Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik
aaa
0171-5410
2941-0762
Narr Verlag Tübingen
10.24053/AAA-2023-0008
61
2023
481
KettemannFranz Karl Stanzel, Gratwanderung zwischen Facta und Ficta. Ziele, Zufälle und Umwege in meiner Karriere als anglistischer Literaturwissenschafter. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2022
61
2023
Heinz Tschachler
aaa4810141
Franz Karl Stanzel, Gratwanderung zwischen Facta und Ficta. Ziele, Zufälle und Umwege in meiner Karriere als anglistischer Literaturwissenschafter. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2022. Heinz Tschachler Das von Franz Karl Stanzel, dem, wie er sich selbst bezeichnet, „Praecentenarier“ (14), vorgelegte Buch stellt sich als „Fach-Autobiographie“ (14) dar, als Rekonstruktion einer „durchaus befriedigend verlaufene[n] Berufskarriere“ (35). Das legt auch der Untertitel, Ziele, Zufälle und Umwege in meiner Karriere als anglistischer Literaturwissenschafter, nahe. Autobiographisch sind die ersten vier Kapitel, teilweise das 7. Kapitel, sowie das abschließende 8. Kapitel. Dazwischen finden sich zwei längere Abschnitte zur Erzähltheorie, die insgesamt knapp zwei Drittel des Buchumfangs beanspruchen. Und das mit Recht, denn, wie T. Leech bzw. Susan Onega und Garcia Landa bemerkten, F. K. Stanzel ist „one of the earliest and most outstanding narratologists,“ dessen klare, systematische und flexible Erzähltheorie auch für den anglo-amerikanischen Raum „seminal“ wurde (169). Immerhin wurden die Typischen Erzählsituationen (1955) schon 1971 ins Englische übersetzt, die Theorie des Erzählens (1979) dann 1984 (Übersetzungen in andere Sprachen finden sich im Schriftenverzeichnis am Ende des Buches). Abgesehen von den drei bahnbrechenden Werken zur Erzählforschung (dazu gehören auch die Typischen Formen des Romans; erstmals 1964 erschienen, kamen sie 1993, im Jahr der Emeritierung Stanzels, in 12. Auflage heraus, Teilabdrucke finden sich in Hand- und Lehrbüchern) zählen wir an die vierzig wichtige Aufsätze zur Erzählforschung. Angesichts dieser Fülle ist es verständlich, dass andere Interessens- und Themengebiete - literarische Imagologie und Nationalstereotypie, vergleichende Darstellung des Ersten Weltkrieges in deutscher und englischer Literatur, Kriegsautobiografie, Telegonie oder imaginative Fernzeugung u.a.m. - im vorliegenden Buch nicht oder nur ansatzweise abgebildet sind (siehe Schriftenverzeichnis). F. K. Stanzel, 1923 geboren, zählt sich selbst zur „Generation der ‚Davongekommenen‘“ (144). Wenig überraschend beginnt Kap. 1 mit dem Satz, „Alles begann 1940“ (9). Damals meldete sich der Gymnasiast der 7. Klasse zur deutschen Kriegsmarine. Zu den U-Booten abkommandiert, überlebte er im November 1942 als einer der wenigen Besatzungsmitglieder der U 331 die Torpedierung des Bootes (17f.). In britischer Kriegsgefangenschaft, zunächst AAA - Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik Agenda: Advancing Anglophone Studies Band 48 · Heft 1 Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ AAA-2023-0008 Reviews 142 ausgerechnet im Lake District, machte er erstmals mit englischer Geschichte Bekanntschaft, und mit William Wordsworth (18), was er in der Rückschau als den Beginn seiner „Karriere als Anglist“ interpretiert. Zu Weihnachten 1946 aus der Kriegsgefangenschaft (in Kanada) entlassen, begann er 1947 sein Studium an der Universität Graz (25). Nach dem Doktorat folgte ein Fulbright- Jahr in Harvard, seine „intellektuelle Wiedergeburt“ (29). Auf die Habilitation 1955 folgten Stationen in Göttingen, das Ordinariat in Erlangen-Nürnberg, und schließlich, 1962, der Ruf an die „Heimatuniversität Graz“ (245). In den folgenden drei Kapiteln erinnert sich F. K. Stanzel an seine „Erkundung des United Kingdom,“ dabei liebevoll seine Faszination für Schottland und Wales bekennend (43f.), an sein wachsendes Interesse an Kanada oder, wie es offiziell hieß, ‚Canadian Culture,‘ an die 1980 erfolgte Gründung der Gesellschaft für Kanadastudien / Association of Canadian Studies, sowie an die große österreichische Kanadakonferenz, die 1984 in einem Ausflugshotel im Wienerwald abgehalten wurde, mit illustrere Beteiligung (anwesend waren u.a. Margaret Atwood, Rudy Wiebe, Jack Hodgins und Robertson Davies, dessen Beitrag zur Frage „What is Canadian About Canadian Literature? “ hier abgedruckt ist, 50-55). Den Abschluss bilden persönliche Erinnerungen an zahlreiche der seit 1966 alljährlich stattfindenden „Anglistentage,“ bis hin zu dem „unrühmlichen Ende“ seines Engagements, als 2018 der von ihm gestiftete Helene Richter-Preis wieder einmal nicht vergeben werden konnte (67). Mit dem 5. Kapitel beginnen rückblickend und zusammenschauend F. K. Stanzels Ausführungen zur Narratologie. Die großen Kontroversen der 1950er Jahre aufgreifend, setzte Stanzel kühn den dualistischen Ansätzen von Käte Hamburger oder Robert Kayser ein triadisches Modell entgegen. Was damals, 1955, geradezu revolutionär war, ist heute in der Erzählforschung allgemeines Gedankengut: In der Auktorialen Erzählsituation wird das als vergangen erscheinende Geschehen von einem unbeteiligten, oft kommentierenden Erzähler erzählt. In der Personalen Erzählsituation ist die Vermittlung der als gegenwärtig vorzustellenden Geschichte einem Reflektor-Charakter überlassen, als dessen Bewusstseinsinhalt sie erscheint. Dazwischen fügt sich die Ich-Erzählsituation, in der sowohl auktoriales als auch personales Erzählen, somit als vergangenes oder gegenwärtiges Geschehen Vorzustellendes möglich ist (71- 72). 1 In einem weiteren Abschnitt streut F. K. Stanzel der 1938 von Wien in die USA emigrierten Germanistin Dorrit Cohn Blumen, vor allem für ihre Vermittlerrolle in Sachen Erzähltheorie. Dorrit Cohn organisierte 1971 die englische Übersetzung der Typischen Erzählsituationen, und sie war es auch, die die Kommunikation mit dem französischen Erzählforscher Gérard Genette vermittelte (92-95). Es folgt - in englischer Sprache - ein Auszug aus der Theorie des Erzählens zur Diskussion der teller-characters und reflector-characters in der Erzähl- 1 Monika Fludernik, eine ehemalige Doktorandin Stanzels und jetzt Professorin in Freiburg, hat in ihren Arbeiten zur Erzähltheorie die Triade um die Erzählung in der Du-Form ergänzt. Siehe “Second Person Fiction” und The Fictions of Language and the Languages of Fiction (beide 1993, hier 84).