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Streit um Wörter

Sprachwandel zwischen Sprachbeschreibung und Sprachkritik

0905
2022
978-3-8930-8665-8
978-3-8930-8465-4
Attempto Verlag 
Christine Römer
10.24053/9783893086658

Immer wieder werden in Politik und Gesellschaft teils heftige Debatten um die 'richtigen' Wörter geführt, beispielsweise darüber, ob mit die Lehrer auch Lehrerinnen und Diverse gemeint sind oder ob Wörter wie Mohr und Zigeuner diskriminierend sind und deshalb verboten werden müssen. Dieser Band analysiert ausgewählte Streitpunkte und versucht, den Argumenten, aber auch den Überzeugungen und Gefühlen der Streitenden auf den Grund zu gehen. Dabei geht es nicht darum, zu harmonisieren oder andere zu dominieren, sondern darum, wesentliche Argumentationslinien anschaulich und nachvollziehbar zu machen. Die Prämisse ist, dass gegenseitiges Verstehen das Finden von Wegen aus dem Streit erleichtert. Die Publikation hilft, Tendenzen der Sprachentwicklung zu verstehen und eigenes und fremdes Sprachhandeln zu beurteilen sowie Ablehnungen oder Mitvollzug von Entwicklungen auf Sachkenntnis zu gründen.

<?page no="0"?> Streit um Wörter Sprachwandel zwischen Sprachbeschreibung und Sprachkritik Christine Römer <?page no="1"?> Dr. Christine Römer lehrte als Hochschuldozentin am Institut für Germanistische Sprachwissenschaft der Universität Jena. Sie beschäftigt sich besonders mit sprachtheoretischen Themen, der Lexikologie und Morphologie. <?page no="2"?> Streit um Wörter <?page no="4"?> Christine Römer Streit um Wörter Sprachwandel zwischen Sprachbeschreibung und Sprachkritik <?page no="5"?> Umschlagabbildung: Wörterbuch Unwort © ollo/ iStock Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783893086658 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2626-0697 ISBN 978-3-89308-465-4 (Print) ISBN 978-3-89308-665-8 (ePDF) ISBN 978-3-89308-017-5 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="6"?> 5 Inhalt Vorbemerkungen 7 1 Streit, Kritik und Sprachbewusstsein 11 2 Das dynamische Lexikon 21 2.1 Modelle der lexikalischen Sprachfähigkeit 21 2.2 Regeln, Normen und Varianten 27 3 Sprachwandel 33 4 Bedeutungswandel 43 4.1 Charakterisierung 43 4.2 Sprachlich diskriminieren 45 4.3 Ob Sprechblasen und manipulative Bezeichnungen typisch für die Politik sind 51 4.4 Ob „Aktivist“ eine Worthülse ist 57 4.5 Ob „Alte weiße Männer“ ein Feindbild sind 64 5 Wortgrammatischer Wandel 71 5.1 Charakterisierung 71 5.2 Ob geschlechterinklusive Benennungen Sprache regulieren 74 5.3 Wortbildungswandel - von Kurz- und Bandwurmwörtern 92 5.4 Ob Denglisch kreativ ist 97 <?page no="7"?> 6 6 Pragmatischer Wandel 107 6.1 Charakterisierung 107 6.2 Ob Lockerdeutsch die Internet- und Handykommunikation prägt 110 6.3 Sprachkritische Aktionen 116 7 Vorschläge zum Umgang mit Sprachkritiken 121 7.1 Verbote, Sprachlenkungen und Sprachplanung 121 7.2 Konstruktiv-kritische Sprachreflexionen fördern 134 Rechts- und Quellennachweise 143 Literatur 145 <?page no="8"?> 7 Vorbemerkungen Das Ziel jeder Diskussion sollte nicht Triumph, sondern Fortschritt sein. (Joseph Joubert) Das mentale Lexikon im Gehirn speichert das Wissen über Wörter und usuelle Wendungen im Langzeitgedächtnis einer jeden Person. Es ist kein passiver, statischer, abgeschlossener Wissensspeicher, sondern ein wichtiges dynamisches Organ der menschlichen Sprachfähigkeit. Die Dynamik wird von sprachinternen und äußeren Faktoren ausgelöst: Der Klimawandel, die fortschreitende wirtschaftliche Globalisierung, das Vordringen von Informationstechnologien in einer globalen Wissensgesellschaft, nachhaltiger, verantwortungsvoller Konsum, Protest per Mausklick haben gesellschaftliche Veränderungen zur Folge. 1 Begriffe wie Nachhaltigkeit, Tierrechte, Cancel Culture, Woke und Diversität bestimmen die ideologischen Diskussionen über solche Veränderungen. Aber im Zuge dieser Diskussionen finden nicht nur neue Begriffe Eingang in den Wortschatz. So sind neue Kinderbetreungsmodelle mit neuen Wörtern verbunden, beispielsweise Wechselmodell mit Pendelkindern. Verlangte und angestrebte Umbenennungen führten und führen zu heftigen Diskussionen. So verwahrt sich der Sprachwissenschaftler Munske gegen eine „gesetzliche Gleichstellung von Ehe und Partnerschaft“ mit einem lexikalischen Argument: „Es ist auch die Anmaßung des Gesetzgebers, das Sprachwissen um das Wort Ehe neu definieren zu wollen. […] Dazu ist kein Gesetzgeber befugt. Er darf und soll vieles regeln, aber die Sprache soll er gefälligst in Ruhe lassen.“ (Munske 2019: 3) Andererseits hat in den letzten Jahren das Framing, das aus 1 https: / / www.bmbf.de/ files/ VDI_Band_100_C1.pdf; Zugriff am 19.04.2021. <?page no="9"?> 8 der Kommunikationswissenschaft stammt, Furore gemacht. Man meint beim Framing, dass über unterschiedliche Formulierungen desselben Inhalts das Verhalten der Angesprochenen über Deutungsrahmen beeinflussbar, gesellschaftliche Verhältnisse gar damit veränderbar sind. Wenn Abtreibungsgegner: innen von Baby anstatt von Fötus sprechen, rufen sie bestimmte Bedeutungsfelder auf, die von informierten Kommunikationsteilnehmer: innen verstanden werden, jedoch nicht deren Meinungen verändern werden. Letztlich, so meine Meinung, bestimmt die Wirklichkeit die Wahrnehmung, Einordnung und Kommunikation. Ob ein Glas als halbvoll oder halbleer wahrgenommen wird, hängt beispielsweise davon ab, ob man noch etwas davon trinken möchte oder nicht bzw. ob man eine optimistische oder pessimistische Einstellung hat. Der Focus-Kolumnist Fleischhauer spitzte diese Problematik folgendermaßen zu: Vielleicht muss man wieder zur Sprachkritik zurück. Nicht weil Sprache Wirklichkeit konstruiert, wie es heute heißt, sondern weil der Sprachgebrauch Auskunft über die Zurechnungsfähigkeit des Sprechenden gibt. (20.08.2021) Dass man sich mit „falschen“ Wörtern um Kopf und Kragen reden kann, haben die Olympischen Spiele in Tokio gezeigt. Der deutsche Sportdirektor Moster musste, nachdem er arabische Radsportler als Kameltreiber bezeichnete, seine Koffer packen. Nach einer sexistischen Äußerung, musste Japans Olympia-Cheforganisator Mori zurücktreten. Der Streit um die „richtigen“, angemessenen Benennungen wird teilweise erbittert geführt, sowohl innerhalb der Linguistik, Journalistik als auch der Öffentlichkeit. Offensichtliche Überziehungen, wie dass das Wort Curry rassistisch sei oder ein Leitfaden für geschlechtergerechte, der die Mehrfachmarkierung vorschlägt „Frau Prof.in Dr.in Lise Meitner“ 2 , fachen die Diskussionen weiter an. 2 https: / / frauenbeauftragte.hu-berlin.de/ de/ informationen/ geschlechtergerech te-sprache/ leitfaden-geschlechtergerechte-sprache-humboldt.pdf, S.-18; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="10"?> 9 Diese Publikation hilft durch das Aufzeigen und Analysieren aktueller Streitthemen zum Wortschatz, einen Dialog aufzubauen. Es geht nicht darum, Positionen abzuurteilen, sondern vielmehr darum, das Wesentliche in unterschiedlichen Sichtweisen herauszuarbeiten und einzuordnen. Die Prämisse ist, dass gegenseitiges Verstehen das Finden von Wegen aus dem Streit erleichtert. Während Streit dadurch gekennzeichnet ist, dass jeder der Beteiligten seinen Willen bzw. seine Meinungen durchsetzen will, sind Dialoge zwar auch durch Rede und Gegenrede charakterisiert. Dialoge sollen jedoch ermöglichen, Annahmen, Überzeugungen und Gefühlen auf den Grund zu gehen. Dabei geht es weder darum zu harmonisieren noch andere zu dominieren, sondern um den Gewinn von neuen Einsichten und Erkenntnissen. Auch von der ideologisch rechten Seite gibt es Aktionen, die Meinungsfreiheit einschränken wollen, beispielsweise wenn undifferenziert Demonstrationen gegen „die Lügenpresse“, „die gleichgeschalteten Medien“ und „den Journalismus“ veranstaltet werden 3 . Oder bei Amazon T-Shirts mit dem Aufdruck „Lügenpresse halt die Fresse“ verkauft werden 4 und es im Anpreisungstext heißt: Lügen gibt es von der Lügenpresse im TV, Radio und in Print Zeitungen. Du bist gegen diese Art von Schlagzeilen und Nachrichten? Dann zeig es mit dem „Lügenpresse halt die Fresse“ Motiv auf der nächsten Demonstration gegen den Journalismus. Gegenstände dieses Buches sind einerseits aktuelle populäre, laienlinguistische sprachkritische Äußerungen in der Publizistik und andererseits linguistisch-fachwissenschaftlich fundierte Reflexionen zu den gleichen Gegenständen. Die Streitthemen werden in den ersten Kapiteln linguistisch eingeordnet und nachfolgend die 3 https: / / www.regensburg-digital.de/ gegen-die-trennung-des-volkes-und-dieluegenpresse/ 26052020/ ; Zugriff am 30.05.2022. 4 https: / / www.amazon.de/ L%C3%BCgenpresse-halt-die-Fresse-Nachrichten/ dp/ B07Z8RFMSW; Zugriff am 08.07.2021. <?page no="11"?> 10 verschiedenen Formen des aktuellen natürlichen und gelenkten Sprachwandels charakterisiert und an ausgewählten, besonders diskutierten Beispielen vertieft. Zusammenfassend gesagt, zeigt diese Publikation, die aktuellen Streitpunkte um Wörter auf, differenziert sie und ordnet sie ein. Dabei ist es ein zentrales Anliegen für einen Dialog und Meinungsfreiheit zu plädieren, weshalb keine Schiedsrichterposition eingenommen wird. Die Publikation ist wissenschaftlich fundiert, richtet sich jedoch an alle, die an der Thematik interessiert sind und sieht deshalb von extensivem Fachbegriffgebrauch und vielen Literaturhinweisen ab. Die behandelten Streitbeispiele und Diskussionen werden in den Fußnoten nachgewiesen, damit sie nachvollziehbar bleiben. Sie können auch ignoriert werden. Kursiv gesetzte Wörter sind Sprachbeispiele, wenn sie in Anführungszeichen stehen, stehen sie als Begriffsbezeichnung. Längere Zitate sind eingerückt und semantische Beschreibungen, wie in der Sprachwissenschaft üblich, in einfache Anführungszeichen gesetzt. Zusammenfassende Aussagen erscheinen in einem Kasten und wichtige Inhalte sind fett gedruckt. Für Hinweise, Vorschläge und Kritiken zum Text möchte ich mich bei Josef Bayer, Peter Gallmann, Inge Pohl und Tillmann Bub vielmals bedanken. Jena, im Juni 2022 Christine Römer <?page no="12"?> 11 1 Streit, Kritik und Sprachbewusstsein In jüngerer Zeit streitet man in unserer zunehmend politisierten Gesellschaft erbittert um die „richtigen“ Wörter und Wendungen. Beispielsweise darüber, ob das Wort Rasse aus der Verfassung gestrichen werden solle, ob man die Mohrenstraßen umbenennen müsse, ob Aktivist durch den ausufernden Gebrauch ein ideologisches Leerwort geworden sei oder ob die Lehrer Lehrerinnen einschließt oder nicht. Dieser Streit um die richtigen Benennungen und um ihren Inhalt ist nicht neu. So stritt man schon in der Vergangenheit u.-a. darüber, ob die Menschen, die nach 1945 aus den ehemaligen östlichen deutschen Gebieten gekommenen waren, Heimatvertriebene oder besser Flüchtlinge bzw. Evakuierte genannt werden sollten. Der Streit um die Wörter wird oft mit der Vorstellung eines Verfalls der deutschen Sprache verknüpft. „Diese Vorstellung lässt sich mindestens bis in das 16.- Jahrhundert zurückverfolgen, als Schulmeister sich beschwert haben, dass ihre Schüler wegen der um sich greifenden Variation nicht mehr wüssten, was korrektes Deutsch sei.“ (Durell 2014: 11) Diese Klagen blenden aus, dass es eine Wesenseigenschaft von natürlichen Sprachen ist, sich zu ändern und nicht homogen zu sein. Die sprachliche Vielfalt hat auch im deutschsprachigen Raum zugenommen: Die Standardsprachen, regionale Umgangssprachen, Soziolekte, Fachsprachen, mündliche und schriftliche Alltagssprachformen festigen den Zusammenhalt in sozialen Gruppen und grenzen diese auch nach außen ab. Dies geht einher mit einer verstärkten Differenzierung der Gesellschaft in soziale Milieus, die durch gemeinsame Werthaltungen und ähnliche Prinzipien der Lebensführung gekennzeichnet sind. Der aktuelle Streit um Wörter geht aber über die Sprache hinaus. Er ist verbunden mit der Diskussion darüber, ob es eine sog. Cancel Culture (Absage- oder Löschkultur) und ob es einen Versuch gebe <?page no="13"?> 12 „eine Einheitsmeinung“ durchzusetzen, wie z.- B. der Historiker Wolffssohn meint: „Nach dem Ende der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands sehnen sich offenbar viele Deutsche in Ost und West zumindest nach einer Einheitsmeinung. Sie, nicht nur Linke und Linksliberale, sollten sich an Rosa Luxemburg erinnern: ‚Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden.‘“ 5 Der Wortschatz, die Gesamtheit der Wörter und festen Wendungen, ist ein dynamisches System, das in ständiger Veränderung ist. Viele neue Wörter und Wortbildungsbausteine kommen hinzu, etliche verschwinden auch. Die vorhandenen Wortschatzelemente verändern ihre äußere Form und Aussprache, ebenfalls verändern sich ihre Bedeutungen, Verknüpfungs- und Verwendungseigenschaften. Diese natürlichen Wandelprozesse erfolgen nicht von einem Tag auf den anderen. Wortverwendungen sind immer bestimmt durch die Kommunikationsgemeinschaften, die Kontexte und spezifischen Situationen. Die Bedeutungen von Wörtern und festen Wendungen verfestigen und wandeln sich in kulturtypische Wortschatznetze. Mit Wortgraphen wie in Abbildung 2, die man aus Korpora gewinnt, kann man diese Netze veranschaulichen. Historische und aktuelle Beispiele für den Blick aus Deutschland auf Angehörige fremder Länder und Kulturen zeigen, was mit den Wortschatznetzen gemeint ist. In der „Steierschen Völkertafel“ 6 , ein Ölgemälde eines unbekannten Malers aus dem 18.- Jahrhundert, kann man eine bebilderte historische Quelle für ethnische Stereotype in Augenschein nehmen. Italienern werden dort beispielsweise die Eigenschaften „Hinterhältig, Eifersüchtig, Scharfsinnig, Opportunistisch-…“ zu- 5 https: / / www.bild.de/ politik/ inland/ politik-inland/ wolffsohn-zu-allesdichtma chen-gegen-die-einheitsmeinung-76187180.bild.html; Zugriff am 30.05.2022. 6 https: / / austria-forum.org/ af/ Wissenssammlungen/ Damals_in_der_Steier mark/ Die_steirische_V%C3%B6lkertafel; Zugriff am 28.04.2021. <?page no="14"?> 13 geschrieben. Solche Stereotype können über längere Zeit fortwirken. Sie ändern sich aber auch. Abb. 1 : „Kurze B es chreibung der In Europa B efintlichen Völckern Und Ihren Aigens chafften“, genannt „Die Steiris che Völkertafel“, Gemälde eines unbekannten Malers, 18. - Jahrhundert, Völkerkundemus eum Wien Ein Blick in alte Enzyklopädien ist diesbezüglich sehr hilfreich. In „Meyers Konversations=Lexikon“ von 1876 (S.- 252) kann man unter dem Lemma „Indianer“ u.-a. Folgendes lesen: Indianer, allgemeine Bezeichnung der Ureinwohner Amerika’s (mit Ausnahme der Eskimo), rührt von den spanischen Entdeckern her, welche die Neue Welt anfangs für einen Theil Indiens ansahen und demgemäß die Eingeborenen benannten. Im Besonderen versteht man darunter jedoch die Jägervölker Nordamerika’s, die sogen. Rothäute. <?page no="15"?> 14 Während im „Duden Deutsches Universalwörterbuch“ von 2001 der Ausdruck „Rothaut“ nicht mehr auftaucht, werden dort andere körperliche Merkmale herausgestellt: Angehöriger der in zahlreiche Stämme verzweigten Ureinwohner Amerikas mit glänzend schwarzem Haar u. rötlich brauner bis gelblicher Hautfarbe“ (S.-825). 2021 wurde in der Wikipedia ausgeführt: Indianer ist die im Deutschen verbreitete Sammelbezeichnung für die indigenen Völker Amerikas, mit Ausnahme der Eskimovölker, der Aleuten, der arktischen Gebiete und der Bevölkerung der amerikanischen Pazifikinseln. Ihre Vorfahren haben Amerika in urgeschichtlicher Zeit von Asien aus besiedelt und dort eine Vielzahl von Kulturen und Sprachen entwickelt. Indianer ist dabei eine Fremdbezeichnung durch die Kolonialisten, eine entsprechende Selbstbetitelung der weit über zweitausend Gruppen besteht nicht. Allerdings gibt es übergreifende Begriffe in Kanada, in den USA sowie im ehemals spanischen und portugiesischen Teil Amerikas. 7 Im Unterschied zur Vergangenheit wird heute nicht mehr auf äußere Merkmale referiert, da es als diskriminierend angesehen wird, Menschen über körperliche Eigenschaften einzuordnen. Auch die Ausdrücke „Ureinwohner, Naturvolk“ werden nicht mehr verwendet, da mit ihnen teilweise negative Konnotationen einer primitiven und unentwickelten Lebensweise verbunden werden. Seit den 1980er Jahren ist international die Bezeichnung „Indigene“ bzw. „indigene Völker“ an ihre Stelle getreten. Mit den oben schon angesprochenen maschinell erstellten Wortgraphen (Diagrammen) kann man lexikalische Informationen aus Textkorpora ableiten und objektivieren. Auch sog. Wortwolken, die Wörter eines Textes bzw. Textkorpus je nach der Häufigkeit flächenhaft zusammenstellen, können objektiv Auskunft über den Zeitgeist in den analysierten Texten geben, da die ermittelten 7 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Indianer; Zugriff am 28.04.2021. <?page no="16"?> 15 Komponenten der Graphen bzw. Wolken die in einem Diskurs zusammenhängenden Lexeme hervorheben und so Auskunft über ihre Wichtigkeit geben. Der Wortgraph zu Indianer macht deutlich, dass in dem verwendeten deutschen Nachrichten-Korpus der Universität Leipzig Indianer eher im literarischen und Verkleidungskontext verwendet wird. Abb. 2: Wortgraph Indianer Die folgende Textwolke, die vom DWDS (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache) abgeleitet wurde, spiegelt die Bedeutungsveränderung des Lexems Indianer deutlich wider, indem „Ausrottung“ und „eingeboren“ hinzugekommen sind. <?page no="17"?> 16 Abb. 3: Wortwolke Indianer Die aus dem DWDS-Zeitungskorpus (Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute) abgeleitete Verwendungs-Verlaufskurve zeigt, dass die Verwendungshäufigkeit rückläufig ist: Abb. 4: Ver wendungsverlauf Indianer Die Analyse der aktuellen Verbindung von Indianer mit Verben offenbart auch, dass eine Bedeutungsveränderung stattgefunden <?page no="18"?> 17 hat: Indianer wird in dem untersuchten Korpus des DWDS am häufigsten mit ausrotten verbunden. Vorstellungen spezifischer Eigenschaften von Gruppen (Stereotype) ermöglichen es dem Gehirn, die Welt zu kategorisieren und Informationen schneller zu verarbeiten. Komplexe Informationen werden durch Stereotype reduziert und damit bestimmte Merkmale generalisiert. Sie können zum Hindernis für die Wahrnehmung werden, wenn sie nicht ständig hinterfragt und angepasst werden. Sie sollten jedenfalls nicht zu Vorurteilen werden. Beispielsweise haben psychologische Untersuchungen ergeben, dass bestimmte Namen stark vorurteilsbehaftet sind und von ihnen öfter auf den gesellschaftlichen Status und die Intelligenz einer Person geschlossen wird, wie in folgendem Zeitungsausschnitt betont wird, der entsprechende Studienergebnisse zusammenfasst: „Kevin“ und „Jakob“, „Jacqueline“ und „Charlotte“: Der Vorname eines Kindes kann schon in der Grundschule schwere Bürde oder Startvorteil sein. Viele Lehrer hegten Vorurteile zu bestimmten Namen, heißt es in einer Studie der Universität Oldenburg. Die GEW warnt vor Verallgemeinerungen. „Besonders der Name Kevin stellt sich hierbei als stereotyper Vorname für einen verhaltensauffälligen Schüler heraus“, fand die Wissenschaftlerin Julia Kube heraus und zitiert den Kommentar eines Lehrers: „Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose! “ 8 Mit den Namen Kevin und Jacqueline seien eher negative Eigenschaften wie Verhaltensauffälligkeit und Leistungsschwäche verbunden; mit Jakob und Charlotte dagegen Freundlichkeit und Leistungswille. Diese Vorurteile hätten auch Einfluss auf die Notengebung. Wandelprozesse rufen öfters die Sprachkritiker aus der Öffentlichkeit und Wissenschaft auf den Plan und führen zu Diskussionen in der Wissenschaftsgemeinschaft. Es ist dann auch schnell von Sprachverfall oder von einer „allgegenwärtigen Trivialisierung“ 8 https: / / www.welt.de/ News/ article104680997/ Kevin-Das-ist-kein-Name-son dern-eine-Diagnose.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="19"?> 18 (Kaehlbrandt 2016: 26) die Rede. Andere, wie der populäre Journalist Bastian Sick, empfinden Neuerungen in der Sprache als störend und behaupten, sie verunstalteten die deutsche Sprache. So meint er, dass „den meisten Deutschen das Gespür für wohlklingende und missklingende Wörter abgeht“ (Sick 2004: 190). Sich mit der alltagssprachlichen, populären Sprachkritik in der gesellschaftlichen und auch der wissenschaftlichen Öffentlichkeit auseinanderzusetzen, die Zurückweisung von Pauschalurteilen und das Bewusstmachen von Differenzierungen sind auch eine wichtige Aufgabe für das Sprachenlehren und die Publizistik. Dafür braucht es Bewertungskriterien auf denen die Bewertungen beruhen, um Orientierung für den Sprachgebrauch geben zu können. Deshalb muss man sich ins Bewusstsein rufen, dass Sprachen sich in den verschiedenen Sprachmodulen im Gegensatz zu künstlichen Sprachen verändern und sich so den sich ändernden Anforderungen anpassen. Dieses Wissen ermöglicht es, Wörter und feste Wendungen zu verstehen und richtig zu verwenden. Dieses Wissen ist auch der Reflexion zugänglich. Anhand von aktuellen Beispielen aus den verschiedenen Subsystemen werden die spezifischen Veränderungen im Sprachgebrauch in den folgenden Kapiteln veranschaulicht. Sprachbewusstsein, auch Sprachgefühl, meint „das intuitive, unreflektierte und unbewusste Erkennen dessen, was als sprachlich richtig und angemessen empfunden wird (insbesondere in Wortwahl und Satzbau)“ 9 . Es erschöpft sich nicht in der Kenntnis von Normen. Es umfasst auch die positive bzw. negative Bewertung von sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten und sprachlichen Entwicklungen. Es gilt zwischen Alltagssprachbewusstsein und wissenschaftlichem Sprachbewusstsein zu unterscheiden. Das Alltagssprachbewusstsein basiert auf den individuellen Sozialisie- 9 https: / / de-academic.com/ dic.nsf/ dewiki/ 1313636; Zugriff am 30.05.2022. Ausführlicher siehe auch Gipper (1976) und Janich (2005). <?page no="20"?> 19 rungsprozessen und ist von traditionsgebundenen Vorstellungen geprägt. Es sollte auch von den Sprachwissenschaftler: innen nicht unbeachtet bleiben. Es ist eine linguistische Aufgabe, die auf Alltagssprachbewusstsein beruhenden sprachkritischen Äußerungen zu registrieren, ihren Motivationen nachzugehen und sie mit linguistischen Erkenntnissen zu verknüpfen. Die begründende Zurückweisung von Pauschalurteilen und das Bewusstmachen von Differenzierungen gehört zu den Aufgaben der wissenschaftlichen Sprachkritik. Gleichzeitig sollte es ihr aber nicht darum gehen, Vorschriften zu machen, sondern Raum für einen rationalen Diskurs zu geben (Gauger 1995: 60). Zwischen öffentlicher Sprachkritik, die auch als Laienlinguistik bezeichnet wird, und Sprachwissenschaft besteht ein schwieriges Verhältnis, da sich nach Meinung vieler Linguist: innen bewertende, polemische Argumentation und das Objektivitätsgebot für Wissenschaften ausschlössen. Die Sprachwissenschaft wurde und wird von vielen als ausschließlich beschreibende und erklärende Wissenschaft verstanden. Die publizistische, wertende Sprachkritik wird im nichtakademischen, bildungsbürgerlichen Bereich verortet. Die laienlinguistische Sprachkritik hingegen ist zumeist subjektiv und häufig normativ auf Richtig-falsch-Urteile ausgerichtet. Sie artikuliert Angst vor dem Sprachverfall und hat Sprachpflege als Ziel. Grundsätzlich existieren unterschiedliche Zugänge zur nichtwissenschaftlichen Sprachanalyse in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. So meinen einige Wissenschaftler: innen, das sollte uns nicht interessieren (a), andere meinen, dass sie diese Öffentlichkeit zu belehren haben (b), andere wieder denken sich in sie hinein, um sie zu verstehen (c), und dann gibt es noch die Reflexionsvariante, die eigene mentale Konzepte, Gefühle und Haltungen wahrnimmt und in Bezug zur Umwelt kritisch hinterfragt (d). So wurde und wird das Bestreben nach einer geschlechterinklusiven Sprache auch mit dem Argument abgelehnt, dass das <?page no="21"?> 20 ein ideologisches Problem sei und deshalb kein Gegenstand der Sprachwissenschaft (siehe dazu Kap. 6.3). Dies ist dem Zugang (a) zuzuordnen. Wie u.-a. Dieter Zimmer (2005: 13) schrieb, sind Sprachwissenschaft und Sprachkritik nicht gut aufeinander zu sprechen. Mit Laienlinguistik wird nicht nur eine von Laien betriebene Sprach- und Kommunikationsuntersuchung sondern auch eine außerwissenschaftliche Linguistik für Laien bezeichnet. Sprachkritik von Wissenschaftler: innen wird meist hier eingeordnet. Wie die nachfolgenden Kapitel zeigen werden, ist der aktuelle Streit um Wörter kein Beleg für Sprachverfall, sondern auch ein Zeichen für die zunehmende Differenzierung der Sprache und der Gesellschaft in soziale Milieus. Anstelle des erbitterten Streits sollte ein Dialog treten, der auch die laienlinguistische Artikulation des Sprachbewusstseins ernst nimmt. <?page no="22"?> 21 2 Das dynamische Lexikon 2.1 Modelle der lexikalischen Sprachfähigkeit Die Sprachwissenschaft unterscheidet zwischen der allgemeinen Sprachfähigkeit (Kompetenz) und der individuellen Sprachverwendung (Performanz). Die Kompetenz meint das (unbewusste) Wissen, das die Sprachbenutzer: innen mental gespeichert haben. Auf der Basis der Kompetenz erfolgt die konkrete individuelle schriftliche bzw. mündliche Sprachverwendung. Für die komplexen Sprachverwendungsprozesse stehen den Menschen unterschiedliche kognitive Fähigkeiten zur Verfügung. Sowohl Sprachals auch Welt- und Handlungswissen sind für das Formulieren und Verstehen von Äußerungen nötig. Um die Sprachmodule beschreiben und abgrenzen zu können, arbeitet die Sprachwissenschaft mit theoretischen Modellen, die eine Ähnlichkeit zu dem System der Kompetenz annehmen und es damit veranschaulichen wollen. Die in der Sprachwissenschaft existierenden Modelle haben in der Regel eine bestimmte Erklärungsrichtung: Das Mehrebenenmodell erklärt die lexikalische Kompetenz besonders gut, das Vier-Ohren- Modell die Verwendung von Wörtern und das Zwiebelmodell den lexikalischen Wandel. Das Wort Lexikon hat zwei Hauptbedeutungen und meint zum einen eine gedruckte oder digitale Sammlung von üblichen Wörtern und Wendungen in einem Wörterbuch und zum anderen eine zentrale kognitive Komponente der menschlichen Sprachfähigkeit, das mentale Lexikon. Das mentale Lexikon ist ein Speicher für Wörter und feste Wendungen im Langzeitgedächtnis. Während Laien Wörter meist als ein homogenes Objekt wahrnehmen, unterscheidet die Linguistik zwischen den graphischen und lautlichen Wortformen (Formative) und dem Wortinhalt (Be- <?page no="23"?> 22 deutung), die im mentalen Lexikon im Gehirn an unterschiedlichen Stellen gespeichert sind. Mit Bezug auf die kognitiven Fähigkeiten des Menschen werden noch weitere Differenzierungen beim Wortinhalt vorgenommen. Man nimmt an, dass mit den Wortformen verschiedenartiges Wissen gespeichert ist, das die Sprechenden und Hörenden für die Kommunikation benötigen. Man kann dies mit dem semiotischen Mehrebenenmodell veranschaulichen. phonetisch-phonologische Ebene graphische Ebene morphologische Ebene semantische Ebene Pragmatische Ebene syntaktische Ebene Bedeutung Formativ Abb. 5: Mehrebenenmodell Es wird angenommen, dass die Zuordnung der Wortform (phonetisch-phonologische/ graphische = phonographische Ebene) zur Bedeutung (semantische Ebene) über die dazwischen liegende morphologische und syntaktische Ebene/ Schicht erfolgt. Wenn beispielsweise jemand äußert (Ist das eine) Yucca? müssen die Zuhörenden erstmal die Bedeutung / die Semantik von Yucca kennen, um die Frage beantworten zu können. Außerdem benötigen sie morphologisches, syntaktisches und pragmatisches Wissen, um die Äußerung als Frage auffassen zu können. Mit dem Wort Yucca verbinden sich folgende Wissenskomponenten: <?page no="24"?> 23 Phonetische Form (Aussprache) `juk.ka Graphische Form (Schreibung) Yucca Semantik (Bedeutung) Zierpflanze (Palme) Wortart Substantiv Morphosyntaktische Merkmale feminin (Genus), -s (Plural) Pragmatik Objektbezeichnung Die pragmatische Ebene nimmt Einfluss auf alle anderen Ebenen. So ist beispielsweise der im Jahr 2020 neuen Wortform Glüh-Sake 10 die Bedeutung ‚japanischer Glühwein‘ zugeordnet, die die Leser: innen aus dem Textkontext erschließen können: Hier gibt es nicht nur japanische Burger zum Mitnehmen, sondern auch eine japanisierte Form des Glühweins, den „Glüh-Sake“, auf der Basis von heißem Reiswein. Anhand von fehlerhaften Verwendungen der Wörter kann man auch die Existenz der Ebenen aufzeigen und gleichzeitig die Fehler lokalisieren. Wenn es in einem Onlineartikel heißt: „Je weniger poliert wird, desto mehr schmeckt das Sake herzhaft (Umami), nach Reis und/ oder erdigen Noten“ 11 , dann hat sich ein morphosyntaktischer Fehler eingeschlichen. Der richtige Artikel für das maskuline Substantiv Sake ist der. Der Sprachpsychologe Schulz von Thun veranschaulicht die Wissenskomponenten mit dem Vier-Ohren-Modell bzw. dem Nachrichtenquadrat in seinem nun schon in der 48. Auflage (April 2010) erschienenem Buch „Miteinander reden“ folgendermaßen: Jede Nachricht enthält danach nicht nur eine, sondern vier Bot- 10 http: / www./ sueddeutsche.de/ muenchen/ muenchen-gluehwein-mitnehmenliefern-lassen-1.5129795; Zugriff am 30.05.2022. 