ihr Gewalt angetan wird. Sie begreift sich selbst danach als Staatenlose und von ihrem Heimatland Verstoßene, als apatride. Green stellt fest, dass „the mob action has created an indissoluble link between her oppression as a woman and the new Algerian nation“ (Green 2008, S. 538). Es folgt eine Dissoziation vom Körper. Sie projiziert das Erlebte auf ihren (weiblichen) Körper, der sie zu einem Opfer (männlicher) Gewalt macht. 132 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="133"?> 76 Zusätzlich beobachtet Wolf (1992) einen Zusammenhang zwischen dem Eintritt in männlich dominierte Strukturen und Anorexie bzw. Bulimie. Die Erzählerin befreit sich von den Erwartungen an sie als Mädchen und drängt in männlich dominierte Institu‐ tionen und Diskurse vor (zunächst als eines der wenigen Mädchen im Gymnasium; sie wehrt sich gegen Misogynie in Schule und Hochschule etc.). 77 Vgl. Mokeddem (2003, S.-80): „le sentiment d’intégrité“, „d’étanchéité de mon corps“. J’avais eu des envies de meurtres en masse après le traumatisme de ce drame. […] À défaut, je lui en avais longtemps voulu à ce corps d’en avoir été la victime. En somme, je le lui ai fait payer en le désertant (Mokeddem 2003, S.-141). Bereits zuvor hatte die Erzählerin häufig das Essen verweigert: „je ne mange plus“ (Mokeddem 2003, S. 33), „les livres sont maintenant mes seuls vivres. Je suis devenue anorexique“ (Mokeddem 2003, S. 117). Nach diesem Ereignis, in dessen Folge sie mit ihrer Angst und Wut allein gelassen wird, entwickelt sie eine starke Abneigung gegenüber ihrem Körper und projiziert ihre Andersartigkeit auf ihn. Was zunächst aus einer traumatischen Situation heraus entstand, wird für sie zur Möglichkeit der bewussten Abgrenzung. Es lässt sich schlussfolgern, dass die Anorexie für sie zum Mittel wird, ihren entfremdeten Körper zu bändigen: „apprivoiser ce corps ensauvagé“ (Mo‐ keddem 2003, S. 140). Ihr Verhalten ist von Kindheit an unangepasst, sauvage. Sie wehrt sich gegen die ihr übertragenen Aufgaben als ältestes Mädchen im Haushalt und entzieht sich weiteren Verhaltensregeln und Erwartungen an sie. Dazu gehört auch keinen wohlgenährten, weiblichen Körper zu entwickeln, wie ihre ständig schwangere Mutter oder auch ihre jüngere, korpulentere Schwester. So entzieht sie sich dem geltenden weiblichen Schönheitsideal. Während sie sich in ihrem rebellischen Verhalten einrichtet, nimmt sie ihren Körper als Wildwuchs wahr. Auf ihn überträgt sie den Druck der sozialen Anpassung 76 . Während sie sich vom familiären Körper trennt und zu einer einzelnen „Zelle“ wird, scheinen die anderen die Nähe der Körper als tröstlich zu empfinden, insbesondere im Angesicht der Weite und den Extremen der Natur in der Wüste. Die „densité humaine“ scheint sie vor dem „espace vide, le désert, la mort“ (Mokeddem 2003, S. 114) zu schützen. Hierin liegt der Unterschied zur Wahrnehmung der Erzählerin, die die Düne sowie die Weite der Wüste als Versprechen von Freiheit begreift. Die De-individualisierung durch die Enge der Familie bedeutet für sie im Kontrast dazu nicht Sicherheit, sondern Beschränkung. Die Erzählerin fürchtet den Verlust der Einheit ihres individuellen Körpers und dessen Auflösung im Kollektiv, sowohl dem der Familie als auch dem der gesamten algerischen Gesellschaft. Es geht ihr um die Bewahrung der körperlichen Grenzen und der Integrität des Körpers. 77 Gleichzeitig beschreibt 4.2 Identität in Bewegung 133 <?page no="134"?> 78 Malika ist als älteste Tochter gemeinsam mit ihrer Mutter für den Haushalt und die Aufsicht über ihre jüngeren Geschwister zuständig. Während sie arbeitet, erlauben die Eltern ihren Brüdern zu spielen. Ebenso wird die Zuneigung der Eltern ungleich auf die sie die Trennung von der Familie mit der Metapher der Amputation. Sie reißt sich aus dem familiären Körper heraus, schändet ihn: „Je suis parvenue à m’arracher au corps familial. Je suis cet arrachement. Une particule, une parcelle de peau avec des manques pour tout sens“ (Mokeddem 2003, S.-128). In der Wahrnehmung ihres Körpers offenbaren sich mehrere Ambivalenzen: Einerseits will sie der Entgrenzung der Körper ihrer Geschwister im Schlaf entkommen; andererseits sucht sie die Auflösung ihrer körperlichen Grenzen in der Wüste. Sie fühlt sich als Heimatlose und von ihrem Land verstoßen. Gleichzeitig gibt die spezifische Landschaft in Form der Wüste ihr ein Gefühl der Vervollständigung. Die gewollte Trennung von der Familie und dem fami‐ liären Körper wird beschrieben durch das Bild der Amputation, einem massiv invasiven, aber eventuell lebensnotwendigen Eingriff. Diese ambivalente Beziehung zu ihrem Körper offenbart den inneren Konflikt der Erzählerin sowie ihr Ringen um körperliche Einheit und Identität. Die Gemeinschaft des familiären Kollektivs empfindet sie als beengent und flüchtet sich daraus in die Schlaflosigkeit und Gesellschaft ihrer Großmutter. Die Tren‐ nung vom Kollektiv aber wiederum, der Metapher der Amputation folgende, zerstört dessen Einheit und lässt sie isoliert zurück. Dieser Konflikt trifft vor allem Mädchen, die Lebensentwürfe unabhängig von familiären Vorstellungen und Verpflichtungen verfolgen. Die Erzählerin fragt sich, wie viele außer ihr diesen Schritt wagen: „Quel est le nombre de ces amputées de la liberté? “ (Mokeddem 2003, S. 178). Die „amputées de la liberté“ sind in ihrer Beschreibung Mädchen, die sich aufgrund der gesellschaftlichen Erwartungen, der Normen und Traditionen entscheiden müssen zwischen der Sicherheit und dem Trost der Familie und der Familienzugehörigkeit und dem Bruch, der zwar persönlichen Erfolg bedeuten kann, aber zur Einsamkeit führt, d. h. sie zu Waisen, „orphéline“ (Mokeddem 2003, S.-178), macht. Die Erzählerin reagiert auf die Ambivalenz der Situation bzw. den Konflikt ihrer Bedürfnisse nach Zugehörigkeit einerseits sowie nach Freiheit anderer‐ seits mit Anorexie und dem Rückzug ins innere Exil. - 4.2.1.4 Lesen, Schreiben und Inneres Exil Sie nutzt ihre Schlaflosigkeit, um zu lesen. Bücher und Wissen bilden für die Erzählerin seit frühester Kindheit einen Ausweg aus dem als monoton und trist empfundenen Alltag in der Wüste. Lesen wird für sie zum Trost und zur Flucht aus familiären Verpflichtungen 78 in eine andere Welt mit alternativen 134 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="135"?> Jungen und Mädchen verteilt. Die Asymmetrie der elterlichen Liebe und Fürsorge treibt sie früh in eine rebellische Haltung gegenüber dieser empfundenen Ungerechtigkeit. 79 Besonders präsent sind Vertreterinnen der französischen feministischen Literatur. Explizit erwähnt bzw. zitiert werden u. a. Simone de Beauvoir, Marguerite Duras, Simone Weil und die Abenteurerin und Reiseschriftstellerin Isabelle Eberhardt. Lebensentwürfen: „La lecture écarte les préoccupations. Je ne peux m’endormir qu’avec la vie des autres. Dans une autre vie“ (Mokeddem 2003, S.-45). Die Lektüre, oftmals französische oder europäische Klassiker 79 , ist aber nicht nur Eskapismus, sondern wird zum Akt der Rebellion und durch den Gewinn an Wissen auch zum Beginn der Entfremdung von ihrer Familie. Zwischen ihr und ihren Eltern herrscht „le silence subversif “ (Mokeddem 2003, S. 52). Die Abgrenzung durch Bildung wird ambivalent als Freiheit und Einsamkeit, sogar als Exil, erfahren: Ma liberté et ma solitude. Les deux vont ensemble. Pour moi, elles ont grandi ensemble dans cet exil magnifique, le savoir. Le savoir est pour moi le premier exil. (Mokeddem 2003, S.-158) Sie empfindet sich selbst als immer weniger zugehörig und ihre Familie nimmt sie mehr und mehr als Gast (Invitée) wahr (Mokeddem 2003, S. 120). Zum Symbol für das sich ändernde Verhältnis zwischen Eltern und Tochter wird das nach der Unabhängigkeit eingerichtete Gästezimmer der Familie, die pièce des invités. In der euphorischen Phase nach 1962 glaubt die Familie, dass nun häufig Besuch kommen werde und baut deshalb an ihre bescheidene Behausung dieses zusätzliche Zimmer an. Die pièce des invités ist ausschließlich Gästen vorbehalten und bleibt für die Familie verschlossen. Malika verschafft sich allerdings durch Diebstahl des Schlüssels Zugang zu dem Zimmer, um vor der Enge im gemeinsamen weil einzigen Zimmer der zwölfköpfigen Familie und den Aufgaben im Haushalt, die oftmals darin bestehen ihre Brüder zu bedienen, zu flüchten und in Ruhe zu lesen. Mais lire toute la nuit et dormir le matin, vivre décalée des autres - à l’américaine - me permet d’échapper aussi aux activités qui dévorent les jours et me terrifient. L’inversion complète du sommeil inaugure la métamorphose du refus en résistance. Elle scelle ma détermination à ne pas me laisser transformer en esclave de mes frères. (Mokeddem 2003, S.-116) Die Ambivalenz der Situation als Invitée, die zugleich Entfremdung und Frei‐ raum bedeutet, verwandelt die bisher simple Verweigerungshaltung der Erzäh‐ lerin in offenen Widerstand gegenüber der asymmetrischen familiären Arbeits- und Zuneigungsverteilung und den traditionellen Rollenzuschreibungen: „Bar‐ 4.2 Identität in Bewegung 135 <?page no="136"?> ricadée dans la pièce des invités, je resasse: « Jamais servante, non. Je suis l’Invitée-»“ (Mokeddem 2003, S.-120). Indem sie sich selbst als Invitée begreift und die pièce des invitées regelrecht besetzt, verschafft sie sich Freiraum. Gleichzeitig stellt die Entscheidung sich zurückzuziehen einen weiteren Bruch mit der Familie dar und bedingt eine vie en marge. Les livres sont mes seuls convives. […] C’est ma petite révolution à moi. Le signe que je suis en train de devenir étrangère aux miens. Retranchée de leurs jours en plus de leurs nuits. Une vie en marge. L’idée m’obsède. Ses promesses ne sont pas exemptes de mélancolie. (Mokeddem 2003, S.-120) Durch die Metapher des Gastes wird die Grundlage der Identitätskonstruktion der Erzählerin verdeutlicht. In ihr verbinden sich das Gefühl der Entfremdung im Dabeisein aber nicht Dazugehören, ein gewisser Freiraum, der dem Gast gewährt wird, dafür aber auch die Pflicht irgendwann das Haus zu verlassen. Das Gefühl nur zu Gast zu sein, wird sich für die Erzählerin später im Leben wiederholen. Sie ist Gast in Algerien, in das sie das erste Mal nach dreizehn Jahren Abwesenheit für eine Buchvorstellung zurückkehrt, aber auch in Frankreich, in das sie zum Studium geht und wo sie der Liebe wegen bleibt (Mokeddem 2003, S. 109). Algerien kann ihr nicht wieder zur Heimat werden, da ihr Leben dort durch Übergriffe von Extremisten bedroht ist. Auch Frankreich verweigert ihr u.-a. durch seine Politik das Gefühl von Heimat: Deux ans plus tard, la guerre du Golfe a sorti de ma gorge ce mot que je n’avais encore jamais dit. Jamais osé écrire: apatride. Apatride cette fois de mon pays adoption, la France. Je me suis vomie d’en avoir pris la nationalité. […] Plus tard et sans rien renier de mes origines, j’ai acquis la conviction que ma véritable communauté c’est celle des idées. (Mokeddem 2003, S.-83) An einigen Stellen wie dieser wird die Sehnsucht nach einer Gemeinschaft deutlich, die als eine Werte- und Vorstellungsgemeinschaft entworfen wird. Kollektive Identität entwirft sie so als frei wählbar. Es kommt zu einem mehr‐ fachen Bruch der Identitätssuche, der sich in fehlenden Zugehörigkeitsgefühlen sowohl ihrer Familie als auch Algerien und Frankreich gegenüber äußert. Die Erzählerin ist nicht nur l’Invitée, sondern empfindet sich auch als staatenlos, ohne nationale Zugehörigkeit, als apatride. Sie sieht sich als Erbin der Nomaden, die sich traditionell der Zuordnung zu einer Nationalkultur entzogen haben und für die Sesshaftigkeit (geistigen) Stillstand und Tod bedeuten: „L’immobilité du sédentaire, c’est la mort qui m’a saisie par les pieds“ (Mokeddem 1997, S. 11). Umgekehrt bedeutet dies, dass räumliche Mobi‐ 136 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="137"?> 80 „Gast-sein“ kann so als Konzept neuer kultureller Identitätskonstruktion jenseits nationaler (monovalenter) Identitätsangebote verstanden werden. lität Identitätskonstruktionen jenseits tradierter nationalkultureller Angebote zulässt. Sie ist die Voraussetzung für Transkulturalität und die Bildung einer Gemeinschaft kosmopolitischer Grenzgänger: innen im Sinne Bhabhas (2000). 80 Wer staatenlos ist und keine Zugehörigkeit empfindet, ist überall Gast, gleich‐ zeitig aber auch ungebunden und frei. Dadurch wird es möglich durch ständige Bewegung Grenzen, auch die Grenzen der (kollektiven) Identitätsbildung, die eine Nationalkultur anbietet, zu überschreiten. Die Bezeichnungen l’apatride und l’Invitée stehen für eine Offenheit und Freiheit, die mit der Kehrseite der Nicht-Zugehörigkeit verbunden ist. Die Alternative zur Gemeinschaft der Verwandten wird die „communauté des idées“, die allerdings ebenfalls (noch) nicht realisiert werden kann. Die Gemeinschaft, der sich die Erzählerin in Frankreich zugehörig fühlt, stößt an ihre Grenzen als eine französische Freundin ihr (Mit-)Leiden am algerischen Bürgerkrieg nicht in dem Maße nachvollziehen kann, in dem sie es für not‐ wendig hält. Die Folge ist ein Gefühl der Ausgeschlossenenheit und erneut Einsamkeit: „Ce sentiment soudain de solitude, même parmi ceux que j’ai choisis, ceux de ma famille de pensée, m’est insupportable“ (Mokeddem 2003, S. 84). Ihre „famille de pensée“ kann das spontan affektive Zugehörigkeitsgefühl einer Sozialisation im gleichen Kulturkreis und somit gemeinsam erlebter Erfahrungen nicht ersetzen. Es offenbart sich ein Mangel, eine Instabilität im Identitätsentwurf der Erzählerin. Sie sucht Nähe zu den in Montpellier lebenden Migrant: innen aus dem Maghreb und eröffnet eine allgemeinmedizinische Praxis in einem Viertel, das hauptsächlich von Einwanderer: innen bewohnt wird. Ihre Arbeit und der Kontakt zu den Migrant: innen erlaubt ihr einerseits eine Bindung an ihre Vergangenheit und ihre Herkunft: die Sprache und die Gerüche des Viertels sind ihr vertraut. Sie ist vielleicht sogar mehr ein Teil dieser Gesellschaft als in Algerien selbst. In der Gemeinschaft der Migrant: innen lösen sich die Unterschiede zwischen opponierenden Gruppen aus dem Heimatland auf; alle stehen nun auf der gleichen Seite. Ihre Anerkennung als Ärztin in dieser Gemeinschaft versöhnt sie mit der Zurückweisung, die sie in Algerien erfahren hat. Sie begreift sich als „toubib des nomades de mon temps, les immigrés“ (Mokeddem 2003, S. 124). Dennoch ist sie auch in diese Gemeinschaft nur oberflächlich integriert. Das Zugehörigkeitsgefühl zerbricht als Extremisten ihre Praxis angreifen. 4.2 Identität in Bewegung 137 <?page no="138"?> Wenn sich kulturelle Identität nach Assmann aus „kollektiven Anteile[n] von Subjektivität“ zusammensetzt, „die sich aus der Zugehörigkeit des einzelnen zu bestimmten Gruppen ergeben und sich über Geschlecht, Kultur, Ethnie und Nation definieren“ (Assmann und Friese 1999, S. 11f.), dann scheitert in diesem Punkt der Versuch eine solche zu generieren. Gelöst wird das Dilemma durch die Erzählung selbst, die durch die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart narrative Kohärenz erzeugt und somit die Konstruktion der individuellen und kulturellen Identität ermöglicht (vgl. Birk und Neumann 2002). Über alle Brüche mit den Bezugskollektiven hinweg, bleibt das erzählte Ich als Konstante präsent. Trotz des Scheiterns erscheint im Text seine Identitätssuche als kohärenter Prozess. Zwar findet die Erzählerin weder in Frankreich noch in Algerien eine Heimat und bezeichnet sich als apatride, dennoch ist es nicht das räumliche Exil, das sie belastet: „La notion d’exil ne pouvait se rattacher à un territoire pour mes aïeux nomades. Elle traduisait déjà l’exclusion volontaire ou supportée du groupe familial“ (Mokeddem 2003, S. 158). Der als nomadisch entworfene Teil ihrer Identität realisiert sich gerade in der Ortlosigkeit. Das räumliche Exil, die Trennung von der Familie, von Beziehungsstrukturen, empfindet sie eher als „délivrance“ (Mokeddem 2003, S. 159). Das Exil, im Sinne einer Vertreibung, ist ein inneres, ist „la vie en marge“ (Mokeddem 2003, S. 120). Durch die affektive Zurückhaltung bzw. Ablehnung (vgl. Mokeddem 2003, S. 159) ihrer Familie, durch das Ereignis des 1. November, durch ihre Insomnie und ihre Lektüre zieht sie sich bereits in früher Kindheit in ein inneres Exil zurück. Quelque chose s’était brisé en moi, à moi: la notion même du lien déjà si ténu à force d’être étiré, distordu, malmené. En regard de cet exil-là, les franchissements des frontières, des mers représentent plutôt une délivrance. (Mokeddem 2003, S.-159) Das innere Exil, hervorgerufen durch die fehlende Zuneigung und Aufmerk‐ samkeit ihrer Eltern, insbesondere der Mutter, und vor allem die traumatischen Erlebnisse der Verfolgung und Bedrohung durch das Ereignis des 1. November, geht dem räumlichen Exil voraus. Die Möglichkeit ihren Heimatort und schließ‐ lich Algerien zu verlassen, ist der für sie konsequente Schritt, da sie sich als unerwünscht und nicht dazu gehörig begreift. Diskriminierungserfahrungen begleiten sie auf allen Etappen ihres Lebens‐ wegs, Schule, Universität, Krankenhaus und später ihrer Karriere als Schriftstel‐ lerin. Sie ist die Andere, sogar die mehrfach Andere und beschreibt die Ursachen ihres Andersseins folgendermaßen: 138 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="139"?> 81 Weitere Bezeichnungen, die sie sich zuschreibt sind u.a.: „Gueule de barbare“ (Mo‐ keddem 2003, S.-67), „enfant du serail“ (ebd.). 82 Mertz-Baumgartner zeigt die Strategie des dédoublement an weiteren Texten Moked‐ dems, explizit an L’Interdite, in dem u. a. in alternierenden Kapiteln aus Sicht einer männlichen und weiblichen Erzählinstanz erzählt wird. Je cumulais toutes les tares: bronzée, femme, même pas fille de quelque magnat du Sud et grande gueule de surcroїt. Deuxième sexe de la dernière race, en somme, celle qui a refusé de se laisser civiliser. (Mokeddem 2003, S.-67) 81 Ihre Diskriminierungserfahrungen lassen sie mit dem Schicksal ihrer Pa‐ tient: innen, hauptsächlich Migrant: innen, sympathisieren, die sie „corps partis“ nennt. Sie identifiziert sich mit ihnen, die ebenfalls ihr Herkunftsland verlassen haben, die aber in der Bewegung bleiben, selbst wenn sie in einem anderen Land angekommen sind. Ihr Erkennungsmerkmal (untereinander) bleibt das „Weggegangen-sein“. Sie tragen es mit sich und verharren so in dem Bewusst‐ sein des Transits, auch wenn sie nicht beständig ihren Aufenthaltsort wechseln: „Toute la vie de ces corps partis n’est qu’un transit entre ici et là-bas“ (Mokeddem 2003, S.-124). Auch die Erzählerin versucht durch Bewegung ihr inneres Exil zu über‐ winden. Die Bewegung zwischen zwei (oder mehr) Polen, gedanklich und emotional, später auch räumlich, prägen die Erzählerin. - 4.2.1.5 Strategie des dédoublement Mertz-Baumgartner bezeichnet die wiederkehrende Thematisierung zweier identitätsstiftender Pole in Mokeddems Texten als „dédoublement“ (Mertz-Baumgartner 2003, S. 134). 82 Diese binäre Teilung findet sich sowohl auf Ebene der formalen Gestaltung der Texte als auch auf inhaltlicher Ebene. In La Transe des insoumis zeigt sich die Doppelung u. a. in der Kapitelstruktur des Textes (Ici und Là-bas), der alternierend an zwei Orten - Algerien und Frankreich - und zu zwei Zeiten - Kindheit und Gegenwart - erzählt wird. Aber auch auf intertextueller Ebene in der Dopplung des Stoffes, der sich in zwei Texten Mokeddems wiederfindet: La Transe des insoumis und Les hommes qui marchent. Inhaltlich beschreibt die Erzählerin in La Transe des insoumis ihr Leben als einen „flux tendu entre deux villes, deux activités, deux pôles captivants“ (Mo‐ keddem 2003, S. 220). Das umfasst sowohl ihre Bewegungen und die emotionale Zerrissenheit zwischen Algerien als ihrem Herkunftsland und Frankreich als ihrer Wahlheimat als auch die beiden Städte Perpignan (eine Stadt nahe der Grenze) und Montpellier, zwischen denen sie eine Zeit lang pendelt. Beide 4.2 Identität in Bewegung 139 <?page no="140"?> Städte liegen direkt am Mittelmeer, das die Verbindung zwischen Algerien und Frankreich herstellt. Das Meer selbst ist ein Sehnsuchtsort der Erzählerin. Im Internat in Algerien hängt ein Meeresbild in ihrer kleinen Kammer, das Weite suggeriert. Nach der ersten Begegnung mit ihrem zukünftigen Ehemann Jean-Louis, der ihr von seiner Liebe für das Segeln erzählt, wird das Mittelmeer zu einer Möglichkeit Unabhängigkeit und Freiheit zu erfahren: „j’entrevois enfin la possibilité de vivre les immensités autrement qu’en abîme, en claustration. Je me mets à rêver de traversée“ (Mokeddem 2003, S. 210). Ihr Leben in der Nähe des Mittelmeeres und die Bewegung auf dem Meer während der Segelausflüge mit Jean-Louis dämpfen gleichfalls ihren Schmerz über Algerien, in das sie lange Zeit nicht zurückkehrt. Im Meer findet die Erzählerin darüber hinaus eine Entsprechung zur Wüste, in der sie als Kind einen Rückzugsort fand. Die Wüste ist ebenso ein Sehn‐ suchtsort wie das Meer und stellt in gleicher Weise einen verbindenden und grenzüberschreitenden Raum dar. Sie ist der Ort der traversée, der nomadischen Stämme, die sie als Kind in ihrem Heimatort beobachtet, und denen sie sich durch ihre Großmutter verbunden fühlt (vgl. Mokeddem 2003, S. 89). Ihre eigenen Bewegungen als Seglerin auf dem Meer nehmen die Bewegungen der Nomaden in der Wüste wieder auf. Durch das Schreiben verknüpft sie die beiden Naturräume und Sehnsuchtsorte: „Ce bateau m’a aidée à écrire le désert en pleine mer pendant des années“ (Mokeddem 2003, S.-45). Die Strategie der Doppelung von Bezugspunkten zieht sich durch das Werk Mokeddems. Belkheir betont hier, wie Mertz-Baumgartner, die Doppelung als Prinzip, nicht die Dualität im Sinne von zwei sich gegenüberstehenden und einander ausschließenden Elementen. […] il est question dans l’univers romanesque de cette écrivaine de l’usage du double et non pas - du duel - car c’est l’idée de complémentarité, de rencontre, de richesse qui est valorisée par cette dualité et non celle d’adversité, d’opposition et d’exclusion. (Belkheir 2012, S.-80) Die Doppelung beinhaltet eine Vorstellung von Mehrdeutigkeit, Vieldeutigkeit und Offenheit, aber auch von Instabilität. Es ist nicht das Ziel Oppositionen darzustellen, sondern diese durch Pluralität der Perspektiven und zyklische Bewegung zwischen den Polen aufzubrechen. Das Prinzip der Doppelung steht damit im Gegensatz zu einer in der kolonialen Vergangenheit angelegten Dualität mit einem eindeutigen Machtverhältnis zwischen Algerien und Frank‐ reich. Dieses wird durch die räumliche und kulturelle Bewegung zwischen den beiden Polen, Frankreich und Algerien, und den dadurch entstehenden Perspektivenwechsel zwischen Innen und Außen konterkariert und postkolo‐ 140 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="141"?> nial in Frage gestellt. Schließlich werden die beiden Pole von der Erzählerin als komplementär empfunden. Sie fügen sich nach ihrer Rückkehr nach Algerien im Jahr 2001 und nach dem Ende des Bürgerkriegs für sie zu einem Ganzen zusammen: Maintenant j’ai deux bords. Il n’y a pas que ma langue et mon écriture qui soient traversières. Je le suis tout entière. Je suis entière par ce duo en moi. (Mokeddem 2003, S.-229) Mertz-Baumgartner analysiert ebenfalls eine Entwicklung, die in der Akzep‐ tanz und Wertschätzung der Andersartigkeit mündet: „L’angoisse d’être «-plu‐ sieurs » disparaît, le fait d’être étrangère partout est perçu comme un atout et comme une liberté […]“ (Mertz-Baumgartner 2003, S. 127). Die Erzählerin akzeptiert die Mehrdeutigkeit, die Doppelung, als Grundlage ihrer Identität und erfährt dadurch das Gefühl von Einheit. Die Doppelung manifestiert sich als Bewegung zwischen verschiedenen Bezugspunkten, von denen keiner allein eine stabile Beziehung ermöglicht. Dadurch wird die Bewegung zwischen den Polen zu einer postkolonialen Wiederaufnahme der Bewegung der nomadischen Vorfahr: innen. Mertz-Baumgartner sieht darin „l’idée (féminine) de l’« être-plusieurs »“ (Mertz-Baumgartner 2003, S. 134) zum Ausdruck kommen. Im Gegensatz zu der Protagonistin Malika in Beys Cette fille—là, die ihre Identität im Anderssein konstruiert, nimmt die Erzählerin hier eine vielschichtige Konstruktion ihrer Identität an, in der sie versucht, die konträren Aspekte ihres Ichs zu integrieren. Ein weiterer Aspekt der Doppelung ist für die Erzählerin die Sprache. Sie schreibt nicht in ihrer Muttersprache, sondern auf Französisch, der Sprache der ehemaligen Kolonialmacht, zu der sie eine tiefe Verbundenheit u. a. durch die Literatur empfindet (vgl. Mokeddem 2003, S. 108). Sie betrachtet die französische Sprache wie Kateb Yacine als butin de guerre (vgl. ebd.). Die Bedeutung des Französischen als Sprache ihrer Lektüre und später ihres Schreibens ist immens. Sie ersetzt die verbale, kommunikative (und emotionale) Abwesenheit einer Mutterfigur: Et puis c’est une langue étrangère, traversière, qui m’a cueillie dès l’enfance pour me frotter à l’altérité. C’est la langue de l’Autre qui est devenue l’intime. […] C’est elle qui a continué à me nourrir, à me guider, à m’éclairer quand la mère a tu même ses condamnations. Quand la grand-mère a disparu. (Mokeddem 2003, S.-179) Die Sprache ist sowohl Teil einer weiteren Doppelung zwischen der Mutter‐ sprache Arabisch und der Schriftsprache Französisch, aber sie übernimmt auch wiederum eine Vermittlungsfunktion vergleichbar der des Meeres: Sie ist „tra‐ 4.2 Identität in Bewegung 141 <?page no="142"?> 83 Die Erzählerin bringt u. a. das Arabische nach Frankreich, in dem sie mit ihren Patient: innen Arabisch spricht, und das Französische wiederum nach Algerien, in dem ihre Texte dort publiziert werden. versière“, d. h. hat die Fähigkeit Grenzen zu überwinden 83 . Durch die Aneignung des Französischen als butin de guerre wird die Sprache von der Muttersprache der (verhassten) Kolonialmacht zu einem Teil algerischer Lebenswirklichkeit und Identität. - 4.2.1.6 Weibliche Genealogie Das Französische ist für die Erzählerin die Sprache der Literatur und des Wissens, ihres ersten Exils. Sie erfüllt dadurch ein Bedürfnis, dass ihre Mut‐ tersprache (tatsächlich als Sprache ihrer Mutter) unerwidert lässt. Die Mut‐ tersprache ist eng verknüpft mit der Mutter selbst, zu der eine emotionale Diskrepanz besteht. Die Erzählerin distanziert sich bereits früh von ihrer Mutter sowie dem Lebensentwurf für den sie steht. Sie rebelliert gegen vorherrschende Weiblich‐ keitsentwürfe, die für sie keine Option darstellen. Sie weigert sich die Rolle einer „servante“ innerhalb ihrer Familie anzunehmen. Das Kind Malika erkennt zu‐ nächst unbewusst, dass das Gefühl der Unterlegenheit von den Müttern an ihre Töchter weitergegeben wird (vgl. Mokeddem 2003, S. 96) und begehrt dagegen auf. In ihrer Wahrnehmung stabilisieren Mütter durch Erziehung das System der Unterdrückung der Frauen und geben es an ihre Töchter weiter. Schon bei der Geburt eines Mädchens begegnet das Baby den „gueules d’enterrement“ (Mokeddem 2003 TI, S. 96), den enttäuschten Gesichtern darüber, dass es kein Junge ist. Die Erzählerin macht für die Unterdrückung der Mädchen explizit die Mütter verantwortlich: […] ce chœur antique de voix féminines […], ces appels au ralliement de la détresse […], ces renoncements extrêmes qui peuvent écraser par le sentiment d’impuissance qu’ils génèrent ou subjuguer et, insidieusement, prédisposer à la reddition […], cet odieux chantage affectif des mères: Si tu ne fais pas comme moi, tu me renies, tu me tues! (Mokeddem 2003, S.-96) Die Mütter werden im Text stärker mit der Weitergabe patriarchaler Strukturen verknüpft als die Väter. Sie agieren als Hüterinnen der Normen und stabilisieren so die Strukturen. Der Preis, den sie für die Einheit der Familie zahlen, ist die Aufgabe ihrer eigenen Bedürfnisse und Wünsche (vgl. Mokeddem 2003, S.-96). Lesen und Lernen werden für die Erzählerin schließlich zum Mittel der Distan‐ zierung von der Mutter und weiterer Annäherung an die Großmutter: „mon 142 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="143"?> livre, mon cahier sont indéchiffrables pour ma mère. Espaces infranchissables, ils la tiennent à distance. Grand-mère fait le guet“ (Mokeddem 2003, S. 48): Die Mutter fasst das Verhältnis zur Tochter in einem späteren Gespräch mit Journalist: innen folgendermaßen zusammen: „entre ma fille et moi, il y a toujours eu un livre“ (Mokeddem 2003, S. 109). Es scheint keine Kommunikation zwischen Tochter und Mutter möglich. Später unternimmt Mokeddem mit ihrem Text Je dois tout à ton oubli den Versuch, durch das Verfassen eines Romans den Ursprung der emotionalen Abgrenzung zur Mutter zu erkunden und möglicherweise einen Weg zur Überwindung zu finden (s. Kapitel 4.2.2). Die Großmutter bleibt allerdings die wichtigste weibliche Bezugsperson ihrer Kindheit, während die Schwestern sich eher an der Mutter orientieren. Als die Großmutter stirbt, fühlt sie sich als Waise, „orphéline, oui. Terriblement seule à jamais“ (Mokeddem 2003, S. 158). Die Großmutter eröffnet in Malikas Kindheit die Welt der Fiktion durch das Geschichtenerzählen, das gleichzeitig die Erinne‐ rungen der Nomadin an die Enkelin weitergibt und so eine Kontinuität bewahrt. Sie ist es mit der die Erzählerin sich in eine Traditionslinie setzt. Die Figur der Großmutter ist als Nomadin durch ihre räumliche Bewegungsfreiheit darüber hinaus ein Beispiel der weiblichen Grenzüberschreitung. Diesem Beispiel folgt die Erzählerin, in dem sie die Grenzüberschreitung selbst zum Prinzip der Identitätskonstruktion macht (vgl. Bronfen 1999). - 4.2.1.7 Mémoire und Errance Die Großmutter will ihr Erbe, das aus den Geschichten des Stammes besteht, weitergeben. Sie erzählt sie der Enkelin in der Hoffnung, dass diese sie bewahrt. Elle a tant besoin de transmettre la mémoire en péril des nomades. D’un peuple en voie de disparition : « L’immobilité des sédentaires, c’est la mort qui m’a déjà saisie par les pieds. Maintenant, je n’ai plus que le voyage des mots…-». (Mokeddem 2003, S.