Ethik des Notstandes
Theologische Hintergründe
0613
2022
978-3-8930-8668-9
978-3-8930-8468-5
Attempto Verlag
Lukas Ohly
10.24053/9783893086689
Die Legitimität von Notstandsmaßnahmen beruht auf einem eigentümlichen Zirkelschluss: Mit ihm berechtigt sich eine Regierung zu Sonderbefugnissen, die sie damit schon besitzen müsste, um sich auf sie zu berufen.
Wie sollen evangelische Christen damit umgehen? Es stellt sich heraus, dass in der reformatorischen Tradition Politik immer und wesensmäßig auf einen Notstand bezogen ist. Ohne Notstand keinen Staat! Politik wird so auf die ordnungspolitische Dimension reduziert. Dieses Buch skizziert demgegenüber eine politische Theorie, die eine christliche und bürgerliche Autonomie vor staatlichen Übergriffen wahrt. Dazu werden theologische Phänomene vorgestellt, die in Balance zueinander stehen müssen, damit Politik auch in Krisenzeiten gerecht gestaltet werden kann.
<?page no="0"?> Ethik des Notstandes Theologische Hintergründe Lukas Ohly <?page no="1"?> Ethik des Notstandes <?page no="3"?> Lukas Ohly Ethik des Notstandes Theologische Hintergründe <?page no="4"?> Umschlagabbildung: iStock.com/ Stock-Illustration-ID: 669585174 (JuliarStudio); Stock-Illustration-ID: 1174820504 (anuwat meereewee) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783893086689 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2626-0697 ISBN 978-3-89308-468-5 (Print) ISBN 978-3-89308-668-9 (ePDF) ISBN 978-3-89308-019-9 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Für Claudia <?page no="6"?> 6 Inhalt 1 Corona 8 2 Notstand 9 3 Gesellschaft 11 4 Experten 15 5 Kirche 18 6 Martin Luther 24 7 Staatsaufgabe 27 8 Notstandsdemokratie 31 9 Impfgegner 34 10 Corona-Demonstranten 38 11 Das Gute 40 12 Fiktion 46 13 Giorgio Agamben 50 14 Theologische Entgiftung 53 15 Widerfahrnisse 55 16 Tatsächlichkeit 62 17 Anwesenheit 70 18 Anerkennung 73 19 Heiliger Geist 77 20 Trinität 80 21 Balance 86 22 Freihändigkeit 89 23 Regellosigkeit 95 24 Selbstentschuldigung 97 25 Veräußerlichkeit 100 26 Selbstverleugnung 104 27 Geschichtslosigkeit 108 28 Normalzustand 111 29 Epidemische Lage 112 30 Protest-Gruppen 115 <?page no="7"?> 7 31 Impfpflicht 116 32 Triage 121 33 Schluss 125 Literaturverzeichnis 128 <?page no="8"?> 8 1 Corona Als ich begonnen habe, dieses Manuskript zu schreiben, sind in Deutschland bereits über 100.000 Menschen mit oder durch die Infektion mit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 gestorben. Innerhalb von knapp zwei Jahren sind damit Todeszahlen in Höhe der Einwohnerzahl einer Großstadt zu verzeichnen gewesen. Im weltweiten Vergleich hat die Corona-Pandemie in Deutschland weniger stark gewütet als anderswo in der Welt. Die USA, die viermal so viele Einwohner haben als Deutschland, haben mehr als achtmal so viele Corona-Tote registriert. Weltweit sind 5,5 Millionen Menschen an der Corona-Erkrankung Covid-19 gestorben. Der Anteil Gestorbener gemessen an der Weltbevölkerung liegt etwa sechsmal höher als in Deutschland. Dieser deutliche Unterschied hat natürlich mit der vergleichsweisen guten medizinischen Versorgungslage in Deutschland zu tun, wird aber auch den effektiveren politischen Maßnahmen in Deutschland zugeschrieben. Selbst die reichste Nation der Welt, die USA, hat deshalb bis heute deutlich mehr Corona-Tote zu verzeichnen gehabt als Deutschland. Frühzeitig hatten die Bundes- und die Landesregierungen das Land zeitweise in einen Lockdown versetzt, so dass Betriebe, Kaufhäuser, Bildungseinrichtungen und Kindertagesstätten schließen mussten. Es wurden Maskenpflicht sowie strenge Kontaktbeschränkungen verordnet. Ein Infektionsschutzgesetz wurde verabschiedet und im Laufe der Krise an die Situation angepasst, mit dem bundesweit einheitliche Regelungen gewährleistet werden sollten. Selbst nach den Lockerungen wurde lange Zeit die Schule im Online- oder Wechselunterricht mit jeweils nur einem Teil einer Schulklasse organisiert. Mit einer aufwändigen Impfkampagne wurden 75-Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung innerhalb eines Jahres zweimal geimpft, über die Hälfte sogar dreimal. Die Impfprioritäten orientierten sich dabei primär an den „vulnerablen Gruppen“, <?page no="9"?> 9 an den ältesten Bevölkerungsgruppen und Menschen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko. Die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ist an Bedingungen geknüpft worden, nämlich an die „G“-Regeln, entweder von der Krankheit genesen, geimpft oder von einem öffentlichen Zentrum negativgetestet worden zu sein. Dabei haben sich die Zugangsbedingungen für ungeimpfte Personen verschärft, da zunehmend 2G-Regeln nach Landesverordnung zugrunde gelegt wurden, also nur geimpfte und genesene Personen zu Veranstaltungen, in Cafés und Läden zugelassen worden sind. Bestimmte Berufsgruppen unterstehen einer Impflicht. Diskutiert wurde zwischenzeitlich eine allgemeine Impfpflicht. 2 Notstand Haben diese politischen Maßnahmen einen Notstand abgewendet? Oder belegen sie, dass sich ein Land im Notstand befindet? Sind sie also durch einen drohenden oder bereits bestehenden Notstand in Geltung gesetzt worden? Der Unterschied ist ethisch durchaus relevant. Befindet sich ein Land bereits in einem Notstand, dann lassen sich unter Umständen nicht mehr alle institutionellen Gegebenheiten gewährleisten. Es muss dann gegebenenfalls „improvisiert“ werden, ohne die rechtlich vorgeschriebenen Verfahren durchgängig zu beachten und ohne alle gültigen Gesetze zu bewahren. Auch bestimmte gesellschaftlich akzeptierte Werte können dann ihre zeitweilige Überzeugungskraft verlieren. Das trifft etwa auf die Frage zu, mit welcher Priorität bestimmte Patienten in der Behandlung anderen vorgezogen werden, wenn lebenserhaltende Instrumente nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind (das Problem der sogenannten Triage). - Eine solche Einschätzung unterstellt, dass das verfassungsmäßige Recht für Notstände nicht ausreichend ist und dass der Staat außerrechtlicher Maßnahmen bedarf. Tatsächlich sind seit Ausbruch der Corona-Krise Grund- <?page no="10"?> 10 rechte eingeschränkt worden, um das Grundrecht auf Leben weitestgehend zu sichern. Vor allem das Recht auf Freizügigkeit und das Versammlungsrecht sind dafür beschnitten worden. Auch die politischen Verfahren sind umgeleitet worden: Die meisten Maßnahmen wurden in regelmäßigen Bund-Länder-Konferenzen vereinbart, für die es jedoch kein verfassungsmäßiges Mandat gibt. Die Einschätzung zur Effektivität der verfassungsmäßigen Abläufe ist anders, wenn sich das Land noch nicht im Notstand befindet und die politischen Institutionen aus ihrer rechtlich-politischen Stabilität heraus agieren, um ihn zu vermeiden. Im letzteren Fall wird dem rechtlichen Status quo zugetraut, alle Instrumente zur Eindämmung eines Notstandes zu besitzen. Es werden dann keine Rechte beschnitten, und die politischen Verfahren funktionieren rechtlich ordnungsgemäß. In dieser Einschätzung steht der Notstand am Rand der politischen Normalität. Krisenmanagement ist dann ein typischer Teil politischen Handelns und effektiv genug, um einen Notstand gar nicht erst ausbrechen zu lassen. Es gibt aber einen heiklen Zwischenbereich zwischen diesen beiden Verständnissen. Er besteht darin, dass der Notstand noch nicht ausgebrochen ist, aber so sehr die gesellschaftliche Stabilität bedroht, dass sich die Regierung oder das Parlament zu einem Notstandsrecht entscheidet. Hier kommt die Akklamation des Notstandsrechts dem faktischen Notstand zuvor. Der Notstand wird zur politischen Situation erklärt, und mit ihm werden Beschneidungen von Rechten und Verkürzungen von Verfahren gerechtfertigt. Argumentiert wird einerseits aus der Sicherheitszone der Verfassungsmäßigkeit heraus, andererseits jedoch so, dass der Notstand die Rechtslage okkupiert und verändert. In diesem Zwischenbereich ist nicht mehr entscheidbar, ob sich die Gesellschaft noch vor dem Notstand befindet oder schon in ihm. Denn allein dass mit dem drohenden Notstand wesentliche Veränderungen legitimiert werden, erzeugt er schon jetzt eine eigene politische Wirklichkeit. Der Notstand soll abgewehrt werden, indem zu- <?page no="11"?> 11 gleich der Notstand das geltende Recht „abwehrt“ oder zumindest relativiert. 3 Gesellschaft Nach Auffassung einer Minderheit der deutschen Bevölkerung haben sich die politischen Machthaber die Corona-Krise nur ausgedacht, um die Freiheitsrechte ihrer Bürger zu beschränken und die Macht an sich zu reißen. Man mag diese Auffassungen mit „Fakten-Checks“ als „Verschwörungstheorien“ überführen. Zugleich jedoch zeigen sich damit zwei auffällige Trends: Zum einen wird die Frage des Notstandes zu einer Interpretationsangelegenheit. Zum anderen zeichnet den Notstand gerade aus, dass Fakten geschaffen werden. Beide Trends vertragen sich nur, wenn es eine maßgebliche Instanz gibt, die Fakten schafft, indem sie die Deutungshoheit hat. Aber wer die Deutungshoheit hat, ist wieder abhängig von Interpretation. Die Frage des Notstandes ist damit nicht mehr nur eine politische, sondern eine gesellschaftliche. Ob ein Notstand vorliegt, lässt sich nicht nur am politischen Verfahren ablesen, sondern auch daran, wie Staatsbürger miteinander und mit der politischen Führung interagieren. Die Philosophin Judith Butler hat am Gewaltbegriff demonstriert, dass Gewalt bereits damit beginnt, dass die herrschende Gruppierung den Gewaltbegriff definiert. 1 Butler zeigt, dass Gewalt gegen bestimmte soziale Gruppen damit legitimiert wird, dass diese Gruppen als gewalttätig stilisiert werden. Flüchtlinge gelten dann als Aggressoren, gegen die sich eine Gesellschaft wehren muss. 2 Stille Proteste werden als Nötigungen interpretiert. 1 J. Butler: Die Macht der Gewaltlosigkeit, 16, 168 u.ö. 2 AaO, 83. <?page no="12"?> 12 Dieser Mechanismus, dass die Mächtigen oder gesellschaftlich einflussreiche Gruppierungen auch über die Sprache entscheiden, lässt sich auch auf den Begriff des Notstandes übertragen. Faktisch haben die „Verschwörungstheoretiker“ insoweit recht, dass der Notstand festgestellt werden muss. Ein Notstand ist keine natürliche Tatsache, sondern ein soziales Konstrukt. Selbst wenn eine Pandemie grassiert und Millionen von Menschen in den Tod reißt, ist dieses Unglück erst dann ein Notstand, wenn er festgestellt wird. Die chinesische Regierung hatte in den ersten Wochen der Corona- Krise noch versucht, den Notstand dadurch zu verhindern, dass sie die warnenden Ärzte zum Schweigen brachte. Ein Unglück ist ein Schicksal. Ein Notstand dagegen setzt politische und moralische Rechtfertigungsinstrumente für menschliches Antwortverhalten in Stellung. Wenn eine Regierung den Notstand ausruft, befindet sich bereits der Ausruf im Notstand. Denn er gilt als Rechtfertigungsgrund für seinen Ausruf. Er wird also einerseits geschaffen, indem er benannt wird. Andererseits wird die Deklaration des Notstandes durch ihn gerechtfertigt. Was Udo di Fabio etwas harmlos als „Präventionsparadox“ 3 beschreibt, beruht eigentlich auf einer logisch zirkulären Struktur im Ausruf des Notstandes, die eine Regierung zu Maßnahmen berechtigt, weil die Regierung oder die Mehrheit des Parlaments feststellt, dass sie dazu berechtigt ist. Hitlers juristischer Chefideologe Carl Schmitt sprach von einem Notwehrrecht, das seine Voraussetzungen selbst schafft. 4 Diese zirkuläre Struktur ist brisant, weil sich mit ihr die Regierung einer Kontrolle entzieht, ob es den angeblichen Notstand wirklich gibt. Mit dem Notstandsargument kann sich eine Regierung aus willkürlichen Gründen in eine unangreifbare Position bringen. Carl Schmitt sah darin ein 3 U. di Fabio: Coronabilanz, 27. 4 C. Schmitt: Die Diktatur, 176. <?page no="13"?> 13 Kennzeichen staatlicher Souveränität, über den Ausnahmezustand entscheiden zu können. 5 Die Corona-Krise in Deutschland hat glücklicherweise nicht zu dieser Willkürherrschaft geführt. Die deutschen Gerichte haben ihre Unabhängigkeit öfter unter Beweis gestellt, indem sie die Beschneidung von Rechten per Verordnungen für unwirksam erklärt haben. 6 Allerdings ist diese zirkuläre Struktur politisch unausweichlich, wenn ein Notstand festgestellt werden muss. Er besteht, weil die Staatsgewalten sagen, dass er besteht. Mit dem Infektionsschutzgesetz haben Bundestag und Bundesrat allgemeine Kriterien für eine „epidemische Lage“ beschlossen. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Lage, die die Bundesregierung für wirksam gehalten hat, sind dabei während der Pandemie mehrfach im Gesetz geändert worden. Das Recht läuft den Notstandsmaßnahmen nach, denn ansonsten müsste der Notstand nicht ausgerufen werden. Konkret gezeigt hat sich diese Entwicklung daran, dass im vierzehntägigen Rhythmus neue Länderverordnungen in Kraft getreten sind. Diese waren in der Öffentlichkeit jeweils mit Spannung erwartet worden, weil man eben nicht sicher sein konnte, wie der Notstand von den Regierungen jeweils interpretiert worden ist. Der Notstand ist also das Ergebnis einer Interpretation der Lage. Daher ist es nicht überraschend, wenn eine Opposition die herrschende Interpretation für unberechtigt hält. Auch die Opposition interpretiert die Lage. Und wenn die Regierung ihre Entscheidung mit einer Interpretation legitimiert, dann besteht logisch ein Patt in der Begründungsform der Situation zwischen Regierung und Opposition. Als Unterschied kann dann nur geltend gemacht werden, dass die Regierung die Regierung ist und damit einen Machtvorteil besitzt. Und das heißt nichts anderes, als dass die Entscheidung, ob ein Notstand herrscht, eine bloße Machtentscheidung ist. Mögen 5 AaO, 238. 6 U. di Fabio: Coronabilanz, 56. <?page no="14"?> 14 Notstandsbefugnisse mit dem Grundgesetz gerechtfertigt werden können, so heißt das nicht, dass der Notstand mit zur Ordnung gehört, die er außer Kraft setzt. Die zirkuläre Begründung des Notstandes kaschiert aber genau diesen Widerspruch. Und das heißt zugleich, dass die verfassungsrechtliche Ermöglichung des Notstandes den Zirkelschluss kaschiert. Noch einmal zum Vergleich mit einer politischen Entscheidung im „Normalzustand“: Hier gehört die Machtentscheidung zum typischen Prozedere und verbleibt im Rahmen der politischen Ordnung. Regierung und Opposition mögen die Lage unterschiedlich einschätzen, etwa zur Portoerhöhung von Postsendungen. Aber gleichgültig, welche Interpretation sich durchsetzt, verbleibt die Entscheidung im Rahmen der politischen Ordnung. Wird aber eine Lage als Notstand eingeschätzt, so verändert sich die politische Ordnung. Und eine Regierung, die ihre Interpretation der Lage dazu geltend macht, benutzt den Rahmen der politischen Ordnung, um diese anzutasten. Die Deklaration des Notstandes gibt sich also die Legitimation über eine Ordnung, die sie zugleich teilweise außer Kraft setzt. Deshalb ist es zwar eine grobe Vereinfachung, wenn verschwörungstheoretisch suggeriert wird, die Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung würde nicht bestehen, wenn die Regierung den Notstand nicht erfunden hätte. Und doch bestätigt sich, wie bedeutsam Interpretationen für die Frage werden, ob ein Notstand besteht oder nicht. Es verwundert dann nicht, dass die Opposition Gegennarrative entwickelt, denn auf der Ebene der Narrative wird über den Notstand entschieden. Narrative bleiben aber abhängig vom Erzähler, sonst berichtet man Tatsachen. Darin besteht ihre Zirkularität. <?page no="15"?> 15 4 Experten Ein weiteres Narrativ entwickeln Experten. Die Wissenschaft sichert ein Narrativ ab mit einer evidenzbasierten Nötigung: Hier wird nun nicht einfach ein Notstand erklärt oder wegerklärt, sondern die Situationseinschätzung mit Datenmaterial unterstützt. Während die herrschende Mehrheit und die Minderheiten um die Macht der Notstandsfeststellung streiten, hat die Wissenschaft über ihr Narrativ noch die Überzeugungskraft der vernünftigen Einsicht auf ihrer Seite. Das wissenschaftliche Narrativ wird seinerseits wissenschaftlich kontrolliert. Auch darin steckt eine Zirkularität, weil man die Geltung wissenschaftlicher Ansprüche bereits akzeptiert haben muss, um ihre Kontrolle von wissenschaftlichen Aussagen anzuerkennen. Zumindest aber hängt die Notstandsfeststellung nicht nur von Interpretationen von Sachlagen ab, sondern auch von der Interpretation wissenschaftlich erhobener Daten und Modelle. Und wenn sich beide Interpretationen entsprechen, obwohl sie durch verschiedene Verfahren zustande gekommen sind, erhöht sich die Plausibilität des wissenschaftlichen Narrativs. Mit erstaunlicher Mediensicherheit haben sich Immunologinnen, Virologen, Statistikerinnen und Mitglieder des Deutschen Ethikrats während der Corona-Krise in der Öffentlichkeit inszeniert. Geschickt haben sie ihre Szenarien der Auswirkungen der Pandemie laiengerecht einem breiten Publikum erklärt, indem sie regelmäßig Podcasts oder Erklärvideos hochgeladen haben. Damit konnten sie den Eindruck abwehren, dass es eine Macht des Wissens gäbe - analog zur Macht einer Regierung, einen Notstand auszurufen. Der Notstand wird wissenschaftlich nicht deshalb festgestellt, weil Wissenschaftlerinnen sagen, dass er besteht, sondern nur sofern dem Personenkreis, der sich auf allgemein zugänglichen Kanälen populärwissenschaftlich informiert, die Situationseinschätzung einleuchtet. Hier wird nicht einfach an die <?page no="16"?> 16 Vernunft appelliert - was tatsächlich zirkulär wäre, weil jemand bereits zugestimmt haben muss, sich von der Vernunft rufen zu lassen, um sich an sie zu binden. Vielmehr wird erhofft, dass die eigene Vernunft von selbst geweckt wird, wenn jemand die Informationen der Podcasts nachvollzieht. Wissenschaft rechnet mit der Selbstevidenz des rationalen Mitvollzugs. Das ist auch ein Zirkel, aber kein logischer Fehler, der immer schon voraussetzt, was er beweisen will. Vielmehr verweisen das bloße Mitdenken und Nachvollziehen von Argumenten auf den Prozess des Mitdenkens und Nachvollziehens, der in diesem Moment unhintergehbar ist, wo mitgedacht und nachvollzogen wird. Vernunft bildet sich von selbst im Denkvollzug. An die Vernunft zu appellieren kann also höchstens darin vernünftig sein, dass jemand diese Zirkularität anerkennen soll, die beim Denken unvermeidlich ist. Das würde bedeuten, dass sich jemand reflexiv an diese Zirkularität bindet, die er beim Denken einfach so vollzieht. Mit dieser Anerkennung hätte er dann eine moralische Entscheidung getroffen und damit mehr getan als nur gedacht. Das ist es, was man einen „hermeneutischen Zirkel“ nennt, der allgemein akzeptiert ist 7 - natürlich nur, wenn man bereit ist, wissenschaftlichen Argumenten überhaupt zu folgen. Deshalb ist das wissenschaftliche Narrativ so mächtig: Er beansprucht nämlich, nur wirkungsvoll zu werden in einem vernünftigen Denksubjekt. Seine Macht ist die eigene Macht der Vernunft in mir und keine fremdbestimmte Herrschaft von Experten. Allerdings lässt auch die wissenschaftliche Interpretation viele Lücken. Zum wissenschaftlichen Diskurs gehört der Dissens. Wissenschaftlerinnen widersprechen sich und schätzen die Lage unterschiedlich ein. Wessen Argumenten soll ich folgen? Das Problem vertieft sich nämlich dadurch, dass ich wissenschaftliche Narrative 7 F. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, 97. W. Dilthey: Gesammelte Schriften Bd. V, 330. <?page no="17"?> 17 zwar nacherzählen kann, aber da ich selbst kein Experte bin, kann ich nicht selbst mit wissenschaftlicher Evidenz neue Interpretationen erzählen. Ich bleibe also abhängig von den Informationen, die mir Experten aufbereiten. Diese Abhängigkeit kann ich wiederum als Macht der Experten interpretieren und ihre moralische Legitimität zurückweisen. Bestärkt werde ich dabei sogar von den Entscheidungen der Regierung, die nicht alle Vorschläge der Wissenschaft umsetzt. Die Regierung macht es mir vor, dass wissenschaftliche Diagnosen und Prognosen nicht zwangsläufig schon in politische Maßnahmen überführt werden. Wenn doch die Regierung die Expertise unterläuft, kann ich sie auch skeptisch betrachten und muss sie nicht in mein Narrativ integrieren. Wissenschaft vermittelt insofern den Eindruck, zum ausbeutungsfähigen Instrument der Machtsteigerung der Regierung werden zu können, die die Expertenergebnisse nur selektiv aufnimmt und damit demonstriert, dass sie selbst nicht evidenzbasiert agiert, sondern machtstrategisch. Wenn also in Frage steht, ob die Lage ein Notstand ist, spitzt sich die Kontroverse darauf zu, wer die Macht hat, die Regierung oder die außerparlamentarische Opposition. (Denn eine parlamentarische Opposition würde ja noch das System anerkennen, aus dem die Regierung sich selbst legitimiert, um den Notstand auszurufen.) In dieser Kontroverse schmilzt die wissenschaftliche Nüchternheit dahin und wird von allen Kontrahenten für ihr politisches Interesse instrumentalisiert: In den Augen der Opposition befindet sich die Wissenschaft in der Gewalt der Politik, so dass man ihr nicht trauen kann. In den Augen der Regierung ist die Opposition eine Minderheit von esoterischen Spinnern, die selbst wissenschaftliche Evidenz nicht akzeptiert. <?page no="18"?> 18 5 Kirche In der Corona-Krise hat sich die katholische Kirche weitgehend eine autonome Position zu den politischen Maßnahmen gegeben. Die Verordnung des ersten Lockdowns im März 2020, nach der Präsenzgottesdienste ausfallen mussten, kollidierte mit der kirchlichen Messpflicht. Die katholische Kirche hatte daher nach dem Lockdown als erste wieder Präsenzgottesdienste gefeiert und auch bei späteren Aufforderungen der Öffentlichkeit, an Weihnachten Präsenzgottesdienste ausfallen zu lassen, auf das Recht der freien Religionsausübung gepocht. 8 Im Gegensatz dazu haben die Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland die staatlichen Verordnungen weitgehend ohne Protest umgesetzt. Elisabeth Gräb-Schmidt spricht gar von einem „vorauslaufenden Gehorsam“ 9 . Die Kritik der evangelischen Kirche gegen staatliche Maßnahmen richtete sich hingegen vor allem auf bereits aufgehobene Beschränkungen. Demgegenüber war von einem Protest gegen das bestehende Besuchsverbot gegen Klinikinsassen und Heimbewohner weitgehend nichts zu hören, sogar wenn es den Seelsorgerinnen selbst verboten war, die Einrichtungen zu betreten. 10 Ich erinnere mich an eine Pfarrerin, die mir gegenüber im Sommer 2021 bekannte, sie sei für die politischen Beschränkungen gewesen. Das ist deswegen merkwürdig, weil die politischen Beschränkungen seit März 2020 inhaltlich sehr unterschiedlich waren und sich auch widersprochen hatten. Nach den Lockerungen des ersten umfassenden Lockdowns wurden bis in den Herbst 2020 kaum neue Beschränkungen erlassen, obwohl 8 www.katholisch.de/ artikel/ 27998-kirche-in-westfalen-raet-von-praesenzgottesdiensten-an-weihnachten-ab (Zugriff 22.01.2022). 9 E. Gräb Schmidt: Herausforderungen der Kirchen, 4. 10 E. Finger: Frommes Schweigen. <?page no="19"?> 19 Medizinerinnen und Statistikerinnen dazu aufgerufen hatten. Die Zufriedenheit der Pfarrkollegin schien sich wohl eher auf den Gesamteindruck zu beziehen, dass der Staat überhaupt die Ordnung regulierte. Worauf beruhen diese Unterschiede zwischen der katholischen Reserviertheit und der evangelischen Nibelungentreue gegenüber den staatlichen Entscheidungen? Ich vermute, dass sie sich mit den unterschiedlichen Staatsverständnissen erklären lassen, die sich in der Tradition gebildet haben. Die katholische Weltkirche, die im Papst ein zentrales Oberhaupt hat, steht ihrem Wesen nach distanziert zu den Ordnungen einzelner Staaten. Sie ist überstaatlich organisiert. Dadurch kann sie in undemokratischen Staaten die Religionsfreiheit als Naturrecht einfordern und zugleich in freiheitlichen Staaten um bestimmte Privilegien gegenüber anderen Religionsgemeinschaften verhandeln. Sie organisiert sich als möglichst unabhängig von staatlichen Ordnungen. Anders verhält es sich mit der evangelischen Kirche. Das ist schon an ihrer historischen Entstehung ablesbar. Die reformatorische Bewegung hat sich nur durch die Unterstützung von Fürstentümern behaupten können. Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 band die Religionsfreiheit des evangelischen Glaubens an den Glauben des jeweiligen Fürsten. Noch bis zum Ende des Ersten Weltkriegs bestand das sogenannte „landesherrliche Kirchenregiment“, das dem jeweiligen politischen Oberhaupt auch einschneidende Befugnisse über die kirchlichen Ordnungen gewährte, aber auch umgekehrt die Kirche unter seinen Schutz stellte. Die Weimarer Verfassung hob zwar die Staatskirche auf, gewährte aber den Kirchen den Status der Körperschaft öffentlichen Rechts (Art.- 137 Abs.- 5 WRV) und damit eine dichte Anbindung an die staatliche Ordnung bei aller innerkirchlichen Selbstständigkeit (Art.-137 Abs.-3 WRV). Bis heute ist die evangelische Kirche regional organisiert und lehnt sich in Deutschland territorial locker an die Grenzen der Bundesländer an. Die Koordination von Kirche <?page no="20"?> 20 und Staat ist in der evangelischen Kirche eng mit ihrem Selbstverständnis verbunden. Das heißt zwar nicht, dass die evangelische Kirche den politischen Vorstellungen einer Regierung grundsätzlich „nachplappert“. Der kirchliche Protest gegen die Militarisierung der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren, gegen Atomkraft und Gentechnik seit den 1970er Jahren und für das Kirchenasyl, das seit der Flüchtlingsbewegung von 2015 verstärkt zur Anwendung kam, sind Beispiele für einen weiten Abstand zwischen den Positionen von Staat und Kirche. Allerdings könnte es sein, dass dies in Notzeiten anders ist. Es könnte sein, dass dann die Kirche traditionellen Reflexen verfällt, und zwar nicht, weil sich die staatlichen Positionen mit den kirchlichen decken, sondern weil sich das politische Verständnis der evangelischen Kirche grundsätzlich an den Notstand anlehnt. Auf den ersten Blick stimmt die Kirche in der Corona-Krise aus christlichen Beweggründen mit dem Staat in den Zielen überein. Das Virus trifft nicht alle Menschen gleich hart, junge weniger als ältere. „Vulnerable Gruppen“ sind daher zu schützen. Die kirchliche „Option für die Schwachen“ stimmt mit der staatlichen Zielsetzung überein, möglichst viele Menschenleben zu schützen. Mit Online-Gottesdiensten hat die Kirche frühzeitig den Eindruck vermittelt, dass die Kollision der Grundrechte Lebensschutz vs. freie Religionsausübung nicht besteht. Für das katholische Messverständnis wäre es dagegen undenkbar, ein virtuelles Abendmahl zu feiern, bei dem die Mitfeiernden nichtgeweihtes Brot aus der eigenen Speisekammer verzehren. Von evangelischer Seite wurde somit auch der ethische Konflikt um Grundrechte organisatorisch heruntergespielt. Dass sich kirchliche Gemeinschaft auch als Online-Gemeinde konstituieren kann, wird seither selbstverständlich vorausgesetzt. Teilweise entwickelt sich eine regelrechte „Goldgräberstimmung“, dass sich die Kirche endlich dort verorte, wo die <?page no="21"?> 21 Menschen seien - im Internet. 11 Die Folgen für das evangelische Kirchenbild werden nun nach-besprochen. Dabei spielen jedoch Verantwortungsbeziehungen unter den Kirchenmitgliedern eine untergeordnete Rolle 12 gegenüber dem Medien-Paradigma, dass Kommunikation immer mediatisiert ist und es deshalb keinen prinzipiellen Unterschied ausmacht, ob sich eine Gemeinde im Kirchenraum versammelt oder in einem Online-Meeting. Die theologische Selbstverständigung wird hier dem ethischen Interesse nachgeordnet, dass möglichst keine Kollision der Grundrechte auffallen möge. Das zeigt sich auch daran, dass selbst das Ziel des Lebensschutzes nicht konsequent verfolgt wird. Zu den „vulnerablen Gruppen“ gehören inzwischen auch ungeimpfte Personen. Diese Personengruppe wird nun kirchlich aber gerade nicht „geschützt“, sondern die Allgemeinheit vor ihr. Als vulnerable Gruppen fallen ungeimpfte Personen aus dem kirchlichen Blickfeld. Vulnerabel sind stattdessen jetzt Patientinnen, die pandemiebedingt wegen der drohenden Kliniknotstände und wegen der eingeplanten freien Intensivbetten in den Krankenhäusern nicht angemessen behandelt werden können oder deren lebenswichtige Operationen verschoben werden - nicht aber offenbar die ungeimpften Personen, die nach einer Infektion „selbstverschuldet“ intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Das Problem, dass eine mächtige Gruppierung über die Sprache entscheidet, wiederholt sich nun bei der Bestimmung, wer als vulnerabel gilt. Judith Butler hat als Kriterium der Gewaltlosigkeit vorgeschlagen zu überprüfen, ob wirklich alle Menschen gleichermaßen „betrauerbar“ sind, wenn sie leiden. 13 Ungeimpfte scheinen aber kirchlich nicht mehr gleichermaßen betrauerbar zu sein. Damit wird fraglich, ob sich Staat und Kir- 11 A.-K. Lienau: Kommunikation des Evangeliums, 491f. 12 L. Ohly: Ethik der Kirche, 102. 13 J. Butler: Die Macht der Gewaltlosigkeit, 97ff. <?page no="22"?