11 https: / / www.tryfoods.de/ blogs/ blog/ wie-wird-sake-hergestellt; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="25"?> 24 schaften gleichzeitig, die mit vier unterschiedlichen Ohren gehört werden. Entscheidend bei einem Kommunikationsereignis ist, mit welchem der vier Ohren bzw. auf welcher Ebene dieses primär gehört und dann interpretiert wird. Abb. 6: Vier-Ohren-Modell Folgende vier Ohren bzw. Quadratebenen werden unterschieden: 1. Sachinhalt (Worüber wird gesprochen? ) 2. Selbstkundgabe (Was denkt der Sprechende? ) 3. Beziehung (Wie steht der Sprechende zum Empfänger? ) 4. Appell (Was will der Sprechende vom Empfänger? ) In dem folgenden Beispiel übermittelt das Wort Chaos vom Verfasser des Artikels auch eine selbstoffenbarende Bewertung der Flughafensituation und appelliert an die Leser: innen sich dieser Einschätzung anzuschließen und möglicherweise ihre Verbesserung zu fordern. Derweil herrscht auf deutschen Flughäfen Chaos, teilweise spielen sich dramatische Szenen ab. 12 12 https: / / www.bild.de/ bild-plus/ news/ inland/ news-inland/ wegen-virus-mutati on-dramatische-szenen-an-deutschen-flughaefen-74571948,view=conversion ToLogin.bild.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="26"?> 25 Sprachhistoriker: innen veranschaulichen das Zusammenspiel der Wissensmodule oft mit dem Zwiebelmodell. Sie verdeutlichen damit, dass Sprachwandel auf unterschiedlichen Ebenen/ Schalen stattfinden kann. Abb. 7: Zwiebelmodell (Nübling et al. 2017: 2) Es wird eine äußere Schale (Pragmatik) angenommen, die auf außersprachliche Einflüsse wie zum Beispiel Sprachkontakte und gesellschaftliche Veränderungen reagiert. Der grammatische „Zwiebelkern“ (Phonologie, Morphologie, Syntax) dagegen reagiere nur geringfügig auf äußere Einflüsse. Lexik und Graphie werden zwischen der äußeren Schicht und dem Kern angesiedelt, weil diese Bereiche sowohl von außen her veränderbar sind als auch den Kern in gewisser Weise mit repräsentieren. So werden Wörter aus fremden Sprachen entlehnt, dann jedoch nach und nach in die deutsche Grammatik integriert. Beispielsweise wurde das im Jahr 2020 besonders aktuelle Wort Maske schon im 17.-Jahrhundert <?page no="27"?> 26 entlehnt und geht auf das frz. masque (‚Gesichtslarve, Kostüm‘) zurück, das wiederum auf ml. masca zurückgeht (Kluge 1989: 464). Im Lauf der Zeit wurde die Lautung und Schreibung den Regeln der deutschen Grammatik angepasst. Theoretische Modelle zu konstruieren, ist eine „sinnvolle methodologische Taktik“ (Giere 1999: 148), auch weil Modelle es Wissenschaftler: innen unterschiedlicher Disziplinen ermöglichen, sich miteinander auszutauschen. Erklärungen können mit Bezug auf sie begründet werden. Alle Modelle sind vereinfachende Abbildungen eines komplexen Phänomens. Sie heben wichtige Eigenschaften eines Moduls hervor und rücken dadurch andere in den Hintergrund. So lassen die Kreise des Zwiebelmodells die Hierarchie der Module gut sichtbar werden, die Beziehungen der Module werden jedoch ausgeblendet. Diese Beziehungen werden gut beim Ebenenmodell sichtbar, jedoch Kern- und Peripheriebereiche nicht akzentuiert. Auch das Vier-Ohren-Modell gewichtet die vier Ohren nicht. Speziell für den Sprachwandel wurde in den 1990er Jahren die Theorie „der unsichtbaren Hand“ (Invisible-Hand-Theory) von Keller stark rezipiert. Diese Theorie postuliert: Natürliche Sprachen sind neben Naturphänomenen und Artefakten „Phänomene der dritten Art“. Der Sprachwandel ist weder ein Naturphänomen noch eine bewusste Erzeugung. Mit der nachfolgenden Graphik verdeutlicht Keller, welche Faktoren beim Sprachwandel eine Rolle spielen. ökologische intentionale kausale Handlungen Konsequenz Invisible- Explahandnandum Prozeß Bedingungen Abb. 8: Modell der unsichtbaren Hand (Keller 2003: 1 26) <?page no="28"?> 27 Im ersten Kasten werden die Menschen symbolisiert, die ähnlich handeln und so die Voraussetzung für einen „Invisible-hand-Prozess“ bilden. Beispielsweise können Menschen entsprechend dem Zeitgeist unabhängig voneinander das Wort dick für übergewichtige Personen vermeiden, weil es negative Assoziationen weckt. Um dies zu umgehen, wählen die Personen unabhängig voneinder das beschönigende Wort vollschlank. Wenn vollschlank an die Stelle von dick tritt, ersetzt es dieses und verliert bei häufigem Gebrauch seine positive Konnotation. Die nach wie vor vorhandene negative Einstellung gegen Dicke wird nun auf diesen Ausdruck übertragen. Das Wort vollschlank verändert in diesem Prozess seine Bedeutung, ohne dass die Sprachbenutzer: innen dies intendiert haben. Die Übernutzung führt auch dazu, dass es durch andere beschönigende Ausdrücke in der Mode ersetzt wird, wie Plus-Size-Mode, Mode für Mollige, Mode für große Größen, feminine Silhouette. 2.2 Regeln, Normen und Varianten Was ein Wort, eine Bezeichnung ist, und wie man dieses verwendet, lernen Kinder zunächst im sozialen Kontext. Ein Kind kann in der Regel mit 24 Monaten etwa 50 Wörter aktiv verwenden. Danach beginnt die Phase der „Wortschatzexplosion“. Neben den Elementen sind für das Sprechen und Schreiben das Regel- und Normensystem notwendig. Die Regeln und Konventionen lernen die Kinder im kommunikativen Handeln. Regeln ermöglichen es, dass aus einem begrenzten Inventar von Einheiten eine riesige Menge von Einheiten erzeugt werden kann. Speziell für die Sprachkritik sind Regel und Normen wichtige Bestandteile der Sprache. Sätze können richtig oder falsch, zutreffend oder unzutreffend, angemessen oder nicht angemessen sein, sprachliche Handlungen können glücken und missglücken. Grammatische Regeln sind implizit (nicht formuliert) und wer- <?page no="29"?> 28 den unbewusst befolgt. Man kann sprechen, ohne sagen zu können und zu müssen, wie es funktioniert. Wissenschaftler: innen können diese impliziten sprachlichen Regeln natürlich explizieren, sie jedoch nicht kreieren. Wenn man dagegen Schach spielen möchte, muss man vorher die Regeln erlernen. Auch könnte man hier, wie es der damalige Weltmeister Capablanca vorschlug, das Brett auf 10 x 10 Felder vergrößern und um zwei neue Figuren erweitern. Dies wäre ein Eingriff in das Regularium des Schachspiels mittels einer konstitutiven Regeländerung. Mittels regulativer Regeln kann man dagegen bereits existierende Tätigkeiten regeln (Anstandsregeln, Kochrezepte etc.). Durch Benimmregeln wird beispielsweise festgelegt, wie man sich verhält, wenn eine in der Nähe befindliche Person niest. Es sollte heutzutage nicht mehr durch ein „Gesundheit“ mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht werden. Wenn jedoch „Gesundheit“ gesagt wird, ändert sich nichts an dem Niesvorgang‚ da der ein „natürlicher“, auch unabhängig von Konventionen existierender Vorgang ist. Pragmatische Regeln erlernt man im Verlauf des menschlichen Spracherwerbs durch Nachahmen und Mitmachen. Anhand der negativen Reaktionen anderer auf Regelverstöße lernt man. So wird dann klar, dass man, wenn man beispielsweise sagt „Ich helfe dir morgen beim Saubermachen.“, eine Versprechenshandlung vollzieht. In natürlichen Sprachen existieren zu Regeln Ausnahmen, die Regelbrüche sind, jedoch als richtig gelten. So existiert die deutsche Wortbildungsregel, dass mit dem nachgestellten Wortbildungselement -in eine Feminisierung erzeugt werden kann, indem man sie an die Bezeichnungen anhängt, die Personen und Tiere benennen: Lehrer + in > Lehrerin. Es existieren aber Ausnahmen, wo das am Stamm enthaltene -er für eine Aussprachevereinfachung wegfällt: Zauberer + in > Zauberin. Auch können Kurzwörter, die auf das Wortbildungselement -i enden, nicht mit -in feminisiert werden: <?page no="30"?> 29 Der Ossi > die *Ossiin, der Promi > die *Promiin, der Fundi > *die Fundiin, der Zivi >*die Ziviin (der * zeigt an, dass die Bildung ungrammatisch ist). Diese Ausnahmen sind für das komplexe Phänomen Sprache notwendig und auch der Sprachentwicklung geschuldet. Regeln können im Zeitverlauf zu Ausnahmen werden und Ausnahmen zu Regeln. Seit dem Frühneuhochdeutschen vollzieht sich im Deutschen ein Übergang von den starken zu den schwachen Verben. Starke Verben zeigen das Präteritum durch eine Veränderung des Wurzelvokals an (er singt > er sang), während schwache Verben keinen Vokalwechsel erfahren, das Präteritum durch Anfügen der Endung -te markieren (er arbeitet > er arbeitete). Nach wie vor existieren jedoch ca. 170 einfache Verben, bei denen der Übergang zur schwachen Flexionsform nicht vollzogen wurde (z.-B. schwimmen > schwamm und nicht *schwimmte). Auch kann man im Mündlichen schwache Formen zu standardmäßig starken Verben finden (scheinen > scheinte / schien). Da die Gebrauchshäufigkeit der starken Verben hoch ist und von ihnen viele komplexe Verben gebildet werden (anschwimmen, hinüberschwimmen, einschwimmen, herüberschwimmen-…), ist kein baldiges Aussterben der starken Verben anzunehmen, obwohl sie im Spracherwerbsprozess extra erlernt werden müssen. Zu Aussprachen, Schreibungen und grammatischen Formen existieren für eine bestimmte Bedeutung oder grammatische Funktion auch Varianten. Natürlicher Sprachwandel setzt sprachliche Variationen voraus, wobei nicht jede Variation zum Sprachwandel führt. Variation bezieht sich auf einen bestimmten Zeitpunkt, zu dem verschiedene Ausdrucksformen, Bedeutungen bzw. Funktionen gleichzeitig nebeneinander existieren. Sprachwandel bedeutet in dem Zusammenhang, dass einzelne Varianten sich soweit im Sprachgebrauch ausbreiten, dass andere Varianten dadurch außer Gebrauch kommen. <?page no="31"?> 30 Variation wird im Rahmen der Orthografie als Teil der Norm anerkannt. Die Dudenredaktion will damit den tatsächlichen Sprachgebrauch berücksichtigen. Die Benutzung von nicht „gesetzten“ Varianten kann negative Sanktionen nach sich ziehen, so in der Notenbewertung im Bildungswesen oder durch Stigmatisierungen im öffentlichen Diskurs. Als stilistische Auffälligkeit werden auch nicht übliche Varianten anerkannt. Die deutsche Sprache existiert in sog. nationalen Standardvarietäten. Damit sind unterschiedliche Varianten der deutschen ‚Hochsprache‘ in Deutschland, Österreich und der Schweiz gemeint. Diese sind wiederum für die gesprochene Sprache jeweils regional und dialektal durch Varianten modifiziert. Diese Varianten sind nicht erstarrt, sie wandeln sich besonders auffällig im Wortschatz. Natürlicher sprachlicher Wandel wird von einer Phase der Variation begleitet, in der die alte und die neue Form nebeneinander existieren. So nehmen beispielsweise Jugendliche Wörter in ihren Wortschatz auf und und verwandeln ihre Bedeutungen, wie bei geil (saugeil, voll geil). Bei saugeil ist es auch zu einer Betonungsvariation gekommen. Während andere Bildungen mit Sau (Saustall, Sauwetter) wie üblich auf der ersten Silbe betont werden, bekommt saugeil (wie auch bei den ebenfalls intensivierenden saukalt und saulustig) den Akzent auf der zweiten Silbe, also einen sog. Phrasenakzent anstelle eines Kompositionsakzents, wird jedoch wie Komposita zusammengeschrieben. Diese Varianten können im Verlauf der Zeit auch in andere Sprachgruppen übernommen werden, wie bei geil, wo die Bedeutung ‚sexuell erregt‘ zur Nebenbedeutung geworden ist. Speckbarbie wurde 2010 vom Langenscheid Verlag als eines der Jugendwörter des Jahres bekannt gemacht. Als Bedeutung wurde „ein aufgetakeltes Mädchen in zu enger Kleidung“ angeführt 13 . 13 Jugendwörter 2010: Speckbarbie ist Favorit der Leser (t-online.de); Zugriff 20.05.2021. <?page no="32"?> 31 Im Mai 2021 begegnete mir das Wort wieder, als man im Netz in Bezug auf die zurückgetretene Ministerin Giffey fragte „Kann man Speckbarbie zu ihr sagen? “ In „MundMische“ wurde es nun so definiert: „Ausdruck für dicke, aufgebrezelte Blondine, oftmals etwas betagter, verzichtet die Speckbarbie dennoch nicht auf enge, ihren Alters nicht entsprechende-Kleidung.“ 14 Elliptische Wendungen wie Und sonst so? , Na? , Was geht? , Alles klar? , die nach der Befindlichkeit des Gegenübers im Sinne von „Wie geht’s? “ fragen, sind über die Jugendsprache und elektronische Kommunikation in die Alltagssprache eingedrungen, obwohl sie von Sprachratgebern als „Doofe Fragen auf die man nicht antworten sollte“ 15 oder „wohl nervigste und meist nicht ernst gemeinte Frage“ 16 eingeordnet wurden. Diese Wendungen haben gerade den Vorteil, dass sie unbestimmt sind und es Angesprochenen erlauben, frei zu antworten und das Gespräch in eine gewünschte Richtung zu lenken. In sprachkritischen Diskussionen wird auch moniert, dass die Sprachwissenschaft ihren normativen Anspruch aufgegeben habe und so dem Sprachverfall Vorschub leiste. So Wolf Schneider in seinem Buch „Speak German! Warum Deutsch manchmal besser ist“, in dem er von der „großen Hure Duden“ schreibt und beklagt, dass sie wie die Linguistik nicht präskriptiv (vorschreibend) sondern deskriptiv (beschreibend) agiere. „Indem nun der Duden in Grammatik und Stilistik jede Normierung verweigert, setzt er eine Abwärtsspirale in Gang“ (2008: 41), so seine unzutreffende Behauptung. Bereits Paul hatte Ende des 19.-Jahrhunderts betont, dass 14 Speckbarbie - Bedeutung und Definition | MUNDMISCHE.DE; Zugriff 20.05.2021. 15 https: / / www.bravo.de/ 7-whatsapp-nachrichten-auf-die-es-keine-antwortengibt-361619.html; Zugriff am 30.05.2022. 16 https: / / www.mundmische.de/ bedeutung/ 34363-Geht_s_dir_gut_oder_ist_s_ wie_immer; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="33"?> 32 durch die Beobachtung der Sprechakte auf die Sprachorganismen bzw. auf deren Durchschnitt, den Usus, geschlossen werden soll. Modelle sind eine bewährte Möglichkeit, das komplexe Phänomen lexikalische Sprachfähigkeit zu veranschaulichen. Neben den Lexikonkomponenten sind implizite Regeln und Normen wichtige Bestandteile des lexikalischen Wissens. Ausnahmen und Varianten zu ihnen sind keine Fehler, sondern notwendig und der Sprachentwicklung geschuldet. <?page no="34"?> 33 3 Sprachwandel Natürliche Sprachen verändern sich im Gegensatz zu künstlichen Sprachen und passen sich so den sich ändernden Anforderungen an. Sprachwandel ist also eine Wesenseigenschaft von natürlichen Sprachen. Wie bereits angesprochen, verlaufen diese Veränderungen in den verschiedenen Sprachmodulen (Subsystemen) nach jeweils eigenen Prinzipien. Der lexikalische Wandel, der in dieser Publikation im Zentrum steht, kann hinsichtlich der betroffenen Zeichenkomponenten differenziert werden. Nach Morris (1975: Kap. II.2) sind Zeichen Mittel, um bestimmte Ziele zu erreichen. Zu ihnen gehören neben dem Zeichenträger die Bezeichnungsobjekte (Designate), die mentalen und konzeptuellen Repräsentanten von Objekten etc. und die Interpretanten. Ein Lexem wird nur dann zu einem Zeichen, wenn jemand (der Interpretant) von etwas (das Designat) Notiz nimmt und dadurch das Zeichen interpretierbar wird. In der überregionalen Tageszeitung „Die Welt“ wurde beispielsweise eine Glosse mit „Deutsche Sprache besteht aus lyrischen Sackgassen“ 17 überschrieben. Das Wort Sackgasse wird darin nicht in der ursprünglichen wörtlichen Bedeutung (wie bei einem Sack ‚eine nur von einer Seite zugängliche Straße‘) verwendet, sondern in der übertragenen Bedeutung ‚aussichtslose Situation‘. Diese hat sich im Verlaufe der Sprachentwicklung zu einer festen umgangssprachlichen Lesart entwickelt. Das Wort Sackgasse in dem obigen Beispiel ist ein Zeichenträger, der als Designat eine spezifische Situation beschreibt, die vom Autor der Glosse als ‚aussichtslose Situation‘ wahrgenommen wird. Gewandelt hat sich in dem Bei- 17 www.welt.de/ kultur/ article108426561/ Deutsche-Sprache-besteht-aus-lyri schen-Sackgassen.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="35"?> 34 spiel also die Bedeutung (semantischer Wandel), die sich um eine Lesart erweitert hat. Alter Sack ist eine feste Wendung, die derb und abwertend alte Männer bezeichnet. So beispielsweise auch in einem Roman: Er ist ein alter Sack, hat aber keine generative Spur gelegt. […] Er ist ein alter Sack mit Geld und Kontakten […] Aber ich habe den Verdacht, dass Siegfried Berlinger eine alte Drecksau ist (war), denkt der Kommissar. 18 Die Wendung wird heute aber auch spöttisch oder mit einer humorvollen Konnotation verwendet. In Anzeigen wie beispielsweise „Geschenkideen für alte Säcke“ 19 scheinen „Alter-Sack-Torten“ recht beliebt zu sein, da eine Google Suchanfrage danach viele Beispiele anzeigt. Abb. 9: „ Alter-Sack“-Torte 18 Lutz Herrschaft (2016): In 11 Tagen zur perfekten Story. BOD: Norderstedt, S.-62. 19 https: / / www.geschenke-online.de/ geschenke-fuer-alte-saecke? gclid=EAIaI QobChMIvvX0rc-l8QIVlIbVCh2YXAY3EAAYASAAEgIvXPD_BwE; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="36"?> 35 An dem Beispiel alter Sack wird auch deutlich, dass Lexeme ihre Bedeutung erst im Kontext realisieren und sowohl der sprachliche als auch situative Kontext bei kritischen Beurteilungen einbezogen werden muss. So berichtete die „Main Post“ am 25.05.2012 20 mit der Headline „,Alter Sack‘ kann teuer werden“ über eine Beleidigungsklage am Amtsgericht in Kitzingen: 2019 verurteilte das Bremer Amtsgericht den ehemaligen Nationalmannschaftsfußballspieler Wiese wegen Beleidigung eines gehbehinderten Rentners zu einer Geldstrafe von 25 Tagesätzen zu je 1.000 Euro. Wiese hatte seinen Lamborghini unberechtigt auf einem Behindertenparkplatz abgestellt 21 , was einem Rentner mit Gehbehinderung nicht gefiel. Es kam zum Streit zwischen ihm und Wiese, als der Rentner wegen des Sportwagens nicht in sein Fahrzeug einsteigen konnte. Der Kontext verdeutlichte, dass der Rentner in abwertender Weise als „alter Sack“ beschimpft wurde. In einem anderen ähnlichen Verfahren wurde in der Urteilsbegründung betont: „Der Äußerungsinhalt ist unter Berücksichtigung aller Begleitumstände zu ermitteln. Maßgebend ist, wie ein verständiger Dritter die Äußerung versteht.“ 22 Da der Wortschatz ein relativ offenes System ist, unterliegt er ständigen Veränderungen. Durch den enormen Bezeichnungsbedarf in den entwickelten Gesellschaften kommen ständig neue Wörter und Wendungen (Neologismen) hinzu, die oftmals aus anderen Sprachen entlehnt werden. Gleichzeitig veraltet ein kleiner Teil der Wörter, weil das, was sie bezeichnen, nicht mehr existiert (Groschen). Sie können von neuen Bezeichnungen verdrängt wer- 20 https: / / www.mainpost.de/ regional/ kitzingen/ alter-sack-kann-teuer-werdenart-6808903; Zugriff am 30.05.2022. 21 https: / / www.jura.cc/ rechtstipps/ alter-sack-bzw-mueder-sack-kostet-timwiese-25-000-e/ ; Zugriff am 30.05.2022. 22 https: / / www.ra-kotz.de/ alter-mann-eine-beleidigung.htm; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="37"?> 36 den, die besser motiviert sind (Ascheimer von Mülleimer) oder aus der Mode gelangen (Fahrschein/ Fahrkarte durch Ticket). Da Wörter und Wendungen, wie in 2.1 erläutert, aus mehreren Wissenskomponenten (-ebenen) bestehen, kann man den lexikalischen Wandel in Bezug auf die Wissenskomponenten, die Wörter bei sich tragen, erläutern. Dazu ein paar Muster: Variation und Wandel vollzieht sich zum Beispiel in der Aussprache bzw. auf der phonetischen Sprachebene (phonotaktischer Wandel). So kann man einen solchen Wandel bei der Akzentuierung von Fremdwörtern (Erstsilbenbetonung) feststellen. Eine Studie erbrachte (nach Grawunder/ Schwarze 2018: 72) dazu Folgendes: Bei insgesamt 770 überwiegend gebildeten Sprechern aus drei Versuchsgruppen ergab sich bei den unter Vierzigjährigen eine starke Tendenz zum Betonungswechsel in sieben Entlehnungen verschiedenen Ursprungs und Alters (Anis, Bonbon, Charisma, Kaffee, Make-up, Motor, Oblate) sowie einer Abkürzung (LKW). Wörter, die laut den Aussprachewörterbüchern mit Akzent auf der zweiten Silbe kodiert sind (Anis, Bonbon, LKW, Make-up, Motor), wurden von dieser jüngeren Versuchsgruppe und denen ohne Universitätsabschluss mit Betonung auf der ersten Silbe realisiert. Während die Wörterbücher für Charisma Erstsilbenbetonung festschreiben, realisierten die älteren Versuchsteilnehmer zum überwiegenden Teil für dieses Lexem die Betonungen auf der zweiten Silbe. Andere Lexeme, wie Kaffee, scheinen sich danach eher im gegenläufigen Trend zu befinden, d.-h. hier sind es die Jüngeren, die um die Hälfte Zweitsilbenbetonung realisierten, während die Ältesten stärker „KAFfee“ realisiert. Im Großen und Ganzen scheinen sich diese Trends sowohl für die deutschlandweite Erhebung als auch für die Untersuchung im stärker dialektal geprägten bayerisch-schwäbischen Raum zu decken. Nach der Studie ist der Wandel zur Erstsilbenbetonung in bestimmten Fremdwörtern auch bereits bei den sog. Modellsprechern in den Rundfunkmedien angekommen. Ein Problem stellt der Wandel bei den Rechtschreibnormen dar. Es handelt sich dabei nicht um einen natürlichen Wandel, sondern einen gelenkten, da die Normenänderungen in der Gegen- <?page no="38"?> 37 wart vom „Rat für deutsche Rechtschreibung“ auf den Weg gebracht und danach politisch verfügt werden. Bis zum Ende des 19.- Jahrhunderts gab es im deutschen Sprachraum keine einheitliche Rechtschreibung. Besonders der „Buchdruckerduden“ (1. Auflage 1903) führte dazu, dass es zu Vereinheitlichungen kam. Die Rechtschreibreform von 1996 hatte als Hauptziel, eine Vereinfachung der Schreibung herbeizuführen. Die Orientierung auf grammatische Kriterien bedingte, dass Bedeutungsunterschiede zur Schreibung weniger relevant wurden. Es wurde nun nicht mehr als nötig angesehen, in der Schreibung zwischen den Wortformen stehen lassen (Du kannst das Geschirr stehen lassen.) und bei übertragener Bedeutung stehenlassen (Er will sich einen Bart stehenlassen.) zu differenzieren. Die Regel, dass zwei aufeinanderfolgende Verben in der Regel getrennt zu schreiben sind, führt dazu, dass sie auch für den übertragenen Gebrauch empfohlen wird (Er will sich einen Bart stehen lassen.) Interessant ist, dass es auch außerhalb der amtlichen, offiziellen Schreibung in der Umgangssprache zeitweilig zum Nebeneinander von verschiedenen Formvarianten kommt (morphologischer Wandel), beispielsweise der Blog vs. das Blog, recycelen vs. recyclen. Sprachwandel zeigt sich auch an flexionsmorphologischen Veränderungen. So werden Fremdwörter in die deutsche Sprache integriert, indem sog. nicht native Eigenschaften abgebaut werden. Was damit gemeint ist, kann man am Beispiel Balkon gut sehen. Wenn die fremde Aussprache verwendet wird, kommt auch das fremde Pluralsuffix -s zum Einsatz: Balkon [balkɔɳ] oder [balˈkɔ̃ː] - Balkons [balˈkɔ̃ːs] oder [balkɔɳs]. Bei der ans Deutsche angepassten Aussprache, die häufiger benutzt wird, verwendet man eher die native, silbische Pluralendung: Balkon [balko: n] - Balkone [balko: nə]. <?page no="39"?> 38 Bei Sprachratgebern kann man Fragen, wie die folgenden lesen: Wir sind uns unsicher: Muss es heißen: mit großem, erwähnenswertem Elan oder: großem, erwähnenswerten Elan? 23 Diese Fragen weisen auf ein aktuelles syntaktisches Varianzphänomen hin, das von der Sprachwissenschaft teilweise als Übergang von der Parallelzur Wechselflexion bezeichnet wird. Es bezieht sich auf Konstruktionen mit zwei koordinierten maskulinen oder neutralen Adjektiven ohne vorangehendes Artikelwort im Dativ Singular. 24 Ein anderes Beispiel ist: nach langem schweren Leiden (Wechselkonstruktion) vs. nach langem schwerem Leiden (Parallelkonstruktion). Die Wechselkonstruktion kann man semantisch begründen, indem man davon ausgeht, dass schwer + Leiden eine semantische Einheit sind und von lang als Ganzes modifiziert werden [nach langem -> [schweren Leiden]]. Nach der traditionellen Auffassung wird dann kein Komma gesetzt. Parallelflexion legt eine koordinative Interpretation nahe [nach langem [und] schwerem Leiden] und verlangt dann ohne und ein Komma. Ein aktuelles Beispiel ohne Komma zeigt die Interpretations- und Zeichensetzungunsicherheit: Auf der Website des Sportartikelherstellers Adidas (DFB-Sponsor) werden unsere weißen Heimtrikots mit schmalem schwarzem Streifen jetzt zum halben Preis angeboten. 25 Als pragmatischen Wandel kann man die Veränderungen beim antisemitischen Sprachgebrauch ansehen. Eine briefliche Drohung an den Holocaustüberlebenden Ralph Giordano unterschrieb der 23 https: / / gfds.de/ parallelflexion-und-wechselflexion-bei-adjektiven/ ; Zugriff am 30.05.2022. 24 Bei Femininen und Plural stellt sich dieses Problem der Wechselflexion nicht; ein Stapel schöner alter Bücher, nicht *ein Stapel schöner alten Bücher. 25 https: / / www.bild.de/ sport/ fussball/ europameisterschaft/ em-2021-dfb-trikotswerden-nach-aus-gegen-england-verramscht-76980234.bild.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="40"?> 39 anonyme Absender mit „Der Rächer der Arier“ 26 . Das Wort Arier steht in der Diskursgeschichte in Verbindung zu Jude und macht die antisemitische Stoßrichtung der Drohung deutlich. Im Gegensatz zur Zeit des deutschen Faschismus werden die Wörter Jude und jüdisch heute bei der Mehrheit der Sprachteilnehmer: innen nicht mehr judenfeindlich verstanden und benutzt. Das Wort Arier hat eine lange Geschichte: Ursprünglich wurde es für Urvölker mit einem Typus verwandter Sprachen in der Sprachwissenschaft und Völkerkunde verwendet. Ende des 19./ Anfang des 20.-Jahrhunderts wurde es zur „Rassenbezeichnung“ von germanischen Volksgruppen, die anderen überlegen seien. Während der NS-Zeit sprach man dann von der „arischen Herrenrasse“, die über anderen stehe. Juden, Schwarze und Roma und Sinti wurden als „Nichtarier“ abgewertet. Heute wird meist davon ausgegangen, dass der Begriff „Rasse“ keine biologischen Grundlagen habe. 27 Die Kenntnis des Antisemitismus in der deutschen Vergangenheit führt dazu, dass die Absenderangabe als Drohung verstanden und verurteilt wird. Der Sprachwandel erfolgt in der Regel nicht zielgerichtet, sondern wird von einer „unsichtbaren Hand“ beeinflusst; er ist ein Phänomen der dritten Art. Das heißt, der Sprachwandel ist das unbeabsichtigte Ergebnis einer Vielzahl ähnlicher individueller, absichtsvoller Sprechhandlungen, die unter bestimmten sozialen Bedingungen und Handlungsmaximen vollzogen werden. Beispielsweise haben sich in den letzten Jahrzenten viele Berufsbezeichnungen geändert: Berufe haben neue Benennungen erhalten, obwohl sich das Tätigkeitsprofil kaum geändert hat. Dabei ist auffällig, dass ein Trend zur Aufwertung, zu prestigeträchtigeren Bezeichnungen bemerkbar ist: Statt Verkäufer Mitarbeiter für Ver- 26 Das Beispiel stammt aus Ralph Giordanos Erinnerungen (Giordano 2007, 283). 27 Weiteres unter https: / / encyclopedia.ushmm.org/ content/ de/ article/ aryan-1; Zugriff am 30.05.2022 (Holocaust-Enzyklopädie des United States Holocaust Memorial Museums). <?page no="41"?> 40 kauf, statt Putzfrau Raumpflegerin, statt Arzthelferin Medizinische Fachangestellte, statt Kundenbetreuer Account Manager etc. Es hat keine Anweisung gegeben, Berufe mit einem geringeren sozialen Prestige mit schmeichelnden Bezeichnungen zu benennen und so eine Prestigeverbesserung herbeizuführen. Trotzdem ist es zu dem Bezeichnungswandel gekommen. Besonders in Zeiten, in denen die Wirtschaft stark wächst, arbeiten die Stellenanzeigen mit aufwertenden Berufsbezeichnungen 28 . Möglicherweise haben die Personalabteilungen in der Hoffnung, mehr Bewerber: innen zu gewinnen, so einen Trend ausgelöst. Man kann in den Medien immer öfters hören, dass Haustierhalter: innen davon sprechen, „Hund isst nicht“ 29 oder im Hundeforum „unser kleiner Murphy isst sehr selten aus der Schale“ 30 . Das hat m.-E. nichts damit zu tun, dass Tiere heute mehr geschätzt werden als früher und teilweise vermenschlicht werden, sondern kommt durch den Einfluss des Englischen zustande, wo es keine Unterscheidung zwischen essen (Menschen) und fressen (Tiere) gibt. Dieser Sprachwandel unterstützt seinerseits ungeplant die Vermenschlichung von Haustieren, hat aber auch gesellschaftliche Ursachen: Für manche Menschen sind ihre Haustiere die wichtigsten Sozialpartner. Das kann schlimme Folgen haben, sagt ein Experte. Auch für die Tiere. 31 Im übertragenen Sinn verwendet man nach wie vor fressen bei Menschen (‚unanständig essen‘). 28 https: / / bop.unibe.ch/ linguistik-online/ article/ view/ 767/ 1313; Zugriff am 30.05.2022. 