-48) Die Großmutter sieht ihr Erbe bedroht. Sie, ihr Sohn sowie ihre Enkelkinder sind bereits sesshaft geworden. Mit der Aufgabe des nomadischen Lebensalltags verschwinden auch die Geschichten ihres Stammes, deren mündliche Überlie‐ ferung ein fester Bestandteil der nomadischen Kultur ist bzw. war. Die Einzige, die sich für die Geschichten zu interessieren scheint, ist die Enkelin Malika. Das kulturelle Gedächtnis der Nomaden ist enthalten in den mündlich überlieferten Geschichten und Mythen; aber auch die Art der Überlieferung, das mündliche Erzählen selbst, ist ein wichtiger Bestandteil der Kultur. Das kollektive Gedächtnis ist gespeichert in den Geschichten und findet so Eingang in die Erinnerungen der Einzelnen. Malika hört die Geschichten der Großmutter, 4.2 Identität in Bewegung 143 <?page no="144"?> 84 Das Spannungsverhältnis zwischen mündlich und schriftlich Überliefertem löst sich allerdings nicht. In Mokeddems Siècle des sauterelles (1992) wird die Schrift beschrieben als den Spuren der Nomaden im Sand vergleichbar. Als „unique et cursive écriture“ (Mokeddem 1992, S. 137) ist sie vergänglich. Nur das mündlich Überlieferte kann in dieser Analogie bewahrt werden, da es in das Gedächtnis des Stammes eingeht. ist durch die Schule und ihren Zugang zu verschriftlichtem Wissen aber selbst bereits Teil einer anderen Tradition und Kultur geworden. Dadurch entsteht eine Distanz zwischen Enkelin und Großmutter. Reiss (2003) geht auf den Konflikt mündlicher versus schriftlicher Überliefe‐ rung ein und zitiert in einer Analyse von Mokeddems Texten König Thamus aus Platons Phaidros, mit seiner Befürchtung, dass die Erfindung der Schrift in Ägypten zum Verlust des kollektiven Gedächtnisses führen werde, weil die Menschen die Fähigkeit zur Erinnerung verlieren (vgl. Reiss 2003, S. 224). Verschriftlicht sind die Geschichten (des Stammes der Großmutter) nicht mehr Teil einer lebendigen Kultur, zu der die Kunst des mündlichen Erzählens und der Eingang der Geschichten in die Erinnerungen der einzelnen Zuhörer: innen gehört. Vielmehr droht eine bloße (schriftliche) Dokumentation des kulturellen Gedächtnisses, die es zwar bewahrt, zu der aber nur noch ein kleiner Teil Zugang haben mag. Zudem verschwindet die Tradition des mündlichen Erzählens, die darüber hinaus demokratischer ist als die Verschriftlichung. Jede/ r kann die Geschichten z. B. an die eigenen Kinder weitergeben. Das Aufschreiben der Geschichten ist wenigen vorbehalten. Die Großmutter beruhigt die Enkelin, die nach dem Lesen von Saint-Exupérys Le Petit Prince fragt, weshalb die Menschen keine Wurzeln haben und deshalb so verloren scheinen, mit den Worten: Grand-mère m’a toujours convaincue du contraire: « Nous ne sommes pas des palmiers pour avoir besoin de racines. Nous, nous avons des jambes pour marcher et une immense mémoire-». (Mokeddem 2003, S.-101) Mit den Worten der Großmutter wird ein Spannungsverhältnis zwischen mé‐ moire und racines geschildert. Die Wurzeln, im übertragenen Sinn die Herkunft der Einzelnen, sind von geringerer Bedeutung als (Bewegungs-)Freiheit und Teil eines kollektiven Gedächtnisses, Teil einer Geschichte zu sein, die über das individuelle Leben hinaus geht. Malika bewahrt das Erbe der Großmutter, in dem sie sich (Bewegungs-)Freiheit erkämpft. Das kollektive Gedächtnis ihrer Vorfahr: innen ehrt sie dadurch, dass sie die Geschichte der Großmutter aufschreibt 84 . Reiss bezeichnet die Bewegungen bei Mokeddem (u. a. zwischen Algerien und Frankreich) und ihr Schreiben als untrennbar miteinander verknüpft: 144 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="145"?> 85 Wie in Beys Cette fille-là wird der Begriff der fugue bzw. fugueuse benutzt, um das Ver‐ halten der Protagonistinnen (die in beiden Fällen Malika heißen) zu charakterisieren, die sich den von ihr erwarteten Handlungen entzieht: „la fugueuse, la fougueuse, l’insomniaque qui rompt tous les liens“ (Mokeddem 2003, S.-251). […] l’écriture et la femme, non moins que l’écriture et la marche, sont inséparables. L’écriture […] libère la marche dans le sable d’une certaine tradition, transforme l’oralité, affranchit la femme d’une histoire accablante. […] écrire c’est transformer une vieille expérience collective rétrograde en une nouvelle vie personnelle qui néanmoins englobe ce passé. (Reiss 2003, S.-231) Das Zitat betont die Verbindung zwischen der Bewegung (der Nomaden) und der Narration bzw. der écriture. Die Bewegung wird zum wichtigen Element des Textes. In der Struktur in La Transe des insoumis, dem Wechsel von Ici- und Là-bas-Kapiteln, findet sich ebenso eine Bewegung wieder wie in der Schilderung der ständigen Aufbrüche der Erzählerin: von ihrem Heimatort in das Internat der nächstgrößeren Stadt, zum Studium nach Oran und dann Paris und schließlich nach Montpellier. Dort angekommen äußert sich die errance der Erzählerin u.-a. in ihren Segelausflügen auf dem Meer. Die Schrift und das Schreiben stehen am Beginn ihres Aufbruchs aus ihrem Heimatort und dem für sie vorgesehenen Lebensweg: „[L’écriture] est ma partition d’expatriée, ma fugue 85 de tout enfermement“ (Mokeddem 2003, S. 179). Es ist aber auch zugleich Ziel ihres Wunsches nach einem noch größeren Aufbruch, einer Überschreitung, einer ständigen Bewegung in der Tradition ihrer nomadischen Vorfahr: innen: „[..] c’est l’écriture, le plus grand départ, c’est là que j’essaie d’aller au plus loin“ (Mokeddem 2003, S. 26). Als These kann daher festgehalten werden, dass das Schreiben zu dem Ort wird, in dem Grenz‐ überschreitung stattfindet. Es erinnert dadurch an die von ihr gesuchte Freiheit und Weite des nomadischen Lebens. Hierin kann ein möglicher gelungener Identitätsentwurf liegen. - 4.2.1.8 Bedeutung der écriture Das Schreiben hat im Text eine ambivalente Funktion. Es stellt für die Erzählerin eine Notwendigkeit dar, ist fundamental identitätsstiftend und das Kernelement ihrer Freiheit und Unabhängigkeit. Es hat geradezu therapeutische Bedeutung: Un jour, il incombera à l’écriture de débrouiller la liberté des pertes et chagrins qui parfois tourmentent encore mon chemin. L’écriture en ultime recours, c’était déjà là bien avant l’acte d’écrire. (Mokeddem 2003, S.-67) 4.2 Identität in Bewegung 145 <?page no="146"?> Die Schrift - l’écriture - ist hier etwas Grundlegendes fast schon Mythisches, das dem eigentlichen Schreiben vorausgeht. Hier scheint die Schrift eine Form des Unterbewusstseins zu sein, eine Art Prä-Text, der der Entstehung späterer Texte vorausgeht. Die Existenz der Schrift vermag sie außerdem über emotional schwierige Situationen hinweg zu trösten und wird somit zum Zufluchtsort, dem etwas Tröstliches inhärent ist. Das Schreiben selbst hingegen beschreibt sie als Kampf bzw. als Wettlauf gegen die Angst. Es wird zum Ringen mit dem Leben selbst: Écrire, noircir le blanc cadavéreux du papier c’est gagner une page de vie. C’est reprendre un empan de souffle à l’angoisse. Dans l’écriture, je suis comme au seuil de l’humain. […] L’écriture est le nomadisme de mon esprit sur le désert des manques, sur les pistes sans autre issue de la nostalgie. (Mokeddem 2003, S.-70) Auch in diesem Zitat wird die eng gedachte Verbindung zwischen Schreiben und Bewegung offenbar. Schreiben wird als Bewegung des Geistes begriffen und als Versuch die identitäre Leere zu füllen. Durch ihre Beschreibung des Schreibprozesses, die die Vorstellung von Bewegung beinhaltet, wird wiederum der positiv angelegte nomadische Identitätsentwurf evident. Ein anderer Aspekt des Schreibens wird deutlich, wenn man es wie Redouane als „pratique de la solitude […]“ (Redouane 2003, S. 37) begreift. Das Schreiben trennt die Erzählerin von anderen und führt u. a. zur Trennung von Jean-Louis: Maintenant, je me sépare de l’homme que j’aime parce que c’est lui qui suffoque de me voir le corps et le mental chevillés à l’écriture. […] En d’autres temps, ma famille avait bataillé contre ma dévoration des livres […]. Sous les aspects les plus divers, je me suis toujours trouvée en butte à la hantise ou la jalousie suscitée par le livre. (Mokeddem 2003, S.-24) Es beinhaltet einen obsessiven Zug; sie bezeichnet es als „écriture rageuse“ (Mokeddem 2003, S. 34) oder „fièvre de l’écriture“ (ebd., S. 35). Sie nimmt den „déspotisme“ (ebd., S. 64) des Schreibens wahr, das ihre gesamte Aufmerksam‐ keit beansprucht und auch zur Einsamkeit führt: „L’écriture a cassé tout ce qui n’était pas elle, d’elle, pour régner presque sans partage“ (Mokeddem 2003, S. 64). Deutlicher wird dies in einem Zitat Marguerite Duras’, das sich im Text findet: „Les hommes ne le supportent pas: une femme qui écrit. C’est cruel pour l’homme. C’est difficile pour tous, a dit Duras dans Écrire. Duras définitive“ (Mokeddem 2003, S.-25). Ihre Freiheit zu schreiben scheint nur um den Preis der Einsamkeit möglich zu sein: „Je sais depuis toujours le prix de la liberté. Je sais ce que je dois aux livres. L’énormité de ce qui m’échappe aussi“ (Mokeddem 2003, S. 25). Dieser 146 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="147"?> Konflikt besteht bereits seit dem oben beschriebenen ersten Exil ihrer Kindheit in Büchern und Wissen: „J’ai été seule avec les livres des Autres. Je le serai davantage encore avec les miens“ (Mokeddem 2003, S.-52). Im Duras-Zitat wird aber auch deutlich, dass die Einsamkeit des Schreibens eng mit dem Geschlecht der schreibenden Person verknüpft ist. Als Frau zu schreiben, noch dazu von sich, verstärkt die Randposition, die „vie en marge“, der jeweiligen Autorin. Für die Erzählerin steht die Grundlage ihres Identitätentwurfs in Konkurrenz zu erfüllten Beziehungen, sei es mit ihrer Familie oder mit ihrem Partner. Das Lesen bzw. Schreiben entfremdet sie von ihr nahestehenden Menschen, deren Erwartungen sie nicht (mehr) zu erfüllen bereit ist, und führt so in die Einsamkeit. Dennoch ermöglicht das Schreiben der Erzählerin letztendlich auch eine Rückkehr nach Algerien und den Versuch einer Versöhnung. Durch ihre Veröf‐ fentlichungen bekannt geworden und durch die Möglichkeit einer Buchvorstel‐ lung in Algerien gelingt ihr ein Treffen mit ihrem erkrankten Vater, den sie zum ersten Mal seit 24 Jahren wiedersieht: C’est pour lui que je suis revenue. Pour que cet amour, encore vivant mais jusqu’alors anéanti, confisqué par la tradition, les conventions sociales, mes rébellions, puisse enfin se manifester un peu. (Mokeddem 2003, S.-243) Interessant ist hier der explizite Wunsch nach Versöhnung mit dem Vater. Das Verhältnis zur Mutter bleibt gespalten. Mit der Bitte des Vaters um Vergebung am Ende des Textes wird der Text selbst zu dem Versuch, sich zu erklären, den eigenen Werdegang, von dem der Vater nichts weiß, zu schildern. Es ist eine Erklärung für den Vater und der Wunsch der Versöhnung mit ihm. Es ist gleich‐ zeitig auch der Versuch den eigenen Lebensweg kohärent nachzuzeichnen, um am Ende Versöhnung mit dem Heimatland, mit der eigenen Herkunft und mit sich selbst zu erlangen. Dies scheint der Erzählerin ein Stück weit zu gelingen und letztendlich empfindet sie sich Algerien zugehörig: „Je fais partie de la mémoire de ce lieu“ (Mokeddem 2003, S.-253). - 4.2.1.9 Fazit La Transe des insoumis Der Roman La Transe des insoumis entzieht sich einer Gattungszuordnung, indem er Merkmale einer Autobiographie aufweist, aber dies dennoch u. a. durch fehlende Bennung der Gattung wiederum unterläuft. Die Erzählerin Malika nimmt Bezug zu einem früheren Text Malika Mokeddems - Les hommes qui marchent - dessen fiktive Geschichte nun mit autobiographischen Markern wiedergeschrieben wird. In La Transe des insoumis wird die emotionale Distanz 4.2 Identität in Bewegung 147 <?page no="148"?> zu den geschilderten Ereignissen durch die Perspektive einer Ich-Erzählerin verringert. Zentrales Thema des Romans ist die Konstruktion einer Identität als Schrei‐ bende, die Versöhnung mit der Vergangenheit, der Herkunft, der Familie und letzlich sich selbst sucht. Die Schlaflosigkeit der Erzählerin ist dabei das die Vergangenheit und Gegenwart verbindende Element: Der Text beginnt mit der Schilderung schlafloser Nächte nach einer Trennung. Es wird deutlich, dass sie bereits als Kind darunter leidet, es aber auch als Zeit für sich zu genießen beginnt und sich nachts zunächst in die Erzählungen und Gegenwart ihrer Großmutter und später in die Lektüre von Büchern zurückzieht. Die Schlaflosigkeit führt zu einer Distanzierung von ihrer Familie, zu einem rebellischen Akt und in der Folge zu dem von ihr so bezeichnetem ersten Exil. Ihre Selbstwerdung und identitäre Grundlage ist somit eng verknüpft mit Schlaflosigkeit, Einsamkeit und Literatur. Weitere identitätsbildende Faktoren sind ihre durch gewaltvolle Erfahrungen und sexuelle Objektivierung beginnende emotionale Distanzierung von Alge‐ rien insgesamt. Als Heranwachsende entwickelt sie ein gestörtes Verhältnis zu ihrem weiblichen Körper und als Folge eine Anorexie. Sie empfindet sich als heimatlos - apatride. Lesen und Bildung eröffnen ihr einen Ausweg aus der als existentiell empfundenen Einsamkeit. Später wird das Schreiben hinzukommen. Das Gefühl des Nicht-dazu-gehörens, der Andersartigkeit, führt sie schließ‐ lich ins Exil nach Frankreich. Als belastend wird allerdings nicht das räumliche, sondern das innere Exil, ihre „vie en marge“ genannt, der sie auch in Frankreich, auch in Gesellschaft von vertrauten Menschen, nicht entkommt. Sie bleibt die Andere und mehrfach Marginalisierte. Ein Versuch dieses innere Exil zu überwinden, besteht in der Konstruktion einer Identität als Nomadin, die sich in ständiger Bewegung befindet. Besonders hervorzuheben ist die Gestaltung des Textes in zwei Ebenen: Räumlich und zeitlich bewegt sich die Erzählung in alternierenden Kapiteln - Ici und Là-bas - zwischen der Vergangenheit der Erzählerin in Algerien und ihrer Gegenwart in Frankreich, bis sie am Ende mit einem Besuch in Algerien zusammengeführt werden. Dieses Element der Doppelung und des Entre-Deux spiegelt sich auf inhaltlicher Ebene: Die Erzählerin ist in ständiger Bewegung. Sie scheint sich zwischen zwei Polen zu bewegen, deren Extreme die Freiheit bei gleichzeitiger Einsamkeit auf der einen sowie die Gemeinschaft bei gleichzeitiger Akzeptanz und Befolgung strikter sozialer Normen auf der anderen Seite bilden. Ihre Versuche zwischen diesen Polen eine Identität zu konstruieren bleiben instabil. Sie kann entweder Teil des Kollektivs sein und ihre Individualität aufgeben oder diese leben, bleibt dann aber von Einsamkeit 148 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="149"?> bedroht. Einen möglichen Ausweg aus dieser Situation sieht sie in einer noma‐ dischen Existenz, deren Vorbild die Großmutter ist. Das Leben als Nomadin im übertragenen Sinn bedeutet für die Erzählerin die Konstruktion einer Identität in dem Dazwischen dieser beiden Pole. Es ist ein Identitätsentwurf in Bewegung, der keine Festlegung auf eines der beiden Extreme intendiert, sondern ein Leben im entre-deux, im Dazwischen. Diese Strategie der Bewegung zwischen den Polen führt dazu, dass Mehrdeutigkeit ausgehalten werden kann. Sie akzeptiert das entre-deux und empfindet es letztendlich als komplementär. Es eröffnet Zwischenräume, die an Bedeutung gewinnen und im Roman durch konkrete Orte symbolisiert werden, so z. B. das Meer oder das Mezzanin in ihrem Haus. Der bedeutenste Zwischenraum aber ist kein konkreter Ort, sondern eine Handlung. Es ist das Schreiben selbst, das sie mit Bewegung im Sinn von Bewegung des Geistes gleichsetzt, da es die Möglichkeit bietet Grenzen zu überschreiten und zu verwischen. Welche Signifikanz ein Identitätsentwurf jenseits von persönlichen Limitati‐ onen aber auch staatlichen Grenzen bekommt, wird an dem Bild der Verwurze‐ lung deutlich: Wurzeln bedeuten für sie eine statische Identität, auch im Sinn einer monovalenten, nationalen Identität, die primär über Herkunft konstruiert wird. Diese verliert an Bedeutung. An ihre Stelle tritt der Entwurf einer dyna‐ mischen, mehrdeutigen und offenen Identitätskonstruktion, symbolisiert durch Bewegung, die familiäre Bindung an das Nomadentum sowie das Schreiben. Im Nomadentum wie sie es von der Großmutter geschildert bekommt, kommt der geographischen Herkunft und der Bindung an einen Ort keine Bedeutung zu. Kulturelle Identität basiert für sie auf dem Gedächtnis der Familie oder des Stammes. Ihre Identitätskonstruktion, die auf Mehrdeutigkeit und im entre-deux, einer Bewegung zwischen zwei scheinbar antagonistischen Lebensentwürfen angelegt ist, kann dennoch nicht ohne die Erfüllung des Bedürfnisses nach Zugehörigkeit gelingen. Die Erzählerin ist daher auf der Suche nach einer „communautés des idées“. Sie findet sie zunächst in ihrer Großmutter und ihren nomadischen Vorfahr: innen und später z. T. in der Gemeinschaft der Migrant: innen, der „corps partis“ und ihren Freundschaften. Die Suche bleibt allerdings offen. Sie verliert Jean-Louis, der ihr eine Zeit lang Zugehörigkeit vermittelte, gar von ihr als „tribu“ bezeichnet wurde. Die Trennung animiert sie wiederum dazu Versöhnung mit ihrer Familie, insbesondere ihrem Vater und ihrer Herkunft insgesamt zu ersuchen. Sie findet Zugehörigkeit zumindest temporär im Schreiben: Durch die von der Erzählerin imaginierte Genealogie der Nomadinnen, als deren Erbin sie sich begreift, in dem sie die Geschichte(n) der Großmutter aufschreibt und so das Gedächtnis des Stammes erhält. 4.2 Identität in Bewegung 149 <?page no="150"?> 86 Mokeddem 2008, S.-40. Die Identität als Schreibende ersetzt bzw. versöhnt sie mit ihren Identität(en) als fugueuse, insomniaque, rebelle etc., die sie in eine „vie en marge“ führen. Das Schreiben ist ein Versöhnungsprozess mit sich selbst, der eine Leerstelle in ihrer Identitätskonstruktion füllt. Das autobiographische Schreiben ermöglicht es, die Identität als Schreibende und den Weg dahin, das Schriftstellerin-werden, zu er‐ zählen. Dadurch eröffnen sich ihr weitere Möglichkeiten und Zugehörigkeiten: Durch das Erzählen ihrer Geschichte tritt sie in Dialog mit ihren Leser: innen. Dennoch bleibt die Identitätskonstruktion fragil. Im Text ist eine zyklische Bewegung auszumachen. Die Einsamkeit ebenso wie die Freiheit der Protago‐ nistin beginnt mit der Schlaflosigkeit des Mädchens, ihrer Begeisterung für die Lektüre und damit ihrer Distanzierung von der restlichen Familie. Ihre obsessive Begeisterung für und die Notwendigkeit zum Schreiben und der daraus entstehende Versuch Jean-Louis’ sie davon abzuhalten, führen zum Kampf um ihre Freiheit und ebenfalls wieder in die Einsamkeit. Die Erzählerin hat mit ihren Bedürfnissen nach freiheitlicher Entfaltung ihres Selbst auf der einen und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft auf der anderen Seite kaum eine andere Wahl als sich in einer Bewegung im Dazwischen einzurichten. Das entre-deux wird damit zu einer Möglichkeit sich den restriktiven Iden‐ titätsangeboten zu entziehen, die ihr als Frau, Schreibender, Algerierin aus ärmlichen Verhältnissen zur Verfügung stehen. Der nächste Text Mokeddems, der in dieser Analyse folgt, ist ein weiteres Puzzlestück der Versöhnung mit der Vergangenheit, diesmal mit der Mutter. It is perhaps in response to the mother’s condemnation that Mokeddem feels it necessary to reject the protection of women’s anonymity and to speak in her own voice. (Green 2008, S.-539) Green sieht in diesem Zitat sogar die Ursprungsmotivation Mokeddems für das Schreiben in dem Verhältnis zu ihrer Mutter. Daher wird sich das nächste Kapitel damit auseinandersetzen. 4.2.2 „Mal de mère“ 86 - Mutter-Tochter-Beziehung in Malika Mokeddems Je dois tout à ton oubli Der Roman Je dois tout à ton oubli, erschienen 2008, verhandelt die Konfronta‐ tion mit einem Kindheitstrauma und einer schwierigen Mutter-Tochter-Bezie‐ hung. Die Protagonistin Selma Moufid, eine ca. 50jährige Ärztin in Montpellier, wird nach dem plötzlichen und unerwarteten Tod einer Patientin verstärkt 150 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="151"?> von Träumen und Erinnerungen an ihre Kindheit in Algerien heimgesucht. In einem wiederkehrenden Traum sieht sie ihre Mutter einen Säugling mit einem Kissen ersticken. Selma leidet darunter, nicht zu wissen, ob diese Traumbilder Erinnerungen an tatsächlich stattgefundene Ereignisse darstellen oder ein phantasierter Ausdruck verdrängter Ängste sind. In der Folge beginnt sie sich mit ihren Erinnerungen an die schwierige Beziehung zu ihrer Mutter und Familie auseinanderzusetzen. Selma ist das älteste Kind einer kinderreichen Familie und die Einzige, die einen erfolgreichen Bildungsweg bis zum Abschluss eines Studiums und einer guten Position als Ärztin in Frankreich vorweisen kann. Um Gewissheit über den Wahrheitsgehalt ihrer Traumbilder zu erlangen, reist Selma nach Algerien und erfährt in der direkten Konfrontation mit ihrer Mutter, dass diese tatsächlich den unehelich geborenen Sohn ihrer Schwester kurz nach der Geburt erstickte. Dieses Ereignis markiert den Ursprung der emotional-distanzierten Beziehung Selmas zu ihrer Mutter und zugleich zu einer Gesellschaft, deren soziale Restriktionen und gesellschaftliche Sanktions‐ mechanismen dazu führen, ein außerhalb der Ehe geborenes Kind zu töten, um soziale Ausgrenzung der Mutter und deren Familie zu verhindern. Die Entdeckung der Wahrheit über die als Kind beobachtete Tötung des Säuglings wird für Selma der Ausgangspunkt für eine Introspektive ihres eigenen Werdegangs, der letztlich in der Emigration endet. - 4.2.2.1 Autobiographie oder Roman? Der Roman Je dois tout à ton oubli von Malika Mokeddem ist 2008 als letzter von drei inhaltlich verbundenen und in weiten Teilen autobiographischen Texten erschienen. Die beiden anderen Texte dieser Trilogie, La Transe des insoumis (2003) und Mes hommes (2005), beinhalten keine nähere Bezeichnung ihrer Gattungszugehörigkeit oder einen Hinweis auf ihre mögliche Textsorte. Der Verlag bezeichnet die beiden früheren Werke als „textes autobiographiques“. Je dois tout à ton oubli grenzt sich insofern durch die Bezeichnung als Roman von den vorangegangenen Texten ab und stellt den fiktionalen Charakter in den Vordergrund. Wie im vorherigen Kapitel geschildert wird in La Transe des insoumis bereits der intertextuelle Kontext zu Je dois tout à ton oubli hergestellt. Es wird ein Trauma aus der frühen Kindheit der Erzählerin angedeutet, dass sie tief geprägt und vor allem das Verhältnis zu ihrer Mutter beeinflusst hat: Il est à l’origine de tout. De ma relation à la mère. De mon insomnie. Des passions qui vont me constituer. De mon absence de désir d’enfanter. Même de la profession 4.2 Identität in Bewegung 151 <?page no="152"?> 87 In diesem Zusammenhang zitiert sie den französischen Neurologen und Psychiater Boris Cyrulnik, dem sie im Anhang von Je dois tout à ton oubli explizit dankt. Cyrulnik ist insbesondere für seine Arbeiten zum Thema Resilienz und Überwindung von (frühkindlichen) Traumata bekannt (vgl. Billig 2013). que j’ai choisie, la médecine. Ma survie ou du moins mon intégrité mentale ont sans doute été à ce prix. (Mokeddem 2003, S.-182) In Je dois tout à ton oubli beschreibt Selma die Erkenntnis über die Tat ihrer Mutter und ihr Vergessen derselben mit ähnlichen Worten: Il est à l’origine de tous les refus qui la constituent et de sa relation, si particulière, avec sa mère, et qui n’a jamais relevé de l’habituel conflit entre mère et fille. Depuis ce meurtre, Selma était devenue insomniaque et s’était mise à fuguer. (Mokeddem 2008, S.-38) Es finden sich darüber hinaus zahlreiche biographische Gemeinsamkeiten zwi‐ schen Malika Mokeddem und ihrer Protagonistin Selma. Dazu gehören u. a. das Aufwachsen als älteste Tochter einer kinderreichen Familie in der algerischen Wüste, die Bildungsbiographie, die chronischen Schlafstörungen, die Arbeit als Ärztin in Montpellier, Selmas Alter zum Zeitpunkt der Handlung. Insbesondere die Mutter-Tochter-Beziehung weist Gemeinsamkeiten zu den als autobiographisch geschilderten Beobachtungen in La Transe des insoumis auf. Sowohl die Ich-Erzählerin in La Transe des insoumis als auch Selma haben eine emotional distanzierte Beziehung zur Mutter. Es trennen sie die zahlreichen Schwangerschaften der Mutter, die eine gemeinsame Zeit mit der ältesten Tochter verhindern, sowie die fehlende Bildung der Mutter und ihr Unverständnis gegenüber der lesenden und lernenden Tochter, die sich mehr und mehr den häuslichen Pflichten entzieht. In La Transe des insoumis beschreibt die Ich-Erzählerin das Trauma, das die Ursache der schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung darstellt, als „l’oubli originel, l’effacement fondateur“ (Mokeddem 2003, S. 182) 87 . Sie begreift ihre schriftstellerische Tätigkeit auch als Aufarbeitung dieses Ursprungstraumas und Annäherung an das Verdrängte: Il me faudra plusieurs livres dont un sur l’amnésie, N’zid, pour parvenir à le déterrer. Des années d’écriture comme une longue fouille d’archéologue. Les thèmes récurrents sur des mères folles ou mortes. Il me faudra attendre l’écriture de ce livre-là, ce voyage de l’écriture jusqu’au bout de l’insomnie pour enfin le découvrir. Mais ça, c’est un autre livre-! (Mokeddem 2003, S.-182) 152 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="153"?> Sowohl das Erscheinungsdatum als auch der inhaltliche Schwerpunkt von Je dois tout à ton oubli lassen vermuten, dass es als das hier erwähnte „autre livre“ gelten kann. Eine Namensidentität im Sinne Lejeunes als Indikator autobiographischen Schreibens liegt im Falle des Textes nicht vor. Laut Gronemann (2002) wird allerdings die Polarisierung zwischen Roman und Autobiographie, die Le‐ jeunes Definition hervorruft, in neueren Texten insbesondere maghrebinischer Autor: innen hinterfragt (vgl. Gronemann 2002, S.-27): Lejeunes Ansatz erscheint aus heutiger Sicht gewissermaßen anachronistisch, weil er aufgrund seiner Definition der Autobiographie in Abgrenzung zu fiktionalen Texten gerade diejenigen Ansätze autobiographischen Schreibens nicht erfasst, die auf eine Aufhebung bzw. Hinterfragung tradierter Gattungsgrenzen abzielen. (Gronemann 2002, S.-27) Lejeunes Ansatz geht außerdem von einer kohärenten Individualität aus, der eine mögliche Spaltung des Individuums durch unterschiedliche Bestrebungen oder auch das Spiel mit unterschiedlichen (Teil-)Identitäten nicht einbezieht. Das „autobiographische“ Individuum ist, auch im betrachteten Text Mokeddems, aber stets auf der Suche nach dieser Kohärenz und dadurch komplex. Es verfügt im Sinn retrospektiver Konstruktion über seine Lebensgeschichte als einheitlichen Prozess. Die Fiktionalisierung und nicht autobiographische Herangehensweise an eine Geschichte, erlaubt die Konfrontation mit einem traumatischen Erlebnis aus der Distanz heraus. Die Wahl der Erzählperspektive unterstützt diese Distanzierung ebenfalls. Dies bietet so einen emotionalen Schutz vor dem traumatischen Gehalt der Erinnerung, aber auch vor der Bloßstellung der Mutter als Täterin. Die Authentizität der geschilderten Ereignisse, ihre Entsprechung in der außerliterarischen Wirklichkeit, wird nicht geklärt. Auch wenn andere Details der Erzählung mit Mokeddems Biographie übereinstimmen, bleibt dieser Teil - die Tötung des Säuglings - unbestätigt. Die Vermischung von Kongruenzen aus dem Leben der Autorin selbst und fiktionalen Zügen der Protagonistin und der Handlung schaffen auf der anderen Seite eine Offenheit. Wie in der vorangegangenen Analyse von La Transe des insoumis gezeigt, wird durch diese Ambivalenz im Text die Möglichkeit einer wahrheitsgetreuen Darstellung der Lebensgeschichte an sich in Frage gestellt. In Je dois tout à ton oubli wird dies durch die Unsicherheit der Erinnerungen reflektiert. Die Protagonistin Selma ist sich nicht sicher, ob ihre Erinnerungen an das Ereignis der Wahrheit entsprechen. Fünfzig Jahre danach empfindet sie nun den dringenden Wunsch, die Erinnerung als wahr oder falsch bestätigt zu 4.2 Identität in Bewegung 153 <?page no="154"?