> 22 che wirklich in der gemeinsamen Zielsetzung des Lebensschutzes treffen oder ob vielmehr die Kirche angesichts eines Notstandes lediglich den staatlichen Interpretationen der Lage folgt, weil ein Notstand vorliegt. Impfappelle von Bischöfen und Landessynoden geben den Ungeimpften zu verstehen, sich verantwortungslos zu verhalten. Mit 2G-Regeln für Gottesdienste, die teilweise von den juristischen Abteilungen der Landeskirchen empfohlen werden, werden Ungeimpfte aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Denn nach dem reformatorischen Augsburger Bekenntnis von 1530 wird die Kirche als gottesdienstliche Versammlung konstituiert (CA 7), zu der Ungeimpfte dann nicht mehr gehören dürften. Auch dieses Problem wird mit einer ethischen Kollisionsvermeidung heruntergespielt, nämlich mit einer allgemeinen Impfpflicht, zu deren Durchsetzung die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, an Weihnachten 2021 die Politik aufgerufen hat. 14 Dieser Aufruf lässt sich zwar mit einer höheren Beachtung des Grundrechts auf Leben verstehen, vor dem das Grundrecht auf Freiheit relativiert werden soll. Aber warum das Leben jetzt höher zu bewerten ist als die persönliche Freiheit, wäre in einem Diskurs ja erst zu ermitteln. Und ein solcher Diskurs setzt die Freiheit aller Diskursteilnehmer als unhintergehbar voraus. Die Kirche kürzt diese Diskurslage ab und verlässt sich auf die Bewertung des Staates: Der Lebensschutz hat höhere Priorität, weil der Staat sagt, dass er höhere Priorität hat. Eine protestantische Kirche könnte hier aus prinzipiellen Gründen auch anders denken. Aber anscheinend stößt der Protestantismus an eine politische Grenze, sobald der Notstand akklamiert ist. Die Lösung liegt für Annette Kurschus im staatlichen Handeln: Die Kirchen hätten nur für eine angemessene „Tonalität“ des öffentlichen Diskurses zu sorgen, damit sich die Gesellschaft an der 14 www.evangelisch.de/ inhalte/ 194697/ 24-12-2021/ kurschus-impfpflicht-darf-gesellschaft-nicht-spalten (Zugriff 22.01.2022). <?page no="23"?> 23 Impfpflicht nicht spalte. Das heißt also, dass der Diskurs zwar nicht länger eine Entscheidung aufschieben soll, dass aber die Folgen der Entscheidung kommunikativ aufgefangen werden. Offenbar denkt Kurschus hier an einen anderen Diskurs mit einem neuen Thema. Anstatt zu fragen, wie sich in dieser konkreten Lage Leben und Freiheit zueinander verhalten sollen, soll eine Diskursanleitung in angemessener Tonalität gegeben werden, und zwar zu dem Thema, wie sich eine Spaltung der Gesellschaft vermeiden lässt. Dass staatliche Entscheidungen diese Spaltung aufhalten könnten, ist anscheinend nicht im Blick. Vielmehr scheint die Kirche zuständig dafür zu sein, die Verlierer der politischen Entscheidungen zu versorgen. Dietrich Bonhoeffer hat in einem berühmten Diktum der Kirche drei politische Aufgaben verordnet: Die Kirche habe erstens die Frage nach der Legitimität des staatlichen Handelns zu stellen, zweitens den „Opfern des Staatshandelns“ zu dienen und drittens unter Umständen auch „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.“ 15 Letztere Aufgabe hat Bonhoeffer an die Bedingung geknüpft, dass der Staatscharakter nicht mehr erfüllt ist und der Staat seiner Verantwortung nicht mehr nachkommt. Ob diese Bedingung erfüllt ist, müsse durch eine Kirchensynode entschieden werden. 16 Aber unstrittig waren für Bonhoeffer die ersten beiden Aufgaben an die Kirche grundsätzlich gestellt. Annette Kurschus hat nun mit ihrer Diskursverschiebung eine eindeutige Konzentration auf den zweiten Punkt vorgenommen. Mit der „Tonalität“ soll den „Opfern des Staatshandelns“ gedient werden. Die Frage der Legitimität des Staatshandelns scheint aber bei ihr schon entschieden zu sein oder sich nicht zu stellen. 15 D. Bonhoeffer: Berlin, 353. 16 AaO, 354. <?page no="24"?> 24 6 Martin Luther Im Weihnachtsappell der EKD-Ratsvorsitzenden spiegelt sich die funktionale Ausdifferenzierung von Kirche und Staat, die Martin Luther mit seiner Zwei-Reiche-Lehre dargestellt hat. Für die Gesetzgebung und ihre Einhaltung ist der Staat zuständig, während das Mittel der Kirche zur Durchsetzung des Willens Gottes das Wort und die Liebe der Christen ist. In Luthers Lehre 17 hat Gott zwei Reiche eingesetzt, die seinen Willen auf Erden umsetzen, das Reich des Schwertes und das Reich des Glaubens. Die Rechtgläubigen sind allein dem letzteren Reich unterworfen und bedürfen des staatlichen Zwangs nicht. Denn sie halten Gottes Ordnungen aus Liebe zu ihren Nächsten ein. Der Staat droht seinen Untertanen mit Strafen und leitet sie so dazu, sich recht zu verhalten, obwohl sie Sünder sind und Böses im Sinn haben. Aus Liebe zu ihren Nächsten unterwerfen sich die Rechtgläubigen auch der staatlichen Ordnung, aber sie werden im Herzen durch den Heiligen Geist geleitet. Zwar darf es für Luther christliche Fürsten geben; aber indem sie mit dem Schwert drohen, verhalten sie sich genauso wie die Christen, die sich freiwillig der staatlichen Ordnung unterwerfen. Der christliche Fürst trägt das Schwert aus Nächstenliebe. Das bedeutet zugleich, dass christliche Untertanen keinen gewaltsamen Widerstand gegen einen bösen Fürsten leisten dürfen. Denn damit würden sie die beiden Reiche vermischen und die Ordnung mutwillig missachten, die sie doch aus Nächstenliebe anerkennen. Das einzige Mittel, den Gehorsam zu verweigern, ist „erkentnis der warheyt“ 18 , also Protest mit Worten. 17 M. Luther: Von weltlicher Obrigkeit, 245-281. 18 AaO, 277. <?page no="25"?> 25 Für Luther ist Politik immer und wesensmäßig auf einen Notstand bezogen. Dadurch, dass die Welt „zu böße“ 19 sei und „der boesen sind ymer viel mehr den der frumen“ 20 , hat Gott das Gesetz eingeführt „zur straff der boesen und zu schutz der frumen“ 21 . Der Staat ist dazu da, das Böse einzudämmen. Da Böses sich aber aufgrund der Sünde des Menschen nicht prinzipiell eindämmen lässt, sondern nur jeweils provisorisch, bleibt der Notstand bestehen, der den Staat legitimiert. Ohne Notstand keinen Staat! Muss der Staat immer auf Erden bleiben, so besteht also auch der Notstand immer. Für Luther wäre die Corona-Krise kein Ausnahmezustand, sondern nur ein Fall des alltäglichen Notstandes, zu dem sich der Staat immerzu verhalten muss. In diesem Modell gibt es die Unterscheidung nicht, die ich am Anfang des Buches beschrieben habe, ob die Politik den Notstand verhindern soll oder ob im Notstand politisch gehandelt werden muss. Denn wenn Politik ihrem Wesen nach an den Notstand gebunden ist, bekämpft sie einen Zustand, der sie überhaupt erst in Geltung setzt. Die Staatsaufgabe besteht in der Abwehr des Notstandes, aber indem sie ihn abwehrt, bestätigt sie ihn. Der Staat ist ein Symptom des Notstandes und kann ihn nicht beseitigen. Also befindet sie sich immer schon im Notstand, um ihn eigentlich verhindern zu sollen. Indem es aber Sache des Staates ist, das Ende des Notstandes festzustellen, kann er es niemals feststellen, weil es dadurch des Staates bedarf und er den Notstand somit wieder ausruft. Luthers Politikverständnis beschreibt einen tragischen Konflikt, den der Staat nicht gewinnen kann. Ingolf Dalferth bringt das auf den Punkt: „Kein Mensch kann Böses bekämpfen, ohne sich in Böses zu verstricken und selbst schuldig zu werden.“ 22 19 AaO, 268. 20 AaO, 252. 21 AaO, 248. 22 I.U. Dalferth: Sünde, 406. <?page no="26"?> 26 Den Notstand aufzuheben, ist dasselbe wie die Sünde aufzuheben, und das ist allein Gottes Werk. Das ist die staatspolitische Pointe der theologischen Rechtfertigungslehre Luthers, dass der Mensch nicht gerecht werde aus des Gesetzes Werken, sondern allein aus Glauben. Dementsprechend wird das Reich des Schwertes durch das Reich des Glaubens in seine Grenzen gewiesen. 23 Luthers staatliches Notstands-Modell besitzt bis heute eine mächtige Wirkungsgeschichte. Die umfangreiche Ethik von Eilert Herms aus dem Jahr 2017 bestimmt den Staat noch traditionell über das Gewaltmonopol und fokussiert das Recht auf das Strafrecht. 24 Das politische Ziel besteht auch für Herms in der Eindämmung des Bösen. 25 Die EKD-Demokratie-Denkschrift von 1985, die bislang nicht überarbeitet worden ist, stellt ebenso die Ordnungsfunktion des Staates in den Vordergrund. 26 Das setzt voraus, dass der Staat Unordnung zu beseitigen hat. Wenn nun meine Beobachtung richtig ist, dass die evangelische Kirche in anderen Situationen kritisch und bis zum passiven Widerstand mit staatlichen Entscheidungen umgegangen ist, in der Corona-Krise aber durch weitgehend unkritische Akzeptanz politischer Entscheidungen auffällt, dann könnte das zum einen heißen, dass das Bild vom Notstand jetzt wieder reaktiviert worden ist, in dem die Kirche ihre traditionelle Rolle im Sinne der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre eingenommen hat. Und es könnte zum anderen heißen, dass sich das politische Verständnis der evangelischen Kirche in anderen Zeiten eigentlich vom Notstands-Paradigma abgelöst hat. Anscheinend erkennt sie Unterschiede zwischen politischen „Normalzuständen“ oder Krisenbewältigungen einerseits und einer Notstandspolitik wie während der Corona-Krise andererseits. Das würde erklären, warum 23 M. Luther: Von weltlicher Obrigkeit, 267. 24 E. Herms: Systematische Theologie, 2288. 25 AaO, 2249. 26 Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie, 15. <?page no="27"?> 27 die evangelische Kirche in ihrer Interpretation der Lage kaum von der staatlichen Deutung abweicht: Der Notstand legt nämlich nicht nur die Deutungsmacht fest, die allein dadurch bestätigt wird, dass der Staat den Notstand ausruft. Vielmehr legt die Akklamation des Notstandes auch die sozialen Rollen fest. Selbst Bonhoeffer war der Ansicht, dass sich die Kirche aus spezifischen politischen Fragen heraushalten solle. 27 Die Kirche folgt der Deutung des Staates nicht aus sachpolitischer Übereinstimmung, sondern weil sie sich dem Notstands-Paradigma beugt. Mit ihrer Rhetorik, aus Nächstenliebe solle man sich impfen lassen, orientiert sie sich nicht an sachpolitischen Erwägungen, sondern an Luthers Diktum, die Christen würden aus Nächstenliebe die staatliche Ordnung halten. Im Notstand scheint die Kirche keine politische Position zu haben, sondern nur eine kirchliche im Sinne der Zwei-Reiche-Lehre: Sie fügt sich der staatlichen Deutung, weil sie zum anderen Reich gehört. 7 Staatsaufgabe Ich hatte schon gezeigt, dass auch aktuelle theologische und kirchliche Stellungnahmen dicht an der Zwei-Reiche-Lehre Luthers liegen. Deshalb ist es weniger überraschend, dass sich die Kirche im Notstand als staatstreu erweist, als vielmehr die Umkehrung, dass sie offenbar politische „Normallagen“ davon unterscheiden kann, um dort kritisch und sogar mit zivilem Ungehorsam auf staatliche Vorgaben zu reagieren. Wie ist es dazu gekommen, wenn doch die jüngeren theologischen Erwägungen der politischen Ethik ihre Nähe zu Luther offenbaren? Ein Faktor dürfte die Barmer Theologische Erklärung sein, ein Bekenntnis der sogenannten Bekennenden Kirche, die sich gegen 27 D. Bonhoeffer: Berlin, 350. <?page no="28"?> 28 die staatliche Gleichschaltung der Kirche durch den Nazi-Staat gewehrt hatte. Mir scheint, dass weniger der Text der Erklärung als vielmehr seine zeitgeschichtliche Situation für eine Revision des kirchlichen Politikverständnisses gesorgt hat. Denn im Gegensatz zu Luther, der von seinem Fürsten beschützt wurde und somit selbst aus der Sicherheit der staatlichen Ordnung heraus formulierte, äußerte sich die Barmer Synode als unterdrückte Minderheit. Die Barmer Erklärung ist im Sprechakt des Widerspruchs gehalten, während sie in der Sache weitgehend an den Traditionsbestand reformatorischer Lehre anknüpft. Für unser Thema ist insbesondere die fünfte Barmer These von Belang. Sie wiederholt weitgehend die Zwei-Reiche-Lehre: Barmen- V vergegenwärtigt die funktionale Differenz von Staat und Kirche, nämlich dass der Staat „unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen“ habe, während die Kirche „erinnert an Gottes Reich“, an die Bindung des Staates an Gottes Gebot und „an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.“ Verworfen wird „die falsche Lehre“, wonach der Staat die einzige totale Ordnung für den Menschen sei oder die Kirche selbst ein Staatsorgan werden dürfe. Mit dieser Verwerfung wird die Zwei-Reiche-Lehre unterstrichen. Sachlich innovativ wird die These aber dann doch, nämlich bei der Formulierung, dass die Kirche an „Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit“ erinnert. Hier scheint sie von der traditionellen reformatorischen Staatslehre abzuweichen. Zum einen ist Gottes Reich entweder etwas Drittes neben dem Reich des Schwertes und dem Reich des Glaubens, oder, wenn das Reich Gottes selbst die Kirche wäre, dann wäre sie selbst politisch. Denn indem die Kirche an Gottes Gerechtigkeit erinnert „und damit (! ) an die Verantwortung der Regierenden und Regierten“, wird der Gerechtigkeitsbegriff politisch verstanden. Zumindest enthält er dann auch politische Implikationen. Und da die Kirche daran erinnert, bringt sie selbst politische Inhalte ein. <?page no="29"?> 29 Hier nun scheint Barmen- V über die Ordnungsfunktion des Staatsverständnisses hinauszugehen. Der Zweck des Staates würde nicht mehr darin aufgehen, das Böse einzudämmen, sondern sich außerdem nach Gottes Gerechtigkeit auszurichten. Diese Ausrichtung aber soll gerade nicht zu einem Gottesstaat führen, wenn doch verworfen wird, dass die Kirche Teil des Staates wird. Vielmehr soll die Gerechtigkeit Gottes aus politischen Gründen einleuchten, da ja auch nicht der Staat selbst ein Teil der Kirche werden darf. Das setzt aber voraus, dass die Aufgabe des Staates aus dem Notstandsparadigma herausgeführt wird. Karl Barth, der den Barmer Beschluss maßgeblich geprägt hat, hatte im Jahr 1946 in diese Richtung weitergedacht. Schon allein indem er Kirche und Staat anders titulierte - als Christengemeinde und Bürgergemeinde -, rückte er beide „Reiche“ näher aneinander an, betrachtete sie nicht mehr unter dem Aspekt der Herrschaftsfunktion, sondern der zwischenmenschlichen Interaktion. Dadurch ergab sich, dass auch die Christengemeinde politisch ist. 28 Sie wirkt an der politischen Willensbildung mit, indem sie sich „als erfinderisch im Aufsuchen anderer Konfliktlösungen“ erweist. 29 Staat und Kirche sind nicht mehr zwei „Reiche“, sondern von Gottes Reich unterschieden: Die Kirche gehört ebenso wie der Staat zur unerlösten Welt. 30 Nachdem aber Gott Mensch geworden ist, ist der Mensch Maß aller Dinge. 31 Daraus ergibt sich für Barth nicht nur die Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, sondern auch die Verpflichtung zur sozialen Gerechtigkeit, damit die Gleichheit vor dem Recht kein „Deckmantel“ faktischer Ungleichheit werde. 32 28 K. Barth: Christengemeinde und Bürgergemeinde, 547. 29 AaO, 576. 30 AaO, 563. 31 AaO, 567. 32 AaO, 569. <?page no="30"?> 30 Die Orientierung an der Ordnungsfunktion des Staates ist auch bei Barth noch im Hintergrund spürbar. Es soll das Böse und Ungerechte abgewendet werden. Allerdings gibt Barth mit dem Ausdruck der sozialen Gerechtigkeit eine neue Betonung politischen Handelns, die sich zwar auch noch am Ausgleich bestehender Unordnung orientiert, dabei aber nun eine Zielsetzung formuliert, die mehr umfasst als nur Rechtsübertretungen zu ahnden. Barths Politikverständnis zielt auf einen Sozialstaat, vielleicht sogar schon auf einen Wohlfahrtsstaat, in jedem Fall aber auf eine politische Ordnung, die die Mitglieder einer Gesellschaft vor dem staatlichen Zwang schützt, weil sie Freiheits- und politische Mitwirkungsrechte besitzen. Die evangelische Kirche hat nach dem Zweiten Weltkrieg ihre politische Mitwirkung größtenteils über die Wirkungsgeschichte Barmens bestimmt. Dass sie überhaupt an sachpolitischen Diskursen mitwirkt, wird mit der Öffnung aus dem engen ordnungspolitischen Korsett der Zwei-Reiche-Lehre verständlich. Auch neuere politische Diskurse, etwa zum Klimaschutz oder zur „Bewahrung der Schöpfung“, lassen sich vom Gerechtigkeitsparadigma her lesen. Das ist nicht nur deshalb der Fall, weil sich Kirche überhaupt als eigene politische Stimme einbringt, sondern auch, weil die Zielsetzung damit klar wird: Umwelt- und Klimaschutz dienen den Unterprivilegierten, die am stärksten von den Folgen der ökologischen Krise betroffen sind. Diese Maßnahmen sollen also Ungerechtigkeit beseitigen. Im Notstand nun scheint sich das Gerechtigkeitsparadigma in die zweite Reihe zu schieben. Nun dominiert wieder das Notstandsparadigma, das sich der staatlichen Definitionsmacht politischer Zustände unterwirft. Diese These macht verständlich, warum für die Kirche der drohende ökologische Kollaps der Erde kein „Notstand“ ist, und zwar selbst dann nicht, wenn es nach kirchlicher Rhetorik schon „fünf nach zwölf “ ist. Denn der ökologische Kollaps wäre eine naturwissenschaftliche Tatsache, und sie ist so lange <?page no="31"?> 31 kein „Notstand“, solange ihn die Politik nicht ausgerufen hat. Wird aber der Notstand mit der Rhetorik der Regierung festgestellt, dass das Land „von der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg“ heimgesucht wird oder „ein Weg zurück zu einer Zeit vor Corona“ nicht möglich ist, dann rücken auch die kirchlichen Reihen mit den staatlichen enger zusammen. Theologisch-ethisch mag die Klimakrise schwerer wiegen als Corona. Im Notstand aber überblendet die staatliche Rhetorik kirchliche Prioritäten. 8 Notstandsdemokratie Auch in der Corona-Krise ist die Bundesrepublik eine Demokratie geblieben. Die Selbstständigkeit der Justiz ist ebenso gewährleistet geblieben wie ordentliche Wahlen, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit und die Rechtsstaatlichkeit. Zwar haben Bundestagsabgeordnete mehr Mitwirkung des Parlaments erwartet, anstatt die Regierungspolitik lediglich gesetzlich abzusichern. Dennoch wurden die Parlamente nicht aufgelöst oder entmachtet, sondern haben mit den Novellen zum Infektionsschutzgesetz an der Krisenbewältigung aktiv teilgenommen. Udo di Fabio drückt diese Spannung in dem Satz aus, „dass der Bundestag die parlamentarische Verantwortung für die Maßnahmen übernommen hat, die zunächst überwiegend exekutiv durch die Bundesregierung und die Landesregierungen bestimmt waren.“ 33 Das föderalistische System mit 16 verschiedenen Infektionsschutzverordnungen der Bundesländer ist oftmals als langsam und ineffektiv kritisiert worden. Aber das beweist zugleich, dass die demokratische Architektur erhalten geblieben ist und kein Machthaber den Notstand für die Konzentration der Macht ausgenutzt hat. 33 U. di Fabio: Coronabilanz, 63. <?page no="32"?> 32 Carl Schmitt hat den Notstand mit der Diktatur verknüpft. Eine Demokratie könne nur in der Phase ihrer Verfassungsgebung wirklich souverän sein. Ansonsten könne sie in Notständen nur kommissarisch und befristet zur Diktatur mutieren. 34 Schmitt hat den Diktator definiert als Staatsmann, der ohne Mitwirkung anderer Instanzen Anordnung treffen und vollstrecken könne. 35 Er ist der Exekutive zugeordnet. 36 Das heißt, dass in der Diktatur die Gesetze meistens unverändert bestehen bleiben, aber für die Dauer der Diktatur außer Kraft gesetzt werden. 37 Eine Diktatur ist notwendigerweise ein Ausnahmezustand und an den Zweck gebunden, eine Gefahr abzuwenden. 38 Die Länderparlamente und der Bundestag haben während der Corona-Krise die „epidemische Lage“ beschlossen und damit die Regierungen ermächtigt, Verordnungen in Kraft zu setzen, die für diesen Ausnahmezustand gelten. Nach Schmitt diktiert der Diktator auch seinen Auftraggebern. 39 Parlamente können ihn somit nicht mehr kontrollieren. In Deutschland wiederum hätten die Parlamente die epidemische Lage wieder aufheben können, nachdem sie sie beschlossen haben. Kann es eine Notstandsdemokratie geben? Einen Ausnahmezustand, der der Exekutive erweiterte Spielräume gibt und das Gleichgewicht der Staatsgewalten verschiebt, Gesetze zeitweise aussetzt, die verfassungsmäßigen Grundrechte gegenüber einigen verfassungsmäßigen Bestimmungen vernachlässigt 40 (etwa dem Grundrecht auf Leben) - ohne dass dieser Ausnahmezustand in eine Diktatur mutiert? Wenn die sogenannte Querdenker-Bewe- 34 C. Schmitt: Die Diktatur, 240. 35 AaO, 6. 36 AaO, 11f. 37 AaO, 122. 38 AaO, XVI. 39 AaO, XIX. 40 AaO, XI. <?page no="33"?> 33 gung gegen die „Corona-Diktatur“ in Deutschland protestiert, kann sie sich zumindest teilweise auf Schmitts Diktatur-Begriff beziehen, wenn sie ihn selektiv liest. Schmitt hat als Kontrollmechanismen der Diktatur angegeben, dass ihre Voraussetzungen, ihr Inhalt und Zeitraum vorher festgesetzt werden. 41 Nicht im Blick hatte er die Möglichkeit, dass Gerichte oder Parlamente die Befugnisse der Exekutive wieder einschränken, nachdem der Notstand ausgerufen und die Exekutive mit mehr Machtmitteln ausgestattet worden ist. Daher würden für Schmitt die deutschen Corona-Maßnahmen nicht zur Diktatur zählen. Aber würde es sich trotzdem um einen Notstand handeln, wenn sich doch zumindest partiell bestimmte Machtbefugnisse konzentriert haben und viele Rechte der Bevölkerung eingeschränkt worden sind? Als im Jahr 2021 die „Bundesnotbremse“ beschlossen worden ist, hat zwar die Länderkammer mitgewirkt, aber der Beschluss führte in eine Machtkonzentration des Bundes, der unabhängig von den Bundesländern Maßnahmen entscheiden konnte. Vertragen sich Notstand und Demokratie? Und wie wirkt sich der Notstand auf die Demokratie aus? Für Schmitt ist in einer Diktatur ein Gegner notwendig, mit dem eine Regierung den Ausnahmezustand als Notwehrmaßnahme rechtfertigt. 42 Tatsächlich scheint auch in einer demokratischen Notstandspolitik ein Gegner notwendig zu sein. Nun gibt es in einer Demokratie immer Gegenspieler: Parteien, die sich im Streit um die Macht bewerben, Investigativ-Journalismus, der Schwächen und Mängel aufdeckt, Lobbies, die für ihre Interessen werben, Bürgerinitiativen, die sich solidarisch für ein gemeinsames Ziel verbünden, sowie Protestbewegungen, die Missstände anprangern. Diese Vielstimmigkeit im politischen Willensbildungsprozess scheint aber die Notstandsdemokratie unter einen starken Reduk- 41 AaO, 258f. 42 AaO, 132f. <?page no="34"?> 34 tionsdruck zu setzen. Die verfassungsmäßigen Freiheitsrechte bleiben zwar unangetastet, aber der Freiheitsgebrauch wird bisweilen massiv stigmatisiert. Beispiele dafür sind die soziale Exklusion von Ungeimpften aus dem öffentlichen Leben und die Stigmatisierung von Demonstrationen gegen die Corona-Politik. 9 Impfgegner Von den Gründen, sich nicht impfen zu lassen, sind einige vernünftig nachvollziehbar. Neben dem genannten Gesundheitsrisiko einer Impfung, das zu einer individuellen Einschätzung zwingt, können auch sozialethische Erwägungen gehören: Man kann die Impfung verweigern, um gegen die massive weltweite Ungleichverteilung der Impfangebote zu protestieren. Dazu kann man anführen, dass eine vollständige Immunität der deutschen Bevölkerung die Pandemie und selbst die Verbreitung des Virus in Deutschland nicht beenden kann, solange weitere Teile der Welt von den Impfangeboten ausgeschlossen sind, zu denen aufgrund der globalen Vernetzungen physische Kontakte bestehen. Gerade einmal 14-Prozent der Bevölkerung sind in den Entwicklungsländern geimpft worden. 43 Geimpfte können zudem das Virus übertragen. Das Corona-Virus kann trotz einer durchgeimpften Gesellschaft weiter mutieren, wenn seine Verbreitung dadurch allenfalls abgebremst, aber nicht gestoppt werden kann. Diese Tatsache relativiert das Solidaritätsargument, dass Geimpfte ihre Mitmenschen schützen. Zusammen mit befürchteten Impfschäden kann man dann das Impfrisiko für sich in einer Güterabwägung für unverhältnismäßig hoch einschätzen. 43 ourworldindata.org/ covid-vaccinations? country=OWID_WRL (Zugriff 19.03.2022). <?page no="35"?> 35 Die persönliche Entscheidung, ob man sich impfen lässt, folgt daher keinem simplen logischen Zwang oder einer reinen Ableitung aus medizinischer Einsicht. Vielmehr beziehen Menschen persönliche Risikoeinschätzungen ebenso mit ein wie politische Erwägungen und persönliche Werte. Das Entscheidungsprozedere ist wesentlich komplexer, als es Virologen oder Gesundheitspolitiker wahrhaben wollen. Eine Person für unvernünftig zu halten, weil sie sich nicht impfen lässt, ist demgegenüber ein unterkomplexes Urteil. Es beachtet nicht, wie viele Gesichtspunkte unterschiedlicher Kategorien in eine Entscheidung einfließen. Dennoch werden Ungeimpfte benachteiligt und von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen (2G-Regel). Zusätzlich haben berufstätige Ungeimpfte, die in Quarantäne gesetzt worden sind, ab einem festgesetzten Zeitpunkt keine Lohnersatzzahlungen mehr erhalten. Diese Maßnahme hat nicht einmal einen direkten gesundheitspolitischen Zweck, sondern folgt ausschließlich der Logik, Ungeimpfte für ihre Entscheidung zu sanktionieren. Nun könnte man einwenden, dass sich Impfgegner selbst sozial exkludieren, da sie die Wahl haben, ob sie sich impfen lassen oder nicht. Zur Unterstützung des Einwandes könnte man zwei Punkte anführen: 1. Freie Entscheidungen können in Zustände führen, die unfrei machen. Das spricht aber nicht gegen die Freiheit der Entscheidung. 2. Die Konsequenzen der Wahlfreiheit gelten für alle, nicht nur für Impfgegner. Somit besteht eine Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder, mit der die soziale Exklusion von Impfgegnern gerechtfertigt werden kann. Dies gilt umso mehr, da aufgrund der Gefährlichkeit des Corona-Virus die Infektionsketten unterbrochen werden müssen, um das gleiche Recht aller Gesellschaftsglieder auf körperliche Unversehrtheit zu schützen. <?page no="36"?> 36 Ad 1) Ich stimme dem Einwand im Grundsatz zu, weise aber zurück, dass er auf diesen Fall anwendbar ist. Meine Argumentation lautet ja, dass die freie Wahl zur Impfung von Anfang an gefährdet ist. Die Konsequenzen, dass eine Person vom öffentlichen Leben ausgeschlossen wird, wenn sie sich nicht impfen lässt, sind für sie bekannt. Sie wird von Anfang an mit einer sozialen Stigmatisierung bedroht, wobei die psycho-sozialen Folgen des Ausschlusses ignoriert werden. Eine Impfgegnerin kann zwar dennoch an ihrer Wahlfreiheit festhalten und sich gegen eine Impfung entscheiden. Dass sie aber dann unfrei wird, liegt nicht an dem Risiko freier Entscheidungen, sondern daran, dass ihre Wahl von Anfang an unter Druck gesetzt worden ist. Sie kann nur zum Preis sozialer Unfreiheit ihre rechtliche Wahlfreiheit reklamieren. Und das bedeutet, dass auf rechtlicher Ebene keine Wahlfreiheit besteht: Die Wahl von Impfbefürwortern und -gegnern ist rechtlich ungleich. Ad 2) Nun weiß auch ein Mann, der sich auf eine Arbeitsstelle bewerben will, dass bei einer Quotenregelung eine ebenso geeignete Mitbewerberin ihm vorgezogen werden wird. Er kann sich dennoch entscheiden, seine Bewerbungsunterlagen einzureichen und damit das Folgerisiko zu tragen, abgelehnt zu werden. Ebenso weiß eine steuerpflichtige Person bei einem Wechsel auf eine höher dotierte Arbeitsstelle, dass sie in eine höhere Steuerprogression kommt, und geht diese Folgekosten freiwillig ein. Diese Beispiele könnte man zur Bewertung des sozialen Ausschlusses Ungeimpfter geltend machen: Die Konsequenzen sind auch hier für alle bekannt. Impfgegner nehmen diese Folgekosten also freiwillig auf sich. Der Fehler dieser Argumentation besteht darin, dass Steuerprogressionen oder die Bevorzugung von Frauen in Stellenverfahren mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar sind, um nämlich bestehende Ungleichheiten zwischen sozialen Gruppierungen auszugleichen. Nicht die Transparenz der Konsequenzen entscheidet über ihre Legitimität, sondern ob sie sich vor der Anerkennung aller Personen als Gleiche vor dem Recht behaupten können. Und <?page no="37"?> 37 das ist nicht gegeben, wenn die psychischen Folgen der sozialen Isolation politisch ignoriert werden, obwohl auch diese Risiken für die psychische Gesundheit bekannt sind. Denn damit wird gegen eine soziale Gruppierung Gewalt ausgeübt. Aber gefährden nicht Ungeimpfte die Gesundheit von anderen, wenn sie im öffentlichen Raum zugelassen werden? Üben sie also nicht selbst physische Gewalt auf „vulnerable Gruppen“ aus? - Dieses Problem tritt aber nicht erst in der Begegnung mit Impfgegnern auf. Ungeimpfte Personen sind allgemein besonders vulnerabel. Es gibt aber eine andere Methode, wie sie am öffentlichen Leben dennoch teilnehmen können, nämlich die Coronatests. Trotz deren Fehleranfälligkeit liegt das Risiko, den Corona-Erreger zu übertragen, bei einem negativen Testergebnis niedriger als bei einer Begegnung mit ungetesteten geimpften Personen, einfach weil sie noch weniger wissen, ob sie das Virus aktuell übertragen können. Gerade weil die Krankheit bei geimpften Personen milder verläuft, können infizierte Geimpfte das Virus unwissentlich stärker verbreiten als Personen, die in kurzen Abständen getestet werden und bei einem positiven Befund unmittelbar isoliert werden. Nicht erst die Begegnung mit Impfgegnern gefährdet diese vulnerablen Gruppen, sondern schon der unbedachte Umgang zwischen ihnen und geimpften Personen, die nicht getestet sind und/ oder keine Mund-Nase-Maske tragen. Die Gründe einer sozialen Exklusion von Impfgegnern widersprechen also der Gleichheit des Grundrechts, eine freie Entscheidung zur Impfung zu treffen. Soziale Exklusion ist mit der Achtung der Freiheit Ungeimpfter unvereinbar. Hier wird anscheinend ein staatliches Druckmittel eingesetzt, um Ungeimpfte doch zur Impfung zu drängen. Ebenso wie in Schmitts Diktatur bleiben die verfassungsmäßigen Grundsätze unangetastet, werden aber im Notstand nicht berücksichtigt. Sicher hat es einen persönlichen Vorteil, geimpft zu sein. Aber wenn es nur um den persönlichen Vorteil geht, sollten auch die Einzelnen selbst und ohne soziale <?page no="38"?