29 https: / / mokizwergpudel.de/ hund-isst-nicht/ ; Zugriff am 30.05.2022. 30 https: / / forum.hund.info/ beitrag/ 924-hund-isst-nicht-aus-der-schale/ ; Zugriff am 08.04.2021. 31 https: / / www.hna.de/ welt/ darum-ist-es-schlimm-wenn-tierhalter-ihre-hundeund-katzen-vermenschlichen-ngz-11843151.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="42"?> 41 Traditionell unterscheidet man interne und externe Faktoren für den Sprachwandel. Interne Faktoren (strukturelle) sind innersprachliche Ausgangspunkte für Wandelphänomene. Dazu rechnet man die Sprachökonomie (Prinzip des geringsten Aufwandes), den Abbau von sprachlichen Merkmalen (wie beim substantivischen Genitiv -es vs -s; des Blut(e)s), kumulative Prozesse (so durch Wortkomposition) und Regelveränderungen der Sprache. Externe Faktoren, die einen Wandel veranlassen können, sind Sprachkontakte (Entlehnungen), historische Ereignisse (Migration) und sprachpolitische Maßnahmen (Orthografiereformen). Kritiker dieser Unterscheidung in extern und intern verweisen auf einen Zwischenbereich von kognitiven und soziologischen Faktoren. Beispielsweise spielen Veränderungen des Zeitgeistes und der Mentalität eine Rolle. Wenn Menschen ihren Nachkommen Personennamen geben, scheint es so, als hätten sie ein hohes Maß an Freiheit bei der Wahl. Jedoch beeinflusst der aktuelle gesellschaftliche Geschmack (die Mode) diese Auswahl, ohne dass sich die Namengeber: innen dessen bewusst sind. Der lexikalische Wandel wird von unterschiedlichen Faktoren ausgelöst. Er vollzieht sich in den verschiedenen Zeichenkomponenten, die sich gegenseitig beeinflussen können. Wenn man sich mit dem Sprachwandel in der Gegenwart beschäftigt, genügt es nicht, den aktuellen Zustand angemessen zu beschreiben. Mit dem zusätzlichen wichtigen Blick auf die Historie, die Vergangenheit, gehört eine prognostische Komponente dazu, die Aussagen über den zukünftigen Sprachwandel einbezieht. <?page no="44"?> 43 4 Bedeutungswandel 4.1 Charakterisierung Im Verlaufe der Zeit verändern sich die Bedeutungen von sprachlichen Zeichen. So können zu schon vorhandenen Bedeutungen neue, feste Lesarten hinzukommen (innovativer Bedeutungswandel), wie bei Maus (‚Nagetier‘ + ‚Zeigegerät‘). Es können aber auch lexikalisierte Bedeutungen ungebräuchlich werden (reduktiver Bedeutungswandel), wie bei billig (‚angemessen‘ ist weggefallen). Eine dritte Form, die man abtrennen kann, ist die grundlegende Bedeutungsveränderung, wie bei Homosexualität (wird nicht mehr als Krankheit angesehen). Im nachfolgenden Beispiel kommt das Lexem Säcke vor. Sack ist seit ca. 800 belegt. Über seine Herkunft gibt es unterschiedliche Meinungen. Eine besagt, dass es mit dem römisch-germanischen Handel mit der Bedeutung ‚länglicher Behälter zum Transportieren aus grobem Stoff ‘ aus dem Lateinischen (lat. sacus) entlehnt wurde (Pfeifer 1989: 1462). In der Folge erweiterte sich durch technische Entwicklungen die Bedeutung hinsichtlich der Behältermaterialien um ‚aus Stoff, Papier oder Kunststoff ‘ (Bedeutungsmodifizierung). Später entstand das metaphorische Wort Hodensack für ein männliches Geschlechtsorgan. Davon leitete sich anschließend die Bedeutung ‚Schimpfwort für einen Mann‘ ab (innovativer Bedeutungswandel). In der Lesart als Schimpfwort hat Sack auch eine Bedeutungsverschlechterung in Bezug auf die stilistische Ebene (umgangssprachlich, abwertend) erfahren. In den Vereinigten Staaten von Amerika wurde ein neuer Präsident-gewählt. Zwei alte Säcke stritten um die Macht. (titanic-magazin.de; 03.01.2021) <?page no="45"?> 44 In neuerer Zeit wird die Wendung alter Sack auch liebevoll, spöttisch verwendet, wie in Kapitel 3 besprochen. Parallel zu alter Sack existiert die Wendung alte Schachtel als abwertende Bezeichnung für ältere, vorzugsweise unverheiratete oder verwitwete Frauen. In dem Forum „gutefrage.net“ wurde folgende Frage gestellt: Eine Polizistin war bei einer Kontrolle in einer Disco dabei. Jemand sagte zu ihr „Was will diese alte Schachtel hier“? Sie war tatsächlich um 45 Jahre alt. Ist das eine Beleidigung oder hat er nur die Meinung gesagt? 32 Die Antworten verweisen auch darauf, dass ein Unterschied zwischen der direkten beleidigenden Ansprache und einer generalisierenden Aussage wie „Polizistinnen sind (alle) alte Schachteln“ existiert. Letzteres wird als von der Meinungsfreiheit gedeckt angesehen. Die generalisierte Aussage „Soldaten sind Mörder“ hat in der Vergangenheit mehrfach Gerichte beschäftigt. Neben dem Kontext einer Aussage muss also auch die Unterscheidung von spezifischen oder nichtspezifischen, generellen Bezugnahmen bzw. Aussagen bei der Interpretation beachtet werden. In der Headline „Gewehre müssen schießen und Nachtsichtgeräte funktionieren“ 33 kommen die Wörter Gewehre und Bundeswehr vor. Wenn man ihre Etymologie (Herkunft) anschaut, wird klar, dass sie auf das althochdeutsche Wort giwer zurückgehen. Seine althochdeutsche Bedeutung war ‚Kampf, Aufstand‘. Später spezialisierte sich diese und meinte nicht mehr die Kampfsituation sondern das Kampfinstrument (Kopf 2014: 25). Es kam also zur Bedeutungsveränderung, die ursprüngliche Bedeutung wurde obsolet. 32 https: / / www.gutefrage.net/ frage/ ist-es-ene-beleidigung-zu-einer-frau-zu-sa gen-sie-ist-eine-alte-schachtel; Zugriff am 30.05.2022. 33 https: / / deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/ 507905/ ; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="46"?> 45 4.2 Sprachlich diskriminieren Aggressiv zu sein ist ein biologisch in Menschen und Tieren verankertes Verhaltensmuster zur Verteidigung und Gewinnung von Ressourcen und zur Bewältigung potenziell gefährlicher Situationen. Wie und ob es zu aggressivem, feindselig angreifendem Verhalten kommt, hängt von den sozialen Normen ab. Religionsstifter und Gesetzgeber haben durch Gebote und Strafandrohungen versucht, Aggressionen einzudämmen. Verbale Aggressionen, die uns hier interessieren, werden weitgehend durch Beobachtungslernen erworben. Schon Kinder lernen, dass sie auch bei körperlicher Unterlegenheit andere mit böswilligen Verleumdungen, Kritik oder indem sie sich über sie lustig machen verletzen können, und dies meist nicht so sanktioniert wird wie ein Faustschlag. Der Psychologe Franz Kiener hat in seinem Buch mit dem treffenden Titel „Das Wort als Waffe“ (1983) verschiedene Arten der direkten sprachlichen Aggression in der Umgangssprache unterschieden: • Angriffe aufgrund von Normverletzungen (tadeln, verurteilen) • Heimtückische verbale Angriffe (verdächtigen, verleumden, denunzieren) • Anprangernde Angriffe (bloßstellen, anklagen, hetzen) • Störendes Verbalverhalten (krakeelen, taktlos reden) • Drohen - herausfordern • Streiten • Lächerlich machen (auslachen, nachäffen-…) Gegenwärtig ist vor allem von sprachlicher Diskriminierung die Rede: „eine soziale Diskriminierung, die sprachlich realisiert wurde“ (Wagner 2001: 13). <?page no="47"?> 46 Nach Scherr (2015 : 8) werden diejenigen diskriminiert, die sich vom ‚normalen‘ Gesellschaftsmitglied unterscheiden. „Dieser angenommene Normalfall ist der erwachsene, männliche, physisch und psychisch gesunde Staatsbürger, der zudem kulturell (Sprache, Religion, Herkunft) und im Hinblick auf äußerliche Merkmale (Hautfarbe) der Bevölkerungsmehrheit bzw. der dominanten gesellschaftlichen Gruppe angehört.“ Damit wird die Diskriminierungskritik mit dem soziologischen Konzept der Diversität (gesellschaftliche Vielfalt) verknüpft. Es beinhaltet die Unterscheidung und Anerkennung von individuellen und kollektiven Identitäten auf der Basis von identitätsstiftenden Gruppenmerkmalen, vor allem im Kontext von Nationalität, Religion, Geschlecht und Herkunft. Die Verschiedenartigkeit von Menschen wird positiv bewertet und als eine Bereicherung der Gesellschaft angesehen. Unterschiedlichkeiten sollen als Selbstverständlichkeit betrachtet und ohne Wertungen wahrgenommen werden. Die gesellschaftlichen Strukturen und Angebote sollen der Vielfalt Rechnung tragen. Das Arbeitsgericht Berlin hat beispielsweise am 18.05.2021 die Bezeichnung einer Kollegin als „Ming Vase“ als rassistische Äußerung eingeschätzt und eine außerordentliche Kündigung der Beleidigerin als gerechtfertigt angesehen. Auch deren Erklärung, die Bezeichnung Ming Vase wurde gewählt, um Schlitzauge zu umgehen, war nicht hilfreich. 34 Mit dem öffentlichen Anprangern von diskriminierenden Bezeichnungen ist eine sprachliche Veränderung verbunden, die von den Sprachteilnehmer: innen nicht sofort wahrgenommen wird, da die Veränderungen nicht am Wort selbst, sondern nur am Kontext 34 https: / / www.lto.de/ recht/ nachrichten/ n/ arbg-berlin-55bv205321-ming-vaserassistische-auerung-ausserordentliche-kuendigung-zustimmung-betriebs rat/ ? utm_medium=email&utm_source=WKDE_LEG_NSL_LTO_Daily_ EM&utm_campaign=wkde_leg_mp_lto_daily_ab13.05.2019&utm_source_sys tem=Eloqua&utm_econtactid=CWOLT000017868623; Zugriff am 18.05.2021. <?page no="48"?> 47 ablesbar sind, in dem es verwendet wird. Anhand von offiziellen Akten wie Umbenennungen und sprachpolitischen Maßnahmen werden sie jedoch der Sprachgemeinschaft bewusst gemacht und sind somit ein Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen. Ausdrücke wie Zigeuner oder Neger, die früher als unauffällig galten, obwohl die ihnen zugeordneten Merkmale objektiv abwertenden Charakter trugen, werden heute als sprachlich diskriminierend angesehen. Im „Gesammt-Wörterbuch der deutschen Sprache“ von Klatschmidt wird 1834 (638) eine Erklärung durch Synonyme („der Neger, der Schwarze, der Mohr“) abgedruckt. Im „Brockhaus Conversationslexikon“ von 1839 und späteren Wörterbüchern und Lexika werden äußerliche Eigenschaften wie „schwarze Färbung der samtartig weichen, fettig anzufühlenden Haut, schwarzes, wolliges Haar, platter Schädel, vorstehende Backenknochen und aufgeworfene Lippen“ (Brockhaus 1839: 256 f.) angeführt. Der Philosoph der Aufklärung Immanuel Kant beschrieb „den Neger“ 1785 als jemanden der seinem Klima wohl angemessen, nämlich stark, fleischig, gelenk, aber unter der reichlichen Versorgung seines Mutterlandes faul, weichlich und tändelnd ist. (Kant 2015: Pos. 289) Im dtv-Lexikon von 1975 (76) wird das Wort Neger noch als „gewöhnlicher Sprachgebrauch“ charakterisiert. Ab Mitte der 80er Jahre des 20.- Jahrhunderts hat sich die emotive Markierung „abwertend“ als Element der Bedeutung konventionalisiert. Im aktuellen Rechtschreibung-DUDEN ist schließlich der Hinweis eingefügt „Die Bezeichnungen Neger, Negerin sind stark diskriminierend und sollten vermieden werden.“ 35 Ein kleiner Exkurs zum Antidiskriminierungsrecht kann vielleicht in der Diskussion helfen: Im Grundgesetz Artikel 3 wird festgestellt, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind. Das 35 www.duden.de/ rechtschreibung/ Neger; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="49"?> 48 umgangssprachlich als Antidiskriminierungsgesetz bezeichnete Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) hat 2006 das Beschäftigtenschutzgesetz abgelöst. Es stellt Diskriminierung unter Strafe. Damit soll verhindert werden, dass Menschen aufgrund des Geschlechts, der ethnischen oder kulturellen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Alters, der sexuellen Identität oder einer Behinderung benachteiligt werden. Obwohl Diskriminierung strafbar ist, gibt es dennoch etliche Beispiele von Ungleichbehandlung - und die sind zum Teil gesellschaftlich gewollt beziehungsweise akzeptabel. Dann nämlich, wenn es um besondere Schutzwürdigkeit geht, wie im Falle von Kindern, Schwangeren und Menschen mit Behinderung. Dieser Fall liegt beispielsweise bei der Frauenquote vor, die auch als Diskriminierung von Männern ausgelegt wird. Hier geht es um eine vorübergehende Ungleichbehandlung zum Zwecke des Ausgleichs. Die Sozialpsychologie vertritt die These, dass diskriminierendes Handeln bereits durch Diskriminierung in der Sprache vorbereitet wird. Geringschätzige und beleidigende Begriffe wie Neger/ Nigger für Menschen mit dunklerer Hautfarbe, Schlampe als Bezeichnung für Frauen, Kartoffel für Deutsche, Krüppel für Behinderte sind eine Form der sprachlichen Diskriminierung. Die sprachliche Ausgrenzung findet neben eindeutigen Schmähbegriffen auch in Bemerkungen statt wie: „Dafür, dass er Türke ist, arbeitet er ganz ordentlich.“ Die Grundannahme, dass eine bestimmte Bevölkerungsgruppe in negativer Weise von der Norm abweiche, spiegelt sich in beiden Fällen in der Sprache wider. Die zum Zeitgeist gehörende Political Correctness, die in den 1960ern Jahren an nordamerikanischen Universitäten entstand, fordert eine „Einstellung, die alle Ausdrucksweisen und Handlungen ablehnt, durch die jemand aufgrund seiner ethnischen Herkunft, seines Geschlechts, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht, seiner körperlichen oder geistigen Be- <?page no="50"?> 49 hinderung oder sexuellen Neigung diskriminiert wird.“ 36 Dabei steht der Gedanke im Zentrum, dass die Art und Weise, wie über Menschen, Dinge und Sachverhalte gesprochen werde und wie sie bezeichnet werden, Aussagen über ihren Wert und Platz in den Gesellschaften treffe. Auf die dahinterstehende sprachphilosophische Annahme, dass unsere Sprache unser Denken direkt beeinflusse (sprachliches Relativitätsprinzip), wird gegen Ende von Kapitel 5.3 näher eingegangen. Die Politische Korrektheit wird in den Kommunikationswissenschaften und der Psychologie mit dem politischen Framing-Prozess verbunden, mit der kognitiven Lenkung über Deutungsrahmen. Bestimmte Wortverwendungen können, so die Annahme, im Geist unbewusst bestimmte Assoziationen aktivieren. Beim Verwenden des Wortes Flüchtlingswelle werde eine negative Emotion durch die Verbindung mit der Naturgewalt („Welle“) erzeugt. Der Rahmen einer nicht kontrollierbaren Naturgewalt führe zu einer unbewussten Wahrnehmung von Flüchtlingen als etwas Bedrohlichem. In jüngerer Zeit hat der Anglist Stefanowitsch im Dudenverlag eine Streitschrift zur Problematik veröffentlicht und einen Zusammenhang zwischen Sprache und Moral hergestellt. Kritische Einwände zur politisch korrekten Sprache werden zum einen dahingehend gemacht, dass dies teilweise ahistorisch sei, wenn der Sprachentstehungs- und -entwicklungsprozess und der aktuelle Kontext nicht einbezogen werden. Zum anderen wird vorgebracht, dass durch die Substitution diskriminierender Bezeichnungen keine Änderungen an sozialen Missständen erreicht werde. Wenn man beispielsweise die Bezeichnung Altersheim durch Seniorenresidenz ersetzt, ändert sich am möglicherweise schlechten Zustand der Einrichtung nichts. 36 https: / / www.duden.de/ rechtschreibung/ Political_Correctness; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="51"?> 50 Eine seit geraumer Zeit diskutierte Frage ist, ob diskriminierende Wörter und Handlungselemente aus überlieferten Märchen, Filmen und Geschichten entfernt werden sollen. Verschiedene Umfragen erbrachten, dass das von der Mehrheit der Befragten abgelehnt wird. 37 Der Sprachhistoriker Nissen meint bezüglich des unterstellten Rassismus in überlieferten Werken: „Für Sprachhistoriker wie mich ist die Diskussion deshalb befremdlich, weil viele Teilnehmende ausblenden, dass Begriffe im Laufe der Zeit einen Wandel erfahren können.“ 38 Es ist auch jenen zuzustimmen, die Behutsamkeit bei der Bearbeitung überlieferter Werke anmahnen. Als „die gesteigerte Form der Polical Corectness“ 39 wird die Woke-Bewegung angesehen, die Personen als woke bezeichnet, die sich gegen Rassismus, Sexismus, Diskriminierung und Ähnliches aktiv engagieren. Entstanden ist der Begriff „woke“, auch „wokeness“, Mitte des 20.-Jahrhunderts in der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Er bedeutete ursprünglich ‚gut informiert sein‘, heute hingegen ‚wachsam gegenüber rassistischer und gesellschaftlicher Diskriminierung und Ungerechtigkeit sein‘. Das Wort ist seit Juni 2017 im Oxford English Dictionary 40 zu finden. Kritisiert wird häufig, dass „das Woke-Sein oft nur darauf beruhen würde, andere zu kritisieren, nicht woke genug zu sein. So auch von Barack Obama, als er im Jahr 2019 in einem Interview mit der „New York Times“ sagte, dass der Aktivismus junger Menschen heutzutage darauf beruht, andere Menschen an den Pranger zu stellen. So entstehe eine Schwarz-Weiß-Sicht, bei der Raum für 37 https: / / www.kreiszeitung-wochenblatt.de/ buxtehude/ c-panorama/ ist-das-ma erchen-von-has-und-igel-rassistisch_a226914; Zugriff am 30.05.2022. 38 https: / / trott-war.de/ kinderbuchklassiker-umschreiben-pro-und-contra-in-sa chen-n-wort/ ; Zugriff am 30.03.2022. 39 https: / / www.nzz.ch/ feuilleton/ wokeness-gesteigerte-form-der-political-cor rectness-ld.1534531; Zugriff am 30.05.2022. 40 https: / / time.com/ 4830959/ oxford-english-dictionary-woke/ ; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="52"?> 51 Dialog und Aufklärung fehle. Das sei ein Problem, da alle Menschen mehr oder weniger Fehler haben. Ein zu starkes Polarisieren ist ein Muster, das vor allem in den sozialen Medien zu erkennen ist.“ (Kempter 2021) 4.3 Ob Sprechblasen und manipulative Bezeichnungen typisch für die Politik sind Einen anderen sprachkritischen Diskussionsschwerpunkt bildet die Sinnentlehrung, bilden die sogenannten Worthülsen oder Plastikwörter, die keine begriffliche Bedeutung hätten. In der NZZ wurde am 9. Februar 2021 41 die Benutzung des Adjektivs lecker unter der Überschrift „Schluss mit ‚lecker‘! beklagt. Lecker wird getadelt, weil es ein „Universalwort“ sei, „das angewendet wird, wenn etwas nicht ganz schlecht schmeckt“, man es also immer anwenden könne. Es sei auch eine „onomatopoetische Katastrophe“, das ungewollte Assoziationen auslöse; offenbar ist die Assoziation zu lecken gemeint. Besonders Politiker: innen werden beschuldigt, inhaltsleere Begriffe zu verwenden: Reden, ohne etwas zu sagen: Kaum eine Berufsgruppe hat das so perfektioniert wie unsere Politiker. Oder etwas so auszudrücken, dass es nicht verstanden wird - beziehungsweise nicht verstanden werden kann oder soll. […] Schiefe Metaphern, Sprechblasen und Worthülsen […] Verbreitung manipulativer Begriffe […] 42 41 https: / / www.nzz.ch/ feuilleton/ der-deutsche-wortschatz-und-die-lust-anscheusslichen-woertern-ld.1599458? reduced=true; Zugriff am 30.05.2022. 42 https: / / www.deutschlandfunkkultur.de/ rhetorik-von-politikern-worthuelsenund-sprechblasen.976.de.html? dram: article_id=388859; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="53"?> 52 Die Rede ist vom „Sprachgefängnis“ in dem Politiker: innen leben und von „Phrasenschweinen“. Da die ganze Thematik im Rahmen dieser Publikation nicht besprochen werden kann, soll nur kurz auf die Sprache der Politik in Wahlzeiten, auf strittige lexikalische Charakteristika der politischen Werbung (ausführlicher in Römer 2012: Kap. 4) eingegangen werden. Politische Werbung wird der Gesellschaft besonders im Rahmen von Wahlkämpfen über Wahlplakate und Werbespots in den Medien nahegebracht. Diskutiert wird aktuell die Frage, „Macht ein Wahlkampf mit Plakaten im digitalen Zeitalter noch Sinn? “ 43 , da sie „sehr old-fashoned“ seien und oft zerstört werden. Politikwissenschaftler, wie Mayer im „Fokus“ 42 , sehen das anders. Plakate haben die Kraft, auch die Wahlkämpfer: innen zu mobilisieren und zu motivieren und das Ziel, die potentiellen Wähler: innen zur Wahl für eine bestimmte Partei zu animieren. Dies schließt direkt und indirekt die Auseinandersetzung mit anderen Parteien ein, wobei öfters unadressierte Aussagen bevorzugt werden, weil offener Streit bei den Wähler: innen nicht gut ankommt. In dem folgenden Plakatbeispiel der FDP zur Bundestagswahl 2021 geschieht das mit „Nie gab es mehr zu tun“. Damit wird vage Bezug auf die Versäumnisse der aktuellen Regierung genommen und auch appelliert anzupacken. 43 https: / / www.focus.de/ politik/ deutschland/ bundestagswahl/ btw21-frag-may er-macht-ein-wahlkampf-mit-plakaten-im-digitalen-zeitalter-noch-sinn_ id_13537567.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="54"?> 53 CHRISTIAN LINDNER V. i. S. d. P.: Freie Demokratische Partei, Reinhardtstraße 14, 10117 Berlin NIE GAB ES MEHR ZU TUN. Abb. 10: Wahlplakat der FDP zur Bundestagswahl 202 1 Die Grünen gehen mit dem Motto „Bereit, weil ihr es seid.“ in den Bundestagswahlkampf. Dieser etwas sperrige, unbestimmte Slogan soll zum Ausdruck bringen, dass das „die Gesellschaft viel weiter sei als die große Koalition“ 44 . Das grünliche Design der Plakate lässt die Abgebildeten wie Wasserleichen aussehen und ist wenig gelungen. 44 https: / / www.tagesspiegel.de/ politik/ vorstellung-in-sichtweite-des-kanzler amts-bereit-weil-ihr-es-seid-ist-das-wahlkampfmotto-der-gruenen/ 27252812. html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="55"?> 54 Abb. 1 1 : Wahlplakat BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN zur Bundestagswahl 202 1 Wichtig ist den Parteien auch, die eigenen Werte hervorzuheben, dazu verwendet man gern kontroverse Begriffe, politische Leitvokabeln, die oftmals unspezifisch sind und einen weiten Bedeutungsumfang haben (beispielsweise Klimaschutz oder Leistung). Der CDU-Wahlslogan „Deutschland gemeinsam machen“ 45 , verknüpft die Hochwertwörter Deutschland und gemeinsam mit dem unspezifischsten, umgangssprachlichen Verb machen. Außerdem wird das vereinende Kreis-Motiv in den Landesfarben Schwarz- Rot-Gold (Ziemiak: „Unionskreis“) als zentrales graphisches Element eingesetzt. Der CDU-Slogan wurde besonders bei Twitter heftig als „einfallslos“ kritisiert 46 . „Der Slogan klingt, als wäre das 45 https: / / www.idowa.de/ inhalt.bundestagswahl-2021-cdu-wahlslogan-deutsch land-gemeinsam-machen.5fedd30d-442d-4355-8215-13e8a641b94d.html; Zugriff am 30.05.2022. 46 https: / / www.rnd.de/ politik/ twitter-cducsu-wahlprogramm-deutschland gemeinsammachen-wird-von-nutzern-zerrissen-RJWWJ7QGEFE5LO EWBX3W3DFDHI.html; Zugriff am 28.07.2021. <?page no="56"?> 55 Land noch in der Planungs- oder Aufbauphase“, findet ein Twitter-Nutzer und fragt: „Welche Agentur kam auf diesen Blödsinn? “ Abb. 1 2: Wahlplakat der CDU zur Bundestagswahl 202 1 Die SPD- und Die Linke-Plakate fordern von den Wählenden nichts ein, sondern verspechen diesen etwas („RESPEKT FÜR DICH“, „Soziale Gerechtigkeit wählen“). Bei den SPD-Plakaten ist auch auffällig, dass sie im Gegensatz zur letzten Bundestagswahl keine Polemik gegen die Mitbewerbenden enthalten und wie die Abbildung des Bewerbers Seriosität und Ernsthaftigkeit verströmen. <?page no="57"?> 56 Abb. 1 3: Wahlplakat der SPD zur Bundestagswahl 202 1 Schon in der Vergangenheit wurde kritisiert, dass die Wahlprogramme der Parteien unkonkret seien, mit redundanten Platitüden werben und keine Angriffsfläche bieten wollen. 47 Dies ist auch 2021 wieder so: So wird in der taz das Wahlprogramm der Grünen als „Operation Samtpfote“ beschrieben (5. Mai 2021) und auf tagesschau.de das Wahlprogramm der Union mit „Lieber keine Experimente“ (21. Juni 2021). „In einem sind sich Parteien einig: Das Leben in Deutschland soll nach der Bundestagswahl besser werden.“ 48 , damit meint man sicher, ein breites Spektrum an Wähler: innen gewinnen zu können. Dies führt aber auch dazu, dass keine Profilierung erfolgt und alle in einen Topf geworfen werden. 47 https: / / www.welt.de/ politik/ bundestagswahl/ plus233684682/ Bundestagswahl- Wahlplakate-sind-sinnlos-und-fuer-Parteien-unverzichtbar.html; Zugriff am 30.05.2022. 48 https: / / www.mdr.de/ nachrichten/ deutschland/ wahlen/ bundestagswahl/ wahl programm-parteien-vergleich-100.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="58"?> 57 4.4 Ob „Aktivist“ eine Worthülse ist Ein Beispiel für lexikalischen Bedeutungswandel, der von publizistischen Diskussionen begleitet wurde, bietet das Wort Aktivist: in. Daran zeigt sich auch gut die Dynamik des Prozesses, weshalb ich es einer sprachwissenschaftlichen Analyse unterzogen habe. Aktivist ist in der Bedeutung ‚aktiv Tätiger‘ als Ableitung von aktivieren Anfang des 20.- Jahrhunderts in deutschen Texten aufgetreten. In seiner zweiten Bedeutung ‚Angehöriger eines Aktivs‘ (Ableitung von russisch aktivist) wurde es seit 1948 in der DDR geläufig (Pfeifer 1989: 30). In den Bundesländern, die aus der DDR hervorgegangen sind, erinnert man sich noch an Schaukästen mit den Bildern von „Aktivisten der sozialistischen Arbeit“, weshalb man sich in den letzten Jahren möglicherweise auch verwundert die Augen gerieben hat, über das häufige Auftreten des Wortes Aktivist und erst recht über dessen Bedeutungswandel. Aber auch Leser: innen mit einer anderen Sozialisation ist das aufgefallen. In der Zeitung „Die Welt“ staunte man bereits im Februar 2014 über die Karriere des Wortes: Das Wort Aktivist hat eine erstaunliche Karriere gemacht. Es ist, als hätten die Nachrichtenhändler sehnsüchtig auf einen Begriff gewartet, den jeder zu verstehen glaubt und der dennoch unklar genug ist, um alle gleichermaßen zu umfassen. (Die Welt, 26.02.2014) In der Folge kam zum Wundern über das Wort der Vorwurf „des Nervens“ hinzu: „Aktivisten nerven“, „Mich nervt der Begriff, weil er ziemlich nichtssagend ist. Und immer wieder gedankenlos benutzt wird.“ (der Freitag, 10.06.2014) Zur Etymologie kann man in den einschlägigen Nachschlagewerken ermitteln, dass aktiv im 16.- Jahrhundert von lat. activus entlehnt wurde und Aktivist zu Anfang des 20.- Jahrhunderts im Sinne von ‚aktiv Tätiger‘ oder auch ‚Vertreter des Aktivismus‘ auftritt, einer philosophischen Richtung, die die Beantwortung der <?page no="59"?> 58 Lebensfragen durch selbstgesetzte Normen vertritt. Eine zweite Bedeutung kam in der DDR hinzu: ‚Werktätiger, der vorbildliche Leistungen erbracht hat‘, die von dem russischen Wort aktivíst (активист) ‚Angehöriger eines Aktivs‘ mitgeprägt wurde; das Wort wurde seit 1948 in der DDR auch als Titel gebraucht, der von offizieller Seite verliehen wurde. Auch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache 49 führt heute diese beiden Bedeutungen auf: ‚aktiver Mensch, zielbewusst und energisch Handelnder‘ und ‚DDR-Werktätiger, der vorbildliche Leistungen vollbracht hat (und dafür ausgezeichnet wurde)‘. Die zweite Lesart ist heute ein Historismus und wird in Äußerungen über die Vergangenheit verwendet. Strittig ist in den Medien, ob Aktivist: in ein wertender Begriff sei. Beispielsweise teilte eine Sprecherin des NDR nach einer Kritik der BILD-Zeitung („NDR bezeichnet Brandschatzer als ‚Aktivisten‘“) mit, dass der Begriff nicht wertend sei 50 . Aktuell verwendet man Aktivist, um besonders aktive Mitarbeiter: innen einer politischen oder sozialen Bewegung bzw. (politisch) sehr aktive Menschen zu bezeichnen. 49 https: / / www.dwds.de/ wb/ Aktivist; Zugriff am 30.05.2022. 50 www.bild.de/ politik/ inland/ politik-inland/ ndr-bezeichnet-brandschatzer-alsaktivisten-aerger-um-twee-67577388.bild.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="60"?> 59 Abb. 14: Friedens aktivist: innen Eine Suche nach dem Begriff über eine Internetsuchmaschine wie Google liefert eine große Fülle von Belegen und lässt folgende Verwendungsweise erkennen: • Ein Aktivist ist engagiert neue Aktivisten, Aktivisten in Haft, rechte Medienaktivisten • für-… Klimaaktivisten Körperaktivistin Umweltaktivisten Fridays for Future-Aktivisten linkspolitische Aktivisten, HDP-Aktivisten (Demokratische Partei der Völker, Türkei) <?page no="61"?> 60 • gegen-… Exiniction Rebellion-Aktivisten HDJ-Aktivisten Antikohleaktivisten • in-… Aktivistinnen in Mittelamerika Hambacher Forst Aktivisten, „Hambi“-Aktivisten Online-Aktivisten Wofür oder wogegen das Engagement stattfindet, kann allgemeiner Art jedoch auch speziell sein, wie bei Aktivisten in Haft vs. Umweltvs. „Hambi“-Aktivisten und wird durch den Kontext sichtbar. Aktivist ist also flexibel denotiert. Meistens ist die Wortverwendung mit einer Bewertung versehen, häufiger mit einer positiven (wie in 1.), jedoch auch oft mit einer negativen Bewertung (wie in 2.). 1. „Die Aktivisten stellen sich den Zerstörern unserer Lebensgrundlagen in den Weg. Sie frieren, schwitzen, harren aus, werden bedroht, festgenommen. Manchmal riskieren sie für ihre Überzeugung ihre Gesundheit. Und häufig drohen ihnen Verurteilungen und Strafen“. 51 2. „Militante Aktivisten sprengen Pipelines in die Luft“. 52 In der Gesellschaft existiert ein ideologischer Wortschatz für das Bezeichnen von politischen Gruppierungen bzw. der Gesellschaft zugrunde liegende Wertevorstellungen und Denkmuster wie beispielsweise Freiheit, Gerechtigkeit oder Frieden. 51 https: / / www.zeit.de/ politik/ ausland/ 2016-05/ nigeria-oel-aktivisten; Zugriff am 30.05.2022 52 https: / / www.zeit.de/ politik/ ausland/ 2016-05/ nigeria-oel-aktivisten; Zugriff 30.05.2022. <?page no="62"?