> sehen. Das Ereignis scheint die Funktion eines Ursprungsereignisses für ihre Identitätsbildung zu erfüllen. Eine Unsicherheit der Erinnerung in Bezug auf dieses kommt daher einer Unsicherheit über die eigene Identität gleich. In ihrer Lebensmitte sucht sie nach Kongruenz und Kohärenz in ihrem Leben und in ihrer Identität und wendet sich ihrer Kindheit und dem Trauma, das zugleich ihre erste Erinnerung ist, zu. Die in der Handlung des Textes dargestellte Unsicherheit der Ich-Konstitu‐ tion, die auf einer Unsicherheit der Erinnerung beruht, wird auf Ebene der Gattungszuschreibung durch das Vermischen autobiographischer und fiktio‐ naler Elemente aufgegriffen. In dem postmodernen Autobiographie-Verständnis Gronemanns wird das „Misstrauen gegenüber einem unreflektierten norma‐ tiven Wahrheitsverständnis“ (Gronemann 2002, S. 12) deutlich. Die ‚Wahrheit‘, d. h. der tatsächliche Ablauf der Ereignisse, entzieht sich zunächst sowohl den Figuren als auch den Rezipient: innen. Die 50jährige Selma kann sich der Erinnerung ihres dreijährigen Selbst nicht sicher sein. Als Leser: in des Textes kann, sofern man mit biographischen Angaben Mokeddems vertraut ist, eine Parallele zu deren Leben (die sehr deutlich ist) gezogen werden. Durch die Gattungsbezeichnung Roman und die Namensgebung der Figuren ist die Kongruenz allerdings nicht sicher. Die Bezeichnung Roman steuert die Rezeption. Eine Opposition von Fiktion und Autobiographie bedingt eine bestimmte Konzeption von Subjektivität und Wahrheit. In Je dois tout à ton oubli (und noch mehr in Bezug auf das gesamte Werk Mokeddems) wird diese Binarität durchbrochen oder zumindest hinterfragt: Das Konzept Autobiographie setzt eine Trennung der Seinsbereiche von Wirklichkeit und Fiktion, Leben und Schreiben voraus, die im Rahmen eines postmodern und poststruktural gewandelten Sprach- und Wirklichkeitsverständnisses problematisch wird. (Gronemann 2002, S.-12) Bei Mokeddem selbst findet sich die Idee der Durchlässigkeit von Realität und Fiktion, die eine einzige, lediglich frei zu legende Wahrheit in Frage stellt: La réalité du monde ne m‘intéresse pas. Ce qui m’importe, c’est ce que j’en fais, comment je le vois. (Mokeddem 1998) Die Verwirrung bei der Rezeption, die Infragestellung von Gattungszuschrei‐ bungen, die Inszenierung dieser Unsicherheit auf Ebene des Textes durch die Unsicherheit der Erinnerungen der Protagonistin und ihre daraus folgende Identitätsunsicherheit führen zu einem kritischen Umgang mit der Trennung 154 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="155"?> von Wirklichkeit und Fiktion, von Wahrheit und einem Identitätsverständnis, das offen und dynamisch ist. - 4.2.2.2 Erinnerung vs. Vergessen Der Titel referiert bereits auf die (fehlende) Erinnerung als konstitutives und strukturierendes Element des Textes. Die Identitätskonstruktion des Ichs im Titel scheint nur aufgrund unvollständiger Erinnerungen möglich gewesen zu sein, die auf dem Vergessen einer nahestehenden Person beruht. „Je dois tout“ läßt zunächst offen, ob es sich bei dem Vergessen um eine positive Entwicklung handelt oder ob etwas verdrängt wurde, das nun mit Macht wieder an die Oberfläche des Bewusstseins drängt. Wen der Titel adressiert, bleibt allerdings unklar. Da es im Roman um eine konfliktreiche Mutter-Tochter-Beziehung geht, deren Verhältnis durch das verschwiegene und verdrängte Ereignis der Kindstötung geprägt ist, liegt die Annahme nah, dass sich hier die Tochter an die Mutter wendet - in einer ambivalenten Ansprache aus Vorwurf und „Dankbarkeit“. Der Titel kann aber ebenso als eine selbstreflexive Bemerkung, die sich an das jüngere Ich der Erzählerin wendet, verstanden werden. In diesem Fall lässt er sich als Ausspruch der Dankbarkeit oder der überraschenden Erkenntnis des lebensbestimmenden, identitätskonstituierenden verdrängten Ereignisses lesen. Dafür spräche die explizite Danksagung an den Psychiater Boris Cyrulnik am Ende des Textes, dessen Forschungsschwerpunkt auf der Resilienz durch Verdrängung traumatischer Erlebnisse bei Kindern liegt. Eine weitere mögliche Lesart des Titels wäre, ihn als Bezug zum Herkunfts‐ land Algerien zu verstehen, das sich der eigenen gewaltvollen Geschichte nicht erinnert. Das mit „ton oubli“ angesprochene Gegenüber wäre in diesem Ver‐ ständnis ein Algerien, das die eigene Vergangenheit, aber auch die Gewalttaten der Gegenwart (u. a. der Terror durch fundamentalistische Gruppen, aber auch allgegenwärtige Gewalt gegen Frauen) verschweigt und verdrängt. Das Leid der Opfer wird durch eine Tabuisierung dieser Gewalt vergrößert, in dem ihm die öffentlich legitimierte Grundlage entzogen wird. Der Begriff oubli hat eine doppelte Konnotation: er bedeutet Vergessen, aber ebenso Versäumnis, Vernachlässigung (vgl. Rey et al. 2001, S. 1747). Das kann sich auf Selmas unerfülltes Bedürfnis nach einer größeren Nähe zu ihrer Mutter als auch auf den Wunsch nach Akzeptanz in ihrem Herkunftsland Algerien beziehen. Sie fühlt sich als Subjekt sowohl von ihrer Mutter als auch ihrer Heimat zurückgewiesen. Die Offenheit des Titels bietet eine Projektionsfläche für mehrere Verstehen‐ sansätze. Er wendet sich gleichermaßen an mehrere Adressatinnen: die Mutter, 4.2 Identität in Bewegung 155 <?page no="156"?> 88 Diese Erkrankung, eng verknüpft mit Gedächtnisverlust, ist es schließlich auch, die zum Tod ihrer Mutter führt. die das Ereignis vor Selma verschweigt; das jüngere Ich der Figur Selma, dass durch die beobachtete Szene traumatisiert wird und sie in der Folge verdrängt; Algerien, das sich der eigenen gewaltvollen Geschichte nicht erinnern will. Der Roman verhandelt die im Titel angedeutete Ambivalenz des Vergessens und Verdrängens, das negative Konsequenzen zur Folge hat, wie Selmas schwie‐ riges und konfliktreiches Verhältnis zu ihrer Mutter und ihr Stellung als Andere von Kindheit an zeigen. Aber er bezieht sich ebenso auf die positive Folge des Vergessens als Voraussetzung für Selmas Willen und Stärke ein eigenes Leben aufzubauen, das ihren individuellen Bedürfnissen und Wünschen entspricht. Die ambivalente Wahrnehmung von Erinnerungen drückt sich auch durch die im Text gewählten Metaphern aus. Die zentrale Bedeutung von Erinnerung und Erinnerungsfähigkeit wird durch die Beziehung Selmas zu ihrer Mutter thematisiert. Nach dem Verlust einer Patientin hat Selma Flashbacks, in denen sie ihre Mutter mit einem Kissen einen Säugling ersticken sieht: „C’est à cette évocation que soudain quelque chose avait basculé en Selma“ (Mokeddem 2008, S. 15). Selma traut ihrer Erinnerung nicht und vermutet eine psychosomatische Reaktion auf den Tod der Patientin: Sie glaubt einen „accident vital de mémoire“ (Mokeddem 2008, S. 38) zu erleiden, als die Erinnerungen an den Tod des Säuglings in ihr Bewusstsein gelangen. Der accident vital de mémoire  88 - ebenso Titel eines Kapitels - beschreibt die Intensität und Plötzlichkeit mit der Selma das Ereignis aus ihrer Kindheit sowohl vergisst als auch erinnert. Selma kann sich ihrer Erinnerung nicht sicher sein. Die empfundene Unzu‐ länglichkeit ihres Gedächtnisses drückt sich in der Metapher der mémoire als labyrinthe aus: „[…] elle […] a fait de sa mémoire un labyrinthe dont elle se refusait l’accès“ (Mokeddem 2008, S. 50). Sie hat den Zugang zu ihren Erinnerungen selbst erschwert. Darüber hinaus hält sie es für unwahrscheinlich, dass sie eine derartige Szene über 50 Jahre vergessen haben könnte: „Oublier pareille énormité pendant cinquante ans? C’est impossible“ (Mokeddem 2008, S. 22). Als sie ein Detail ihrer Erinnerung - das weiße Kissen, mit dem das Baby erstickt wird - als nicht wahrscheinlich identifiziert glaubt, da es in ihrem Haus keine weißen Bezüge gab, stellt sie ihre gesamte Erinnerung in Frage. Allerdings ist der Erinnerungsprozess bereits ausgelöst. In dieser „nuit de la mémoire“ (Mokeddem 2008, S. 23) beginnt Selmas Suche nach der Wahrheit ihrer Erinnerung, die nur in der Konfrontation mit ihrer Mutter endgültig geklärt werden kann. Das bedeutet für Selma auch eine Rückkehr nach Algerien, in das sie seit Jahrzehnten nicht mehr gereist ist: „Comme si seule la terre où s’était 156 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="157"?> 89 Vgl. dazu die Ausführungen zur narrativen Konstruktion von Identität in Kapitel 2.2. imposée l’éclipse de l’oubli pouvait lui apporter une délivrance“ (Mokeddem 2008, S.-25). Die Erinnerung zu verifizieren wird für sie zur Notwendigkeit. Damit dies gelingt, muss sie sich dem Ort des Traumas auch räumlich nähern. Hieran wird deutlich, wie eng Selmas Erinnerungen mit dem Raum Algerien verknüpft sind. Zunächst versucht sie sich ihrer Erinnerung gewahr zu werden, indem sie sich - „telle une récitante“ (Mokeddem 2008, S. 39) - ihre eigene Lebensgeschichte laut erzählt. Es ist der Versuch, ihre Erinnerungen in einen narrativen und damit kohärenten Zusammenhang zu bringen. An dieser zentralen Stelle wechselt die Erzählperspektive kurzzeitig in den Monolog einer Ich-Erzählerin (vgl. ebd. S. 31-38): „[…] prêter sa voix à ce passé afin de lui restituer un son de vérité. Elle parle pour elle-même. […] « Je me souviens […]-»“ (ebd. S. 31). Im Anschluss daran, empfindet Selma das Bedürfnis, die Erinnerungsbruchstücke nicht nur zu benennen und für sich zu rekapitulieren, sondern „les confesser, de s’en expliquer devant autrui“ (ebd. S. 39). Als sie sich ihrem Freund Goumi anvertraut, empfindet sie es als eine „délivrance d’avoir pu s’épancher“ (ebd. S.-45). Durch das Verbalisieren der Erinnerungen, sich selbst als auch einer anderen Person gegenüber, versucht sie sich ihrer zu bemächtigen, sie sich zu Eigen zu machen und dem Wahrheitsgehalt der Erinnerung nachzuspüren. Die Erzählung der Erinnerungen dient einerseits dem Versuch der Rekonstruktion des Ereig‐ nisses, gleichzeitig wird ihr so Ausdruck verliehen und ein Sinnzusammenhang hergestellt. Dies ist Voraussetzung für die Identitätskonstruktion durch Narra‐ tion. 89 Damit wird sie im Sinne Lindaus zur „Gestalterin ihrer Identität“ (Lindau 2010, S.-57). Um sicherzugehen, dass die ihrer Identitätskonstruktion zugrunde gelegten Erinnerungen zuverlässig sind, spürt Selma diesen nach. Auslöser für die Erinnerungen ist neben dem Verlust ihrer Patientin auch das zeitgleiche Verschwinden ihrer Tante Zahia, der Mutter des erstickten Säuglings. Gleichzeitig wird sie emotional vom Schicksal im Mittelmeer ertrun‐ kener Flüchtlinge erschüttert. Diese drei Ereignisse von Tod und Verschwinden verbinden sich in Selmas Wahrnehmung und stoßen so den Erinnerungsprozess an, der zu einer Beschäftigung mit ihrer Herkunft und Vergangenheit wird. Am Ende des Kapitels L’accident vital de mémoire wird explizit benannt, dass der Kindstod ein Ursprungsereignis darstellt. Selma sieht darin den Ursprung für das gestörte Verhältnis zu ihrer Mutter. Das Ereignis markiert auch den Beginn ihrer Schlaflosigkeit (thematisiert in La Transe des insoumis, s. Kapitel 4.2.1) und ihrer Fluchtreflexe - sowohl wörtlich als auch gedanklich in die Welt 4.2 Identität in Bewegung 157 <?page no="158"?> der Literatur (Mokeddem 2008, S. 38). Selma ringt darum, eine Balance zwischen Erinnerung und Vergessen zu finden, auf die sich ihre Identitätskonstruktion stützen kann. - 4.2.2.3 Mal de mère I: Mutter-Tochter-Beziehung Die Beziehung zur Mutter beschreibt Selma als „mal de mère“ (Mokeddem 2008, S. 30). Das Wortspiel - eine Homophonie zu mal de mer, Seekrankheit - verweist auf das problematische Verhältnis der beiden und das Leid der Tochter, die sich eine innigere Beziehung wünscht: Tout ce qu’elles ne se sont pas dit une vie durant et qui les sépare à tout jamais. Ce mal de mère. (ebd.) Selmas Wunsch nach Annäherung scheint kaum erfüllbar. Sie empfindet das Schweigen zwischen ihnen als zu groß und die emotionale Distanz als unüber‐ windbar. Die Tat der Mutter steht dabei am Anfang der belasteten Beziehung. Sie ist auch der Auslöser für eine körperliche Distanz zur Mutter. Das Kind Selma empfindet die Nähe in der Folge sogar als Bedrohung: […] elle ne se voit pas contre elle. […] Entre Selma et sa mère il y a toujours eu un obstacle […]. Il ne s’exprimait que par le sentiment d’une vague menace. (Mokeddem 2008, S.-58) Die Distanz zwischen den beiden offenbart sich auch durch Selmas Unvermögen ihre Mutter mit einem Possessivpronomen und damit einer Zugehörigkeit zu bezeichnen. Sie nennt sie ebenfalls nicht beim Namen, sondern nur „la mère, elle“ (Mokeddem 2008, S.-86). In Rückblicken werden Selmas Versuche der Versöhnung erzählt; u. a. ihre Erinnerung an den einzigen Besuch der Mutter in Frankreich (vgl. ebd. S. 85ff.). Selmas Hoffnungen auf eine Veränderung der Beziehung werden allerdings enttäuscht, sobald sie erfährt, dass der Grund für die Reise der Mutter die Bitte um finanzielle Unterstützung für die Hochzeiten der beiden jüngsten Schwestern ist: „Certainement pas une crise d’affection pour elle“ (ebd. S. 86). Dennoch versucht Selma die nicht durch weitere Familienmitglieder gestörte, gemeinsam verbrachte Zeit zu nutzen, um bei der Mutter um Verständnis für ihr Leben und ihre Entscheidungen zu werben. Selma lebt unverheiratet mit ihrem französischen Partner - einem „mécréant“ (ebd. S. 115) in den Augen der Mutter - zusammen. Sie empfindet die Konfrontation der Mutter mit ihrem Lebensstil als befreiend und sieht darin einen Anlass zur Auseinandersetzung, der es ihr ermöglichen könnte, ein intimes (Streit-)Gespräch mit der Mutter zu führen. Doch dazu lässt diese es nicht kommen: 158 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="159"?> Toute leur vie, elles n’avaient fait que croiser leur silence. […] S’il lui fallait trouver un mot, un seul, qui puisse définir la mère, ce serait: jamais. (Mokeddem 2008, S. 91f.) Trotz der gemeinsam verbrachten Zeit bleibt das Schweigen zentrales Element ihrer Beziehung. Im obigen Zitat wird deutlich, dass Selma keine Möglichkeit sieht, das Schweigen der Mutter zu durchbrechen. Ihre Kommunikationsver‐ suche scheitern. Gleichzeitig gelingt auch der Versuch der Mutter nicht, Selma ein Versöhnungsangebot zu machen. Die Übergabe eines Teils des Familien‐ schmucks und damit ein Symbol der Zugehörigkeit scheitert letztendlich an Selmas Skepsis und der jahrelangen Erfahrungen des einseitigen Gebens. C’est Selma qui a toujours donné sans jamais recevoir. Avec cet orgueil rétif qui ne quémande rien, surtout pas. […] elle ne peut s’empêcher de penser à toutes les humiliations subies par la mère, sa vie durant. (Mokeddem 2008, S.-71) Selma nimmt den Schmuck nicht an. Sie lehnt damit auch bewusst die Initiation in die traditionelle Gemeinschaft der Frauen ab, die durch die Übergabe des Familienschmucks an die nächste Generation symbolisiert wird. Hier wird die Distanz und unterschiedliche Erwartungshaltung der beiden Frauen offenbar: Selma erwartet als Individuum mit den Wunden ihrer Vergangenheit ange‐ nommen zu werden. Ihre Mutter versucht sie mit Symbolen der Tradition an diese und die Familie zu binden. Es kommt hier wiederum zu einem Konflikt zwischen dem Wunsch der Protagonistin nach Anerkennung ihrer Individua‐ lität und dem Wunsch nach Zugehörigkeit. Selma kann ihre Individualität nur leben, indem sie sich dem Einfluss der Mutter, der Familie und der algerischen Gesellschaft entzieht. Ihr Wunsch nach Individualität führt daher zunehmend zu einem Bruch mit der Tradition. Der Versuch Selmas, eine Versöhnung zwischen ihr und ihrer Mutter und damit zwischen ihrer algerischen Herkunft und ihrem französischen Leben herbeizuführen, scheitert. Die Mutter erscheint Selma zudem wie ein Fremdkörper in ihrem Leben in Südfrankreich. Die Autorität, die sie in ihrem Haus in Algerien ausübt, weicht einer unbeholfenen Unselbständigkeit in der fremden Umgebung: Barricadée dans sa maison, la mère régissait la vie de toute la famille. Dehors elle devenait une handicapée totale. (Mokeddem 2008, S.-87) Die Mutter - in der Vergangenheit für Selma eine ambivalente Figur, der sie mit Bedauern, Zweifel, Enttäuschung und Angst gegenübersteht - verliert nun ihre bedeutungsvolle Machtstellung: „Brusquement, la mère a l’air d’une petite fille minée par la culpabilité et tellement maladroite“ (Mokeddem 2008, S. 71). Die Rollen kehren sich um. Dadurch, dass sie ihre Mutter als in der Welt 4.2 Identität in Bewegung 159 <?page no="160"?> außerhalb der Familie als eingeschränkt handlungsfähig wahrnimmt, wird sie zur Erwachsenen, der die Verantwortung für die Mutter und die Kontrolle der Situation obliegt. Der Besuch der Mutter in Frankreich markiert so eine Zäsur in der Beziehung. Es wird deutlich, dass Mutter und Tochter nicht nur die geographische Hürde in Form des Meeres trennt, sondern eine emotionale, scheinbar unüberwindbare aus enttäuschten Hoffnungen und unterschiedlichen Erwartungen: L’autre côté, pour elles, ce serait l’amour. Ce côté intime de la vie où elles ne se rejoindraient jamais. (Mokeddem 2008, S.-96) Wiederum wird die Beziehung mit dem Wort „jamais“ charakterisiert. Wie in dem Zitat weiter oben, in dem Selma eine gelungene Kommunikation mit der Mutter ausschließt, verweist es nun auf die Unmöglichkeit einer liebevollen Zuwendung. Es kommt zu keiner emotionalen Annäherung. In der Folge des Besuchs verändert sich allerdings Selmas Wahrnehmung der Mutter, die ihr weniger bedrohlich als hilflos und ohnmächtig erscheint. Selma beginnt sich mit der Kindheit der Mutter zu beschäftigen, die nur fünfzehn Jahre älter ist als Selma selbst (vgl. Mokeddem 2008, S. 15). Sie begibt sich auf die Suche nach den Spuren der Kindheit ihrer Mutter und entdeckt deren eigenes Trauma: ihre Großmutter starb bei der Geburt der Mutter. Selma erkennt darin eine Verbindung und eine mögliche Erklärung für ihr abweisendes Verhalten gegen‐ über ihrer ältesten Tochter: „Faut-il y entrevoir une autre clef de sa relation à Selma, sa fille aînée? “ (Mokeddem 2008, S. 71). Für Selma ist dies durchaus ein Anknüpfungspunkt, um eine Genealogie zwischen Frauen ihrer Familie mütterlicherseits und sich zu imaginieren, die durch ihre Andersartigkeit bisher nicht denkbar war. Es ist allerdings eine Genealogie des Schmerzes und der Verlassenheit. Schließlich stellt Selma ihre Mutter zur Rede und fordert die Klärung ihrer eigenen unsicheren Erinnerung an den Tod des Säuglings ein. Diese unternimmt nur einen zaghaften Versuch zu dementieren und gesteht, das Kind getötet zu haben. Selmas Hoffnung darauf, ihre vermeintliche Erinnerung würde sich als Trugbild herausstellen, wird enttäuscht. Gleichzeitig ergibt sich nun mit dem Geständnis eine Erklärung für die problematische Mutter-Tochter-Beziehung. Die Konfrontation mit der Mutter wird zur Konfrontation mit den Realitäten der familiären Beziehungen, aber ebenso den Bedingungen, die eine solche Tat notwendig machten. Die Mutter stellt die Tat als alternativlos dar und erklärt die Auswegslosigkeit und den eingeschränkten Handlungsspielraum im Fall einer unehelichen Schwangerschaft: „On était bien obligés de tout étouffer! “ 160 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="161"?> (Mokeddem 2008, S. 65) Es kommt zu einem weiteren Bruch in der Beziehung zwischen Mutter und Tochter. Schließlich wird Selma mit dem Tod der Mutter auf sich selbst zurückge‐ worfen und bleibt ohne Hoffnung auf eine Klärung. Der Tod der Mutter markiert einen bedeutenden Wendepunkt in Selmas Leben: „Triste comme jamais elle ne l’a été“ (Mokeddem 2008, S. 136). Als ältestes Kind sieht sie sich nun in der Verantwortung, zumindest zum Teil die von der Mutter hinterlassene Lücke zu füllen. Beispielsweise eine Schwester zu sich zu nehmen, deren zwölfjährige Tochter Selma zu ähneln scheint: „Une jolie jeune fille en qui la famille dans son entier s’accorde à reconnaître un clone de sa tante Selma“ (Mokeddem 2008, S. 137). Auch die Brüder scheinen „en quête d’une mère de substitution“ (Mokeddem 2008, S. 138) zu sein. Aber Selma verweigert sich dieser Rolle letztendlich; ihre Vergangenheit mit der Mutter ist durch die Beobachtung des Kindsmords nicht vergleichbar mit dem Bild, das ihre Geschwister von der Mutter für sich beanspruchen: „Pas la même mère“ (Mokeddem 2008, S.-46). Die Trauer um die Mutter wirkt in der Verwandtschaft wie ein Bannbruch und lässt die weiblichen Verwandten freimütig von der Meinung der Mutter über Selma berichten. („Est-ce la disparition de la mère qui libère le non-dit? “ (Mokeddem 2008, S. 143) Selma erfährt von ihren Verwandten, wie ihre Mutter über sie sprach: „ta mère était fière de toi“, „elle était convaincue que […] ton soutien lui serait resté infaillible“, „ma fille, elle, elle est médecin. Elle ne fait que travailler, lire et se promener“ (Mokeddem 2008, S. 143-144). Der von Selma erhoffte Dialog zwischen Mutter und Tochter kommt nicht zustande und die Möglichkeit dazu wird durch den Tod der Mutter endgültig verwehrt. Allerdings öffnet sich die Mutter nun erstmals gegenüber ihrer Tochter durch die Äußerungen der Verwandten. „Ici, c’est le fantôme de la mère qui va, longtemps, soutenir les vivants“ (Mokeddem 2008, S.-144). Die beobachtete Kindstötung sieht Selma als Auslöser für ihre Trennung von der Familie, für ihre Andersartigkeit. Selma begreift sie selbst als Grundlage für ihre Entscheidungen und Emotionen, als Basis ihrer Identitätskonstruktion. Sie empfindet bereits in frühester Kindheit ihr Außenseiter: innentum. Im Gespräch mit Goumi - ihrem Freund und außenstehenden Beobachter - wird ihre besondere Stellung in der Familie deutlich: Sur ton sentiment d’avoir vécu l’exil, la plus terrible solitude au milieu de tes frères et sœurs. Toi, tu as été sauvée par un enseignement de qualité. […] Mais toutes ces divergences entre eux et toi ne sont rien en regard du fait que tu es la seule à avoir vu cet infanticide. C’est comme si vous n’aviez pas eu la même mère! (Mokeddem 2008, S.-46) 4.2 Identität in Bewegung 161 <?page no="162"?> In der Folge entwirft Selma ihre Identität als radikal unabhängig von familiären Beziehungen. Sie durchbricht die familiäre, verwandtschaftliche Genealogie, in dem sie sich als völlig unabhängig von ihrer Mutter konstruiert und selbst kinderlos bleibt: „Elle n’a jamais eu de mère et elle ne sera jamais mère“ (Mokeddem 2008, S. 138). Darüber hinaus stellt sie das Konzept von Mutterschaft insgesamt in Frage: „La mère, qu’est-ce que cela signifie pour elle? Elle bute contre ce mot, se tait“ (Mokeddem 2008, S.-85). Sie hat das Bedürfnis selbst keine Spuren zu hinterlassen (es gibt z. B. kaum Fotos von ihr), wie ihre nomadischen Vorfahr: innen, die durch beständiges Unterwegssein durch keine materielle Spur auffindbar sind: Les Hauts Plateaux on toujours prodigué à Selma cette exaltation intense, ce sentiment de rejoindre les mânes de ses ancêtres nomades, des femmes et des hommes sans traces. Leur lumière particulière lui paraît tissée par la multitude des regards de tant de générations. (Mokeddem 2008, S.-112) Hier wird deutlich, dass sie sich zwar der familiären Bindung entzieht, aber gleichzeitig eine Zugehörigkeit zur Genealogie der „femmes et hommes sans traces“ sucht. Das hierin liegende Verständnis von Freiheit beinhaltet eine Ablehnung materieller Zeugnisse (z. B. Fotos) zu hinterlassen, aber gleichzeitig zielt es durch die Zuordnung zu den nomadischen Vorfahren auf eine traditi‐ onsreiche, generationenüberdauernde mündliche Überlieferungs- und Erinne‐ rungskultur. - 4.2.2.4 Mal de mère II: Frankreich-Algerien Die Tat ihrer Mutter, das Töten eines Säuglings, um soziale Ächtung ihrer Familie zu verhindern, führt zu einer ablehnenden Haltung Selmas der herrsch‐ enden Gesellschaftsordnung gegenüber. Die Kindstötung weist für sie auf Mechanismen hin, die für eine starre Gesellschaftsordnung und restriktive Ge‐ schlechterzuschreibungen stehen. Auch nach 50 Jahren hat sich aus ihrer Sicht kaum etwas verändert und Entwicklungen sieht als kaum möglich, wenn sie im Widerspruch zu Traditionen stehen oder ein solcher Widerspruch konstruiert wird. Selmas Wut, Frustration und Enttäuschung über ihre Mutter offenbart so auch die Wut über ihre Heimat Algerien. Im Text wird dies nicht nur über die wütenden und sarkastischen Äußerungen Selmas den Frauen ihrer Familie gegenüber („toutes un amas adipeux“ Mokeddem 2008, S. 57) deutlich, sondern auch mit einem Verweis auf die mythologische Geschichte Medeas, die als Metapher für innere Zerrissenheit und das Gefühl von Ausweglosigkeit fungiert. Es wird eine Analogie konstruiert zwischen der Figur Medeas, einer Mutter, 162 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="163"?> die ihre eigenen Kinder tötet, und dem Land, das einen großen Teil der jungen Bevölkerung keine Zukunftschancen bieten kann. Selma sieht Algerien als ein Land, das die Hälfte der eigenen Bevölkerung, die Frauen, als Bürger: innen zweiter Klasse behandelt, in dem es ihnen nach wie vor die gleichen Rechte verwehrt. En vérité, c’est au pays tout entier, à l’Algérie, que sied le rôle de Médée. C’est elle qui a fomenté des violences, des exactions avec cette sorte de jouissance destructrice. […] Elle continue à se mutiler en reléguant la moitié de sa population, les femmes, au rang de sous-individus dans les textes de sa loi. (Mokeddem 2008, S.-73) Für sie geht die gesellschaftliche Stagnation auch auf die mangelnde Handlungs‐ fähigkeit (-willigkeit) der Bevölkerung und insbesondere der Frauen zurück. Sie wirft ihrer Mutter und anderen Frauen vorauseilenden Gehorsam und auto‐ destruktives Verhalten vor: „Et cela n’en rend que plus implacable l’autocensure, l’autopunition, l’inflexibilité d’une tradition obscurantiste“ (Mokeddem 2008, S. 66). Gleichzeitig begreift sie sich als ebenso verhaftet in den familiären Strukturen, den traditionellen Denkweisen und sozialen Handlungsmustern ihrer Herkunft: Elle est bien d’ici et de ceux-là, Selma. Pas une malfaçon. Si elle n’y prenait garde, il lui suffirait de gratter un peu le vernis de la culture, de surseoir à la rigueur de son esprit critique pour être prête à faire bloc avec eux au plus profond de leurs ténèbres. Elle le sait et c’est bien pour ça qu’elle a toujours fui. (Mokeddem 2008, S.-67) Selma erlebt in sich die Spaltung zwischen hier und dort, ihrer algerischen Herkunft und ihres selbstgewählten Lebens in Frankreich; sie ist „d’ici et de ceux-là“. Diese Dualität führt zu widersprüchlichen Emotionen und Gedanken‐ welten, die nicht aufgelöst werden, sondern nebeneinanderstehen. Selmas Blick auf ihre Familie ist der einer Außenseiterin; sie urteilt auch mit dem Blick einer lange in Frankreich im Exil Lebenden. Die Erinnerung an ihre Mutter als Täterin und die Wahrnehmung des Beobachteten als Ursprungsereignis ihres Andersseins rufen in Selma eine wütende Reaktion hervor; nicht nur in Bezug auf die Mutter, sondern auch in Bezug auf ihr Herkunftsland Algerien. Ihre Beobachtungen sind gnadenlos, insbesondere den Frauen gegenüber, die sie als feige und handlungsunfähig beschreibt: Est-ce qu’affronter le scandale familial […] aurait exigé plus de résolution, de bravoure que d’assassiner un nourrisson ? Pourquoi ont-ils tous été aussi lâches ? (Mokeddem 2008, S.-65) 4.2 Identität in Bewegung 163 <?page no="164"?> 90 Kyoore zitiert Mokeddem, die sich selbst als wütende Frau bezeichnet und schließt daraus: „It is this anger that is portrayed through her female characters“ (Kyoore 2014, S. 5). Sie erklärt die Wut mit den Widersprüchen, die sich aus den inneren Konflikten zwischen Wunsch nach Zugehörigkeit und Bedürfnis nach Anerkennung und Freiheit der eigenen Identitätskonstruktion ergeben (vgl. ebd.). Sie kann nicht nachvollziehen, warum ihre Mutter und ihre Tante sich dafür entschieden, den Säugling zu töten, anstatt die soziale Ausgrenzung zu erdulden. In ihrer Wut 90 über ihr eigenes Schicksal wirft sie ihnen Feigheit vor und sucht gleichzeitig nach Erklärungsmustern. Sie begreift Bildung der Frauen als ein zentrales Element für die Entwicklung der Gesellschaft: Auparavant, Selma ne percevait dans cette intrusion […] que l’impatience, l’Inquisi‐ tion. […] Aujourd’hui, elle voit ces femmes différemment. Le manque d’instruction les maintient ensemble, démunies. (Mokeddem 2008, S.-56) Ausschluss von Bildung und ökonomischer Eigenständigkeit bringen die Frauen in eine äußerst prekäre Lage. Soziale Ausgrenzung hat für sie daher unmittelbar existenzbedrohende Folgen. Selma konnte dieser Situation durch Bildung ent‐ kommen. Dennoch offenbart sich in der Widersprüchlichkeit ihrer Gedanken in Bezug auf das Handeln der Frauen ihrer Familie ihre eigene emotionale Verstrickung in das Schicksal dieser Frauen. In dem Zusammenhang bekommt auch die Schilderung der Lebensge‐ schichten weiterer weiblicher Bezugspersonen in der Kindheit und Jugend der Protagonistin Bedeutung: Neben der Großmutter und der Mutter nehmen die beiden Schwestern der Mutter eine besondere Funktion ein. Ihre Schicksale fungieren als Negativfolie in Selmas Entwicklung, durch die sie die Unfreiheit weiblicher Lebensentwürfe bereits als Kind erfährt. Halima, die jüngere Schwester der Mutter, wird mit ihrem Cousin verheiratet. Mit diesem Schicksal erfüllt sie die familiäre Tradition und somit ihre Pflicht: „C’est le sort de toutes les filles de la tribu d’Oujda. On les « marie au désert »“ (Mokeddem 2008, S. 33). Es wird deutlich, dass Halima keinerlei Entscheidungs‐ möglichkeit gegeben wurde. Zahia, deren Säugling durch die Tat von Selmas Mutter sterben musste, ist die ältere Schwester der Mutter. Die Familie verheiratet die unverheiratet Schwangere noch rechtzeitig vor der Geburt des Kindes mit einem willigen Bewerber. Die Schwangerschaft ist zum Zeitpunkt der Eheschließung allerdings bereits deutlich zu erkennen. Es wird angedeutet, dass das Baby sterben musste, weil Zahias Ehemann nicht bereit war das Kind eines anderen anzunehmen. Es bleibt unklar, wer der Vater des Kindes ist. Aufgrund der sozialen Kontrolle und ständigen Beobachtung, unter der die Frauen stehen, und dem Mangel an 164 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="165"?> Möglichkeiten sich außerhalb des Hauses zu bewegen, kommt nur ein naher Verwandter in Frage (vgl. Mokeddem 2008, S. 33). Als Selma die Ereignisse als Erwachsene rekapituliert, wird ihr bewusst, dass Zahia wahrscheinlich Opfer einer innerfamiliären Verbindung, vielleicht sogar Vergewaltigung, geworden ist. Sie fragt sich: „Et lequel des deux hommes à la maison est-il le géniteur du bébé sacrifié? Mon père ou mon oncle encore jeune célibataire? “ (Mokedddem 2008, S.