> 38 Benachteiligungen darüber entscheiden können, ob sie diesen Vorteil in Anspruch nehmen wollen. Darüber hinaus aber wird im Notstand der Diskurs über den allgemeinen gesundheitspolitischen Zweck je meiner Impfung nur mit erheblichen Barrieren für Impfgegner geführt. 10 Corona-Demonstranten Nach Presseberichten setzen sich Demonstrationen gegen die Corona-Politik aus unterschiedlichen Gruppierungen zusammen. Hierzu gehören Familien im Home-Office-Stress, die ihre Kinder zeitgleich beaufsichtigen müssen, Anhänger alternativer Medizin, Corona-Leugner, Masken-Verweigerer, Linke, die gegen die Benachteiligung von Entwicklungsländern protestieren, Bürgerrechtler, die eine freie Wahl des Impfstoffs fordern, Populisten, die das staatliche Establishment ablehnen, und Rechtsextremisten, die die freiheitliche Gesellschaft abschaffen wollen. In der öffentlichen Meinung hat sich das Klischee durchgesetzt, es handelte sich bei diesen unterschiedlichen Gruppierungen um eine einzige „Bewegung“, die „Querdenker“. Diese Protestgruppe wird inzwischen vom Verfassungsschutz beobachtet. Spitzenpolitikerinnen rufen „gemäßigte“ Demonstrantinnen dazu auf zu überlegen, ob sie mit Rechtsextremisten im selben Demonstrationszug marschieren wollen. Die staatliche Kritik an den Demonstrationen ist dabei dialektisch: Zunächst werden die unterschiedlichen Gruppen zu einer einheitlichen Bewegung stilisiert, die in einem zweiten Schritt als verfassungsfeindlich und rechtsextremistisch dargestellt wird, um in einem dritten Schritt einzelne Gruppen daraus abzusplittern, die es nach der Vereinheitlichung im ersten Schritt eigentlich nicht mehr geben kann. Machtpolitisch am bedeutsamsten ist der zweite Schritt: Hier wird eine Begründung dafür gefunden, warum die Argumente der Demonstranten nicht diskutiert werden müssen, <?page no="39"?> 39 nämlich weil sie unaufrichtig sind und eigentlich einen gesellschaftlichen Umsturz im Sinn haben. Ich bezweifle nicht, dass auch Rechtsextremisten die Demonstrationen für sich ausnutzen wollen. Und tatsächlich könnte dies ordnungspolitisch die größte Herausforderung darstellen, wie der Staat auf seine Kritiker reagieren sollte. Worauf es mir aber ankommt, ist, dass im Notstand offenbar auch die Diskurse eingedämmt werden. An die Stelle der argumentativen Überprüfung tritt der kriminologische Verdacht. Und dieser Verdacht muss sich pauschal auf alle Gegner der Regierungspolitik erstrecken, weil eben keine nuancierte Überprüfung der Gegenargumente vorgenommen wird, wenn die unterschiedlichen Gruppierungen zu einer einzigen Bewegung zusammengefasst werden. Wer hat in den Monaten der Corona-Krise nicht belustigte Fernsehreportagen zu einzelnen Statements der Protestierenden gesehen, wer nicht in den Presseberichten gelesen, dass die Freiheit, für die demonstriert wird, in Anführungszeichen gesetzt wird, weil die Aufrichtigkeit angezweifelt wird? Wer hat umgekehrt gesehen, dass in Polit-Talkshows „Querdenker“ eingeladen worden sind, die ihre Position darlegen konnten, ohne dass die Moderatoren ihnen über den Mund gefahren sind? Dass die gesellschaftlichen Stimmungen polarisiert sind und eine „Spaltung der Gesellschaft“ droht, wird wiederum der Protestbewegung zugeschrieben. Gerade dadurch wird die Polarisierung im Sinne Judith Butlers von der herrschenden Gruppierung vorgenommen. Zu polarisieren ist ein Machtinstrument, um die Minderheitenmeinungen zu diskriminieren und sie so zu zersetzen. Zwar haben auch die Protestbewegungen polarisiert, aber es ist zu unterscheiden, ob damit protestiert oder Macht ausgeübt wird. Auch die Notstandsdemokratie bedient sich also typischer Mittel des Notstandsmotivs, auf zirkuläre Weise die politische Macht der Regierung zu konzentrieren. Die Regierung ruft den Notstand aus und konzentriert damit bereits die Macht auf sich, die sie mit <?page no="40"?> 40 dem Ausruf erst begründet. Damit geht die Polarisierung einher, die Opposition als Verfassungsfeinde in den Blick zu nehmen oder durch die Stilisierung von Feindbildern zu schwächen: Die Ungeimpften gefährden dann die Gesellschaft. Sie werden verantwortlich gemacht für den Krankenhausnotstand und für Hunderte von Corona-Toten. Die Meinungsfreiheit wird zwar nicht auf rechtlicher Ebene aufgehoben, denn im Internet können weiterhin Spott gegen Regierungsmitglieder oder Fake News die Runde machen. Aber die moralische Legitimität dieser Freiheit wird suggestiv in Frage gestellt, so dass es schon verdächtig ist, wenn man die entsprechenden Kanäle anwählt. 11 Das Gute Die Diktatur ist für Schmitt 44 ein Instrument der Demokratie, und selbst diese muss anfänglich eine Diktatur sein, damit sie sich eine Verfassung geben kann. Schmitt hat die Diktatur vom Absolutismus der Fürsten unterschieden, die aus Gottes Gnaden über ihr Volk herrschten. Doch auch mit ihrer säkularen Fassung liegt die Souveränität in der zirkulären Selbstbegründung, aus der sich die Macht selbst erschafft. „Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie.“ 45 Wenn nach Luther das „Reich des Schwertes“ von Gott selbst eingesetzt ist, um das Böse einzudämmen, dann besteht zwischen Gott und den Menschen selbst ein Notstand. Der Zweck des Notstandes besteht zwar darin, das Böse einzudämmen, aber weil dazu erst der Notstand bestehen muss, um das Böse überhaupt festzustellen, setzt sich Gott den Zweck selbst, um dessentwillen 44 C. Schmitt: Die Diktatur, 4, 240. 45 C. Schmitt: Politische Theologie, 43. <?page no="41"?> 41 der Notstand ausgerufen wird. Die theologische Figur, dass der Allmächtige das Kriterium seines Handelns in sich selbst findet, leuchtet auf den ersten Blick ein. Zugleich jedoch liegt darin die zirkuläre Selbstermächtigung der Herrschaft im Notstand, die sich auch das politische Handeln zunutze machen kann. Und darin liegt die ethische Problematik des Schmittschen Souveränitätsbegriffs, wenn er sich auf den Notstand gründet. Diese Parallele zum Allmachtspostulat Gottes ist aber auch schon innerhalb der Theologie strittig. Aus ihm hat sich vor 2400 Jahren eine intensive Debatte entwickelt, die bis in die Gegenwart reicht. Ich meine das sogenannte „Euthyphron-Dilemma“, benannt nach dem Platon-Dialog „Euthyphron“. Das Dilemma spitzt sich auf die folgenden beiden Optionen zu: 1. Ist das Gute gut, weil Gott will, dass es gut ist? Menschen zu helfen, wäre dann nicht gut, weil es von selbst einleuchtet, sondern weil Gott es gewollt hat. Und auch er hätte es nicht gewollt, weil es von selbst einleuchtet, sondern weil er will, was er will. In diesem Fall hätte Gott auch das Grausame als das Gute bestimmen können. 2. Oder will Gott das Gute, weil es das Gute ist? Dann folgt er dem Guten und untersteht ihm. In diesem Fall ist er nicht allmächtig und auch nicht der Höchste, weil das Gute über ihm steht. Übersetzt in die „Politische Theologie“, wäre zu fragen: Ist der Souverän an die Verfassung gebunden? Ist also seine Macht begrenzt - und zwar nicht durch seine Selbstbegrenzung (weil ja auch seine Selbstbegrenzung auf seiner unbegrenzten Gewalt beruhen würde), sondern durch die Geltung dessen, was ihn begrenzt? Oder hat ein politischer Machthaber die unbegrenzte Gewalt und kann dann auch über den Notstand befinden? Wird diese Analogie zwischen dem politischen Souverän und Gott hergestellt, erklärt sich zum einen, dass der Notstand das <?page no="42"?> 42 Risiko in sich birgt, dass eine Regierung nicht nur in ihren Entscheidungen außer Kontrolle gerät, sondern dass sie auch das Wertebewusstsein der Bevölkerung diktiert: Es ist dann gut, was die Regierung will, weil sie es will. Kein anderes Kriterium liegt dann vor, um das Gute zu bemessen. Die verfassungsmäßigen Rechte, die zeitweise außer Kraft gesetzt werden, können dann kein Korrektiv für diese Neubewertung bilden. Zum anderen erklärt sich, dass sowohl ein Willkürgott, der das Gute eigenwillig bestimmt, als auch eine in diesem Sinne souveräne Regierung immer einen Notstand definiert. Das Verhältnis zu den Geschöpfen beziehungsweise zur Bevölkerung ist dann grundsätzlich durch eine Notlage bestimmt. Denn weder die Geschöpfe noch die Untertanen haben eine eigene Beurteilungskompetenz, um das Gute zu erkennen. Sie können nicht einmal das Gute erkennen, indem sie Gottes Willen beachten. Denn sie beachten ihn dann nicht deshalb, weil sie ihn als guten Willen erkennen könnten, sondern nur, weil sie zum Gehorsam gezwungen werden. Das Verhältnis der einzigen Instanz, die über Böses und Gutes entscheidet, zu ihrer Gefolgschaft ist daher selbst durch den Gegensatz von Gut und Böse geprägt - und deshalb ein Verhältnis des Notstandes: Gott beziehungsweise der Souverän ist dann gut, während die Gefolgschaft von Grund auf böse ist. Zugleich wird der Notstand gerade dadurch geschaffen, dass der Souverän entscheidet, was das Gute ist. Ein Notstand existiert dagegen nicht, wenn die höchste Instanz an das Gute (oder die Verfassung) gebunden ist. Hier mag es zwar auch Krisen und Gefahren geben, die aber kooperativ bearbeitet werden von Menschen, die alle fähig sind, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, und sich deshalb auch gemeinsame und gerechte Ziele setzen können. Das Euthyphron-Dilemma belegt nach meinem Eindruck die Fiktionalität der Vorstellung, Gott könnte das Gute eigenwillig bestimmen. Bei dieser Annahme werden zu viele Bedingungen ausgeblendet, derer selbst Gott in seiner Eigenwilligkeit bedürfte. Die <?page no="43"?> 43 Fiktion, Gottes Allmacht würde sich auch auf seine eigenwillige Bestimmung des Guten erstrecken, verrät einen widersprüchlichen Allmachts-Begriff. Was Allmacht bedeutet und was sie ausschließt, muss daher präzise angegeben werden. Ein Gott, der das Gute erschaffen will und alles erschaffen kann, was er will, kann zwar das Gute erschaffen. Aber er müsste dabei bereits einen Willen haben, der gut oder böse ist. Denn nehmen wir an, dass Gott böse Gründe hätte, warum er das Gute erschaffen will. Dann müsste ihm die Bewertung des Bösen bereits vorgelegen haben, bevor er das Gute erschaffen hätte. Zugleich hätte er das Böse gewählt, weil es für ihn gut ist, und damit hätte er auch das Gute schon „gehabt“, bevor er es erschaffen hätte. Dasselbe wäre natürlich der Fall gewesen, wenn Gott gute Gründe gehabt hätte, das Gute zu erschaffen. Aus diesem Dilemma könnte ein allmächtiger Gott zu entkommen versuchen, wenn er das Gute will, weil er will, dass er das Gute will. Aber auch dann verschiebt sich der Zeitpunkt nach vorne, an dem bei Gott das Gute schon vorgelegen hätte, bevor er es erschaffen hätte. Und kein früheres Wollen („Gott will, dass er will, dass er will, dass er-…, dass er das Gute erschafft“) könnte diesen Widerspruch ausräumen. Die Lösung aus diesem Problem heißt, dass das Gute in dem Moment entsteht, wo es Gott erschaffen will. Aber Gott hätte dazu nicht erst noch wollen müssen, dass das Gute im selben Moment entsteht, sobald er will, dass es entsteht. Denn dann wäre es - wie in den genannten widersprüchlichen Szenarien - schon vorher entstanden, nämlich im Wollen des Wollens des Guten. Das Gute entsteht in Gottes Wollen vielmehr einfach so, aus dem Nichts. Es ist diese Schöpferkraft Gottes, aus dem Nichts zu erschaffen, die die christliche Tradition Gott dem Vater zuschreibt. Diese Schöpferkraft verdankt sich aber nicht seinem Willen. Er besitzt sie einfach so, aus dem Nichts eben. Das Gute entsteht aus dem Nichts, weil es <?page no="44"?> 44 in Gottes Schöpfermacht liegt, aus dem Nichts zu erschaffen - und nicht weil er will, dass etwas aus Nichts entsteht. Das bedeutet, dass das Gute nicht allein von seinem Willen abhängt, sondern auch von Gottes Wesen. Hier nun verliert Gottes Eigenwilligkeit ihre Grenze: Gott ist an sein Wesen gebunden, wenn er etwas will. Das führt zu einer zweiten eingrenzenden Bestimmung des Allmachtsbegriffs: Dieses Wesen, das aus dem Nichts erschafft, was es will, hat dabei bereits eine Vorstellung davon, was es will, und muss sie nicht erst noch erschaffen. Indem nämlich Gott etwas will, zieht er es einem anderen Wollen vor. Und damit hat er bereits die Unterscheidung von Gut und Schlecht zugrunde gelegt. Was einem anderen vorzuziehen ist, ist besser gegenüber dem Schlechteren. Und um etwas besser zu finden, muss die Grundkategorie der Bewertung schon gegeben sein, nämlich das Gute. Noch bevor also Gott das Gute erschaffen wollte, hat er es bereits vorgefunden, indem er überhaupt etwas wollte. Er hat damit auch das Schlechte schon vorgefunden, weil er das Gute ihm vorgezogen hat. Dazu musste er weder das Schlechte wollen noch das Schlechte erschaffen wollen. Zeitgenössische Theologen der sogenannten „Divine Command Ethics“ leiten aus dem Wesen Gottes nun ab, dass das Gute für uns Menschen nur dadurch erkennbar wird, dass Gott es befiehlt. Der einzige Zugang zur Erkenntnis des Guten ist für Menschen Gottes Gebot, weil Gott seinem Wesen nach das Gute ist und der Mensch ohne Gott das Gute nicht erkennen kann. 46 Diese Theorie hat eine starke politische Verführungskraft, die ein staatlicher Souverän auch auf sich anwenden kann, wie man bei Carl Schmitt sehen kann. Und sie beruht nach meinem Eindruck auf zu starken Voraussetzungen, die den Begriff des Guten vernebeln. Wenn Menschen nur durch Gottes Gebote wissen, dass Gott das Gute selbst 46 R.M. Adams: Finite and Infinite Goods, 14, 259. <?page no="45"?> 45 ist, dann weiß letztlich nur Gott, dass er es ist. Aber er kann dem Begriff des Guten keine Bedeutung geben außer über den zirkulären Selbstbezug auf sich selbst. Dadurch bekommt das Gute keine orientierende Bedeutung, die Gott bei seinen Bewertungen vornehmen könnte. Vielmehr muss er dann das Gute frei bestimmen, indem er Gebote aufstellt. Er weiß zwar, dass er nur gute Gebote aufstellt, weil er seinem Wesen nach das Gute ist. Aber er weiß dann nicht, was es bedeutet, gut zu sein, außer über seinen zirkulären Verweis auf seine guten Gebote, die deshalb gut sind, weil er gut ist. Es handelt sich um den gleichen Zirkel, mit dem sich Regierungen im Notstand zu erweiterten Machtbefugnissen selbst ermächtigen. Um diese Verführungskraft abzusenken, kann Gott nicht das Gute wollen, ohne etwas gut zu finden, also zu wollen. Und indem er etwas will, entsteht es aus dem Nichts. Vor aller Schöpfung hatte Gott nichts gewollt. Indem er etwas wollte, ergab es sich von selbst: „Und Gott sah, dass es gut war“, wie es in der biblischen Schöpfungsgeschichte heißt. Das Gute ist also an etwas gebunden, was Gott miterschafft. Gott bindet sich an seine Schöpfung, sobald er etwas will. Hier endet wieder seine Eigenwilligkeit: Wenn Gott will, dass es gut ist, dass Menschen sich gegenseitig helfen, erschafft er Menschen aus dem Nichts. Ansonsten könnte er nicht wissen, ob er wirklich will, was er will; ob das Gute also, was er will, wirklich das ist, was er meint, wenn er es will. Er muss dafür vielmehr das Gute an etwas feststellen. Gott ist also nicht souverän, wenn er über den Ausnahmezustand entscheidet, als könnte er alles seinem Willen überlassen. Sein Wille ist vielmehr gebunden: 1. an sein Wesen, 2. an die Grundmaßstäbe eines Wertesystems, das er mit seinem Willen aktiviert, 3. und an seine Schöpfung, die er mit dem erschafft, was er als das Gute bestimmt. <?page no="46"?> 46 Gottes Souveränität kann sich also nur erweisen, weil seine Allmacht gebunden ist. Dazu muss man nicht behaupten, dass Gott durch etwas anderes als ihn selbst beschränkt wird und nicht mehr allmächtig wäre. Vielmehr bindet sich Gott an sich selbst, indem er will, was er will. Und wenn er das Gute will, erschafft er diesen Wertemaßstab rückwirkend, eben von selbst, indem er ihn will. An seiner Schöpfung weist sich das Gute dann aus, und zwar nicht nur in den Momenten, wenn Gott will, dass es sich an ihr ausweist. Nicht der Ausnahmezustand, sondern die Bindung des göttlichen Willens an die Ordnung, die dabei von selbst entsteht, kennzeichnet Gottes Souveränität. Überträgt man nun diese Analogie auf die politische Theologie, so kann der Diktator nie voraussetzungslos entscheiden. Seine Souveränität hat sich vielmehr zu messen, nämlich an Vorgaben, die er nicht beeinflussen kann. 12 Fiktion Im vorigen Abschnitt habe ich davon gesprochen, dass die Vorstellung unbeschränkter Eigenwilligkeit eines allmächtigen Gottes eine Fiktion bildet. Es handelt sich um eine politisch wirkmächtige Fiktion, die die Politologin Hannah Arendt im Totalitarismus ausmacht. Das totalitaristische Regime erfindet ein fiktives Szenario für seinen Machtbereich, das allein der ideologischen Logik folgt. 47 Dazu gehören insbesondere Feindbilder, die aber frei konstruiert sind, etwa durch rassistische Weltanschauungen oder Ideologien. 48 Diese Fiktionen wären durchaus widerlegbar, indem man sie mit Lebenserfahrungen oder empirischen Studien vergleichen wür- 47 H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 938, 965f. 48 AaO, 876f. <?page no="47"?> 47 de. 49 Damit aber dennoch die Bevölkerung dieser Fiktion folgt und ihrem eigenen Menschenverstand nicht mehr traut, müssen alle Mitglieder der Gesellschaft weitgehend voneinander sozial isoliert werden. 50 Dafür sorgt eine Drohkulisse wechselseitigen Denunziantentums, welches das Misstrauen gegeneinander antreibt, sogar bis in die totalitäre Bewegung hinein. 51 Die totalitäre Bewegung muss in Bewegung bleiben, indem die ideologischen Narrative immerzu verändert werden: 52 Wer vor der rassistischen Fiktion als Jude gilt, entscheidet das Regime. Es ist selbstverständliches Kennzeichen des Totalitarismus, dass sogar treue und hohe Funktionäre regelmäßig selektiert werden. 53 Das Regime kann so erreichen, dass seine Bevölkerung nicht mehr dem eigenen gesunden Menschenverstand traut, 54 sondern sogar die Fähigkeit verliert, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Diesen Verlust nennt Arendt das „radikale Böse“ 55 . Das radikale Böse besteht nicht nur in der Unfähigkeit der moralischen Unterscheidung, sondern viel grundsätzlicher im Verlust, sich in der Welt zu orientieren. Beides ist aber für Arendt miteinander verbunden. Hier wiederholt sich, was ich im vorigen Abschnitt über den Zusammenhang des Guten und „etwas“ gesagt habe: Das Gute ist daran gebunden, dass man sich in der Welt orientieren kann, also einen Weltbezug hat. Die fiktiven Szenarien einer totalitären Herrschaft bestehen hingegen darin, den Weltbezug „abzuschneiden“. „An die Stelle einer Orientierung in der Welt tritt der Zwang.“ 56 Eine logisch in sich stimmige Weltanschauung 49 AaO, 763. 50 AaO, 763, 975. 51 AaO, 745, 892. 52 AaO, 545, 547, 554. 53 AaO, 661. 54 AaO, 745. 55 AaO, 910, 916. Dies.: Über das Böse, 129. 56 H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 966. <?page no="48"?> 48 geht einher mit einer „Verachtung für Wirklichkeit und Tatsächlichkeit“ 57 . Ich behaupte nicht, dass die Notstandsdemokratie eine totalitäre Herrschaft ist. Mir geht es hier lediglich darum, den Zusammenhang der religionsphilosophischen Verführungskraft des Euthyphron-Dilemmas mit einem Bewertungsschema aufzuzeigen, das sich über seine zirkuläre Begründungsfigur von abweichenden Informationen abschirmt. Diese Abschirmung nennt Arendt „Weltlosigkeit“. Dieser Hang zur Weltlosigkeit besteht jedoch auch unter demokratischen Bedingungen, wenn dort ein Notstand ausgerufen wird. Auch eine demokratische Regierung immunisiert sich durch die Akklamation des Notstandes schon in der Einschätzung, ob ein Notstand überhaupt vorliegt. Sobald das geschieht, verliert die politisch maßgebliche Instanz ihren eigenen „Weltbezug“. Bevor also wie in einer totalitären Herrschaft die Massen weltlos werden, 58 muss sich die Regierung selbst ihrer Anschauung versichern. Sie erleichtert es sich, wenn sie dazu die Opposition gesellschaftlich isoliert, als Gruppe fanatischer Spinner stilisiert, um damit auch unentschlossene Bevölkerungsgruppen mit einer sozialen Stigmatisierung zu bedrohen. Dadurch wird die eigene Schilderung der Notstandslage abgesichert, sowohl nach außen wie nach innen. Dazu baut die Regierung auf eine Gefolgschaft, die im Rahmen dieser Narration agieren muss. Das leistet die Regierung durch die zirkuläre Selbststärkung der Exekutive, die sich im Notstand erweiterte Machtbefugnisse gibt, indem sie ihn ausruft. Denn innerhalb der Exekutive sind die Hierarchien im Beamtenapparat klar geregelt und damit von oben kontrollierbar. Ich bezweifle nicht, dass die Regierungseinschätzung wahr sein kann. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu einer Terror- Herrschaft. Im Gegensatz zur angestrebten Weltlosigkeit des Totali- 57 AaO, 939. 58 AaO, 679. <?page no="49"?> 49 tarismus geschieht die Selbstimmunisierung einer demokratischen Regierung im Notstand eher versehentlich. Wenn nicht die Opposition als Korrektiv in den Meinungsbildungsprozess eingreifen kann, braucht das Regierungsnarrativ eigene offene Fenster. In der Corona-Krise dürften insbesondere die Einschätzungen der evidenzbasierten Medizin diese Öffnungen bewirken können. Das Problem demokratischer Notstandspolitik besteht aber darin, dass aus der Evidenzbasierung bald eine selbstimmunisierende Fiktion mutieren kann. Konkret wird dieses Problem an der Frage, wann eigentlich der Notstand aufgehoben wird. Allgemein wird man sagen, dass dazu die Gefahr gebannt sein muss. Aber wann genau ist sie gebannt? Nehmen wir an, dass die Mehrheit der Virologen die Einschätzung abgibt, dass man sich für immer auf eine bestimmte Quote von Sterbefällen an einer Corona-Erkrankung einstellen muss. Rechtfertigt diese Einschätzung, den Notstand aufzuheben und der Bevölkerung alle Freiheitsrechte wieder zurückzugeben? Oder werden „vulnerable Gruppen“ dabei ignoriert, selbst wenn auch im Notstand die ermittelte Quote von Sterbefällen erreicht werden wird? Es liegt in der Logik des Notstandes, dass auch für die Erklärung seiner Beendigung die Regierung zuständig ist. Und dadurch bestätigt sie, dass sie sich eigenmächtig diese Befugnisse gegeben hat. Zwar ist die Beendigung des Notstandes die letzte Regierungsmaßnahme, die noch innerhalb des Notstandes vollzogen wird. Aber gerade darum ist es auch für demokratische Regierungen schwer, den rechten Zeitpunkt für den Ausstieg zu finden, weil sie dadurch ihre zirkuläre Selbstermächtigung selbst aufbrechen muss, also ebenso eigenmächtig, wie den Notstand zu erklären. Selbst wenn die Regierung externe Berater hat, bleibt die politische Entscheidung in ihrer Hand und damit von der Zirkularität der Selbstermächtigung betroffen. Diese Zirkularität erschwert es, den Unterschied zu durchschauen, ob politische Entscheidungen auf einer weltlosen Fiktion beruhen oder durch wirkliche Tatsachen <?page no="50"?> 50 veranlasst sind. Dieses Problem zeigt sich daran, dass Übergangszeiten geschaffen werden, in denen auch nach Aufhebung des Notstandes bisherige Einschränkungen in Kraft bleiben. 59 13 Giorgio Agamben Meine bisherige Darstellung des Notstandes hat starke Ähnlichkeit zu den Analysen des italienischen Philosophen Giorgio Agamben. Auch er hat den Zirkelschluss der Selbstlegitimierung einer Regierung bei Ausrufung eines Notstandes beschrieben, 60 die Fiktion als Machtinstrument, 61 den Opportunismus der Kirche, auch der katholischen, 62 die soziale Exklusion Andersdenkender 63 und das Problem, dass eine Notstandsgesellschaft kaum wieder in die Normalität zurückfinden kann. 64 Behörden bereiten die Bevölkerung darauf vor, „dass dieselben Weisungen auch nach dem Ende des Notstandes zu befolgen seien.“ 65 Als in Deutschland die epidemische Lage aufgehoben worden ist, haben tatsächlich manche Regeln weiter gegolten, so etwa die Quarantänepflicht nach einer Infektion. Das Hauptproblem liegt Agamben zufolge in der Biopolitik, die Politik mit dem nackten Leben gleichsetzt, also damit, dass die Einheit körperlichen und geistigen Erfahrens aufgespalten werde. 66 Aus dem Recht auf Gesundheit wird eine Gesundheitspflicht 59 U. di Fabio: Coronabilanz, 16. 60 G. Agamben: Homo Sacer, 40. Ders.: An welchem Punkt stehen wir, 35. 61 G. Agamben: An welchem Punkt stehen wir, 88. 62 AaO, 27. 63 AaO, 85. 64 AaO, 96. G. Agamben: Homo Sacer, 38. 65 G. Agamben: An welchem Punkt stehen wir, 54. 66 AaO, 60. <?page no="51"?> 51 konstruiert. 67 Eine Politik des nackten Lebens macht den bloßen vegetativen Zustand des Körpers zur politischen Ordnung. Das Paradigma dieser Ordnung ist der medizinische Wiederbelebungsapparat. 68 Eine politische Ordnung des nackten Lebens kann sich somit „social distancing“ als Dauerzustand erlauben, der Menschen nur noch digital miteinander verbindet. 69 An die Stelle des politischen Handelns tritt die medizinische Intervention. 70 Ich halte viele dieser Beschreibungen für treffend, allerdings auch für einseitig und überzogen. Der biopolitische Trend offenbart zwar die Dialektik, dass das Ziel des nackten Lebens auch umschlagen kann zur Tötung lebensunwerten Lebens 71 oder, mit Judith Butler vorsichtiger ausgedrückt, zur ungleichen Betrauerbarkeit von Menschen. 72 Man denke etwa daran, dass der schwere Krankheitsverlauf einer ungeimpften Person öffentlich anders wahrgenommen wird als bei Patienten mit vermeintlich „unverschuldeten“ Krankheiten. Jedoch erkennt Agamben Gegentrends nicht auch an, dass nämlich seit einigen Jahrzehnten die Lebensqualität von sterbenden Patientinnen gegenüber der bloßen Lebensverlängerung in den Vordergrund gerückt ist, was eine Integrität körperlicher und geistiger Erfahrungen voraussetzt. In der Corona-Krise wurden von den Hilfsdiensten spezielle Formulare für Patientenverfügungen auf Covid-19 herausgegeben. Die Unterzeichner konnten sich darin zur Wahrung ihres Selbstbildes für oder gegen intensivmedizinische Behandlungen entscheiden, was sie bei anderen Erkrankungen umgekehrt festgelegt haben. 67 AaO, 9. 68 AaO, 53. 69 AaO, 11. 70 AaO, 69. 71 AaO, 127. 72 J. Butler: Die Macht der Gewaltlosigkeit, 79. <?page no="52"?> 52 Zur indifferenten Darstellung Agambens gehört auch, dass das Motiv unklar ist, warum eine Gesellschaft den Notstand ergreift. Liegt das daran, dass Regierungen ihrem Wesen nach korrupt sind? Oder greifen bestimmte Herrschaftsmuster in Notsituationen? Oder gibt es sogar anonyme dämonische Mächte, die einen Notstand mit seinen Folgen provozieren? Das Subjekt der Herrschaft bleibt bei Agamben im Dunklen. Er spricht von „Verschwörungen-…, die auch dann wirksam sind, wenn kein identifizierbares Subjekt im Hintergrund die Fäden zieht.“ 73 Andererseits identifiziert er doch die „Wissenschaft“ als „das religiöse Dispositiv der Großen Transformation“. 74 Agambens Analyse schwankt zwischen einer Vorherrschaft der Exekutive vor der Legislative 75 und einer Entmachtung der Politik als ganzer durch die Wissenschaft. 76 Für eine Ethik des Notstandes ist es jedoch unbefriedigend, wenn die Handlungsträger unbekannt bleiben. Dementsprechend schwanken auch Agambens Vorschläge zur Behebung des Notstandes zwischen Aktionismus einzelner Gruppen (Philosophen, Studenten) 77 und einer tugendethischen Ausrichtung, mit einer Haltung der Erinnerung maßvolle Vorkehrungen gegen eine Pandemie zu treffen. 78 Meine Einschätzung zur Lage und die folgenden ethischen Orientierungen basieren nicht auf einer geschichtlichen Verfallstheorie, deren Motoren im Dunklen bleiben. Ich kann offenlassen, ob der Notstand auf einer historisch linearen Verfallslogik beruht, der angeblich die modernen Demokratien schon seit Längerem unterworfen sind. 79 Eine solche Geschichte des Verfalls setzt ja voraus, 73 G. Agamben: An welchem Punkt stehen wir, 39. 74 AaO, 11. 75 AaO, 55. 76 AaO, 69. 77 AaO, 85, 117. 78 AaO, 150f. 79 AaO, 8. <?page no="53"?> 53 dass die Selbstermächtigung einer Regierung durch Ausrufen des Notstandes doch nicht primär auf einem Zirkelschluss beruht, sondern eine historische Logik hat. Demgegenüber ist meine Darstellung sowohl düsterer als auch lösungsorientierter: Düster ist sie, weil der Notstand aus dem Nichts entsteht, nämlich aus dem sich selbst bewirkten Zirkelschluss (Abschnitt 11). Dadurch entzieht sich seine Entstehung schon immer einer ethischen Kontrolle. Lösungsorientierter ist meine Einschätzung aber insofern, als der Zirkelschluss durchschaut werden kann. Durch ethische Aufklärung kann somit der Notstand kontrolliert und rückgängig gemacht werden. Diesen Weg möchte ich in den folgenden Abschnitten beschreiten. 