> 61 Den Kernbestand des Ideologievokabulars bilden die sogenannten „Schlagwörter, Schlüsselwörter oder Leitvokabeln.“ (Girnth 2015: 61) In der Politolinguistik, also dem Bereich der Sprachwissenschaft, die sich mit der Sprache der Politik beschäftigt, werden teilweise Schlagwörter „Symbolwörter, Schlüsselwörter oder Leitvokabeln“ synonym verwendet (a.-a.-O.). Das ist aber nicht bei allen Publizierenden in der Politolinguistik so. Die politischen Leitvokabeln (wie soziale Marktwirtschaft) werden von Liedtke (1996: 5) „als sprachliche Ausdrücke, die einen politisch relevanten Sachverhalt denotieren“ aufgefasst. „Sie sind infolge eines Prozesses der semantischen Aufladung parteipolitisch spezifiziert, beinhalten sie also neben deskriptiven Elementen auch politisch bewertende Bedeutungsanteile. Sie referieren entweder auf allgemeine, abstrakte Werte gesellschaftlichen Zusammenlebens (Hochwertwörter) oder auf andere, zeitbezogene Phänomene“. Nach dieser Definition ist „Aktivist“ keine politische Leitvokabel, da Aktivist: in nicht parteipolitisch spezifiziert ist. Der weiter gefasste und häufiger benutzte Terminus Schlagwort passt dagegen besser. Schlagwörter „stehen oft verkürzend und kondensierend für komplexe Zusammenhänge und entfalten insbesondere ihre emotionalen und deontischen Bedeutungskomponenten mit hoher öffentlicher Wirksamkeit. Zum Schlagwort gehören hohe Gebrauchsfrequenzen“ (Klein 1989: 360). Sie werden oft affirmativ (zustimmend) oder polemisch verwendet und haben evaluative und appellative Mitinformationen. Als „ausschlaggebend für die Wirkung der Schlagwörter im Bereich der öffentlichen Meinungsbildung“ wird ihre Eigenschaft angesehen „unbestimmt oder nur scheinbar klar zu sein, ihre Fähigkeit zu verallgemeinern und zu typisieren, ihr wertender und besonders ihr emotionaler Gehalt“ (Strauß/ Haß/ Harras 1989: 32). Nach Bergsdorf (1991: 24) erfordert die gruppenübergreifende „Integrationskraft der politischen Spra- <?page no="63"?> 62 che“ einen hohen Preis: „den Preis einer mangelnden Präzision ihrer Begriffe“. Dennoch wäre es verfehlt, wie Strauß/ Haß/ Harras (1989: 33) hervorheben, den Schlagwörtern „begriffliche Inhalte abzusprechen“. Auch Felbick (2003: 22 f.) betont, dass Schlagwörter häufig die Fähigkeit besitzen, „semantische Mehrwerte“ zu erzeugen, indem sie über ihren konventionalisierten semantischen Gehalt hinausweisen und komplexe Programme repräsentieren können. Bei den Schlagwörtern werden in der Forschungsliteratur verschiedene Arten angenommen (Schröter 2015: 399 ff.). Hochwertwörter werden von Unwertwörtern abgetrennt; Fahnen- und Stigmawörter von Schlagwörtern unterschieden. Während Fahnenwörter Leitwörter sind, die die Haltung bzw. Position wiedergeben, drücken Stigmawörter das Gegenteil aus. Ein Werbeslogan der CDU „Freiheit oder Sozialismus“ verdeutlicht auch, dass es von der Einstellung der Kommunizierenden abhängt, was als Fahnen- und was als Stigmawort verstanden wird. Leerformen, auch inhaltsleere Worthülsen genannt, werden ebenfalls abgesondert. Die Bezeichnung Aktivist wird in der publizistischen Wortkritik mit dem Vorwurf der Sinnentleerung verbunden (Mathias Winters, ein führender Journalist der Saarbrücker Zeitung“ nennt „Aktivist“ ein „Unwort des Jahres“, „massenhaft sinnentleert“) 53 . Daher noch etwas zu den „Worthülsen/ Leerformeln“: Worthülsen werden im DWDS definiert als „abwertend, seines Inhalts, des eigentlichen Sinngehalts entleertes Wort“. In ORF.at konnte man Folgendes dazu zur Kenntnis nehmen: Vor Kurzem hatte ich es wieder einmal, dieses eine zur Verzweiflung bringende zweifelhafte Vergnügen: Ich war in privater Runde von Worthülsen-Akrobaten und -Akrobatinnen umgeben, von einer Suada hoh- 53 https: / / www.saarbruecker-zeitung.de/ saarland/ saarlouis/ kolumnen/ mathi as-winters-nennt-aktivist-ein-unwort-des-jahres_aid-48311759; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="64"?> 63 ler und leerer Phrasen, von sprachlichen Hülsenfrüchten, die viel her machen, in denen aber nichts drinnen ist. 54 Niehr (2019: 685) bestimmt die „Leere“ der Leerformeln als semantische Vagheit. „Hinzu kommt, dass der Ausdruck in sehr weiter Bedeutungsextension verwendet wird“. In der Rhetorik und Öffentlichkeit haben Leerformeln, wie Schlagwörter einen schlechten Ruf. „Sie gelten als rhetorische Mittel der Manipulation“. Rödel (2007: 70 ff.) schreibt in Bezug auf „das Schlüsselwort Nachhaltigkeit“ von „einer Übernutzung“ durch „ausufernden Gebrauch“. Ein abstrakter Begriff wie Nachhaltigkeit wird durch inflationären Gebrauch kontrovers und ambivalent wahrgenommen und verliert immer mehr an Bedeutung. Wenn man das folgende Beispiel anschaut, Die „Corona-Aktivisten Düsseldorf “ wollen mit ihrem Kanal in den sozialen Netzwerken gegen den Budenkoller ankämpfen. Mit einem Blick nach draußen, ohne die Wohnung verlassen zu müssen. Yoga, Zumba oder auch eine Galerieführung per Livestream sollen für Abwechslung sorgen. so kann man die denotativ-begriffliche Bedeutung des Lexems Corona-Aktivisten paraphrasieren als „Gruppe von Menschen, die sich aktiv gegen die Auswirkungen des Coronavirus engagieren“. Das Bestimmungselement Corona bringt das Objekt ein, gegen das die Gruppe sich engagiert. Mit diesem Wort wird eine positiv wertend-emotionale Bedeutung kommuniziert, die durch die textuelle Verknüpfung mit „gegen den Budenkoller ankämpfen“ und „für Abwechslung sorgen“ verstärkt wird. Über die ausgedrückten Wertungen und Emotionen gegenüber den Aktivisten ist die intendierte pragmatische Folgerung verbunden, man könne oder solle sie sich ‚zum Vorbild nehmen‘. 54 https: / / oe1.orf.at/ artikel/ 399730/ Worthuelsen-und-andere-inhaltsleere-Sprach versuche; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="65"?> 64 Von einem Bedeutungsverlust bei dem Lexem Aktivist: in kann man m.- E. nicht sprechen. Aktivist: innen unterscheiden sich von aktiven Menschen über die enthaltene Wertungskomponente sowie inhaltlich über die Verwendung in politischen Kontexten und funktionalstilistisch über den Gebrauch in der Publizistik. Da es sowohl positiv als auch negativ wertend sein kann und das Objekt des Engagements nicht festgelegt ist, hat es eine große Vagheit, kontextlos einen weiten Bedeutungsspielraum. Jedoch ist auch ohne Kontext die Lesart festlegbar als ‚besonders politisch aktiver Mensch‘, weshalb man es nicht als leere Worthülse charakterisieren kann. Es handelt sich vielmehr um ein aktuelles politisches Schlagwort. 4.5 Ob „Alte weiße Männer“ ein Feindbild sind Der Begriff „Alte weiße Männer“ wie auch der von der „toxischen Männlichkeit“ hat in den letzten Jahren in der Publizistik eine rege Diskussion ausgelöst, vor allem, weil er nach und nach den primären postkolonialen Kontext verloren hat. Die Wendung alte weiße Männer ist eine Übersetzung aus der englischen Sprache, dort wird vom old white man oder angry white man gesprochen. Sie tauchte Anfang der 1990er Jahre in den amerikanischen Medien auf, als Junge, Schwarze und Frauen ihr Recht auf Mitbestimmung einforderten. In den folgenden Jahren modifizierte sich die Bedeutung zu ‚Ein Typ Mensch, der seine Privilegien verdrängt, den gesellschaftlichen Wandel belächelt und glaubt, seine Position ausschließlich aus eigener Kraft erreicht zu haben.‘ 55 Besonders Feministinnen und politisch links Eingestellte benutzen diese Wendung als poltischen „Kampfbegriff “. So bezeichnet „Alte weiße Männer“ für 55 www.nzz.ch/ folio/ wortschoepfungen-wie-aus-einer-beschreibung-eine-be schimpfung-wurde-ld.1661609? reduced=true; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="66"?> 65 die Feministin Sophie Passmann eine Geisteshaltung: „das Gefühl der Überlegenheit gepaart mit der scheinbar völligen Blindheit für die eigenen Privilegen“. Sie erkennt den alten weißen Mann unter anderem, wenn er sie im Gespräch „unterbricht, um mir die Welt zu erklären“ (Passmann 2020: 10). In der USA-amerikanischen Literatur- und Kulturwissenschaft wurde von Gegnern des traditionellen Bildungskanons von old white men das abwertende Akronym DWEM (Dead White European Male) 56 abgeleitet, als Bezeichnung für historische Persönlichkeiten, die für die westliche Kultur als konstitutiv erachtet werden. Für die FAZ 57 sind „alte weiße Männer“ „das Feindbild unserer Zeit“ und ein Begriff, der auch eine ausgrenzende und herabsetzende Bedeutung hat. 58 Man bezog sich auf ein Konzert der Hiphop-Band K.I.Z., die in Dortmund ein Konzert nur für Frauen gab. Um die Menge anzuheizen, machten sich die Musiker ein bisschen über die aufkommende Angst vor Covid-19-Infektionen lustig. Diese sei nicht nötig, so die Rapper, denn die Wahrheit sei: „Dabei sterben nur alte, weiße Männer! “ Kritik wird an diesem Begriff geübt, weil er „umgekehrt rassistisch“ sei, ein angeborenes Merkmal (weiße Haut) zur Gruppenzuordnung verwende und stark vereinfachend und pauschalisierend sei. Weißer Mann wird auch variiert mit weißer Imperialist, wie in einem Artikel über Michel Foucault, in dem es heißt, er sei „wie ein weisser Imperialist aufgetreten“ 59 , oder in einem anderen über 56 dictionary.cambridge.org/ de/ worterbuch/ englisch/ dwem; Zugriff am 30.05.2022. 57 https: / / www.faz.net/ aktuell/ stil/ leib-seele/ das-feindbild-unserer-zeit-alte-weis se-maenner-16927069.html; Zugriff am 30.05.2022. 58 https: / / www.faz.net/ aktuell/ karriere-hochschule/ pandemie-schuert-feindbil der-sterbende-weisse-maenner-16734174.html; Zugriff am 30.05.2022. 59 www.nzz.ch/ feuilleton/ michel-foucault-dem-philosophen-wird-paedophilievorgeworfen-ld.1611320? reduced=true; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="67"?> 66 die Romanfigur Robinson Crusoe: „Vor 300 Jahren erschien ‚Robinson Crusoe‘. Der britische Autor Charles Boyle erklärt, warum der Titelheld, ein weißer Imperialist, so problematisch ist.“ 60 Es werden zwei abwertend interpretierte Wörter verknüpft, um bisher eher positiv konnotierte Personen abzuurteilen, der Begriff hat somit Schimpfwortcharakter angenommen. Dabei wird eine Interpretation vorgenommen, die ahistorisch ist und die damalige gesellschaftlich Lage völlig unbeachtet lässt. In dem zitierten Artikel zu dem Roman „Robinson Crusoe“ wird auch eine Definition von „weißer Mann“ vorgenommen: Man hat sich der Erzählung bedient, und tut es auch heute noch, um den täglichen Machtanspruch des weißen Mannes zu stützen. Das, was auch die Lehrer den Kindern einimpfen wollten, war: Vertraue Gott, arbeite hart und du wirst nicht nur erfolgreich sein - sondern du wirst auch Macht über andere Menschen ausüben können. Ob man wirklich ernsthaft argumentieren kann, dass „Gott zu vertrauen und hart zu arbeiten“ grundsätzlich abzulehnen sei, muss hinterfragt werden. Einerseits wird schon Kindern gelehrt, dass sie Schimpfwörter nicht aussprechen sollen, anderseits wird die Verwendung von Schimpfwörtern zur Herabsetzung einer ganzen Menschengruppe toleriert und die Bezeichnung alter weißer Mann nicht als eine pejorative Wendung angesehen. In einer Folge des Kulturmagazins „Aspekte“ des ZDF 61 wurde dagegen ausgeführt: „Die Bezeichnung ‚Alter weißer Mann‘ ist zum ideologischen Kampfbegriff geworden.“ Und die Frage gestellt: „Wie wurde er zum Feindbild einer offenen und toleranten Gesellschaft? “ 60 www.sueddeutsche.de/ kultur/ robinson-crusoe-300-jahre-daniel-defoe- 1.4419979; Zugriff am 30.05.2022. 61 https: / / www.zdf.de/ kultur/ aspekte/ alter-weiss er-mann-feindbild-ab schied-100.html; Zugriff am 27.05.2021. <?page no="68"?> 67 Auffällig ist, dass sich die Wendung alte weiße Männer immer mehr idiomatsiert hat. Während weiße Männer dabei nicht mehr nur in Opposion zu schwarzen Menschen verwendet wird, sondern allgemeiner auf herrschende Eliten bezogen wird, hat schwarz im politischen Diskurs teilweise eine Verengung erfahren. Auf einer Webseite des ZDF für Kinder wird ausgeführt: „Begriffe wie Schwarz oder Weiß beschreiben nicht, welche Hautfarbe ein Mensch hat - sondern, ob er oder sie rassistische Erfahrungen gemacht hat.“ 62 Anfang Juli 2021 wurde ich von Schlagzeilen wie „Wiener Linien schaffen das ‚Schwarzfahren‘ ab“ 63 überrascht. Es wurde jedoch nicht das Bestrafen des Schwarzfahrens abgeschafft, sondern „Statt fürs Schwarzfahren zahlt man jetzt fürs ‚Reisen ohne gültiges Ticket“. Damit hat man auf „eine deutsche Initiative gegen den immanenten Rassismus im Begriff schwarzfahren“ reagiert. „Im September 2020 beschloss der Senat von Berlin ein Diversity- Landesprogramm zur Förderung des kompetenten Umgangs der Verwaltung mit Vielfalt, in welchem er allen Mitarbeiter: innen empfahl, künftig auf den Gebrauch von Begriffen wie schwarzfahren, anschwärzen, u.- ä. zu verzichten und stattdessen Fahren ohne gültigen Fahrschein bzw. nachsagen/ melden/ denunzieren zu benutzen. 64 Die Opposition hell vs. dunkel, weiß vs. schwarz gehört zu den elementarsten Wahrnehmungen der Menschen, da sie seinen Lebensrhythmus bestimmen. Helligkeit ist mit Sonne, Licht, Sicherheit und Wärme verbunden, Dunkelheit dagegen mit Einschränkung der Handlungsfähigkeit. Diese Opposition wird des- 62 https: / / www.zdf.de/ kinder/ logo/ sprache-gegen-rassismus-100.html; Zugriff am 30.05.2022. 63 www.oe24.at/ oesterreich/ chronik/ wien/ wiener-linien-schaffen-das-schwarz fahren-ab/ 483574750; Zugriff am 30.05.2022. 64 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Schwarzfahren; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="69"?> 68 halb metaphorisch zur Charakterisierung von verschiedensten Erfahrungsbereichen genutzt. Negatives und Geheimnisvolles wird als dunkel und Positives und Erklärbares als hell verbildlicht. Schwarze Gedanken, eine schwarze Seele, einen schwarzen Tag haben etc. beschreiben etwas Böses, Unheilvolles, was nun mal existiert. Schwarz ist jedoch auch mit Positivem verbunden, beispielsweise bei Black Friday, einer Verkaufsaktion mit großen Rabatten. So heißt die deutsche Übersetzung des in Griechenland angebauten Süßweins Mavrodaphne „Schwarzer Lorbeer“ 65 . Schwarze Schokolade, die einen höheren Kakoanteil hat, ist in Deutschland eher mit positiven Konnotationen verbunden (‚gesünder‘), genauso schwarzes Gold (Kohle, Erdöl), ins Schwarze treffen (das Richtige erkennen). Eine kleine Umfrage in meinem Bekanntenkreis hat ergeben, dass schwarzfahren bei keinem Befragten rassistische Assoziationen ausgelöste, da alle offenbar verinnerlicht haben, dass die meisten Wörter mehrdeutig sind und mit schwarz verschiedene Eigenschaften benannt werden können. Dass schwarzer Humor / black humor kein Humor über Schwarze ist genauso wenig wie die schwarze Komödie / black comedy bei Shakespeare, ist ihnen bekannt. Dass diese Begriffe häufig mit Briten verbunden werden, stört auch niemanden. Auch etliche andere Sprachwissenschaftler: innen sehen im Begriff „Schwarzfahren“ keine Diskriminierung: „Rassistisch ist das überhaupt nicht“, sagt etwa Jürgen Kunze, der früher Professor am Institut für deutsche Sprache und Linguistik an der Humboldt-Universität an Berlin war. Als Christiane Wanzeck, Linguistin an der Ludwig-Maximilians-Universität, von dem Vorstoß des Stadtrats hört, sagt sie: „Das ist jemand, der keinen Sprachverstand hat! “ Mit der Hautfarbe habe der Begriff Schwarzarbeiter rein gar nichts zu tun. So wie ein blinder Passagier nichts mit Blinden zu tun habe. Vielmehr 65 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Mavrodaphne_(Wein); Zugriff am 30.05.2022. <?page no="70"?> 69 stehe „schwarz“ in dem Fall für illegal. Für etwas, das im Dunkeln, im Verborgenen passiert. Schon vor Jahrhunderten seien solche Kombinationen aus Farbadjektiven und Hauptwörtern weit verbreitet gewesen. Dass „Schwarzfahrer“ ein rassistischer Ausdruck sein soll, hält sie für „sprachlich null haltbar und an den Haaren herbeigezogen“. Eric Fuß von der Universität Leipzig erklärt, dass der Begriff nach weit verbreiteter Auffassung auf den jiddischen Ausdruck „shvarts“ für „Armut“ zurückgeht. „Schwarzfahrer sind demnach diejenigen, die sich kein Ticket leisten können.“ 66 Der Begriff „Alte weiße Männer“ ist ein kultureller Stereotyp, der als Reaktion auf wahrgenommene Ungerechtigkeiten gegenüber jungen Menschen, Frauen oder Minderheiten entstand, jedoch eine starke Vereinfachung und Überzeichnung beinhaltet. Das enthaltene metaphorische Konzept „weiß“ steht in polarer Opposition zu dem Konzept „schwarz“, kann wie dieses unterschiedlichen Phänomenen zugeordnet werden und wandelt sich im Verlaufe der gesellschaftlichen Entwicklung. 66 https: / / www.abendzeitung-muenchen.de/ muenchen/ ist-schwarzfahren-rassis tisch-art-183434; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="72"?> 71 5 Wortgrammatischer Wandel 5.1 Charakterisierung Wörter und feste Wendungen verändern sowohl ihre Aussprache und Schreibung (phonographischer Wandel) als auch ihren Einfluss auf den Satzbau (morphosyntaktischer Wandel). Dies verändert auch ihren Kommunikationsbeitrag und wird öfters beklagt, wie in den folgenden Beispielen dargestellt. Zentral in den Diskussionen steht schon seit mehreren Jahren die Frage, ob das personenbezogene Anredeverhalten geändert werden muss. Auf diese Frage soll in 6.2 ausführlicher eingegangen werden. In einem Ratgeber für Power-Point-Präsentationen wird beispielsweise kritisiert: Publikumsvergraulung durch Substantivhäufung und Exzessivität der Genitivverwendung. Staubiges Kanzleideutsch besteht vor allem aus Substantiven auf -ung, -heit, -keit und -tät, aus Genitivkolonnen, zusammengesetzten Substantiven. Das Gegenmittel: Werben mit Verben! Sätze mit Subjekt, Prädikat, Objekt. Ein Gedanke pro Satz. 67 Substantivhäufungen und Nominalstil mit Allerweltsverben werden als Zerstörer der deutschen Sprache angesehen, weil sie über wissenschaftliche, behördliche und fachsprachliche Texte hinaus Verwendung finden. Kritisch wird auch die „Erfolgsgeschichte der ‚hedges‘“ 68 angesehen. Gemeint ist damit, dass „schutzschildhafte“ Äußerungseinleitungen wie „Ich denke, dass-…“ „Ich muss Ihnen sagen, dass-…“ zunehmen. Kritisiert wird daran, dass damit 67 https: / / www.korfftext.de/ der_streit/ sieben.html; Zugriff am 30.05.2022 68 Gabriele Graefen (2000), LMU-München „Hedging“ als neue Kategorie? (https: / / www.daf.uni-muenchen.de/ media/ downloads/ hedge.pdf; Zugriff 30.05.2022). <?page no="73"?> 72 der Wahrheitsgehalt abgeschwächt wird, um sich vor eventueller Kritik zu schützen. Dass immer mehr Kasusmarkierungen in der Alltagssprache verschwinden, bezeichnet der populäre Autor Bastian Sick kritisch als „Kasus Verschwindibus“: Die Neigung, bei schwach gebeugten männlichen Hauptwörtern die Endungen im Dativ und im Akkusativ einfach unter den Tisch fallen zu lassen, ist sehr stark ausgeprägt. Sätze wie „Dem Patient geht’s gut“ und „Lukas, lass den Elefant in Ruhe“ sind mittlerweile häufiger zu hören als die korrekt formulierten Aussagen „Dem Patienten geht’s gut“ und „Lukas, lass den Elefanten in Ruhe“. Die Unterlassung der Deklination ist umgangssprachlich weit verbreitet, standardsprachlich jedoch gilt sie als falsch. 69 Aus längerfristiger Sicht kann man auch Grammatikalisierungen in der Entwicklung der deutschen Sprache bemerken. Prozesse, in deren Verlauf eine autonome lexikalische Einheit allmählich die Funktion einer abhängigen grammatischen Kategorie erwirbt. So kommt es zur Entstehung neuer Funktionswörter (Auxiliare, Konjunktionen, Präpositionen etc.) und von Flexionsmorphemen. Aus ursprünglich vollwertigen Wörtern werden also beispielsweise Affixe. Das nominale Derivationssuffix -heit war im Althochdeutschen noch ein Nomen mit der Bedeutung ‚Stand, Charakter‘. Später entstanden aus -heit noch die Formen -keit und -igkeit (Lohde 2006: 100). Auch heute kann man analoge Grammatikalisierungsprozesse feststellen, wenn man die Sprache aufmerksam beobachtet. Sie fallen dadurch auf, dass das Ausgangswort noch frei existiert. Das kann z.-B. bei der „Intensivpräfigierung“ der Fall sein, bei der Präfixe zu einem Wort hinzutreten und eine Bedeutungsverstärkung bewirken. So dient das Nomen Riese als Bezeichnung für sehr große Menschen oder Wesen aus Sagen und Myhen und 69 Kasus Verschwindibus - Bastian Sick (31.8.2005); Zugriff 2.4.2021 <?page no="74"?> 73 zum anderen als Präfix mit der Bedeutung ‚besonders groß‘ (Riesenchance, Riesenfun, Riesendummheit-…), oder das Nomen Sau als Bezeichnung für das weibliche Hausschwein und davon abgeleitet als Schimpfwort (dumme Sau). In der Umgangssprache haben sich Präfixe abgeleitet: als emotional verstärkendes Präfix (saufrech, sauteuer, saugut- …) und emotional abwertend (Sauklaue, Sauwirtschaft, Sauleben-…). In der Zeitschrift „der Freitag“ wurde in einem Blog der Freitag-Community (22.07.2013) ein Artikel veröffentlicht 70 , in dem der Frage nachgegangen wurde, warum sich in der deutschen Sprache im Laufe der Jahrhunderte Schwein und Sau als häufigste Form der Beleidigung durchgesetzt haben. Die Frage konnte jedoch nicht beantwortet werden. Man meinte: „Möglicherweise hängt es mit der Einfachheit der Aussprache zusammen.“ Der oben zitierte Ratschlag bezüglich Power-Point-Präsentationen „Ein Gedanke pro Satz“ erinnert stark an die von Politiker: innen propagierte „leichte Sprache“ („Jeder Satz enthält nur eine Aussage.“ 71 ), die u.-a. von Bayer (2016) kritisch in Bezug auf generelle Sprachniveauabsenkungen gegenüber Immigrant: innen hinterfragt wurde. Die leichte, auch einfache Sprache ist für Menschen mit Lernschwierigkeiten vorgesehen, zu denen auch „ältere Menschen“ gerechnet werden 72 , obwohl dies falsch ist, wie die Forschungen zu der Kommunikation von älteren Menschen (siehe beispielsweise Fiehler/ Timm 2003) zeigen, eine Defizitbzw. Regressionshypothese ist wissenschaftlich widerlegt. 70 https: / / www.freitag.de/ autoren/ wikinger333/ von-menschen-und-tieren-dasschwein; Zugriff am 30.05.2022. 71 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Leichte_Sprache; Zugriff am 30.05.2022. 72 https: / / www.beb-ev.de/ wp-content/ uploads/ 2013/ 06/ AG-1_17.06.2013_Leich te-Sprache-eine-konstruktiv-kritische-Auseinandersetzung.pdf; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="75"?> 74 5.2 Ob geschlechterinklusive Benennungen Sprache regulieren Seit dem Ende der 1970er Jahre erfährt die feministische Sprachkritik sowohl in der Sprachwissenschaft als auch in der Öffentlichkeit gesteigerte Aufmerksamkeit. Es kam und kommt immer wieder zu polarisierenden medialen Debatten, an denen sowohl akademische als auch nichtakademische Diskutanten teilnehmen, weshalb diese hier etwas ausführlicher besprochen werden. Anfangs ging es um die sprachliche Sichtbarmachung von Frauen. So lautete auch der Titel einer von der Linguistin Luise Pusch herausgegebenen feministischen Aufsatzsammlung „Das Deutsche als Männersprache“ (1984). In dem von Pusch verfassten Aufsatz „Das Deutsche als Männersprache. Diagnose und Therapievorschläge“ ging sie davon aus, dass die „Spezies Mensch […] in zwei Hälften zerfällt: eine weibliche und eine männliche“, sich dies jedoch nicht in den Benennungen widerspiegele. (1984: 48 f.) In dem üblichen „generischen Maskulinum“ wie in der Angestellte als Bezeichnung für eine weibliche oder einen männlichen Angestellten sieht sie eine „Pseudo-Geschlechtsneutralisation“, da der Angestellte auch die männliche Form ist, in der Pluralform die Angestellten dagegen eine „Geschlechtsneutralisation“ (Pusch 1984: 53). Aber auch in der „movierten Form zur Bezeichnung weiblicher Menschen“ sieht sie „eine sprachliche Diskriminierung sozusagen ersten Ranges“. Sie argumentiert, das Suffix -in konserviere „im Sprachsystem die jahrtausendalte Abhängigkeit der Frau vom Mann, die es endlich zu überwinden gelte, auch sprachlich.“ (ebd: 59) Ihr Vorschlag ist, das -in-Suffix, aber nicht etwa die femininen Personenbezeichnungen abzuschaffen. Also, der Student und die Student statt der Student und die Studentin. In der Folge regten „feministische Linguistinnen“ noch Weiteres an, beispielsweise das generische Femininum (Wie werde ich Professorin? statt Wie <?page no="76"?> 75 werde ich Professor? ). 2013 verlangte die Universität Leipzig, auch alle männlichen Professoren im Plural als Professorinnen zu bezeichnen, was in den Medien zu weitgehend ablehnenden Diskussionen führte. Eine grammatisch feminine Personenbezeichnung wie Professorin wird dabei geschlechterübergreifend verwendet. Während in der Vergangenheit das Verlangen nach einer geschlechtergerechten Sprache mit der feministischen Bewegung und dem Kampf um eine Verbesserung der gesellschaftliche Lage der Frauen verbunden war, erklären neuere wissenschaftliche Studien, dass sie „möglichst unparteiische Positionen“ einnehmen möchten und sich für eine „möglichst wertungsfreie Genderlinguistik“ einsetzen (Kotthoff/ Nübling: 14). Die Linguistinnen Helga Kotthoff und Damaris Nübling sehen als das „große Anliegen der linguistischen Geschlechterforschung […], die sprachlichen und kommunikativen Beiträge zur Gestaltung von Männlichkeiten, Weiblichkeiten, Zwischen - und Transidentitäten nachzuzeichnen“ (a.a.O.: 17). Dabei ist die zentrale Bezugskategorie nicht mehr der natürliche, biologische Sexus sondern die Geschlechtsidentität, die soziale Geschlechterrolle (Gender). Die Abgrenzung des sozialen vom biologischen Geschlecht begann in den 1970er Jahren wichtig zu werden. „Gender Studies“ (Geschlechterforschung) untersuchen in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen die Bedeutung von Geschlecht und das Verhältnis der Geschlechter zueinander. In der Linguistik wurde der Terminus „gendern“ vom Begriff Gender abgeleitet und von Gabriele Diewald und Anja Steinhauer folgendermaßen definiert: „Gendern ist, sehr allgemein gesprochen, ein sprachliches Verfahren, um Gleichberechtigung, d.-h. die gleiche und faire Behandlung von Frauen und Männern im Sprachgebrauch, zu erreichen. Gendern bedeutet somit die Anwendung geschlechtergerechter Sprache.“ (2020: 8) Das generische Maskulinum steht besonders bei den linguistischen Diskussionen im Zentrum der Auseinandersetzungen. Strittig ist, wie es zu interpretieren ist. Die einen sehen es als eine <?page no="77"?> 76 usuelle geschlechtsübergreifende Bezeichnung für alle Geschlechter, da das grammatische Genus „maskulin“ nicht gleich dem biologischen Sexus „männlich“ sei. Die Linguistin Heide Wegener (2021) lehnt das sprachliche Sichtbar-Machen des biologischen Geschlechtes aus diesem Grund ab: „Wer gendert, nimmt eine naive und falsche Gleichsetzung von grammatischem Genus und biologischem Geschlecht vor.“ Andere meinen, Frauen sollten sich mit dem generischen Maskulinum als mitgemeint verstehen. Einige Studien haben ergeben, dass grammatisch maskuline Personenbezeichnungen im Singular (Der Tischler wohnt in- …) oft nicht neutral, sondern eher als Bezugnehmen auf männliche Personen verstanden werden. Dabei stellt sich allerdings die Frage, inwieweit die Auswahl der zu bewertenden Beispiele die Ergebnisse beeinflussten. Die Psychologinnen L. Irmen und N. Kaczmarek (2000) untersuchten, welche mentalen Repräsentationen mit generischen Personenbezeichnungen verbunden sind, indem sie die Lesezeit einer Satzverbindung als Maß verwendeten. Dies erbrachte, dass geschlechtsambique Aussagen (Japaner treten immer in Gruppen auf. Und sie fotografieren alles.) am schnellsten verstanden werden. Zu Verstehensverzögerungen kommt es, wenn das Generische Maskulinum mit geschlechtsspezifischen Aussagen verknüpft wird: Amerikaner essen gern Hamburger- … Wenn sie jedoch schwanger sind- … (spezifisches Femininum) Oder: Viele Kanadier gehen Sonntags in die Kirche. Viele ziehen dazu ihren besten Anzug an. (spezifisches Maskulinum). Für die feminine Spezifizierung waren die Lesezeiten etwas länger. Diese und andere Untersuchungen zeigen, dass der sprachliche und soziale Kontext für das Verstehen des generischen Maskulinum entscheidet ist. Nicht nur die Personenbezeichnungen wurden kritisch betrachtet, sondern auch die Pronomen. So veröffentlichte „Der Tages- <?page no="78"?