-33) Durch die Schilderungen dieser beiden Schicksale wird deutlich, dass die Frauen der Familie kaum Handlungs- oder Entscheidungsfreiheit haben und der innerfamiliären oder innerehelichen Gewalt der Männer ausgeliefert sind. Sie haben nicht die Wahl über ihre Lebensentwürfe selbst zu entscheiden, sondern folgen den Entscheidungen der männlichen Familienmitglieder oder reagieren aus Angst vor zu erwartender sozialer Ausgrenzung und Gewalt. In diesem Zusammenhang findet die Tat von Selmas Mutter statt (vgl. Mokeddem 2008, S.-31-33). Aus der Situation ständiger Bedrohung durch die männlichen Familienmit‐ glieder erwächst eine Solidarität unter den Frauen, die Verantwortung fürei‐ nander und gegenseitigen Schutz bedeutet. Mit der Tötung des Säuglings nimmt dies allerdings eine aus der Handlungsunfreiheit resultierende pervertierte Form an. Die Brutalität des Aktes erfordert außerdem das Schweigen der Mitwisserinnen, woraus eine erneute Solidarität der Mittäterschaft entsteht. Auf das Schweigen der Frauen folgt eine Lüge („On prétendra que Zahia a fait une fausse-couche.“ (Mokeddem 2008, S.-32f.)) und darauf die Verdrängung des Ereignisses. Auch Selma ist sich lange nicht sicher, ob sie wirklich Zeugin einer mutwilligen Tötung geworden ist. Ihr bleibt ein Unbehagen, das sie ihre Kindheit über bis ins Erwachsenenalter begleitet: Ce mensonge va introduire une dissonance dans mon esprit sans que j’en sache jamais la provenance. (Mokeddem 2008, S.-33) Das Verschweigen der wahren Ereignisse transportiert das von Zahia und Selmas Mutter erlebte Trauma in die nächste Generation. Selma, die sich durch Bildung Eigenständigkeit und ökonomische Unabhängigkeit erarbeitet hat, bleibt dennoch stark gebunden an das Schicksal der Frauen ihrer Familie. Sie versucht, sich von dem Teil ihrer selbst, der sich ebenfalls als Opfer begreifen könnte, freizukämpfen. Selma se jurait alors de ne jamais laisser aucune latitude à ce cirque macabre. Et quelle meilleure garantie contre les phobies ancestrales que de mettre le désert, d’autres terres et la mer, derrière sa fuite ? […] « Les rôles de victimes, je n’en veux pas ». (Mokeddem 2008, S.-67) 4.2 Identität in Bewegung 165 <?page no="166"?> Hier spricht sie sich explizit gegen das Gefühl aus in eine Opferrolle zu geraten. Die räumliche Distanz zu ihrer Familie und den Gesellschaftsstrukturen, in denen sie aufwuchs, scheint ihr notwendig, um den vorgegebenen Handlungs‐ mustern zu entkommen. Dennoch spricht sie sich nicht frei von sozialen Mechanismen. Die Verurteilung der anderen Frauen, u. a. als feige wie oben beschrieben, wird zu einer Verurteilung ihrer selbst. Die erhoffte Versöhnung mit der Mutter wird somit auch zu dem Versuch einer Versöhnung mit sich selbst. Selmas Lebensweg ergibt sich aus der Reaktion auf die erlebten Schicksale der Frauen ihrer Familie. Die beobachtete Kindstötung begreift sie als Ursprungs‐ ereignis ihrer Identitätsbildung. Als Ursache dieser Tat begreift sie die soziale, ökonomische und psychologische Situation der Frauen um sie herum, die zu dieser führten. - 4.2.2.5 Selma als „fugueuse“ und das Mittelmeer als „vrai territoire“ Die unmittelbare Reaktion Selmas auf die beobachtete Kindstötung ist die Flucht, la fugue. Am selben Tag beginnt die dreijährige Selma nachts das Haus zu verlassen und durch die Gegend zu wandern. Versuche, sie daran zu hindern, scheitern: „Dès qu’on me lâchait, je me sauvais. On m’avait surnommée « la petite fugueuse »“ (Mokeddem 2008, S. 35). Das Ereignis verändert Selma und wird zum Beginn für die Loslösung von ihrer Familie. Sie wird zur „fugueuse“. Das Weglaufen und Herumwandern als nonkonformes Verhalten für ein Mäd‐ chen machen sie zur Außenseiterin („les gens redoutaient mes yeux grands ouverts, mon air pas commode, mon mutisme“ (ebd.)). Auch als Erwachsene behält Selma die Gewohnheit des Laufens bei. Es wird zu ihrem bevorzugten reaktivem Verhalten in schwierigen Situationen: Mais Selma éprouve l’urgence de partir elle-même. […] ce soir, elle n’a qu’une envie, fuir. […] Elle se met à courir. Elle court. Elle court. (Mokeddem 2008, S.-25-26) Die Flucht wird zum strukturgebenden Aspekt in Selmas Leben. Partir est une pulsion qui monte, un élan d’impatience absolue qui emporte, trompe la mélancolie comme la culpabilité et finit par les effacer. (Mokeddem 2008, S.-125) Flucht und Bewegung werden für Selma zu einem existentiellen Bedürfnis. Es ist ihre Reaktion auf starke Gefühle wie Trauer und Schuld. Bewegung ist Ausdruck ihrer Identitätssuche und gleichzeitig Teil ihrer Identität. So bleibt die Figur Selma physisch in ständiger Bewegung, aber auch ihre Identitätssuche ist angelegt im ‚Dazwischen‘, gewissermaßen ortlos und nicht an einen festen Platz gebunden. Zum Symbol dieser Ortlosigkeit und Zerrissen‐ 166 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="167"?> 91 Vgl. dazu Arend: „Für die Maghrebliteratur steht […] das Mittelmeer als Europa und Nordafrika verbindender und trennender Raum an, der für viele Maghrebiner heute vielfach die Funktion hat, ein nicht mehr identifikationsfähiges Nationen-Konzept zu ersetzen“ (Arend 1998, S.-141). heit wird das Mittelmeer. Es bildet eine Verbindung zu Algerien, dem Land, das sie verließ, in dem sie bedroht und eingeengt wurde, das dennoch ihre Heimat ist und als Sehnsuchtsort beschrieben wird (vgl. „Là-bas, Oran“, Mokeddem 2008, S. 26). Es fungiert als Ort der Erinnerung und damit wichtiger Bestandteil ihrer Persönlichkeit. Es ist der Ort, an dem das Trauma entstand, an dem daher aber auch die Heilung in Form einer lückenlosen Aufklärung der Ereignisse liegen kann. Die Nähe zum Mittelmeer hat nahezu therapeutische Wirkung auf Selma. Es vermittelt ihr ein Gefühl von Heimat und Zugehörigkeit. Es scheint für sie nicht in erster Linie eine Distanz zwischen Algerien und Frankreich zu verkörpern, sondern im Gegenteil die Verbindung zwischen den beiden Ländern darzustellen: Un sourire lui vient aux lèvres à la pensée que, sur quelque rive qu’elle se tienne, l’autre côté est encore « à elle ». Ces « ici » et « là-bas » s’inversent pour lui délimiter son vrai territoire, cette mer. (Mokeddem 2008, S.-80) Das Mittelmeer wird als eigentliche Heimat Selmas konstruiert. Es stellt einen Ort im Dazwischen dar, indem sich feste Bezüge auflösen und kulturelle, nationale, geschlechtliche und gesellschaftliche Begrenzungen überwunden werden, da sie auf dem offenen Meer ihre Bedeutung verlieren 91 . Dies steht konträr zu der Wahrnehmung ihres Herkunftsorts: Aїn Eddar, le nom de son oasis natale, prend deux significations, selon la façon dont on prononce « Eddar » : « la maison » ou « la douleur ». Aїn étant « la source », la maison et la douleur seraient donc issues d’une même résurgence ? (Mokeddem 2008, S.-77) Heimat und Zuhause sind für Selma emotional ambivalent besetzte Konzepte, daher wird das Meer, der Zwischenraum, zum „vrai territoire“, das die emotio‐ nale Verwundung und Leere Selmas zu füllen vermag. La vue de la mer, ses effusions remplissent la solitude de Selma […]. […] Elle la longe à vive allure, éblouie par sa plénitude. (Mokeddem 2008, S.-79) Die Nähe des Meeres gibt Selma ein Gefühl der Erfüllung und steht damit im Gegensatz zu ihren Gefühlen der Mutter gegenüber, die emotionale Leere 4.2 Identität in Bewegung 167 <?page no="168"?> erzeugt. Die Homophone mer und mère bilden so einen semantischen Gegensatz, der für Selmas Identitätssuche charakteristisch ist. Aber die Heimatgefühle beim Anblick des Mittelmeers bleiben nicht unge‐ trübt. Selma sieht ebenfalls die Menschen, die versuchen das Mittelmeer zu überqueren. Sie fragt sich: „Pourquoi offre-t-elle des perspectives aux uns et s’ouvre-t-elle en tombeau pour tant d’autres? “ (Mokeddem 2008, S. 80) Das Meer wird zu einem ambivalenten Raum, der gleichzeitig Freiheit aber auch den kollektiven Tod von geflüchteten Menschen aus Afrika bedeutet. Die Freiheit bleibt nur einigen vorbehalten und wird dadurch eingeschränkt. Mittelmeer und Wüste sind, wie schon in La Transe des insoumis, Sehnsucht‐ sorte. Sie stellen Orte der Konstruktion von Identität dar, die außerhalb von begrenzenden Bezügen stehen. Allerdings wird in Je dois tout à ton oubli die Ambivalenz des Mittelmeers als Ort der Verbindung Algeriens und Frankreichs deutlich. Das Mittelmeer als verbindenden Raum zu betrachten ist im Hinblick auf die gemeinsame koloniale Vergangenheit, in der Algerien durch die Verwal‐ tungsstrukturen Teil Frankreichs war, problematisch: Es erinnert an vergangene Machtverhältnisse. Zudem ist das Mittelmeer heute ebenfalls eine massive Grenze zwischen Europa und Nordafrika, an der sich die ganze Tragik der Flüchtlingsbewegungen offenbart, die im Roman bereits angedeutet werden. - 4.2.2.6 Die Gemeinschaft der fugueuses Der Impuls zur Flucht verbindet Selma mit anderen Frauen, die vor der fa‐ miliären und gesellschaftlichen Enge in Algerien nach Frankreich geflohen sind. Sie bilden eine Gemeinschaft der fugueuses, der ‚Flüchtenden‘, für die es lebensnotwendig ist, ins Exil zu gehen. Dazu zählt z. B. Fatiha, eine Kollegin Selmas aus dem Krankenhaus in Frankreich. Fatiha flieht wie Selma als Teenager vor ihrer Familie, nachdem ihre Brüder sie wegen einer unehelichen Schwangerschaft mit dem Tode bedroht hatten. Sie kehrt nach Jahrzehnten nach Algerien zurück, um ihre damals geborene Tochter zu finden und gerät in eine Falle ihrer Brüder aus der sie sich wiederum nur durch heimliche Flucht befreien kann. Fatiha stammt im Gegensatz zu Selma aus einer wohlhabenden Familie, was allerdings nichts an ihrem geteilten Schicksal ändert: „La condition sociale ne change donc en rien le traitement réservé aux incartades des filles rebelles“ (Mokeddem 2008, S.-102). Diese Episode verknüpft die persönliche Geschichte Selmas mit denjenigen anderer Frauen und lässt ein Bild von den familiären Zusammenhängen und dem auf den Mädchen lastenden sozialen Druck entstehen. Die Mädchen und Frauen werden in gesellschaftliche Rollen gedrängt, die sie von ihren subjektiven Wünschen und Bedürfnissen entfremden. 168 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="169"?> Combien sont-elles à travers le monde à occuper une place qui n’est jamais la leur? Ce lieu suspendu entre les continents des évadées. Cet exil adoré même lorsqu’il n’a rien de doré. Car loin du drame familial, l’énormité du chagrin laissé derrière soi ne semble avoir d’autre fin que la joie de chaque découverte. De chaque moment de solitude. (Mokeddem 208, S.-106) Fatiha und Selma begegnen sich im Flugzeug auf dem Weg nach Frankreich. Sie befinden sich über dem Mittelmeer und damit im ‚Dazwischen‘, dem eigentlichen Heimatort der fugueuses. Das Exil wird als Ausweg dargestellt, der von der Familie und dem „drame familial“ wegführt. Auch wenn die Emigration nach Frankreich mit Schwierigkeiten verbunden ist („rien de doré“), so eröffnet die Distanz zwischen den Frauen und ihren Familien, die Freiheit sich selbst und eine Welt jenseits der engen familiären Grenzen zu erleben. Selbst die Einsamkeit, die daraus resultiert, wird in diesem Kontext als positiv empfunden. Allerdings bleibt der Schmerz, das Vertraute hinter sich zu lassen. Die Trennung von der Familie wird mit einer Amputation verglichen, und die damit verknüpften Gefühle als Phantomschmerz beschrieben. In dieser Analogie wird die Trennung zu einem gewalttätigen, irreversiblen, aber lebensnotwendigen Akt, nach dessen Vollzug ein Leben in Freiheit möglich scheint. Tous les élancements, les « membres fantômes » de ces amputées ne peuvent rien contre la conscience aiguë que la liberté est au bout de toutes leurs blessures. (Mokeddem 2008, S.-106) Die Metapher der Amputation findet sich ebenfalls in La transe des insoumis. Dort werden die Mädchen, die sich aus familiären Verpflichtungen und Erwar‐ tungen befreien als „amputées de la liberté“ (Mokeddem 2003, S. 178) bezeichnet. Dieser Zusammenhang wird auch im obigen Zitat deutlich: Die Freiheit ist eng verknüpft mit dem Leid der Trennung von der Familie und den Zugehörigkeiten zu einer Gemeinschaft. Für Selma ergibt sich aus diesem Schmerz nur die Möglichkeit in Bewegung zu bleiben. Sie ist die fugueuse solitaire (Mokeddem 2008, S. 81), die vor der Einengung durch Tabus und Traditionen flieht. Die Flucht scheint für sie ein unwillkürlicher Impuls zu sein, der die Konfrontation mit ihren Gefühlen erleichtert. Partir est une pulsion qui monte, un élan d’impatience absolue qui emporte, trompe la mélancolie comme la culpabilité et finit par les effacer. Selma en a l’habitude. Cela n’a rien de l’errance perpétuelle des exilés entre deux pays. (Mokeddem 2008, S.-125) Sie unterscheidet hier zwischen fugue und errance: die Flucht scheint perma‐ nenter, unwiderruflich, die errance hingegen markiert eine Hin-und-Her-Be‐ 4.2 Identität in Bewegung 169 <?page no="170"?> wegung zwischen dem Herkunftsland und dem Land des Exils. In diesem Ver‐ ständnis kann die errance eine Identitätskonstruktion mit Elementen aus beiden Kulturen bedeuten, die regelmäßig durch Anwesenheit in beiden Ländern abgerufen werden können. Die fugue hingegen, die Flucht aus beiden Ländern ist rastloser und zieht kein Ankommen nach sich. Selmas Identitätskonstruktion als fugueuse ist offen, schwer fixierbar und durchaus auch widersprüchlich und uneinheitlich wie oben im Zusammenhang mit ihrer Auseinandersetzung mit den Frauen ihrer Familie gezeigt. Diese Identitätskonstruktion als fugueuse/ als rebelle vermag allerdings nicht die emotionale Leere zu füllen, die sie nach wie vor empfindet: Si tout à fait inconsciemment elle s’est exemptée, elle, la rebelle, de devoir dénoncer toute sa famille, elle ne s’est pas sentie moins orpheline pour autant. (Mokeddem 2008, S.-68) Ihre Identitätssuche bleibt demnach unabgeschlossen. - 4.2.2.7 Fazit Je dois tout à ton oubli Der Roman Je dois tout à ton oubli weist, im Gegensatz zu dem zuvor analysierten Text Mokeddems, eine klare Gattungszuordnung als Roman auf. Dennoch finden sich auf intertextueller Ebene der beiden Texte autobiographische Bezüge durch die Erwähnung des Romans in La transe des insoumis. Dies führt zu einer Offenheit des Textes und einer Unsicherheit bei den Rezipient: innen. Diese Wirkung wird verstärkt durch die Unsicherheit der Erinnerungen der Protagonistin Selma, die zu Beginn des Textes deutlich wird. So wird auf meh‐ reren Ebenen hinterfragt, ob eine wahrhafte Darstellung einer Lebensgeschichte möglich ist oder Einzelnes unsicher bleibt, bzw. das Gedächtnis Ereignisse oder Erinnerungslücken konstruiert, um Kohärenz zu suggerieren. Dies führt auch zu einem Verständnis von Identitätskonstruktion, das Fiktives oder Halbwahres integrieren kann. Der Titel verweist bereits auf das zentrale Thema des Vergessens und Erinnerns. Vergessen wird als ambivalent dargestellt. Es ermöglicht Selmas Lebensweg, lässt aber andererseits eine (Erinnerungs-)Lücke, die sie zeitlebens irritiert und die letztendlich die Möglichkeit einer kohärenten Identität in Frage stellt. Selma begibt sich daher auf die Suche nach der Wahrheit zu einer spezifischen Erinnerung, die sie plötzlich heimsucht, deren Authentizität sie aber bezweifelt. Sie versucht die Erinnerung mittels Erzählung („telle une récitante“, Mokeddem 2008, S. 39) zurückzugewinnen. Schließlich wird sie zum Anlass einer Auseinandersetzung mit ihrer Familie und insbesondere ihrer Mutter. Die unsichere Erinnerung bekommt für sie die Bedeutung eines 170 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="171"?> Ursprungsereignisses, das für das problematische Verhältnis zu ihrer Mutter, ihre Schlaflosigkeit, ihr Bedürfnis zur physischen und gedanklichen Flucht verantwortlich zu sein scheint. Schließlich kommt es zu einer Konfrontation zwischen Mutter und Tochter und dem Geständnis der Mutter, das Selmas Erinnerung als authentisch bestätigt. Die emotionale Distanz zwischen den beiden wird dadurch erklärt, löst sich aber nicht. Der Versuch einer Versöhnung scheitert. Die Tat der Mutter, die im Beisein der dreijährigen Selma einen Säugling erstickte, stellt sich für Selma als Ursprungsereignis für ihre Identitätsentwick‐ lung und ihr gespaltenes Verhältnis zu Algerien heraus. Der Versuch, sich an das Ereignis zu erinnern und seine Bedeutung für ihre Persönlichkeitsentwicklung und Lebensentscheidungen zu erfassen, führt zu Überlegungen Selmas auf zwei Ebenen: Auf einer individuellen Ebene ist sie tief erschüttert, als sie sich des Ereignisses erinnert. Es entfremdete sie bereits als Kleinkind von der Mutter, zu der sie danach vergeblich versucht, eine emotionale Verbindung aufzubauen. Sie wirft ihrer Mutter vor, durch ihre Tat für die konfliktgeprägte Beziehung verantwortlich zu sein und sich in der Situation als handlungsunfähig erwiesen zu haben. Andererseits versucht Selma, die Tat der Mutter in einen größeren Kontext zu stellen. In langen Passagen des Textes werden die Traditionen, die restriktiven sozialen Regeln und die rechtliche und gesellschaftliche Situa‐ tion der Frauen in Algerien für die Entscheidung der Mutter verantwortlich gemacht. Dennoch bleibt Selmas Vorwurf an sie und die Frauen im Allgemeinen sich der Verantwortung für eine Veränderung der eigenen Lage zu entziehen und strukturelle Ungleichheiten zu stabilisieren. Die Konfrontation mit ihrer Mutter und ihrer persönlichen Familiengeschichte ist von der Konfrontation mit ihrem Herkunftsland Algerien nicht zu trennen. Die beiden Ebenen der Auseinandersetzungen in der Konstruktion der Figur Selmas greifen ineinander und legen dabei deren Widersprüche offen. Die Figur der Mutter wird durch Selmas Perspektive ebenso als Täterin und Opfer dargestellt. Die Tötung des Säuglings offenbart die tragische, weil rechtlose Situation der Frauen am Beispiel der Frauen in Selmas Familie. Sie sehen keinen anderen Ausweg als das uneheliche Kind zu töten. Die Frauen sind ebenfalls der Gewalt durch die Männer in der Familie ausgeliefert. Selma stürtzt die Beobachtung des Ereignisses in eine Krise, die zur Distanzierung von der Mutter, der Familie und schließlich ihres Heimatlandes Algerien führt. Ein gelungener Identitätsentwurf scheint für sie in Algerien nicht möglich. Sie geht ins Exil. Die Figur Selma bleibt widersprüchlich in ihren Erwartungen und Hand‐ lungen. Sie will sich von ihrer Herkunft befreien, ist nach Frankreich emigriert, hat eine Außenperspektive auf ihre Familie und ihr Herkunftsland, aus welcher 4.2 Identität in Bewegung 171 <?page no="172"?> heraus sie auch urteilt. Aber gleichzeitig verschwindet die Sehnsucht nach einem versöhnlichen Kontakt und Kommunikation zur Mutter und zu Algerien nicht. Es bleibt eine Leere, die nur im Zwischenraum des Mittelmeers (zeitweise) überwunden werden kann. Die Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen der Protagonistin bleiben bestehen. Sie sieht sich selbst als fugueuse und unterscheidet zwischen fugue und errance, wobei die fugue für sie existenzieller, weil ausschließlicher ist. Eine errance, eine Bewegung zwischen Algerien und Frankreich, hat noch das jeweilige Land zum Ziel und eine, wenn auch temporäre, Zugehörigkeit zum einen oder anderen. Die fugue vermittelt den Eindruck der Ziellosigkeit und der Bewegung um der Bewegung willen. Sie ist ein „weg-von“ und kein „hin-zu“. Dies lässt auch die Frage offen, ob es eine Gemeinschaft der fugueuses geben kann, also jener Frauen, die ihre Identitätsentwürfe ebenfalls in der Loslösung von Familie, Herkunft und sozialen Normen konstruieren. Denn die rastlose Bewegung verhindert möglicherweise den Aufbau stabiler Beziehungen. Die Suche Selmas nach Zugehörigkeit und einer Gemeinschaft kann daher nicht abgeschlossen werden. 4.2.3 Von der insomniaque zur fugueuse - Strategie der Bewegung Die beiden analysierten Texte Malika Mokeddems dehnen die Gattunsgrenzen und kreieren so auf formaler Ebene eine Wirkung der Offenheit, aber auch Unsicherheit auf die Leser: innen. La transe des insoumis ist nicht als Autobio‐ graphie gekennzeichnet, weist aber mehrere Merkmale einer solchen auf. Je dois tout à ton oubli hingegen ist explizit als Roman ausgewiesen, beinhaltet aber einige autobiographische Züge. Darüber hinaus gibt es einen intertextuellen Bezug zwischen den beiden Texten: Die Erzählerin aus La transe des insoumis weist auf ein noch zu veröffentlichendes Buch hin, das den Inhalt von Je dois tout à ton oubli vorwegnimmt. Sie bezeichnet es als autobiographisch und als weiteren Teil einer Trilogie über die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit. Die offene Herangehensweise an Gattungen und Ausdehnung oder Überschreitung der Gattungsgrenzen stellt auf formaler Ebene dar, was auf inhaltlicher Ebene ebenfalls verhandelt wird: Grenzüberschreitungen der Protagonistinnen - im wörtlichen wie übertragenen Sinn, die zu einer Öffnung hin zu mehr Möglichkeiten, aber auch zu Unsicherheiten führen. Beide Protagonistinnen ähneln sich in ihren Lebensverläufen. Sie über‐ schreiten zunächst die Grenzen sozialer Normen, indem sie sich als Mädchen emotional von ihren Familien distanzieren und sich einem vorgegebenen Weg für Mädchen und Frauen und der damit verbundenen Rollenzuschreibung 172 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="173"?> als Ehefrau und Mutter entziehen. Möglich wird dies durch Bildung und ein ausgeprägtes Interesse an Literatur. Für beide ist außerdem die Schlaflosigkeit, die als Kind beginnt, ein prägendes Element ihres Alltags und darüber hinaus identitätsstiftend. Sie begreifen sich als „insomniaques“. Die Schlaflosigkeit wird dabei zum Ausdruck des Protests. Statt gemeinsam mit der Familie in einem Raum zu schlafen, trennen sie sich vom familiären Körper und verbringen die Nachtstunden lesend in einem anderen Raum. Dieses frühe Verweigern eines vorgegebenen Verhaltenskodexes für Mädchen, insbesondere der ältesten Tochter, führt zu Konflikten mit der Familie und zur Isolation. Die daraus resultierende Einsamkeit wiederum führt zur Suche nach Trost in Literatur und weiterer Bildung. Sie werden zu Außenseiterinnen. Beide haben darüber hinaus ambivalente Gefühle ihrem Heimatland Algerien gegenüber. Malika, die eine enge Bindung zur Wüste der Landschaft ihrer Kindheit hat, fühlt sich dennoch als „apatride“ nachdem sie bei einer Feier sexuell angegriffen wurde. Sie begreift, dass eine patriarchale Kultur dieses Verhalten Mädchen und Frauen gegenüber begünstigt. Dies ist ein weiterer Grund für ihre Migration. Selma entwickelt eine Wut gegenüber Algerien als Land, in dem ihrer Mutter und ihrer Tante keine andere Wahl zu blieben schien, als das uneheliche Kind der Tante zu töten. Sie stellt das Verhalten der Frauen ihrer Familie, dass sie lang als feige verurteilte, in einen größeren Kontext und sieht ebenfalls in den patriarchalischen Strukturen die Ursache für das Leid der Frauen und ihr eigenes. Die emotionale Distanzierung von der Familie und Algerien führt letztendlich zu einer weiteren Grenzüberschreitung, diesmal im wörtlichen Sinn einer Landesgrenze: Beide Protagonistinnen verlassen ihr Heimatland Algerien, um in Frankreich zu leben. Als Konsequenz ihrer Grenzüberschreitungen empfinden sie Isolation und Einsamkeit. Dies ändert sich auch in Frankreich nicht. Malika aus La transe des insoumis empfindet nach wie vor ein inneres Exil, eine „vie en marge“. Selma aus Je dois tout à ton oubli sieht den Beginn ihres Außenseiterinnentums und ihrer Andersartigkeit in der fehlenden Erinnerung an die Tat ihrer Mutter. Beide suchen schließlich eine Versöhnung mit ihrer Vergangenheit und ihrer Familie. Zentrales Element für die Figuren ist Bewegung. Beide bezeichnen sich selbst als fugueuses, die auf emotionalen Stress mit dem Bedürfnis der Flucht reagieren. Bewegung ist ebenfalls ein gestalterisches Element der Texte, in dem sich die Handlungsorte in Frankreich und Algerien abwechseln. In La transe des insoumis führt die Erzählerin ihren Drang zur Bewegung auf das nomadische Leben ihrer Vorfahr: innen zurück. Konsequenterweise baut ihre Identitätskonstruktion auf einem Leben in Bewegung in Ahnlehnung an das 4.2 Identität in Bewegung 173 <?page no="174"?> Erbe des Nomadentums auf. Sie bewegt sich körperlich zwischen den Ländern Algerien und Frankreich. Gleichzeitig bedeutet dies für sie eine Bewegung zwischen verschiedenen Lebensentwürfen, zwischen dem Leben mit den Regeln und sozialen Normen des Kollektivs und in der Gemeinschaft auf der einen und dem Leben in Individualität und Freiheit, aber geprägt durch Einsamkeit auf der anderen Seite. Diese Doppelung, die sich auf formaler Ebene in der Gestaltung des Textes spiegelt, führt zu einer Identitätskonstruktion zwischen diesen zwei Polen, im Entre-Deux. Das Mittelmeer wird der zentrale konkrete Ort dieses Lebens im Entre-Deux. Es ist gleichzeitig eine Verbindung der beiden Länder Algerien und Frankreich, aber auf dem Meer gehört sie weder zu dem einen noch zu dem anderen. Auf dem Meer gibt es zudem keinen Stillstand; sie bleibt in Bewegung. Der Zustand des Entre-Deux kann aber auch durch die Praxis des Schreibens erlangt werden. Durch das Schreiben wird eine offene, dynamische Identitätskonstruktion möglich, die sich nicht auf einen der beiden antagonistischen Pole und der damit verbundenen festgelegten Identitätsentwürfe beziehen muss. Die Protagonistin aus Je dois tout à ton oubli konstruiert ihren Identitäts‐ entwurf ebenfalls auf dem Gedanken der Bewegung. Auch bei ihr wird das Mittelmeer zum Ort des Dazwischens. Allerdings bleibt Bewegung für sie Flucht vor etwas und damit fremdbestimmt. Zentrales Element des Textes ist die fehlende Erinnerung und die Suche danach. Für die Figur Selma ist diese Erinnerung, das Ursprungsereignis, die Grundlage ihrer Identität als Andere, die sie zu überwinden sucht. Sie erhofft sich durch das Geständnis der Mutter Klarheit und Kohärenz für ihren Lebensentwurf, doch dies bleibt ihr verwehrt. Auch wenn die Erinnerungslücke nun geschlossen ist, bleibt das Ereignis dennoch Grundlage ihrer Schlafslosigkeit und ihres Bedürfnisses zur Flucht, die dominante Element ihrer Identität darstellen und sie als Andere markieren. Die Distanz zur Familie und zu Algerien bleibt. In beiden Texten bleibt den Figuren das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und die Suche nach einer Gemeinschaft, in der sie Akzeptanz für ihren individuellen Identitätsentwurf finden, unerfüllt. La transe des insoumis eröffnet jedoch durch das autobiographische Schreiben die Option einer narrativen Konstruktion der Identität als Schreibende und Schriftstellerin. Dadurch wiederum wird eine weitere Gemeinschaft und Zugehörigkeit möglich: durch die Kommunikation mit den Leser: innen. Somit bietet La transe des insoumis den Ausblick auf einen gelungenen Identitätsentwurf, der der Protagonstin in Je dois tout à ton oubli verwehrt bleibt. 174 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="175"?> 92 djebbar ist einer der 99 Namen Allahs, der ihn als ‚unversöhnlich‘ bezeichnet (vgl. Zimra 1999). 93 Ombre Sultane ist der zweite Roman in dem Zyklus des sogenannten Algerischen Quartetts. Der erste Teil ist L’amour, la fantasia (1985), der dritte Vaste est la prison (1994). Der vierte Teil ist bis zu Djebars Tod nicht publiziert, bzw. keines ihrer Werke explizit als dieses ausgewiesen worden. 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar Assia Djebar wird 1936 in Cherchell bei Algier unter dem Namen Fatima-Zohra Imalayene geboren. Ihren ersten Roman La Soif, der im Jahr 1957 erscheint, veröffentlicht sie bereits unter dem Pseudonym Assia Djebar 92 . In den 1970er Jahren widmet sie sich dem Film und dreht als Regisseurin La Nouba des femmes du Mont Chenoua (1979) und La Zerda ou les chants de l’oubli (1982), wodurch sie auch ein nicht-literarisches Publikum erreichen will (vgl. Djebar 2000, S. 210). Erst 1980, nach zehnjähriger Schreibpause, wendet sie sich wieder der Literatur zu und veröffentlicht Femmes d’Alger dans leur appartement (1980). Trotz fordernder Stimmen der nationalistischen Bewegung Algeriens schreibt sie weiterhin in französischer Sprache. Im Jahr 1985 erscheint L’Amour, la fantasia, der erste Teil des Algerischen Quartetts, das mit Ombre Sultane (1987) und Vaste est la prison (1995) fortgesetzt wird. Zum Teil wird Nulle part dans la maison de mon père (Djebar 2007) als vierter Teil verstanden, Djebar hat sich dazu aber nicht öffentlich geäußert. Das Quartett verbindet historische Ereignisse Algeriens und des Maghreb mit der Geschichte historisch bedeutender und alltäglicher Frauengestalten. Im Jahr 2000 wird Assia Djebar als zweiter afrikanischer Preisträgerin der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für ihr Gesamtwerk verliehen, das die aktuelle und historische Situation Algeriens sowie die Rolle der Frau in der arabischen Welt immer wieder thematisiert. Im Jahr 2005 wird sie als erste Schriftstellerin des Maghreb zu einer der sogenannten Unsterblichen der Académie francaise gewählt. Assia Djebar stirbt 2015 im Alter von 79 Jahren in Paris (vgl. Altwegg 2015). Im Folgenden wird der zweite Roman ihres Algerischen Quartetts 93 analy‐ siert, da er vor dem Hintergrund der Frage nach weiblichen Identitätskonst‐ ruktionen durch die Darstellung zweier Frauenfiguren und einer besonderen Erzählperspektive für diese Darstellung wesentliche Erkenntnisse verspricht. Der Roman ist 1987 erschienen und damit der älteste in dieser Studie vorgestellte Text. 