14 Theologische Entgiftung Das Euthyphron-Dilemma entwickelt eine Karikatur Gottes, dem die Welt verloren gegangen ist. Wie ich aber im Abschnitt 11 gezeigt habe, kann vom Guten nur angemessen gesprochen werden, wenn es sich auf eine Welt bezieht. Ist das Umgekehrte auch richtig? Wird also von der Welt angemessen geredet, wenn religiöse Phänomene berücksichtigt werden? Oder gehören zumindest religiöse Phänomene mit zum menschlichen Weltbewusstsein dazu? Diese Frage ist deswegen für eine Ethik des Notstandes von Bedeutung, weil die Karikatur Gottes offenbar ein Antreiber für ein weltloses Politikverständnis sein kann, für einen politischen Souverän, der eigenmächtig über Gut und Böse entscheidet. Daher frage ich nach der Umkehrung: Kann die Politische Ethik theologisch „entgiftet“ werden, indem an die Stelle der Karikatur Gottes ein plausibles Gottesverständnis gesetzt wird? Zumindest würde dann der religiöse Antreiber einer weltlosen Notstandspolitik destruiert. Aber kann ein plausibles Gottesverständnis sogar eine Notstandsdemokratie in kontrollierte Bahnen bringen? <?page no="54"?> 54 In den folgenden Abschnitten möchte ich mich dieser Aufgabe stellen. Dazu möchte ich zunächst religiöse Phänomene interpretieren und ihre theologischen Kategorien aufdecken. Es wird sich dabei zeigen, dass Gott zwar nicht „von dieser Welt“ ist (Joh 18,36), dass aber mit den Kategorien, mit denen sich Gott beschreiben lässt, Phänomene in der Welt identifizierbar werden. Damit ist auch klar, dass Gut und Böse nicht einem weltenthobenen Geist entstammen, sondern dass sich diese Bewertungsmaßstäbe in weltlichen Phänomenen rekonstruieren lassen. Menschen brauchen also nicht den Umweg über eine göttliche Instanz gehen, die eigenmächtig bestimmt, was das Gute ist. Sie können vielmehr die Bedeutung des Guten in weltlichen Phänomenen entdecken. Wenn diese Einschätzung zutrifft, ist auch klar, dass sich eine Politik des Notstandes an diesem Maßstab kontrollieren lassen kann. Das Gute ist dann auch nicht Sache der jeweiligen politischen Führung, die im Ausnahmezustand regiert, weil sie dabei vielmehr selbst von einem Maßstab abhängig ist, an dem auch sie gemessen wird. Gegen das theologische Gift eines Willkürgottes hilft dann eine theologische Entgiftung. Das ist deshalb eine starke These, weil sie impliziert, dass nicht etwa eine säkulare Ethik gegen eine willkürliche Notstandspolitik helfen könnte. Die Gefahr, dass die Karikatur Gottes an ein säkulares Politikverständnis vererbt wird, hat sich gerade bei Carl Schmitt gezeigt. Säkularisierung theologischer Ideen schützt also gerade nicht vor einer unkontrollierten Anwendung politischer Herrschaft. Vielmehr hilft nur eine grundsätzlichere Destruktion eines falsch verstandenen Gottesbildes. Und das heißt, dass dazu theologisch gedacht werden muss. Wie sich die Beschreibung theologischer Phänomene darauf auswirkt, dass die Machtbefugnisse einer Regierung im Notstand nicht willkürlich wuchern, ist daran anschließend zu beurteilen, nachdem die wesentlichen Kategorien religiöser Phänomene bestimmt worden sind. Das heißt auch, dass ich zunächst einen Schritt zurücktrete und über politische Phänomene hinausgehe, <?page no="55"?> 55 um die relevanten religionsphilosophischen Kategorien zu skizzieren. Ich werde dazu über Naturerfahrungen sprechen, über Liebesbeziehungen und Autounfälle. Allerdings lassen sich die gewonnenen Beobachtungen auch auf politische Ereignisse beziehen. Ich wähle im Folgenden einen phänomenologischen Ansatz, der sich allein schon deshalb nahelegt, weil die Aporien eines weltlosen Gottesbildes inzwischen deutlich hervorgetreten sind. Schauen wir also auf die weltlichen Phänomene! 15 Widerfahrnisse In meinen bisherigen theologischen Studien ist mir ein Phänomen besonders wichtig geworden: Menschen fangen an, von Gott zu reden, weil ihnen etwas widerfahren ist. Sie haben also nicht einfach eine Erfahrung gemacht, sondern sie als ein Widerfahrnis erlebt. Der Unterschied liegt in der Thematisierung. Ich kann durch eine Blumenwiese laufen und nehme die unterschiedlichen Farben, den Duft des Sommers, das Rascheln der Wiese und das Summen der Insekten wahr. Ich kann zu meiner Erfahrung gewisse Schlussfolgerungen hinzuzählen, nämlich dass man sich möglichst mit Sonnencreme eingerieben haben sollte, wenn man länger durch eine Blumenwiese läuft. In alledem umfasst meine Erfahrung Gegenstände und Sachverhalte. Zwischen dem wahrgenommenen Duft und der geschlussfolgerten Sonnencreme besteht insofern kein Unterschied, als beide in ontologischer Hinsicht Gegenstände sind, die bestimmte Eigenschaften haben. Beschreibe ich dagegen ein bestimmtes Erlebnis oder Ereignis als Widerfahrnis, so thematisiere ich weniger, welche Eigenschaften die Erfahrungsgegenstände haben. Vielmehr drücke ich aus, dass mich etwas getroffen hat. Im Ausdruck Wider-fahrnis ist ausgesprochen, dass die Erfahrung ein Moment enthält, dem ich passiv ausgesetzt gewesen bin. Es hat sich mir entgegen-gestellt, <?page no="56"?> 56 wider-setzt. Das heißt nicht, dass es sich um ein bedrohliches oder bedrückendes Ereignis handeln muss. Während ich über die Blumenwiese laufe, können mich Erinnerungen aus glücklichen Kindertagen überfallen, Glücksgefühle können sich einstellen, die Geräusche auf der Wiese können mich über-raschen. Wenn Menschen ein Widerfahrnis thematisieren, müssen sie jedoch nicht denken, dass sich ihnen buchstäblich etwas entgegengestellt hat. Hat mich ein Glücksgefühl getroffen, heißt das nicht, dass es ein Wesen namens Glücksgefühl gibt, dass von vorne auf mich zugekommen ist. Wenn mich Erinnerungen überfallen, so haben sie mich nicht vorher hinter den Büschen belauert. Ein Widerfahrnis kommt von nirgendwoher. Es ist vielmehr plötzlich da. Meistens ist es sogar schon wieder weg, wenn wir bemerken, dass wir ein Widerfahrnis hatten. Zumindest lässt es sich nicht festhalten. Der Moment, in dem ich getroffen bin, hängt nicht am Erfahrungsgehalt, der sich auch noch um mich herum befinden kann, während das Getroffensein schon wieder vorübergegangen ist. Deshalb ist es eigentlich ungenau ausgedrückt, dass ein Widerfahrnis „plötzlich da“ ist. Es ist zwar plötzlich, aber nie „da“. Denn es besteht nicht im Erfahrungsgehalt. Wenn mich die Naturschönheit ergriffen hat, so kann ich zwar im Nachhinein beschreiben, welche Blumen auf der Wiese gestanden haben und wie schön das Sonnenlicht in den Gräsern gespiegelt wurde. Aber die Beschreibung hält den Moment der Ergriffenheit nicht fest. Nicht die Blumen, nicht das Sonnenlicht sind mir also eigentlich widerfahren. Sonst würden sie das immer wieder tun, wenn ich über die Wiese gehe. Aber garantiert ist das eben nicht. Ich kann morgen zur selben Zeit und beim selben Wetter über die Wiese laufen, ohne dass mich irgendetwas ergreift. Wenn mich die Blumen ergreifen, ist es vielmehr ein besonderer Anlass, nicht nur von Erfahrungen zu sprechen, sondern von einem Widerfahrnis. Etwas hat sich mir in den Blumen entgegen-gestellt, ohne dass es ein bestimmter Gegenstand wie Blumen gewesen wäre. <?page no="57"?> 57 Und eigentlich ist dieses anonyme Etwas auch kein Etwas. Wenn wir ein Widerfahrnis thematisieren, lenken wir die Aufmerksamkeit vielmehr auf die Dynamik des Entgegen-Stellens. Dazu müssen wir nicht annehmen, dass sie selbst ein Etwas ist. Zwar können wir sprachlich nur dann etwas thematisieren, wenn wir es zum grammatischen Objekt machen. Wir thematisieren dann ein Widerfahrnis, als wäre es ein Gegenstand. Aber eigentlich widerfahren uns eben nicht Blumen und das Summen von Insekten, sondern uns widerfährt das Widerfahren von Blumen und Insektensummen. Die Blumenwiese ist für uns hier deshalb von Bedeutung, weil sie in der Klammer eines Widerfahrnisses steht. Logisch gesprochen ist das Widerfahrnis ein Gegenstand zweiter Ordnung. Genauso wenig wie eine Unterhaltung über Blumen eine Ähnlichkeit zu Blumen besitzt, ist das Widerfahrnis ein Gegenstand wie eine Blume. Beide sind kategorial verschieden. Das bedeutet, dass man sie nicht vergleichen kann, weil sie sich auf verschiedenen logischen Ebenen befinden. Es wäre Unsinn zu sagen: „Unsere Unterhaltung duftet genauso wie diese Rose.“ Es wäre aber genauso unsinnig zu sagen: „Unsere Unterhaltung duftet bei weitem nicht so gut wie diese Rose.“ Das liegt nicht nur daran, dass Unterhaltungen nicht duften, sondern vor allem daran, dass sie sich mit Rosen nicht vergleichen lassen. Gleichgültig, an welcher Eigenschaft die Unterhaltung mit einer Rose verglichen werden soll, bedeutet diese Eigenschaft auf unterschiedlichen Ebenen auch Unterschiedliches. Es wäre ebenso unsinnig zu sagen: „Diese Unterhaltung ist genauso lang wie diese Rose.“ Selbst wenn wir uns über eine Rose unterhalten, übernimmt die Unterhaltung dabei keine Eigenschaft der Rose. Deshalb ist eine Unterhaltung ein Gegenstand zweiter Ordnung. Wir können uns durchaus genauso über Unterhaltungen unterhalten wie über Rosen. Dazu muss eine Unterhaltung ein sprachliches Objekt sein. Da sie aber kategorial von einer Rose verschieden ist, befindet sie sich auf einer anderen logischen Ebene. Deshalb ist <?page no="58"?> 58 kategorial zwischen Gegenständen erster und zweiter Ordnung zu unterhalten. Ebenso können weitere logische Ordnungen sprachlich geschaffen werden. Wenn wir etwa über die zweite logische Ordnung sprechen, dann ist sie selbst ein Gegenstand dritter Ordnung und so weiter. Worauf es mir ankommt, ist die Unterscheidung der logischen Ebenen zwischen einem Widerfahrnis und den Gegenständen, die dabei widerfahren. Liegt die Betonung eines Gesprächs auf dem Widerfahrenscharakter eines Erlebnisses, dann treten die beteiligten Gegenstände meistens thematisch zurück. Nehmen wir an, jemand hatte einen Autounfall und fragt sich jetzt verzweifelt: „Warum musste mir das zustoßen? “ Und nehmen wir weiter an, dass eine Polizistin den Vorgang inzwischen aufgenommen, Zeugen befragt und sich inzwischen ein klares Bild von der Sachlage gemacht hat. Diese Polizistin antwortet dem erschrockenen Unfallopfer, indem sie ihm erklärt, dass die Fahrerin von links ihm die Vorfahrt genommen hatte. Dann ist es ziemlich wahrscheinlich, dass die Frage „Warum musste mir das zustoßen? “ das Unfallopfer immer noch genauso belastet wie vor der Beantwortung der Polizistin. Denn es wollte nicht wissen, welche Gegenstände am Unfall beteiligt waren oder welche Ursachen für den bestehenden Sachverhalt verantwortlich sind. Auch der Sachverhalt selbst, dass die Person einige Prellungen und der Kotflügel eine Beule hat, spielt meistens nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr fragt die Person nach dem Grund für das Widerfahrnis. Das Abgründige eines Widerfahrnisses besteht aber darin, dass es einfach so kommt, aus dem Nichts - genauso wie das Gute aus dem Nichts entsteht (Abschnitt 11). Der Unfall hatte zwar eine Ursache, aber das Widerfahrnis des Unfalls, dieser Gegenstand zweiter Ordnung, hat keine Ursache, und wenn doch, dann bedeutet das Wort „Ursache“ auf dieser höheren Ebene etwas anderes als auf der unteren Ebene der Gegenstände. Die Ursache für das Widerfahrnis liegt dann darin, dass es ein Widerfahrnis ist, das Menschen einfach so überkommt. <?page no="59"?> 59 Um dieses Abgründige zu verstehen, bemühen Menschen oft eine religiöse Sprache. Damit unterstreichen sie, dass die logische Ebene, über Widerfahrnisse zu sprechen, eine andere ist als die von Gegenständen, Ursachen und Sachverhalten. Gott ist kein Gegenstand und befindet sich nicht in der Welt der Gegenstände. Aber da Menschen von einem Widerfahrnis heimgesucht worden sind, versuchen sie darauf eine Deutung zu geben auf einer anderen kategorialen Ebene als auf der Ebene von Gegenständen. Sie beten zu Gott um Hilfe oder klagen ihn an, versuchen, mit ihm zu verhandeln so wie Martin Luther während eines stürmenden Gewitters schwor, ein Mönch zu werden, um nicht vom Blitz erschlagen zu werden. Sie beichten, um dadurch Gottes Vergebung zu erlangen, oder sie nehmen im Glauben willig ihr Schicksal an. All das sind praktische Umgangsweisen, um das Widerfahrnis entweder zu beruhigen oder durch ein anderes Widerfahrnis abzulösen. Und diese Umgangsweisen sind nur sinnvoll, weil Menschen dabei Widerfahrnisse thematisieren in kategorialer Unterscheidung von Gegenständen. Ich halte daher den Widerfahrenscharakter von Erfahrungen für eine theologisch oder religionsphilosophisch relevante Kategorie. Damit behaupte ich nicht, dass nur gläubige Menschen von Widerfahrnissen reden können. Ich behaupte aber, dass auch nicht-gläubige Menschen, wenn sie Widerfahrnisse thematisieren, dieselbe Kategorie bemühen, in der gläubige Menschen von Gott reden. In der Regel lösen Widerfahrnisse einen politischen Notstand aus, und der Notstand ist selbst ein Widerfahrnis. Hier berührt sich also eine theologische Kategorie mit der Politik. Der Ausnahmezustand wird mit einer plötzlichen Gefahr begründet: Lang anhaltende Stromausfälle bedrohen die Gesamtversorgung der Bevölkerung, eine Naturkatastrophe sucht eine Region heim, feindliche Truppenbewegungen oder systematische Terroranschläge bedrohen den Frieden, ein chinesisches Virus macht an den Staatsgrenzen nicht Halt. Man kann diese Fälle aus zwei kategorialen <?page no="60"?> 60 Perspektiven zugleich betrachten: Sie bilden auf der Ebene der Sachverhalte und Gegenstände den Anlass, überhaupt politisch zu reagieren. Aber wie politisch reagiert wird, hängt auch davon ab, ob diese Fälle zusätzlich in ihrem Widerfahrenscharakter thematisiert werden. Im Vordergrund steht dann, dass diese Fälle die Gesellschaft ereilt haben, dass das Land von einer Not heimgesucht worden ist. Nun bekommen diese politischen Krisenfälle auch eine theologische Bedeutung. Ein naheliegender Reflex besteht dann in der Stimmung, man habe es mit übermenschlichen Gegnern zu tun, mit dämonischen Mächten, die selbst nur mit göttlicher Hilfe besiegt werden können. Das trifft auch insofern zu, als man hier ein Widerfahrnis erlebt hat, aber nicht, insofern sich ein Virus ausbreitet oder Terroristen einen Anschlag verübt haben. Nicht auf der Ebene der Sachverhalte also ist eine Gesellschaft übermenschlichen Kräften ausgesetzt, sondern auf der Ebene, überhaupt heimgesucht worden zu sein. Aufseiten der Staatsbürger kann in solchen Fällen die Phantasie aufkommen, die eigene politische Führung hätte die göttliche Eigenschaft der Allmacht, um die Gefahr einzudämmen. Mit dieser Zuschreibung werden Regierungsvertreter wertgeschätzt, aber auch überprüft und manchmal auch verurteilt. Staatsvertreter bedienen rhetorisch diese Phantasie, indem sie an die Unglücksorte fahren und dort versprechen, den Zustand vor dem Unglück wiederherzustellen oder erst zu ruhen, wenn die Schuldigen angemessen bestraft worden sind. Und Staatsvertreter thematisieren selbst das Widerfahrnis, indem sie den Notstand ausrufen und sich ermächtigen, die politische Macht auf sich zu konzentrieren. Zur theologischen Entgiftung gehört es nun, zwischen der Bewältigung allzu menschlicher Krisen und ihrem Widerfahrenscharakter zu unterscheiden, also zwischen der politischen und der theologischen Ebene. Luthers zwei Reiche sind also kategorial weiterzuentwickeln. Nicht, dass das Reich des Glaubens in all diesen Fällen nichts zu sagen hätte. Aber auch nicht, dass die Krise nur <?page no="61"?> 61 im Gebet und mit Gotteskriegern zu bewältigen wäre. Vielmehr liegen beide kategorialen Ebenen zugleich übereinander. Es gehört zu kategorialen Unterscheidungen, dass man eine und dieselbe Situation zugleich in mehreren Kategorien beschreiben kann. Nur darf man sie eben nicht vermischen. Das bedeutet, dass man nicht mit „theologischen Waffen“ Politik betreiben und ebenso wenig mit politischen Mitteln den Widerfahrenscharakter von Ereignissen bewältigen darf. Der erste Fehler würde begangen, wenn sich die politische Führung Anleihen aus der Theologie holt, um sich als eine quasi-göttliche Macht zu stilisieren. Der zweite Fehler würde begangen, wenn vorausgesetzt wird, dass mit politischen Entschädigungszahlungen an die Opfer oder mit Haftstrafen für die Täter die Wunde schon heilen wird, die die Krisenfälle ausgelöst haben, indem sie den Betroffenen widerfahren sind. Um mit Widerfahrnissen umzugehen, bedarf es einer Praxis auf derselben Ebene, also auf der zweiten Ordnung und nicht auf der Ebene der Gegenstände dieser Welt. Gegen den Landrat des Ahrtals, in dem im Jahr 2021 durch einen über die Ufer getretenen reißenden Bach ganze Orte mitgerissen und Menschen getötet wurden, wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, weil er die Wetterwarnungen nicht rechtzeitig an die zuständigen Rettungsgesellschaften weitergegeben habe. Ich enthalte mich in der Frage, ob hier ein strafrechtlich relevanter Vorgang vorliegt und ob etwa eine rechtlich relevante Weisungskette ignoriert worden ist. Politisch besteht aber immer ein Abwägerisiko, wie man bestimmte Informationen bewertet und welche Entscheidungen man dann trifft. Das schließt politische Fehler ein, für die ein Politiker die Verantwortung übernimmt, indem er die behördlichen Verfahren korrigiert oder sein Amt zur Verfügung stellt. Ich sehe dagegen ein Problem, das mit der Notstandsfiktion zu tun hat, wenn Politiker für ihre Entscheidungen auch strafrechtlich belangt werden, weil sie politisch versagt haben. Im Notstand wird nämlich nicht entschuldigt, dass Politiker Fehleinschätzungen <?page no="62"?> 62 vornehmen, weil der Notstand keine Fehler duldet. Sie werden wegen der Allmachtsphantasie nicht geduldet, die sich im Notstand typischerweise auf die politische Führung erstreckt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob das Allmachtsattribut vor oder nach der Katastrophe zugeschrieben worden ist. Denn wie wir schon gesehen haben, gehört zur Logik des Notstandes die zirkuläre Selbstermächtigung der Regierung, die sich bereits rückwirkend auswirken muss: Eine Regierung muss bereits die Macht haben, den Notstand auszurufen, aber sie hat diese Macht nur, weil sie ihn ausruft. Also muss diese Macht auch rückwirkend gültig werden. Daran aber kann auch die Bevölkerung die Regierung rückwirkend bemessen. Zwar entscheidet im Notstand die Regierung, was gut und böse ist. Aber die Bevölkerung kann immerhin feststellen, ob eine Regierung das Allmachtspostulat erfüllt oder nicht. Die politische Führung haftet dann nicht, weil sie etwas Schlechtes getan hat, sondern weil sie nicht allmächtig ist. Ist meine These richtig, so vermischen sich hier theologische und politische Kategorien. 16 Tatsächlichkeit Nach Hannah Arendt geht die fiktive Weltanschauung der totalitären Herrschaft einher mit einer „Verachtung für Wirklichkeit und Tatsächlichkeit“. Bei Arendt ist selbst nicht ganz deutlich, ob Tatsächlichkeit etwas anderes ist als Tatsachen. Wenn beides identisch ist, dann befindet sich die Tatsächlichkeit auf derselben kategorialen Ebene wie Tatsachen. Sprachlich aber unterscheidet man zwischen einem Gegenstand und seiner „-lichkeit“. Ein Christ ist etwas anderes als seine Christlichkeit, und ebenso ist eine Farbe von ihrer Farblichkeit zu unterscheiden. Eine Farbe kann etwa Grün sein, aber die Farblichkeit von Grün ist nicht selbst grün, sondern zum Beispiel „gegeben“, „auffällig“ oder auch „grund- <?page no="63"?> 63 legend“. Man muss also nicht von Farben sprechen, wenn man von Farblichkeit spricht. Ebenso gehen Christen sonntags in den Gottesdienst, aber ihre Christlichkeit ist kein Gegenstand, der gehen kann. Christen können sich bisweilen unchristlich verhalten, aber die Christlichkeit kann sich weder unchristlich verhalten noch unchristlich sein. Man kann daher beide auch nicht miteinander vergleichen; sie sind also kategorial zu unterscheiden. Könnte das auch auf die Tatsächlichkeit zutreffen, dass sie von Tatsachen kategorial verschieden ist? In meinen bisherigen religionsphilosophischen Studien habe ich versucht, Tatsächlichkeit als eigene Kategorie zu bestimmen. Worin besteht aber die Tatsächlichkeit von Tatsachen? Bestimmt man mit Ludwig Wittgenstein Tatsachen als das „Bestehen von Sachverhalten“ 80 , dann könnte die Tatsächlichkeit nicht darin liegen, dass sie selbst ein Sachverhalt ist oder dass sie in einem besteht. Aber die Beständigkeit des Sachverhaltes ist etwas kategorial anderes als sein Bestehen. Ein Sachverhalt besteht durch einen Grund, etwa durch eine Ursache. Der Sachverhalt, dass ich heute unrasiert bin, besteht deshalb, weil ich vergessen hatte, mich heute Morgen zu rasieren. Aber die Beständigkeit dieses Sachverhaltes hängt nicht an dieser Ursache. Denn auch wenn ich mich jetzt eilig doch noch rasiere, so besteht zwar der Sachverhalt nicht mehr, dass ich unrasiert bin, aber der nicht mehr bestehende Sachverhalt behält dennoch seine Beständigkeit. Wäre das nicht so, dann könnten wir nicht einmal mehr darüber reden, wie ich vorhin ausgesehen hatte, bevor ich mich dann doch noch rasiert hatte. Sachverhalte können also wechseln und vom Bestehen ins Nicht-Bestehen übergehen. Ihre Beständigkeit ist aber unabhängig von diesen Wechseln gegeben. Darin besteht ihre Tatsächlichkeit. Ich drücke diese eigene Kategorie mit der Kurzformel aus: „Ein Sachverhalt ist, was er ist.“ Dasselbe gilt für alle Gegen- 80 L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, 2. <?page no="64"?> 64 stände, dass sie sind, was sie sind. Die Tatsächlichkeit trifft sogar auf fiktive Gegenstände zu, auf Irrtümer und selbst auf das Nichts. Man mag philosophisch darüber streiten, ob es das Nichts „gibt“. Aber man kann nur darüber streiten, weil sogar das Nichts „ist, was es ist“. Ansonsten würde man nicht verstehen, worüber man redet. Ich sehe in der Tatsächlichkeit eine theologische oder religionsphilosophische Kategorie. Das liegt daran, dass sich auf Tatsachenebene kein Grund angeben lässt, warum die Tatsächlichkeit von Tatsachen und Gegenständen ist. Woher etwas seine Tatsächlichkeit hat, lässt sich nicht mit anderen Tatsachen oder Gegenständen begründen, denn damit würde man die beiden Kategorien vermischen. Es geht ja nicht um die relative Beständigkeit, dass ein Gegenstand zumindest einige Zeit „beharren“ muss, damit er überhaupt da ist. Vielmehr ist mit Tatsächlichkeit gemeint, dass etwas „ist, was es ist“. Und das ist immer der Fall, und zwar bei allem, unabhängig davon, wie lange es beharrt und ob es inzwischen schon wieder verfallen ist. Mein Kinderbett ist, was es ist, obwohl meine Eltern es damals zum Sperrmüll gebracht haben, als ich zu groß wurde. Es existiert also nicht mehr, aber seine Tatsächlichkeit hat es behalten. Mein Kinderbett ist, was es ist, ob es existiert oder nicht. Sonst könnte ich nicht darüber schreiben. Diese Beständigkeit ist absolut und nicht an die Zeit gebunden. Es gibt nicht nur auf Tatsachenebene keinen Grund für die Tatsächlichkeit, sondern sie hat gar keinen Grund. Denn jeder Grund setzt seine Tatsächlichkeit schon voraus, sonst könnte er nicht erhoben werden. Tatsächlichkeit ist also grundlos. Sie ist nie entstanden, nie durch etwas verursacht worden, weil es nichts gibt, was vor ihr bestanden hätte. Denn alles hat Tatsächlichkeit. Nun kann man fragen, ob man diese Kategorie überhaupt irgendwie wichtig nehmen muss. Der Satz: „Es ist, was es ist“, ist eine Tautologie. Tautologien sind nichtssagend, weil sie immer gültig sind. Warum Philosophie auf nichtssagende Sätze stützen? Meine Antwort lautet, dass Tautologien ja nur auf der Tatsachenebene <?page no="65"?> 65 nichtssagend sind. Nur also, wenn man meint, dass Philosophie allein auf der Ebene der Gegenstände und Tatsachen zu gründen ist, ist eine Tautologie nichtssagend. Wenn man aber das Phänomen in den Blick nehmen will, dass alles eine absolute Beständigkeit hat, die sogar sein Bestehen überdauert, kommt man an der Kategorie der Tatsächlichkeit nicht vorbei. Die Blindheit für den Sinn dieser Tautologie gründet dann auf einer kategorialen Unterbestimmtheit des Denkens. Die Tatsächlichkeit ist grundlos, aber das macht sie noch nicht zu einem trivialen Phänomen. Meistens fällt sie uns nicht auf, weil wir sie immer schon zugrunde legen und gar nicht anders können, als sie vorauszusetzen. Das bedeutet aber nicht, dass wir und alles andere grundlos gegeben sind. Alles gründet nämlich in der Tatsächlichkeit. Hätten wir keine Tatsächlichkeit, keine absolute Beständigkeit, dann könnten widersprüchliche Zustände auftreten, unsere Vergangenheit für unser Denken unzugänglich sein und keine verlässlichen Aussagen über irgendetwas getroffen werden. Es könnte dann passieren, dass ich mit der Hand nach meiner Tasse greife, aber meine Hand sich plötzlich in Nichts auflöst und die Tasse auf der anderen Seite steht, obwohl sie zugleich immer noch da steht, wo sie vorher gestanden hat und sich das Nichts als meine Hand herausstellt. Sie werden zugeben, dass es höchst riskant ist, in solchen Weltzuständen noch nach Tassen zu greifen. Selbst auf meine Gedanken könnte ich mich nicht verlassen. Alles wäre wirr, ohne dass es verlässlich wirr ist. Ich könnte mich also nicht einmal auf die Verwirrtheit der Welt verlassen. Ein solcher Zustand ist nicht mit dem Chaos am ersten Schöpfungstag identisch. Denn das Chaos ist, was es ist. Und um damit identisch zu sein, muss dieser Zustand eine Tatsächlichkeit besitzen. Alles ist daher auf Tatsächlichkeit angewiesen. Sie selbst ist grundlos, aber alles andere gründet in ihr. Das ist der Grund, warum ich die Tatsächlichkeit als religionsphilosophische Kategorie einschätze. Alles ist von ihr „schlechthinnig abhängig“. Mit <?page no="66"?> 66 dieser absoluten Abhängigkeit hat Friedrich Schleiermacher die kategoriale Unterscheidung vorgenommen zwischen relativen Abhängigkeiten, die zwischen den Gegenständen der Welt bestehen, und der Unmöglichkeit, das Dasein aller Gegenstände aus relativen Abhängigkeiten zu erklären. 81 Schleiermacher hat die Instanz, von der alles schlechthinnig abhängig ist, „Gott“ genannt und eingeräumt, dass man sie auch anders nennen könnte. Allerdings kann man selbst dann nichts anderes meinen: Die Instanz unserer schlechthinnigen Abhängigkeit ist auf einer kategorial anderen Ebene zu thematisieren als auf der Ebene von Gegenständen und Tatsachen. Sie wirkt sich zwar weltlich aus, aber sie gründet nicht in der Welt, weil Tatsächlichkeit ja grundlos ist. Tatsächlichkeit ist aber auch kein Taschenspielertrick unseres Denkens. Denn dann würde sie im Denken gründen, während Denken ja sein muss, was es ist, damit gedacht werden kann. Wenn Tatsächlichkeit grundlos ist, heißt das, dass wir keine Gründe anführen können, warum wir sie zugrunde legen. Zugleich können wir sie nicht garantieren, weil wir Gegenstände sind, die bereits die Tatsächlichkeit voraussetzen. Wir können höchstens sagen, dass die Tatsächlichkeit so lange ist, solange es Gegenstände gibt und Sachverhalte bestehen. Aber damit wird gerade nicht die Tatsächlichkeit verbürgt, weil vielmehr umgekehrt sie es ist, die Gegenstände und Sachverhalte verbürgt. Wir können daher zwar Tatsächlichkeit feststellen, aber wir können sie weder erzeugen noch festhalten. Unsere gesamte Lebensorientierung hängt an dem Vertrauen in die Tatsächlichkeit. Aber dieses Vertrauen ist „blind“, so blind sogar, dass uns dieses Phänomen meistens nicht einmal auffällt. Es ist kategorial verschieden vom Vertrauen, dass morgen der Bus pünktlich kommt oder dass du unsere Verabre- 81 F. Schleiermacher: Der christliche Glaube, Bd.-1, 26ff. <?page no="67"?> 67 dung einhältst. Wer in die Tatsächlichkeit vertraut, vertraut in eine Transzendenz. Alle diese Beobachtungen bringen mich dazu, von der Tatsächlichkeit als einer religionsphilosophischen Kategorie zu sprechen: 1. Sie hat keinen Grund, ist aber Grund aller Realität und Irrealität. 2. Alles ist „schlechthinnig abhängig“ von ihr. 3. Unser Glaube in sie kommt nicht von uns selbst, sondern ist selbst transzendent gegründet. Das entspricht der christlichen Vorstellung, dass der Glaube nicht Menschenwerk ist, sondern Gotteswerk. Vielleicht lässt sich nicht mit letzter Gewissheit sagen, ob Hannah Arendt in ihrer Totalitarismusforschung unter Tatsächlichkeit wirklich dieselbe Kategorie verstand wie ich. Allerdings untermauert meine begriffliche Schärfung der Tatsächlichkeit viele Beobachtungen, die Arendt vornimmt. Sie behauptet, dass totalitäre Systeme versuchen, die Tatsächlichkeit aufzuheben. 82 Die Bevölkerung soll sich nicht mehr auf ihr eigenes Urteil verlassen können, damit sie der Fiktion der totalitären Weltanschauung blind folgt. Dazu muss die totalitäre Bewegung permanent in Bewegung bleiben, damit die Bevölkerung nicht dadurch eine Autonomie zurückgewinnt, dass sie die interne Logik der Fiktion durchschaut und lernt, sich darin zu verhalten, um ihre eigenen Interessen umzusetzen. Damit das nicht geschieht, muss die Logik der Weltanschauung unverständlich bleiben. Der totalitäre Terror verachtet die Tatsächlichkeit, 83 obwohl auch er sie nicht hintergehen kann. Denn Tatsächlichkeit ist jegliche Bedingung, sich überhaupt zu 82 H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 714 f, 820, 910. 83 AaO, 939. <?page no="68"?> 68 verhalten, selbst wenn sich der Mensch dann entscheidet, in einer verkehrten Welt zu leben. 84 In diesen Beschreibungen entdecke ich den zwar zuletzt aussichtslosen, aber doch geschickten Versuch des Totalitarismus, die Wirklichkeit so aussehen zu lassen, als sei sie nicht, was sie ist. Die Logik der permanenten Beweglichkeit des Systems führt dazu, dass selbst die fanatischsten Anhänger morgen aussortiert werden können und dass an die Stelle des Vertrauens in die Beständigkeit der unbedingte Gehorsam tritt - und zwar auch dann, wenn der unbedingte Gehorsam darin besteht, eine Unwahrheit zu gestehen und widerstandslos selektiert zu werden. 