> 77 spiegel“ (13.05.2020) 73 ein Essay unter der Überschrift „Das Pronomen ist frei vom Körper - aber es ist nicht frei vom Geschlecht“. Die Verfasserin meint, dass Kommunizierende zwar auswählen können, welches Pronomen sie zu ihrer Bezeichnung verwenden können (männlich vs. weiblich - er oder sie). Jedoch wäre damit auch der Zwang verbunden, diese Entscheidung vorzunehmen, was für Feministinnen und Queers ein großes Problem sein kann. Die Verfasserin führt aus: Beim Pronomen „es/ sie“ (Plural) schwingt Neutralität und Geschlechtslosigkeit mit. Das Pronomen „sie“ (Plural) - mein persönlicher Favorit - können [sic] die Anwesenheit mehrerer Körper in einem implizieren. Das funktioniert für mich persönlich, weil ich meine geschlechtliche Identität genauso verstehe: vielfältig und dynamisch, von Tag zu Tag wechselnd. Das Ausgeführte trifft für die Mehrheit der Sprachbenutzer: innen nicht zu. Veränderungen beim personenbezogenen Pronomengebrauch sind bisher nur in geringem Umfang festzustellen. Am häufigsten trifft man noch den Ersatz von man durch das neuere Indefinitpronomen frau an, dessen Gebrauch jedoch rückläufig ist. Für den Bezug auf nichtbinäre Menschen gibt es verschiedene Vorschläge, die in der Sprachgemeinschaft weitgehend unbekannt sind. Hier ein Beispiel: Dass sich René_ mit einem Unterstrich schreibt, ist Absicht. Denn René_ möchte weder die männliche Form des Namens („René“) noch die weibliche („Renée“) annehmen. René_ identifiziert sich als nichtbinär - also weder als Mann noch als Frau - und möchte deswegen auch nicht als „er“ oder „sie“ bezeichnet werden. Stattdessen wünscht René_ sich entweder gar kein Pronomen oder das geschlechtsneutrale Pronomen „em“. 74 73 Gender und Grammatik: Das Pronomen ist frei vom Körper - aber es ist nicht frei vom Geschlecht - Queer - Gesellschaft - Tagesspiegel; Zugriff 10.01.2021. 74 https: / / www.jetzt.de/ gender/ welches-pronomen-benutzt-man-bei-menschendie-sich-weder-als-mann-noch-als-frau-definieren; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="79"?> 78 Am Beginn des Jahres 2021 vermeldete die Dudenredaktion, dass in der digitalen Variante insgesamt 12.000 Personen- und Berufsbezeichnungen geändert würden. Das generische Maskulinum solle durch gleichberechtigte weibliche und männliche Formen ersetzt werden. So existieren nun zwei getrennte, weitgehend redundante Einträge, z.-B. zu Schüler und Schülerin, und bei Schüler wird als Hauptbedeutung nur noch „Junge, Jugendlicher, der eine Schule besucht“ angegeben 75 , in der Regel wird in einem nachfolgenden Kasten auf den generischen Gebrauch verwiesen („In bestimmten Situationen wird die maskuline Form (z.- B. Arzt, Mieter, Bäcker) gebraucht-…“). Auch meiner Meinung nach ist diese Vorgehensweise zu kritisieren, da der Duden nach eigenem Bekunden die allgemeine Sprachverwendung abbildet. Zur Auswahl der Stichwörter wird ausgeführt: „Für den Rechtschreibduden erfasst die Dudenredaktion den Allgemeinwortschatz der deutschen Sprache […] Für die Auswahl der Aufnahmekandidaten sind vor allem die Häufigkeit des Auftretens und die Verbreitung über verschiedene Textsorten hinweg, also der allgemeine Gebrauch, entscheidend.“ (DUDEN 2017: 8) Aktuell ist Gendern in den Medien und öffentlichen Einrichtungen angekommen, wenngleich in unterschiedlichen und wechselnden Formen. Andererseits ist das generische Maskulinum für viele Teil der alltäglichen Sprache. Außerdem ist eine einfache Verdopplung der Einträge keine Lösung hinsichtlich der Einbeziehung geschlechtlich nicht binär verorteter Personen. Um die Jahrhundertwende kam das Gendern hinzu, das das Einbeziehen aller biologischen und sozialen Geschlechter meint. Das bisherige Bemühen, um eine geschlechtergerechte Sprache wurde als binär, zweigeschlechtlich verengt abgelehnt. Diese Argumentationslinie verstärkte sich, nachdem 2018 „divers“ rechtlich als 75 https: / / www.duden.de/ suchen/ dudenonline/ Sch%C3%BCler; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="80"?> 79 dritte Geschlechtsoption eingeführt wurde. Damit gerieten auch binär strukturierte Bezeichnungspaare wie Mutter und Vater in die Kritik. Deshalb hatte 2010 der Europarat vorgeschlagen, stattdessen „Elternteil 1“ (Elter 1) und „Elternteil 2“ (Elter 2) zu verwenden, was von der Mehrheit der Abgeordneten aber abgelehnt wurde. Der oder das Elter hat es in der Bedeutung ‚Elternteil (bei Mensch, Tier, Pflanze)‘ in den Rechtschreibe-Duden gebracht und wird von Verwaltungen als Bezeichnung empfohlen. In Stellenausschreibungen findet man heute oft „m/ w/ d“ wie in dem folgenden Beispiel: Zur Verstärkung unseres Teams suchen wir Sie als Leitung Rechnungswesen / Controlling (m/ w/ d) 76 Teilweise wird dabei über das Ziel hinausgeschossen, wie bei der nachfolgenden Stellenanzeige, wo die Dopplung bei Sekretärin und Buchhalter wie eine Satire wirkt. Sekretärin ist doppelt als weiblich markiert, einmal durch das Suffix -in und durch w und zum anderen wird bei Buchhalter nochmal m/ w/ d angeführt, obwohl es ja dieselbe Person sein soll. Stellenangebot […] Sekretärin (m/ w/ d) / Fachkraft für Büromanagement in Teilzeit (15 h) Ihr Profil: […] Berufserfahrung im Rechnungswesen oder als Buchhalter (m/ w/ d) 77- In einem Bericht der Geschäftsführerin Krome des Rats für deutsche Rechtschreibung (Krome 2021: 26) werden in einer Übersichtsgraphik für das Jahr 2019 folgende Formen der Ansprache im Fließtext in ausgewählten Stellenanzeigen (44) aufgeführt: 76 Leipziger Jobanzeiger - Die regionale Jobbörse für Leipzig und Umgebung (leipziger-jobanzeiger.de); Zugriff am 27.01.2021. 77 www.dante.de/ stellenangebot; Zugriff am 31.01.2021. <?page no="81"?> 80 Generisches Maskulinum 27 Doppelnennung 17 Asterik 7 Partizipialform 6 Binnen-I 5 Geschlechtsneutraler Begriff 5 Hinweis zur ausschließlichen Verwendung des generischen Maskulinums 3 Abb. 1 5: Formen der Ansprache in ausgewählten Stellenanzeigen des Jahres 2019 Es zeigt sich, dass das generische Maskulinum mit fast 45-% dominiert, gefolgt von Doppelnennungen. Berechtigterweise erntete auch der Versuch, „Naziopfer zu J_üdinnen“ zu machen, Kritik: „bei Opfern der NS-Gewaltherrschaft zu gendern, ist geradezu zynisch“, da sie „instrumentalisiert werden, um sich selbst als Zelebrator*in der Gerechtigkeit zu präsentieren“. 78 In der Ihnestr. 22 forschten Wissenschaftler_innen schliesslich auch an den Körpern von Personen, die in nationalsozialistischen Vernichtungslagern und Heilanstalten ermordet wurden. Insbesondere Sinti_zze und Rom_nja, J_üdinnen, schwarze Personen und Menschen mit Behinderung fielen den Arbeiten des KWI-A zum Opfer. 79 Widerspruch gegen die Versuche, geschlechtergerechte Bezeichnungen einzuführen, kam sowohl aus der Sprachwissenschaft als 78 www.nzz.ch/ feuilleton/ j-uedinnen-wo-genderfuror-den-respekt-vermissenlaesst-ld.1609534? reduced=true; Zugriff am 30.05.2022. 79 https: / / www.polsoz.fu-berlin.de/ polwiss/ gesch-ihne22/ index.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="82"?> 81 auch aus der der Publizistik. Je ein Beispiel soll nun vorgestellt werden. Der Grammatiker Josef Bayer veröffentlichte 2019 in der „Neuen Züricher Zeitung“ einen genderkritischen Artikel unter der Überschrift „Sprachen wandeln sich immer - aber nie in Richtung Unfug“ 80 . Er sieht „ein gravierendes Missverständnis, das die gesamte Idee einer gendergerechten Sprache für das Deutsche durchzieht. Es ist die Verwechslung von Form und Inhalt“. „Student“ und „Studenten“ bedeuteten keine Festlegung auf das natürliche Geschlecht und somit auf männliche Wesen. Diese Substantive seien „unmarkierte“ Formen, die den Bezug auf weibliche Wesen, die studieren, automatisch miteinschlössen. Erst wenn man betonen wolle, dass man sich ausschließlich auf das weibliche Geschlecht beziehen möchte, kämen „Studentin“ und „Studentinnen“ zum Einsatz. „Dass beim grammatischen Geschlecht die maskuline Form dominiere, sei eine Eigengesetzlichkeit der Sprache, die mit Männern, Frauen, Herrschaft und Dominanz nichts zu tun hat“.- Die Linguistin Heide Wegener (2021) argumentiert ähnlich und schreibt. „Seit Jahrhunderten, vermutlich seit Bestehen der deutschen Sprache, werden die Grundformen auch geschlechtsübergreifend verwendet.“ Andererseits geht der Ursprung des Movierungssuffixes -in bis aufs Althochdeutsche zurück (Lohde 2006: 124). Bereits damals muss der Wunsch bestanden haben, eine Genusänderung bzw. weibliche Genusfestlegung vorzunehmen. Bayer argumentiert mit der Markiertheitstheorie aus der Phonologie und Morphologie, die davon ausgeht, dass die Opposition von „merkmallosen“ und „merkmaltragenden“ Elementen grundlegend für Sprachen ist. So wird beispielsweise der Singular als der unmarkierte Numerus und der Plural als der markierte (Tisch vs. Tische) angesehen oder der Nominativ als unmarkiert und der 80 www.nzz.ch/ feuilleton/ die-geschlechtergerechte-sprache-macht-linguistischedenkfehler-ld.1472991; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="83"?> 82 Akkusativ als markiert, weil er eine Bezugsgröße bezeichnet (Die Frau kauft etwas (ein Buch)). Die unmarkierten Elemente einer Opposition werden oftmals durch einfachere sprachliche Mittel ausgedrückt, weisen größere Texthäufigkeit auf, kommen in den Sprachen der Welt öfter vor, werden beim Spracherwerb früher erworben und sind Ziel von Sprachprozessen, insbesondere von Sprachwandel. Semantisch unmarkierte Einheiten sind morphologisch einfacher markiert als markierte (Mayerthaler 1980). Bayer geht folglich davon aus, dass das generische Maskulinum semantisch unmarkiert ist (der Student = ‚eine Person, die studiert‘) und der (männliche) Student und die Studentin markierte Formen zu Student sind (DUDEN Das große Wörterbuch 1995: 3299). Während der männliche Student nur semantisch markiert ist ([+-männlich]) ist die Studentin sowohl semantisch ([+-weiblich]) als auch formal markiert ([+--in]). Man spricht im Rahmen der Semantik auch von generischen und speziellen Lesarten bei ambigen (mehrdeutigen) Ausdrücken, wobei die Disambiguierung durch den Kontext erfolgt. Generische (verallgemeinernde) werden von speziellen festen Lesarten unterschieden. So hat das Indefinitpronomen man, das etymologisch auf das Substantiv Mann zurückgeht, eine generische, unspezifische Bedeutung, weil es Menschen im Allgemeinen oder alle Menschen bezeichnet (Man sieht das heute so.) „Seltener kann von einer ‚partikulären Verwendung‘ im Sinne von einzelnen, aber völlig unbestimmten Personen“ mit ihm gesprochen werden (Darf man hier essen? ) (Graefen 2017: 689). Auf diese Unterscheidung bezieht sich der Psycholinguist Klein in seiner Verteidigung des generischen Maskulinums in einer internen Online-Diskussion über die Satzung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) (13.01.2021). Bei Berufsbezeichnungen wie Arzt oder Apotheker geht er davon aus, dass sie eine weite und enge Lesart haben, wobei bei der ersteren das Geschlecht keine Rolle spiele. „Es kommt nur auf das an, was beschrieben wird, hier der Beruf <?page no="84"?> 83 oder eine Qualifikation. (Bei Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.) In der engen Lesart (Er ist Apotheker und Pharmazierat.) sind nur Männer oder jedenfalls nicht Frauen gemeint.“ Wenn es darum ginge, Frauen besonders sichtbar zu machen, stelle die deutsche Sprache ein eigenes Suffix (-in) zur Verfügung (Wie wird man Apothekerin? ). Deshalb kann Klein nicht verstehen, wieso man auf die Idee kommen kann, dass Frauen im Deutschen sprachlich nicht sichtbar sein sollen. Er findet es auch besser, statt vom generischen Maskulinum besser von einer geschlechtsneutralen Verwendung der Maskulina zu sprechen. Dieter Wunderlich, ebenfalls ein renommierter Linguist, führt als Argument, warum er „dem Linguist*innen-Plural nicht zustimmen kann“ 81 an, dass dieser zu „scheußlichen sprachlichen Verrenkungen führt“ und zum anderen der miteingeschlossene männliche Plural nicht deutlich werde, wenn man beispielsweise schreibe „Angela Merkel ist die führende Politikerin der Welt.“ Dass gemeint ist, dass sie führend bei den männlichen und weiblichen Politiker: innen und nicht nur bei den weiblichen ist, ist so nicht erkennbar. Formulierungen wie der/ die Studierende oder der/ die Geflüchtete (substantiviertes Partizip Präsens) werden als geschlechtsneutraler Ersatz angesehen. Jedoch birgt der Ersatz durch substantivierte Partizipien semantische Probleme. Der Sprachwissenschaftler Helmut Glück hat dies folgendermaßen veranschaulicht 82 : Der Irrtum liegt in einem Bedeutungsunterschied. Die Grundbedeutung des Partizips I ist Gleichzeitigkeit: ein Trinkender trinkt gerade jetzt, ein Spielender ist beim Spielen, ein Denkender denkt in diesem Moment. Trinker, Spieler und Denker hingegen üben die jeweilige 81 Online- Beitrag im Rahmen einer internen Diskussion der DGfS am 26.01.2021. 82 https: / / www.faz.net/ aktuell/ karriere-hochschule/ gendersprache-studentensind-nicht-immer-studierende-16322621.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="85"?> 84 Tätigkeit gewohnheitsmäßig aus. Das gilt auch für Studenten und Studierende: Ein sterbender Studierender ist jemand, der beim Studieren, studierend also, stirbt. Ein sterbender Student hingegen kann dem Tod beim Essen, beim Radeln, beim Schlafen, kurz gesagt, bei jeder beliebigen Aktivität begegnen. Vorausblickend ist eine spannende Frage, die sich mit der zunehmenden Verwendung einer geschlechtergerechten Sprache stellt, diejenige, ob die Mehrheit der Sprachgemeinschaft zukünftig kontextfrei der Student als semantisch unmarkiert bzw. als weite Lesart ansehen wird. Hier spielt auch die Sprachverwendung der Medien eine wichtige Rolle. Verschiedene Umfragen erbrachten, dass die Vorbehalte gegen gendergerechte Sprache eher zunehmen als abnehmen. Dies ist m.-E. auch eine Reaktion auf das fast durchgängige Gendern in den öffentlichen Medien. Dies stellte auch „infratest dimap“ fest: „Die zunehmende Präsenz einer gendergerechten Sprache in Medien und Öffentlichkeit hat deren Akzeptanz nicht gesteigert.“ 83 Es wird offenbar als Bevormundung oder als Zensur betrachtet. Eine der Begründerinnen der feministischen Linguistik in Deutschland, die bereits oben erwähnte Luise Pusch, machte gegenüber dem evangelischen Pressedienst (epd, 15.01.2021) mit Bezug auf eine von ihr vorgeschlagene Umformulierung des Grundgesetzes den Vorschlag, sowohl die männliche als auch die weibliche Form zu verwenden oder neutrale Begriffe. In den ZDF-„heute“-Nachrichten oder bei der Deutschen Bahn setzt man aktuell „neutrale“, unspezifische Bezeichnungen ein: Statt „Guten Abend, meine Damen und Herren“ „Guten Abend, Ihnen allen“ oder „Liebe Gäste“. Auch wurde vorgeschlagen, dass im Abspann von Filmen etwa Kamera und Regie anstatt Kameramann und Regisseur stehen sollte. 83 https: / / www.infratest-dimap.de/ umfragen-analysen/ bundesweit/ umfragen/ ak tuell/ weiter-vorbehalte-gegen-gendergerechte-sprache/ ; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="86"?> 85 Aktuell treiben besonders die Medien die gendernde Sprachveränderung voran, indem sie nach einheitlichen Richtlinien in ihren Programmen vorgehen. So fand vom 9.-16. November der ARD die Themenwoche „Zukunft Bildung“ statt. Die Werbespots zur Themenwoche und die Texte auf der Website waren alle gegendert - und zwar mit dem Gendersternchen. Die Zeitschrift „Tagesspiegel“ überlässt es in ihren „Leitlinien für geschlechtergerechte Sprache“ dagegen den Autor: innen, was sie diesbezüglich schreiben: Der Tagesspiegel strebt an, ebenso fair wie klar zu formulieren und unterstützt ausdrücklich einen bewussten, kreativen und sensiblen Umgang mit geschlechtergerechter Sprache: Wir möchten uns dabei nicht auf eine Form festlegen, sondern experimentieren. Jede Autorin hat ihr eigenes Sprachgefühl - daher möchten wir die Verwendung verschiedener Formen freistellen. Dazu gehört weiter auch das Verwenden des generischen Maskulinums. 84 Die verschiedenen Vorschläge für ein geschlechtergerechtes Deutsch lassen sich zu drei Gruppen zusammenfassen: • Beidnennungen (nennen der verschiedenen Gendervarianten), wie Moderatorinnen und Moderatoren. Kritisch wurde dazu vorgebracht, dass sich Texte dadurch verlängern, das Ökonomieprinzip verletzt werde. Kürzungsvarianten wie Schrägstrichschreibweisen (Herr/ Frau), Klammerungen (Lehrer(in)), Binnen-I (ein/ e LehrerIn) oder Schrägstrich mit Ergänzungsstrich (der/ die Lehrer/ _in) werden öfters verwendet. Ein weiterer Kritikpunkt daran ist, dass damit nach wie vor eine binäre Geschlechterauffassung angezeigt wird. 84 www.tagesspiegel.de/ politik/ in-eigener-sache-die-tagesspiegel-redaktion-gibtsich-leitlinien-fuer-geschlechtergerechte-sprache/ 26834766.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="87"?> 86 • Formen ohne Genderspezifikation wie im Englischen, wo policeman und policewoman durch police officer ersetzt werden. Damit solle zum Ausdruck gebracht werden, dass eine Person nicht durch ihr/ sein Geschlecht definiert ist. Im Deutschen steht anstelle von Lehrerin und Lehrer Lehrkraft oder Lehrperson. Als Neutralisierungsformen werden auch substantivierte Partizipien oder Adjektive (Studierende) verwendet. Diese sind jedoch mit dem Problem behaftet, dass es damit zu Bedeutungsverschiebungen kommen kann, wie bei die Kassierenden anstelle von die Kassierer oder die Besuchenden vs. die Besucher. So ist bei Kassierende die administrative Funktion nicht in der Bedeutung enthalten. • Diversitätsplatzhalter für alle Geschlechter/ Gender, wie Gendersternchen (Lehrer*in), Genderdoppelpunkt (Lehrer: in) oder Gendergap (Lehrer_in). Die für die mündliche Kommunikation entwickelte Variante, eine Sprechpause mit hartem Tonansatz (Glottisschlag) beim folgenden -innen einzufügen, ist besonders umstritten. „Als Erweiterung der sprachlichen Gleichbehandlung von Frauen und Männern soll der Glottisschlag bei paarigen Bezeichnungen auch hörbar alle biologischen und sozialen Geschlechter einbeziehen.“ 85 So schrieb die AZ München (11.01.2021 86 ): Niemand gendert im Fernsehen so leidenschaftlich und konsequent wie Top-Talkerin Anne Will (54) in ihrer ARD-Sonntagsrunde. Allerdings macht die Moderatorin beim Gendern, also geschlechtergerechten Sprechen, immer eine extrem lange Kunstpause, um dann noch einen Tick lauter ein „I-N-N-E-N“ hinterherzuschicken. […] Deshalb 85 https: / / de.linkfang.org/ wiki/ Glottisverschluss; Zugriff am 18.01.2021 86 h t t p s : / / w w w. b i n g . c o m / s e a r c h ? q = K r i t k + a n + G e n d e r n + b e i + A n ne+Will&qs=n&form=QBRE&sp=-1&pq=kritik+an+gendern+bei+an ne+will&sc=1-31&sk=&cvid=4297AAEABD604BC8B090FDFB982C5944#; Zugriff am 18.01.2021. <?page no="88"?> 87 wimmelte es bei ihr zuletzt in der Show oft von sehr vielen „Innen“ („Zuschauer - (Pause) -innen“, „Politiker-(Pause) -innen“), sodass sich manch ein Zuschauer, also -in, beim Sender beschwerte, TV-Kollegen wie Frank Plasberg sich Frotzeleien nicht verkneifen konnten und das ganze politisch korrekte Wirrwarr in einer Aussage von Annalena Baerbock (Grüne) gipfelte, die sich bei einem Besuch im Eifer vergenderte und vom „Bund der Steuer-Innen-Zahler“ sprach. Jetzt diese Überraschung nach der Winterpause: Anne will’s plötzlich anders - und gendert neu, nämlich normaler: Am Sonntag sprach sie von „Politikern und Politikerinnen“, von „Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen“. Ein Sieg für die Sprache. Wenn die Gender-Pause zu kurz gerät, kann der Eindruck entstehen, dass es sich um das generische Femininum handele, was Pusch in den 1980ern propagiert hatte (Alle Politikerinnen werden gewählt). In der feminisierten Form sei ja die maskuline enthalten, weshalb sie für beide stehen könne. Die Gesellschaft für deutsche Sprache kritisierte 2020: „Diese Lösung ist nicht geschlechtergerecht, denn hier wird das andere Geschlecht nicht explizit angesprochen, sondern ist nur ‚mitgemeint‘“ 87 . In der Linguistik ist speziell der Platzhalter sehr umstritten, weshalb darauf genauer eingegangen werden soll. Gisela Zifonun bringt die Problematik auf den Punkt: „Der Status des Gendersterns ist völlig ungeklärt. Handelt es sich um ein sprachliches Zeichen (also um ein Symbol), um den Teil eines sprachlichen Zeichens, um ein rein ‚gestisches‘ Zeichen, mit dem eine Haltung demonstriert werden soll, oder worum auch immer? “ 88 Es wurde vorgeschlagen, die Lücke und das Sternchen (_*) als Wortbildungsmorphem, analog zu -in, aufzufassen. Im Unterschied zu -in würden nicht nur weibliche, sondern auch andere mögliche Geschlechter gemeint. Allerdings fehlen hier die Suf- 87 GfdS-Leitlinien 2020, Abschnitt 4a) (https: / / gfds.de/ standpunkt-der-gfds-zueiner-geschlechtergerechten-sprache/ ; Zugriff am 30.05.2022). 88 Diskussion um Änderung des Statuts der DGfS 31.1.2021. <?page no="89"?> 88 fixmerkmale. So kann es nicht das Genus im Singular festlegen. Grammatisch falsche Formen, wie Bauer_*in oder Kolleg_*in würden entstehen. Kurzwörter, die auf -i enden, können solche Formen nicht bilden Ossi_*in oder Nazi_*in. Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) lehnt Platzhalter deshalb ab: Das Gendersternchen und ähnliche Formen sind weder konform mit den Regeln der deutschen Grammatik noch mit denen der Rechtschreibung. Man kann aber einwenden, dass sie noch nicht konform mit den Regeln sind. Einen Einwand von Peter Gallmann an die Verfasserin aufnehmend, muss eingeräumt werden, dass hier und in den meisten linguistischen kritischen Auseinandersetzungen mit der Genderproblematik vorrangig auf der Sachebene argumentiert wird. Mit dem 4-Ohren-Modell kann die Einbeziehung der Selbstoffenbarungs-, der Beziehungs- und Appellebene (siehe Kap. 2.1) zum Verständnis der Kommunizierenden beitragen. Mit einer Äußerung wird nicht nur über etwas kommuniziert, sondern auch vom Kommunizierenden etwas über sich offenbart, etwas über die Beziehung zum Empfänger ausgesagt und eine Kommunikationsabsicht aktikuliert. Wenn beispielsweise annonciert wird Gäste sind uns immer willkommen, ist offensichtlich, dass männliche, weibliche und diverse Gäste willkommen sind. Trotzdem kann das Beziehungswissen dazu führen, dass einzelne Angesprochene explizit mit dem unüblichen feminisierten Wort Gästin als Frau oder mit einer geschlechtsneutralen Personenbezeichnung (Personen, Eingeladene, Hungrige, Durstige- …) angesprochen werden, weil bekannt ist, dass dies ihnen aus speziellen Gründen wichtig ist. Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat aufgrund des kontroversen gesellschaftlichen Diskurses bisher noch keine Empfehlung <?page no="90"?> 89 für eine geschlechtergerechte Sprache gegeben und will die Entwicklung weiter beobachten. Er führte 2018 89 aus: [Es wird] wie bisher auch in Zukunft in unterschiedlichen Gruppen und Gemeinschaften unterschiedliche Schreibweisen zur Darstellung der unterschiedlichen Geschlechter geben. Diese müssen zur Kenntnis genommen und geprüft werden, sie können aber nicht jeweils für sich Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit für die geschriebene Sprache beanspruchen. Bereits 2018 hat der Rechtschreiberat jedoch allgemeine Kriterien für die geschlechtergerechte Schreibung definiert: Die so gestalteten Texte sollen • sachlich korrekt sein • verständlich und lesbar sein • vorlesbar sein (mit Blick auf die Altersentwicklung der Bevölkerung und die Tendenz in den Medien, Texte in vorlesbarer Form zur Verfügung zu stellen) • Rechtssicherheit und Eindeutigkeit gewährleisten • übertragbar sein im Hinblick auf deutschsprachige Länder mit mehreren Amts- und Minderheitensprachen • für die Lesenden bzw. Hörenden die Möglichkeit zur Konzentration auf die wesentlichen Sachverhalte und Kerninformationen sicherstellen • 2021 ist noch hinzugekommen: die Erlernbarkeit der Rechtschreibung. Abschließend soll in Form eines kleinen Exkurses, der zum Nachdenken anregen soll, auf die populäre Variante der Sapir-Whorf- Theorie eingegangen werden, die in der Auseinandersetzung eine wichtige Rolle spielt. Es handelt sich dabei um die Annahme, dass Sprache und allgemeine Funktionen des Denkens so eng zusam- 89 rechtschreibrat.com/ DOX/ rfdr_PM_2018-11-16_Geschlechtergerechte_Schrei bung.pdf; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="91"?> 90 menhängen würden, dass man mit grammatischen Normen das Denken verändern, mit Gendern zur Verbesserung der gesellschaftlichen Lage der Frauen gelangen könne. In den 30er und 40er Jahren des 20.-Jahrhunderts beschrieb der Amerikaner Whorf in einigen Aufsätzen in Anklang an die Relativitätstheorie von Einstein ein sprachliches Relativitätsprinzip, das den prägenden Einfluss des sprachlichen Hintergrunds eines Menschen auf seine Denkstrukturen postulierte. Er knüpfte dabei an Auffassungen seines Lehrers Sapir an, der eine Interdependenz zwischen Sprache und Kognition vermutete. Bereits Wilhelm von Humboldt hatte dies angenommen: „Die Sprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ist ihre Sprache; man kann sich beide nie identisch genug denken.“ Das Erlernen einer fremden Sprache ermöglicht laut dieser These einen Einblick in eine andere Weltansicht, und es ist in der Tat bis zu einen gewissen Grad so, „da jede Sprache das ganze Gewebe der Begriffe und die Vorstellungsweise eines Theils der Menschheit enthält.“ (Humboldt 1836: §-7) Dem Realismus steht die universalistische Sichtweise, wie sie Noam Chomsky und Steven Pinker vertreten, gegenüber, die den Sprecher: innen verschiedener Sprachen gleiche Denkmuster zugesteht. Sie nimmt keinen Einfluss der Verschiedenheit der Sprachen auf die Wahrnehmung der Welt an, sondern geht von einer Autonomie der sprachlichen Strukturen aus. Die Frage „Denken die Chinesen aufgrund ihres anderen Sprachsystems anders? “ beantworten die Universalisten mit „nein“, da die Verschiedenheit der Sprachen keinen Einfluss auf die Weltwahrnehmung habe. Der Philosoph Winfried Franzen (1995: 259 ff.) geht auf eine interessante Studie von Bloom ein, die sich damit befasste, dass das Chinesische keine gesonderten sprachlichen Mittel (weder lexikalische, noch grammatische oder intonationsmäßige) hat, um kontrafaktisch-irreales Sprechen zu markieren. Fast alle westlichen <?page no="92"?> 91 Sprachen können dagegen ohne Mühe irreale Konditionalsätze bilden (beispielsweise mit „würde“ oder „hätte“). Chinesen äußern deshalb, statt „Wenn ich gutes Wetter gehabt hätte, wäre ich pünktlich gewesen.“ eher so etwas wie „Ich habe kein gutes Wetter gehabt, und deshalb bin ich nicht pünktlich gewesen.“ Ein Versuch mit amerikanischen und chinesischen Versuchspersonen zu der folgenden speziellen Situation ergab deutliche Unterschiede: Man zeigte den Probanden einen grünen Tisch und stellte dazu die Frage; „Wenn alle Stühle rot wären und dieser Tisch ein Stuhl, wäre er dann rot? “ Die meisten Amerikaner antworteten mit Ja, die meisten Chinesen mit Nein. Obwohl kontrafaktisches Interpretieren im Chinesischen seltener Verwendung findet, kann man, so das Fazit von Franzen, Chinesen nicht absprechen, dass sie zu kontrafaktischem Denken und Sprechen in der Lage sind. Wenn sie es möchten, ermöglicht dies auch das Chinesische. Mit der Publikation des Linguisten Guy Deutscher „Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht“ (2010) nahm die alte Diskussion, ob die Muttersprache Einfluss auf die Wahrnehmung der Farben habe, wieder Fahrt auf, ohne zu einer allgemein akzeptierten Antwort zu kommen. Der Ethnologe und Missionar Daniel Everett landete mit seinem Buch „Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Pirah--Indianern am Amazonas“ zur etwa gleichen Zeit wie Deutscher einen internationalen Bestseller. Seine Ausführungen über die sprachlichen Struktureinschränkungen gerieten jedoch bald in die Kritik, da sie zahlreiche Ungenauigkeiten enthielten und das Daten- und Beispielmaterial dünn ist. So behauptete er: Weil im Leben der Regenwaldbewohner nur das Erfahren des Augenblicks relevant sei, fehlten in ihrer Sprache die Nebensätze. Die Aussagen „Der Mann sitzt im Kanu“ und „Er fängt Fische“ würden in der Sprache der Pirah- nie zu einem Satzkonstrukt wie „Der Mann, der im Kanu sitzt, <?page no="93"?> 92 fängt Fische“ verbunden werden. Diese Behauptung verknüpfte er, auch in „Die größte Erfindung der Menschheit“ (2013), mit einer Fundamentalkritik an der Universalgrammatik von Chomsky, der die Fähigkeit komplexe Satzstrukturen bilden zu können, als ein Merkmal der natürlichen Sprachen beschrieben hat. Der Berliner Linguist Uli Sauerland 90 besuchte die Pirah- für einige Tage und machte Ton- und Videoaufnahmen. Seine Datenauswertung ergab, dass die Pirah- doch eher Nebensätze haben. Auch andere Forscher zweifeln Evretts Analysen an 91 : „Pirah- doesn’t seem to lack recursion“. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der These der sprachlichen Relativität hakt sich zum einen an den empirischen Überprüfungen der vorgebrachten Beispiele fest und leidet zum anderen an der Vereinnahmung der These für ideologisch-politische Anliegen. 5.3 Wortbildungswandel - von Kurz- und Bandwurmwörtern Wortschöpfungen, d.- h. die konventionalisierten arbiträren Zuordnungen völlig neuer Lautformen zu speziellen Bedeutungen, kommen nur noch sehr selten vor. Man kann sie eventuell in Werbetexten (Kelts für eine Biermarke) oder literarischen Werken (das Urmel in einem Kinderbuch) finden. 