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar 175 <?page no="176"?> 94 Rothe hat dies in einem Beitrag ebenfalls als Handlungszeitraum angenommen (vgl. Rothe 1994, S.-165). 4.3.1 Duplizität der Frauenfiguren in Assia Djebars Ombre Sultane In Ombre Sultane wird in drei Teilen („Toute femme s’appelle blessure“; „Le saccage de l’aube“; „La sultane regarde“) die Geschichte von zwei Frauenfiguren erzählt, die beide Ehefrauen, wenn auch nacheinander, desselben Mannes sind. Dem Text ist ein Prolog voran- und ein Epilog nachgestellt. Die einzelnen Abschnitte des Romans werden mit Epigraphen, abwechselnd ein literarisches Zitat aus der europäischen und der arabischen Literaturtradition, eingeleitet. Parallel zum Haupthandlungsstrang wird darüber hinaus in einleitenden Se‐ quenzen zum zweiten wie zum dritten Teil die Geschichte Scheherazades aus Tausendundeiner Nacht in Auszügen nacherzählt. Die Handlung findet in einem nicht näher spezifizierten Zeitraum statt, vermutlich in den 1970er Jahren. 94 Im ersten Teil des Werkes werden in zwei Erzählsträngen die Lebensgeschichten der Protagonistinnen Isma und Hajila alternierend erzählt. Isma, die Ich-Erzählerin, wird als eine emanzipierte, gut ausgebildete, durch ihren Beruf als Lehrerin ökonomisch unabhängige Frau dargestellt. Sie lebt zu Beginn der Handlung von ihrem Mann und ihrer Tochter getrennt in Europa. Die Geschichte Hajilas, der zweiten Frau, wird ebenfalls von Isma erzählt, indem sie diese mit „tu“ anspricht. Hajila lebt auf traditionelle Art, verschleiert und von der Öffentlichkeit ausgeschlossen. Die Verbindung der beiden ist der gemeinsame Ehemann, für den Isma Hajila als zweite Ehefrau ausgewählt hat. Diese bleibt darüber allerdings zunächst in Unkenntnis. Im ersten Erzählstrang wird berichtet, dass Hajila den im Text namenlos bleibenden Mann heiratet und zu ihm und seinen Kindern zieht: dem Sohn Nazim aus einer Beziehung vor Isma, und Ismas Tochter Meriem. Hajila erfüllt Aufgaben im Haushalt und kümmert sich um die Kinder. Die Handlung kommt zu einem Wendepunkt als Hajila zum ersten Mal unerlaubt das Haus verlässt und von diesem Zeitpunkt an beginnt, täglich auszugehen. Als ihr Ehemann davon erfährt, wird er gewalttätig und versucht ihr mit einer zerbrochenen Flasche die Augen auszustechen. Nur dank der Hilfe Nazims, der im Versuch die Stiefmutter zu retten die Nachbarn alarmiert, bleibt Hajila weitgehend unverletzt. Der zweite Erzählstrang schildert retrospektiv Szenen aus der Ehe zwischen Isma und dem Mann. Das Paar wird zunächst als glücklich dargestellt und scheint eine gleichberechtigte Beziehung zu führen. Erst in der Erzählung vom Angriff des Mannes auf Hajila offenbart die Ich-Erzählerin Isma, dass auch ihre Ehe mit gewalttätigen Angriffen des Mannes endete. An diesem Punkt konvergieren die beiden Erzählstränge. 176 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="177"?> Im zweiten Teil berichtet die Ich-Erzählerin Isma aus ihrer Kindheit. Es werden Porträts von den Frauen ihrer Verwandtschaft geschildert, deren Ge‐ meinschaft die Erzählerin als zehnjähriges Mädchen verlässt, da ihr Vater sie in ein Pensionat schickt. Dieser Teil durchbricht die Handlung um Hajila, und geht bis in die Zeit vor der Ehe von Isma und dem Mann zurück. Der dritte Teil von Ombre Sultane nimmt die Erzählung von Isma und Hajila wieder auf. Isma ist aus Europa zurückgekehrt, um bei ihrer Tochter sein zu können und will sich mit ihr in ihrem Geburtsort niederlassen. Bevor sie die Stadt verlässt, sucht sie Hajila auf, die sich von dem Gewaltausbruch ihres Mannes erholt. Isma beschliesst, Hajila zu helfen und übergibt ihr einen zweiten Schlüssel der Wohnung, so dass sie ihre heimlichen Spaziergänge fortsetzen kann. Bei einem dieser Ausgänge wirft sich die schwangere Hajila vor ein Auto, woraufhin sie ihr Kind verliert. Der Epilog weist über die geschilderte Handlung hinaus und formuliert eine skeptische Sichtweise auf die Zukunft der gesellschaftlichen, rechtlichen und ökonomischen Situation der Frauen in Algerien. Die Erzählstimme äußert die Befürchtungen weiterer Einschränkungen der persönlichen Freiheit von Frauen. - 4.3.1.1 Hajila und Isma, je et tu: Duplizität der Frauenfiguren Im Titel des Romans wird bereits die binäre Gestaltung und Dualität des Romans vorweggenommen, die sich in der Struktur und der Figurengestaltung wiederfindet. Ombre Sultane bildet ein Oxymoron und deutet dadurch auf eine im Text dargestellte Widersprüchlichkeit bzw. Ambivalenz weiblicher Identi‐ tätsentwürfe hin. Die Dualität findet sich in den beiden Hauptfiguren Hajila und Isma, in der Romanstruktur, in der Binnenerzählung um Scheherazade und ihrer Schwester Dinardze sowie in der gewählten Erzählperspektive. Der Roman ist abwechselnd in der 1. und 2. Person Singular erzählt. Das „Tu“ impliziert bereits ein „Je“, das durch die Anrede der anderen Figur und der Erzählung ihrer Geschichte im Hintergrund, sozusagen im Schatten, bleibt. Der Begriff des Schattens deutet darüber hinaus das im Roman verhandelte Nicht-Gesehenwerden der algerischen Frauen in der Öffentlichkeit an. Die rechtliche Situation, die ihnen keine legalen Möglichkeiten bietet, sich gegen Gewalt in der Ehe zu wehren, sowie die sozialen Normen, die ein Leben beschränkt auf den privaten Raum vorsehen, führen zum fehlenden Vorkommen von Frauen und Themen, die sie betreffen, in öffentlichen Diskursen. Schatten suggeriert aber auch eine selbstverständliche und dauerhafte Prä‐ senz, die nicht abgelegt werden kann: sie steht damit für die Vergangenheit der Figuren, ihre Herkunft, ihr Geschlecht; Determinanten, die unveränderlich sind, 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar 177 <?page no="178"?> 95 Isma selbst wird zum „ombre quasiment obsène“ (Djebar 2006b, S. 198) unter den Augen ihres Vaters, nachdem sie als Mädchen beim Schaukeln ihre nackten Beine entblößt und damit gegen die fundamentale soziale Regel als Frau ihren Körper zu bedecken verstoßen hat. die nicht immer wahrgenommen werden, aber dennoch einen großen Einfluss ausüben. Als übertragenes Bild beinhaltet der Schatten in dem Setting des Romans in Algerien außerdem noch einen weiteren Aspekt: Schatten stellt unter den klima‐ tischen Bedingungen der Wüstenregionen einen lebensrettenden Rückzugsort dar. Diese Analogie verweist auf die im Roman verhandelte Notwendigkeit der Frauenfiguren, sich zumindest zeitweise aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, um ihren von gesellschaftlichen Erwartungen bedrohten Identitätsentwurf und ihre Subjektivität zu konsolidieren. Die Anonymität bedeutet gleichzeitig eine Einschränkung ihrer Freiheiten, bildet aber auch einen freiwillig gewählten Rückzugsraum, um den gesellschaftlichen Anforderungen zu entgehen. Hierin offenbart sich bereits Djebars differenzierte Darstellung weiblicher Figuren, die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit zulässt. Der Begriff der Sultane im Titel wiederum verweist auf eine Figur mit Macht und Repräsentationsfunktion. Die Macht der Sultanin wirkt allerdings innerhalb der Mechanismen des patriarchalen Systems und ist gleichfalls dadurch begrenzt. Eine wichtige Funktion der Sultanin ist die Auswahl der vermeintlichen Rivalinnen für den Harem. Ihre Stellung beinhaltet damit die Möglichkeit der Machtausübung über andere Frauen, wodurch sie sich einen persönlichen Freiraum zu schaffen vermag. Isma handelt in diesem Sinn, in dem sie Hajila als zweite Frau ihres Ehemannes auswählt, um sich selbst aus einer unglücklichen und gewalttätigen Ehe zu befreien. Zu Beginn des Romans heißt es, dass die Namen der beiden Figuren Hajila und Isma eine Arabeske darstellen (vgl. Djebar 2006a, S. 9). Ebenso verflochten sind auch die Zuweisungen „Ombre“ und „Sultane“ und gleichermaßen in beiden Frauen vorhanden. 95 Es kann weder der Sultanin noch dem Schatten die wichtigere Funktion zugewiesen werden (siehe auch Ruhe 1993, S. 61): Die parallel geschilderte Erzählung um Scheherazade und Dinarzade zeigt die Bedeutung beider für das Überleben. Die Figuren im Roman können einen freien Identitätsentwurf weder ausschließlich als Schatten in der Beschränkung auf die privaten Räume des Hauses noch als Sultanin in der Öffentlichkeit rea‐ lisieren. Im privaten Raum ist ein freier Identitätsentwurf durch die begrenzten Handlungsspielräume kaum möglich; in der Öffentlichkeit ist er durch soziale Sanktionen bedroht. 178 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="179"?> Die Geschichten der beiden Figuren Hajila und Isma überlagern sich durch den jeweils erlebten Gewaltausbruch des Ehemannes. Dieses geteilte Schicksal macht sie beide zu Opfern männlicher Gewalt (und durch fehlende gesellschaft‐ liche Schutzmechanismen bzw. fehlende Möglichkeiten rechtlicher Handhabe zu Opfern der patriarchalen Gesellschaftsstruktur). Obwohl sich die Ehe, die Isma mit dem Mann führte, von derjenigen Hajilas deutlich unterscheidet, werden ihre Schicksale dennoch durch die Gewalttätigkeiten des Mannes zusammengeführt: „Or je mélange. Je mêle nos deux vies.“ (Djebar 2006a), S. 124) In diesem Zitat klingt die Verschmelzung der beiden Figuren durch das geteilte Erlebnis an. Die Erzählstimme Ismas tritt hervor, die beider Leben erzählt. Damit wird Ismas Stellung als Erzählerin und als diejenige, die spricht, sowie Hajilas Stellung als diejenige, deren Leben erzählt wird, deutlich. Bei Ruhe wird die Duplizität, gespiegelt in der Binnenerzählung um Schehe‐ razade und ihre Schwester Dinarzade, zum „Bild für das Postulat der Solidarität, der Überwindung der Rivalitäten, die bewirken, daß Frauen einander Schaden zufügen, um in der Gunst des Mannes an erster Stelle zu stehen“ (Ruhe 1993, S. 61). Auch wenn dies durchaus unter der Prämisse, dass in patriarchalen Strukturen das Wohlbefinden der Frauen von der Gunst des Ehemannes ab‐ hängt, so gesehen werden kann, gehe ich davon aus, dass dies kein zentraler Aspekt des Romans ist. Die einzige männliche Figur (abgesehen von Hajilas Stiefsohn) stellt eine namenlose Randfigur dar. Sie übernimmt die Funktion des Ausführens struktureller Gewalt und Benachteiligung, bleibt aber profillos, schematisch und ohne individuelle Charakterzüge. Die Beziehung der beiden weiblichen Hauptfiguren Hajila und Isma beruht weder auf der Intention, einander Schaden zuzufügen, noch bedeutet die sich entwickelnde Solidarität zwischen ihnen die Überwindung einer Rivalität um die Gunst des Mannes. Die Beziehung dient eher dem Abwenden von Schaden, der ihnen durch die gesellschaftlichen Geschlechterstrukturen droht: Isma wählt Hajila als zweite Frau ihres Ehemannes aus, um sich von ihm zu befreien. Schließlich erträgt sie nicht länger, dass ihre Freiheit auf dem Leid einer anderen Frau gründet und hilft wiederum Hajila sich Freiheit zu erkämpfen. Es geht daher nicht darum, eine Rivalität in Bezug auf einen möglichen Statusgewinn zu überwinden, sondern diesen Teufelskreis des strukturellen Leidens der Frauen zu durchbrechen, dass die Verbesserung des Lebens einer einzelnen Frau nur auf Kosten einer anderen gelingt. Eine weitere Funktion der „Doppelung“ bzw. der Duplizität in der Figurendar‐ stellung ist die Möglichkeit der Erzählerin Isma, sich nicht zu exponiert darzu‐ stellen, sondern die Geschichte der Gewalt in der Ehe anhand Hajilas Beispiel zu schildern. Immer wieder unterbricht Ismas Geschichte den Handlungsfaden um 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar 179 <?page no="180"?> 96 Rothe kommt daher zu dem Schluss, dass Zeit eine untergeordnete Rolle bei der Strukturierung des Textes spielt und der Raum bzw. die Darstellungen des Raums und seine Überschreitungen diese Funktion übernehmen (Rothe 1994, S. 166). Vgl. dazu weiter unter Semantisierung des Raums. 97 Hajila unternimmt einen Selbstmordversuch; Isma immigriert zunächst nach Frank‐ reich, und zieht sich nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatstadt zurück. Hajila. Sie wird nicht kohärent erzählt, sondern schildert ihre Ehe episodenhaft mit Zeitsprüngen. 96 Die Schilderung umkreist das geteilte Schicksal der Figuren, Opfer ehelicher Gewalt geworden zu sein. Die narrative Struktur offenbart daher das Unvermögen, in direkter Weise den Gewaltausbruch des Ehemanns gegenüber Hajila zu schildern, in dessen Verlauf er u. a. versucht ihr die Augen auszustechen. Darüber hinaus erlaubt die Doppelung die Darstellung zweier gegensätzli‐ cher Frauenfiguren mit sehr unterschiedlichem sozialem und bildungsbiogra‐ phischem Hintergrund. Zumal im Verlauf der Geschichte Hajila diejenige ist, deren emanzipatorische Entwicklung geschildert wird, Isma hingegen erkennen muss, dass ihre individuelle Freiheit durch das Schicksal anderer begrenzt wird, und sie sie somit zum Teil wieder aufgibt. Die beiden weiblichen Lebensentwürfe, die zunächst konträr angelegt sind, nähern sich an und konvergieren in dem dramatischen Ereignis. Beide Frau‐ enfiguren sehen sich mit patriarchaler Gewalt konfrontiert und entwickeln unterschiedliche Strategien im Umgang damit 97 . Es entsteht eine enge Verbin‐ dung zwischen den Frauen durch die Mechanismen der Unterdrückung. Im Folgenden wird nun ein genauerer Blick auf die Identitätskonstruktionen der beiden Protagonistinnen geworfen. - 4.3.1.2 Isma - Die Erzählerin Isma und Hajila sind zunächst zwei von den Charakterisierungen her konträr und komplementär angelegte Figuren: Isma gehört der gebildeten Oberschicht der algerischen Gesellschaft an, Hajila stammt aus ärmlichen Verhältnissen. Isma wächst ohne Mutter bei einem progressiv denkenden Vater auf. Hajila wiederum wächst ohne Vater bei ihrer ungebildeten Mutter auf. Das auffälligste Unterscheidungsmerkmal zwischen Isma und Hajila ist, außer dem Unterschied im sozialen Status, die sexuelle (Un-)Erfahrenheit und das Verhältnis zum gemeinsamen Ehemann. Im Kapitel „La Chambre“ (Djebar 2006b, S. 36-43) wird die leidenschaftliche, zärtliche und ungezwungene Beziehung zwischen Isma und dem Mann geschildert. Diese steht im Gegensatz zu Hajilas Zurückhaltung und Unbeholfenheit sowie der Gleichgültigkeit und Aggressivität des Mannes in deren Ehe. Die sexuelle Offenheit und gelungene Kommunikation in Ismas 180 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="181"?> Beziehung steht der Jungfräulichkeit und Befangenheit Hajilas gegenüber. Dennoch werden beide Frauen letztendlich Opfer männlicher Gewalt, die als Sanktion für ihre Eroberung von Freiräumen intendiert ist. Isma, der Name der Ich-Erzählerin in Ombre Sultane, ist ebenfalls der Name der Ich-Erzählerin in Vaste est la prison, womit Djebar einen intertextuellen Bezug zu diesem anderen Teil des Algerischen Quartetts herstellt. ‚Isma‘ be‐ deutet ‚der Name‘, und in einer zweiten Bedeutung ‚schützen‘ und ‚bewahren‘ (vgl. Richter 2004, S. 101f.). Der Name Isma weist somit auf ‚Beschützen‘ und Verstecken der Identität der Figur Ismas hin. Darüber hinaus verweist die Bedeutung des Bewahrens bereits auf Ismas Funktion als Erzählerin, die eben durch das Erzählen ihrer und Hajilas Lebensgeschichte diese überindividuell und überzeitlich zugänglich macht und somit bewahrt. Als Kind hat Isma die Gemeinschaft der Frauen und damit eine Beschränkung ihres Lebensentwurfs auf die traditionelle Rolle der Frauen verlassen. Sie ist ohne Mutter aufgewachsen, was sie bei der Betrachtung des Verhältnisses zwischen Hajila und deren Mutter Touma sowie in den Episoden des zweiten Teils von Ombre Sultane als eine Voraussetzung für ihre Freiheit erkennt: „Je n’ai pas connu de mère qui puisse me transmettre sa peur! “ (Djebar 2006b, S. 209). Im Text wird verdeutlicht, wie das Machtgefüge zwischen Männern und Frauen, die Geschlechtertrennung, aufrechterhalten wird: In einer vom übrigen Text durch Kursivschrift abgesetzten Zwischensequenz im ersten Kapitel des dritten Teils „La mère“ wird von den Anfängen der Unterdrückung der Frauen in den Serails berichtet, die heute nicht mehr existieren. Dennoch sei die Angst der Eingesperrten, das Gefühl der Ausweglosigkeit geblieben und wird von den Müttern auf die Töchter übertragen: „Mère et fille, ô harem renouvelé! “ (Djebar 2006b, S. 206). So bleiben die Machtstrukturen erhalten und werden nur selten offen hinterfragt. Das sozial unangepasste Verhalten einer Tochter fällt auf die Mütter zurück, weshalb diese unter besonderer Beobachtung stehen und sich emotional von ihnen distanzieren. Die Mädchen werden als Ehefrauen „Stellvertreterinnen“ ihrer Familie im Haushalt des Bräutigams sein. Ungehorsam, mangelnder Fleiß oder die Äußerung eigener Bedürfnisse gelten als „Erziehungsfehler“ und verletzen die Familienehre (Lacoste-Dujardin 1990, S. 59ff.). Die konfliktgeladene Mutter-Tochter-Beziehung perpetuiert damit ebenso wie eine symbiotisch angelegte Mutter-Sohn-Beziehung die patriar‐ chalen Machtstrukturen der Gesellschaft. Neben der abwesenden Mutter ist eine weitere Voraussetzung für ihren freien Lebensentwurf die liberale Erziehung durch ihren Vater. Sie ist sich bewusst, dass sie ihre Freiheiten und ihre Bildung als Voraussetzung ökonomischer Unabhängigkeit dem Umstand eines aufgeschlossenen Vaters verdankt: „Ado‐ 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar 181 <?page no="182"?> 98 Vgl. auch Mortimer (2013): „we see more clearly the complex relationship between the young girl and the father who is alternately liverator and censor“ (Mortimer 2013, S.-113). Für Mortimer verweist diese komplexe Beziehung auch auf Djebars Verhältnis zur französischen Sprache (vgl.ebd.). lescente, je me disais à tout instant que mon père m’avait libérée du harem“ (Djebar 2006b, S. 194). Die Möglichkeit, einen selbstgewählten Lebensentwurf zu verwirklichen, ist für Frauen ihrer Generation von den Entscheidungen und dem Willen eines männlichen Familienmitgliedes abhängig 98 . Wie stark diese Abhängigkeit und wie brüchig die durch einen Anderen gewährte Freiheit ist, wird an einer Episode ihrer Kindheit deutlich, die ihr nach dem Bruch mit ihrem Ehemann wieder in Erinnerung kommt. In dem Kapitel „La balançoire“ (Djebar 2006b, S. 194 ff.) schildert sie, wie sie als Mädchen erkannte, dass sich der von ihr als Vertrauter und Verbündeter wahrgenommene Vater nicht sehr von den anderen Männern unterschied: Als sie heimlich mit einem Cousin schaukelt, bestraft er sie nicht für ihr heimliches Fortstehlen in das französische Viertel, sondern dafür, dass sie auf der Schaukel den umstehenden Männern ihre Beine gezeigt hat (Djebar 2006b, S. 198). In dieser Episode ihrer Kindheit wird der modern scheinende Vater als Vertreter einer traditionellen Geschlech‐ terordnung enttarnt und Isma erlebt ihre erste Enttäuschung in der Beziehung zu einem Mann, dessen Verhaltensmotivationen sie falsch gedeutet hat. In der Beziehung zu ihrem Ehemann scheint sich diese Enttäuschung zu wiederholen. Auch er, der zunächst eine gleichberechtigte und moderne Paarbeziehung zu ihr zu suchen schien, stellt sich als in den Prinzipien seiner traditionellen Erziehung gefangener Mann heraus. Die erste Enttäuschung widerfährt ihr so durch ihren Vater. Sie bewertet das Ereignis als das Ende ihrer Kindheit und nennt es die „mutilation originelle“ (Djebar 2006b, S. 195). Eine autonome Identitätsentwicklung ist in einer Gesellschaft, in der die Freiheit von Frauen nur durch männliche Erlaubnis möglich ist, nicht realisierbar. Sie kann jederzeit revidiert werden. Vor diesem Hintergrund bleibt auch eine gleichberechtigte Partnerschaft eine Illusion und scheitert, auch wenn Isma sie zunächst in der Beziehung zu ihrem Ehemann verwirklicht glaubt. Je m’abrite derrière le mutisme de tant d’anonymes ensevelies. Est-ce pour pallier l’échec de mon ancien défi? Un couple ; l’illusion me fascinait de par sa nouveauté… Poussée vers tant d’horizons ! La présence de l’aimé se révélait point d’appui. Il devenait mon double, moi qui avais échappé par hasard à la claustration… (Djebar 2006b, S.-121) 182 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="183"?> Das Zitat verweist auf ihre enttäuschten Hoffnungen als Ergebnis der geschei‐ terten Paarbeziehung. Es lässt auch deutlich werden, dass sie ihren eigenen Le‐ bensweg und die Möglichkeiten, die sich ihr geboten haben, als Zufall einordnet. In ihrem Verständnis ist sie der traditionell den Frauen zugewiesenen Rolle nur durch Glück entkommen. Die Gewalterfahrung in ihrer Ehe lässt sie nun wieder zu einer Leidensgenossin der anderen werden. Das Zitat verweist hierbei auf das Schweigen der anonymen Stimmen der Frauen, in deren Reihen sie Schutz sucht. Ihre Erfahrung als Opfer männlicher Gewalt macht sie verletzlich, so dass sie sich in ihrer exponierten Stellung außerhalb der Gemeinschaft der Frauen unwohl fühlt. Sie kehrt somit in den traditionellen Raum der Frauen zurück, den sie im Alter von zehn Jahren verließ, als ihr Vater sie in ein Pensionat schickte, statt ihr - wie ihren Klassenkameradinnen geschehen - bei Eintritt in die Pubertät das Tragen des Schleiers aufzuzwingen und ihr weitere Bildung zu versagen. Sie begreift, dass sich ihre Freiheit nur auf der Erlaubnis ihres Vaters und (zunächst) ihres Ehemannes gründet und keiner echten Autonomie entspringt. Ihre Identitätskonstruktion als unabhängige Frau wird durch diese Erkenntnis in Frage gestellt, ihr bisheriger Lebensentwurf als abhängig entlarvt. Sie ist dem Schicksal der anderen Frauen in ihrer Umgebung nicht entkommen, wie sie zunächst annahm. Die Gewalt ihres Ehemanns offenbart auf brutale Weise ihre Abhängigkeit und verbindet ihr Schicksal mit dem Hajilas: Comme toi, j’ai vécu cinquante débuts, cinquante instructions de procès, j’ai affronté cinquante chefs d’accusations ! Je m’imaginais, comme toi, les avoir provoqués. […] De tout temps les aïeules ont voulu nous apprendre à étouffer en nous le verbe. «-Se taire, recommandaient-elles, ne jamais avouer.-» (Djebar 2006b, S.-128) In diesem Zitat wird deutlich, welche Bedeutung das Schweigen als über Generationen von Frauen weitergegebene Art der Reaktion auf männliche Gewaltandrohungen hat. Männliche Gewalt und weibliches Schweigen lassen keine Kommunikation zwischen den Geschlechtern zu. Das Schweigen wirkt in einer Gesellschaft mit kaum vorhanden Rechten für misshandelte Ehefrauen wie ein Akt der Rebellion. Gleichzeitig verhindert es aber jede Veränderung der Situation durch öffentliches Verurteilen der Gewalt. Jede ist mit ihrer Gewalterfahrung und ihren Traumata allein. Jede gibt - wie in obigem Zitat angedeutet - zunächst sich selbst die Schuld. Isma durchbricht diesen Zirkel des Schweigens, in dem sie mit Hajila ein Gespräch beginnt. Sie erzählt ihre Gewalterfahrung und ermöglicht ihr letztendlich auch einen Fluchtweg. Dennoch ist die Kommunikation zwischen den beiden kein Dialog. Die Er‐ zählperspektive wechselt zwischen einer Ich-Erzählerin, Isma, und der zweiten 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar 183 <?page no="184"?> 99 Vgl. Djebar 2006b, S.-17, 34 oder 45. Person Singular, in der die Geschichte Hajilas erzählt wird. Hier spiegelt sich auf Erzählebene die Verteilung der Sprachfähigkeit, bzw. das Schweigen wider, indem es Isma ist, die die Geschichte beider erzählt, und Hajila als Angesprochene handelt, aber schweigt. Hajila äußert ihre Gedanken durch inneren Monolog und erlebte Rede 99 (Richter 2004, S. 199). Isma spricht zu Hajila, sie folgt ihr auf ihrem Weg, in all ihren Handlungen, ohne dass Hajila jemals antworten würde: sie weiß nichts von Isma, sie bleibt unwissend und sprachlos. Ein möglicher Grund der asymmetrischen Kommunikation zwischen Hajila und Isma ist die institutionell ebenfalls asymmetrisch angelegte Beziehung zwischen den beiden Ehefrauen desselben Mannes: die erste Ehefrau hat die zweite für ihren Mann ausgesucht. Isma als Erzählerin von Hajilas Geschichte ist somit in gewisser Weise ihre ‚Erfinderin‘, die Dominante in dieser Zweierbeziehung. Dennoch besteht ein gewisser Zwang, hervorgerufen durch Schuldgefühle, das Schweigen zu brechen und ihrer beider Geschichten zu erzählen. Je vais prendre le large; mais je rôde encore autour de toi. Je te dis „tu“ pour tuer les relents d’un incertain remords, comme si réaffluait la fascination des femmes d’autrefois… (Djebar 2006b, S.-10) Moi, Isma, qui m’apprête à quitter définitivement la ville, pourquoi n’ai-je pas pressenti le mélodrame? Pourquoi suis-je condamné à provoquer des ruptures? Pourquoi, revenue sur les lieux de l’adolescence, ne puis-je pas être la guérisseuse? (Djebar 2006b, 115) Die Reue, die Isma bereits auf den ersten Seiten (vgl. Djebar 2006b, S. 10) der Einleitung anspricht, bezieht sich auf Hajila, aber nicht nur auf diese. Sie wirft sich vor, Hajilas Leid nicht vorausgesehen zu haben. Sie sieht sich selbst als eine Unruhestifterin und verweist damit auch auf weitere Frauen, die sie auf ihrem Lebensweg zurückließ. Obwohl sie sich immer weiter vom traditionellen Leben in der Gemeinschaft der Frauen entfernte und an Unabhängigkeit gewann, begleiten diese sie nach wie vor als „Schatten“ und sind ein Teil ihres Lebens: „Je vécus par la suite hors du harem: mon père veuf me mit en pension, mais je me sentais reliée à ces séquestrées indéfectiblement“ (Djebar 2006b, S. 119). Isma empfindet Gewissensbisse in Gedanken an die im Harem gebliebenen Frauen, die sich nicht wie sie befreien konnten. Hajila und ihre Lebensgeschichte stehen für den Teil Ismas, der eng mit der traditionellen Lebensweise der Frauen und ihrem Status als Gefangene gesellschaftlicher Konventionen verbunden bleibt. Hajila steht auch für das Leben, das Isma hinter sich lassen wollte, den Schmerz, den sie am Ende ihrer Ehe empfand. 184 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="185"?> Die Handlungen Ismas, ihr freies Leben in dem Bewusstsein, dass die Frauen um sie herum diese Möglichkeit nicht haben, und schließlich die Wahl der uner‐ fahrenen, aus armen Verhältnissen kommenden Hajila als zweite Ehefrau ihres gewalttätigen Mannes, führen zu ihren Schuldgefühlen. Die eigene Befreiung scheint nur auf Kosten anderer Frauen möglich: der zweiten Ehefrau, oder auf Ebene der Binnenerzählung der Schwester Schehrazades, die auf ein eigenstän‐ diges Leben verzichtet. Der Roman zeigt nun durch Ismas Solidarisierung und konkrete Hilfestellung für Hajila ebenso wie durch das Beispiel Dinarzades, die das Überleben ihrer Schwester Scheherazade sicherstellt, eine subversive Rekonstruktion der Beziehung zwischen den vermeintlichen Rivalinnen: Sie solidarisieren sich miteinander und können so die Gestaltung eigener Lebens- und Identitätsentwürfe gewährleisten. Isma kehrt letztendlich aus ihrem Leben in Frankreich zurück in ihre Heimatstadt, um sich um ihre Tochter zu kümmern. Ismas Rückkehr in die Gemeinschaft der Frauen wird daher „nicht vollzogen [..] aus Einsicht in die Legitimität einer ‚natürlichen‘ Ordnung, sondern als frei‐ willige Annahme der Verantwortung für die Tochter als Geschlechtsgenossin“ (Ruhe 1993, S.-59). Ismas Weg, ihre Möglichkeit zur Bildung, ihr freier Lebensentwurf, der sie aus der Gemeinschaft der Frauen ausschließt, ihre Leiden in der Ehe und ihre Rück‐ kehr nach Algerien, führen zur zentralen Handlung: Sie bricht das Schweigen und wird zur Erzählerin ihrer Geschichte und der Hajilas. Dies ermöglicht ihr eine Überwindung des eigenen Traumas und eine Identitätskonstruktion als Erzählerin. - 4.3.1.3 Hajila - „La fuyarde“ Hajila entstammt ärmlichen Verhältnissen. Sie hat kaum Bildung genossen, ist traditionell erzogen worden und trägt den Haik. Ihre Mutter Touma ist nach dem Tod des Vaters alleinerziehend und verdient den Familienunterhalt mit haushälterischen Tätigkeiten, die sie aus Scham vor den Nachbarn verschweigt. Von der Hochzeit Hajilas mit dem wohlhabenden Mann erwartet sich Touma einen sozialen Aufstieg für ihre Familie. Dieser soziale Hintergrund positioniert die Protagonistinnen an entgegengesetzten Polen der Gesellschaft (Kopf 2005, S.-105). Im Gegensatz zu Isma, deren Ehe mit dem Mann ihrer eigenen Entscheidung entsprach, bleibt Hajila keine Wahl. Sie wird von Isma und ihrer Mutter Touma zur Heirat ausgewählt. Der Text beginnt mit der Darstellung Hajilas in ihrem neuen Alltag. Sie erledigt häusliche Tätigkeiten für den Mann und die Kinder und leidet unter einer großen emotionalen Belastung: „Tes yeux sont inondés de larmes“ (Djebar 2006b, S. 15). Ihr ist zunächst unklar, warum sie so empfindet, 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar 185 <?page no="186"?