85 Der totalitäre Terror schafft eine Wirklichkeit, als gäbe es keine Tatsächlichkeit und als würde die Tasse plötzlich auf der anderen Seite stehen, wenn meine Hand danach greift, aber sich in Nichts verwandelt und sie trotzdem fasst, obwohl sie dort nicht mehr steht. Allerdings ist die Tatsächlichkeit auch für den totalitären Terror transzendent. Deshalb ist sein Kampf gegen die Tatsächlichkeit aussichtslos und selbstwidersprüchlich. Die Fiktion und ihre Beweglichkeit müssen ja verlässlich sein, damit die Führung noch die Alleinherrschaft ausüben kann. Die Zerstörung der Tatsächlichkeit kann dann nur suggestiv sein. Auch unter demokratischen Bedingungen der Notstandspolitik besteht die Gefahr, der Tatsächlichkeit zu misstrauen oder ihre angebliche Unsicherheit als ein politisches Machtmittel einzusetzen. Der Unterschied zum totalitären Terror besteht aber darin, dass dieser Umgang mit der Tatsächlichkeit in der Demokratie nicht beabsichtigt und geplant ist. Die Notstandspolitik bezieht sich auf Zustände, die fassungslos machen, eine Naturkatastrophe eben oder ein Terroranschlag. Bei der Corona-Politik war die Gefahr lange abstrakt, weil nicht jede Person jemanden kannte, der am Corona- 84 H. Arendt: Vita activa, 361. 85 H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 747f. <?page no="69"?> 69 Virus schwer erkrankt war. Die Fassungslosigkeit musste dann erst gestiftet werden. Fassungslosigkeit ringt mit der Tatsächlichkeit, sie ist das Gefühl, dass alles unwirklich geworden ist. Gewaltopfer und Traumatisierte sind schreckhaft und orientierungslos, weil sie das Vertrauen in eine Grundsicherheit verloren haben. In dieser Situation soll eine starke Hand für eine Grundverlässlichkeit bürgen. Die Fassungslosigkeit ist also eine legitimierende Grundlage für die Notstandspolitik. Ist aber die Gefahr abstrakt, so dass sich noch keine Fassungslosigkeit in der Bevölkerung gebildet hat, muss die Regierung selbst ein Szenario des Unheimlichen aufbauen. Dieses Szenario muss zwar nicht fiktiv sein, sondern kann auf evidenzbasierten Erkenntnissen beruhen. Aber die Fassungslosigkeit gründet auf einem Narrativ, das sie überhaupt erst erzeugen muss, damit sich die Politik eine Richtung geben kann. Insofern hat die Fassungslosigkeit in der Fiktion ihren Grund und nicht in kühl berechneten Daten. Politik muss emotionalisieren, damit sie zur Notstandspolitik werden kann. Es darf in der Bevölkerung keine Gewöhnung an die Schlagzeilen eintreten, weil sonst die Impfquote nicht erreicht wird. Die Gefahr muss durch eine neue überraschende Gefahr abgelöst werden. Weil das in der Demokratie gut gemeinte Schritte sind, zeigt sich hier die Paradoxie im Umgang mit Tatsächlichkeit umso stärker: Schockmomente müssen wiederkehren, damit aus der Fassungslosigkeit die Notstandspolitik legitimierend hervorgehen werden kann. Zugleich bietet die Politik verlässliche Mittel an, wie sich die Ausnahmesituation bewältigen lässt. Die Notstandspolitik macht sich unverzichtbar durch die Fassungslosigkeit, die sie unter Umständen selbst erzeugen muss. Dabei ist von Vorteil, dass die politischen Maßnahmen permanent in Bewegung bleiben. Corona- Verfügungen sind permanent revidiert worden; zudem hat das föderale System in Deutschland mit seinem „Flickenteppich“ an Richtlinien die lebensweltliche Orientierung weiter geschwächt. Notstandspolitisch ist diese föderalistische Desorientierung von <?page no="70"?> 70 Vorteil gewesen, um den Wunsch nach einer starken Hand zu etablieren. Auch ließen sich dadurch die politischen Hauptziele kontinuierlich anmahnen, die Abstands- und Hygieneregeln ebenso wie die Impfung. 17 Anwesenheit Als dritte religionsphilosophische Kategorie führe ich die Anwesenheit an. Sie ist diejenige Kategorie, über die Phänomene eine ethische Bindungskraft entfalten. Aufgrund von Anwesenheit sind wir nämlich an etwas oder jemanden gebunden, auch wenn diese Gegenstände oder Personen abwesend sind. Wie kann das sein, dass etwas Abwesendes dennoch seine Anwesenheit manifestiert? Jean-Paul-Sartre hat dieses Phänomen an einem Beispiel konkretisiert: 86 Nehmen wir an, Sie warten in einem Café auf Ihren Freund Pierre, aber Pierre kommt einfach nicht. Dann rückt der abwesende Pierre so sehr in den Vordergrund, dass die Gegenstände im Lokal unbedeutend werden. Man könnte sagen, Pierre ist Ihnen jetzt gerade näher als die benachbarten Stühle und Tische um Sie herum. Er ist Ihnen aber nicht gegenständlich nahe, denn sonst wäre er ja endlich angekommen. Dennoch bedrängt Sie Pierre, und dieser drängende Charakter wird gerade dadurch offenbar, dass Pierre abwesend ist. Das Beispiel zeigt, dass Pierres Anwesenheit auch sein Abwesendsein einschließen kann. Das ist deshalb möglich, weil Gegenstände zwar an- und abwesend sein können, aber ihre Anwesenheit kein Gegenstand ist. Sie ist kategorial verschieden von Gegenständen. Sie konstituiert Räume. Auch der Raum ist kein Gegenstand, weil Gegenstände in ihm lokalisiert sind. Das hat zur Folge, 86 J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts, 59f. <?page no="71"?> 71 dass der Raum nicht durch die Gegenstände konstituiert wird, die Raum einnehmen. Der Stuhl neben mir nimmt Raum ein, aber das macht ihn mir nicht näher als der abwesende Pierre. Räume können vielmehr An- und Abwesendes übergreifen. Das heißt, dass sich mehrere Räume überlagern. Im geometrischen Raum ist der mir benachbarte Raum näher als Pierre. Und auch der Stuhl manifestiert seine Anwesenheit, nämlich als anwesender. Aber zugleich bin ich mit einem anderen Raum konfrontiert, dessen Abstände sich nicht geometrisch errechnen lassen. In dieser Überlagerung sind mir auch die Räume selbst dichter oder loser. So ist die Anwesenheit Pierres für mich viel bedrängender als der benachbarte Stuhl. Auch der Raum, in dem Pierre mir als Abwesender begegnet, ist mir viel dichter als der geometrische Raum, in dem ich im Café sitze. Räume dominieren meine Wahrnehmung je nachdem, wie dicht sie für mich sind, wie unausweichlich ich mich also in ihnen lokalisiere. Offenbar kann ich vergessen, dass ich gerade in einem Café sitze, weil ich döse, über wichtige Themen philosophiere oder eben Pierre vermisse. Aber wenn ich ihn vermisse, kann ich aus diesem gemeinsamen Raum der Anwesenheit gerade nicht ausbrechen. Manche Menschen fahren nach dem Tod eines geliebten Menschen erst einmal in den Urlaub, um sich von ihrer Trauer zu erholen und sich „abzulenken“. Tatsächlich kann in der akuten Trauersituation der Raum der Anwesenheit des Abwesenden so sehr mit dem geometrischen Raum verwoben sein, dass alle Gegenstände der verstorbenen Person die Hinterbliebenen bedrängen. Der Sessel im Wohnzimmer, auf dem sie immer gesessen hat, bedrängt ebenso sehr wie ihre Lesebrille in der Schublade, das Schlafzimmer, der Garten oder das Auto. Aber am Urlaubsort bedrängt die Anwesenheit der verstorbenen Person auch. Selbst wenn sie nie dort gewesen ist, fehlt sie hier ebenso, überfällt die Hinterbliebenen in Träumen oder Erinnerungen. Selbst ein harmloser Wind kann die Begegnung mit der abwesenden Person auslösen. <?page no="72"?> 72 Wenn wir uns vorzugsweise im geometrischen Raum lokalisieren, dann nicht deshalb, weil er der geometrische Raum ist und anwesende Gegenstände uns eben am nächsten kommen. Vielmehr ist der geometrische Raum nur dann für uns vorherrschend, wenn er der Raum der Anwesenheit ist, wenn wir also mit den Gegenständen in unserer geometrischen Umgebung hantieren oder wenn wir mit anwesenden Personen kommunizieren. Aber selbst im Gespräch mit unseren Freunden können wir uns manchmal in eine ferne Nähe vertiefen, weil uns gerade jemand Abwesendes einfällt oder wir gemeinsam über jemanden reden, der nicht mehr da ist. Anders gesagt: In welchem Raum wir uns lokalisieren, liegt an der Macht der Anwesenheit, die sie unmittelbar über uns ausübt. Es handelt sich gerade deshalb um ein Machtphänomen, weil sich eben mehrere Räume überlagern und um ihre Vorherrschaft ringen. Sie behalten ihre Vorherrschaft nie einfür allemal, sondern können im nächsten Moment wieder ihre Dichte verlieren zugunsten eines anderen Raums. Anwesenheit hat aber auch deshalb Macht über uns, weil sie bei uns unmittelbare Anerkennung erzwingt. Denn auf andere Weise können wir die Anwesenheit eines abwesenden Gegenstandes nicht erfahren. Als abwesender Gegenstand ist er ja gerade nicht sinnlich wahrnehmbar. Wollte man ihn dadurch erkennen wollen, dass man alle Orte absucht, an denen er sich nicht befindet, so hätte man zwar sein Abwesendsein erkannt, aber nicht seine bedrängende Anwesenheit. Nehmen wir an, dass ein Kind vor dem Einschlafen sein Bett durchsucht, ob sich unter der Decke ein Gespenst befindet. Dann ist es dadurch beruhigt, dass es das Gespenst nicht findet, und wird von ihm auch nicht weiter bedrängt. Das heißt aber gerade, dass nicht die Erkenntnis des Abwesendseins die Erfahrung von Anwesenheit erzwingt, sondern die Erfahrung, dass Anwesenheit bedrängt. Dieses Bedrängen ist aber auch nicht sinnlich lokalisierbar und lässt sich auch nicht messen. Es wird <?page no="73"?> 73 erfahren in der unmittelbaren Anerkennung, dass wir durch Anwesenheit bedrängt werden. 18 Anerkennung Mit dem Begriff der Anerkennung wird die praktische Sphäre des menschlichen Erlebens berührt, also die Sphäre sozialen Zurechnens von menschlichem Verhalten, von Handlungen und Urteilen. Andere können mich dafür verantwortlich machen, dass ich etwas oder jemanden anerkenne, aber auch, wenn ich es nicht tue. Und ich kann für beides zur Rechtfertigung aufgefordert werden. Anwesenheit erzwingt also insoweit unmittelbare Anerkennung, als ich mich der Frage nicht mehr entziehen kann, ob ich die Anwesenheit von etwas oder jemandem anerkennen soll oder nicht. Selbst wenn ich ignoriere, dass ich vor dem Zwang stehe anzuerkennen oder nicht, setzt das voraus, dass ich ursprünglich diesen Zwang anerkannt habe, um ihn überhaupt erst ignorieren zu können. Andernfalls hätte ich ihn nicht ignoriert, sondern gar nicht erst erlebt. Anwesenheit nötigt deshalb zur praktischen Sphäre, weil sie auf andere Weise nicht erlebt werden kann. Ich hatte ja im vorigen Abschnitt begründet, warum Anwesenheit weder sinnlich wahrgenommen noch durch Schlussfolgerungen erkannt werden kann. Sie disponiert vielmehr unser Verhalten, weil wir durch sie genötigt werden, in die praktische Sphäre einzutreten. Und das tun wir, indem wir Anwesenheit unmittelbar anerkennen, also ohne indem wir es entschieden haben. Wir können uns vielmehr noch entscheiden, Anwesenheit eben auch zu ignorieren. Aber wir können nicht entscheiden, dass wir vor der Wahl stehen, ob wir sie auch willentlich anerkennen oder ignorieren. Und damit haben wir die Anwesenheit bereits unmittelbar anerkannt. Wenn also eine trauernde Person der Überzeugung ist, dass der geliebte verstorbene Mitmensch bei ihr ist, hat sie keine theo- <?page no="74"?> 74 retischen Gründe dafür, die sie anderen darlegen könnte, indem sie auf den Verstorbenen zeigt oder einen Unsterblichkeitsbeweis vorträgt. Umso mehr rechnen andere ihr die Behauptung zu. Verwandte oder Freunde könnten ihr raten, sie solle doch endlich den Verstorbenen „loslassen“. Sie könnten auch vorsichtiger lediglich fragen, wie sie darauf komme, dass er bei ihr sei, wo doch sonst niemand anderes seine Nähe bestätigen könne. Für die Anerkennung der Anwesenheit des Verstorbenen wird die trauernde Person verantwortlich gemacht. Sie rückt damit in die praktische Sphäre, sich zu rechtfertigen. Dabei hat sie eben diesen Eintritt in die praktische Sphäre nicht gewählt, zumindest nicht primär. Mit dem Ausdruck „praktische Sphäre“ will ich betonen, dass Anerkennung auf dem Raumphänomen der Anwesenheit beruht. Zugleich will ich ausdrücken, dass Anwesenheit und Anerkennung in einem unlösbaren Zusammenhang zueinanderstehen. Anwesenheit ist nur erfahrbar durch Anerkennung. Und durch die Anerkennung wird Anwesenheit praktisch relevant, disponiert also unser Verhalten. Noch einmal: Anwesenheit wird nicht durch Schlussfolgerung ermittelt, sondern unmittelbar anerkannt. Deshalb führt das Phänomen der Anwesenheit in die praktische Sphäre. Menschen sind durch dieses Phänomen praktisch und sozial gefordert. Es handelt sich um eine moralische Forderung, aus der folgt, auch abwesende Personen anzuerkennen. Es mag sein, dass es für die trauernde Person besser wäre, den Verstorbenen „loszulassen“, anstatt die eigene Wohnung in ein Museum zu verwandeln, in der alle Räume so verbleiben müssen, wie sie der Verstorbene zurückgelassen hat. Aber das ändert nichts daran, dass der Verstorbene seine Anwesenheit behält. Jegliche Handlungen und Haltungen der trauernden Person sind also auch in Rücksicht auf die Anwesenheit des Verstorbenen zu bedenken. Auch wenn alle Möbel auf dem Sperrmüll verschwinden und der Kleiderschrank des Verstorbenen <?page no="75"?> 75 ausgeräumt wird, ist das alles eine aktive Auseinandersetzung mit seiner Anwesenheit. Nehmen wir nun an, dass die trauernde Person keine Zeit mehr hat für ihre beste Freundin, weil sie an den Verstorbenen so sehr gebunden ist, dass kein weiterer Raum für die Freundin bleibt. In ihrer Trauer geht diese Person täglich auf den Friedhof, spricht mit dem Verstorbenen im Wohnzimmer und pflegt die Wohnung so, wie er es immer gemocht hatte. Könnte die Freundin nicht ihr „Recht“ einfordern? Steht nicht auch ihre Anwesenheit im Raum, die die trauernde Person anzuerkennen hat? Diese Person könnte nun ihrer Freundin antworten, dass es ihr auch leidtut, dass sich beide nicht mehr sehen können, aber dass die bedrängende Nähe des Verstorbenen nun erzwingt, dass sie sich vor allem um ihn kümmern muss. In diesem Fall ignoriert sie zwar die Anwesenheit der Freundin nicht, aber berücksichtigt sie mit einer deutlich distanzierteren Haltung als den Verstorbenen. Das Beispiel zeigt, dass Anwesenheiten miteinander in Konkurrenz treten können. Was hier miteinander konkurriert, sind die Ansprüche an die Person, die sie jeweils unmittelbar anerkennt, aber sie doch unterschiedlich gewichtet. Der entscheidende Punkt ist, dass der zurückgesetzte Anspruch immer noch im Raum bleibt. Er kann ja nicht ignoriert werden, ohne dass er vorher unmittelbar anerkannt worden ist. Deshalb muss sich die Freundin überhaupt nicht mit der Antwort der trauernden Person zufriedengeben. Sie kann weiterhin beanspruchen, dass die Freundschaft stärker berücksichtigt wird. Vielleicht wird sie sogar den Anspruch stellen, dass die Lebenden mehr Ansprüche haben als Verstorbene. Das wird die trauernde Person nicht überzeugen. Aber immerhin steht der Anspruch im Raum. Und niemand wird ihn los, selbst dann nicht, wenn die Freundschaft beendet wird. Der „Geist der Freundschaft“ bleibt nämlich auch dann noch im Raum. Beide Freundinnen kann die Erinnerung immer wieder einholen, welche schönen Momente sie gemeinsam hatten. Sogar über alte liebens- <?page no="76"?> 76 werte Sprüche kann geschmunzelt werden, auch wenn nach Beendigung der Freundschaft ein solcher Spruch nicht noch einmal ausgesagt werden würde. Sobald Anwesenheit unmittelbare Anerkennung erzwingt, konstituiert sie einen Raum, der unbestimmt viele Personen umfasst. Und damit erzwingt Anwesenheit auch die Anerkennung gerechter Verhältnisse. Irgendwie muss das eigene Verhalten beiden gerecht werden, dem Verstorbenen und der Freundin - und vielleicht auch noch anderen Personen, deren Anwesenheit in diesem Raum auftaucht. Das muss nicht die ganze Menschheit sein. Denn ebenso wie der abwesende Pierre gegenüber den Leuten im Café hervortritt und seine Anwesenheit manifestiert, kann in bestimmten Anwesenheitskonstellationen die Menschheit zurücktreten gegenüber den unmittelbaren Ansprüchen derer, die in diesem Raum der Anwesenheit „versammelt“ sind. Dennoch fordert Anwesenheit zu einer gerechten Berücksichtigung aller auf, die im jeweiligen Raum der Anwesenheit versammelt sind, seien sie an- oder abwesend. Auch der politische Raum ist unbestimmt weit. Er ist nicht darauf festgelegt, ein weltpolitischer Raum zu sein. Vielleicht stehen nur kommunalpolitische Ansprüche im Raum, die miteinander gerecht austariert werden müssen. Und doch gibt es keine scharfen Grenzen. Denn wenn eine Familie von Geflüchteten in der Kommune eine Wohnung sucht, stehen ihre Ansprüche plötzlich auch im Raum, obwohl sie vorher nicht zu ihm gehört haben. Die Grenzen einer Kommune, eines Bundeslandes oder einer Nation sind daher durchlässig. Zwar setzt die Überlagerung der Räume von Anwesenheiten voraus, dass diese Räume identifizierbar sind und somit auch eine Grenze haben. Aber die rechtlich festgesetzte Grenze des politischen Machtbereichs ist nicht zu verwechseln mit der durchlässigen Grenze von Räumen der Anwesenheit. Politisch abgegrenzte Machtbereiche sind bereits Reaktionen und Haltungen zur Anwesenheit, die unmittelbare Anerkennung erzwingt. Und selbst wenn eine Bürgermeisterin mit Verweis auf die Rechts- <?page no="77"?> 77 lage feststellt, dass ihre Kommune nicht für die Flüchtlingsfamilie zuständig ist, stehen deren Ansprüche nun im Raum. Wie werden Presse und Opposition reagieren? Werden Petitionen eingereicht oder Protest von Bürgerinitiativen? Wird die Kirchengemeinde ein Kirchenasyl organisieren? Mit der rechtlich eindeutigen Lage lässt sich der politische Raum nicht eindeutig vor dem Raum der Anwesenheit verschließen. Die Gerechtigkeitsfrage schwelt dann weiter. 19 Heiliger Geist Ich halte Anwesenheit deshalb für eine religionsphilosophische Kategorie, weil Menschen mit ihr konfrontiert sind, ohne ihr grundsätzlich entkommen zu können. Der Verstorbene ist am Urlaubsort genauso bedrängend nahe wie zu Hause; er ist überall abwesend, und genau davor kann man nicht fliehen. Auch die beendete Freundschaft behält ihren „Geist“ im Raum, den man zwar ignorieren, aber nicht unberücksichtigt lassen kann. So wird man sich gut überlegen, ob man eine Geburtstagsparty mitfeiert, zu der die frühere Freundin auch eingeladen ist, oder ob man die Fotos aus der gemeinsamen Zeit löscht. Vor allem aber ist der Raum der Anwesenheit nicht durch innerweltliche Gegenstände konstituiert: Ob das Zimmer nach einem Tod unangetastet gelassen oder völlig ausgeräumt wird, spielt keine Rolle dafür, dass die Nähe des Verstorbenen uns überall und immer treffen kann. Der Raum der Anwesenheit ist nicht eindeutig abgrenzbar und besteht nicht einfach aus Zimmern, Brücken oder Straßen. Man kann sich irgendwo anders befinden und trotzdem von der Anwesenheit eines Abwesenden eingeholt werden, wie er damals im Zimmer saß, auf der Brücke stand oder auf der Straße uns entgegenkam. Räume der Anwesenheit lassen zwar Menschen darin begegnen. Aber diese Menschen müssen das nicht willentlich tun und nicht einmal da- <?page no="78"?> 78 von wissen. Meine Ex-Freundin muss nicht an mich denken, wenn sie mich in einem melancholischen Moment erreicht. Ich spreche also von Räumen, die „transzendent“ konstituiert sind. Damit meine ich nicht, dass sie sich im Himmel befinden und nicht hier. Und ich meine auch nicht, dass ein Gott im Himmel diese Räume erschafft. Anwesenheit stellt uns ja mit anderen Subjekten in einen Raum, und wir befinden uns ja immer „hier“. Nur ist eben nie ganz eindeutig, wo „hier“ ist, wo wir uns also befinden. Zumindest ist unser Hier-Sein nicht durch den geometrischen Raum bestimmt. Der Längen- und Breitengrad unseres augenblicklichen Standortes ist völlig unerheblich, wenn wir mit der Anwesenheit eines abwesenden Menschen konfrontiert sind. Wir werden dann immer mit ihm in einen Raum hineingesogen. Das Neue Testament spricht vom Heiligen Geist als einem raumkonstituierenden Wesen. Als der Missionar Philippus nach einer Taufe plötzlich an einen anderen Ort entrückt wurde, war dies ein Geschehen des Heiligen Geistes (Apg 8,39f). Nicht dass Philippus körperlich entrückt wurde! Aber dass ihm in diesem Moment andere Menschen nahe wurden! Vielleicht war er auch gar nicht leibhaftig bei dem Mann, den er getauft hatte, sondern ihm geistlich nahe. Im Johannesevangelium kündigt Jesus an, dass der Heilige Geist kommen wird, wenn er in den Himmel auffährt. Das Kommen des Heiligen Geistes wird mit dem Abwesendsein Jesu verknüpft (Joh 16,7). Ebenso wird von der Himmelfahrt Jesu erzählt (Lk 24,49; Apg 1,8f). Das bedeutet zwar nicht, dass im Heiligen Geist nur Abwesendes seine Anwesenheit manifestieren kann, denn auch eine christliche Gemeinde aus Anwesenden erlebt den Heiligen Geist (Röm 12,11f; 1-Kor 12,4-7). Und doch übergreift der Heilige Geist Distanzen im geometrischen Raum: „Denn obwohl ich leiblich abwesend bin, so bin ich doch im Geist bei euch“ (Kol-2,5). Das Neue Testament kennt eine Pluralität von Geistern und fordert von den Christen, die Geister zu prüfen (1- Joh 4,1). Das <?page no="79"?> 79 entspricht dem Phänomen, dass Räume von Anwesenheiten sich überlagern können: Man kann im Café sitzen und zugleich von Pierre bedrängt werden, der es nicht dorthin geschafft hat. Diese Raumüberlagerung zwingt zur Entscheidung, welche Anwesenheit in welcher Haltung stärker zu berücksichtigen ist oder wie eine gerechte Berücksichtigung vorgenommen werden kann. Der Glaube kommt aus dem Heiligen Geist (1- Kor 12,3; 2- Kor 4,13). Versteht man den Glauben nicht nur als bestimmte Auffassungen, sondern auch als Bindung - das griechische Wort für „Glaube“ kann auch „Treue“ heißen -, dann ist klar, warum der Glaube mit dem Phänomen der Anwesenheit verknüpft ist. Denn woran ich gebunden bin, davon kann ich mich nicht distanzieren. Die Anwesenheit manifestiert sich an überraschenden Orten, an denen man nicht mit ihr gerechnet hat. Man kann also nicht vor dem Geist weglaufen, weil Anwesenheit Räume konstituiert und uns darin von selbst verortet. Christlicher Glaube lässt sich daher nicht einfach wechseln wie eine Meinung. Selbst wer eines Tages dem christlichen Glauben abschwört, den kann der Heilige Geist immer wieder einholen, wenn die christliche Vergangenheit diesen Menschen überkommt, wenn er an Heiligabend eine Träne bei „O du fröhliche“ verdrückt, ein Vaterunser am Sterbebett der Mutter betet oder im Urlaub andächtig eine Kirche besichtigt. Gäbe es das Phänomen der Anwesenheit nicht, könnte so vom Heiligen Geist nicht geredet werden. Die Anwesenheit ist die Kategorie, in der aber nicht nur der Heilige Geist wirkt, sondern auch der Geist der Freundschaft, Kameradschaftsgeist und sogar der Geist krimineller Gangs. Anwesenheit ist eine religionsphilosophische Kategorie, die allen diesen unterschiedlichen Räumen transzendent ist. Aber Anwesenheit erzwingt unmittelbare Anerkennung und setzt damit einen Entscheidungszwang, die Geister zu prüfen. Der Heilige Geist erzeugt insofern auch eine ethische Bindung: Er fordert, die Anwesenheit Christi mit der Anwesenheit der Mitchristen und der Nächsten auszubalancieren: „Lasst uns <?page no="80"?> 80 lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht“ (1- Joh 4,19f). Die Raumüberlagerung der Anwesenheit bedeutet zwar nicht, dass die sichtbaren Gegenstände wichtiger sind als die ungegenständlichen Phänomene wie Gott. Aber durchaus ist gefordert, Anwesenheiten so miteinander zu vermitteln, dass ihre Koexistenz anerkannt wird. 20 Trinität Die christliche Theologie hat Gott bis heute als sogenannte Trinität verstanden, als „Dreieinigkeit“ aus Vater, Sohn und Heiligem Geist. Doch bis heute ist strittig, wie die Trinität Gottes verstanden werden soll. Weitgehend einig sind sich die Theologinnen und Theologen jedoch in dem Punkt, dass in Gott selbst eine interne Differenz bestehen muss, damit Jesus Christus sein Sohn sein kann und damit man Christus als Gott selbst bekennen kann. Wenn daran geglaubt wird, dass Gott in Jesus Mensch geworden und am Kreuz gestorben ist, dann muss zugleich mehr über Gott ausgesagt werden, als dass er Mensch geworden ist. Denn sonst würde man nicht mehr von Gott reden. Nach meinem Eindruck ist das Problem, wie sich Gott selbst von sich unterscheiden kann, nicht nur ein Problem des christlichen Glaubens, sondern aller Offenbarungsreligionen. Denn bereits wenn Menschen etwas Göttliches erfahren, weil es Gott ihnen offenbart, dann muss der Offenbarungsgehalt selbst göttlich sein. Denn sonst hätten sie nichts Göttliches erfahren. Die Vorstellung ist absurd anzunehmen, dass aus Gott mehrere Götter werden, sobald er sich mitteilt. Denn dann hätte er ja gar nicht sich mitgeteilt, sondern einen zweiten Gott hervorgebracht, der seine Mitteilung ist, ohne mit Gott identisch zu sein. Um dieses Problem zu lösen, <?page no="81"?> 81 muss Gott aus sich heraustreten können, um erkennbar zu sein, und zugleich mit sich identisch bleiben. Mein Vorschlag, die Trinität Gottes zu denken, besteht darin, Vater, Sohn und Heiligen Geist als kategoriale Unterschiede zu verstehen und nicht als qualitative. Qualitativ wäre der Unterschied, wenn man die drei göttlichen Personen miteinander in ihren Eigenschaften vergleichen könnte. Aber wenn sie unterschiedliche Eigenschaften hätten, dann wären sie auch drei verschiedene Götter oder nicht alle der eine Gott. Das ist anders bei kategorialen Unterscheidungen, die man nicht vergleichen kann. Das habe ich schon im 15.-Abschnitt dargestellt. Dort habe ich auch beschrieben, dass kategoriale Unterschiede zugleich thematisiert werden und auf dieselbe Situation zutreffen können. Ich hatte als Beispiel von einem Opfer eines Autounfalls gesprochen, das sich verzweifelt fragt, wie ihm der Unfall nur zustoßen konnte und von der anwesenden Polizistin über den Sachverhalt aufgeklärt wird. Das Opfer fühlt sich unverstanden, weil es nicht nach Sachverhalten fragt, sondern nach dem Widerfahren des Sachverhalts. Dennoch ist es ja nicht falsch, was die Polizistin erklärt. Der Sachverhalt trifft auf die Situation ebenso zu wie der Moment ihres Widerfahrens. Nur darf man beides nicht miteinander vergleichen, weil beide Kategorien völlig verschiedene Ebenen in den Blick nehmen. Meine These ist, dass auf jede Situation zutrifft, dass man sie in den drei religionsphilosophischen Kategorien beschreiben kann, die ich in den Abschnitten 15 bis 17 skizziert habe. Jede Situation hat demnach eine religionsphilosophische Grundlage - oder vielmehr drei, die kategorial voneinander zu unterscheiden sind. Eine Situation widerfährt uns. Das ist aber nur möglich, weil sie ist, was sie ist und demnach Tatsächlichkeit besitzt. Und sie kann uns erneut treffen, auch wenn die beteiligten Gegenstände nicht mehr vorhanden und die mitbetroffenen Personen schon wieder vorübergegangen sind. Jede Situation behält also ihre Anwesenheit. <?page no="82"?> 82 Ich möchte diese religionsphilosophische Gesamtstruktur aller Situationen mit der Trinität Gottes identifizieren: 1. Tritt Gott aus sich heraus, so ist er Gott der Vater, der aus dem Nichts erschafft - ebenso wie Widerfahrnisse aus dem Nichts hervorbrechen, ohne dass eine Ursache sie uns als Widerfahrnisse verständlich machen kann. Es erscheint eher so, dass Widerfahrnisse ihre eigenen Bedingungen rückwirkend bilden. Gerade das macht ihren plötzlichen und unvermittelten Charakter aus. Wenn ich mich verliebe, kann ich erst im Rückblick erzählen, wie es dazu kam. Der Moment des Verliebtseins lässt sich dagegen nicht in flagranti erwischen. Dieser Aspekt der rückwirkenden Erzeugung der eigenen Bedingungen spielt eine zentrale Rolle bei der Ethik des Notstandes. Denn wir hatten schon mehrfach gesehen, dass Regierungen sich rückwirkend ermächtigen, den Notstand auszurufen, indem sie ihn ausrufen (z.-B. Abschnitt 3). 2. Gott kann aber nur aus sich heraustreten, wenn er zugleich ist, was er ist. Denn ansonsten würde er nicht aus sich heraustreten, sondern durch einen zweiten Gott ersetzt werden und sich selbst dabei in Luft auflösen. Es ist auffällig, dass das Neue Testament an mehreren Stellen darüber nachdenkt, wie Jesus Christus derselbe sein kann wie Gott der Vater. Insbesondere das Johannesevangelium ringt um die Identität zwischen beiden (Joh-10,30). Die Herausforderung dieses Denkens liegt darin, dass Gott bei seinem Heraustreten in die Gegenständlichkeit und in seine Schöpfung noch er selbst ist. Die Tatsächlichkeit verhandelt also Gottes Einssein unter den Bedingungen der Gegenständlichkeit: Wenn Gott sich offenbart oder wenn er selbst Mensch wird, wie kann er dabei noch er selbst sein? Wir hatten im 12.-Abschnitt von Hannah Arendt gelernt, wie totalitäre politische Systeme die Tatsächlichkeit überdecken wollen, um die totale Kontrolle über ihre Unter- <?page no="83"?