90 False Speech Reports in Pirah-: -A Comprehension Experiment. In: Recursion across Domains (2018) (https: / / doi.org/ 10.1017/ 9781108290708.003), S.-21-34. 91 https: / / home.uni-leipzig.de/ heck/ recursion08/ niiranen.pdf; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="94"?> 93 Neue Wörter entstehen durch Wortbildung, Ableitungen aus vorhandenen Wörtern oder die feste Verknüpfung vorhandener Wörter bzw. von Wortbausteinen (Morphemen). So führte die „Wortwarte.org“, die neue Wörter sammelt und kommentiert, am 22.03.2012 u.-a. folgende neue Wörter auf: • schlumpfig („schlumpfiges Grinsen bei Scholz“) • Terminshopping • Click&Meet, Click&Collect Schlumpfig wurde von dem Substantiv Schlumpf mit dem Suffix -ig abgeleitet, die anderen Wortbildungen sind Kompositionen aus bereits bestehenden Wörtern. Terminshopping ist ein Determinativkompositum, der häufigste Wortbildungstyp im aktuellen Deutschen. Die anderen beiden sind Kopulakomposita, die hier auch eine neuartige Verbindung der beiden Bestandteile aufweisen, ein Kaufmannsund (&). Sie sind in gewisser Weise typisch, da sie Anglizismen verwenden. Wortbildungswandel (Scherer 2005) soll hier analog zur Sprachwandelforschung als „synchrone Variation“ (Lehmann 2013) betrachtet werden. Ihn zu charakterisieren, führt zur Problematik der Produktivitätsverschiebungen und Grammatikalisierungen. Wortbildungswandel zeigt sich darin, dass es zu Verschiebungen in der Produktivität kommt. Wortbildungsmodelle können im Verlauf der Zeit ihre Produktivität verlieren, wie das Aussterben der -t-Suffigierung (fahren > die Fahrt). Andere mit ihnen konkurrierende Modelle werden ihnen überlegen und verdrängen sie. So sind in der jüngeren Vergangenheit beispielsweise die Suffixe -i/ -y/ -ie hinzugekommen, um Substantive abzuleiten (Glück/ Sauer 2017: Kap. 6.1): Hirni, Dummi, Profi; Handy, Hobby, Derby; Selfie, Veggie). Grammatikalisierung, die oben (Kap. 5.1) schon angesprochen wurde, ist ein Sprachwandelprozess, bei dem auch aus einem Wort ein abhängiges Wortbildungsmorphem wird. So können aus indi- <?page no="95"?> 94 genen und entlehnten Wörtern Wortbildungsmorpheme werden (Konfixe, Affixoide): So hat sich aus dem Adjektiv arm ein Affixoid entwickelt (gefühls-, kalorien-, baum-, bügel- und pflegearm). Aus biologisch wurde das Affixoid bio- (Biogemüse, bioaktiv) aus ökologisch öko- (Ökopartei, ökoeffizient), aus das Zeug das Affix -zeug (‚abstrahierend Gesamtheit‘) Nachtzeug, Schreibzeug, Sportzeug; aus das Watergate -gate (‚verstärkend, sehr großer Skandal‘) Dieselgate, Ibizagate, Rezogate. Interessant ist, dass es bei den Wortbildungsmitteln, die eine Verstärkung ausdrücken (Augmentativa), durch Komposition und Derivation, zu bestimmten Zeiten Vorlieben gibt, die nach einiger Zeit durch andere ausdrucksstarke Komponenten abgelöst werden. Das Deutsche hat deshalb besonders in der Umgangssprache viele Erstglieder für die Funktion der Intensivierung entwickelt (stock-, blitz-, voll-, Bomben-, Mords-, Riesenetc.). Da sich die Ausdrucksstärke der Intensivierer durch häufigen Gebrauch abnutzt, gelangen neuere Verstärkungselemente aus Jugend- und Werbesprache in die Alltagssprache, wie bei best (bestgehasst, Bestseller, Best- Price-Funktion, Best Ager), hot (Hotpants, Hotspotregion), hyper (Hyperakustiker, Hyperpolitisierung, hyperregional). Wie man bei dem aus der Werbesprache kommenden bestsehen kann, gibt es bei der Weiterverbreitung orthografische Zweifelsfälle, Unsicherheiten. Obwohl im Deutschen zusammengesetzte Wörter zusammengeschrieben werden, wurde der Best Ager wie auch Hot Dog neben Hotdog im Duden als getrennt geschriebenes maskulines Substantiv aufgenommen, da der grammatische Status des Adjektivs unklar sei. Auch bei dem Intensivierer ultra, der auch in der gehobeneren Presse benutzt wird, gibt es orthografischen Zweifel: <?page no="96"?> 95 Schweizer Stimmbürger stimmen ultra-knapp für neue Kampfjets 92 sehen die Experten für 2021 einen Tiefkühl- und Ultrakalt-Trend an. 93 Insbesondere ultra knappe Badehosen sind bei Herren-… 94 Auch hier beruht die orthografische Unsicherheit auf der grammatischen Unsicherheit. Ist „ultra“ eine Partikel, ein nicht flektierbares Adjektiv, ein Konfix oder ein Präfix? Ähnlich wie bei Modewörtern werden diese Mode-Wortbildungselemente von Stilkritikern abgelehnt. „Vieles verrät auch eine fortschreitende Infantilisierung des Sprechens in Richtung ‚prasseldumm‘, da nähert sich das ‚affengeile‘ Frischebad der puren ‚Top‘- und ‚Hot‘-Verblödung.“ 95 In der Gegenwart und Vergangenheit gab es immer wieder bei den „Medienmenschen“ Kritik an einzelnen Wortbildungsmodellen, so beispielsweise an dem Präfix be- oder dem Suffix -mäßig. Auch wird seit Jahrzenten die Tendenz zu Kurzwörtern beklagt. Vermehrt treten Kurzwörter gegen Ende des 19. und im Verlauf des 20.- Jahrhunderts auf, da sie sich als für die schriftliche und mündliche Kommunikation nützliches ökonomisches Mittel erwiesen haben. Auch erleichtern sie in der öffentlichen Kommunikation das Vermitteln von fachsprachlichen Begriffen. Bei vielen aus Fachsprachen stammenden Kurzwörtern ist die Ausgangslangform für die Kürzung allgemein gar nicht bekannt, wie bei Laser für „light amplification by stimulated emission of radiation“. Diese fachsprachlichen Kurzwörter gestalten die Kommunikation unter Fachleuten effektiv. Sie ermöglichen auch Laien über die bezeichneten Dinge und Sachverhalte zu kommunizieren. Kurzwörter 92 https: / / www.finanznachrichten.de/ nachrichten-2020-09/ 50806585-schweizerstimmbuerger-stimmen-ultra-knapp-fuer-neue-kampfjets-095.htm; Zugriff am 31.05.2022. 93 https: / / logistik-heute.de/ news/ prognose-2021-wird-das-jahr-der-impfstoff-ku ehlketten-32298.html; Zugriff am 30.05.2022. 94 https: / / www.easyfunshop.net/ Beachwear-Shop; Zugriff am 30.05.2022. 95 Schreiber, Mathias (2006): Deutsch for sale. In: Der Spiegel 40, S.-182ff. <?page no="97"?> 96 in Komposita sind sehr häufig (Laserdrucker). Die gegenläufige Tendenz zur Bildung von langen Komposita führt gleichzeitig auch zum Anwachsen der Kurzwörter, weil die „Bandwortkomposita“ sehr unpraktisch in der Kommunikation sind und bürokratisch wirken. Die Kurzwörter ersparen dagegen Zeit und Platz. Wie gegen die Kurzwörter gibt es auch kritische Meldungen gegen Bandwurmwörter: „Kampf den Bandwurmwörtern! “ 96 In der Sprache der Politik werden gern Wörter wie Wachstumsbeschleunigungsgesetz, Konjunkturbeschleunigungsprogramm, Erneuerbare-Energien- Gesetz oder Treibhausgasneutralität geschaffen bzw. verwendet, um im Wort genau anzugeben, was der Inhalt ist. Letzteres wird in der Politik oft durch den kürzeren Ausdruck Klimaneutralität ersetzt, obwohl keine völlige Inhaltsgleichheit besteht. Das „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ wurde in der Presse vor allem als „Mövenpick-Gesetz“ bezeichnet, da es eine Umsatzsteuersenkung für die Hotelbranche enthielt. „Das Konjunkturbeschleunigungsprogramm“ wurde in den Medien nur als das „Konjunkturpaket“ besprochen, „das Erneuerbare-Energien-Gesetz“ vor allem über das Kurzwort „EEG“. Die Beispiele zeigen, dass solche überdidaktisierte Wortkonstruktionen nicht den intendierten aufklärerischen Effekt haben, da sie von der Kommunikationsgemeinschaft abgewandelt werden. Kurzwörter können auch zur Verschleierung verwendet werden wie bei Z-Wort, Z-Sauce, wo das gebundene Buchstabenkurzwort Z für das Wort Zigeuner steht, das als politisch inkorrekt gilt. Oder bei KiPo (für Kinderpornografie) in KiPo-Material oder KiPo- Plattform hochgenommen 97 , das einen kriminellen Missbrauchstatbestand bezeichnet. 96 https: / / www.sekretaria.de/ bueroorganisation/ korrespondenz/ geschaeftsbriefe/ kampf-den-bandwurmwoertern/ ; Zugriff am 30.05.2022. 97 https: / / gsa-forum.de/ viewtopic.php? t=617; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="98"?> 97 Es entwickelte sich auch Streit um einzelne Kurzwörter wie zu Nafri, einem Kurzwort für „nordafrikanischer Intensivtäter“ aus dem Sprachgebrauch der Polizei stammend, ähnlich zu Limos für „linksmotivierte Straftäter“. Beklagt wurde, dass Nafri mit negativen Konnotationen verbunden sei, gar die Wortverwender rassistisch seien. Dies ist deshalb falsch, weil Intensivtäter sein, nun mal zu Recht als etwas Ablehnenswertes angesehen wird. Eine rassistische Verwendung würde vorliegen, wenn alle Nordafrikaner als Nafris bezeichnet würden. 5.4 Ob Denglisch kreativ ist Das Deutsche, wie andere Sprachen, erweitert seinen Wortschatz auch durch die Aufnahme von Wörtern und Wendungen aus anderen Sprachen. Schon am Anfang der Herausbildung der deutschen Sprache im frühen Mittelalter gab es eine ‚Christianisierung‘ des Wortschatzes, die u.-a. durch Entlehnungen aus dem Lateinischen und die lateinische Schriftkultur in den Klöstern sichtbar wurde. Auch in der Folgezeit reicherte sich der deutsche Wortschatz mit Übernahmen aus anderen Sprachen an. Aus dem Französischen stamme etliche Wörter, die heute in der Alltagsprache verwendet werden, beispielsweise Dekoration, Hotel oder Passage. Aktuell sind es vor allem Entlehnungen aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum. Fremdwortpurismus spielt in dem Diskurs der Intellektuellen nicht erst seit heute in Deutschland eine wichtige Rolle. Welche Motive spielen bei der Fremdwortablehnung eine Rolle? • Fremdwörter seien in der Struktur der deutschen Sprache unpassend, da sie vielfach andere Laute, Betonungen und Flexionsformen als deutsche Wörter haben und so die Systematik zerstören und zu Mischformen führen. <?page no="99"?> 98 • Fremdwörter werden als Bedrohung für die deutsche Identität und das deutsche Verhalten angesehen, da sie fremde Begriffswelten einbringen und so die Denkweise der Sprachgemeinschaft verfälscht werde. Sie würden oft aus Bequemlichkeit und der Liebe zur Nachahmung von Fremden verwendet und so die Kreativität beeinträchtigen. • Fremdwörter werden aus ästhetischem und stilistischem Blickwinkel abgelehnt. Die deutsche Sprache verliere durch die vielen Entlehnungen ihre Schönheit. „Das Fremdwort-Imponiergehabe“ erschwere die zwischenmenschliche Kommunikation besonders die zwischen den gebildeten und den bildungsfernen Menschen und bilde somit eine Sprachbarriere. • Fremdwörter werden aus ethischen Motiven abgelehnt. Mit ihrem Gebrauch könne manipuliert und die Wahrheit verdeckt werden. Deshalb wurde Kollateralschaden (< engl. collateral damage ‚Randschaden‘) zum Unwort des Jahres 1999 gewählt, weil mit seiner imponierenden Schwerverständlichkeit vom schlimmen Inhalt dieser Benennung abgelenkt und Kriegsverbrechen verharmlost werden. 98 Oft liegt den Motiven die Angst vor einer Überfremdung der deutschen Sprache zugrunde und die Befürchtung, dass sie ihren eigenständigen Charakter verlieren könnte. Beispielsweise äußerte der „Digitale Mittelstand“: Ein Graben zieht sich durch Deutschland: Für die einen sind Anglizismen eine unnötige Verschandelung der deutschen Sprache, für die anderen eine sinnvolle Erweiterung des Wortschatzes. 99 Da der Anteil der Fremdwörter nur bei ca. 5-% liegt, ist aktuell keine Überfremdung der deutschen Sprache zu befürchten. Eine „Angli- 98 https: / / idw-online.de/ en/ news17376; Zugriff am 30.05.2022. 99 https: / / digitaler-mittelstand.de/ trends/ ratgeber/ anglizismen-in-der-werbungbrauchen-sie-denglisch-16150; Zugriff am 04.08.2021. <?page no="100"?> 99 zismenschwemme“ ist nur in Teilbereichen der Alltagssprache feststellbar, in den Gebieten Sport, Mode, Populärmusik, Jugend und Werbung. Speziell in der Werbesprache kommen überproportional viele Anglizismen zum Einsatz. Dies wird von den Werbeagenturen damit begründet, dass Anglizismen die Möglichkeit geben, Produkte global zu vermarkten, dem Unternehmen ein modernes Image verleihen und Wortlücken ausfüllen. Dass diese Erwartungen sich nicht immer erfüllen, hat das bekannte Negativbeispiel des Werbeslogans von Douglas „Come in und find out“ gezeigt. Der von den Käufer: innen mit „Kommen Sie rein und finden Sie wieder raus“ fehlübersetzt wurde. Bei Renaults Spruch „Drive the change“ verwechseln laut einer Endmark-Studie die meisten Befragten „change“ mit „Chance“ und verstehen den Slogan nicht im Sinne des Absenders. Lustig sind auch Missgriffe bei der Wahl von Autonamen 100 . So wollte Rolls-Royce 1965 eine Luxuslimousine „Silver Mist“ (Silberner Nebel) benennen. Gerade rechtzeitig fiel ihnen dann noch ein, dass Deutsche damit an „Mist“ denken könnten. Im Zuge der Globalisierung kommt es im Bereich des Studiums immer mehr zu einer Anglisierung. Beispielsweise wurde das Bachelor-/ Master-Studiengangsmodell eingeführt. Die Studiengangsbezeichnungen werden gern anglisiert, wie E-Commerce, Digital Retail Management, Digital Transformation Management oder Public Management 101 . Die vorher gängigen Diplomabschlüsse sind nach der Bologna-Reform 1999 stark zurück gegangen. Abschlussarbeiten werden statt Diplomarbeit nun zunehmend mit Thesis bezeichnet. In Publikationen für Student: innen (wie „audimax“), die an allen Hochschulen ausliegen, sind Beiträge mit News, Visions for tomorrow, Traineeprogramme und Frauen-Mint-Award (1-2020: 03) überschrieben, wobei Letzteres eine Mischung aus 100 https: / / www.auto.de/ magazin/ misslungene-autonamen-von-indianern-dikta toren-und-einem-haufen-mist/ ; Zugriff am 30.05.2022. 101 https: / / www.das-richtige-studieren.de/ studiengaenge/ ; Zugriff am 11.07.2021. <?page no="101"?> 100 Deutsch und Englisch ist. Der Preis wurde von der Telekom AG finanziert. Das Telekom-Denglisch ist schon häufig ins Blickfeld von ‚Sprachschützern‘ geraten. Walter Krämer, der Vorsitzende des Vereins Deutsche Sprache, 102 kritisierte in einem offenen Brief, „die Übermacht“ an englischen Bezeichnungen bei den Produkten der Telekom AG (Call & Surf Comfort, Free Call International Advanced, Business National Flat, Desktop Solutions): „Als deutschsprachiger Kunde einer deutschen Firma fühle ich mich von diesem Angebot auf den Arm genommen“. Obermann, der damalige Telekom-Chef, versprach „den Ausbau des deutschen Wortschatzes im Telefongeschäft zu fördern und auf ‚Imponier-Anglizismen‘ zu verzichten“. M.- E. hat sich jedoch wenig geändert. Aktuell wirbt man mit „MagentaEINS Unlimited- ab 85 €/ Monat“ 103 oder mit „eine Lanze für den Door-2-Door-Vertrieb“ 104 . Abb. 16: DB Reis eZ entrum in Trier 102 https: / / www.augsburger-allgemeine.de/ panorama/ Sprachpanscher-Telekom- Chef-Obermann-im-Visier-der-Sprachschuetzer-id8155381.html; Zugriff am 30.05.2022. 103 http s : / / w w w.telekom.d e/ magent a-eins ? Ac tiveTabID=fe stnetz-kun de&wt_cc7=e_magentaeins+unlimited&wt_mc=sk_m1m1m1ul_4_komei_399373475_1170980640546047_73186492297087; Zugriff 30.05.2022. 104 www.teltarif.de/ telekom-s er vice-werbekampagne-wir-sind-wie-ihr/ news/ 84403.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="102"?> 101 Anders bei der Deutschen Bahn AG. Nachdem ab Dezember 1994 der Informationsschalter an großen Bahnhöfen in Service Point umbenannt worden war, gab es viel Kritik daran. Im Juni 2011 wurde der Service Point in DB Information umbenannt. Auch zogen wieder Kundenzentren in die Bahnhöfe ein, wie obige Abbildung von 2020 zeigt. Allerdings wollte man offenbar etwas expressiv sein, weshalb man eine orthografisch abweichende Benennung wählte (ReiseZentrum anstelle der normgerechten Schreibung Reisezentrum). Diese Umbenennung ist konkret, laut Wikipedia 105 , auf eine Beschwerde des CSU-Bundestagsabgeordneten Hinsken über die Bezeichnung „Kiss&Ride“ für eine durch die Deutsche Bahn neuangelegte Kurzzeitparkzone am Bahnhof der niederbayerischen Stadt Straubing zurückzuführen. Daraufhin verstärkte sich die Diskussion über die Verwendung von Anglizismen im öffentlichen Leben und insbesondere im Bereich der Deutschen Bahn. Als Reaktion auf die Beschwerde Hinskens versprach ihm der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn, Grube, dass die Deutsche Bahn zukünftig weniger Anglizismen verwenden wolle. 106 Die „Bild“ vermeldete am 17. Februar 2010: Schluss mit dem Kauderwelsch! Die Bahn verbannt das Denglisch (Mischung aus Deutsch und Englisch) aufs Abstellgleis: „Flyer“ sollen wieder Handzettel, „Hotlines“ von nun an Service-Nummern heißen. Denn: Wer heute mit der Bahn verreist, muss entweder des Englischen mächtig sein - oder einen eigenen Übersetzer dabei haben. Informationen bekommt man am „Service Point“, die „Tickets“ gibt’s beim Bahn-Personal am „Counter“. Und wer es gern sportlich mag, kann sich am Zielort auch noch ein Fahrrad mieten. „Call a bike“ heißt dieses Angebot. 105 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ DB_Information; Zugriff am 05.05.2021. 106 https: / / www.spiegel.de/ reise/ aktuell/ schalter-statt-counter-deutsche-bahnwill-anglizismen-abschaffen-a-678248.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="103"?> 102 Ein Bahnsprecher machte aber deutlich, dass eingebürgerte Bezeichnungen englischer Herkunft auch in Zukunft bleiben sollen: Beispielsweise werde die viel genutzte Bahncard auch in Zukunft ihren Namen behalten, ebenso die Intercity-Züge. Auch „Call a bike“ sei eine solche Ausnahme, werde jedoch mit dem Zusatz „das Mietrad-Angebot der Deutschen Bahn“ ergänzt. Daneben werde es wegen der vielen Fahrgäste aus anderen Ländern in Fernverkehrszügen auch weiterhin Durchsagen auf Englisch geben. 107 Besonders die Durchsagen auf Englisch waren Gegenstand vieler Witze, da sie häufig in keiner akkuraten Aussprache erfolgten. Generell werden öffentliche Personen mit schlechter englischer Aussprache in den Medien und von manchen Akademiker: innen mit Spott und Häme bedacht. Die Bezeichnung Service Point hat sich auf Dienstleistungsbereiche aller Art ausgebreitet und Schreibvarianten sind entstanden (Servicepoint, Service-Point). An der Universität Jena existiert zwar ein „Studierenden-Service-Zentrum“, jedoch das „Career Service“ mit „Career Point“ irritiert die „JenAlumni“ vielleicht etwas. Abb. 17: S er vice Point in S er vicecenter umbenannt 107 https: / / www.haz.de/ Nachrichten/ Wirtschaft/ Deutschland-Welt/ Deutsche- Bahn-will-weniger-Anglizismen-benutzen; Zugriff am 05.05.2021. <?page no="104"?> 103 Ein anderer Bereich, in dem Anglizismen zunehmend Verwendung finden, ist die Wissenschaftssprache, wo Deutsch im Verschwinden begriffen ist. Der Wissenschaftler Ulrich Ammon, der sich mit dieser Problematik besonders befasst hat, überschrieb 2012 einen Aufsatz mit dem Titel „Die Nischenfächer für Deutsch als internationale Wissenschaftssprache und die Zukunftsperspektiven“ und kam zu dem Resümee, dass nur in der Germanistik die Stellung von Deutsch als internationale Wissenschaftssprache unerschütterlich sei. Heute trifft das zumindest für die germanistische Sprachwissenschaft nicht mehr zu. Auf der Jahrestagung der „Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft“ 2021 wurden beispielsweise die meisten Vorträge in Englisch gehalten, obwohl die Teilnehmenden in der großen Mehrzahl deutsche Muttersprachler: innen waren. Mit dem abwertenden Kofferwort Denglisch (aus Deutsch und Englisch zusammengesetzt) bezeichnen Sprachkritiker: innen eine „Mischung aus Deutsch und Englisch“ 108 (wie gecancelter Flug) oder wie erweitert definiert wird: Es gibt Englisch, es gibt Deutsch, und es gibt Denglisch. Denglisch ist, wenn ein Deutscher versucht, Englisch zu sprechen und dabei etwas zu direkt aus dem Deutschen übersetzt. Und manche deutschen umgekehrt auch englische Wörter ein, damit sie cooler rüberkommen. 109 Mit besonderer Kritik werden „Scheinentlehnungen“ bedacht. Scheinanglizismen lehnen sich in der Lautung und Form an das Englische an. Sie haben im Englischen aber eine andere Bedeutung oder sind dort unbekannt, was zu Kommunikationsstörungen mit Muttersprachlern führen kann. So wird Handy im Englischen nicht 108 https: / / www.duden.de/ rechtschreibung/ Denglisch; Zugriff am 23.03.2021. 109 https: / / www.welt.de/ kmpkt/ article17 1700178/ That-is-me-sausage-Deng lisch-fuer-Anfaenger-und-Fortgeschrittene-in-14-Memes.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="105"?> 104 für ein Mobiltelefon verwendet, sondern dort ist Cell Phone (amerikanisches Englisch) oder Mobile Phone (britisches Englisch) üblich. Allerdings wurden und werden auch mit Elementen anderer Sprachen neue deutsche Wörter geschaffen. So existieren Telefon und Telegramm nicht im Griechischen, sind aber mit griechischen Elementen gebildet. Besonders in den Wissenschaftssprachen sind in der Vergangenheit viele Wörter mit altgriechischen bzw. lateinischen Elementen entstanden, da sie lange Zeit Träger der „Hochkultur“ waren. Heute sind das antike Latein und das Altgriechische „tote“ Sprachen. Andere lehnen die Bezeichnung „Denglisch“ ab: Die Sprachwissenschaft sieht hierin jedoch einen Beweis für die fortwährende Lebenskraft der deutschen grammatikalischen Strukturen: Die englischen Elemente werden nicht einfach mit der englischen Flexion übernommen - was im Deutschen in der Tat ungrammatisch wäre -, sondern formal korrekt an die Gegebenheiten der deutschen Sprache angepasst. Ungewohnt ist hier allein die Tatsache, dass auch Adjektive und Verben entlehnt werden, während sich die sprachliche Entlehnung sonst fast ausschließlich auf Substantive beschränkt, die ihrerseits ebenfalls in das deutsche Flexionssystem eingegliedert werden müssen, vgl. die/ das E-Mail, die E-Mails; der Server, die Server. 110 Orthografische „Fremdheit“ erwecken aktuelle, schwankende Schreibungen, wie Zero Covid vs. null Covid 111 oder Zerocovid Aktionstag 112 vs. „Zero Covid“-Aktionstag 113 vs. Zero-Covid-Aktionstag 114 . 110 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Denglisch; Zugriff am 23.03.2021. 111 https: / / www.fr.de/ rhein-main/ wette-auf-null-covid-in-neu-isen burg- 90463578.html; Zugriff am 30.05.2022. 112 https: / / zero-covid.org/ ; Zugriff am 04.04.2021. 113 https: / / www.nrz.de/ staedte/ essen/ zero-covid-aktionstag-kundgebung-auchin-der-essener-city-id231978771.html; Zugriff am 30.05.2022. 114 https: / / www.wz.de/ nrw/ duesseldorf/ silva-fedler-zum-zero-covid-aktionstagin-duesseldorf_aid-57278403; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="106"?> 105 Sie belegen, dass es auch Probleme mit der Bildung und Schreibung von Entlehnungen in der Publizistik gibt. In der Fähigkeit Sprachimporte vorzunehmen und diese der deutschen Sprache anzupassen, wird die Lebendigkeit und Kreativität der Sprachen sichtbar. <?page no="108"?> 107 6 Pragmatischer Wandel 6.1 Charakterisierung Pragmatische Fähigkeiten ermöglichen es, Kommunikation durch die Wahl von kontextuell und situativ angemessenen sprachlichen Mitteln erfolgreich zu gestalten. Man lernt mit der Sprache, welche Äußerungen wo und wann getätigt werden dürfen, welche Wirkungen mit spezifischen Mitteln erzielt werden können, wer mit wem worüber sprechen darf. Diese Kommunikationskompetenz zu erwerben ist ein lebenslanger Lernprozess, auch weil sich die pragmatischen Regeln mit gesellschaftlichen Veränderungen wandeln. Sprachliche Ausdrücke werden mit Überzeugungen, Absichten und Wünschen in speziellen Situationen im Anschluss an schon Erfahrenes geäußert und verstanden. Mit dieser Kontextabhängigkeit sprachlicher Äußerungen beschäftigt sich die Pragmatik. Wenn beispielsweise in einer Zeitung am 19. März 2021 in einer Artikelüberschrift formuliert wird „Das Parteiprogramm der Grünen ist eine Kampfansage an Schwarz-Grün“ 115 , stellt sich u.-a. die Frage, nach welchem Bewertungsmaßstab der Verfasser zu dieser Meinung kommt. Partiell bekommt man über das Lesen des gesamten Artikels eine Antwort. Ergänzend kann die Kenntnis über die politische Einordnung der Zeitung und des Schreibenden eine Hilfe sein. Pragmatische Konventionen ermöglichen es, soziale Beziehungen situations- und funktional angemessen zu gestalten. So existieren Regeln zur Kommunikation, da es aufgrund unterschiedlicher 115 https: / / www.focus.de/ politik/ deutschland/ habeck-und-baerbock-stellen-ent wurf-vor-der-naechste-streich-gruenen-spitze-praesentiert-programment wurf_id_13103731.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="109"?> 108 Absichten und Erfahrungshorizonte sonst leicht zu Kommunikationsstörungen kommen kann. Beispielsweise gibt es die Kommunikationsregel „Wer eine These (Behauptung) aufstellt, muss diese irgendwie begründen.“ Wenn die Begründung auch auf Nachfrage nicht erfolgt, wird dies als unangemessen wahrgenommen. Eine andere pragmatische Konvention für eine respektvolle Kommunikation im elektronischen Schriftverkehr hat sich in letzter Zeit offenbar verändert: In der „Süddeutschen Zeitung“ wurde 2017 unter der Überschrift „Wenn Mails ohne Antwort bleiben“ beklagt: 116 Mit der Netiquette geht’s bergab: Die meisten Mails, die unsere Autorin verschickt, bleiben inzwischen ohne Reaktion. […] Es geht […] um jene fast vergessene Netiquette-Regel, nach der beispielsweise in den USA eine Email innerhalb von drei Stunden zu beantworten sei. […] In Deutschland war man nicht ganz so streng, aber auch hier hatte es sich eingebürgert, auf eine Mail innerhalb von etwa 24 Stunden zu reagieren. Vielleicht auch mal 48 oder 72, aber nicht viel mehr. Wer länger brauchte, beging einen digitalen Fauxpas. Sprachverwendungsmuster, das Handeln mit Sprache, verändern sich auch, wie oben geschildert. Ein anderes Beispiel dafür ist das Anredeverhalten. Die frühere Ständegesellschaft spiegelte sich in hierarchischen Anrederegeln wieder. Kurialien (Titel, Anredeformen und formelle Schlusssätze) existierten bis in das 19.- Jahrhundert für die Höfe und ihre Behörden. Beispielsweise galt für Fürsten als Minmalstufe die Anrede Hochgeborener Fürst, Bürgerliche nahmen für ihn die Anrede Hochgeborener Freiherr. Nach der Abschaffung der Monarchie in Deutschland (1918) wurden die Adelstitel teilweise Bestandteil des Familiennamens, wie Georg Friedrich Prinz von Preußen, in adligen Kreisen heute noch Seine Königliche Hoheit der Prinz von Preußen. In Österreich dagegen 116 https: / / sz-magazin.sueddeutsche.de/ gesellschaft-leben/ wenn-mails-ohne-ant wort-bleiben-83962; Zugriff 01.04.2021. <?page no="110"?> 109 wurde mit dem Adelsaufhebungsgesetz von 1919 die Führung von Adelsbezeichnungen unter Strafe gestellt. Auch die abschließende Grußformel „untertänigste Grüße“ wird heute nicht mehr verwendet. Untertänig zu sein, wird heute abgelehnt. Auch die bis ins 20.-Jahrhundert übliche Grußformel „Mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung“ oder auch nur „Hochachtungsvoll“ werden selbst im Schriftverkehr mit Behörden kaum noch verwendet. „Freundliche Grüße“ gelten als unpersönlicher Standardgruß. Kinder durften bis weit in das 18.-Jahrhundert hinein ihre Eltern nicht duzen. Friedrich Schiller schrieb 1782 (19.11): Beste Eltern! Da ich gegenwärtig zu Mannheim bin, und in fünf Tagen auf Immer weggehe, so wollte ich mir und Ihnen noch das Vergnügen bereiten, uns zu sprechen. Während beginnend im 17.-Jahrhundert Personen, die einem persönlich nicht bekannt waren, generell mit Sie angesprochen wurden, ist das heute nicht mehr so. In den meisten Internetforen etc. sprechen sich alle mit du an. Die Sie-Anrede wird dort als eine Distanzierung angesehen. Im Standarddeutsch kann man mit Sie eine verbale Distanz in der Kommunikation halten. Es steht aber auch für gegenseitigen Respekt und Höflichkeit. „Höflichkeitskompetenz“ beinhaltet, situationsgerechte und angemessene Höflichkeitsstrategien zu wählen sowie das Höflichkeitsverhalten der Anderen zu deuten. Wichtig für kommunikative Höflichkeit ist, dass die gegenseitige Anerkennung deutlich wird, was einschließt, dass Norm-Abweichungen des Anderen respektiert werden. Auch wenn man das Verschleiern von Frauen ablehnt, wäre es unhöflich, dies gegenüber einer verschleierten Gesprächsteilnehmerin ungefragt zum Ausdruck zu bringen. Pragmatischer Wandel steht in Verbindung zum gesellschaftlichen Wertewandel. Laut einer Studie der Bundeszentrale für poli- <?page no="111"?> 110 tische Bildung hat sich in den entwickelten liberalen Gesellschaften ein einschneidender Wertewandel vollzogen. „Statt Vermögen und Besitztum stehen Selbstverwirklichung und Kommunikation im Vordergrund. Mit dem Wertewandel lässt sich auch die zu beobachtende Individualisierung sowie die Pluralisierung von sozialen Milieus und Lebensstilen erklären.“ 117 So wird vielfältig Kritik am kommunikativen Handeln im Internet geübt, da es die Kommunikationsgewohnheiten verändert habe. Es wird Sorge bezüglich der Schreibkompetenz der Heranwachsenden geäußert. „In vielen Medienberichten werden die Auswirkungen, die das digitale Schreiben und die permanente Nutzung des Smartphones auf unseren Alltag haben, thematisiert.