> und sie findet keine Worte um ihr Leid auszudrücken: „Tu fermes les yeux, tu ne trouves pas les mots, quels mots… Dans le matin qui s’avive, tu tâtonnes, tu ne comprends pas ce qui te harcèle […]“ (Djebar 2006b, S. 16). Der Blick in den Spiegel wird zur Metapher ihrer Entfremdung durch die neue Situation in der Ehe: „Devant le petit miroir, près de la fenêtre, tu te tapotes les joues; ton visage serait-il celui d’une autre? “ (Djebar 2006b, S. 15). Ihr Blick auf sich selbst wird durch den Spiegel zurückgeworfen. Sie sieht sich selbst als Fremde. Hajila erlebt außerdem zum ersten Mal bewusst ihre Körperlichkeit. Das Erkennen des eigenen Blicks und des eigenen Körpers wird für sie der erste Schritt im Prozess der Subjektwerdung. Der zweite erfolgt, sobald sie sich den externen Raum erobert: „Un jour, tandis que Touma partait après avoir modulé son lamento, tu décidas que tu franchirais bientôt le seuil“ (Djebar 2006b, S. 31f.). Toumas beständige Kritik, insbesondere an einer ausbleibenden Schwangerschaft, motivieren sie schließlich diesen Schritt zu wagen. In der Folge verlässt Hajila, gegen die ausdrückliche Anordnung ihres Ehemannes, allein die Wohnung. Dazu verschleiert sie sich zunächst vollständig: „Tu portes tes babouches de vielle, la laine pèse sur ta tête; dans ton visage entièrement masquée, un seul oeil est découvert […]“ (Djebar 2006b, S. 33). Als sie eine unverschleierte Frau beobachtet hat, legt sie ebenfalls ihren Schleier ab: „Là, tu décides avec violence: « enlever le voile ! ». Comme si tu voulais disparaître…ou exploser ! “ (Djebar 2006b, S. 50). Im Gegensatz zu dem Gefühl der Entfremdung zu Beginn ihres Bewusstwerdungsprozesses beginnt sie nun sich in Folge ihres autonomen Handelns zu verwandeln: „[…] toi la nouvelle, toi en train de te muer en une autre“ (Djebar 2006b, S. 51). Ihre neugewonnene Identität als „une femme qui sort“ (Djebar 2006b, S. 68), die es ihr ermöglicht, aktiv für ihre eigene Subjektivität einzustehen, führt dazu, dass sie schließlich beginnt ihrem Mann zu widersprechen (vgl. Djebar 2006b, S. 87). Er verliert nach und nach seine Stellung als unantastbarer Patriarch. Zunächst aber ist die eroberte Freiheit Hajilas verbunden mit Sprachlosigkeit. Sie findet ihre Stimme erst nach Anlegen des Schleiers wieder: „Anonyme de nouveau, tu retrouves la voix […]“ (Djebar 2006b, S. 55). An Hajilas Unvermögen während ihrer unerlaubten Ausgänge in die Stadt mit anderen zu kommuni‐ zieren zeigt sich, inwieweit Identitätskonstruktion mit „Artikulation, Stimme und Handlungsermächtigung verbunden“ (Assmann und Friese 1999, S.-13) ist. Ihre Ausgänge ergeben sich aus einem Prozess der Bewusstwerdung: Sie erobert sich erstmals einen Raum und findet damit zu ihrer eigenen Subjektivität. In der Folge erkennt sie ihren Mangel an freier Identitätsentwicklung. Ihre anfängliche Aphasie bei ihren Ausflügen in die Stadt verweist dabei auf das Finden der eigenen Stimme als elementaren Bestandteil der Subjektwerdung. 186 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="187"?> Hajila ergreift im Gegensatz zu Isma allerdings selten das Wort. Sie kann weder ihrer Schwester gegenüber offen über ihre Gefühle sprechen (vgl. Djebar 2006b, S. 31), noch ihrem Ehemann Gründe für ihre Traurigkeit nennen (vgl. ebd. S. 16). Die Kommunikationslosigkeit zwischen ihr und dem Mann wird besonders deutlich durch die Tatsache, dass er einen arabischen Dialekt ohne Verwendung des Femininums spricht. Sie fühlt sich von ihm nie direkt angespro‐ chen. Er richtet seine Worte scheinbar an jemand anderen, sie bleibt unsichtbar: „[…]; tu n’existes pas plus qu’un fantôme! “ (Djebar 2006b, S. 46). Der Eindruck von Sprachlosigkeit wird anfangs noch dadurch verstärkt, dass sie sich mit dem Mann und den Kindern nicht unterhalten kann, wenn diese Französisch sprechen, da sie nur das Arabische beherrscht. Durch ihre Ausflüge nach draußen, „Au-dehors“, findet Hajila nicht nur ihre Sprache und damit die Möglichkeit, ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu artikulieren, sondern beginnt auch ihre Umwelt anders wahrzunehmen. Sie erkennt ihre Ehe als Gefangenschaft, und das Gefühl der Fremdheit ihrem Ehemann gegenüber. Indem sie sich ihrer eigenen Stärken bewusst wird, die sich ihr durch die verbotenen Ausgänge zeigen, erkennt sie die Schwäche der Männer: L’homme s’était remis à boire; tu le surprenais dans cet abandon. À son tour donc il se dévoilait, sauf que ce n’était pas comme toi en plein air, mais dans les chambres closes, car tous, tu le découvres dans chacune de tes évasions, ils se terrent, ils se dissimulent! (Djebar 2006b, S.-108f.) Nachdem Hajila selbst nun „une histoire“ (Djebar 2006b, S. 65) hat, bekommt auch der Mann Konturen, ist nicht mehr „tous les hommes“ (Djebar 2006b, S. 17). Der Mann wird nun nicht mehr als stereotypes Bild eines Mannes dargestellt, sondern als eine Hajila unbekannte Person. Die Entwicklung Hajilas zu einer eigenen Persönlichkeit geht einher mit dem Verlust der Macht des Mannes, der nicht mehr als unbestimmbare, unangreifbare, unfehlbare und anonyme Gewalt, sondern als Person mit Schwächen empfunden wird. Sobald sich ihr Blick öffnet, nach außen richtet und nicht mehr exklusiv die Funktion der männlichen Selbstbestätigung wahrnimmt, wird er zur Bedrohung (vgl. (Ruhe 1995). In der Folge richtet sich der Gewaltausbruch des Ehemannes gegen Hajilas unverstellten und kritischer werdenden Blick. Er versucht ihr die Augen auszu‐ stechen: „Je t’aveuglerai pour que tu ne voies pas! Pour qu’on ne te voie pas! “ (Djebar 2006b, S. 131). Der Blick steht metaphorisch für ihre Selbsterkenntnis. Hajila hat durch ihre Spaziergänge in den öffentlichen Raum die Machtme‐ chanismen erkannt, als deren Konsequenz die Frauen einsperrt werden und 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar 187 <?page no="188"?> bleiben, hat die Angst vor Ohnmacht und Kontrollverlust der Männer ‚gesehen‘, die der Ursprung des verworrenen, verfälschten Verhältnisses zwischen den Geschlechtern ist: En épiant cet homme dans la pénombre, empêtré dans son impuissance, tu commences à precevoir qu’il ne peut rien. Rien! (Djebar 2006b, S.-128) Damit wird die weibliche Selbsterkenntnis und Emanzipation als Bedrohung der ehelichen und damit gesellschaftlichen Ordnung konstruiert. Hajilas Prozess der Selbstfindung wirkt sich unmittelbar auf die Identitätskonstruktion des Mannes aus. Er „birgt für den Mann die Gefahr des erneuten Verlustes seiner Identität in sich und er sucht ihn deshalb brutal zu unterdrücken“ (Ruhe 1995, S. 53). Die Konstruktion einer eigenständigen weiblichen Identität hat somit unmittelbare Konsequenzen für die männliche Identitätskonstruktion, deren Fundament in Frage gestellt und dadurch als gesellschaftlich destabilisierend empfunden wird: „Im Blick des Mannes ist die Frau (nichts anderes als) Metapher für die Männlichkeit des Mannes“ (Menke 1992, S. 441). Schließlich wird der Mann, dessen Machtlosigkeit Hajila entlarvt, sie vergewaltigen. Hajila empfindet nach dem Gewaltausbruch ihres Ehemannes keinen Hass und keine Aggressivität ihm gegenüber. Der Schmerz und die Traurigkeit, die sie nach ihrer Hochzeit empfunden hat, sind nicht mit ihrem Ehemann verknüpft, sondern waren bereits vor den traumatischen Erlebnissen vorhanden (vgl. Brahimi 1995, S. 119). Ihre depressiven Gefühle nach der Hochzeit und letztendlich auch der Grund für das häufige Verlassen der Wohnung gründen auf der Erkenntnis der völligen Leere im traditionellen Lebensentwurf (vgl. ebd.). Nach der Hochzeit hat sie keinerlei Perspektiven mehr, außer derjenigen, einen Sohn zu gebären. Diesen traditionellen Lebensentwurf negiert sie, indem sie trotz des Verbots ihres Ehemannes und ihrer Mutter weiter das Haus verlässt. Sie wird zu einer „fuyarde“ (Djebar 2006b, S. 128). Für Hajila, die ihren Identitätsentwurf nun auf der freien Entscheidung das Haus zu verlassen gründet, kann sich einer zugeschriebenen Identität und Rolle nicht mehr fügen. Sie ist „une femme qui sort“ (Djebar 2006b, S. 68). Die Handlung kulminiert in einem von ihr provozierten Verkehrsunfall, bei dem sie ihr ungeborenes Kind verliert. Der erste Teil von Ombre Sultane, der „Toute femme s’appelle blessure“ (Djebar 2006b, S. 13-135) überschrieben ist, endet mit der Erläuterung des arabischen Wortes „Derra“ (Djebar 2006b, S. 134), das Wunde bedeutet, aber auch die Bezeichnung für die zweite Ehefrau eines Mannes ist. Hajila ist sowohl die zweite Ehefrau als auch nach dem gewalttätigen Wutausbruch des Mannes eine Verwundete. Ebenso nimmt sie die Bedeutung einer Wunde für Isma 188 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="189"?> 100 Vgl. auch Mortimer (2013): „Isma and Hajila […], both express the struggle of the female self to become the subject of her own discourse“ (Mortimer 2013, S. 118). In ihrer Analyse löst sich die Verbindung der beiden Figuren daher am Ende, um ihre jeweils eigene Geschichte aufzunehmen. an, denn durch ihre Geschichte wird Isma mit ihren verdrängten und nicht aufgearbeiteten psychischen Verletzungen aus der Ehe konfrontiert. Das Ende der Romanhandlung, bei der Hajila ihr Kind verliert, ist zugleich das Ende der Verbindung mit Isma 100 . Hajila entzieht sich durch die Übertretung des Ausgehverbots und durch den Selbstmordversuch radikal der Zuweisung einer Identität als Ehefrau und Mutter und als Figur ebenfalls dem Radius der Erzählerin Isma (Djebar 2006b, S.-224ff.) - 4.3.1.4 Perspektivwechsel und Jeu des doubles Eine Besonderheit des Romans ist die Wahl der Erzählperspektive bzw. der Wechsel der Perspektiven. Dies sowie die narrative Inszenierung der Figuren bewirkt den Eindruck einer Fragmentierung des Ichs. Durch den Wechsel zwischen Kapiteln, die das ‚je‘ Ismas erzählen und Kapiteln, in denen sich die Erzählinstanz an das ‚tu‘ Hajilas richten, entwickelt sich ein Dialog der beiden Frauen. Allerdings zeigt sich, dass Isma als alleinige Erzählinstanz fungiert (vgl. Richter 2004, S.-197). Der Beginn des Textes, der als Einführung vor dem ersten Kapitel steht, beginnt mit einem Ich, das über die beiden Protagonistinnen spricht. Ombre et sultane; ombre derrière la sultane. Deux femmes: Hajila et Isma. Le récit que j’esquisse cerne un duo étrange: deux femmes qui ne sont point sœurs, et même pas rivales […]. (Djebar 2006b, S.-9) Ohne Überleitung geht die Einleitung des ‚erzählenden Ichs‘ in das Ich Ismas über: Dans le clair-obscur, sa voix s’élève s’adressant tour à tour à Hajila présente, puis à elle-même, l’Isma d’hier …Voix qui perle dans la nuit, qui se désole dans le jour. (Djebar 2006b, S.-9). Hier wird Ismas Rolle als Erzählinstanz deutlich, die abwechselnd mit Hajila und sich selbst spricht. Bei Ruhe (1998, S. 161ff.) findet sich für diese Stimmen‐ überschneidungen der Begriff „jeu des doubles“. Die Stimmen sind nicht klar auseinanderzuhalten, es kann nur vermutet werden, dass die Ich-Erzählerin Isma ist, die zu Beginn von sich in der dritten Person spricht (vgl. Richter 2004, S. 197). Die Wahl des distanzerzeugenden Pronomens der dritten Person erlaubt 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar 189 <?page no="190"?> die Möglichkeit des ‚Ichs‘, sich in eine weniger exponierende Erzählposition zurückzuziehen. Je me soucie à présent du drame qui approche. Or je mélange. Je mêle nos deux vies: le corps de l’homme devient mur mitoyen de nos antres qu’un même secret habite. (Djebar 2006b, S.-124) Innerhalb des ersten Teils von Ombre Sultane nähern sich Hajila und Isma zunehmend an. In dem Kapitel „Le retour“ erfährt Hajila zum ersten Mal von der Existenz der ersten Frau ihres Ehemannes (vgl. Djebar 2006b, S. 111). Im gleichen Kapitel wird auch der Mann zum ersten Mal den Namen seiner ersten Frau nennen (vgl. Djebar 2006b, S. 114). Isma nähert sich ihrerseits Hajila, sie spricht sogar davon, sich mit ihr zu vermischen (vgl. Djebar 2006b, S. 116), davon, dass Hajila ihren Lebensweg fortsetzt, sie ersetzt (vgl. Djebar 2006b, S. 122). Die Personalpronomen ‚je‘ und ‚tu‘, die in den vorangegangenen Kapiteln konsequent getrennt verwendet werden, vermischen sich und treten in dem Kapitel „Le retour“ und in den folgenden nebeneinander auf (vgl. Richter 2004, S. 197). Bis schließlich im Kapitel „Le drame“ das ‚je‘ Ismas und das ‚tu‘ Hajilas zum ersten Mal im ‚nous‘ aufgeht: und zwar um das geteilte Schicksal des gewalttätigen Übergriffs des Mannes zu beschreiben, das ihrer Verbindung zugrunde liegt. Ihre Identitäten vermischen sich zu einer gemeinsamen im ‚nous‘, das auch an späterer Stelle nochmal aufgegriffen wird (vgl. Djebar 2006b, S. 128), um die Gemeinschaft der beiden Frauen hervorzuheben (vgl. Richter 2004, S. 203). Kopf versteht „die beiden Figuren […] als Doubles, als Verdoppelung und Auf‐ splitterung ein- und derselben Erzählposition“ (Kopf 2005, S. 106). Im Weiteren arbeitet sie heraus, dass sie nicht nur gegensätzlich, wie oben beschrieben, sondern komplementär angelegt sind: „Isma hat, was Hajila nicht hat und umgekehrt. Isma spiegelt Hajilas Mangel, sowie Hajila spiegelt, was Isma erspart bleibt. Beide spiegeln einander ein Fehlen wieder“ (Kopf 2005, S. 106). Mit der Annahme, dass sich Hajilas und Ismas Identitäten zu einer gemeinsamen verschmelzen, sie eine Erzählposition darstellen, stellt sich die Frage, ob das ‚tu‘, mit dem sich Isma an Hajila richtet, nicht ein Schutz ist, eine Verfremdung ihres eigenen Schmerzes, den sie auslagert und dem sie so gegenübertreten kann: Sie [Isma; Anm.d.Verf.] schafft sich dieses Gegenüber, um eine Wunde betrachten zu können, eine Verwundung in den Blick zu bekommen, die sie sonst nicht betrachten könnte. (Kopf 2005, S.-108) 190 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="191"?> 101 „Le soleil te regarde, ô Hajila, toi qui me remplaces cette nuit.“ (Djebar 2006b, S.-128). 102 „ - J’ai fui, ai-je répété.“ (Djebar 2006b, S.-124). 103 Z.B. Djebar 2006b, S.-130: „Il a frappé au mot «-nue-». […]; je le lui avais lancé.“ In dieser Lesart ist Isma diejenige, die unsichtbar hinter Hajila bleibt. Hajila wiederum ist die vordergründig agierende Figur, die offen im Licht 101 steht. Isma verkörpert ‚la sultane‘, die im Hintergrund agiert und die Geschichte erzählt, aber in Hajilas Schatten bleibt (vgl. Kopf 2005, S. 108). Der Schmerz Ismas wird allerdings nicht expliziert. Die Geschichte Ismas wird von der Ich-Erzählerin nicht kohärent und chronologisch erzählt. Die narrative Konstruktion weist somit Unsicherheiten der Erinnerung auf und lässt bereits Brüche der Identitäts‐ konstruktion vermuten. Kopf verweist hier auf eine Lücke in Ismas Erzählung, die zwar die Liebesbeziehung und die Leidenschaft zwischen Isma und ihrem Mann sowie die Zeit nach der Trennung, in der Isma allein und unabhängig in Europa lebt, offenbart, die Zeit dazwischen allerdings ausspart (vgl. Kopf 2005, S. 109). Als Ismas Tante, bei der sie nach ihrer Rückkehr wohnt, nach der Trennung fragt, antwortet Isma ausweichend 102 . Da Isma im darauffolgenden Kapitel „Le drame“ gesteht, dass sie ebenso wie Hajila, der Gewalt des Mannes ausgesetzt war (vgl. Djebar 2006b, S. 128), kann der Schluss gezogen werden, dass dies der Grund für die Trennung war. Alles, was Hajila in dieser Ehe erlebt, scheint Isma schon erlebt zu haben 103 . Dadurch füllt die Geschichte Hajilas die Lücke in Ismas Bericht über sich selbst. Im letzten Kapitel „Sur le seuil“ wird die Verwischung der Grenzen zwischen den Identitäten der beiden Frauen noch offensichtlicher. Isma folgt Hajila durch die Gassen der Stadt und wird Zeugin, wie diese - im Text wird angedeutet, dass sie absichtlich, um durch den Unfall ihr Kind zu verlieren - vor ein fahrendes Auto läuft. Der Unfall scheint eine Erinnerung in Isma wachzurufen (vgl. Richter 2004, S.-204): Je me suis revue dix, onze ans auparavant […] Moi j’ai regardé ton visage pâle. J’ai vu le mien […] Mon visage que je n’ai pas trouvé. (Djebar 2006b, S.-226) Isma sieht sich in dem Gesicht Hajilas und findet sich selbst wieder, erkennt sich durch die Wiederholung dieser Szene selbst (vgl. Kopf 2005, S. 110). Sie kann jetzt mit ihrer Wunde, d. h. dem Schmerz ihrer Vergangenheit, der Gewalt in ihrer Ehe, der Trennung von ihrem Mann, umgehen lernen, kann sich von ihr lösen, in ihre Geburtsstadt zurückkehren und sich von Hajila trennen. Durch die Erzählung von Hajilas Erlebnissen ist es Isma gelungen, ihre eigene Vergangenheit aufzuarbeiten und eine Lücke in ihrer Erinnerung zu schließen. Die Funktion der Erzählkonstruktion, ein erzählendes Ich, dass 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar 191 <?page no="192"?> 104 Dieser Effekt wiederholt sich auf einer Metaebene, wenn man Djebars Gesamtwerk in den Blick nimmt. In ihrem autobiographischen Récit „Nulle part dans la maison de mon père“ (2007) schildert sie ein ähnliches Ereignis ihrer eigenen Vergangenheit, als sie sich als 17jähriges Mädchen vor eine Straßenbahn werfen wollte. die Erzählung an ein erzähltes Du richtet, dient damit der Auflösung eines Traumas. Isma kann sich von ihrem verdrängten Schmerz, der Wunde, auf die am Ende des ersten Teils Bezug genommen wird (vgl. Djebar 2006b, S. 134) und der Gewalt ihres Ehemannes und der Unterdrückung in ihrer Ehe lösen, weil sie sie von außen, durch die Geschichte Hajilas noch einmal erlebt. Die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit und die Auflösung ihres Traumas erlauben es Isma, ihre und Hajilas Geschichte zu erzählen 104 . Dies gelingt durch die Wahl der Erzählperspektive und der narrativen Struktur des Textes. In der Folge kann es zu einer Stabilisierung der (verletzten) Identitäten kommen. Isma trifft die endgültige Entscheidung mit ihrer Tochter in ihre Heimatstadt zurückzukehren: Nous partons demain chez nous! Chez nous? Dans notre ville natale! Ville de ma tante et ville mienne, le port antique où se ferme mon trajet. Ville natale également de la fillette: j’y étais retournée autrefois pour accoucher. (Djebar 2006b, S.-226f.) Isma kann sich nun zurückziehen, in ein Leben mit ihrer Tochter und ihrer Tante, in die Gemeinschaft dieser Frauen. Dies ist ihr möglich, da Hajila sich gleichzeitig von Identitätszuschreibungen befreit und zu ihrer eigenen Subjektivität findet: La seconde femme se présente sur le seuil, avaleuse d’espace; la première dès lors peut se voiler, ou se dissimuler. […] Au sortir de la longue nuit, l’odalisque est en fuite. (Djebar 2006b, S.-227) Hajila erobert sich den Raum, das Draußen und damit die männliche Sphäre. Sie eröffnet sich Möglichkeiten eines selbstbestimmten Lebenswegs und einer autonomen Identitätskonstruktion. Auch Isma handelt autonom, als sie sich entscheidet, in ihre Heimatstadt zurückzukehren. Hier wird noch einmal die Bedeutung des jeu de doubles der beiden als komplementäre Figuren deutlich, deren Entwicklungen miteinander verknüpft sind. Wenn Traumaauflösung über die narrative Konstruktion des Textes gelingt, findet sich hier zusätzlich der Versuch einer Traumaauflösung über die Fiktio‐ nalisierung von Ereignissen. Isma kann, weil sie von sich in der ersten Person spricht, nicht alles offenbaren ohne dadurch in Konflikt mit gesellschaftlichen, 192 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="193"?> 105 „[…] toi en train de te muer en une autre.“ (Djebar 2006b, S.-51). religiösen und kulturellen Tabus zu geraten. Sie verflicht daher ihre Geschichte mit der Hajilas, der an ihrer Stelle die traumatischen Erlebnisse in der Ehe widerfahren. So kann die Figur Isma ohne gesellschaftliche Tabus zu brechen, ihren Schmerz erzählen und dadurch verarbeiten. Gleichzeitig wird das Leid, das sie mit Hajila teilt, durch ihre Erzählung öffentlich und damit anderen Frauen mit ähnlichen Erfahrungen zugänglich. Die Erzählung schafft so durch die Überwindung des Tabus eine Gemeinschaft. Wie dargestellt bietet die Erzählperspektive die Möglichkeit des „Verste‐ ckens“ des zurückgenommenen und damit nicht exponierten Ichs und Subjekts. Die narrative Struktur ermöglicht eine Verhüllung des Ichs. Im Weiteren wird gezeigt, inwiefern die Thematik des Verschleierns auch auf inhaltlicher Ebene verhandelt wird. - 4.3.1.5 Ver- und Enthüllen: Symbolik des Schleiers und Sichtbarkeit Der Schleier, hier der haїk (z. B. Djebar 2006b, S. 51), nimmt eine zentrale Rolle in der Charakterisierung und Entwicklung der Figuren ein. So wird zu Beginn des Textes das Falten des Schleiers als rite de passage von draußen nach drinnen (z.-B. ebd. S.-46) von Hajila zunehmend vernachlässigt (vgl. ebd. S.-86). Je mehr Bewegungsfreiheit sie sich erobert und je mehr unerlaubte Ausgänge sie unternimmt, desto weniger Bedeutung hat der Schleier für sie, der zu Beginn der Handlung noch einen Schutz darstellt. Sie nennt den Schleier nun auch „chape“ (ebd.) und wünscht ihrer Stieftochter, dass sie davon verschont bleibt. Der Akt, das Haus zu verlassen und sich ohne Erlaubnis ihres Ehemannes in der Stadt zu bewegen, stellt eine Transgression gesellschaftlicher Grenzen dar und markiert einen Wendepunkt in der Entwicklung der Figur. Im folgenden Handlungsverlauf wird sie weitere Grenzen überschreiten und in Konfrontation mit geltenden Regeln und deren Bewahrer: innen geraten, darunter ihre Mutter oder ihr Ehemann. Während ihres ersten Ausgangs trägt sie noch den Schleier, der für sie zu Anfang auch ein Hilfsmittel für den Zugang zur Freiheit bedeutet. Unter ihm versteckt, wagt sie sich hinaus. In einer Initialszene sieht sie schließ‐ lich eine unverschleierte Frau mit einem Baby in einem Park. Das glückliche Lachen der Frau ist für sie Anlass auch ‚nackt‘, d. h. ohne Haik, hinauszugehen: „Nue, je suis Hajila toute nue! “ (Djebar 2006b, S. 52). Durch diese Spaziergänge verändert sich Hajila. Sie ist dabei, sich in eine andere zu verwandeln 105 , sich zu enthüllen. Sie wird nun „une femme qui sort“ (ebd. S.-68). Das Kapitel „Voiles“ erzählt von einer Szene in der Beziehung zwischen Isma und dem Mann, die gemeinsam Kleidung kaufen und legt damit den Fokus auf 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar 193 <?page no="194"?> eine weitere Art der Verschleierung. Der Schleier bzw. das Verschleiern wird damit aus dem Kontext der kulturellen und religiösen Tradition genommen und in einen weiteren Kontext gestellt, in dem Kleidung insgesamt als Verschleie‐ rung dargestellt wird. (vgl. ebd. S.-59) Auch Hajila versteht ihre Kleidung als zweite Haut (vgl. ebd. S. 68). Kleidung wird für sie zum Ausdruck ihrer Individualität. In Folge der Ausdehnung ihres Bewegungsbereichs wird sie sich ihres Körpers bewusst und ein Prozess der Wahrnehmung ihrer eigenen Subjektivität setzt sich in Gang. Hajila legt so zunächst die traditionelle weibliche Verschleierung und schließlich durch bewusste Auseinandersetzung mit ihrem Körper und ihrer Kleidung eine all‐ gemeine Verhüllung ihrer Individualiät und Subjektivität ab. Ruhe sieht das Ablegen des Schleiers konsequenterweise als „Versuch, sich zu ‚verkörpern‘, sich selbst als ein Wesen aus Fleisch und Blut wahrzunehmen“ (Ruhe 1995, S.-50). Isma wiederum wird als selbstbewusst im Umgang mit ihrem Körper, mit Nacktheit und Sexualität beschrieben. Sie durchläuft im Laufe der Handlung eine andere, entgegengesetzte Entwicklung. Für Isma wird Kleidung und Verhüllung zu einem Schutz der eigenen Intimität und Identität. Ihr Identi‐ tätsentwurf wird erschüttert durch die Erkenntnis, dass ihre Unabhängigkeit auf der Erlaubnis ihres Vaters und zeitweise ihres Ehemannes gründet. Ihre Freiheit kann ihr aufgrund der gesellschaftlichen, rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen jederzeit von einem Mann ihrer Familie wieder entzogen werden. Diese Erkenntnis lässt sie ihren Körper verhüllen, aber gleichzeitig wird sie zur Erzählerin ihrer und Hajilas Geschichte. Ihre Verhüllung ist damit zwar auch ein Schutz, aber darüber hinaus - weil es eine autonome Entscheidung darstellt - ein subversiver Akt: Sie kehrt nur vordergründig in die Anonymität der Gemeinschaft der Frauen zurück. Als Teil dieser Gemeinschaft und gleichzeitig Erzählerin macht sie das Leid der Frauen öffentlich und weist auf überindividuelle Erfahrungen hin. Die Konstruktion der beiden Figuren und ihre Entwicklung macht die Ambivalenz der Verhüllung deutlich. Sie besteht einerseits in der Negation der Individualität und der Distanz zum eigenen Körper und kann somit eine Entfremdung und ein Hindernis der Identitätskonstruktion darstellen. Andererseits funktioniert die Verhüllung auch als Schutz der Intimsphäre und dadurch Rückzugsraum des Subjekts. In einer Gesellschaft mit hoher sozialer Kontrolle kann ein Rückzug in die Anonymität hinter den Schleier Freiheit von gesellschaftlichen Erwartungen bedeuten. Verschleierung bzw. Verhüllung kann somit entweder Identitätsfindung verhindern oder ermöglichen. 194 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="195"?> 4.3.1.6 Polygamie und Harem: Die Gemeinschaft der Frauen Die Gemeinschaft der Frauen wird in Ombre Sultane durch zwei zentrale die Ehe und Familie strukturierende patriarchale, gesellschaftliche Praktiken darge‐ stellt: die Institution der Polygamie und die daraus resultierende Gemeinschaft mehrerer Ehefrauen desselben Mannes, der Harem. Die Polygamie, eine auch noch im heutigen Algerien vorkommende Form der Vielehe mit bis zu vier Ehefrauen, bindet Hajila und Isma aneinander (vgl. Lalami 2012). Isma, als erste Ehefrau, hat Hajila als ihre Nachfolgerin bzw. zweite Ehefrau selbst ausgewählt. Diese Konstellation mag das Potential einer Rivalität der beiden Ehefrauen um die Gunst des Ehemannes bergen. Im Fall Hajilas und Ismas wird allerdings die Komplexität einer polygamen Ehe in einer Gesellschaft deutlich, die auf traditionell-konservativen Werten gründet, sich aber gleichzeitig nach und nach modernisiert. Eine Scheidung bedeutet in vielen Fällen den Verlust des Sorgerechts der Frau für die gemeinsamen Kinder, insbesondere wenn sie im Ausland lebt. Isma musste ihre Tochter bei ihrem Vater zurücklassen, als sie sich aus der unglücklichen Ehe befreit und nach Frankreich geht. Auf Nachfrage ihrer Tante, warum sie dafür das Land und ihre Tochter verlassen hat, antwortet Isma: J’avais besoin de réfléchir, pour cela, d’être dehors ! De marcher, de dévisager des visages inconnus. J’avais besoin d’être dehors, mais qu’on m’oublie ! D’une certaine façon, qu’on me tue-! (Djebar 2006b, S.-122) Das Bedürfnis nach (Bewegungs-) Freiheit und Anonymität, d. h. fehlender sozialer Kontrolle, entspricht ihrem Bedürfnis zu sich selbst zu finden („avoir du temps à moi“, ebd.). Ihre in der Ehe erlittenen Traumata kann sie in der gewohnten Umgebung nicht verarbeiten. Für sie war es eine Notwendigkeit, physische Distanz zwischen sich und die Orte ihrer gescheiterten Beziehung zu bringen. Durch die Distanz erhofft sie sich vergessen zu werden, bzw. in der Anonymität einer französischen Großstadt zu verschwinden. Sie fällt als Individuum nicht auf. Gleichzeitig kann sie sich fernab von ihrer Familie, den Orten ihrer Vergangenheit und den sozialen Erwartungen an sie ihrer Individualität bewusstwerden. Im Zitat spricht sie von dem Wunsch „qu’on me tue! “ Ihre Identität ist durch die Ereignisse in ihrer Ehe, den Gewaltausbruch ihres Mannes, erschüttert. Sie stellt die Grundlagen ihrer Identitätskonstruktion in Frage. Sie erkennt, dass sie weniger Kontrolle über ihren Lebensweg hatte, als ihr bewusst war, da die patriarchalischen Strukturen der Gesellschaft ihr diesen nur durch die Erlaubnis und Unterstützung ihres Vaters und Ehemannes ermöglichten. Mit der Ausübung von Gewalt entzieht ihr Ehemann ihr die Frei‐ heit und offenbart ihre eigene Ohnmacht. Isma sieht keine andere Möglichkeit, 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar 195 <?page no="196"?> 106 „[…] en somme la parole drapée du malheur restait reléguée, aussi voilée que le corps de chacune au-dehors.“ (Djebar 2006b, S.-119) als zu fliehen. Sie beginnt dadurch einen Reflexionsprozess, der letztendlich in der Rekonstruktion ihrer Identität, auch durch Erinnerungen an ihre Kindheit, mündet. Der zweite Teil von Ombre Sultane, „Le saccage de l’aube“ schließt an Ismas im Kapitel „Patios“ begonnenen Kindheitserinnerungen an. Die Ich-Erzählerin erinnert sich an Episoden, die eine „Geschichte der Gefangenschaft von Frauen, diesem vielschichtigen Zusammenspiel aus Opferung, Gewalt, Selbstaufgabe und mehr oder weniger stillschweigender Mittäterschaft auf den Grund gehen“ (Kopf 2005, S. 88). Es sind Geschichten, die die Erzählerin als Mädchen erlebt, gehört, gesehen, aber nicht verstanden hat und die sie jetzt erzählt „wie Scheherazade“ (Kopf 2005, S. 88), um das unabwendbare Ende der Geschichte von Hajila und Isma aufzuschieben. Dieser Teil „Le saccage de l’aube“ und das Wiederaufleben der Erinnerungen verdeutlichen gleichzeitig, wie sehr die Erzählerin einen Teil des Harems in sich trägt (vgl. Djebar 2006b, S. 119). Sie hat als Kind das gleiche erlebt wie alle Frauen, wenn sich ihr auch die Bedeutung und das Ausmaß des Gefangenseins 106 erst im erwachsenen Alter erschließen, weil die Frauen ihr Leid nicht offen äußern. Das Verschweigen schmerzlicher und trauriger Erlebnisse verzögern Ismas Erkenntnis über die tatsächliche Situation der Frauen. Erst im Rückblick der erwachsenen Isma ergeben die Seufzer und Klagelaute der Frauen in ihrer Kindheit einen Sinn (Djebar 2006b, S. 119). Sie erkennt, dass sie dem Teufelskreis von männlicher Gewalt und weiblichem Stillschweigen und Leiden nur knapp entkam. Erst jetzt, nach diesem Erkennen, kann sie sich im dritten Teil des Textes der Erinnerung an die Trennung von ihrem Mann stellen und sich ihre Erinnerungen an das Leid der Frauen erschließen. Interessanterweise kehrt Isma, die erste Frau, gegen Ende der Handlung in den Harem, d. h. in den Umkreis der Frauen ihrer Familie in ihrer Geburtsstadt zurück. Sie nimmt ihre Tochter mit sich und kehrt bewusst zurück in den titelgebenden Schatten, das heißt in die Anonymität des privaten Raums: „[…] la première dès lors peut se voiler, ou se dissimuler.“ (Djebar 2006b, S. 227). Isma hatte sich durch ihr Leben in Europa Freiheit erkämpft, die sie nun aufgibt. Sie tut dies für ihre Tochter, die nach geltendem Recht nicht bei ihr bleiben kann, solange die Mutter im Ausland lebt: Que m’importe si, par malheur, je devais me retrouver prise dans l’interdit, me réenfoncer sous le haïk de la tradition? Je tiens la main de ma fillette, je la tire au soleil, je l’aiderai, elle, à ne pas s’engloutir! (Djebar 2006b, S.