> 83 tanen auszuüben. Ihr Ziel besteht darin, sich selbst zu vergöttlichen, indem sie permanent aus sich heraustreten, ohne dabei verlässlich zu sein, was sie sind. Sie wollen sich der ersten trinitarischen Position bemächtigen und dabei die Tatsächlichkeit abstreifen. Der Führer will als Gott verehrt werden, ohne dass man sich darauf verlassen kann, dass er ist, was er ist. 3. Dass der Heilige Geist mit der Kategorie der Anwesenheit zu bestimmen ist, habe ich im vorigen Abschnitt schon dargestellt. Ich habe auch gezeigt, dass Anwesenheit unmittelbare Anerkennung erzwingt und dass hier die praktische Sphäre betreten wird, die den ethischen Diskurs in Gang setzt. Unmittelbar anzuerkennen sind dabei alle, die im Raum der Anwesenheit stehen. Daraus folgt die ethische Aufgabe, alle Wesen in einer ausgewogenen Balance zu berücksichtigen, die sich im Raum der Anwesenheit befinden. Ich hatte insbesondere in den Abschnitten 8 bis 10 am Beispiel der Corona-Politik angeführt, dass im Notstand an die Stelle der Anerkennung von Oppositionellen deren Stigmatisierung und soziale Exklusion gesetzt wird. Hier wird die unmittelbare Anerkennung durch bewusst ignorierende oder abwehrende Maßnahmen missachtet, obwohl unmittelbare Anerkennung durch die Anwesenheit erzwungen wird. Diese Andeutungen, wie im Notstand die religionsphilosophischen Kategorien behandelt werden, werden in den kommenden Abschnitten näher diskutiert. Doch zunächst möchte ich ausführen, inwiefern die drei religionsphilosophischen Kategorien trinitätstheologisch zu verstehen sind. Ich verstehe Vater, Sohn und Heiligen Geist nicht als drei „Personen“, weil der Personenbegriff suggeriert, es gäbe gemeinsame Eigenschaften, über die sie sich vergleichen ließen. Vielmehr analysiere ich Situationen oder Phänomene, mit denen Menschen konfrontiert sind und die sie mit Gott in Beziehung bringen. Sie sind in drei Perspektiven zu be- <?page no="84"?> 84 schreiben. Vater, Sohn und Heiliger Geist bringen drei Positionen der Gesamtstruktur einer Situation zum Ausdruck. Aber auch wenn ich die Trinität so beschreibe, könnte das so missverstanden werden, dass Positionen einer Struktur darin qualitativ gleich sind, dass sie Elemente dieser Struktur sind. Die kategoriale Differenz ist aber durchgehend zu beachten. Gleichwohl durchdringen sich die drei Kategorien wechselseitig. Die theologische Tradition hat von der „Perichorese“, von der wechselweisen Durchdringung der drei göttlichen Personen gesprochen. Ich entdecke eine solche Perichorese auch, so dass es durchaus naheliegt, die Trinität strukturell zu verstehen. Das ist für die Ethik des Notstandes deswegen bedeutsam, weil ich in den folgenden Abschnitten zeigen möchte, dass die drei Kategorien ethisch gemeinsam berücksichtigt werden sollten, damit Regierungen ethisch gerechtfertigt handeln. Doch bevor ich diese These entfalte, will ich die Perichorese der drei Kategorien darstellen. Erstens: Sowohl die Tatsächlichkeit als auch die Anwesenheit widerfahren. Die Tautologie, dass etwas ist, was es ist, scheint meistens so unbedeutend zu sein, dass sie kaum auffällt. Tatsächlichkeit muss vielmehr ins Auge springen, um entdeckt zu werden. Und sie springt meistens durch ihr Gegenteil ins Auge, nämlich wenn Menschen in verzweifelten Situationen den Eindruck haben, es sei auf nichts Verlass. Es handelt sich um eine Situation äußerster Ohnmacht, in der sich Menschen einem Geschehen ausgeliefert fühlen, von dem sie nicht wissen, was es mit ihnen im nächsten Moment anstellt. Das trifft auf den plötzlichen Verlust geliebter Menschen zu, auf Unfälle, aber auch auf Gewalterfahrungen und totalitären Terror, weil sie einem Menschen das Gefühl vermitteln, nicht mehr für sich selbst sorgen zu können, aber auch keine Fürsorge zu erhalten. 87 Das Gefühl, dass alles unwirklich geworden ist, 87 A. Honneth: Zwischen Aristoteles und Kant, 183. <?page no="85"?> 85 beruht auf einer Illusion. Denn zumindest ist das Grauen dieser Situation, was es ist. Dennoch muss Menschen in solchen Situationen Tatsächlichkeit widerfahren, damit sie wieder Orientierung gewinnen können. Das also, was wir „blind“ in allem voraussetzen müssen, wird in Widerfahrnissen aufgedeckt. Ebenso ist es mit der Anwesenheit, dass sie widerfährt. Ansonsten bleibt sie latent im Hintergrund unerfahren. Die frühere Freundin manifestiert nicht zu allen Situationen ihre Anwesenheit. Umso mehr trifft es mich unvorbereitet, wenn ihre Anwesenheit in besonderen Momenten widerfährt. Zweitens: Widerfahrnisse und Anwesenheit sind nur deshalb Kategorien unserer Lebenserfahrung, weil sie sind, was sie sind. Beide Kategorien können nicht ihre Verlässlichkeit selbst verbürgen. Nicht weil etwas widerfährt, ist es schon, was es ist. Und Anwesenheit ist nicht dasselbe wie die Tatsächlichkeit von Anwesenheit. Beide bedürfen der Tatsächlichkeit. Drittens: Gerade weil Widerfahrnisse nicht permanent auftreten und gerade weil Tatsächlichkeit meist „blind“ unterstellt wird, dass man sie nicht einmal bemerkt, stehen sie latent „im Raum“. Sie behalten also ihre Anwesenheit auch dann, wenn sie gerade nicht widerfahren oder uns nicht momentan bewusst sind. Der Schreck des Unfalls von vor zwei Jahren kann uns immer wieder treffen, obwohl der Unfall schon lange vorbei und die Wunden verheilt sind. Das Widerfahrnis bleibt latent im Raum. Ebenso behält Tatsächlichkeit ihre Anwesenheit, selbst wenn Menschen von „unwirklichen“ Ereignissen getroffen werden, die sie ohnmächtig machen. Der Eindruck mag dann zwar vorherrschen, dass man sich auf nichts verlassen kann. Aber die Tatsächlichkeit ist auch dann im Raum, wenn sie gerade nicht widerfährt. Denn anders könnte der erschütternde Eindruck nicht sein, was er ist. Aus diesen drei perichoretischen Zusammenhängen lassen sich sechs Aussagen treffen, wie die drei Kategorien in konkreten Situationen aufeinander bezogen sein können: <?page no="86"?> 86 1. Das Widerfahren von Tatsächlichkeit hat Anwesenheit. (Beispiel: Der Unfall vor zwei Jahren, der noch im Raum steht.) 2. Das Widerfahren von Anwesenheit ist tatsächlich. (Beispiel: Wenn mich der Unfall von damals jetzt erneut trifft, dann ist dieses Widerfahrnis, was es ist.) 3. Die Tatsächlichkeit des Widerfahrens hat Anwesenheit. (Beispiel: Dass der Unfall ist, was er ist, ist genauso im Raum wie der Unfall.) 4. Die Tatsächlichkeit der Anwesenheit widerfährt. (Beispiel: Dass dieser Raum der Anwesenheit - zum Beispiel des Unfalls - ist, was er ist, fällt mir in diesem Moment auf, widerfährt mir also.) 5. Die Anwesenheit des Widerfahrens hat Tatsächlichkeit. (Beispiel: Das Erlebnis, dass der Unfall von damals immer noch im Raum steht, ist, was es ist.) 6. Die Anwesenheit der Tatsächlichkeit widerfährt. (Beispiel: Dass der Unfall von damals ist, was er ist, auch wenn er schon vorbei ist, trifft mich in diesem Moment.) Das heißt nicht, dass alle sechs Situationen zugleich auftreten müssen. Vielmehr sind alle Situationen und alle Phänomene, mit denen Menschen konfrontiert sind, religionsphilosophisch in jeweils mindestens einer dieser Relationen beschreibbar. In allen Fällen bestimmen sich die drei Kategorien wechselseitig, beherrschen aber die jeweilige Situation unterschiedlich, je nachdem, welche Kategorie besonders thematisch wird. 21 Balance Ich behaupte nun, dass eine ethisch geordnete Situation darin besteht, dass die Zusammenhänge, die ich im vorigen Abschnitt dargestellt habe, anerkannt werden. Anerkennung ist eine unmit- <?page no="87"?> 87 telbare Reaktion auf Anwesenheit. Durch sie gelangt eine Situation in die praktische Sphäre und wird ethisch verhandelbar. Mit der Kategorie der Anwesenheit also wirkt sich die Perichorese der drei religionsphilosophischen Kategorien ethisch aus. Der trinitarische Zusammenhang von Situationen oder Phänomenen ist dann auch im anerkennenden Verhalten von Menschen auszubalancieren. Nachdem ich Anwesenheit unmittelbar anerkannt habe, kann ich auch etwas oder jemanden willentlich anerkennen. Ein Verhalten ist dagegen ethisch zu verurteilen, wenn sich Menschen in einer Situation so verhalten, als seien diese Zusammenhänge nicht gegeben. Das ist dann der Fall, wenn man entweder eine der folgenden Thesen behauptet oder sich nach ihnen verhält: 1. Es ist nicht der Fall, dass das Widerfahren von Tatsächlichkeit Anwesenheit hat. 2. Es ist nicht der Fall, dass das Widerfahren von Anwesenheit tatsächlich ist. 3. Es ist nicht der Fall, dass die Tatsächlichkeit des Widerfahrens Anwesenheit hat. 4. Es ist nicht der Fall, dass die Tatsächlichkeit der Anwesenheit widerfährt. 5. Es ist nicht der Fall, dass die Anwesenheit des Widerfahrens Tatsächlichkeit hat. 6. Es ist nicht der Fall, dass die Anwesenheit der Tatsächlichkeit widerfährt. In der Regel wird man diese Thesen nicht ausdrücklich vertreten, aber kann sich auch dann so verhalten, als würde man bewusst nach ihnen leben. Ich hatte bereits mehrfach skizziert, dass im Notstand Überzeichnungen vorgenommen werden, die die Balance zwischen den drei religionsphilosophischen Kategorien nicht halten. Die zirkuläre Selbstlegitimierung einer Regierung mit dem Ausrufen eines Notstandes, die soziale Exklusion oder Stigmatisierung oppositioneller Gruppierungen, der Vorwurf einer gespalte- <?page no="88"?> 88 nen Gesellschaft, für die die Opposition verantwortlich gemacht wird, Freiheitseinschränkungen im Namen vulnerabler Gruppen, der Einsatz von Narrativen zur Legitimation staatlicher Gewalt sind typische Instrumente einer Notstandspolitik. Wenn sich nachweisen lässt, dass diese Instrumente in jeweils einen der obigen Fälle passen und damit keine Balance zwischen den beteiligten religionsphilosophischen Kategorien halten, ist ein systematischer Grund genannt, weshalb sie in Widerspruch zu den theologischethischen Hintergründen einer Politik des Notstandes treten. Für die sechs Negationen gibt es mehrere Unterfälle, weil man nicht nur einen Sachverhalt behaupten muss, wenn man die Balance der drei religionsphilosophischen Kategorien in einem Fall negiert. Nur um die Systematik anzuzeigen und noch nicht typische ethische Probleme der Notstandspolitik zu illustrieren, gehe ich auf ein Beispiel ein: Nehmen wir die erste Negation „Es ist nicht der Fall, dass das Widerfahren von Tatsächlichkeit Anwesenheit hat.“ Man kann als Negation behaupten: a. Die Tatsächlichkeit, die Anwesenheit hat, widerfährt nicht. b. Das Widerfahren von Nicht-Tatsächlichkeit hat Anwesenheit. c. Das Widerfahren von Tatsächlichkeit hat keine Anwesenheit. Zudem kann man die Negationen miteinander kombinieren. aa) Die Tatsächlichkeit hat keine Anwesenheit und widerfährt nicht. ab) Die Nicht-Tatsächlichkeit hat Anwesenheit, widerfährt aber nicht. ac) Die Nicht-Tatsächlichkeit hat keine Anwesenheit, widerfährt aber. usw. Manche dieser Negationen führen in praktische Absurditäten, manche zum logischen Unsinn, manche aber besitzen eine starke politische Suggestionskraft. Aus theologisch-ethischen Gründen <?page no="89"?> 89 sind diejenigen Negationen abzulehnen, die die Balance der drei religionsphilosophischen Kategorien nicht halten, weil sie diese nicht gleichermaßen anerkennen. Ich konzentriere mich in den folgenden sechs Abschnitten auf diejenigen Negationen, die von den Positionen aus dem vorigen Abschnitt die Kategorien negieren, die in den Aussagen als Prädikate fungieren. Dann möchte ich bestimmte Strategien der Notstandspolitik ihnen zuordnen. 22 Freihändigkeit Die erste Negation lautet: „Das Widerfahren von Tatsächlichkeit hat keine Anwesenheit.“ Dass dieser Satz absurd ist, lässt sich am Beispiel von der Anwesenheit eines vergangenen Unfalls im Raum veranschaulichen. Es würde dann nämlich behauptet: „Dass der Unfall gewesen ist, was er gewesen ist, wird niemals erneut widerfahren.“ Die Lebenserfahrung spricht dagegen. Menschen können sich so an vergangene Ereignisse erinnern, dass sie ihnen wieder bedrängend präsent sind, als wären sie gerade eben eingetreten. Darin besteht ihre Anwesenheit, dass sie jederzeit erneut widerfahren können, obwohl sie schon vergangen sind. Manchmal versuchen sich die Betroffenen damit zu beruhigen, dass sie sich bewusst machen, dass das entsprechende Ereignis schon lange zurückliegt. Manchmal aber sprechen sie auch von einem Albtraum, der nicht in die Wirklichkeit passt. In diesen Deutungen des Ereignisses verhandeln sie seine Tatsächlichkeit, und zwar nicht im philosophisch nüchternen Nachdenken, sondern weil sie von der Tatsächlichkeit existenziell getroffen sind. Selbst wenn das Ereignis nicht stattgefunden, sondern auf einem Albtraum beruht hätte, wären sie jetzt getroffen. Sie entkommen also der Tatsächlichkeit des Ereignisses gar nicht, während sie mit Abwehrstrategien seine Anwesenheit abschwächen können. Es ist in dieser Vergegenwärtigung des Er- <?page no="90"?> 90 eignisses nicht primär relevant, ob es wirklich eingetreten ist oder nur unwirklich erscheint. Primär relevant ist vielmehr das Widerfahrnis, dass dieses Ereignis ist, was es ist, auch wenn man es für einen bösen Traum halten kann oder es schon lange vergangen ist. Nicht seine Wirklichkeit ist dann sicher, als ob sie es wäre, die jemanden trifft, sondern seine Tatsächlichkeit. Wäre aber die obige Negation wahr, dann könnten zwar Ereignisse wie Unfälle weiter im Raum stehen, aber ihre Tatsächlichkeit könnte eine Person nicht treffen. Damit würde schließlich auch der Unfall seine Macht verlieren. Er könnte zwar plötzlich präsent werden, ohne dass jedoch seine Tatsächlichkeit widerfährt. Er könnte nicht nur ein Albtraum sein, sondern dieser Albtraum wäre auch schnell wieder vorbei, weil er in der eigenen Erfahrung keine Beständigkeit hätte. Ohne dem Widerfahren von Tatsächlichkeit vergangener Ereignisse verliert die Geschichte ihre Verbindlichkeit. Das ist der Ansatzpunkt für totalitäre Bewegungen im Sinne Hannah Arendts, um ihre Fiktionen zu errichten. Ohne Anhaltspunkt an die Geschichte und nicht einmal mit der Verbindlichkeit der eigenen Ideologie kann dann alles behauptet werden, jede Regelung im nächsten Moment gekippt und jede Haftung der Befehlshaber ausgeschlossen werden. Niemand ist dann für etwas verantwortlich, weil Verantwortlichkeit Anerkennung voraussetzt und diese wiederum Anwesenheit von Tatsächlichkeit, dass nämlich eine Aussage, ein Wahrheitsanspruch, Befehl und Gehorsam, Handlung und Unterlassung sind, was sie sind. An die Stelle dieser Legitimationslücke tritt nun die Aktion, die Nötigung des jeweiligen Widerfahrnisses. An die Stelle des Gesetzes tritt der Ausspruch des Führers, aber die „Bewegungssüchtigkeit totalitärer Bewegungen“ lässt selbst einen Führer schnell in Vergessenheit geraten. 88 88 H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 658. <?page no="91"?> 91 Und in der Notstandsdemokratie? Zumindest wenn auch unter demokratischen Vorzeichen der obige Satz unterstellt oder zumindest implizit angenommen wird, ergeben sich starke Überbetonungen des Widerfahrenscharakters politischer Macht gegenüber ihrer Einhegung durch Tatsächlichkeit und Zurechnungsfähigkeit. Der wichtigste Anwendungsfall, der unter die obige Negation fällt, ist die zirkuläre Selbstlegitimierung der Regierung durch das Ausrufen des Notstandes. Der Zirkel ist in ständiger Bewegung. Der Notstand rechtfertigt die Regierungsmaßnahme. Und die Regierungsmaßnahme bestimmt den Notstand. In der Corona-Krise ist ein starkes Wirkmittel zur Selbstlegitimierung von Maßnahmen die Kommunikation von Angst. Mit der Angst vor Infektion und einem schweren Krankheitsverlauf oder sogar Tod werden alle Maßnahmen legitimiert, wobei die Regelungen häufig wechseln können. Mit Angst vor Verbreitung des Virus wurden Schulen und Kindertagesstätten geschlossen; mit Angst vor psychischen Erkrankungen der Kinder wurden sie wieder geöffnet. Lange Zeit galt es als unnötig, in Schulen und Kindertagesstätten die Viruslast der Kinder zu testen, weil Kinder keine Pandemietreiber seien. Irgendwann änderte sich die Einschätzung, und Schulkinder wurden täglich getestet. Mit Angst konnte die Maskenpflicht für Schulkinder erhoben und zugleich die Berufsausübung ohne Maske im Erzieherberuf zugelassen werden, damit die Kita-Kinder in ihrer Kommunikationskompetenz nicht behindert würden. Mit Angst konnte die berufsbezogene Impfpflicht für Menschen in Heil- und Pflegeberufen eingeführt und zugleich wieder ausgesessen werden, um den Pflegenotstand nicht noch dadurch zu verschärfen, dass impfunwillige Arbeitnehmer entlassen würden. Eine klare Linie der Maßnahmen war nicht zu erkennen, wohl aber die Maßgabe, dass alle Regelungen notwendig und alternativlos seien. Aber ohne Tatsächlichkeit verlieren Begriffe wie Notwendigkeit und Alternativlosigkeit ihre beständige Bedeutung. Sie sind dann auf den Augenblick beschränkt, <?page no="92"?> 92 in dem sie in Kraft gesetzt werden. Die Regelung verliert dadurch ihre Macht zugunsten der Instanz, die Regelungen verordnet. Mit der Selbstlegitimierung der Regierung für den Notstand ist verbunden, alle bremsenden Widerstände zu beheben. Die Gewaltenteilung ist ein beruhigender Faktor gegen die schnelle Ablösung von Richtlinien durch neue Richtlinien. Doch wenn bemängelt wird, dass die Parlamente durch eine Politik der „Notverordnungen“ ausgeschaltet worden seien, 89 droht das Modell der wechselseitigen Kontrolle aus den Fugen zu geraten. Deutsche Gerichte haben während der Corona-Zeit eine hohe Beständigkeit und Unabhängigkeit unter Beweis gestellt. Will die Regierung ihr Tempo nicht drosseln, muss sie daher dafür sorgen, dass es gar nicht erst zu Gerichtsverfahren kommt oder dass allenfalls solche Verfahren eröffnet werden, in denen die Regierung als Verteidigerin der Demokratie auftreten kann. Zentrale Aufgabe ist es daher, im Notstand die möglichen Kläger zu kriminalisieren oder zumindest moralisch zu diskreditieren. Regierungsvertreter haben den Demonstranten gegen die Corona-Politik oft vorgeworfen, nicht darauf zu achten, mit welchen radikalen Gruppen sie gemeinsam marschieren würden. An dieser Kritik ist bemerkenswert, dass die eigentlichen Verfechter der Versammlungsfreiheit und des Demonstrationsrechts nicht etwa diejenigen Gruppierungen sind, die von diesem Recht Gebrauch machen, sondern die Regierung, die dieses Recht einerseits schützt, aber andererseits zugleich die Protestbewegungen unter Generalverdacht stellt. Dafür, dass sich unter die Demonstranten auch Extremisten mischen, werden die anderen Demonstranten verantwortlich gemacht. Man wirft den Demonstranten nicht etwa vor, dass sie gemeinsam extremistische Positionen vertreten, sondern nur, dass sie gemeinsam mit Extremisten protestieren. Nun trifft das auf viele Demonstrationen 89 U. Volkmann: Heraus aus dem Verordnungsregime, 3159. <?page no="93"?> 93 zu, dass sie von verschiedenen Gruppierungen getragen werden, die politisch weit auseinanderliegen, aber ihre Gegensätze für den gemeinsamen Demonstrationszweck ruhen lassen. Keine grüne Jugendorganisation wird dafür verantwortlich gemacht, an einem Ostermarsch gemeinsam mit Kommunisten teilzunehmen. Extremistisch wird eine Demonstration erst dann, wenn sich nicht-extreme Demonstranten nicht ausdrücklich oder symbolisch distanzieren, wenn ihre Position oder Haltung durch Extremisten abgedrängt wird. Insofern besteht durchaus eine gewisse Verantwortung für alle Demonstranten, dass ihr Protest friedlich und verhältnismäßig bleibt, aber auch, dass er sich selbst treu bleibt und nicht in einen anderen Demonstrationszweck mutiert. Das heißt aber nur, dass Demonstranten für ihre Demonstration verantwortlich sind, nicht aber auch für alle Teilnehmer. Diese Einschätzung scheint sich nun im Notstand zu wandeln. Und sie wandelt sich so, dass den Demonstranten ihre Tatsächlichkeit aberkannt wird. Man gesteht ihnen zu, keine Extremisten zu sein, aber da sich unter sie auch Extremisten mischen, werden sie so misstrauisch betrachtet, als wären sie doch Extremisten. In einer solchen öffentlichen Einschätzung bleibt den Protestierenden keine Möglichkeit, sich selbst anders zu positionieren, weil sie ja immer Extremisten sind, ob sie es sind oder nicht - einfach weil die Tatsächlichkeit in Zweifel gezogen wird zugunsten des einzelnen Urteilsaktes der Regierung. Der Widerfahrenscharakter der offiziellen Einschätzung dominiert dann die Tatsächlichkeit. An ihre Stelle tritt das Narrativ. Und wer erst einmal in dieser Zwickmühle steckt, dem misstraut man auch, wenn er gegen eine Regierungsmaßnahme vor rechtsstaatliche Gerichte zieht. Überhaupt ist nach Arendt das Narrativ ein brisantes Machtinstrument einer Regierung, um sich Sonderbefugnisse zu erteilen. Dieses Machtinstrument entfaltet seine Wirkung weniger dadurch, was erzählt wird, als vielmehr durch den Widerfahrenscharakter der Erzählungen. Dabei können die Erzählungen permanent durch <?page no="94"?> 94 andere ausgetauscht werden, was den Widerfahrenscharakter noch weiter verstärkt. Diese Phänomene, die primär an der Virtuellen Realität untersucht worden sind, haben in der Politischen Theorie ihr Pendant in der Notstandspolitik: Nicht die nachdrückliche Geschichte, sondern der permanente Wechsel erzeugt eine Immersionskraft, die von nichts anderem abhängt als vom Erzähler beziehungsweise von derjenigen Instanz, die die Kontrolle über den Erzählverlauf hat. 90 Denn ohne diese Instanz hätten die Geschichtswechsel keine Kontinuität. An die Stelle der Tatsächlichkeit der Erzählungen tritt dann der permanente Wechsel, dessen Erzählinstanz die einzige verlässliche Basis ist. 91 Entscheidend für eine ethische Ausbalancierung ist daher die Beachtung, von wem und mit welchem Interesse Narrative erzählt werden. Sollen sie etwas vor Augen führen und damit die Wirklichkeit in den Blick nehmen 92 oder sollen sie gerade umgekehrt den Blick auf die Wirklichkeit versperren, indem sie Fiktionen konstruieren, aus denen die Rezipienten nicht ausbrechen können, weil die Narrative zugleich mit der Drohgebärde der Staatsgewalt verknüpft sind? Sollen also Erzählungen bestehende Machtverhältnisse zementieren, indem sie keinen Ausgang zulassen? Oder führen Erzählungen zu einer Perspektiverweiterung, die damit auch emanzipatorischen Charakter hat? Oder schließlich: Werden Narrative von Herrschenden erzählt oder von Staatsbürgern, Journalistinnen, Minderheiten? Ich habe diese erste Negation der unbalancierten Berücksichtigung der drei religionsphilosophischen Kategorien ausführlich behandelt, weil sie nach meinem Eindruck die typischste ethische Fehlhandlung von Notstandspolitik darstellt. Sie wirkt sich in der Deutungsmacht der Regierung aus, die sich dabei nicht auf ihre 90 L. Ohly/ C. Wellhöfer: Ethik im Cyberspace, 57f. 91 G. Deleuze: Das Zeit-Bild, 169, 338f. 92 J. Fischer: Verstehen statt Begründen, 27. <?page no="95"?> 95 Deutungen behaften lässt. Keine Inhalte, keine Geschichte und keine Richtlinien sollen der Bevölkerung die Fähigkeit zur Orientierung geben, sondern allein die jeweils aktuellen offiziellen Verlautbarungen. 23 Regellosigkeit Die zweite Negation lautet: „Das Widerfahren von Anwesenheit ist nicht tatsächlich.“ Am Beispiel gezeigt: „Wenn der damalige Unfall erneut widerfährt, ist er nicht, was er ist.“ Im Raum bleibt dann zwar zurück, dass mich der Unfall wieder einholen kann; aber ich kann mich sofort damit beruhigen, dass er nicht ist, was er ist. Diesen Fall habe ich schon im vorigen Abschnitt dargestellt. Die zweite Negation ist nämlich ein Fall, der in der ersten Negation enthalten ist, als eine hinreichende Bedingung für die erste Negation. Wenn das Widerfahren von Anwesenheit nicht tatsächlich ist, dann besitzt das Widerfahren von Tatsächlichkeit keine Anwesenheit. Es liegt dann an der Nicht-Tatsächlichkeit von Anwesenheit, warum auch die Tatsächlichkeit etwa eines vergangenen Unfalls nicht erneut jemanden treffen kann. Weil beide Negationen logisch nahe beieinander liegen, sind auch die ethisch ungerechtfertigten Anwendungen von Notstandspolitik ähnlich. Im Fall der zweiten Negation wirkt sie sich vor allem in der regellosen Revision von Regeln aus. Die Bevölkerung mag zwar noch darüber in Kenntnis gesetzt werden, wann die Konferenz der Bundes- und der Landesregierungen erneut terminiert ist. Aber das Ergebnis der Vereinbarungen ist weitgehend offen und wird nicht selten durch nachträgliche Beschlüsse der Landesregierungen konterkariert. Ich habe in Abschnitt 8 die föderalistische Architektur des deutschen Verfassungsgebäudes als stabiles Widerlager gegen willkürliche Selbstermächtigungen von <?page no="96"?> 96 Regierungen gewürdigt, aber in Abschnitt 16 zugleich die Ambivalenz des föderalistischen „Flickenteppichs“ von Corona-Regeln beschrieben. Wenn nämlich in jedem Bundesland andere Richtlinien gelten, die zudem in einem kurzen Zeitrhythmus abgelöst werden, wird der Bevölkerung nicht nur erschwert, sich zu orientieren. Vielmehr wird zugleich der Eindruck erweckt, dass nicht die Richtlinien notwendig sind, weil sie ja im benachbarten Bundesland schon wieder nicht gültig sind, sondern allein die Orientierung an der jeweiligen Regierung. Und diese Priorisierung der Regierungsverlautbarung vor den verlauteten Beschlüssen führt dazu, dass auch die Regierung weniger an ihre Beschlusslage gebunden ist als an ihr Regierungshandeln. Damit meine ich nicht, dass der Rechtsstaat mit seiner Gewaltenteilung und wechselseitigen Kontrolle der Staatsgewalten in der demokratischen Notstandspolitik aufgehoben wird. Die verfassungsmäßige Architektur politischer Entscheidungsfindungen bleibt ja erhalten, und auch im Notstand ist eine Regierung an das Gesetz gebunden. Allerdings ist sie nicht daran gebunden, was sie bisher hat verlauten lassen. Und durch eine Menge einander ablösender Verordnungen wird unter dem Radar des Gesetzes Wirklichkeit geschaffen. „Bürokratie“, schreibt Hannah Arendt, „ist technisch immer daran zu erkennen, daß Legalität, also die Permanenz von Gesetzen mit allgemeiner Gültigkeit, abgelöst wird von einmaligen Verordnungen, die in rascher und ungeordneter Folge erlassen werden, weil sie nur von Fall zu Fall anwendbar sind.“ 93 Der Föderalismus hat diesen bürokratischen Effekt sogar noch verstärkt, indem er zugleich die Reichweite von Regierungsbeschlüssen geschwächt hat. Zwar kann im Föderalismus keine Regierung im Alleingang den Notstand bewältigen, sondern wird 93 H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 459. <?page no="97"?> 97 in ihrer Macht durch die benachbarten und sich überlagernden Regierungsbeschlüsse begrenzt. Aber gerade dadurch ist die Macht einer Regierung nicht an den konkreten Verordnungen zu erkennen, nämlich an deren Plausibilität und Nachvollziehbarkeit für die Bevölkerung, sondern am bloßen Regierungsvollzug. Ebenso wenig ist Regierungshandeln an der Tatsächlichkeit von Regeln zu erkennen, die dadurch Anerkennung verdienen würde, dass ihre Anwesenheit im Raum steht. Vielmehr ergeht Regierungshandeln aus Sicht der Bevölkerung in seinem Widerfahrnis. Wenn nicht aus der Kontinuität des politischen Krisenmanagements verständlich wird, warum Gastronomiebetriebe zur Eindämmung der Pandemie geschlossen werden müssen, kann man sich nur deshalb an die Verlautbarung halten, weil sie verlautet worden ist. Hier wird der theistische Voluntarismus der „Divine Command Ethics“ politisch umgesetzt, wonach etwas gut ist, weil es der Souverän befohlen hat (Abschnitt 11). Die politische Regelgebung bestätigt sich nicht an der Regel, sondern „regellos“ an sich selbst. 24 Selbstentschuldigung Die dritte Negation lautet: „Die Tatsächlichkeit des Widerfahrnisses hat keine Anwesenheit.“ Am Beispiel vom vergangenen Unfall würde sich diese Negation in der folgenden Unterstellung auswirken: „Der Unfall mag zwar erneut widerfahren, aber nicht, dass sein Widerfahrnis ist, was er ist.“ Hier wird nicht die Tatsächlichkeit außer Kraft gesetzt wie in den beiden vorigen Negationen, sondern gerade diejenige religionsphilosophische Kategorie, über die sich eine Regierung im Notstand selbst legitimiert, die Kategorie des Widerfahrenscharakters von Ereignissen. <?page no="98"?> 98 Es ist ein paradoxes Phänomen, dass sich politische Entscheidungsträger im Notstand einerseits darüber ermächtigen, dass ihre Maßnahmen in permanenten Widerfahrnissen auftreten, aber andererseits keine Verantwortung dafür übernehmen wollen. Dazu weisen sie zurück, dass die Widerfahrnisse, über die sie ihren Einfluss erhöhen, sind, was sie sind. Sie weisen also zurück, dass ihre Macht ist, was sie ist. Ein berühmtes Beispiel stammt von Jens Spahn, der in seinem Amt als Bundesgesundheitsminister im April 2020 im Bundestag gesagt hatte, „dass wir nämlich miteinander in ein paar Monaten wahrscheinlich viel werden verzeihen müssen, weil noch nie-… in der Geschichte der Bundesrepublik und vielleicht auch darüber hinaus in so kurzer Zeit unter solchen Umständen mit dem Wissen, das verfügbar ist, und mit all den Unwägbarkeiten, die da sind, so tiefgreifende Entscheidungen haben getroffen werden müssen; das hat es so noch nicht gegeben.“ 94 Dieser sympathische Verweis auf die eigene Fehleranfälligkeit kann allerdings auch politisch instrumentalisiert werden, um die Regierungsarbeit vor Kritik zu immunisieren. Das Zitat suspendiert ja den augenblicklichen Vergebungsbedarf der Regierung, indem sie erst zu einem späteren Zeitpunkt zur Rechenschaft gezogen werden soll. Aber für diesen späteren Zeitpunkt ist jetzt schon die Vergebung vorgesehen. Das Zitat belegt eine raffinierte vorweggenommene Selbstentschuldigung des eigenen Regierungshandelns und augenblickliche Immunisierung vor Kritik. Nun mag man dieses Zitat für einen spontanen und unvorbereiteten Ausruf eines Ministers halten, wäre es nicht typisch für das Verhalten von ehemaligen Regierungsmitgliedern, wenn sie auf ihre früheren Notstandsmaßnahmen blicken. Indem sie die Tatsächlichkeit der Widerfahrnisse herunterspielen, die sie selbst zu verantworten 94 Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 19/ 155, 19211. <?page no="99"?