“ (Dürscheid/ Frick 2016: Vorwort). Auf diese Problematik wird im nächsten Kapitel eingegangen. 6.2 Ob Lockerdeutsch die Internet- und Handykommunikation prägt Unter der Überschrift „Verroht die Sprache im Internet? ging die „Frankfurter Rundschau“ 2016 der Frage nach, inwiefern soziale Netzwerke und das Internet die Sprache verändern. Besonders wurden jedoch unter Bezug auf „Sprachforscher“ positive Aspekte der Entwicklung hervorgehoben. Speziell: „Die Sprache verroht dadurch nicht wirklich, sie differenziert sich nur mehr aus: Es geht darum, den Stil für seine Community zu finden.“ 118 Der damalige Vorsitzende des Rechtschreiberats Hans Zehetmair kritisierte dagegen bereits 2012: „Das Deutsche verarmt in den neuen Medien 117 https: / / www.bpb.de/ Wertewandel.html; Zugriff am 31.05.2012. 118 https: / / www.fr.de/ kultur/ verroht-sprache-internet-11073564.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="112"?> 111 zu einer ‚Recycling-Sprache‘, wird immer mehr verkürzt und vereinfacht und ohne Kreativität wiedergekäut.“ 119 Die interessanteste Frage ist, ob das informelle Schreiben im Internet und die handyvermittelte Kommunikation mit SMS, WhatsApp & Co. auf die offizielle Konversation in der Schule oder dem Arbeitsplatz abfärbt, die deutsche Sprache bedroht, wie manche meinen. Der Journalist Zimmer hatte 2006 von seiner Untersuchung von 1.000 Sätzen aus Chaträumen, Online-Foren und Verkaufsformen berichtet. Dass, was er vorgefunden hat, kennzeichnet er als „Grammatik- und Orthographiewüste“. Dass dies jedoch nicht auf den schulischen Bereich zutrifft, verdeutlichen Bildungsforscher. Petra Stanat, die Direktorin des Berliner Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), sagte auf Anfrage: „Die Rechtschreibkenntnisse sind nicht so katastrophal wie häufig angenommen wird.“ Hans Brügelmann, emeritierter Professor für Schriftsprachdidaktik an der Uni Siegen, sprach von „groben Vereinfachungen und Einseitigkeiten“ 120 bei den Äußerungen zu den Rechtschreibekenntnissen. 2018 äußerte sich die Bildungsministerin Karliczek gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RnD) „besorgt wegen schlechter Orthografie-Kenntnisse“ der Grundschüler. „Es sei Besorgnis erregend, dass 22- Prozent der Viertklässler Mindeststandards der deutschen Sprache nicht erfüllen“. 121 Sie sieht die 119 w w w. dw. c om/ d e / vom-ve rme intlich e n-ve rf a ll-d e r-d e ut s ch e ns pr a che/ a-51142692; Zugriff am 30.05.2022. 120 https: / / www.tagesspiegel.de/ wissen/ streit-um-orthographie-von-schuelernschlechte-rechtschreibung-weil-zu-wenig-gelesen-wird/ 13988146.html; Zugriff am 30.05.2022. 121 www.rnd.de/ politik/ bildungsministerin-besorgt-wegen-schlechter-ortho graafie-kenntnisse-VU73LK6NW4HTP72I3UCWA67UMQ.html (ln-online. de, 01.08.2018); Zugriff am 31.05.2022. <?page no="113"?> 112 Ursache jedoch nicht im Internet, was bei dieser Altersstufe ja auch unsinnig wäre, sondern im Elternhaus, wo das Vorlesen von Kinderbüchern forciert werden müsse. Kritisiert wurde an dieser Äußerung zum einen, dass die Fokussierung auf das Vorlesen etwas zu kurz greife und zum anderen nicht konkreter angesprochen werde, auf welche sozialen Schichten dies besonders zutreffe und welche konkreten Maßnahmen daraus abzuleiten seien. Zu den Grammatikkenntnissen berichtete Hoberg (1986: 77 f.) in einer Studie, die schon 1986 vor der Rechtschreibreform und dem Internet entstanden ist und diese deshalb nicht für die beklagten Missstände verantwortlich machen kann: An der Technischen Hochschule Darmstadt wurde daher im Wintersemester 1985/ 1986 ein Test durchgeführt, […] an dem 40 Studierende teilnahmen. In dem Satz „An diesem Morgen gingen wir spazieren“ sollten (1.) die Wortarten und (2.) die Satzglieder bestimmt werden; außerdem sollte (3.) der Satz in die „vollendete Vergangenheit (Plusquamperfekt)“ gesetzt werden. Die Auswertung des Tests, bei dem insgesamt neun Punkte erzielt werden konnten, ergab: - Keiner der Teilnehmer erreichte die Gesamtpunktzahl, mehr als ein Drittel der Teilnehmer nur 50-% der Punkte oder weniger. - Bei Aufgabe 1 erzielte mehr als die Hälfte der Teilnehmer nur 50-% der Punkte oder weniger, keiner erreichte die höchste Punktzahl. - Bei Aufgabe 2 erzielte mehr als ein Drittel nur 50-% der Punkte oder weniger; immerhin erreichte hier auch mehr als ein Drittel die höchste Punktzahl. - Fast die Hälfte der Germanistikstudenten weiß nicht, was man unter Plusquamperfekt versteht (Aufgabe 3). Empirische wissenschaftliche Untersuchungen zu den Orthografie- und Grammatikkenntnissen, zeigen, dass Kenntnislücken schon vor der verbreiteten Verwendung des Internets auftraten. Texte, die in einem dialogischen Kontext stehen (z.-B. Chat- und Forenkonversationen), werden meist in einer informellen Aus- <?page no="114"?> 113 drucksweise verfasst und enthalten deshalb oft Fehler und weichen in augenfälliger Weise von der Standardsprache ab. Sie werden als Alltagsschriftlichkeit bezeichnet und unterliegen „Gebrauchsnormen des Alltags“ (Durell 2006: 119), die sich sowohl auf lexikalischer als auch auf grammatischer Ebene zeigen. Das Normbewusstsein der hochsprachlich orientierten Sprachpfleger: innen spielt in dem alltäglichen Sprachgebrauch keine Rolle. Mit den interaktionsorientierten Rahmenbedingungen des Internets und den handybasierten Konversationsformen entwickeln sich neue schriftsprachliche Formen, die nicht auf ein zu erzeugendes Schriftstück gerichtet sind, sondern auf den direkten Austausch. Bei diesem Austausch kann man nicht, wie bei der Schriftstückproduktion, am Text feilen, ihn redigieren. Die neuen schriftsprachlichen Formen knüpfen an die mündliche Kommunikation an. Nach Meinung der Linguistin Angelika Storrer (2014: 172) „wären die Entwicklungen erst dann Besorgnis erregend, wenn der sprachliche Duktus des interaktionsorientierten Schreibens im großen Stil auch diejenigen Textsortenbereiche beeinflussen würde, in denen die Orientierung an Normen und Standards der redigierten Schriftlichkeit weiterhin funktional und wünschenswert ist.“ Die Linguistin Christa Dürscheid hat in der Schweiz bei einer Gruppe von Schüler: innen aller Schulformen in den Jahrgangsstufen neun bis elf private, elektronisch verfasste Texte mit schulbezogenen Texten derselben Schüler: innen verglichen. Das Ergebnis zeigte, dass die betreffenden Jugendlichen recht genau zwischen den verschiedenen Domänen des Schreibens zu unterscheiden wussten und der Einfluss des „Internet-Stils“ auf die Textproduktion recht gering war (Dürscheid et al. 2010). Linguistische Untersuchungen belegen, dass der interaktionsorientierte Schreibstil nicht auf die redigierte Schriftlichkeit „abfärbt“ und dass kompetente Schreiber und selbst Jugendliche durchaus dazu in der Lage sind, situationsangemessen zwischen verschiedenen Schreibhaltungen und -stilen zu wechseln (Storrer 2013). <?page no="115"?> 114 Ein immer wieder angesprochenes Problem im Zusammenhang mit der Internetkommunikation ist die Frage, ob die Sprache im Internet verrohe. Selbst Bundespräsident Frank Walter Steinmeier äußerte sich zu diesem Thema und beklagt eine Verrohung der Kommunikation im Internet Dabei spricht er speziell „eine Verrohung der Umgangsformen im Internet“ an und sieht in der Möglichkeit zur Anonymität die Hauptursache. 122 Ein anderes Problem, was angesprochen wird, ist die Abnutzung von Höflichkeitsformeln durch Abkürzungen. So zum Beispiel am 5. April 2021 im „Tagesspiegel“: Mich stört die Abkürzung „LG“ für „Liebe Grüße“ am Ende einer Mail oder WhatsApp-Nachricht. „Liebe Grüße“ sende ich nicht jedem und durch „LG“ werden sie zur Floskel. Da die Wörter auf WhatsApp-Tastaturen gespeichert sind, wäre es nicht einmal mehr Mühe, das auszuschreiben, wenn man es so meint. Man könnte auch „FG“ - freundliche Grüße - vermitteln. Das habe ich noch nicht erlebt. Unter diese Art der Kritik kann man auch das Verwenden von Emojis und Kurzformen wie „lol“ einbeziehen. Dass sich Höflichkeitsformeln im gesellschaftlichen Wandel verändern, konnte schon vor dem Entstehen des Internets beobachtet werden. LG bedeutet nicht mehr von Herzen empfundene, lieb gemeinte Grüße an eine sehr vertraute Person, sondern schnell verfasste Alltagsgrüße an Freund: innen und gute Kolleg: innen oder Bekannte. Damit wird signalisiert, dass man den Angesprochenen bzw. den Feststellenden nahesteht. So kann es passieren, dass man von einer Zeitschrift plump anbiedernd folgendermaßen angeschrieben wird 123 : Liebe Frau Römer, 122 www.welt.de/ politik/ deutschland/ article163702921/ Steinmeier-beklagt-Verro hung-der-Sprache-im-Internet.html; Zugriff am 30.05.2022. 123 E-Mail von DIE ZEIT ZEIT-Brief@newsletterversand.zeit.de am 07.04.2021. <?page no="116"?> 115 die neue Ausgabe der ZEIT ist da. Das sind meine Leseempfehlungen. Ihr Moritz Müller-Wirth Stellv. Chefredakteur Der Publizist Dieter Zimmer schrieb schon 1991 von einem Höflichkeitswandel zu einer „neuen Herzlichkeit“. Dieser sei gekennzeichnet durch den Übergang von einer etikettenhaften, ritualisierten Höflichkeit mit etablierten Ausdrucksmitteln zu einer Simulation von Nähe und Vertrautheit, in der nichtetablierte sprachliche Mittel zum Einsatz kommen. Die traditionelle Distanzhöflichkeit wird durch Nähehöflichkeit, eine Höflichkeit der Nähe und Vertrautheit, ersetzt, so die These. Der Computer ist heute das wichtigste schriftsprachliche Medium. Mit ihm erfährt die schriftliche Kommunikation eine Aufwertung, während die mündliche zurückgeht, beispielsweise nimmt das Telefonieren ab. Medien wie E-Mail, WhatsApp etc. ermöglichen eine gesprächsähnliche schriftliche Kommunikation. Damit einher geht die Übernahme von Formen der Umgangssprache in die Schriftsprache, es werden nicht die Konventionen des traditionellen Briefes übernommen. Während früher Höflichkeitsformeln den sozialen Rang des und die Vertrautheit mit dem Kommunikationspartner markierten (sehr geehrte/ r vs. werte/ r vs. liebe/ r), stehen heute sowohl das Anzeigen von Nähe und Vertrautheit als auch die individuelle Gestaltung im Vordergrund. Unzweifelhaft existierende soziale Unterschiede werden über die Anrede- und Grußformeln nicht mehr so deutlich gemacht. Man spricht auch aktuell von einer entstandenen Höflichkeit der Toleranz, die zeigt, dass unterschiedliche Lebensweisen anerkannt werden. Echte Höf- <?page no="117"?> 116 lichkeit besteht danach nicht aus starren Konventionen, sondern verlangt vielmehr vor allem Achtung vor den anderen. 124 Geschlechterspezifische Kommunikationsbesonderheiten lassen sich auch in der elektronischen Kommunikation feststellen. So erbrachte eine Untersuchung von Begrüßungs- und Verabschiedungsformeln in Kurznachrichten / SMS-Dialogen (von Studierenden im Alter zwischen 22 und 26 Jahren verschiedener Germanistikseminare am Germanistischen Institut der WWU Münster), dass die Anrede zwischen Gesprächspartnerinnen häufig mit Kosenamen geschieht. Gleichgeschlechtliche männliche Dialoge verlaufen dagegen tendenziell ohne Begrüßungs- und Verabschiedungsformel. (Wieczorek 2014: 181) 6.3 Sprachkritische Aktionen Institutionalisierte wortkritische Aktionen sind in der jüngeren Vergangenheit in Deutschland zahlreich. Die bekannteste ist die Wahl zum Unwort des Jahres 125 , die seit 1991 erfolgt und von dem Linguisten Horst Dieter Schlosser ins Leben gerufen wurde. Die Jury, die die Wahl vornimmt, ist institutionell unabhängig und wird von Sprachwissenschaftler: innen dominiert. Die Aktion „möchte auf öffentliche Formen des Sprachgebrauchs aufmerksam machen und dadurch das Sprachbewusstsein und die Sprachsensibilität in der Bevölkerung fördern. Sie lenkt daher den sprachkritischen Blick auf Wörter und Formulierungen in allen Feldern der öffentlichen Kommunikation, die gegen sachliche Angemessenheit oder Humanität verstoßen.“ Die Benennung der Unwörter des Jahres soll in erster Linie als Anregung zu mehr sprachkritischer 124 https: / / www.sueddeutsche.de/ karriere/ gutes-benehmen-nicht-dressiert-son dern-zivilisiert-1.516904; Zugriff am 30.05.2022. 125 http: / / www.unwortdesjahres.net/ ; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="118"?> 117 Reflexion dienen. 126 An den ausgewählten Unwörtern gab es allerdings auch Kritik, die sich vor allem dagegen wendet, dass die Jury einseitig politisch orientiert sei und die ausgewählten Wörter teilweise eine nur geringe Verwendungsfrequenz hätten. Wenn man sich die seit 1991 ausgewählten 30 Unwörter und das „Unwort des 20.-Jahrhunderts“ (Menschenmaterial) anschaut, scheint der Vorwurf der Einseitigkeit nicht ganz unbegründet erhoben: Neun Unwörter sind der Thematik „Ausländer- und Migrationsfeindlichkeit“ und vier rechtsextremer Rhetorik zuzuordnen, d.-h. 40-%, und keines stammt aus linksextremer Rhetorik. Diese einseitige Auswahl verengt den Blick auf die gesellschaftlichen Probleme Deutschlands. Der konservative, gegen Sprachveränderungen orientierte Verein Deutsche Sprache (VDS) wählt seit 1997 jedes Jahr den Sprachpanscher des Jahres „für besonders bemerkenswerte Fehlleistungen im Umgang mit der deutschen Sprache“ 127 . An der Abstimmung zum Sprachpanscher 2020 beteiligten sich 4.106 Vereinsmitglieder. Im Zentrum der Aktionen des VDS steht die Vermeidung von englischen und pseudoenglischen Ausdrücken. Deshalb gibt es auf der Vereinswebseite auch einen „Anglizismenindex“, der „einem Anglizismus eine deutschsprachige Entsprechung entgegensetzt“. Kritisch ist anzumerken, dass diese sprachpuristischen Aktionen mit dem Schüren von Angst vor einem möglichen Verlust nationaler Identität verbunden werden und so Assoziationen zu völkischem und nationalistischen Denken zulassen. Aktionen wie der Anglizismus des Jahres 128 , das Wort des Jahres und Jugendwort des Jahres versuchen über das Aufmerksammachen sprachpflegerisch tätig zu sein. 126 www.unwortdesjahres.net/ unwort/ kriterien-und-auswahlverfahren/ ; Zugriff am 30.05.2022. 127 vds-ev.de/ sprachpanscher/ ; Zugriff am 30.05.2022. 128 http: / / www.anglizismusdesjahres.de/ ; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="119"?> 118 Die von dem Anglisten Stefanowitsch geleitete Aktion Anglizismus des Jahres, die eine Reaktion auf die Sprachpanscherwahl ist, „würdigt seit 2010 jährlich den positiven Beitrag des Englischen zur Entwicklung des deutschen Wortschatzes. Bisherige Anglizismen des Jahres waren leaken (2010), Shitstorm (2011), Crowdfunding (2012), die Nachsilbe -gate (2013), Blackfacing (2014), Refugees Welcome (2015), Fake News (2016), Influencer (2017), Gendersternchen (2018) und …-for future (2019), Lockdown (2020).“ Auf dem von ihm mitbetriebenen Sprachblog „Sprachlog“ 129 findet man von Stefanowitsch eine „Laudatio zum Anglizismus des Jahres 2020: Lockdown“. Darin bezeichnet er Lockdown als „perfekten Anglizismus“, da er „in kurzer Zeit zu einem selbstverständlichen und nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der deutschen Sprache geworden“ sei. Man kann noch hinzufügen, dass mit diesem Wort ein komplexer Sachverhalt „Bezeichnung für eine Mischung aus mehr oder weniger strengen Ausgangsbeschränkungen, Einschränkungen der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit und Kontaktbeschränkungen bei gleichzeitigem Schließen von Bildungs-, Kultur- und Handelseinrichtungen“ kurz zusammengefasst wird. Das Wort des Jahres wird seit 1971 von einer Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) gewählt. Sie kürt „Wörter und Wendungen, die das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben eines Jahres sprachlich in besonderer Weise bestimmt haben.“ 130 Das Jugendwort des Jahres wird seit 2008 von einer Jury unter der Leitung des Langenscheidt-Verlags, der seit 2019 zu Pons (Klett Gruppe) gehört, nach den Kriterien Kreativität und Verbreitungsgrad ausgewählt. Besonders Letzteres wird verschiedentlich bezweifelt und die Wahl als Marketing-Aktion des Verlags bezeich- 129 http: / / www.sprachlog.de/ ; Zugriff am 30.05.2022. 130 https: / / gfds.de/ aktionen/ wort-des-jahres/ ; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="120"?> 119 net, die auch insofern erfolgreich ist, dass jedes Jahr in den Medien darüber berichtet wird. Auch wenn man die verschiedenen Wahlen von besonderen Wörtern in der einen oder anderen Hinsicht kritisieren kann, tragen sie in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit dazu bei, den Blick auf den verwendeten Wortschatz zu lenken, und leisten so einen Beitrag zur Sprachkultur. <?page no="122"?> 121 7 Vorschläge zum Umgang mit Sprachkritiken 7.1 Verbote, Sprachlenkungen und Sprachplanung In diesem Kapitel werden Beispiele für falsch motivierte Wörter angesprochen und damit einhergehende Vorschläge, diese Bezeichnungen zu vermeiden bzw. zu verbieten. Da diese Vermeidungsvorschläge oft als unangemessene Sprachlenkung angesehen werden, werden nachfolgend Sprachlenkung und Sprachplanung als übliche, unspektakuläre Vorgänge erklärt werden, um danach noch einmal auf die Problematik der aktuellen Vermeidungsvorschläge einzugehen. Der Wortschatz wird von Generation zu Generation vererbt und wird von diesen geprägt und modifiziert. Neue Wörter entstehen auf der Basis des schon vorhandenen Sprachmaterials. Als natürlich (phonetisch) motiviert bezeichnet man Schallwörter wie Kuckuck, eine lautmalende Nachbildung des Vogelrufs. Die meisten Neubildungen sind aber durch ihre Wortbausteine motiviert (morphematisch). ‚Motiviert‘ meint, dass die Gesamtbedeutung dieser Wörter auf den Bedeutungen der Teile aufbaut. So entstand im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie das Wort Terminvergabeportal. Seine Bedeutung resultiert aus den Wortteilen: Es ist ein Portal zur Vergabe von Terminen. Es ist bekannt, dass motivierte Wörter besser angenommen und verstanden werden als unmotivierbare Fremdwörter. Ehemals motivierte Wörter können auch undurchsichtig werden, wie bei dem Adjektiv ledig, das ursprünglich ‚gelenkig, beweglich‘ bedeutete und eine Ableitung von dem Substantiv Glied (ahd. lid) ist. Semantische Motivierung liegt vor, wenn ein schon vorhandenes Wort oder eine Wendung zur Bezeichnung einer weiteren Sache verwendet wird, wie bei Helden <?page no="123"?> 122 des Alltags für ‚Personen, die in einem für das Allgemeinwohl wichtigen Beruf mit großem Einsatz und unter z.- T. schwierigen Bedingungen arbeiten‘ 131 Dieser Phraseologismus tauchte während der Coronapandemie verstärkt in den Medien auf und fügt dem Wort Held eine neue Lesart hinzu. Er lehnt sich an den „Ehrentitel Held der Arbeit“ an, was eine staatliche Auszeichnung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) war 132 . Durch Weiterentwicklungen realer Gegebenheiten oder neue Erkenntnisse kann es zu Fehlmotivierungen kommen. So wurde das Wort Baumwolle aus heutiger Sicht falsch gebildet, da die Baumwollpflanze kein Baum sondern ein Strauch ist. Das Wort Friedhof wird heute als ‚Hof des Friedens‘ interpretiert, wo die Verstorbenen in Frieden ruhen. Ursprünglich ist es aber keine Komposition mit Frieden, sondern ein ‚eingefriedeter (geschützter) Hof ‘. Bleistifte wurden so genannt, weil man früher Bleigriffel mit Spitzen aus Blei als Schreibgerät benutzte. Indianer wurden die Ureinwohner Amerikas genannt, weil Kolumbus die entdeckten Länder zu Indien rechnete. All diese Wörter bereiten heute trotzdem keine Kommunikationsprobleme, da die Lautkörper nicht mit den ursprünglichen Bedeutungen gelernt und verwendet werden. Niemand geht davon aus, dass Bleistifte eine Mine aus Blei haben. Heute wird von den genannten Beispielen nur ein Verbot des Worts Indianer gefordert und stattdessen der Sammelbegriff Indigene angemahnt. Begründet wird dies damit, dass es eine Fremdbezeichnung der Europäer sei, die nach der Staatenwerdung der USA in deren kolonialer Verwaltungssprache weiterverwendet wurde. 131 https: / / www.owid.de/ docs/ neo/ listen/ corona.jsp#held-des-alltags; Zugriff am 30.05.2022. 132 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Held_der_Arbeit; Zugriff am 13.07.2021. <?page no="124"?> 123 Eine eigene Sammelbezeichnung für die Bezeichneten existierte damals nicht. 133 Im Zusammenhang mit der Coronapandemie hatte es sich eingebürgert, dass Corona-Mutanten nach den Ländern, wo sie sich entwickelt hatten, benannt wurden: britische, indische etc. Variante. Dies wurde kritisiert, weil, so zum Beispiel die Soziologin und Sprachforscherin Brigitte Nerlich von der Universität Nottingham, diese länderspezifischen Namen sich sehr gut für negatives Framing, das mit ausländer- und migrantenfeindlichen Einstellungen einhergeht, eignen. 134 Der Psychologe Claus-Christian Carbon von der Universität Bamberg spricht sich dafür aus, konkret gegenzusteuern. „Indem man Krankheiten nicht mit solchen Ortsbezeichnungen nennt, also konsequent jede Verknüpfung vermeidet“. Er plädiert für wissenschaftliche Namen und Nummerierungen. „Mit solchen Begriffen sind keine Wertungen und keine ungewollten Assoziationen verknüpft.“ Laut „Guardian“ haben einzelne Forscherteams Varianten oder deren Mutationen stattdessen in Vogelarten („Pelikan“) oder Spitznamen („Doug“) umgetauft. Da sich die Länderbezeichnungen gut merken lassen und zum anderen es wenig sinnvoll scheint, spezielle Tiere mit der Covidkrankheit zu verknüpfen, hat dieser Vorschlag wenig Durchsetzungskraft. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schlug vor, eine Benennung mit griechischen Buchstaben vorzunehmen, statt „britische Variante“ Alpha oder Delta statt „indische Variante“. Der „Tagesspiegel“ 135 schlug nach der Neuregelung der WHO vor, die WHO-Empfehlung der Nichtstigmatisierung von Län- 133 https: / / www.stadtmuseum-duisburg.de/ wp-content/ uploads/ 2020/ 09/ Hand outs-zu-The-North-American-Indian.pdf; Zugriff am 30.05.2022. 134 https: / / www.t-online.de/ gesundheit/ krankheiten-symptome/ id_90093558/ coronamutanten-warum-die-pandemie-rassismus-befoerdert.html; Zugriff am 30.05.2022. 135 https: / / www.tagesspiegel.de/ politik/ wie-stigmatisierend-ist-geographie-wennnamen-von-virusvarianten-zum-problem-werden/ 27246096.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="125"?> 124 dern durch Länderbezeichnungen auch auf die hiesigen Wahlen anzuwenden. Die eingebürgerten Benennungen von Koalitionen nach tropischen Länderflaggen - „Kenia“ für CDU/ CSU und SPD, „Jamaica“ für CDU/ CSU, FDP und Grüne, - werden mit folgender Begründung hinterfragt: Da diese farbenfrohen Kombinationen aber letztlich Mangelerscheinungen sind, da sie nur entstehen, wo es keine klaren Machtverhältnisse gibt, kann man ihre afrikanischen Namen auch als weitere Stigmatisierung von ohnehin beladenen Ländern sehen. „Deutschland-Koalition“ zur Bezeichnung einer Regierung aus CDU/ CSU, SPD und FDP passt allerdings nicht in dieses Argumentationsschema. Am Ende des zitierten Artikels formuliert der Autor selbst einen wichtigen Einwand gegen diese Sprachbereinigungsvorschläge: „Auch wenn es eine trügerische Hoffnung sein dürfte, dass sich diskriminierungsaffine Gewalttäter sich [sic] irgendwo auf der Welt von irgendwelchen Umbenennungen beirren ließen. Die verprügeln dann eben aus anderen Gründen.“ Zum anderen werden wichtige Erkenntnisse der kognitiven Linguistik nicht beachtet, speziell diejenigen zur Bedeutung von metaphorischer Begriffsbildung. In ihrer bahnbrechenden Publikation „Metaphors We Live By“ (1980) postulierten der Linguist Georg Lakoff und der Sprachphilosoph Mark Johnson, dass das konzeptuelle System der Menschen grundlegend metaphorisch sei, usuelle Metaphern ein fester Bestandteil unserer Alltagssprache seien und wir mit ihnen denken würden. Metaphern brächten konzeptuelle Bereiche miteinander in Verbindung („mapping“), erleichterten so das Denken und ermöglichten effektives Kommunizieren durch Veranschaulichung. So werden Artefakte tatsächlich oft als Tiere konzeptualisiert, beispielsweise als Wasserhahn oder Laufkatze (Kran). Die Computermaus ist ein jüngeres Beispiel hierfür; Maus ist aufgrund der äußeren Ähnlichkeit anschaulicher und schneller zu merken als z.-B. „graphisches Zeigegerät“ und mit „Spanischer <?page no="126"?> 125 Grippe“ bezeichnen wir eine historische epidemische Seuche, die vor über 100 Jahren ihren Namen erhielt, als der spanische Monarch Alfonso XIII. und ein Teil seines Kabinetts davon erfasst wurden. Über viele abstrakte Konzepte, wie Emotionen, Frieden oder Freiheit, können wir überhaupt nur mit Metaphern denken und kommunizieren. So wird der Mensch in verschiedener Hinsicht als Behälter konzeptualisiert, nicht nur als Behälter für Blut und Organe sondern auch als ein Behälter für Emotionen: • „Menschen voller Minderwertigkeitsgefühle und aufgestauter Wut“ 136 • „In Liebe ertrunken“ (Songtext von D. Deutscher) • Erfüllt uns mit Stolz, hoffnungsvoll sein (feste Wendungen) In metaphorischen Wendungen haben sich teilweise über Jahrtausende einmal vorhandene Erklärungsmodelle („folk theories“) erhalten, die heute nicht mehr gelten, jedoch als kulturelles Erbe anzusehen sind. Beispielsweise der auf die griechische Philosophie des klassischen Altertums zurückgehende Dualismus von Leib und Seele (mit Leib und Seele ‚begeistert‘) oder der Glaube, dass die Seele im Körper wohnt und diesen beim Tod verlässt (den Geist aufgeben). Eine weitere wichtige kognitiv-linguistische Erkenntnis wird ebenfalls vernachlässigt, nämlich die, dass Konzepte wie Bedeutungen keine starren und festen Ganzheiten sind. Sie sind vielmehr flexible Gebilde, die sich anpassen können. So kann Lernen oder Erleben Gedächtnisinhalte verändern. Das Wort Weib wird beispielsweise heute in der Regel abschätzig verwendet, obwohl im Deutschen Wörterbuch der Grimms aus dem 19.- Jahrhundert zu lesen war: „der allgemeinste und darum häufigste name für alle 136 www.amazon.de/ So-voller-Wut-Pete-Smith/ dp/ 3800054868; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="127"?> 126 wesen, die nicht dem männlichen geschlecht angehören“. Frau, das heute Weib als neutrale Bezeichnung abgelöst hat, diente ursprünglich zur Bezeichnung von weiblichen Adelspersonen. Um höflich zu sein, wurde dann ein Weib als Frau angesprochen, auch wenn sie nicht dem Adelsstand angehörte. Die massenhaft schmeichelnde Verwendung von Frau führte im Zuge eines natürlichen Sprachwandels zur Durchsetzung der Bezeichnung Frau für weibliche Personen und zur abwertenden Konnotation bei Weib. Man spricht bei solchen Formen des natürlichen Sprachwandels auch vom Einsetzen der „Euphemismus-Tretmühle“, die bewirkt, dass beschönigende Bezeichnungen (Euphemismen), wenn sich die Wirklichkeit nicht ändert, ihrerseits selbst wieder pejorisiert (verschlechtert) werden. Bei Frau ist die Bedeutung ‚(wie) eine adlige Person‘ verloren gegangen und es hat die ursprüngliche Bedeutung von Weib angenommen. So löste in den 1990er Jahren das Wort Flüchtling die negativ wahrgenommene Bezeichnung Asylant ab. 20 Jahre später wurde Flüchtling besonders in den Medien als negativ konnotiert wahrgenommen und durch Geflüchtete oder Schutzsuchende ersetzt. Diese Bezeichnungen können jedoch nicht verhindern, dass auch sie künftig mit negativen Bewertungen verwendet werden: So, wenn über „randalierende Geflüchtete“ 137 geschrieben wird. Oder das Wort Jungfrau. Es hat auch seine Bedeutung durch natürlichen Sprachwandel verändert. Heute wird damit häufig sexuelle Unerfahrenheit auch bei Männern bezeichnet: Jungfrau (40), männlich, sucht-… (Filmtitel). 137 https: / / rp-online.de/ nrw/ staedte/ emmerich/ rees-haldern-randalierende-flu echtlinge-sorgen-fuer-entsetzen_aid-19596857; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="128"?> 127 Die Ergebnisse der kognitiven Linguistik zeigen, dass sich durch die gesellschaftlichen Umstände Bedeutungen und Inhalte von Begriffen ändern und an den Zeitgeist anpassen. Ehe man nach dem Verbot bzw. der Vermeidung von übernommenen Bezeichnungen ruft, sollte man sein Augenmerk auf die Veränderung der Wahrnehmung lenken und dem natürlichen Wandel Raum geben und ihn unterstützen. Äußere Einflussnahme auf Sprache bezeichnet man als Sprachsteuerung. So bemühen sich viele Unternehmen und öffentliche Einrichtungen, ihren verwendeten Wortschatz zu vereinheitlichen und zu standardisieren, um die Kommunikation im Unternehmen und mit seinen Partnern zu verbessern. In neuerer Zeit wird von „Corporate Communication“ für die Unternehmenskommunikation gesprochen 138 , auch von „Corporate Identity“, die ein einheitliches Bild, nach außen tragen soll. Das umfasst das „Corporate Design“ (gemeinsame graphische Elemente, wie Logos, E-Mail-Signaturen), die „Corporate Communication“, die den Mitarbeiter: innen oftmals über Leitfäden nahegebracht wird, und die „Corporate Behavior“ (Unternehmensidentität beim Kontakt nach außen aufzeigen). Die Zeitung „Die Welt“ machte im Mai 2021 einem größeren Kreis bekannt, dass ein Mitarbeiter gegen den Gender-Leitfaden von Audi klagt 139 . Solche und ähnliche Meldungen sind möglicherweise der Grund, dass der VW-Konzern meine Anfrage nach ihren Regelungen zur Unternehmenskultur nicht beantworten wollte. 