-108) 196 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="197"?> Damit rettet sie ihre Tochter vor dem Leben, das sie bei ihrem Vater erwarten würde, indem sie sich selbst wieder an den Ort begibt, den sie mit zehn Jahren verlassen hat. Sie gibt somit ihre eigene Freiheit auf, um ihrer Tochter und damit symbolisch anderen Frauen einen anderen Lebensentwurf als den traditionellen ermöglichen zu können. Diese Rückkehr in ihr Heimatland ist motiviert durch die Erkenntnis, dass ihre individuelle Befreiung nur temporär sein kann. Eine wirkliche gesellschaft‐ liche Veränderung kann sich erst einstellen, wenn sich nicht nur einzelne privilegierte Frauen befreien können. Isma erkennt, dass ihre eigene Freiheit nur auf Kosten der Unterdrückung anderer Frauen möglich wird. Hajila übernimmt ihre Rolle in der Ehe und Familie. Es wird ihr bewusst, dass ihre eigene Befreiung nichts an der Situation der Frauen in Algerien geändert hat und somit auch für ihre Tochter Meriem die Gefahr besteht, in den gleichen Strukturen gefangen zu sein: J’avais voulu m’exclure pour rompre avec le passé. Ce fardeau pendant mes errances dans les villes où j’étais de passage, s’était allégé. Meriem m’avait écrit. J’accourrais ; je ne pouvais me libérer seule. (Djebar 2006b, S.-123) Identität ist „relational“, immer in Beziehungen eingebunden (Glomb 2004, S. 277). Insofern ist auch die Gemeinschaft der Frauen, ebenso wie die Beziehung zum Ehemann, ein wichtiger Aspekt der Identitätskonstruktion. Durch die geschlechtliche Raumtrennung in der Gesellschaft ist die Gemeinschaft der Frauen und ihre Beziehungen untereinander ein entscheidender Faktor. Eman‐ zipatorische Entwicklung kann die einzelne Frau sowohl aus der Gemeinschaft der Frauen als auch durch „westliches“ Verhalten aus der nationalen Gemein‐ schaft vertreiben. Fehlende Zugehörigkeit sowie durch die emanzipatorische Hinterfragung gesellschaftlicher Strukturen aufgelöste Sinnsysteme können zu Identitätskrisen führen (ebd.). Isma erkennt dies und kehrt nach Algerien zu‐ rück. Sie wird sich am Ende des Textes mit ihrer Tochter und ihrer Tante in ihrer Heimatstadt niederlassen. Das Ich der Erzählerin nimmt sich dadurch zurück und integriert sich erneut in die Gemeinschaft der Frauen. Es ist allerdings eine selbstgewählte Gemeinschaft ohne männlichen Einfluss. Isma schafft so eine subversive Form des Harems. Er ist nicht länger ein machtstabilisierender Faktor des patriarchalen Systems. Sie durchbricht den Zyklus, in dem die Grundlagen des Systems von der Mutter an die Tochter weitergegeben werden: „En résumé le système du harem garantit aux hommes le pouvoir officiel tout en concédant aux femmes en tant que mères un pouvoir inofficiel“ (Rothe 1994, S. 183). In diesem Verständnis kann die Gemeinschaft der Frauen auch nicht präventiv wirken, um das von 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar 197 <?page no="198"?> den Müttern erlebte Leid den Töchtern zu ersparen. An Hajilas Geschichte wird dies deutlich, als sie kurz nach der Vergewaltigung durch ihren Ehemann ihre Mutter besucht. Touma erzählt die Geschichte ihrer eigenen Ehe, die für sie mit zwölf Jahren begann. Doch Hajila erfährt nie etwas von der Hochzeitsnacht und dem Vollzug der Ehe. Es bleibt unklar, ob Touma auch vergewaltigt wurde, wie Hajila vermutet. So schreibt sich die Geschichte des Leids der Frauen fort, da diese schweigen und ihre Erfahrungen anderen Frauen nicht zugänglich machen. Touma hat Hajila nicht vor den zu erwartenden körperlichen Leiden in der Ehe gewarnt und nicht versucht, sie davor zu bewahren. Hajila entdeckt darin einen Selbstbetrug der Frauen: Oui, elles mentaient, elles mentaient toutes […]. Pourquoi? […] Aucune n’avait osé avouer: „Le sang pue entre vos jambes. Chaque nuit, l’écorchure se creuse, vous serrez les dents de longues minutes tandis que le souffle mâle au-dessus de votre tête n’en finit pas! “ Aucune n’a révélé que, le lendemain, votre seule arme est le défi! Vous vous lavez longuement, vous vous dressez contre une porte, en ennemie. L’homme alors s’en va. (Djebar 2006b, S.-99) Dieser Selbstbetrug der Frauen, die ihr Leid verschweigen, um es ungeschehen erscheinen zu lassen und die Angst der Männer vor gesellschaftlichem Bedeu‐ tungsverlust verhindern die Kommunikation zwischen den Geschlechtern. Isma bricht das Schweigen, indem sie ihre und Hajilas Geschichte erzählt. Wie oben bereits gezeigt, ergibt sich aus der gewählten Erzählperspektive der Eindruck eines Dialogs, ein Gespräch zwischen den beiden Frauen über das geteilte Leid. Isma, die Hajila als zweite Ehefrau auswählte, wird ihr letztendlich die Möglichkeit geben, sich ebenfalls zu befreien. Zentral für Hajilas Entwicklung und Prozess der Identitätsfindung ist dabei, ebenso wie bei Isma, Bewegungsfreiheit und die Überschreitung der Raumgrenzen, die für sie als Frau gelten. - 4.3.1.7 Semantisierung des Raums und Grenzüberschreitung Die Beschreibung der Räume und die Bewegungen der weiblichen Figuren innerhalb der Räume haben eine besondere Bedeutung und Funktion. Es wird deutlich, dass die weiblichen Figuren einen eingeschränkten Bewegungsradius haben, der sich durch traditionelle, gesellschaftliche und geschlechtsbezogene Rollenverteilungen definiert. Die Frauen verbleiben in der Regel in ihren Wohnungen und somit auf den häuslichen Raum beschränkt. In Ombre Sultane ist es insbesondere Hajila nicht erlaubt die Wohnung zu verlassen. Aber auch die weiblichen Figuren (vgl. Isma, Touma), die sich außerhalb des Hauses bewegen, sind sich der dadurch ausgeübten Rollentransgression bewusst. 198 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="199"?> 107 Rothe beschreibt die Bewegung Ismas ebenfalls als zirkulär, interpretiert ihre Bewegung allerdings sehr viel optimistischer als in der vorliegenden Interpretation angenommen: „Sa libération est donc plus complète, si complète qu’elle peut se décider paradoxale‐ ment à revenir à l’immobilité […]“ (Rothe 1994, S.-167). 108 „Dabei wird das Haus [..] soziokulturell als Schutzraum und Ort der familiären Geborgenheit konzipiert […]“ (Würzbach 2004, S.-53.). In Gesellschaften, in denen eine ausgeprägte geschlechtsbezogene Raumauf‐ teilung vorherrscht, bedeutet das Verlassen des zugewiesenen Raumes einen Verstoß gegen traditionelle Regeln und Werte und wird als Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung gesehen. Eine Überschreitung der Raumgrenzen - gerade für die auf die private Sphäre begrenzten Frauen - ist demnach verbunden mit Persönlichkeitsentwicklung und Emanzipationsanstrengung (vgl. Würzbach 2004, S. 52). Zwischenräume nehmen eine besondere Stellung ein. So fallen im Roman dem Balkon, dem Fenster und der Schwelle besondere Bedeutung zu. Es sind Zwischenräume, die das Draußen und das Drinnen ver‐ binden. Auf die Bedeutung der Räume weisen bereits die Kapitelüberschriften, u.-a. Au-dehors, La chambre, Patios, Le bain turc hin. Bei Isma ist die Rückkehr in den abgegrenzten Raum von zentraler Bedeutung für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Sie scheint sich wieder in den Frauen zugewiesenen Raum zu fügen, findet in der Anonymität des Harems und des Schleiers aber die Kraft, für sich und andere Frauen zu sprechen, was als subversiver Akt gelten kann. Hier wird der private Raum des Harems/ Hauses im Vergleich zum Beginn des Romans, wo er für Hajila Eingesperrtsein und Entmündigung bedeutet, also umgedeutet. Er bietet Isma einen Ausgangspunkt und einen Schutzort. Ismas Bewegung findet also zirkulär 107 , von Innen nach Außen und dann wiederum von dem „Außen“ der Welt außerhalb des Harems, der Öffentlichkeit, in das „Innen“ des Privaten, des Raums der Frauen statt. Hajila bewegt sich in die umgekehrte Richtung. Ihre Emanzipation vollzieht sich, indem sie die traditionelle private Sphäre der Frauen verlässt und nach draußen in den öffentlichen Raum geht. Die Wohnung, in die Hajila nach ihrer Hochzeit zieht, ist ein modernes Appartement, westlich eingerichtet, aber doch auf die traditionelle Lebensweise ausgerichtet, denn im Salon befindet sich eine gläserne Trennwand als Symbol für die Geschlechtertrennung: die weiblichen Gäste sollen auf der einen, die männlichen auf der anderen Seite Platz nehmen können (vgl. Djebar 2006b, S. 25). Hajila fühlt sich von Anfang an unwohl in der Wohnung, in der durch ihren Blick alles leer und unpersönlich wirkt. Sie fühlt sich nicht zugehörig und ist bemüht keine Spuren zu hinterlassen, was sich dadurch ausdrückt, dass sie alles wie im ursprünglichen Zustand hält. Dass die Wohnung kein Schutzraum 108 für sie ist, wird besonders deutlich in der 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar 199 <?page no="200"?> 109 „Lors de ces retours, la cuisine paraissait encore plus froide.“ (Djebar 2006b, S.-30). dramatischen Szene des Angriffs durch ihren Ehemann. Für Hajila (und auch die Kinder) wird sie durch die Gewalt des Mannes zum lebensbedrohlichen Gefängnis. Von Anfang an wird ein Gefühl des Am-falschen-Ort-Seins suggeriert. Ha‐ jila bezieht die - wie die Leser: innen später im Text erfahren - von Isma eingerichtete Wohnung (vgl. Djebar 2006b, S. 209) als Ersatz für eine durch das Fortgehen Ismas entstandene Lücke. Die Küche wird dabei symbolisch zum Ort der Entfremdung, der Unterdrückung, die Hajila empfindet: „Les murs nus te cernent.“ (ebd. S. 16). Sie ist weiß, kalt und rein, steril 109 . Die Wohnung ist leer. Bis auf Touma kommt selten Besuch, was den Salon zu einem sinnlosen, nie benutzten Raum werden lässt. Dies alles steht im Gegensatz zum Elternhaus Hajilas, in dem sie mit anderen Frauen (Mutter und Schwester) zusammen war. Nun ist sie allein, aber gleichzeitig auch frei von der Dominanz ihrer Mutter. Einsamkeit und Freiheit sind die ambivalenten Aspekte dieses Raums und bilden gleichzeitig die Voraussetzung für den Ausbruch und die Veränderung Hajilas. Die Verbindung zwischen dem Innenraum der Wohnung und dem Draußen der öffentlichen Sphäre bilden die Fenster. Gleich zu Beginn des ersten Kapitels deuten sie Hajilas Wunsch auszubrechen, sich zu befreien, an und sind doch gleichzeitig eine Grenze, symbolisieren „die Schwierigkeit der Grenzüberschrei‐ tung“ (Würzbach 2004, S. 53). Als sie zunächst mit ihrer Mutter Touma die neue Wohnung kurz nach der Hochzeit besucht, nähert sie sich den Fenstern noch nicht: „Ni l’une ni l’autre, vous ne vous êtes approchées des fenêtres“ (Djebar 2006b, S. 24). Zu diesem Zeitpunkt steht Hajila noch stark unter dem Einfluss ihrer Mutter, die abergläubisch einen Blick aus dem Fenster im siebten Stock verbietet. Hajila folgt ihr „docilement“ (ebd. S. 24) und bleibt so auf das Drinnen beschränkt. Nach ihrem Einzug und mit ihrer neuen Stellung als Frau eines wohlhabenden Mannes nähert sie sich nun den Fenstern und geht auf den Balkon. Sie überschreitet mit neuem Selbstbewusstsein die erste Grenze: Toi, tu fixais toujours le paysage, les yeux aveuglés par cet éclat du jour inaltéré. Pour la première fois dominer la ville, ne plus se sentir un grain de poussière dans un des cachots du monde, un pou enfoncé dans quelque encoignure, ne plus…Ce tremblement qui t’habitait depuis l’enfance, s’épuiserait-il enfin là, à cette fenêtre ! (Djebar 2006b, S.-27) Der Balkon, der sich über der Stadt erhebt, erlaubt Hajila zum ersten Mal einen anderen Blick auf ihre Umgebung und auf sie selbst. Der Blick nach draußen 200 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="201"?> eröffnet ihr eine neue Welt. Sie nimmt die Weite des Himmels wahr und kann selbst ein Stück des Meeres sehen: Durant cette première visite et après avoir toutes deux tourné au centre de la cuisine, tu t’étais aventurée sur le balcon. Le panorama te laissa émerveillée, par ses contrastes de lumière, surtout par l’exubérance des couleurs, comme sur le point pourtant de s’évaporer sous le ciel immuable: sur le côté, un lambeau de mer presque violette […]. (Djebar 2006b, S.-26f.) Dieser neue Blick verändert sie und stößt ihre Entwicklung an. Die Wahrneh‐ mung ihrer Umgebung ändert sich. Sie hat nun das Bedürfnis, die Schwelle ganz zu überqueren und nach Draußen zu gehen. Dies wird begleitet von einer Distanzierung von ihrer Mutter. So entscheidet Hajila nach ihrem Besuch, hinaus zu gehen: „Un jour, tandis que Touma partait après avoir modulé son lamento, tu décidas que tu franchirais bientôt le seuil“ (Djebar 2006b, S.-32). Für Hajila ist die Überschreitung der Schwelle und damit der ihr gesetzten Grenze ein zentraler Aspekt in ihrer Identitätskonstruktion. Wie oben bereits beschrieben wird sie dadurch zu „une femme qui sort“. Für sie ist damit ein großes Risiko verbunden. Der Unterschied zwischen ihr und der Schwellen‐ übertretung der Männer, die für sie Normalität darstellt, wird früh im Text thematisiert: „[…] la cravate serrée, vous franchissez le seuil, tous les seuils. La rue vous attend…Vous vous présentez au monde, vous les bienheureux! “ (ebd. S.-17f.) Die Schwelle als Symbol des Übergangs ist im weiteren Verlauf der Handlung immer präsent. Im Kapitel „La mère“ des dritten Teils begegnen sich Isma und Hajila zum ersten Mal. Hajila liegt in einem Zimmer der Wohnung, noch kraftlos von den Verletzungen durch die Schläge des Mannes. Isma erscheint auf der Schwelle zu ihrem Zimmer und bietet ihr an, sie im Hammam zu treffen (ebd. S.-210). Diese Schwelle markiert das erste Zusammentreffen der beiden Frauen und somit auch eine veränderte Beziehung zwischen den beiden, deren Leben endlich aufeinandertreffen: Je suis apparue sur le seuil. Devant toi, enfin. Pour la première fois. Toi, ma fille et ma mère, ma consanguine: ma blessure renouvelée […]. (Djebar 2006b, S.-209) In dem Moment des ersten Treffens erkennt Isma in welche Gefahr sie Hajila gebracht hat. Man kann vermuten, dass sie in diesem Augenblick den Entschluss fasst, Hajila ihren Schlüssel zur Wohnung zu geben, da sie erkennt, dass Touma, 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar 201 <?page no="202"?> 110 Als Isma Hajila den Schlüssel übergibt, sagt sie: „Touma t’empêche de sortir, sauf pour ce bain hebdomadaire“ (Djebar 2006b, S.-219). die über Hajila in deren Wohnung wacht, sie nicht mehr gehen lassen wird 110 . Eine weitere Schwelle findet sich im Titel des letzten Kapitel, „Sur le seuil“. Der Schwellenraum ist hier die Stadt, die für beide einen Neuanfang bedeutet. Isma kehrt mit ihrer Tochter in ihre Geburtsstadt zurück (vgl. Richter 2004, S. 204) und Hajila verliert das Kind, gewinnt dadurch ihre Bewegungsfreiheit wieder und befindet sich im Aufbruch. Ein weiterer Ort mit zentraler Bedeutung im Roman ist der Hammam. Im Gegensatz zu allen anderen im Text dargestellten Räumen, in denen sich Männer frei bewegen können, ist dies ein Raum der Frauen ohne Zutritt für Männer. Er stellt einen Ruheraum und einen Ort der Reinigung dar, an dem Hajila sich nach dem Gewaltausbruch ihres Mannes sammeln und in der Gemeinschaft der Frauen Trost und Kraft finden kann. Der Hammam als geschlossener Raum, der ausschließlich den Frauen zugänglich ist, bietet einen Schutzraum, in dem das Schweigen der Frauen zumindest teilweise gebrochen werden kann: „Retrouver la source des hésitations, de l’incertitude première, de l’aphasie; nous rejoindre“ (Djebar 2006b, S. 212). In der Nacktheit der Körper werden auch Wunden für alle anderen sichtbar. Jenseits der öffentlichen und privaten Räume mit starren Rollen- und Identitätszuschreibungen können die Frauen in diesem Raum, der öffentlich und privat zugleich ist, über die Pflege des eigenen Körpers zu sich selbst finden. Mit dem Ablegen des Schleiers und ihrer Kleider wird ihr Körper, ihre Sexualität und ihr Selbstgefühl befreit. Cheveux dénoués et trempés, le dos étalé sur la dalle de marbre brûlant, ventre, sexe et jambes libérés, creuser une grotte et au fond, tout au fond, parler enfin à soi-même, l’inconnue. (Djebar 2006b, S.-100) Hier trifft nun Hajila auf Isma. In diesem Freiraum für die Frauen kommen sich die beiden näher, die Grenzen zwischen ihnen heben sich auf: S’approcher de la fluidité de toute reconnaissance: ne plus dire ‚tu‘, ni ‚moi‘, ne rien dire; apprendre à se dévisager dans la moiteur des lieux. (Djebar 2006b, S.-212) Die Dämpfe im Hammam, die klare Konturen auflösen, vermischen die Iden‐ titäten der beiden Protagonistinnen. Die Individuen gehen eine Zeit lang im geteilten Schicksal auf: Deux femmes - ou trois, ou quatre - qui ont eu en commun le même homme (durant des mois, des années, ou une vie entière car dans ce prétendu partage, c’est la durée surtout qui lancine), si elles se rencontrent vraiment, ne le peuvent que dans la nudité. 202 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="203"?> Au moins celle du corps, pour espérer atteindre la vérité de la voix; et du cœur. (Djebar 2006b, S.-213) Die beiden Frauen begegnen sich nackt, die Unterschiede zwischen ihnen - im sozialen Status, in Bildung und Alter - spielen keine Rolle. Im Roman stellt der Hammam daher einen Raum der Übergänge dar (vgl. Richter 2004, S. 204). Hajilas und Ismas geteiltes Schicksal, dass sie nun einander offenbaren, führt sie danach auf getrennte Wege. - 4.3.1.8 Schéherazade und Dinardze: Das Ermöglichen weiblichen Erzählens in Gemeinschaft Zu Beginn des Textes wird Isma als Erzählerin eingeführt. Sie wird ihre eigene Geschichte ebenso wie die Hajilas erzählen: „Dans le clair-obscur, sa voix s‘élève, s’adressant tour à tour à Hajila présente, puis à elle-même, l’Isma d’hier…“ (Djebar 2006b, S. 9). Ismas Erzählung ist eng mit ihren Erinnerungen verknüpft. Durch den häufigen Perspektivwechsel im Roman entsteht der Eindruck einer vielstimmigen Erzählung, die zusätzlich zu Hajilas Geschichte und Ismas Ver‐ gangenheit, die Stimmen von Frauen aus Ismas Kindheit vernehmen lässt. Isma sucht in ihren Erinnerungen nach den Erfahrungsberichten von Frauen, die ihren und Hajilas Erlebnissen ähneln. Les bribes de scènes d’autrefois affleurent ; elles abordent la rive du récit qui court. […] Je cherche, avant de poursuivre notre récit, d’où viennent les soupirs, où s’enfouissent les déchirures de l’âme. (Djebar 2006b, S.-200) Sie wird dadurch zur Chronistin und Erzählerin der Lebensgeschichten anderer Frauen. Aber es ist eine ambivalente Rolle: Cette parleuse, aux rêves brûlés par les souvenirs, est-elle vraiment moi, ou quelle ombre en moi qui se glisse, les sandales à la main et la bouche bâillonnée ? Éveilleuse pour quel désenchantement… (Djebar 2006b, S.-200) In diesem Zitat werden Ismas Unsicherheit als Erzählerin und ihre Schuldge‐ fühle Hajila gegenüber deutlich. Die beiden Figuren Isma und Hajila werden gedoppelt durch das Paar Schehe‐ razade und Dinardze, deren Geschichte als Prolog dem zweiten und dritten Teil des Romans vorangeht. Scheherazade ist ebenfalls - wie Isma - eine Erzählerin wider Willen. Ihre Erzählungen sind existentiell; sie retten sie vor dem Tod. Damit sie erzählen kann, muss sie allerdings darauf vertrauen, dass ihre Schwester Dinardze sie vor dem Morgengrauen weckt (vgl. Djebar 2006b, S. 137). Damit entgeht sie dem Tod durch ihr Geschick als Erzählerin, aber ebenso 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar 203 <?page no="204"?> durch die Unterstützung der Schwester: „Et la sultane sera sauvée pour un jour encore, pour un deuxième, parce qu’elle invente certes, mais d’abord parce que sa soeur a veillé et l’a éveillée“ (ebd. S.-140). Die verschiedenen Aufgaben der beiden Schwestern retten ihnen das Leben. Sollte Scheheradzade getötet werden, müsste ihre Schwester ihre Rolle ein‐ nehmen. Si à son tour elle prenait la place de Schéhérazade disparue, muette, et si, sous le même lit d’amour et de mort à transformer en trône de diseuse, une autre, une seconde sœur insomnieuse, s’oubliait à nouveau ? Si celle-ci négligeait de veiller, en éveilleuse qui préparerait la parade, qui assurerait l’unique salut-? (Djebar 2006b, S.-203) Ohne Dinardzes Aufmerksamkeit als „éveilleuse“ würde das Sterben der Frauen kein Ende nehmen. Es wird damit zum Ausdruck gebracht, dass die beiden Schwestern nur zusammen der männlichen Gewaltausübung trotzen können. Dabei wird wiederum auf die titelgebende Rollenverteilung des Schattens und der Sultanin verwiesen: Scheherazade ist Sultanin, Erzählerin und geht nachts eine sexuelle Verbindung mit dem Sultan ein, während sich ihre Schwester Di‐ nardze unter dem Bett versteckt, im Schatten, zuhört, wacht und sie schließlich weckt. In dieser eingeflochtenen Erzählung um die beiden Schwestern verdeutlicht sich ein Machtkampf zwischen den Geschlechtern, den Ruhe (vgl. 1995, S. 45ff.) in ihrer Analyse des Romans herausarbeitet. Der Zugang der Frauen zum öffentlichen Leben, Hajilas unerlaubte Ausgänge und Ismas unabhängiger Lebensentwurf, provoziert diese Auseinandersetzung, die durch den Intertext von „Tausendundeiner Nacht“ evoziert wird. (vgl. ebd.). Chaque nuit, une femme s’apprête à veiller pour parer au geste sanglant de l’exécuteur. […] L’homme écoute, lui qui a droit de vie et de mort. Il écoute et il porte le poids du verdict fatal, qu’il suspend de douze heures au plus jusqu’au prochain crépuscule. Une femme espionne sous le lit ; une femme lance le premier mot qui devance la défaillance. Sa voix est prête à voler pour chaque maille filée du récit, et cette femme est la sœur. (Djebar 2006b, S.-143f.) Scheherazade entscheidet den Machtkampf für sich. Allerdings nur dank ihrer wachsamen Schwester und ihres erzählerischen Einfallsreichtums. Die Aus‐ gangsbedingungen für die beiden Schwestern sind denkbar schlecht: Der Sultan, auf den hier ebenso wie auf den Ehemann Ismas und Hajilas nur mit der allgemeinen Bezeichnung „l’homme“ referiert wird - hat die strukturelle Gewalt und faktische Macht. 204 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="205"?> 111 Ruhe (Ruhe 1995) bezeichnet diese Verknüpfung der unterschiedlichen Teile von Ombre Sultane mit dem von Lacan für die Beschreibung des Subjekts eingeführten Begriffs des Borromäischen Knotens, deren Teile unentlösbar ineinander verwoben sind (vgl. Ruhe 1995, S.-67). Die Verknüpfung mit der traditionellen Erzählung von „Tausendundeiner Nacht“ stellt die Erzählerin Isma in eine Traditionslinie mit Scheherazade und damit eine der erzählenden Frauen. Isma tritt in diesem Sinn ein Erbe an, das sie weiterentwickelt, in dem sie in ihren Erzählungen auf das Leid Hajilas und der Frauen in ihrer Familie sowie auf ihre eigenen Gewalterfahrungen aufmerksam macht. Sie bricht damit das Schweigen der Frauen und macht ihre Situation öffentlich. Die Erzählung wird allerdings nur dadurch möglich, dass sie sich aus der gewaltsamen Ehe durch Trauung ihres Mannes mit Hajila befreit. Erst eine zweite Frau, Hajila, erlaubt es ihr, sich ihrer eigenen Vergangenheit und ihren Erinnerungen zu stellen. Die beiden Frauenpaare vermögen zumindest einen Aufschub männlicher Gewaltausübung zu erreichen, welcher die einzelne Frau hilflos ausgeliefert ist: „Et notre peur à toutes aujourd’hui se dissipe, puisque la sultane est double“ (Djebar 2006b, S. 140). Das jeu de doubles wird hier zur Voraussetzung für die Verbesserung der Situation für Frauen. Indem eine weitere Frau das Schicksal, in diesem Fall der Sultanin Scheherazade, teilt, kann diese überleben. Ebenso zentral wie die Doppelung der Figuren ist aber die Fähigkeit zu erzählen. Diese wird zur Notwendigkeit und zur einzigen Möglichkeit der männlichen Gewalt, die strukturell und gesellschaftlich verankert sowie sozial toleriert ist, etwas entgegenzusetzen. 4.3.2 Gemeinschaft der Frauen als Voraussetzung weiblichen Erzählens - Strategie der Solidarität Im Gegensatz zu den in den vorherigen Analysen zugrunde gelegten Texten hat Ombre Sultane mit Isma und Hajila zwei Protagonistinnen. Beide Figuren sind narratologisch sowie durch die inhaltliche Schilderung ihrer Schicksale eng miteinander verknüpft. Im Roman wird das Bild der Arabeske 111 gewählt, um die Verschränkungen der Textteile aber auch der Lebensentwürfe der Frauenfiguren sowie der Komplexität und Ambivalenz ihrer Identitätsentwürfe zu erfassen. Das Bild der Arabeske als einer kunstvollen Verschnörkelung enthält darüber hinaus einen ästhetischen Aspekt, der nicht nur auf den Konstruktionscharakter der Verknüpfungen hinweist, sondern auch versucht der Schönheit der Kom‐ plexität gerecht zu werden. Duplizität findet sich auf verschiedenen Ebenen: im Titel, in der Figurendarstellung, in der Romanstruktur, in der Erzählper‐ 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar 205 <?page no="206"?> spektive und in der Doppelung der Figuren durch die Einschuberzählung um Scheherazade und Dinardze. Die Duplizität ermöglicht die Darstellung zweier gegensätzlicher Frauenfiguren und somit zweier unterschiedlicher Lebenswir‐ klichkeiten, die dennoch beide die Erfahrung männlicher Gewalt teilen. Auf narrotologischer Ebene wird die Verknüpfung der Figuren durch die Wahl der Erzählperspektive(n) hergestellt. Der größte Teil des Romans wird in der 2. Person Singular erzählt, wodurch der Eindruck eines Dialogs zwischen einem „je“ und einem „tu“ entsteht. Isma ist jedoch die dominante Erzählinstanz, die als Ich-Erzählerin auftritt und auch Hajilas Geschichte erzählt. Die Perspek‐ tive, das jeu de doubles, erlaubt der Erzählerin in den Hintergrund zu treten, ihren eigenen Schmerz zu verfremden, aber im evozierten Dialog auch zu teilen. Des Weiteren wird die Erzählung durch Einfügen von Erinnerungsstücken und anderen Textelementen (u. a. die Einschübe der Erzählung aus Tausendundeiner Nacht) unterbrochen. Kohärenz und Chronologie sind dadurch gestört, und es entsteht der Eindruck von Unsicherheit der Erinnerungen und Fragmentierung des Ichs. Es werden so aber auch weitere Stimmen, d. h. weitere Erzählungen von Frauen, zugelassen. Die Erzählerin ist somit Teil einer Gemeinschaft und eine Stimme unter anderen. Diese narrative Konstruktion erlaubt es, ihre Isolation zu überwinden, ihr Trauma zu bearbeiten und einen autonomen Identitätsentwurf zu konstruieren. Auf inhaltlicher Ebene vereint die Figuren die Tatsache, dass sie durch die rechtliche Möglichkeit der Polygamie gleichzeitig Ehefrauen desselben Mannes sind. Im Roman wird die reale zeitgenössische Praxis der Vielehe in Al‐ gerien mit den orientalistischen Bildern des Harems verwoben. Die Darstellung der polygamen Ehe bedient westliche orientalistische Vorurteile, durchbricht diese aber gleichzeitig durch die spezifische Gestaltung des Romans. Sie ist gleichzeitig die Ursache für Hajilas Gefangenschaft und Ismas Freiheit, sowie Ausgangspunkt für Hajilas Emanzipation und Auslöser für Ismas Erinnerungen an ihre Kindheit und die Gemeinschaft der Frauen. Der Harem übernimmt eine ambivalente Funktion: Einerseits wird die Gemeinschaft der Frauen im Harem in der Erinnerung der Ich-Erzählerin positiv als Ort der Geborgenheit dargestellt. Andererseits wird ihr als Erwachsene in der Retrospektive bewusst, wie viel unausgesprochenes Leid und unterdrückte Wut vorherrschte, die ihr als Mädchen nicht auffielen. Isma bedient sich der Polygamie zunächst zur eigenen Befreiung aus ihrer gewalttätigen Beziehung. Sie übernimmt die Funktion der im Titel genannten Sultanin, die eine durch patriarchale Strukturen gewährte Macht über andere Frauen ausüben kann. Hajila ist zunächst der Schatten. Sie hat nicht die Möglichkeit selbst über ihren Lebensentwurf zu entscheiden. Die Verbindung der Figuren durch die gemeinsame Ehe wird aber Ausgangspunkt 206 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="207"?> ihrer beider Entwicklung. Schließlich wird die Duplizität Möglichkeit zur tem‐ porären Überwindung des männlichen Einflussbereichs und Konstruktion eines selbstbestimmten Identitätsentwurfs jenseits gesellschaftlicher Erwartungen. Sie überwinden durch ihr geteiltes Schicksal den „lourd héritage“ (Djebar 2006b, S. 11) der Frauen, auf den bereits im ersten Kapitel hingewiesen wird. Die Perpetuierung der Machtstrukturen durch das Schweigen der Frauen über ihre Leiderfahrungen wird unterbrochen. Am Ende des Textes wird Isma gemeinsam mit ihrer Tante sowie ihrer Tochter eine selbstbestimmte Gemeinschaft der Frauen bilden. Ihre Rückkehr in die Gemeinschaft der Frauen wird dadurch zur subversiven Form des Harems. Die Freiheit, die Isma erfährt, wird ihr zunächst durch Männer gewährt und schließlich, nach dem Entzug der Freiheiten durch ihrern Ehemann, nur durch das Leid einer weiteren Frau möglich. Ein individueller, freier, weiblicher Lebensentwurf hat in einer patriarchalen Gesellschaft mit stark ausformulierten und hierarchisierten Geschlechtsidentitätszuschreibungen das Leid einer an‐ deren Frau zur Folge (der zweiten Ehefrau, der Tochter etc.). Als eine Strategie diese strukturellen Machtmechanismen zu durchbrechen wird anhand der Erzählung um Scheherazade und Dinardze die Bedeutung der Unterstützung durch eine zweite Frau gezeigt. Durch die Solidarisierung mit der anderen Frau wird das individuelle Schicksal zu einem geteilten, kollektiven und kann damit nicht auf ein Einzelschicksal reduziert werden. Einerseits ist die Einbettung der eigenen Lebenserzählung in die Lebensgeschichten anderer Frauen ein Schutz. Gleichzeitig werden dadurch die erzählten Schicksale zu einem vielfältigen Chor, der zwar individuelle Leben erzählt, aber Gemeinsamkeiten des Leids aufzeigt und so auf ein kollektives Schicksal und strukturelle Benachteiligungen, Unterdrückungen hinweist. Eine weitere Strategie der strukturellen Gewalt etwas entgegenzusetzen ist die Teilhabe am öffentlichen Diskurs. Die eingebettete Erzählung um die beiden Figuren Scheherazade und Dinardze aus „Tausendundeiner Nacht“ verdeutlicht die geradezu existentielle Notwendigkeit des Erzählens und des gemeinsamen Handelns. Für Frauen, die der strukturellen männlichen Gewalt schutzlos ausgeliefert sind, ist beides ein Akt des Widerstands. Durch die Erzählung wird eine weibliche Stimme in der Öffentlichkeit präsent. Indem der Roman, mit Isma als Erzählerinfigur, die Geschichten verschiedener Frauen ineinander verwebt, wird darüber hinaus das Schweigen in Bezug auf die Leiden der Frauen, die der Gewalt zum Opfer fallen, gebrochen. Auf Textebene wird somit ein Gegendiskurs entworfen, der mit Scheherazades Erzählungen eine Traditionslinie des Gegendiskurses entwirft und auf Ebene des Romans eine ebensolche Funktion übernimmt. 