> 99 haben, können sie auch nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden. Dem Widerfahrnis zur staatlichen Selbstlegitimation wird rückwirkend die moralische Verbindlichkeit genommen, weil das Widerfahrnis gar nicht war, was es war, und deswegen auch keine bleibende Anwesenheit im sozialen Raum bis in die Gegenwart beansprucht. Mit der Vorstellung, dass der Machtzuwachs durch Widerfahrnisse keine moralische Verbindlichkeit besitzt, obwohl sie ihn legitimiert haben, wird der Maßstab der moralischen Bewertung außer Kraft gesetzt. Und das reicht schon aus, um sich selbst moralisch freizusprechen. Es ist dieser Mechanismus, den Hannah Arendt das „radikale Böse“ nannte (Abschnitt 12). Für Arendt personifiziert es sich in der Figur Adolf Eichmanns im Jerusalemer Prozess, als er für den Völkermord an den Juden keine Verantwortung übernahm, weil er lediglich den Befehlen des Führers zu folgen hatte. 95 Sie kommentiert, „daß totalitäre Herrschaft versucht, alle Taten, gute und böse, in der Versenkung des Vergessens verschwinden zu lassen.“ 96 Indem Eichmann nach eigener Auffassung tat, was alle Deutschen in seiner Position getan hätten, folgt, „daß, wo alle, oder beinahe alle, schuldig sind, niemand schuldig ist.“ 97 Es war Eichmann „beinahe unmöglich-…, sich seiner Untaten bewußt zu werden.“ 98 Nun geht es mir gerade nicht um eine Einebnung totalitärer Herrschaft und einer demokratischen Notstandspolitik. Selbst Arendt spricht von einem nie dagewesenen Unrecht, eben dem radikalen Bösen, während sie zugleich Fäden zu anderen grauenhaften Formen der Gewalt ziehen kann, ohne sie mit dem radikalen Bösen als einer neuen Qualität zu identifizieren. Ich will aber auf das Muster aufmerksam machen, worauf eine Ethik des 95 H. Arendt: Eichmann in Jerusalem, 365. 96 AaO, 346. 97 AaO, 402. 98 AaO, 401. <?page no="100"?> 100 Notstandes zu achten hat, damit Politik gerade nicht paradox zurücknimmt, was sie zugleich zu ihrer Selbstlegitimation benötigt, nämlich die Tatsächlichkeit von Widerfahrnissen. Nur indem Politiker die Widerfahrnisse der Notstandspolitik nicht relativieren, machen sie sich zurechnungsfähig für ihre Maßnahmen. Dann mag man ihnen verzeihen, entweder jetzt oder später, aber nicht weil sie eine Selbstentschuldigung beanspruchen können und die ethischen Maßstäbe desavouiert sind. Der Unterschied zwischen dem radikalen Bösen und dem Bösen besteht darin, dass das radikale Böse diese Maßstäbe nicht mehr kennt, während das Böse mit den Maßstäben so spielt, dass sie zugleich zu seiner Legitimation beitragen wie zu seiner Entschuldigung. Dazu wird der Widerfahrenscharakter von Notstandsentscheidungen sowohl genutzt als auch seine Tatsächlichkeit verdeckt. Dieser Verführungskraft ist auch demokratische Notstandspolitik ausgesetzt. 25 Veräußerlichkeit Die vierte Negation lautet: „Die Tatsächlichkeit der Anwesenheit widerfährt nicht.“ Nach dieser Negation kann zwar Anwesenheit sein, was sie ist, aber niemand wird davon getroffen, dass sie ist, was sie ist. Am Beispiel vom vergangenen Unfall ausgedrückt: Dass der Unfall im Raum ist, mag zwar erneut widerfahren, aber nicht, dass er ist, was er ist. Mit dieser Strategie macht man den damaligen Unfall unverbindlich: Die Erinnerung daran kann zwar erneut jemanden treffen, aber so, als wäre der Unfall ein kurzer Funke der Phantasie, der keine Erinnerung zurücklässt. Die Tatsächlichkeit des Unfalls kann nur thematisiert werden, sofern sie nicht widerfährt - etwa als würde man von etwas sprechen, woran man nie beteiligt gewesen ist und was einen nie betroffen gemacht hätte. <?page no="101"?> 101 In der Notstandspolitik kann dieser Fall bei Freiheitseinschränkungen auftreten. Freiheiten sind unveräußerlich. Das deutsche Grundgesetz hat die Grundrechte nicht erschaffen, sondern erkennt an, dass zur Menschenwürde Freiheiten gehören, die der Mensch nicht hintergehen kann, ohne sein Menschsein zu zerstören. 99 Der Mensch kann nicht sein, ohne zu leben, zu kommunizieren und eigene Einstellungen zu haben. Die Grundrechte wahren das, was der Mensch ist. Im Notstand aber werden sie so behandelt, dass sie in Konflikt miteinander geraten und dass ihre Reichweite aneinander begrenzt wird. Das Grundrecht auf Freizügigkeit und Versammlungsfreiheit gerät dann etwa in einer Pandemie mit dem Recht auf Leben in Konflikt. Selbst Jürgen Habermas, für den sich die Grundrechte aus einem deliberativen Anerkennungsprozess autonomer Subjekte ergeben, hatte im Corona-Notstand den Vorzug des Lebensschutzes nicht-deliberativ gesetzt. Damit erweckte er den Anschein, das Leben sei eine natürliche Voraussetzung menschlicher Moralität und damit kategorial von anderen Grundrechten zu unterscheiden. 100 Dabei könnte man einfach auch darauf verweisen, dass die Freiheit des Subjekts an der Freiheit des Anderen endet. Dann liegen nicht etwa die unveräußerlichen Rechte eines Menschen miteinander im Konflikt. Vielmehr fordert die Unveräußerlichkeit der eigenen Rechte eine Koexistenz mit der Unveräußerlichkeit der Rechte des Anderen. 101 Dabei darf gerade kein Konflikt um die Unveräußerlichkeiten entstehen, der sie relativieren würde. Indem aber Grundrechte nun „objektiv“ verhandelbar werden, werden sie „veräußerlich“. Sie stehen zwar im Raum, werden aber unverbindlich gemacht, indem sie wie unpersönliche Gegenstän- 99 W. Maihofer: Rechtsstaat und menschliche Würde, 26f. 100 J. Habermas: „Mich beunruhigt, wie nun auch Juristen den Lebensschutz relativieren“, 43f. 101 R. Alexy: Theorie der Grundrechte, 324. <?page no="102"?> 102 de verhandelt werden, deren Verlust objektiv besprochen werden kann, ohne dass er die Bürger treffen soll. Hierzu gehört die Freiheitseinschränkung mit Verweis auf sogenannte vulnerable Gruppen. Seitdem während der Corona-Krise Impfstoffe zur Verfügung gestanden haben, sich aber ein Viertel der Bevölkerung beharrlich nicht impfen lassen wollte, ist eine Impfpflicht für Berufsgruppen im Kranken- und Pflegebereich verabschiedet worden. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit wurde mit Verweis auf vulnerable Gruppen relativiert. Das ist deswegen erstaunlich, weil die Personengruppe der Ungeimpften besonders vulnerabel ist, bei denen sich eine Infektion mit dem Corona-Virus gefährlicher auswirkt als bei mehrfach geimpften Personengruppen. Das Argument ist daher so konstruiert worden, dass die ungeimpften Personen in einen Grundrechtekonflikt mit sich selbst geraten: Ungeimpfte Personen gefährden vulnerable Gruppen, wobei sie selbst zu den vulnerablen Gruppen gehören. Zum Schutz der vulnerablen Gruppen muss daher eine Impfpflicht eingeführt werden. Das ist letztlich ein paternalistisches Argument, das den Lebensschutz der ungeimpften Personen zu einem objektiven Gut macht, ohne dass respektiert wird, wie die Betroffenen selbst zu ihrem Leben stehen. Das meine ich, wenn ich sage, dass die Anwesenheit des Grundrechts so verhandelt wird, als hätte ihr Widerfahren keine Tatsächlichkeit. Die Anwesenheit des Grundrechts wird vielmehr so thematisiert, als ob auch eine politische Instanz unabhängig von den Betroffenen darüber befinden kann. Das Grundrecht hat dann eine Anwesenheit, die ist, was sie ist, ohne dass berücksichtigt wird, dass es bestimmte Subjekte sind, die davon getroffen werden können, denen die Tatsächlichkeit der Anwesenheit dieses Rechts also widerfährt. Nun hat das Argument für die berufsgruppenspezifische Impfpflicht auch eine Variante, bei der es oberflächlich so aussieht, als läge doch eine Kollision der eigenen Rechte mit den Rechten anderer vor. Dabei geht es nämlich darum, mit der Impfpflicht einen <?page no="103"?> 103 Kliniknotstand zu vermeiden: Wenn mehr Menschen geimpft sind, müssen weniger Corona-Patienten klinisch behandelt werden, so dass mehr klinische Kapazitäten für Patientinnen mit anderen Erkrankungen vorhanden sind. Geimpftsein gewährleistet also, dass „vulnerable Gruppen“ mit anderen Krankheiten berücksichtigt werden können. Ich bezweifle nicht, dass diese Kalkulation aufgeht. Allerdings geht sie nur deshalb auf, weil die Effekte unterschiedlicher Maßnahmen miteinander verglichen werden, als handelte es sich dabei um Güter und nicht um Rechte. Die Grundrechte werden dabei so betrachtet, als hätte ihre Anwesenheit keine Tatsächlichkeit. Denn um den gewünschten Effekt zu erzielen, müssen die Rechte auf körperliche Unversehrtheit zwischen beiden „vulnerablen Gruppen“ abgestuft werden: Die körperliche Unversehrtheit Ungeimpfter steht dann im Konflikt zur körperlichen Unversehrtheit von Patientinnen anderer Erkrankungen. Nicht beachtet wird dabei, dass die Rechte aller Betroffenen zugleich im Raum der Anwesenheit stehen und jederzeit als verbindlich widerfahren können, also so, dass sie sind, was sie sind. Es kann mich treffen, wenn ich mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gefahren werden soll, aber die nächsten Kliniken voll sind, weil ihre Betten mit Corona-Patienten belegt sind. Es kann mich aber auch treffen, wenn ich unter Androhung von staatlicher Gewalt gezwungen werde, mich mit einem Impfstoff spritzen zu lassen, dessen Wirkung mir nicht einleuchtet oder dessen Langzeitfolgen mir Angst machen. In beiden Fällen widerfahren mir meine Rechte angesichts der Rechte anderer im gemeinsamen Raum der Anwesenheit. Es ist die Verbindlichkeit der Anwesenheit, nämlich dass sie ist, was sie ist, die mir hierbei widerfährt. Die Ethik des Notstandes hat zu berücksichtigen, dass auch in diesem Konflikt eine Balance der drei religionsphilosophischen Kategorien vorliegt. Man wird diesen Konflikt anders lösen, wenn Rechte ignoriert werden, die im Raum stehen, weil die Kalkulation der Güter davon absieht, dass sie verbindlich, eben mit Tatsächlich- <?page no="104"?> 104 keit, widerfahren. Werden hingegen die drei religionsphilosophischen Kategorien ausbalanciert, dann begrenzen sich die Freiheiten aller Personen aneinander, die im Raum der Anwesenheit stehen, ohne dass Grundrechte miteinander um Geltung konkurrieren. Dann wird nur unter Berücksichtigung der Geltung jedes Grundrechts eine Priorisierung von Interessengruppen vorgenommen. Abgestuft werden nämlich dann nicht die Grundrechte, sondern die Interessen, die jemand mit den entsprechenden Grundrechten begründet. Konkret: Wenn zwei Personen mit entgegengesetzten Interessen das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit für sich beanspruchen, aber das Grundrecht der jeweiligen anderen Person ebenso im Raum steht, wird nach keiner Lösung gesucht werden, die das Recht einer Person relativiert. Eine Impfpflicht lässt sich dann nur einführen, wenn zugleich allgemein berücksichtigt wird, dass das Grundrecht weiterhin verbindlich im Raum steht. Insbesondere die Person, die gegen ihren Willen zur Impfung verpflichtet wird, muss den Eindruck haben können, ebenso in ihren Grundrechten und Freiheiten berücksichtigt worden zu sein wie die „vulnerablen Gruppen“ (Abschnitt 31). 26 Selbstverleugnung Die fünfte Negation lautet: „Die Anwesenheit des Widerfahrens hat keine Tatsächlichkeit.“ Man würde diese Negation unterstellen, wenn man zu einem gewesenen Unfall behaupten würde: „Das Erlebnis, dass der Unfall von damals immer noch im Raum steht, ist nicht, was es ist.“ Hier würde das Erlebnis heruntergespielt, dass etwas Anerkennung verdient, weil es uns jederzeit bedrängend dicht werden kann. Und die Strategie, es herunterzuspielen, läge darin zu behaupten, dass dieses Erlebnis ein unwirkliches Wahrnehmungszucken wäre, an das man sich schon im nächsten Moment nicht mehr erinnern kann. <?page no="105"?> 105 Politisch wirkt sich im Notstand eine solche Unterstellung aus, wenn eine Regierung leugnet, ihren Handlungsspielraum erweitert zu haben. Denn gerade so erweitert sie ihren Handlungsspielraum, indem sie suggeriert, eine besondere Kontrolle ihrer Macht nicht nötig zu haben. Die erweiterten Handlungsbefugnisse, auf denen ihre Entscheidungen beruhen, werden zugleich kaschiert. Das geschieht entweder, indem die Entscheidungen eilig revidiert werden oder indem die Regierung sich als ohnmächtig darstellt, anders handeln zu können, als es die Notwendigkeit erzwingt. Die eilige Revision von Notstandsrichtlinien kann sogar gleichzeitig in zwei Richtungen gehen: Es werden Lockerungen der Maßnahmen in Aussicht gestellt und zugleich Verschärfungen vorgenommen, die bisweilen sogar als Lockerungen bezeichnet werden. Im Übergang des Jahres 2021 auf 2022 galt im Einzelhandel eine 2G-plus-Regel, so dass also nur zweimal Geimpfte, die zudem genesen, negativ gestestet oder geboostert waren, ein Geschäft betreten konnten. Diese Maßnahme wurde im Frühjahr 2022 in manchen Bundesländern dadurch gelockert, dass nun zwar jede Person eintreten durfte, aber dabei eine FFP2-Maske tragen musste, während vorher eine weniger wirksame, aber dafür preisgünstigere OP-Maske ausgereicht hatte. In der gleichen Zeit wurde vom Bund ein Auslaufen der pandemischen Situation zum Ende des ersten Quartals beschlossen. Solche Maßnahmen mögen der veränderten pandemischen Situation angemessen sein; und die Einschränkung von Grundrechten verlangt, dass sie nur so lange gültig ist, bis die medizinischen Gründe dafür entfallen. Insofern können eilige Maßnahmen grundrechtskonform sein. Sie gehen aber darüber hinweg, dass die überholten Regelungen noch insoweit im Raum stehen, dass sie die Bevölkerung erneut „überkommen“, als wären sie noch gültig. Das zeigt sich an der zwischenzeitlichen Desorientierung, welche Maßnahmen denn nun gültig sind, und an der schwachen Überprüfung, ob sie auch eingehalten werden. Eine Regierung, die eilig ihre eigenen Richtlinien ver- <?page no="106"?> 106 wirft, schwächt ihren Einfluss, den sie aber nur deshalb hat, weil sie einen erweiterten Handlungsspielraum hat. Geschwächt ist die Geltungskraft der jeweiligen Richtlinien. Aber das ist gerade deshalb der Fall, weil die Entscheidungsträger ihre angewachsene Macht ausnutzen, Richtlinien jederzeit zu ändern. Ebenso verschleiern Regierungen ihren Machtzuwachs, indem sie das Narrativ setzen, Getriebene zu sein, die lediglich auf die Gefahrenlage reagieren. Das ist eine brisante Figur der Selbstlegitimation, die auch außerhalb von Notzeiten eingesetzt wird, um Einwände der Opposition zu zerstreuen: Wenn die eigene Maßnahme notwendig ist, können oppositionelle Gegenvorschläge nur unnötig oder gar unmöglich sein. Der Notstand aber verstärkt dieses Narrativ nochmals, weil mit ihm ja weiterreichende Machtbefugnisse der Regierung etabliert werden, was die Rolle einer Opposition als Korrektiv von Notstandsmaßnahmen suggestiv schwächt. Wenn doch ein Notstand vorliegt, der zu bestimmten Maßnahmen zwingt, wirken Alternativvorschläge oder die Verweigerung der Umsetzung staatspolitisch destabilisierend. Das Parlament muss dann nicht bei tiefgehenden Freiheitsbeschränkungen beteiligt werden. Und die außerparlamentarische Opposition ist dann als solche verdächtig, staatsschädigend zu sein, ohne dass ihre Argumente diskutiert werden müssten. Gelingt es zudem, die Macht der Regierung populär zu machen, hat die Opposition auch wenig Einfluss auf die öffentliche Meinung und auf den Journalismus. Arendts Diktum gilt auch für diese Situation: „Eine einfache Mehrheitsgesellschaft, die nur auf Macht basiert, kann Minderheiten auf eine furchtbare Weise unterdrücken.-… Ungeteilte und unkontrollierte Macht kann eine Meinungsuniformität erzeugen.“ 102 102 H. Arendt: Macht und Gewalt, 43. <?page no="107"?> 107 Dabei ist hinzuzufügen, dass Macht für Arendt der menschlichen Fähigkeit entspricht, „nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner.“ 103 Dazu ist nicht Gewalt nötig, da für Macht die „fraglose Anerkennung“ 104 konstitutiv ist. Erreicht also eine Regierung für ihren Machtzuwachs weitgehende Anerkennung, zumal im Notstand, der alle Maßnahmen als notwendige Reaktionen aussehen lässt, so ist damit der Spielraum für Andersdenkende gesellschaftlich reduziert. Dazu muss die Minderheit nicht verfolgt werden. Auch ohne Gewalt können Protestgruppen als Unverbesserliche oder Spinner abgetan werden. Sie dürfen weiterhin protestieren, aber mit ihren Handlungen die Regierungsmaßnahmen nicht stören. Daraus ergibt sich dann ihre Stigmatisierung und soziale Exklusion, die Anrüchigkeit ihrer bloßen Kommunikationskanäle (etwa die Messenger-App Telegram) unabhängig von einer inhaltlichen Auseinandersetzung. Politisches Regierungshandeln spielt sich selbst herunter, weil es lediglich reagiert, während die oppositionellen Gruppen sich Freiheiten herausnehmen, für die im Notstand kein Raum ist. Darin spiegelt sich die implizite Unterstellung, dass die Anwesenheit der politischen Freiheit nicht ist, was sie ist. Eine Regierung regiert also scheinbar nicht, wenn sie reagiert. „Ereignisse sind dadurch gekennzeichnet, daß sie automatische Prozesse oder zur Gewohnheit gewordene Verhaltensweisen unterbrechen.“ 105 Werden Ereignisse aber in politische Theorien eingebettet, „mit deren Hilfe man angeblich wissen kann, was wirklich war-…[,] tritt jene hypnotische Wirkung ein, derzufolge der von den Theoretikern ohnehin so verachtete gesunde Menschenverstand auch ganz untheoretisch 103 AaO, 45. 104 AaO, 47. 105 AaO, 11. <?page no="108"?> 108 veranlagte Menschen verläßt und mit ihm der Gemeinsinn oder common sense, dem wir es verdanken, daß wir Wirklichkeit und Tatsächlichkeit wahrnehmen, verstehen und uns handelnd in ihnen orientieren können.“ 106 Eine politische Theorie also, die sich auf Ereignisse stützt, ohne ihnen die nötige Tatsächlichkeit zuzurechnen, legt den Grund für plötzliche Regierungsentscheidungen, während die entschiedenen Richtlinien keine Beständigkeit besitzen. Auch die Notstandsdemokratie ist anfällig zumindest für eine implizite „Theorie“ der Notwendigkeiten. Dagegen enthält eine Ethik des Notstandes die Achtung für die Tatsächlichkeit von Ereignissen, seien es nicht-politische Ereignisse wie der Ausbruch einer Pandemie oder das überraschende politische Umschwenken des Regierungshandelns. 27 Geschichtslosigkeit Die abschließende sechste Negation lautet: „Die Anwesenheit der Tatsächlichkeit widerfährt nicht.“ Diese Mutmaßung soll das Beispiel illustrieren: „Dass der Unfall von damals gewesen ist, was er gewesen ist, trifft mich nicht und nie mehr.“ In diesem Beispiel ist es zwar möglich, dass der Unfall weiter im Raum steht und auch Tatsächlichkeit besitzt. Man kann dann nüchtern über ihn reden. Allerdings kann seine Tatsächlichkeit die Sprecherin nicht mehr erreichen. Wenn der Unfall in der Erinnerung widerfährt und damit einer betroffenen Person wieder ganz dicht wird, dann ohne seine Tatsächlichkeit. Seine Tatsächlichkeit verliert er im selben Moment, an dem er ihr widerfährt. In der Konsequenz heißt das, dass allenfalls etwas unbestimmt Mulmiges die Sprecherin erreicht und gleichzeitig nicht erreicht, 106 AaO, 12. <?page no="109"?> 109 weil in der Erfahrung dieses Widerfahrnisses nichts ist, was es ist, außer der aktuellen Erfahrung. Politisches Handeln ist eigentlich ohne Tatsächlichkeit nicht möglich. Allerdings kann politisches Handeln eine Suggestivkraft entfalten, dass es der Bevölkerung so erscheint, als ob ihr etwas widerfährt, ohne dass seine Tatsächlichkeit widerfährt. Das ist dann der Fall, wenn zwar das aktuelle Staatshandeln widerfährt und dabei eine Tatsächlichkeit besitzt, aber dabei zugleich vergangenes Staatshandeln unwirklich wird. Es handelt sich hier um ein ähnliches Phänomen wie bei der staatlichen Selbstentschuldigung (Abschnitt 24) und Selbstverleugnung (Abschnitt 26). Während jedoch die Selbstentschuldigung sich für aktuelle Maßnahmen vorab Absolution erteilt und die Selbstverleugnung die Verbindlichkeit aktueller Machtausübung kaschiert, wird hier die geschichtliche Kontinuität des politischen Handelns verschleiert. Das Regierungshandeln macht sich allein für seine je aktuellen Maßnahmen verantwortlich, übernimmt aber keine Verantwortung mehr dafür, sobald sie ersetzt worden sind. Das führt in eine politisch instabile Situation: Werden etwa schnelle Entschädigungsleistungen für Branchen oder Privathaushalte versprochen, die unter dem Notstand besonders leiden, so können sich de facto die Hilfszahlungen soweit verzögern, dass sie zu spät kommen und der private Ruin nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Werden umgekehrt alle benachteiligten Branchen pauschal mit unbürokratischen Hilfszahlungen unterstützt, so können Betriebe davon profitieren, die auch ohne den Notstand nicht mehr wirtschaftlich gewesen sind. Für die wirtschaftliche Verzerrung auf dem Markt macht sich die Regierung dann aber nicht mehr verantwortlich, weil ihre Maßnahmen keine Geschichte haben. Sie sind punktuelle Eingriffe, die nur so lange einer politischen Bewertung unterstehen, bis sie durch neue Eingriffe ersetzt werden. Die politische Instabilität besteht für die Bevölkerung darin, dass keine Erwartungssicherheit besteht, wie <?page no="110"?> 110 sich nachfolgende Interventionen aus dem bisherigen Regierungshandeln ergeben. Entsprechend schnell müssen die betroffenen Branchen und Haushalte Anträge auf Unterstützung stellen. Auch der zirkulären Selbstermächtigung der Regierung (Abschnitt 3) fehlt die Geschichtlichkeit, weswegen auch niemand für den Ausruf des Notstandes haftbar gemacht werden kann. Das führt dazu, dass völlig offenbleibt, wie lange der Notstand aufrecht erhalten bleibt. Denn ohne Geschichtlichkeit können die Kriterien für ein Notstandsende nur im je aktuellen Bewertungsakt liegen. Wenn für Carl Schmitt derjenige souverän ist, der über den Ausnahmezustand entscheidet, dann ist auch die Beendigung des Ausnahmezustandes eine an nichts anderes gebundene, sondern souveräne Entscheidung. Folglich ist auch seine Beendigung eine Ausnahmeentscheidung - und folgt damit der Logik des Ausnahmezustandes. Diese Dialektik lässt sich nur dadurch lösen, dass die ausnahmsweise Ausrufung des politischen Normalzustandes vergessen wird - also keine Geschichte hat, weil sie keine Tatsächlichkeit besitzt: Die Entscheidung zum Normalzustand ist nicht, was sie ist: Sie ist eine souveräne Selbstermächtigung der Regierung als ihre Selbstrelativierung. Mit einem solchen Verfahren sorgt eine Regierung vor, für Entscheidungen während des Notstandes nicht in Haftung genommen zu werden. Es mag zwar eine Anwesenheit von Tatsächlichkeit bestehen, die aber sofort verwischt, sobald sie widerfährt. Vergangene Entscheidungen können durchaus beklagt werden, aber nicht, sobald sie jemanden konkret getroffen haben, der jetzt um sein Recht kämpft. Als der bayerische Verwaltungsgerichtshof die Ausgangssperre zu Beginn der Corona-Krise für nicht rechtens erklärt hatte, 107 war sie bereits vorher schon aufgehoben gewesen. Der Gerichtsentscheid hatte somit keine Rechtswirkung. Selbst wenn die bayerische Lan- 107 VGH München. <?page no="111"?> 111 desregierung zu einem späteren Zeitpunkt eine Ausgangssperre erwogen hätte, hätte sie sie durchsetzen können, wenn sie mit anderen Voraussetzungen argumentiert hätte, die mit dem Gerichtsbeschluss nicht ausgeschlossen worden wären. 28 Normalzustand Die vorherigen sechs Abschnitte haben gezeigt, welche ethischen Probleme entstehen, wenn die drei religionsphilosophischen Kategorien nicht in gleicher Weise anerkannt werden. Oder umgekehrt: Die ethischen Probleme der Notstandspolitik lassen sich mit der nicht ausbalancierten Berücksichtigung der drei religionsphilosophischen Kategorien verstehen und beurteilen. Eine theologische Ethik des Notstandes hat darauf zu achten, eine Balance zwischen diesen Kategorien zu wahren. Diese Balance bildet somit eine Kriteriologie für Notstandsmaßnahmen. Das bedeutet zugleich, dass mit dieser Balance eine Notstandspolitik ausgeschlossen wird. Der politische Notstand hat es zwar mit besonderen Herausforderungen zu tun, aber seine Bearbeitung hat sich an den gleichen ethischen Kriterien zu orientieren wie der verfassungsmäßige Normalzustand. Die ethische Herausforderung besteht darin, einerseits eine außergewöhnliche Herausforderung festzustellen, die besondere Maßnahmen erfordert, aber andererseits eine Balance zu halten. Dabei reicht es nicht aus, die Verfassungsorgane unangetastet zu lassen und den Ausnahmezustand mit der Verfassung zu begründen. Wenn es in Art.-19 GG heißt, dass die Grundrechte in ihrem Wesensgehalt nicht angetastet werden dürfen und Einschränkungen nur allgemein vorgenommen werden dürfen, dann sind bereits graduelle Abstufungen der Grundrechte ein Einfallstor für den Kontrollverlust des Staates und für die soziale Exklusion von Gruppen, die mit allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft immer noch rechtlich gleich behan- <?page no="112"?> 112 delt werden. Die Ausbalancierung muss vielmehr tiefer liegen und sich auf die drei Kategorien beziehen, die einer Anerkennung jeglicher ethischen Situationen zugrunde liegen. Insofern bleibt die Herausforderung im Notstand, den Normalzustand ethischer Anerkennung zu wahren, die in der Balance der drei religionsphilosophischen Kategorien des Widerfahrens, der Tatsächlichkeit und Anwesenheit gründet. Zum Abschluss dieses Büchleins sollen einige wenige Beispiele skizziert werden, wie eine Ethik des Notstandes dieser Herausforderung gerecht wird. Dabei konzentriere ich mich auf Beispiele der Corona-Krise seit 2020. 29 Epidemische Lage Nach §-5 Abs.-1 des deutschen Infektionsgesetzes stellt nicht etwa die Regierung einen Notstand fest, sondern der Bundestag eine „epidemische Lage“ ohne Zustimmung des Bundesrates. Zwar sind mit der epidemischen Lage Sonderbefugnisse der Regierung verbunden; jedoch läuft die epidemische Lage automatisch aus, wenn der Bundestag sie nicht spätestens nach jeweils drei Monaten bestätigt. Insofern ist formaljuristisch einer Machterweiterung der Regierung eine Grenze gesetzt. Die zirkuläre Selbstbegründung des Notstandes ist aber damit noch nicht vermieden, weil die Regierungsparteien im Bundestag die Mehrheit stellen und weil die epidemische Lage zwar objektiven gesundheitlichen Kriterien entsprechen muss (§-5 Abs.-1 Satz-6 IfSG), aber der Bundestag feststellt, ob diese erfüllt sind (Satz-1). Dadurch sind pragmatisch die Hürden für die Regierung hoch, die erweiterten Machtbefugnisse wieder abzugeben und die epidemische Lage auslaufen zu lassen. Das Robert-Koch-Institut bestimmt zwar mit den Mitteln einer evidenzbasierten Medizin die Maßnahmen zur Eindämmung der Notlage und nimmt eine ständige Einschätzung der Gefahren- <?page no="113"?> 113 lage vor, gehört aber als Bundesbehörde zur Exekutive und ist der Bundesregierung unterstellt (§-4 Abs.-1 IfSG). Insofern kann nicht durch die gegebenen formaljuristischen Mittel ausgeschlossen werden, dass sich die zirkuläre Selbstautorisierung der Regierung einfach weiterdreht. Dazu bedarf es vielmehr seitens der Regierung der Anerkennung, dass Widerfahren, Tatsächlichkeit und Anwesenheit wechselseitig aufeinander bezogen sind. Ein Widerfahrnis wie etwa der Ausbruch einer Epidemie beseitigt also nicht die Anwesenheit, etwa die Anwesenheit des rechtlichen Normalzustandes. Die politischen Sonderbefugnisse insbesondere des Bundesgesundheitsministers sind zwar verankert im Infektionsschutzgesetz und damit im rechtlichen Normalzustand. Ethisch ist aber zugleich gefordert, dass sie dabei auch die rechtlichen Regelungen im Blick behalten, die durch die Sonderbefugnisse zeitweise außer Kraft gesetzt werden. Es steht zugleich im Raum, dass ein Minister diese Befugnisse normalerweise nicht hat. Die Anwesenheit des Normalzustandes ist also anzuerkennen. Somit zielt die epidemische Lage auf den Normalzustand. Die Regierung hat dazu die entsprechenden Informationen während der gesamten epidemischen Lage einzuholen, ob er nicht bereits erreicht ist. Dass die Bundesregierung verpflichtet ist, den Bundestag regelmäßig über die Lage zu unterrichten (§-5 Abs.-1 Satz-7 IfSG), ist ein Ausdruck für die Anerkennung der Anwesenheit des rechtlichen Normalzustandes. Das Problem bleibt jedoch, den Übergangspunkt zu bestimmen, ab wann der Normalzustand wieder erreicht ist. Eine evidenzbasierte Medizin reicht dazu nicht aus, weil sie zwar die Faktenlage untersucht, aber nicht die Anerkennung der Faktenlage erzwingen kann, was nämlich wieder zirkulär wäre (die Faktenlage verdient Anerkennung, weil die Fakten ausdrücken, dass sie Anerkennung verdient). Übergänge sind vielmehr Widerfahrnisse, die ihrerseits Anwesenheit hinterlassen. Eine ethische Rückführung des Notstandes in den politischen Normalzustand ergibt sich daher nur <?page no="114"?