138 https: / / www.ionos.de/ startupguide/ unternehmensfuehrung/ corporate-com munication/ ; Zugriff am 30.05.2022. 139 www.welt.de/ wirtschaft/ article231227843/ Mitarbeiter-klagt-gegen-Gender- Leitfaden-von-Audi.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="129"?> 128 2017 veröffentlichte die Zeitschrift des deutschen Hochschullehrerverbands „Forschung & Lehre“ einen Aufsatz mit der Überschrift „Braucht Forschung Aufpasser“ und dem Untertitel „der Ruf nach Kontrolle der Wissenschaft wird lauter. Das wirft gravierende verfassungsrechtliche Fragen auf “ 140 : Hauptthema war damals das Erlassen von „Zivilklauseln“ in einigen Bundesländern, die die Forschung grundsätzlich auf friedliche Zwecke verpflichteten. Es klang aber schon ein Thema an, was später unter dem Stichwort „Cancel Culture“ in den Vordergrund trat. Auch berechtigte Kritik am Forschungsvorhaben rechtfertigt in keinem Fall Eingriffe in die Privatsphäre und das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Forscher: innen. „Shitstorms“, „Flashmobs“ und andere Formen des Prangers verletzen vielmehr diese Rechte und sind gegebenenfalls sogar strafbar. Hochschule und Staat trifft insofern eine besondere Schutzpflicht gegenüber den Betroffenen. 2021 entstand das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“, ein Zusammenschluss von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern (Juni 2022 ca. 650), die sich für ein freiheitliches Wissenschaftsklima einsetzen, das nach dem Netzwerk bestimmt ist durch 141 : eine plurale von Sachargumenten und gegenseitigem Respekt geprägte Debattenkultur und ein institutionelles Umfeld, in dem niemand aus Furcht vor sozialen und beruflichen Kosten Forschungsfragen und Debattenbeiträge meidet. Wir widersetzen uns allen Bestrebungen, die Freiheit von Forschung und Lehre aus ideologischen Motiven einzuschränken. Das aktuelle Kämpfen um ein Klima der Wissenschaftsfreiheit wird auch begründet mit seiner gegenwärtigen Gefährdung: „Wir beobachten, dass die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit von Forschung und Lehre zunehmend unter moralischen und politi- 140 https: / / www.forschung-und-lehre.de/ recht/ braucht-forschung-aufpasser-153/ ; Zugriff am 30.05.2022. 141 https: / / www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/ ; Zugriff am 01.06.2022. <?page no="130"?> 129 schen Vorbehalt gestellt werden soll. Wir müssen vermehrt Versuche zur Kenntnis nehmen, der Freiheit von Forschung und Lehre wissenschaftsfremde Grenzen schon im Vorfeld der Schranken des geltenden Rechts zu setzen.“ 142 Positiv und vorbildhaft ist die Verabschiedung eines „Kodex Wissenschaftsfreiheit“ Anfang 2022 an der Universität Hamburg, der mit seinen elf Kernthesen und deren Erläuterungen „die unverzichtbaren Grundlagen von Forschung und Lehre angesichts immer wieder aufkeimender Debatten im Umgang mit Wissenschaft und Wissenschaftsfreiheit verdeutlichen“ soll. 143 Der natürlichen Sprachentwicklung steht als Gegenpol der geplante Eingriff in sprachliche Strukturen durch soziale Gruppen oder Staatsorgane gegenüber. Man bezeichnet diese bewussten Eingriffe als Sprachplanung. Diese werden mit notwendigen Anpassungen an neue Kommunikationsbedürfnisse und Unzufriedenheiten mit der tradierten Sprache begründet. Die Rettung vom Aussterben bedrohter Sprachen gehört ebenso dazu wie Rechtschreibreformen oder die Standardisierung von Fachausdrücken. So sind das Ober- und Niedersorbisch, vor allem in der Lausitz gesprochen, vom Aussterben bedroht. Dies versucht man, u.- a. durch das Unterrichten in sorbischer Sprache an Schulen, durch das Erscheinen von Zeitschriften und Rundfunk- und Fernsehsendungen in den relevanten Gebieten zu verhindern. Besonders augenfällig war in der Vergangenheit in der deutschsprachigen Autonomieregion Südtirol in Italien, wohin ein Sprachenstreit führen kann. So entbrannte 2010 ein Schilderstreit, als ein Minister der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi zur Sommerzeit bemerkte, „dass nicht alle der 142 www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/ ueber-uns/ manifest/ ; Zugriff am 30.05.2022. 143 https: / / www.uni-hamburg.de/ uhh/ profil/ leitbild/ kodex-wissenschaftsfreiheit. html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="131"?> 130 36.000 Hinweisschilder auf Südtirols Wanderwegen vorschriftsgemäß zweisprachig gehalten sind. Innerhalb der nächsten 90 Tage seien jene, auf denen nur Deutsch geschrieben steht, gegen solche mit deutschem und italienischem Text auszutauschen.“ 144 Da in der kollektiven Erinnerung der Südtiroler: innen noch sehr präsent ist, wie die Faschisten des Mussolini-Regimes in den 1920er Jahren gegen die deutsche Sprache vorgegangen waren, kam das gar nicht gut an. Abb. 18: Deuts ch-italienis ches Gebotss child in Südtirol (Meran) Der Vorsitzende der „Gesellschaft für deutsche Sprache“ Peter Schlobinski warnte in einem Interview im Mai 2021 mit dem „Tagesspiegel“ 145 Behörden vor dem eigenmächtigen Ändern der Schreibnormen im Zusammenhang mit dem Gendern und zog 144 https: / / www.t-online.de/ nachrichten/ id_42497064/ suedtirol-sprachenstreitneu-aufgeflammt.html; Zugriff am 18.06.2021. 145 https: / / www.tagesspiegel.de/ politik/ sprachwissenschaftler-zieht-parallele-zuorwells-1984-soll-da-wegen-einer-gesinnung-gegendert-werden/ 27222086. html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="132"?> 131 eine Parallele zu Orwells Roman „1984“. Mit Letzterem ging er m.-E. zu weit, da gezieltes unredliches Verhalten unterstellt wird. Dies trifft auch auf eine Äußerung Peter Eisenbergs, Mitglied im Rat für deutsche Rechtschreibung, zu, der in einem Interview mit der „Berliner Zeitung“ behauptete: „Die Genderfraktion verachtet die deutsche Sprache“ 146 . Gezielte Aktivitäten und Maßnahmen der Politik zur Lenkung der Sprache nennt man auch Sprachpolitik. Dazu gehören die Auswahl von Mutter- und Fremdsprachen, die an Schulen gelehrt werden und die Rechte von Minderheitssprachen. Über Lehrpläne in Bildungseinrichtungen nimmt die Politik Einfluss auf den Sprachgebrauch und Spracherwerb. In der Europäischen Union sind alle Amtssprachen der Mitgliedsländer auch Amtssprachen der EU. Jedoch verwenden die EU-Organe und Behörden vor allem Englisch als Arbeitssprache, was in der Vergangenheit zu Kritik führte. Deshalb setzt sich die Bundesregierung im Rahmen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik für die Förderung eines mehrsprachigen Europas ein, „in dem auch die deutsche Sprache, neben Englisch und Französisch die dritte Arbeitssprache der europäischen Institutionen, aktiv für die Kommunikation in und mit Europa genutzt wird.“ Neben Initiativen zur Bewahrung der Vielsprachigkeit in der EU gibt es Gruppierungen, die sich für den Einsatz einer „Lingua franca“ (einer universellen Sprache) engagieren (das „Lingua franca“- Modell). Zur Zeit Ludwigs des XIV. nahm Französisch die Stellung der europäischen Lingua franca ein, die im 20.- Jahrhundert von Englisch abgelöst wurde. Leider zeigten die Versuche, die erfundene Sprache Esperanto als Lingua franca durchzusetzen, keinen Erfolg. Vielleicht auch deshalb, weil Esperanto in allen Ländern 146 https: / / www.berliner-zeitung.de/ kultur-vergnuegen/ debatte/ geschlechterge rechte-sprache-peter-eisenberg-die-genderfraktion-verachtet-die-deutschesprache-li.158487.amp; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="133"?> 132 Europas neu erlernt werden müsste und keine Sprachgemeinschaft einen Vorteil hätte. Dieser Vorteil wird von manchen als ein Nachteil verstanden: Die englischen Muttersprachler und die, die viel Zeit, Energie und Geld in das Erlernen des Englischen gesteckt haben, würden ihren Vorteil und einige ihrer Privilegien verlieren. 147 So wird die Einführung von Englisch als Verwaltungs- und anschließend als Amtssprache in den Teilstaaten der Europäischen Union diskutiert. Damit verbunden gibt es Forderungen nach einer Sprachakademie für europäisches Englisch 148 , die Sprachstandards für Nichtmuttersprachler formuliert. Diese und andere Aktivitäten führten dazu, dass 1994 das Europanetzwerk Deutsch ins Leben gerufen wurde.“ 149 2010 trat eine Initiative („Deutsch ins Grundgesetz“ 150 ) auf den Plan, die die rechtliche Festschreibung der deutschen Sprache als Nationalsprache im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland forderte. Die Initiative führt auf ihrer Webseite folgende Begründungen für Deutsch im Grundgesetz an: • …-ist ein Zeichen der Wertschätzung für unsere Sprache. • …-ist ein Aufruf zur Integration. • …-sichert Deutsch als Amtssprache ab. • …-verpflichtet den Staat, die deutsche Sprache zu achten. • …-berücksichtigt den Volkswillen. 147 https: / / egalite.hu/ inf/ argude.htm; Zugriff am 30.05.2022. 148 https: / / www.twelvestars.eu/ post/ die-eu-sollte-eine-sprachakademief%C3%BCr-europ%C3%A4isches-englisch-errichten; Zugriff am 30.05.2022. 149 https: / / www.auswaertiges-amt.de/ de/ aussenpolitik/ themen/ kulturdialog/ eu ropanetzwerk-deutsch/ 201014; Zugriff am 30.05.2022. 150 https: / / www.deutsch-ins-grundgesetz.de/ ; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="134"?> 133 Abb. 19: Aufkleber der Initiative Deuts ch ins Grundges etz Bisher hat sich dafür jedoch keine parlamentarische Mehrheit gefunden. Als Hauptargumente dagegen wurden u.- a. von den Sprachwissenschaftler: innen Anatol Stefanowitsch in einer Petition und von Susanne Flach auf Sprachlog aufgeführt, es gebe keine Sprachenkonflikte in Deutschland und Deutsch müsse nicht geschützt werden, da es nicht bedroht sei. 151 Zumindest Letzteres muss hinsichtlich der schwindenden internationalen Rolle von Deutsch und der unterbleibenden Weiterwicklung der deutschen Wissenschaftssprache kritisch hinterfragt werden. Obwohl die CDU/ CSU-Fraktion die Petition Deutsch ins Grundgesetz unterstützte, lehnte Bundeskanzlerin Merkel diese Initiative mit dem Argument ab, dass sie gegen eine Überdehnung des Grundgesetzes sei. 151 http: / / www.sprachlog.de/ 2011/ 01/ 24/ warum-deutsch-nicht-ins-grundgesetzgehort/ ; am Zugriff 30.05.2022. <?page no="135"?> 134 7.2 Konstruktiv-kritische Sprachreflexionen fördern In diesem Kapitel geht es darum, was man Verbotswünschen und polarisierenden Eingriffen in den Wortschatz im Rahmen der Sprachkritik und Linguistik entgegensetzen kann. Ein Leitartikel in „Der Spiegel“ (19.6.2021) resümierte unter der Überschrift „Die Bringschuld“: „Viele Deutsche leiden unter der politischen Korrektheit, die ihnen abverlangt wird. Insbesondere wenn es um gendergerechte Sprache geht. Ohne eine mit echten Argumenten geführte Debatte droht ein Kulturkampf.“ Neben den angemahnten echten Argumenten, um die es in den vorherigen Kapiteln ging, sollen jetzt die Rolle der Schule, die Etablierung und Propagierung von akzeptierten Kriterien zur Einordnung von Sprachkritiken und das notwendige Engagement gegen Cancel Culture besprochen werden. Eine wichtige Rolle für den Erwerb von Sprachkompetenz spielt die Schule. Im Deutschunterricht sollte die kritische Betrachtung des individuellen und gesellschaftlichen Sprachgebrauchs eine Rolle spielen, um eine Stabilisierung und/ oder eine Verbesserung der Sprachkompetenz zu erreichen. Außerdem ist der Erwerb von Argumentationsfähigkeit zentral. Der Gedanke, dass gut argumentieren nicht das Gleiche ist wie gewinnen, sollte evident sein. Dabei kann an Vorwissen von außerhalb der Schule angeknüpft und dieses in den Unterricht integriert werden. Die Erläuterung und Begründung eigener Stellungsnahmen zu Sprachkritiken sollte auch geübt werden. Sprachkritik kommt im Unterricht vor allem integrativ und nicht explizit vor. Im Lehrplan für den Erwerb der allgemeinen <?page no="136"?> 135 Hochschulreife für das Fach Deutsch in Thüringen 152 werden Kompetenzen in den Lernbereichen „Texte rezipieren, Texte produzieren und über Sprache, Sprachverwendung und Sprachenlernen reflektieren“ angestrebt. Das Stichwort „Sprachkritik“ ist nicht aufgeführt und „Dialog“ nur im Sinne von „dialogisches Sprechen“ / „literarischen Text dialogisieren“. Beim „Sprachgebrauch“ wird für die Klassenstufe 6 aufgelistet (S.-25): • erste Einsichten in den Ursprung der Sprache und die Prozesse der Sprachentwicklung gewinnen, • ausgewählte Veränderungen des Sprachgebrauchs erfassen, • Kenntnisse aus der deutschen Sprache, ggf. aus der Herkunftssprache, auf das Lernen der Fremdsprachen übertragen und umgekehrt. Ansonsten wird unter dem Stichwort „Sprachgebrauch“ vor allem auf den normgerechten Sprachgebrauch verwiesen: Beispielsweise mit der Zielformulierung „Der Schüler kann den normgerechten Sprachgebrauch für sich und andere wertschätzen“ (S.- 54). Die angestrebte Kompetenz „Wirkung von Sprache ausprobieren und zielgerichtet nutzen“ (S.- 54) könnte auch in Hinsicht auf Sprachkritik- und Dialogfähigkeit interpretiert werden. An der FU-Berlin beschäftigte sich ein DFG-Projekt mit der Frage, wie man Jugendsprache in den Unterricht einbinden kann, und betonte, dass die Thematik Jugendsprache gut geeignet sei, den eigenen Sprachgebrauch zu reflektieren und zu analysieren, da bei der Beschäftigung mit dem eigenen Sprachgebrauch eine hohe Eigenmotivation vorausgesetzt werden könne. 153 Diese Thematik 152 https: / / www.schulportal-thueringen.de/ media/ detail? tspi=9426; Lehrplan Deutsch, Gymnasium.pdf; Zugriff am 30.05.2022. 153 https: / / gepris.dfg.de/ gepris/ projekt/ 53407 759/ ergebnisse? context=pro jekt&task=showDetail&id=53407759&selectedSubTab=2&; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="137"?> 136 ist auch gut geeignet, die Besonderheiten der gesprochenen Sprache hervorzuheben und so sichtbar zu machen, dass verschiedene kommunikative Situationen unterschiedliches Sprachverhalten verlangen: Was mündlich angemessen ist, muss es schriftlich nicht sein, weshalb die Bewertungskriterien auch den kommunikativen Situationen angemessen sein sollen. Eine spezielle Variante der Jugendsprache ist das Kiezdeutsch. Es wurde vorgeschlagen, in Schulen, die einen hohen Anteil von Schüler: innen nichtdeutscher Herkunft haben und in denen man, „das Interesse Jugendlicher an Sprache und Grammatik wecken will, Kiezdeutsch als produktives Untersuchungsobjekt einzusetzen. 154 Es kann der Frage nachgegangen werden, ob es sich bei Kietzdeutsch um „gebrochenes Deutsch“ handelt, wie Sprachkritiker: innen meinen. Dies kann dabei helfen, zu befähigen, selbständige Urteile über sprachliche Phänomene abzugeben und zu begründen. Eine amerikanische Redensart meint: „Die meisten Menschen wollen lieber durch Lob ruiniert als durch Kritik gerettet werden.“ So wie positive und negative Bewertungen wesentlich sind, um im Leben voranzukommen, ist auch die Reflexion über Sprache und Sprachgebrauch (Sprachkritik) nötig, um das individuelle und allgemeine Sprachbewusstsein und die Sprachkultur zu fördern. Auch wenn sehr viele Zugänge zur Charakterisierung von kritischen Sprachbetrachtungen existieren (siehe weiter Kilian/ Niehr/ Schiewe 2016), besteht Konsens, dass die Etablierung und Propagierung von akzeptierten Kriterien zur Einordnung von Sprachkritiken für Leser: innen und Kritiker: innen notwendig und dringlich ist. Dies belegen auch die heftigen gesellschaftlichen Kontroversen um die Orthografiereform oder geschlechtergerechte Sprache. 154 https: / / www.digibits.de/ materialien/ kiezdeutsch-im-unterricht/ ; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="138"?> 137 Osterroth (2015: 1.1.8) hat drei Axiome einer linguistisch begründeten Sprachkritik aufgestellt, die es zu vermitteln gilt: das Axiom der Relativität, das Axiom des Sprachwandels und das Axiom der Medialität. Es ist wichtig, bei Lexemanalysen immer zu berücksichtigen, dass der Kontext einzubeziehen ist (Relativität). Dies betrifft auch das Einbegreifen der sprachlichen Varietäten (Medialität). So kann man Witze, Karikaturen oder Satire nicht mit den Regeln der Wissenschaftskommunikation bewerten. Ein schwieriges Thema ist in diesem Zusammenhang „die Gotteslästerung“, die seit 1871 in Deutschland als Straftatbestand gilt. Seit 1969 besagt „der Blasphemie-Paragraf “, dass die Beschimpfung eines religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses nur strafbar ist, wenn sie geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. 155 In einigen islamischen Staaten führt das Blasphemie-Verbot dazu, dass Menschen mit dem Tod bedroht sind, wenn sie den Propheten Mohammed oder Allah verspotten. In Paris führten Karikaturen des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ 2015 zu einem terroristischen Anschlag und Unruhen in vielen Staaten. Die Tatsache, dass sich natürlicher Sprachwandel ständig vollzieht und nicht intendierte Folgen nach sich ziehen kann, wurde im Kapitel 2.1 näher erläutert. Lexikalischer Sprachwandel kommt durch das tägliche millionenfache Verwenden des deutschen Wortschatzes zustande und Abwandlungen ergeben sich in der Regel nicht aus der Absicht, die Sprache zu verändern. Der Einzelne hat, selbst wenn er dies wollte, nicht die Macht dazu. Negative Kritik ist verbunden mit schlechter Bewertung, da Kritik mit Werturteilen (positive oder negative) verbunden ist, auf ihnen beruht. Dabei dient die Sprache auch als Instrument 155 https: / / www.domradio.de/ themen/ glaube/ 2020-09-30/ ein-schmaler-grat-zurblasphemie-wann-der-spass-ueber-gott-und-religion-aufhoert; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="139"?> 138 des Bewertens, da sie über spezifische Bewertungselemente und bewertende Sprechakte verfügt. Um Sprachkritik einordnen zu können, ist es sinnvoll, die wertenden Ausdrücke und den Argumentationsverlauf näher zu betrachten, da die wichtigste Frage der Fundierung der Sprachkritik überhaupt sich aus der Struktur des Bewertungs-Aktes ergibt (Heringer/ Wimmer 2015: 51). Wörter können, wie schon in Kapitel 2.1 dargelegt, Unterschiedliches in eine Äußerung einbringen. Sie können etwas bezeichnen und/ oder Emotionen bzw. Wertungen ausdrücken (beispielsweise eine Abneigung) und/ oder eine Absicht artikulieren. Bewertungen können direkt und indirekt erfolgen. In dem folgenden Beispiel aus „sportbild.de“ 156 wird unter der Überschrift „Harte Worte von-…“ der Trainer Löw kritisiert: „Dieses Festbeißen auf die Dreierkette, ohne einen Plan B zu haben, hat mich sehr irritiert“, sagt Babbel. Die Syntagmen „dieses Festbeißen“, „ohne einen Plan“ und „hat sehr irritiert“ beinhalten alle eine negative Wertungskomponente und bringen die emotive Befindlichkeit der Erregung und Verärgerung von Babbel zum Ausdruck. Gleichzeitig wird durch die Verwendung von „harte Worte“ die Kritik von Babbel sprachlich bewertet, als scharfe Kritik bezeichnet. Dies ist ein Geschmacksurteil, das man teilen kann oder auch nicht. „Keinen Plan B haben“ ist dagegen eine rationale Bewertung, die potentiell nachprüfbar ist. In jüngerer Zeit wird die Gesprächspartikel „äh“ bzw. „ähm“ nicht als Verzögerungslaut, sondern häufiger für die Markierung von indirekten sprachlichen Bewertungen eingesetzt, in Äußerungen wie „Zumal sie vermutlich nicht mal die, äh, Testikel in 156 https: / / sportbild.bild.de/ fussball/ em-2021/ europameisterschaft/ markus-bab bel-rechnet-mit-jogi-loew-ab-da-lache-ich-mich-kaputt-76944844.sport.html; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="140"?> 139 der Hose hätten, es der Person auch direkt ins Gesicht zu sagen.“ 157 „Micaela zeigt ihr neues-… ähm-… Höschen.“ 158 Mit Nachbemerkungen wie in dem Buchtitel „Wissen Sie, daß Sie prächtig aussehen für Ihr Alter! “ kann eine positive Bewertung indirekt wieder eingeschränkt werden und mit dem Hinweis auf das Alter gar zu Verdruss führen. Sprachkritiken können, wie andere Kritiken auch, am einfachsten eingeordnet werden, indem man nach dem angelegten Maßstab fragt. Dabei ist vor allem die Frage nach der Wahrheit relevant. Die Berücksichtigung des Kontextes und der Verwendungssituation ist aber genauso wichtig. Eine Allensbach-Umfrage vom Juni 2021 ergab, dass 44- Prozent der Deutschen das Gefühl haben, sie könnten ihre politische Meinung nicht mehr frei äußern und müssten deshalb vorsichtig sein, weil sie bei Verstößen gegen die politische Korrektheit gesellschaftlichen Sanktionen ausgesetzt wären. Wie kommt es dazu? Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht nach Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, nach Artikel 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und nach Artikel 5 des Deutschen Grundgesetzes. Meinungsfreiheit ist also rechtlich durch Gesetze garantiert. Sie steht aber nicht über anderen Gesetzen und kann unter Umständen mit Gesetzen zum Schutz von Minderheiten oder dem Recht der persönlichen Ehre in Konflikt geraten. Meinungen sind im Gegensatz zu falschen Tatsachenbehauptungen nicht strafbar. 157 https: / / www.swp.de/ suedwesten/ staedte/ ulm/ facebook-wanted-ulm-korpulen te-frau-sucht-begleiter-reaktionen-ein-kommentar-40662140.html; Zugriff am 30.05.2022. 158 Bild online, 26.08.2021. <?page no="141"?> 140 In den letzten Jahren hat offenbar der Eindruck zugenommen, dass abweichenden Meinungen sehr unfreundlich widersprochen wird und deren Äußerung mit Gewalt unterbunden wird, was in einer offenen Gesellschaft nicht vorkommen sollte. Als 2019 der Wirtschaftsprofessor und Ex-AfD-Vorsitzende Bernd Lucke wieder seine regulären Vorlesungen an der Uni Hamburg halten wollte, skandierten Demonstrierende „Es gibt kein Recht auf Nazipropaganda“, beschimpften ihn als „Nazi“ 159 und „Nazischwein“ und besetzten den Hörsaal. Die Folgetermine mussten unter Polizeischutz stattfinden. Dieses und ähnliche Vorkommnisse, wie das Ausladen von Kathleen Stock, Professorin für Analytische Philosophie an der Universität Sussex, durch das Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft in Berlin 160 und Sprechverbote auf universitären Veranstaltungen (siehe Josef Joffe auf Zeit Online) 161 , machten unter dem Schlagwort Cancel Culture Schlagzeilen. Wissenschaftler: innen engagieren sich aber auch vielerorts dafür, dass abweichenden Positionen und Meinungen Raum gegeben werden muss. Als ca. 50 bekannte deutsche Schauspieler: innen in einer gemeinsamen Aktion mit dem Namen #allesdichtmachen auf You- Tube 53 teils satirische, teils ironische Kurzvideos, die sich kritisch mit der Regierungspolitik in Coronazeiten auseinandersetzen, veröffentlichten, wurden neben kritischen Meinungsäußerungen von Ärzten und Pflegern dazu schnell auch Meinungen veröffentlicht, die ein Berufsverbot für die Akteure forderten. Als Videos von der Plattform entfernt wurden, wurde dort folgender Zusatz hinzugefügt: 159 https: / / www.deutschlandfunk.de/ nazivergleich-die-nazi-keule-oder-der-fluchder-boesen-tat.1184.de.html? dram: article_id=272082; Zugriff am 30.05.2022. 160 Genauer siehe https: / / blogs.feministwiki.org/ feuerstein/ redefreiheit-i/ ; Zugriff am 30.05.2022. 161 https: / / www.zeit.de/ gesellschaft/ zeitgeschehen/ 2019-10/ meinungsfreiheit-uni versitaet-hamburg-bernd-lucke-asta; Zugriff am 30.05.2022. <?page no="142"?> 141 Übrigens: Wenn Videos von dieser Seite verschwinden, dann heißt das nicht zwingend, dass die jeweiligen Leute sich distanzieren. Es kann auch bedeuten, dass jemand sich einfach nicht in der Lage sieht, diesen Shitstorm auszuhalten, oder dass Familie und Kinder bedroht werden. Vorkommnisse gegen die Wissenschafts- und Meinungsfreiheit zeigen, dass das Engagement gegen Cancel Culture von links und rechts für alle Demokrat: innen selbstverständlich sein sollte, da das gewaltsame Herstellen von „Einheitsmeinungen“ nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Demokratie schadet. Sprachkritik und Verbotssowie Boykottverlangen sind nicht dasselbe. An die Stelle von Dogmatismus und Intoleranz müssen eine offene, dialogische Denkweise und der Respekt auch vor anderen, abweichenden Meinungen treten. Dabei „muss man manchmal auch Dinge aushalten, die einem auf den Nerv gehen“, so der Rechtswissenschaftler Hans-Heinrich Trute (2022), der die Kommission leitete, die den Hamburger „Kodex Wissenschaftsfreiheit“ erarbeit hat. Proteste gegen abweichende Meinungen sind natürlich legitim, wenn sie auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit stehen. Die Störung des öffentlichen Friedens, der Aufruf zu Straftaten, Beleidigungen und Verunglimpfungen sind keine Meinungsäußerungen, sondern Straftatbestände. Man muss, so Trute, „lernen, in einer Form zu widersprechen, die es dem Gegenüber ermöglicht weiterzumachen“. <?page no="144"?> 143 Rechts- und Quellennachweise Abb. 1: Wikimedia; https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: V%C3%B6lkertafel.jpg Abb. 2: Korpora der Universität Leipzig, Stand: 31.05.2022 Abb. 3: DWDS-Korpora, Stand: 27.02.2022 Abb. 4: DWDS, Stand: 27.02.2022 Abb. 6: Kommunikationsquadrat (https: / / www.schulz-von-thun.de/ diemodelle/ das-kommunikationsquadrat) © Schulz von Thun Institut für Kommunikation, Abdruck mit freundlicher Genehmigung Abb. 9: „Backen mit Helga“ (https: / / backen-mit-helga.de) © Helga Minnebeck, Abdruck mit freundlicher Genehmigung Abb. 10: FDP © Freie Demokratische Partei; 2021 Abb. 11: BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Abb. 12: CDU, Partei- und Kandidatenservice © CDU / Laurence Chaperon Abb. 13: SPD Abb. 19: „Deutsche Sprachwelt“, Abdruck mit freundlicher Genehmigung <?page no="146"?> 145 Literatur Ankenbrand, Katrin (2013): Höflichkeit im Wandel. 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Auflage 2022, 153 Seiten, €[D] 17,99 ISBN 978-3-89308-465-4 eISBN 978-3-89308-665-8 Lukas Ohly Ethik des Notstandes Theologische Hintergründe 1. Auflage 2022, 130 Seiten, €[D] 14,99 ISBN 978-3-89308-468-5 eISBN 978-3-89308-668-9 <?page no="156"?> Der Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Gesellschaft Martina Stemberger Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie 1. Auflage 2021, 119 Seiten, €[D] 14,99 ISBN 978-3-89308-464-7 eISBN 978-3-89308-664-1 Martina Stemberger Homer meets Harry Potter: Fanfiction zwischen Klassik und Populärkultur 1. Auflage 2021, 98 Seiten, € [D] 14,99 ISBN 978-3-89308-462-3 eISBN 978-3-89308-662-7 Kordula Schnegg Antike Geschlechterdebatten Die soziale Verortung der Frauen und Männer in der griechisch-römischen Antike 1. Auflage 2021, 91 Seiten, € [D] 14,99 ISBN 978-3-89308-459-3 eISBN 978-3-89308-659-7 Paul Metzger Zum Teufel! - Die Frage nach dem Bösen 1. Auflage 2020, 106 Seiten, € [D] 14,99 ISBN 978-3-89308-461-6 eISBN 978-3-89308-661-0 Lukas Ohly Kirche und Krisen Theologische Perspektiven auf Inhalt und Form 1. Auflage 2020, 117 Seiten, €[D] 14,99 ISBN 978-3-89308-460-9 eISBN 978-3-89308-660-3 <?page no="157"?> Der Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Gesellschaft Joachim Knape, Olaf Kramer, Dietmar Till (Hrsg.) Populisten - rhetorische Profile 1. Auflage 2019, 106 Seiten, €[D] 14,99 ISBN 978-3-89308-454-8 eISBN 978-3-89308-654-2 Eva Gredel Digitale Diskurse und Wikipedia Wie das Social Web Interaktion im digitalen Zeitalter verwandelt 1. Auflage 2018, 90 Seiten, €[D] 14,99 ISBN 978-3-89308-453-1 eISBN 978-3-89308-653-5 <?page no="158"?> ISBN 978-3-89308-465-4 W W W . N A R R . D E Immer wieder werden in Politik und Gesellschaft teils heftige Debatten um die ‚richtigen‘ Wörter geführt. Beispielsweise darüber, ob mit die Lehrer auch Lehrerinnen und Diverse gemeint sind. Oder ob Wörter wie Mohr und Zigeuner diskriminierend sind und deshalb verboten werden müssen. Dieser Band analysiert ausgewählte Streitpunkte und versucht, den Argumenten, aber auch den Überzeugungen und Gefühlen der Streitenden auf den Grund zu gehen. Dabei geht es nicht darum zu harmonisieren oder andere zu dominieren, sondern darum, wesentliche Argumentationslinien anschaulich und nachvollziehbar zu machen. Die Prämisse ist, dass gegenseitiges Verstehen das Finden von Wegen aus dem Streit erleichtert. Die Publikation hilft, Tendenzen der Sprachentwicklung zu verstehen und eigenes und fremdes Sprachhandeln zu beurteilen sowie Ablehnungen oder Mitvollzug von Entwicklungen auf Sachkenntnis zu gründen.