4.3 Die Notwendigkeit weiblichen Erzählens bei Assia Djebar 207 <?page no="208"?> Mit der Thematisierung von weiblichem Erzählen als Widerstand gegenüber männlicher Macht und damit seiner Funktion als Gegendiskurs kann Ombre Sultane als chronologisch ältester der für die vorliegende Untersuchung ausge‐ wählten Texte als Folie gelesen werden. Der Roman schließt mit einer Befürchtung: „Sitôt libérées du passé, où sommes-nous? “ Die Fähigkeit zu erzählen ist nach wie vor notwendig: „[…] son salut n’est assuré que par la traversée de chaque nuit de harem, par chaque envolée dans l’imaginaire“ (Djebar 2006b, S. 228). Der Ausblick scheint - mit Sicht auf die aktuelle Situation, die trotz einiger Verbesserungen in der Gesetz‐ gebung durch die Retraditionalisierung nach wie vor starke Einschränkungen für Frauen bedeutet - prophetisch: Ô ma sœur, j’ai peur, moi qui ai cru te réveiller. J’ai peur que toutes deux, que toutes trois, que toutes […], nous nous retrouvions entravées là, dans « cet occident de l’Orient-», ce lieu de la terre où si lentement l’aurore a brillé pour nous que déjà, de toutes parts, le crépuscule vient nous cerner (Djebar 2006b, S.-229). Eine freie Identitätskonstruktion für Frauen in Algerien bleibt schwierig, so‐ lange elementare Voraussetzungen wie u. a. der Schutz vor Gewalt in der Ehe und sexueller Gewalt nicht gewährleistet ist. 208 4 Strategien im Umgang mit der Konstruktion weiblicher Identitäten <?page no="209"?> 5 Erzählen, Bewegung, Solidarität - Strategien und Möglichkeiten weiblicher Identitätskonstruktion in französischsprachigen Romanen algerischer Autorinnen Ziel dieser Studie ist zu zeigen, auf welche Art und Weise die Protagonistinnen Identität(en) entwerfen (biographisch, narrativ), welche Schwierigkeiten, Kon‐ flikte, Störungen (Gedächtnisverlust, Unkenntnis über Familienherkunft, Rest‐ riktionen eines freien Identitätsentwurfs aufgrund ihres Geschlechts) dabei auf‐ treten, bzw. wie es ihnen gelingt, kohärente Identitätsentwürfe zu konstruieren. Es wird sowohl in den Blick genommen, wie die Protagonistinnen die Frage „wer bin ich? “ für sich beantworten als auch, worauf sie ihre Identitätsentwürfe aufbauen und welche Strategien sie dazu einsetzen. Dabei wird die zentrale Bedeutung narrativer Strukturen sowie des Schreibens selbst für die Konstruktion weiblicher Identitäten in einer patriar‐ chal-geprägten Gesellschaft gezeigt. Diese Darstellung wird durch die Verknüp‐ fung von identitätstheoretischen Überlegungen und narratologischer Analyse begrifflich gefasst. Es wird insbesondere die postkoloniale Entwicklung Alge‐ riens und deren Einfluss auf die Geschlechterverhältnisse berücksichtigt. Da sich die drei ausgewählten Autorinnen selbst-reflexiv mit ihrem Schreiben und ihrer Stellung als Schriftstellerinnen in der Gesellschaft auseinandergesetzt haben, werden diese Selbstverständnisse ebenfalls dargestellt. Die Auswahl von Texten der Autorinnen Maїssa Bey, Malika Mokeddem und Assia Djebar ergibt sich einerseits aus ihrer Popularität und der breiten Rezeption ihrer Romane, die für die Annahme von Literatur als Gegendiskurs und damit dem außerliterarischen Einfluss der Texte von Bedeutung ist. Ande‐ rerseits setzen sich diese drei Französisch schreibenden, algerischen Autorinnen in ihren Texten eingehend mit der Situation von Frauen in Algerien auseinander. Die einzelnen Romane wurden so ausgewählt, dass an ihnen die Problematik der Subjekt- und Identitätskonstitution von weiblichen Figuren in Algerien untersucht werden kann. Der Zeitraum der Veröffentlichung konzentriert sich auf die 2000er Jahre, nach Ende des Bürgerkriegs in den 1990ern (jeweils 2001, 2003, 2005, 2008). Eine Ausnahme bildet der Roman Ombre Sultane, der 1987 und damit vor Ausbruch des Bürgerkriegs veröffentlicht wurde. Er bildet den zeitlichen Ausgangspunkt der Analyse und führt die Texte gleichzeitig inhaltlich zusammen, in dem er zwei Protagonistinnen und deren Identitätsentwürfe mit‐ <?page no="210"?> einander verwebt. Obwohl er chronologisch den anderen Romanen vorausgeht, bildet er durch seinen Inhalt eine Art Schlusspunkt und führt die analysierten Problemfelder zusammen. Die Texte stehen also durch ihre zeitliche Einordnung zwischen Bürgerkrieg bis fast zu Beginn des sogenannten arabischen Frühlings in 2011 exemplarisch für eine zentrale geschichtliche und gesellschaftspolitische Epoche in Algerien, die massive Auswirkungen auch auf die Lebensentwürfe von Frauen hatte. Der Aufbau der Arbeit sieht zunächst die Vorstellung von und Auseinander‐ setzung mit den theoretischen Überlegungen vor, die die Grundlage für die Analysen bilden. Dabei wurde an erster Stelle der postkoloniale Bezug der ausgewählten Romane beleuchtet. Von Bedeutung ist dabei die historische Entwicklung von Rollenerwartungen an die Geschlechter im Verlauf der 130jäh‐ rigen Kolonialgeschichte Algeriens mit Frankreich sowie während der Nationa‐ lisierungsprozesse nach der politischen Unabhängigkeit (vgl. Zettelbauer 2002, S. 253f.). Frauen wurden von den kolonialen Eroberern als Legitimationsgrund ihrer mission civilisatrice und der Bestätigung ihrer kulturellen Überlegenheit über das eroberte Volk instrumentalisiert. Im Zusammenhang mit der Unabhän‐ gigkeit und dem Entstehen der neuen Nation wurde Weiblichkeit dann mit spezifischen Funktionen verknüpft, u. a. wurde Frauen die Rolle als Bewahrerin des präkolonialen, kulturellen Erbes und als Hüterinnen der Tradition zuge‐ wiesen. Die Korrelation einer Zuordnung zum weiblichen Geschlecht mit einer patriotischen Aufgabe macht politische und gesellschaftliche Bewegungen, die diese starre Funktions- und Rollenzuweisung in Frage stellen, zur Bedrohung der Konstruktion gesellschaftlicher und nationaler Einheit. Feministinnen und Frauenrechtlerinnen, die die starren Identitätszuweisungen ebenso wie die damit verbundene rechtliche Benachteiligung von Frauen kritisieren, sehen sich häufig dem Vorwurf der Verwestlichung ausgesetzt. Die Kritik an starren Identitätskonzepten, die auch eine Kritik an nationalen, monoidentitären Iden‐ titätskonstruktionen ist, hat für die Kritiker: innen häufig das diskursive Abseits zur Folge. Es besteht beständig die Gefahr, dass feministische Positionen in politischen und gesellschaftlichen Diskursen instrumentalisiert werden. Die Überblicksdarstellung der historischen Entwicklung von Identitätszuweisungen für Frauen und ihre Instrumentalisierung u. a. als Bewahrerinnen der Tradition während des Nationalisierungsprozesses haben gezeigt, dass ein offener und breiter gesellschaftlicher Diskurs und in dessen Folge eine Dynamisierung der Identitätsangebote für Frauen in Algerien schwierig ist. Daran schließt sich eine Auseinandersetzung mit dem Begriff Identität und eine Vorstellung der für die Analyse der Romane nützlichen Theorien dazu an. Zentraler Aspekt ist dabei der im vorangegangenen Kapitel angedeutete 210 5 Erzählen, Bewegung, Solidarität <?page no="211"?> Konflikt zwischen gesellschaftlichen Identitätszuschreibungen und individu‐ ellen Identitätsentwicklungen von Frauen in Algerien. Um zu untersuchen, wie Identitäten in den Romanen konstruiert werden, ob eine kohärente Identi‐ tätskonstruktion gelingt und welche Strategien entwickelt werden, wird eine operationalisierbare Definition des Begriffs gegeben. Identität wird verstanden als dynamisch, konstruiert, durch soziale Interaktion beeinflusst und durch Selbstnarration ausgestaltet. Zugrunde gelegt werden diesem Verständnis für Identität hauptsächlich zwei theoretische Ansätze, namentlich sozialpsycho‐ logische Ansätze der Identitätstheorie (u. a. die Theorie des Symbolischen Interaktionismus) und die narrative Konstruktion von Identität. In der ersten wird die Konstruktion von Identität durch Handeln betont. In letzterer wird der Konstruktionsprozess von Identität durch Narrationen beschrieben. Die Zusammenführung der beiden Ansätze zeigt, dass die Gestaltung der eigenen Geschichte eine aktive Handlung ist, die dem Individuum Gestaltungsspielraum über die persönliche Identitätskonstruktion verleiht. Das Erzählen bzw. das Schreiben der weiblichen Figuren wird zu einer zentralen Möglichkeit der Identitätsfindung. Der in den Romanen geschilderte soziale und gesellschaftliche Rahmen ist restriktiv, so dass Handlungen und Interaktion für die weiblichen Figuren mit entsprechenden Sanktionen belegt sind. Die Sichtbarmachung des Konflikts zwischen Identitätszuschreibungen und eigenen Identitätskonstruktionen und der Versuch diese in Einklang zu bringen, findet über das Erzählen statt. Dies geschieht auf Ebene der Texte, aber auch auf Ebene der Textproduktion: Die Texte selbst sind Erzählungen von Identitätsfindungsprozessen unter den schwierigen Bedingungen in Algerien, und durch ihre Publikation werden sie Teil eines Diskurses, der eben diesen Konflikt für Frauen in Algerien öffentlich macht. Daher beschäftigte sich ein dritter Teil des theoretischen Bezugsrahmens mit der potentiellen Funktion von Literatur als Gegendiskurs. Es wurde gezeigt, dass Literatur „Modell und Trainingsfeld“ (Bronfen und Marius 1997, S. 7) oder auch ein „Experimentierfeld“ (Stritzke 2005, S. 112) für das Verhandeln von alternativen Identitätsentwürfen und der expliziten Darstellung von Identitäts‐ krisen und -konflikten bilden kann. Die Konstruktion fiktionaler Welten bietet darüber hinaus die Möglichkeit der reflexiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst und dessen Platz und Rolle in der Gesellschaft. Dadurch können sich Marginalisierungen offenbaren, die in den dominanten gesellschaftlichen Diskursen (rechtlichen, religiösen etc.) ignoriert oder gar tabuisiert werden. Der literarische Diskurs erlaubt nun die freie Darstellung eines Themas und eignet sich als Reaktion auf die Tabuisierung des Themas in anderen Diskursen die Gegenposition an. Dadurch entfaltet sich die potentielle Wirkmacht von Lite‐ 5 Erzählen, Bewegung, Solidarität 211 <?page no="212"?> ratur als Medium der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konventionen. Wie in den vorangegangenen Ausführungen dargelegt, ist die Thematisierung weiblicher Identitätskonflikte in anderen öffentlichen Diskursen in Algerien mit Schwierigkeiten verbunden. Literatur, verstanden als Gegendiskurs, kann dem‐ nach durch die Verdeutlichung der Identitätsbrüche in den Lebensentwürfen von Frauen einen wichtigen Punkt der Kritik hinzufügen. Sie kann konkret Themen wie die Diskriminierung von Frauen im täglichen Leben, Gewalt an Frauen aufgrund der gesellschaftlichen und institutionellen Machtstrukturen, aber auch die alternativen Identitätskonstruktionen von Frauen jenseits der ihnen zugewiesenen gesellschaftlichen Rollen aufgreifen. Die theoretischen Überlegungen zeigen, welche Identitätszuschreibungen für Frauen im postkolonialen Algerien gelten und wie wirkmächtig und sozial determinierend diese nach wie vor sind. Die Auseinandersetzung mit Identi‐ tätstheorien zeigt Möglichkeiten der Identitätskonstruktionen, insbesondere durch narrative Gestaltung, auf. Durch das Funktionspotential von Literatur als Gegendiskurs werden nun diese beiden Überlegungen zusammengeführt: Durch die narrative Gestaltung von Identitätsentwürfen einzelner Frauen im Rahmen einer Fiktionalisierung und Publikation dieser Entwürfe kann den dominanten gesellschaftlichen Diskursen etwas entgegengesetzt werden. Die starren Identitätszuschreibungen gelten ebenso für die Autorinnen selbst, wie in der fiktionalisierten Darstellung für ihre weiblichen Figuren. Da hier beide Ebenen - die des Textes und die der Textproduktion - betroffen sind, wurde vor der Analyse der Romane die spezifische Situation der drei Autorinnen als schreibende Frauen im Kontext Algeriens in den Blick genommen. Dabei wurde gezeigt, dass die Autorinnen durch ihre Teilnahme am literarischen Diskurs und ihre Wahl des Französischen als Schriftsprache soziale Grenzen überschreiten. Sie betreten damit einerseits einen männlich konnotierten Machtbereich und andererseits setzen sie sich über den kulturellen Standard des Arabischen hinweg. Ihre Stellung sowohl im algerischen aber auch im französischen Literatur‐ betrieb ist ambivalent. Die drei ausgewählten Autorinnen sind in Frankreich kommerziell und unter Kritiker: innen erfolgreich, aber sehen sich auch durch spezifische Zuordnungen des Buchmarktes in Schubladen gesteckt, darunter z. B. zur Migrations- oder frankophonen Literatur. In Algerien wiederum schwankt die Rezeption zwischen Ignoranz und Instrumentalisierung. Die Wahl des Französischen als Schriftsprache begründen die Autorinnen mit dem Freiraum, der sich ihnen dadurch öffnet und es ihnen erlaubt Tabuthemen zu beschreiben. Französisch wird zur Sprache der Grenzüberschreitung. Die Au‐ torinnen verkörpern nach Djebar die ambivalente Stellung französisch-schrei‐ 212 5 Erzählen, Bewegung, Solidarität <?page no="213"?> bender, algerischer Schriftsteller: innen zwischen „au-dehors et au-dedans“, zwischen Marginalität und Popularität und vielkulturellen Einflüssen. Als fran‐ zösisch-schreibende Algerierinnen sind sie in gängigen Kategorien des Buch‐ marktes schwierig einzuordnen, „sans nul héritage“ (Woodhull 2001, S. 19), und bieten so eine Projektionsfläche für Fremdzuschreibungen. Sie versuchen sich eingrenzenden Zuschreibungen gesellschaftlicher und politischer Bedeutung in Hinsicht auf algerische sowie französische Identitätspolitiken zu entziehen. Die Folge ist allerdings eine marginale, isolierte und gleichzeitig exponierte Stellung. Das Schreiben aus dieser Marginalität - „écrire dans la marge“ - bedingt für die Autorinnen aber auch die Möglichkeit einer spezifischen Klarheit durch die Distanz zur Gesellschaft. Ziel des Kapitels 3 ist auch die Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis der Autorinnen als schreibende Frauen und der Bedeutung bzw. den Funktionen, die sie ihrem Schreiben zuordnen. Dabei ist ein wiederkehrendes Motiv in den Selbstaussagen der Schriftstellerinnen der Wunsch gegen das Schweigen, in diesem Fall die Unterrepräsentanz weiblicher Stimmen im öffentlichen Diskurs, anzugehen. Bey bezeichnet dies als „aller à contre-silence“ (Bey 2009, S. 55). Sie schreibt ihrem literarischen Schaffen Solidarität zu, in dem es sich durch das Aussprechen von Missständen für andere einsetzt. Für Mokeddem beinhaltet das Schreiben die Möglichkeit eines Transformationsprozesses. Es eröffnet ihr einen anderen Raum und dadurch Perspektiven, die das Gefühl des Mangels überwinden könnten und ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln. Sie benutzt den programmatischen Begriff der „écriture féminine“ und definiert ihn für sich als Ausdruck der sozialen, kulturellen und politischen Gewalt, der Frauen ausgesetzt sind. Literatur sollte daher die Funktion einer „écriture de la transgression“ übernehmen, Verbote und Tabus brechen und überschreiten. Djebar wiederum begreift das Schreiben als Mittel der Transformation/ „moyen de transformation“ (Djebar 1999 S. 68), um sich selbst und die Welt zu fassen. Darüber hinaus eröffnet sie mit ihrem Schreiben einen Zugang zur Geschichte der Frauen in Algerien und ermöglicht die Rekonstruktion einer Erbschaftslinie, die in der offiziellen Geschichtsschreibung nicht vorhanden ist. Schreiben ist somit auch Bewusstwerdung einer Geschichte der (schreibenden) Frauen. Es wurde gezeigt, dass die Autorinnen ihre Stellung im Literaturbetrieb aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts und der Thematik ihres literarischen Schaffens als ambivalent einordnen. Sie befinden sich gleichzeitig am Rand, „au-dehors“, und inmitten eines kulturellen Diskurses, „au-dedans“. Dabei besteht aber beständig die Möglichkeit einer Instrumentalisierung im Sinne einer Identitätspolitik, derer sie sich zu entziehen versuchen. Sie beschreiben ihr literarisches Wirken als „aller à contre-silence“ (Bey), „écriture féminine“ und 5 Erzählen, Bewegung, Solidarität 213 <?page no="214"?> „écriture de la transgression“ (Mokeddem) sowie „moyen de transformation“ (Djebar) und ordnen ihm daher eine gesellschaftliche Wirkmacht zu. Sie sehen in ihrem Werk das Potential eines um die weiblichen Perspektive ergänzten Diskurses bzw. - durch die Enttabuisierung von Frauen betreffenden Themen und damit dem Überschreiten sozialer Grenzen - auch das Potential eines Gegendiskurses. Die theoretischen Überlegungen und die Darstellung des Selbstverständnisses der Autorinnen bilden den Rahmen und die Grundlage für die darauffolgende Analyse der ausgewählten Romane. Deren Protagonistinnen weisen zunächst unterschiedliche Reaktionsver‐ halten in ihrer Identitätsfindung im Rahmen der patriarchalen Gesellschafts‐ strukturen in Algerien auf. Die Figuren bei Bey und Mokeddem zeigen früh - bereits in ihrer Kindheit oder Jugend - unangepasstes Verhalten. Sie verweigern sich den Aufgaben, die ihnen als Mädchen zugeteilt werden, flüchten aus den engen familiären Verhältnissen, leisten passiven Widerstand gegenüber ihren Pflichten durch konsequentes Schweigen oder Schlaflosigkeit. Die vier in der vorliegenden Arbeit betrachteten Figuren aus den Romanen Beys und Moked‐ dems entwickeln psychische Labilität. Diese äußert sich in einem gestörten Verhältnis zum sich entwickelnden weiblichen Körper durch das Ausbleiben der Menstruation, dem Abbinden der Brust oder Anorexie. Eine psychische Beeinträchtigung findet sich in zwei Fällen in Form von Amnesie bzw. fehlender Erinnerungen ausgelöst durch Traumata. Die Figuren in Djebars Ombre Sultane hingegen zeigen zunächst eine andere Reaktion auf den erlebten Druck patriarchaler Strukturen: Sie passen sich an bzw. machen sich die Institution der Polygamie zunutze. Isma ist aktiv in die Auswahl einer zweiten Ehefrau für ihren Mann involviert. Hajila fügt sich zunächst dem gesellschaftlichen und familiären Druck einer vorteilhaften Heirat, um der Enge ihrer Familie zu entkommen. Alle Figuren leiden jedoch unter dem zunehmenden Anpassungsdruck, sich den gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen zu fügen. Sie geraten in den Kon‐ flikt zwischen dem Bedürfnis nach einer individuellen Identitätskonstruktion und dem Wunsch nach Zugehörigkeit. In den Romanen werden unterschiedliche Voraussetzungen und Lösungen thematisiert, die den Figuren die Möglichkeit einer individuellen Identitätskon‐ struktion im vorherrschenden Rahmen patriarchaler Machtstrukturen geben. In den ausgewählten Texten Beys sind dies die fehlenden Erinnerungen der Figuren bzw. die nicht erinnerte Vergangenheit in der Familie. Es fehlen die familiären Strukturen, um eine frühe Prägung und Erziehung im Sinn der weiblichen Rollenerwartung zu gewährleisten. Hier wird insbesondere die Rolle 214 5 Erzählen, Bewegung, Solidarität <?page no="215"?> der abwesenden Mutter thematisiert, die so die sozialen Erwartungen nicht an die Tochter weitergeben kann. Die Bedeutung einer abwesenden Mutter, sei es durch tatsächlich physische Abwesenheit oder große emotionale Distanz, ist auch Thema in den anderen ausgewählten Romanen von Mokeddem und Djebar. Die Figuren Mokeddems empfinden eine starke emotionale Distanz oder sogar Abneigung gegenüber der jeweiligen Mutterfigur. Sie nehmen deren Rolle als fügsame Ehefrau, die durch häufige Schwangerschaften und den Haushalt einer vielköpfigen Familie in ärmlichen Verhältnissen in Anspruch genommen sind, kritisch in den Blick. Es wird die Komplizenschaft der Mutter in einem patriarchalen System thematisiert, dass durch die von Müttern ausgehende Erziehung der Töchter zu gefügigen Frauen perpetuiert werde. In Ombre Sultane wird zudem das Schweigen der Frauen als Teil der gesellschaftlichen Strukturen, die sie unterdrücken, begriffen. Damit werden fehlende familiäre Strukturen und insbesondere die Abwesenheit der Mütter zur Voraussetzung der indivuellen Identitätskonstruktion. Als ein weiterer Weg dem sozialen Druck zu entgehen, sich in eine bestimmte Rolle als Frau zu fügen, wird der Zugang zu Bildung beschrieben. Bildung ist die Voraussetzung für eine Ausbildung und damit ökonomische Unabhängigkeit, die wiederum letztendlich in die Möglichkeit der Migration nach Frankreich mündet. Die Figuren Beys sowie Hajila aus Ombre Sultane haben keinen Zugang zu dieser Alternative. Dennoch ist Bewegung, wenn auch nicht im Sinn von Migration, ein zentraler Aspekt in der Charakterisierung aller Figuren und damit ein verbindendes Element. Alle untersuchten Figuren sind mindestens zu einem Zeitpunkt ihres Lebenswegs auf der Flucht. Der Begriff der fugue oder auch der errance taucht in allen ausgewählten Romanen auf. Die Figuren fliehen vor Gewalterfahrungen innnerhalb und/ oder außerhalb ihrer Familien. Bewegung als eine Reaktion auf erlebte Gewalt wird für die Figuren aus der existentiellen Not heraus zu einem Teil ihrer Identität. Gleichzeitig steht ständige Bewegung bei einzelnen Figuren dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit im Weg. In den Romanen finden sich zwei unterschiedliche Folgen dieser fugues: die Protagonistinnen Beys leben am Ende der Erzählungen in geschlossenen Räumen. Ihr Bewegungsradius wird eingeschränkt bzw. verlieren sie den Willen zur Flucht. Ein Verlassen des Ortes ist möglich, doch die Figuren sehen für sich keine Perspektive der freien Identitätsentwicklung in der Gesellschaft außerhalb ihres abgeschlossenen Raumes, der zugleich Begrenzung und Schutzraum ist. Die Figuren aus Mokeddems Romanen weiten ihre Flucht zur Migration aus. Sie verwirklichen ihr Bedürfnis nach Bewegungsfreiheit durch Reisen zwischen ihrem Heimatland Algerien und Frankreich. Diese Pendelbewegung, in der das Mittelmeer zum Zwischenraum wird, wird zentraler Aspekt ihrer Identitätskon‐ 5 Erzählen, Bewegung, Solidarität 215 <?page no="216"?> struktion. Sie sehen sich selbst als beständig in Bewegung zwischen zwei Polen, im entre-deux. Die Figuren Djebars führen diese in den vorangegangenen Romanen geschil‐ derten Bewegungsarten zusammen. Isma verschafft sich ebenfalls unbegrenzte Bewegungsfreiheit durch Migration nach Frankreich. Allerdings ist dies nur möglich durch die die Wahl Hajilas als zweite Ehefrau ihres Mannes sowie durch das Verlassen ihrer Tochter. Letztendlich gibt Isma daher ihre Bewegungsfreiheit wieder auf und kehrt nach Algerien an ihren Geburtsort zurück. Bei Hajila findet sich die umgekehrte Bewegungsrichtung. Sie ist zunächst ähnlich wie die Figuren Beys auf einen geschlossenen Raum beschränkt. Soziale Normen und Gewaltandrohungen ihres Ehemannes verbieten es ihr die Wohnung zu verlassen. Als sie dennoch unerlaubt beginnt Ausflüge in die Stadt zu unter‐ nehmen, setzt dies einen Entwicklungsprozess in Gang, der irreversibel ist und auch durch Gewaltausübung ihres Ehemanns nicht unterbunden werden kann. Als Fazit kann festgehalten werden, dass sich eine konfliktgeladene Bezie‐ hung der Figuren zwischen ihrer individuellen Identitätskonstruktion und den gesellschaftlichen Identitätszuschreibungen ausmachen lässt. Ihre freie Identi‐ tätskonstruktion wird durch gesellschaftliche Restriktion, häufig durchgesetzt mit Gewalt, limitiert. Ihre Identitätsentwürfe bleiben daher instabil und brüchig. In der Folge wählen die weiblichen Figuren, als eine Strategie im Umgang damit, den Rückzug aus der Gesellschaft, entweder an einem abgeschlossenen Ort außerhalb gesellschaftlicher Strukturen oder durch Migration. Eine zweite Strategie ist das Erzählen bzw. Schreiben. Es wird neben der fugue/ errance zweiter zentraler Verbindungspunkt der ausgewählten Romane. Narration ermöglicht u. a. den Figuren Beys Kohärenz in ihrem Identitätsent‐ wurf zu konstruieren; sei es als Chronistin der Lebensgeschichten anderer Frauen oder im Versuch verlorene Erinnerungen zu ersetzen. Allerdings bleiben die Figuren auf den geschlossenen Raum beschränkt. Auch ihr Wunsch nach Zugehörigkeit bleibt unerfüllt. Eine freie Identitätskonstruktion ist daher auf den Raum außerhalb der gesellschaftlichen Strukturen beschränkt. In den Texten Mokeddems geht es konkret um das Schreiben als identitätssta‐ bilisierenden Faktor, der die Figur u. a. mit der nomadischen Tradition verbindet, in der mündliches Erzählen einen zentralen Stellenwert hatte. Dennoch nehmen sich die Figuren als ständige Außenseiterinnen wahr, was im Text mit den Selbstbezeichnungen der Figuren als „apatride“ und einer „vie en marge“ beschrieben wird. Die Möglichkeit einer gelingenden Identitätskonstruktion bietet sich im entre-deux. Dieser Ort und Zustand, der sich konkret in physischen Zwischenräumen wie dem Mittelmeer befinden kann, findet seinen Ausdruck im Schreiben. 216 5 Erzählen, Bewegung, Solidarität <?page no="217"?> Der Roman Djebars schließlich verdeutlicht die existentielle Bedeutung des Schreibens. Die Solidarität zwischen den weiblichen Figuren bleibt als Strategie im Umgang mit den gesellschaftlichen Zwängen nur temporär wirksam. Eine Gemeinschaft der Frauen, die es erlaubt das Schweigen über erlebtes Leid zu brechen, davon zu erzählen und so einen öffentlichen Diskurs zu beginnen, bleibt als einzige Strategie mit Aussicht darauf, Frauen eine freie Identitätskon‐ struktion zu ermöglichen. Der von einer problematischen Integration von sozialer und persönlicher Iden‐ tität ausgehende Versuch der Protagonistinnen, in den ausgewählten Texten eine freie alternative Identität zu konstruieren, führt demnach zu unterschied‐ lichen Ergebnissen: dem Versuch sich durch Flucht und Migration oder Rückzug zu entziehen, sich in ein anderes als das familiäre Kollektiv oder eine Genealogie zu integrieren und/ oder sich eine narrative Identitätskonstruktion durch das Schreiben zu erarbeiten. Die Strategien der Migration und des Rückzugs - Strategie der fugue - führen für die Figuren zur temporären Möglichkeit einer Identitätskonstruk‐ tion jenseits der vorgegebenen Rollenerwartungen und Identitätsentwürfe für Frauen. Es bleibt jedoch die soziale Isolation und der Wunsch nach Zugehörig‐ keit. Dieser Wunsch bleibt für die Protagonistinnen unerfüllbar. Ausschließlich Isma aus Djebars Ombre Sultane ist es möglich, sich eine eigene Gemeinschaft der Frauen mit ihrer Tochter und ihrer Tante zu bilden. Alle anderen Protago‐ nistinnen scheitern in ihrem Bemühen Beziehungen aufrechtzuerhalten, die ihren Identitätsentwurf respektieren. Als Konsequenz entwickelt sich die Strategie des Erzählens als überindivi‐ dueller Möglichkeit die eigene Identitätskonstruktion zu stabilisieren (indem sie durch Narration kohärent wird) sowie sie mit anderen zu teilen und dadurch einen Weg aus der Isolation aufzuzeigen. So wird auf Ebene der Texte die Bedeutung des Erzählens und Schreibens als Strategie der individuellen Identitätskonstruktion verhandelt. Es wird aber auch die Bedeutung von Literatur mit ihrem Potential eines Gegendiskurses offenbar. Erzählen/ Schreiben ist für die weiblichen Figuren existentiell und wird exemplarisch zu einer politischen Handlung „contre tous les silences“. Maїssa Bey formuliert in diesem Sinn die Bedeutung des Schreibens folgen‐ dermaßen: Car écrire, c’est aussi et surtout, je le crois profondément, écouter les battements du cœur de nos semblables en humanité, être solidaire. (Bey 2009, S.-58) 5 Erzählen, Bewegung, Solidarität 217 <?page no="218"?> Für die Autorinnen hat das Schreiben eine gesellschaftliche Bedeutung; es ist ein Zeichen der Solidarität und der Gemeinschaft, eine Überwindung der Isolation in der Solidarität miteinander. Die Autorinnen selbst erheben ihre Stimmen und fügen sie dem literarischen Diskurs hinzu. Mit ihren Figuren und Erzählerinnen lassen sie weitere weibliche Stimmen zu Wort kommen, um das Schweigen zu überwinden. 218 5 Erzählen, Bewegung, Solidarität <?page no="219"?> 6 Literaturverzeichnis Primärliteratur Bey, Maïssa (2006a): Bleu blanc vert. Roman. 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Wenn Kulturpolitik und nationale Identitätsbildung eng verknüpft sind, ist es von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung, dass in Literatur soziale Prozesse, politische Entscheidungen und traditionelle Lebensweisen hinterfragt werden. In der Arbeit wird die narrative Konstruktion weiblicher Identitäten im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit und dem Bedürfnis nach Freiheit des eigenen Lebensentwurfs in Romanen der drei Autorinnen untersucht. Literatur wird dabei zu einem Ort des Verhandelns alternativer Lebensentwürfe und der expliziten Darstellung von Identitätskrisen in einem postkolonialen Kontext. ISBN 978-3-8233-8617-9