> 114 durch die Berücksichtigung dessen, was im Raum der Anwesenheit versammelt ist. Dazu gehört nicht nur die Anwesenheit des rechtlichen Normalzustandes, sondern auch die Anwesenheit des Notstandes, neuer Widerfahrnisse und aller Menschen, die von der Situation betroffen sind. Die Anwesenheit des Notstandes verdient eine andere Anerkennung als die Anwesenheit des Normalzustandes, weil der Notstand vom Normalzustand her bestimmt wird und auch wieder auf ihn zielt. Er hat nur eine zeitweise höhere Geltung, und zwar nur vermittelt über die Anerkennung des Normalzustandes. Deshalb sind Politiker dazu verpflichtet, grundsätzlich zum Normalzustand zu tendieren. Diese Anerkennungspflicht müssen sie auch im Notstand plausibel zum Ausdruck bringen. Dazu gehören Geltungsfristen, die allenfalls provisorisch verschoben werden dürfen und sich den jeweiligen Diskussionen um Lockerungen stellen müssen. Dem Problem, dass sich Notstände grundsätzlich als Provisorien gerieren, aber schnell einer Dauerschleife verfallen, muss durch die Anerkennung der Tatsächlichkeit begegnet werden. Notmaßnahmen widerfahren nicht nur, sondern sind auch, was sie sind. Sie müssen sich auch nachträglich beurteilen lassen. Das bedeutet, dass im Notstand nicht nur augenblickliche Zustände der epidemischen Lage zu bewerten sind, sondern auch das bisherige Regierungshandeln in seiner Gesamtgeschichte einem demokratischen Diskurs unterworfen bleiben muss. Dazu müssen gerade auch Protestbewegungen in ihren inhaltlichen Zuspitzungen anerkannt werden, auch wenn diese nicht geteilt werden müssen. Durch den Diskurs erkennen sich die Diskurspartner wechselseitig an und geben damit den Raum frei zur wechselseitigen Kontrolle, damit eine Notstandspolitik wirklich zügig beendet werden kann. Das hat auch Konsequenzen für die Protestgruppen, die sich mit ihrer geschichtlichen Kontinuität ebenso einer Kritik unterziehen müssen. Auch ihr Verhalten ist nicht nur auf die augenblickliche Aktion bezogen, sondern besitzt genauso Tatsächlichkeit und wird <?page no="115"?> 115 damit bleibend kritisierbar. Wer etwa bei einer Demonstration aus Protest keine Mund-Nase-Maske trägt, will sich nicht verantwortlich machen für die Folgen, dass im Menschengedränge andere Personen infiziert werden könnten: Der aktuelle Protest soll dann keine Anwesenheit und keine Tatsächlichkeit besitzen. 30 Protest-Gruppen Zur Balance der drei Kategorien, die in diesem Büchlein zugrunde gelegt werden, gehört auch die öffentliche Anerkennung der Pluralität der Protestbewegung. Ansonsten droht eine Wahrnehmungsverzerrung, die die Tatsächlichkeit der Proteste suggestiv überspielt. Das ist dann der Fall, wenn Protestbewegungen von der Mehrheitsgesellschaft so dargestellt werden, dass sie nicht sind, was sie sind. Mit einer solchen Strategie wird die Verantwortung verschleiert (Abschnitt 26), wie die herrschende Meinung diese Gruppen kritisiert. Die Protest-Bewegung wird dann so stilisiert, dass sie sich erstens aus verschiedenen Gruppierungen zusammensetzt, von denen aber einige staatsfeindliche Extremisten sind, weshalb zweitens die ganze Bewegung in Kollektivhaft genommen wird. Die Pluralität der Bewegung wird somit im zweiten Schritt kassiert, aber nur, weil sie im ersten Schritt zugrunde gelegt wird. Gerade durch die Pluralität des Protests gibt es dann genug Möglichkeiten, auch Staatsfeinde auszumachen, um die gesamte Bewegung darin zusammenzufassen: Die gefährlichste Gruppierung hat in den Augen der Mehrheitsgesellschaft die höchste Integrationskraft des Protests (Abschnitt 10). Diese Strategie ist nur möglich, wenn die Tatsächlichkeit des Protests missachtet wird: Die Bewegungen sind dann nicht, was sie sind. Die Pluralität der Bewegung wird dann nur zum Ausgangspunkt genommen, um sie einheitlich zu stigmatisieren. <?page no="116"?> 116 Daher müssen Protestbewegungen in ihrer Pluralität anerkannt werden. Damit wird nicht nur ihre Tatsächlichkeit anerkannt, sondern auch die Anwesenheit des Widerfahrenscharakters des Protests. Die unterschiedlichen Betroffenheiten (Widerfahrnisse) der außerparlamentarischen Opposition werden dann in ihrer inhaltlichen Eigenständigkeit im Raum der Anwesenheit anerkannt. Das setzt die Anerkennung voraus, den gesellschaftlichen Dissens im Diskurs auszutragen, anstatt ihn über stigmatisierende Methoden oder Exklusionsmaßnahmen zu umgehen. Für die Protestierenden gilt ebenso, dass sie sich zwar im Hinblick auf den Protest vereinigt haben, aber dabei ihre programmatischen Differenzen beachten sollten. Die gemeinsame Protestaktion ist auf diese Pluralität hin abzustimmen, weil sonst der Widerfahrenscharakter der Aktion nicht mit der Anwesenheit unterschiedlicher Ansprüche in Balance steht. Gewaltfördernde Provokationen werden die Bewegung zerstreuen oder auch gewaltlose Gruppierungen gegen ihre Programmatik für die Gewalt mitverantwortlich machen. Mit Provokationen, die auf Gewalt zielen, kann nicht die Anwesenheit pluraler Bewegungen anerkannt werden. 31 Impfpflicht 108 In Achtung der Balance zwischen den drei Kategorien halte ich eine allgemeine Impfpflicht für vertretbar. Und gegenüber der Benachteiligung von Ungeimpften und ihrem Ausschluss aus dem öffentlichen Leben liegt die Impfpflicht im Vorteil, weil sie die Anwesenheit aller Personen anerkennt, was bei einer sozialen Exklusion nicht der Fall ist (Abschnitt 9). Indem die Impfpflicht allgemein gilt, werden alle Gesellschaftsmitglieder vor dem Recht 108 Dieser Abschnitt nimmt Argumente auf aus L. Ohly: Wäre eine Impfpflicht besser, 4-10. <?page no="117"?> 117 gleichbehandelt. Das leistet eine berufsbezogene Impfpflicht nicht (Abschnitt 25). Eine allgemeine Impfpflicht ignoriert aber, dass es durchaus ernstzunehmende Gründe gibt, sich nicht impfen zu lassen (Abschnitt 9). Dazu gehört etwa die globale Ungleichverteilung von Impfstoffen, die eine Ausrottung des Corona-Virus ausschließt. Mit der globalen Ungleichverteilung wird das Argument geschwächt, dass Geimpfte die Allgemeinheit schützen. Daher kann als plausibler individualethischer Grund gegen die Impfung angeführt werden, dass das persönliche Impfrisiko in keinem günstigen Verhältnis zum persönlichen Ertrag steht. Dieser Grund wird flankiert von der Tatsache, dass man trotz Impfung andere Personen infizieren kann, so dass der Schwerpunkt der Entscheidung auf dem persönlichen Ertrag einer Impfung liegt und nicht auf dem sozialen Beitrag für andere. Die Prophezeiungen, dass ein Kliniknotstand ausbrechen werde, wenn die Impfquote zu niedrig ist und dadurch zu viele Infizierte klinisch behandelt werden müssen, hat sich in Deutschland nicht bestätigt, seitdem Impfstoffe zur Verfügung stehen. 109 Damit entfällt der Grund, von dem üblichen Solidaritätsmodell abzuweichen, demzufolge niemand für seine Lebensweise (Ernährung, Alkohol, mangelnde Bewegung, Impfstatus) benachteiligt werden soll. Angesichts dieser Gründe erweckt die allgemeine Impfpflicht einen ungerechtfertigten paternalistischen Eindruck. Ungeimpfte Personen werden nicht darin anerkannt, Autorinnen und Autoren ihrer eigenen Lebensführung zu sein. Berechtigte Ansprüche stehen dann zwar im Raum der Anwesenheit, werden aber ignoriert. Ich gehe in meiner folgenden Argumentation davon aus, dass sich die Frage nach der allgemeinen Impfpflicht ausschließlich für eine „epidemische Lage“ (Abschnitt 29) stellt und nicht für 109 U. di Fabio: Coronabilanz, 28. <?page no="118"?> 118 den politischen Normalzustand. Damit bleibt die Impfpflicht eine zeitlich befristete Maßnahme. Sie kann zwar über die epidemische Lage hinaus gültig sein, um eine prognostizierte Rückkehr der Notlage zu verhindern. Im Raum der Anwesenheit überlappen eben verschiedene Ansprüche. Der Normalzustand bildet aber die Basis für die epidemische Lage. Und Notstandspolitik zielt absehbar auf die Wiederherstellung des Normalzustandes. Deshalb muss eine Impfpflicht zeitlich befristet werden. Ebenso gehe ich davon aus, dass in der epidemischen Lage die Gefahr schwerer Erkrankungen und Todesfälle nur durch einen beträchtlichen Infektionsschutz eingedämmt werden kann, und zwar entweder, indem die Personengruppen, bei denen ein schwerer Verlauf zu erwarten wäre, vor physischem Kontakt geschützt werden oder indem eine allgemeine Impfpflicht vor schweren Verläufen hütet. In dieser Situation sind die „vulnerablen Gruppen“ vor allem die der ungeimpften Personen, also derjenigen, die sich nicht zu einer Impfung entschieden haben. Wird für diese Personen eine Kontaktbeschränkung umgesetzt, so handelt es sich hier um einen paternalistischen Eingriff, denn diese Personen haben sich nicht dagegen entschieden, mit einer Impfung das Risiko einer Corona- Infektion zu minimieren. Dieser Eingriff vollzieht sich zudem ungleich, weil ihnen für ihren persönlichen Weg der Gesundheitsvorsorge die Kontaktbeschränkungen auferlegt werden, während für die Gruppe der Geimpften keine Nachteile für ihre Entscheidung entstehen. Um diesen paternalistischen Eingriff aufzuheben, könnte man entweder die Kontaktbeschränkungen gänzlich aufheben oder umgekehrt für alle Personen unabhängig von ihrem Impfstatus verhängen. In beiden Fällen wird die gleiche Freiheit aller Gesellschaftsmitglieder geachtet, im zweiten Fall aber so, dass die Freiheit für alle stark eingeschränkt ist. Nun soll Notstandspolitik auf den Normalzustand zielen. Also kann sie sich nicht dauerhaft mit der Freiheitseinschränkung der Bevölkerung abfinden. Das <?page no="119"?> 119 spricht für den ersten Fall, die Aufhebung der Kontaktbeschränkungen. In diesem Fall wäre aber die epidemische Lage aufgehoben, und dafür sollen die Bedingungen nicht mehr gegeben sein, die zur epidemischen Lage geführt haben. Befindet sich dagegen eine Gesellschaft aufgrund gesundheitspolitischer Gründe in der epidemischen Lage, so ist eine Aufhebung von eindämmenden Maßnahmen fahrlässig und widerspricht den berechtigten Interessen der Gesellschaftsmitglieder im Raum der Anwesenheit. Das ist der Ansatzpunkt, für eine allgemeine Impfpflicht zu argumentieren. Denn hier werden beide Nachteile behoben, nämlich die Notlage weiter ernstgenommen und die gleiche Freiheit aller Gesellschaftsmitglieder geachtet. Der Impfstatus einer Person hängt dann nämlich nicht an ihrer Freiwilligkeit, sondern daran, dass sie eine allgemeine Pflicht erfüllt. Die Haltung also, mit der sich jemand impft - freiwillig oder unfreiwillig -, ist demgegenüber zu vernachlässigen. Der Staat greift nicht paternalistisch in die persönliche Selbstsorge ein, sondern tariert die Freiheitsrechte aller Gesellschaftsmitglieder aus, um das Allgemeinwohl zu schützen. Aber hatte ich nicht gerade noch erwähnt, dass in der Bundesrepublik auch ohne Impfpflicht kein Kliniknotstand geherrscht hat? Wenn das so ist, heißt das nicht, dass die Maßnahmen, die ihn abgewehrt haben, ethisch gerechtfertigter sind als die allgemeine Impfpflicht. Denn die bisherigen Maßnahmen sind hauptsächlich zu Lasten der ungeimpften Personen gegangen, was eben einen paternalistischen Eingriff darstellt. Dagegen orientiert sich der Staat an seiner ordnungspolitischen Aufgabe, wenn er die Gesellschaft davor schützt, dass Lockdowns die Wirtschaft oder das Bildungssystem belasten und zu soziopsychischen Schädigungen in der Bevölkerung führen. Auch diese ordnungspolitische Funktion lässt sich über den Begriff der Anerkennung begründen: Die Gesellschaftsmitglieder werden in ihrer Anwesenheit gleichermaßen berücksichtigt. Dazu gewährt der Staat ihnen gleiche Rechte, legt ihnen aber auch gleiche Pflichten auf. <?page no="120"?> 120 Das Problem der allgemeinen Impfpflicht liegt aber im Detail: Wie soll die Zuwiderhandlung sanktioniert werden? Sollen die Impfgegner unter Androhung von Polizeigewalt eine Spritze erhalten? Was ist, wenn eine impfsäumige Person auch nach medizinischer Zwangsberatung und Zahlung eines Bußgeldes weiterhin den Impftermin verstreichen lässt? Müssen die Strafen dann härter werden bis zum körperverletzenden Zwangseingriff ? Der Deutsche Ethikrat hat in seiner Stellungnahme zur Impfpflicht gegen Masern aus dem Jahr 2019 auch Anreize in Aussicht gestellt, um die Impfquote zu erhöhen. Hierzu zählte er „niedrigschwellige wohnortnahe Aufklärungs- und Impfangebote“ 110 , nicht aber Prämien. In seiner Stellungnahme zur Corona-Impfpflicht weicht der Ethikrat von seiner früheren Einschätzung ab und erklärt nun, dass keine „Vollstreckungsformen“, sprich: Sanktionen gegen Impfsäumige, von vornherein ausgeschlossen werden sollten. 111 Dies gilt unter der Voraussetzung, dass mildere Mittel nicht greifen, die „zur Erreichung der gesetzten Ziele erforderlich“ wären. 112 Diese Voraussetzung scheint mir zu unbestimmt zu sein, da man sich alle möglichen Ziele vorstellen könnte, während es doch darum gehen muss, mit den erforderlichen Maßnahmen die Voraussetzungen für eine epidemische Lage aufzuheben. Deshalb scheint mir, dass in einem Übergangsbereich vom Notzum Normalzustand auch mildere Sanktionsmittel ausreichen, die tolerieren, dass im Ergebnis nicht alle Gesellschaftsmitglieder ihrer Impfpflicht nachkommen. Die Impfpflicht sollte zudem kombiniert sein mit anderen Mitteln, zu denen ich auch Anreize zählen würde (Prämien, Sonderzuschüsse für Kommunen mit der höchsten Impfquote). Das ordnungspolitische Ziel lautet, möglichst viele 110 Deutscher Ethikrat: Impfen als Pflicht, 68, Herv. D.E. 111 Deutscher Ethikrat: Ethische Orientierung zur Frage einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht, 7. 112 AaO, 6. <?page no="121"?> 121 Menschen zu impfen, wobei die Impfpflicht auch schon effektiv sein kann, wenn der Staat nicht zur ultimativen „Vollstreckungsform“ greift, sondern weichere Druckmittel wählt. Wie ist aber dieser Toleranzvorschlag begründet? Hebelt er nicht das Gleichheitsargument wieder aus, das ich für die Impfpflicht stark gemacht habe? Ich verweise nochmals auf den Raum der Anwesenheit, der gegensätzliche Interessen, Ansprüche und Personengruppen sowie ihre Betroffenheiten (Widerfahrnisse) umfasst. Diese Vielfalt der Anwesenheit ist anzuerkennen. Denn auch wenn sie durch eine allgemeine Impfpflicht in ihrer Geltung herabgesetzt wird, bleiben die abgewiesenen Ansprüche und Interessen im Raum. Toleranz gegenüber abweichenden Anwesenheitskonstellationen kann daher den Raum der Anwesenheit in seiner Pluralität umfassender anerkennen als ein abstraktes Gleichheitsprinzip, bei dem die Gleichheit nicht widerfährt. Ich erinnere daran, dass die Anwesenheit von Tatsächlichkeit auch widerfahren muss, während die nüchterne Beschreibung von Gleichheitsprinzipien auch zu einer Imbalance ethischer Kriterien führen kann (Abschnitt 27). Dass Gleichheit ist, was sie ist, muss auch widerfahren können, indem die Ungleichen im gemeinsamen Raum der Anwesenheit anerkannt werden. Deshalb votiere ich für eine austarierte Sanktionierung von impfsäumigen Personen anstatt für eine abstrakte Gleichheit von Vollstreckungsformen. 32 Triage In einem Wohlfahrtsstaat wird weitgehend verdeckt, dass lebenswichtige medizinische Ressourcen grundsätzlich immer knapp sind. Und dass Rettungskräfte bei einem Unfallort mit mehreren schweren Verletzten die Entscheidung treffen müssen, welchem Unfallopfer zugunsten eines anderen die medizinische Hilfe versagt werden soll, kommt in der Öffentlichkeit selten ans Licht. Im <?page no="122"?> 122 Notstand dagegen kann der Verteilungsmangel lebenswichtiger medizinischer Ressourcen zum Regelfall werden. Es ist ein Indiz der Machtkonzentration politischer Entscheidungsträger im Notstand, dass sie auch diesen Fall diskutieren und Richtlinien festlegen, anstatt sie Ärztinnen und Ärzten zu überlassen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Dezember 2021 das Problem der sogenannten Triage verhandelt, das Problem also, welche Patienten zugunsten der Behandlung anderer Patienten sterben gelassen werden sollen. 113 Zwar hat sich das Gericht darauf beschränkt, die Diskriminierung von Behinderten auszuschließen, dabei jedoch auch allgemeine Grundsätze zur Entscheidungsfindung genannt. Es stellt fest, dass der Gesetzgeber einen weiten „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“ hat, wie er das Problem der Triage klärt. 114 Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass Ärztinnen und Ärzte die „Letztverantwortung“ hätten, 115 zumal in entsprechenden Situationen Zeitknappheit herrsche. 116 Als Auswahlkriterium wird „die Aussicht, die akute Erkrankung zu überleben“ genannt, ohne dass dabei eine Prognose über die Überlebensdauer berücksichtigt werden dürfe. 117 Grundsätzlich dürfe nicht Leben gegen Leben abgewogen werden. 118 Nehmen wir also an, dass für zwei an Covid-19 schwer erkrankte Patientinnen lediglich ein Beatmungsgerät zur Verfügung steht, von denen eine Person zusätzlich eine chronische Erkrankung hat. 119 Dann darf diese Person nicht gegenüber der nicht-behinderten Patientin benachteiligt werden. Nehmen wir weiter an, dass die 113 Bundesverfassungsgericht: 1 BvR 1541/ 20. 114 AaO, 99. 115 AaO, 127. 116 AaO, 113. 117 AaO, 116. 118 AaO, 128. 119 Zur Definition von Behinderungen, die auch chronische Erkrankungen einschließt, s. aaO, 90. <?page no="123"?> 123 Aussicht, die akute Krankheit zu überleben, bei der behinderten Patientin deutlich höher ist als bei der nicht-behinderten. Allerdings wäre es wahrscheinlich, dass die chronische Erkrankung so schwer ist, dass in den nächsten zwei Wochen mit dem Tod der Patientin zu rechnen ist. Dagegen hätte die nicht-behinderte Patientin eine höhere Lebenserwartung, wenn sie die Zeit der intensivmedizinischen Behandlung überlebt. Dann ist dennoch nach den Grundsätzen des Gerichtsurteils das Beatmungsgerät an die behinderte Patientin anzuschließen. Weder darf Leben gegen Leben abgewogen werden, noch darf die Überlebensdauer eine Rolle spielen, sondern nur die höhere Aussicht, die aktuelle medizinische Maßnahme zu überleben. In der Konsequenz werden vermutlich in einigen Wochen beide Patientinnen ziemlich sicher gestorben sein, während im umgekehrten Fall wenigstens eine kleine Aussicht besteht, dass die nicht-behinderte Patientin überlebt, wenn sie an das Beatmungsgerät angeschlossen wird. Dann heißt das, dass nicht die prognostizierte Zahl der geretteten Menschenleben entscheidet, sondern die Menschenwürde beider Personen, ob sie leben oder nicht. Diese vielleicht überraschende Schlussfolgerung steht im Einklang mit der ausbalancierten Berücksichtigung der drei religionsphilosophischen Kategorien: Die Anwesenheit beider Patientinnen wird anerkannt, ohne dass ihre unterschiedlichen objektiven Eigenschaften zu unterschiedlichen Anerkennungsbedingungen stilisiert werden. Weder spielt eine Rolle, dass eine Patientin eine chronische Erkrankung hat, noch, ob sie lebt. Die Anwesenheit beider Patientinnen widerfährt vielmehr im Konflikt, und auch die unterlegene Patientin bleibt im Raum der Anwesenheit anerkannt: Immerhin ihre Basisversorgung soll berücksichtigt werden. 120 120 AaO, 111. <?page no="124"?> 124 In der Öffentlichkeit wird an dem Gerichtsurteil diskutiert, ob es den Gesetzgeber überhaupt ausdrücklich dazu aufgerufen haben durfte, eine Regelung zur Triage zu treffen. Zwar hat das Urteil darauf verwiesen, dass Kriterien nicht schematisch behandelt werden dürften. 121 Das entspricht auch meiner Einschätzung, weil eine schematische Anwendung zu einer Bevorzugung objektiver Gesichtspunkte führt, ohne sie mit deren Anwesenheit und Widerfahrenscharakter ausbalanciert zu haben. Dennoch kann man fragen, ob nicht eine Gesetzgebung zur Triage unausweichlich zu einer schematischen Überprüfung objektiver Gegebenheiten führt. Eine gesetzliche Regelung zum Entscheidungsverfahren könnte demgegenüber bescheidener, aber auch ethisch angemessener sein. 122 Ein gerechtes Verfahren erkennt die betroffenen Personen im Raum der Anwesenheit an und verhandelt objektive Kriterien in der Klammer der widerfahrenen Anwesenheit. Es gibt dann keine eindeutigen Lösungen, sondern nur eine eindeutige Achtung der Verfahren, aus denen sie resultieren. Dennoch bleibt die Frage, warum im Notstand eine politische Regelung zur Triage erforderlich wird, die bei Ressourcenengpässen unter Normalbedingungen nicht vermisst wird. Angeblich hat es seit Ausbruch der Corona-Krise in Deutschland keinen Fall von Triage gegeben. Der politische Bedarf ist vielmehr von Negativprognosen und Ängsten bei Betroffenenverbänden erzwungen worden. Man könnte überspitzt sagen, dass im Notstand das Worst Case-Szenario die politischen Maßnahmen bestimmt, 123 die Fiktion einer kontrafaktischen Situation. 124 Hier regiert der Widerfahrenscharakter von Ereignissen, der objektive Tatsachen verdrängt. Ein Gesetz zur Triage, das sich auf objektive Merkmale 121 Ebd. 122 Ähnlich F. Lindner: Pflicht des Gesetzgebers zur Regelung der Triage, 3f. 123 U. di Fabio: Coronabilanz, 44. 124 G. Agamben: An welchem Punkt stehen wir, 88. <?page no="125"?> 125 stützt, holt diesen Abstand zum Widerfahrenscharakter des Notstandes gerade nicht auf. Denn es basiert ja auf dem Widerfahrenscharakter des Notstandes. In politisch unaufgeregten Zuständen können die verantwortlichen Medizinerinnen, gegebenenfalls mit Unterstützung von Ethikkommissionen, eine situationsgemäße Entscheidung treffen. Das Bundesverfassungsgericht überschätzt daher die Kraft gesetzlicher Regelungen, zumal es selbst die Situation so einschätzt, dass Ansprüche zur Triage nicht einklagbar sind. 125 Mit dieser Überschätzung ist eine Verschleierung gesetzlicher Ordnung verbunden, die für den Notstand charakteristisch ist. Die Berücksichtigung der religionsphilosophischen Kategorien führt demgegenüber zu einer ambiguitätstoleranten Lage, die sie deshalb tragen kann, weil alle betroffenen Personen im Raum der Anwesenheit anerkannt werden. 33 Schluss Dass ich ein solches Buch schreiben und publizieren kann, belegt den freiheitlichen Charakter der Gesellschaft, in der wir leben. Ich wollte keine politische Verfallstheorie formulieren, wie es zurzeit andere tun (Abschnitt 13). Die Meinungsfreiheit ist ebenso wenig während der Corona-Krise angetastet worden wie andere Grundrechte. In erster Linie waren von der Corona-Krise die Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit sowie in abgestufter Weise das Grundrecht auf Eigentum betroffen, weil durch die Lockdowns die privatwirtschaftliche Sicherung des eigenen Vermögens vermindert wurde. Allerdings habe ich in diesem Büchlein zeigen wollen, dass auch andere Maßnahmen effektiv eingesetzt werden, um den persönlichen Spielraum der Gesellschaftsmitglieder zu beschrän- 125 Bundesverfassungsgericht: 1 BvR 1541/ 20, 84. <?page no="126"?> 126 ken, ohne in ihre Grundrechte einzugreifen: Impfgegner haben die Freiheit, sich nicht impfen zu lassen, werden dann aber sozial exkludiert. Sogenannte „Querdenker“ dürfen ihre Meinung sagen, werden aber für ihre Meinungen in der Mehrheitsgesellschaft verspottet. Anstatt Gegenmeinungen zu diskutieren, werden sie einer verdächtigen Gruppierung zugerechnet. Mit dem Vorwurf, die Gesellschaft sei gespalten, wird soziale Exklusion legitimiert und damit die Spaltung manifestiert. Kirche, insbesondere die evangelische, schlägt sich auf die Seite der Mehrheitsgesellschaft und leiht den Marginalisierten kein Ohr, geschweige denn ihren Mund. Dazu kommen machtvolle Strategien, im Notstand die staatlichen Befugnisse zu erweitern - über Zirkelschlüsse, Deutungshoheiten und Narrative mit instrumentalisierender Absicht. Ich wollte nicht behaupten, dass die deutsche Notstandspolitik der Corona-Krise dem Totalitarismus gleicht, den Hannah Arendt analysiert hat. Der Rechtsstaat ist stabil geblieben, der demokratische Wettbewerb unter den Parteien uneingeschränkt, die Grundrechte weitgehend geachtet und ihre Einschränkung begründet, verhältnismäßig und befristet. Mir ging es aber darum aufzuzeigen, dass bestimmte Mechanismen der Marginalisierung politischer Gruppen auch in der Notstandsdemokratie greifen, weil der politische Druck in diesen Zeiten zunimmt, um ein wesentliches ordnungspolitisches Ziel zu erreichen, nämlich die Sicherung der Gesamtgesellschaft vor einer konkreten Gefahr. Eine solche Situation löst Reflexe der reformatorischen Tradition aus, in der Politik auf die ordnungspolitische Dimension reduziert gewesen ist. Demgegenüber wollte ich andere theologisch-ethische Wurzeln des Politikverständnisses aufzeigen, nämlich ein deliberatives Austarieren von Geltungen, wie es durch die Trinitätstheologie angedeutet ist. Diesen Ansatz habe ich phänomenologisch weiterverfolgt und die drei trinitarischen Positionen als Kategorien bestimmt, die in einem ausbalancierten Verhältnis zueinanderstehen sollten, damit keine moralischen Ungleichgewichte entstehen. <?page no="127"?> 127 Dieses Büchlein einer theologischen Ethik des Notstandes hat sich weitgehend mit staatlichen Instrumenten des politischen Handelns beschäftigt. Sie ist aber in der Demokratie auf alle Gesellschaftsmitglieder auszuweiten. Die Balance zu halten zwischen dem, was Menschen widerfährt, eine verbindliche Tatsächlichkeit besitzt und auch als Abwesendes bleibend im Raum der Erfahrung steht, ist nicht nur Staatsaufgabe, sondern auch Auftrag aller Gesellschaftsmitglieder - ob sie der Regierung nahestehen, sie aus skeptischer Distanz betrachten oder gegen sie protestieren. <?page no="128"?> 128 Literaturverzeichnis R.M. Adams: Finite and Infinite Goods. A Framework for Ethics; Oxford 1999 G. Agamben: Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life; Stanford 1998 G. Agamben: An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik; Wien/ Berlin 2021 R. Alexy: Theorie der Grundrechte; Frankfurt a.-M. 1986 H. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben; München 2011 10 Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik; München 2014 9 H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus; München 2019 21 H. Arendt: Macht und Gewalt; München 2019 27 H. Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen; München 2021 17 K. Barth: Dialektische Theologie. Schriften Bd.-1 (hg. v. D. Korsch); Frankfurt a.-M./ Leipzig 2009 K. Barth: Christengemeinde und Bürgergemeinde (1946); in: Ders.: Dialektische Theologie, 543-587 D. Bonhoeffer: Berlin 1932-1933; Gütersloh 1997 (DBW 12) Bundesverfassungsgericht: 1 BvR 1541/ 20 J. Butler: Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen; Berlin 2021 2 I.U. Dalferth: Sünde. Die Entdeckung der Menschlichkeit; Leipzig 2020 G. Deleuze: Das Zeit-Bild; Kino 2; Frankfurt a.-M. 1997 Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 19/ 155 Deutscher Ethikrat: Impfen als Pflicht? Stellungnahme; Berlin 2019 Deutscher Ethikrat: Ethische Orientierung zur Frage einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht. Ad-hoc-Empfehlung; Berlin 2021 W. Dilthey: Gesammelte Schriften Bd. V; Stuttgart 1957 2 Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Eine Denkschrift der Evangelischen <?page no="129"?> 129 Kirche in Deutschland (hrsg. vom Kirchenamt im Auftrag des Rates der EKD). Gütersloh 1990 4 J. Fischer: Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht; Stuttgart 2012 E. Herms: Systematische Theologie: Das Wesen des Christentums: In Wahrheit und Gnade leben; Bd.-2; Tübingen 2017 A. Honneth: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie; Frankfurt 2000 A. Honneth: Zwischen Aristoteles und Kant. Skizze einer Moral der Anerkennung; in: Ders.: Das Andere der Gerechtigkeit, 171-192 U. di Fabio: Coronabilanz. Lehrstunde der Demokratie; München 2021 E. Finger: Frommes Schweigen. Die Kirchen sind wieder geöffnet - wo waren die Bischöfe, als Alte und Kranke sie brauchten? DIE ZEIT 23/ 2020 J. Habermas: „Mich beunruhigt, wie nun auch Juristen den Lebensschutz relativieren“. DIE ZEIT 20/ 2020 A.-K. Lienau: Kommunikation des Evangeliums in social media, ZThK 117/ 2020, 489-522 F. Lindner: Pflicht des Gesetzgebers zur Regelung der Triage? Anmerkungen zur Entscheidung des BVerfG v. 16.12.2021; Gesundheit und Pflege 12/ 2022, 1-4 M. Luther: Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei; WA 11, 245-281 W. Maihofer: Rechtsstaat und menschliche Würde; Frankfurt a.-M. 1968 L. Ohly: Ethik der Kirche. Ein vernachlässigtes Thema; Berlin 2022 L. Ohly: Wäre eine Impfpflicht besser? 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Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus Links https: / / www.evangelisch.de/ inhalte/ 194697/ 24-12-2021/ kurschus-impfpflicht-darf-gesellschaft-nicht-spalten (Zugriff 22.01.2022) https: / / www.katholisch.de/ artikel/ 27998-kirche-in-westfalen-raet-vonpraesenzgottesdiensten-an-weihnachten-ab (Zugriff 22.01.2022) https: / / ourworldindata.org/ covid-vaccinations? country=OWID_WRL (Zugriff 19.03.2022) <?page no="131"?> ISBN 978-3-89308-468-5 W W W . N A R R . D E W W W . N A R R . D E Die Legitimität von Notstandsmaßnahmen beruht auf einem eigentümlichen Zirkelschluss: Mit ihm berechtigt sich eine Regierung zu Sonderbefugnissen, die sie damit schon besitzen müsste, um sich auf sie zu berufen. Wie sollen evangelische Christen damit umgehen? Es stellt sich heraus, dass in der reformatorischen Tradition Politik immer und wesensmäßig auf einen Notstand bezogen ist. Ohne Notstand keinen Staat! Politik wird so auf die ordnungspolitische Dimension reduziert. Dieses Buch skizziert demgegenüber eine politische Theorie, die eine christliche und bürgerliche Autonomie vor staatlichen Übergriffen wahrt. Dazu werden theologische Phänomene vorgestellt, die in Balance zueinander stehen müssen, damit Politik auch in Krisenzeiten gerecht gestaltet werden kann.