Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
10.24053/CG-2024-0003
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2024
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Von der Auferstehung des ehrlichen Amtmanns
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2024
Vaidas Śeferis
Diese Fallstudie zur ostpreußischen Literatur des 18. Jahrhunderts darf als eine spannende Detektiverzählung aus dem Bereich der Literaturmethodologie bezeichnet werden: am Beispiel der deutschen Gedichte des berühmten preußisch-litauischen Pfarrers und Schriftstellers Christian Donelaitis (1714–1780) wird veranschaulicht, wie die Überlieferungsgeschichte seines schriftlichen Nachlasses zur Rekonstruktion des ursprünglichen Entstehungs- und Rezeptionskontexts seiner Dichtung beitragen kann. Die Annäherung an die Gedichte von Donelaitis mit Hilfe ihrer sekundären Dateien (Format der Handschrift, Biografie des Rezipienten, kontextuelle Chronologie) führt zu unerwarteten Ergebnissen mit Blick auf Entstehungszeit, Gattung und allgemeine Deutung dieser Texte: ein Trostbrief wird zum Hochzeitsgedicht, ein ehrlicher Amtmann erhebt sich plötzlich aus dem Grabe und die vergessene Pietas wird wieder zum Leben erweckt. Die vorliegende Studie wird dem Leser das Vergnügen bereiten, diese Umwandlungen gleichsam mit einem lachenden Auge mitzuverfolgen.
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Von der Auferstehung des ehrlichen Amtmanns Zur Chronologie und Gattung der deutschen Gedichte von Christian Donelaitis Vaidas Šeferis Institut für litauische Literatur und Volkskunde, Vilnius Masaryk Universität, Brno Abstract: Diese Fallstudie zur ostpreußischen Literatur des 18. Jahrhunderts darf als eine spannende Detektiverzählung aus dem Bereich der Literaturmethodologie bezeichnet werden: am Beispiel der deutschen Gedichte des berühmten preußisch-litauischen Pfarrers und Schriftstellers Christian Donelaitis (1714-1780) wird veranschaulicht, wie die Überlieferungsgeschichte seines schriftlichen Nachlasses zur Rekonstruktion des ursprünglichen Entstehungs- und Rezeptionskontexts seiner Dichtung beitragen kann. Die Annäherung an die Gedichte von Donelaitis mit Hilfe ihrer sekundären Dateien (Format der Handschrift, Biografie des Rezipienten, kontextuelle Chronologie) führt zu unerwarteten Ergebnissen mit Blick auf Entstehungszeit, Gattung und allgemeine Deutung dieser Texte: ein Trostbrief wird zum Hochzeitsgedicht, ein ehrlicher Amtmann erhebt sich plötzlich aus dem Grabe und die vergessene Pietas wird wieder zum Leben erweckt. Die vorliegende Studie wird dem Leser das Vergnügen bereiten, diese Umwandlungen gleichsam mit einem lachenden Auge mitzuverfolgen. Keywords: Donelaitis, Ostpreußen, Litauen, Literaturgeschichte, Textrekonstruktion Im breiten Forschungshorizont der Germanistik bildet der literarische Nachlass des ehemaligen Preußens einen spezifischen Fachbereich, der sich eines beständigen Interesses der Forscher erfreuen kann. Die kulturgeschichtlichen Risse des preußischen literarischen Phänomens wurden wesentlich durch den intensiven Kontakt der deutschsprachigen Kultur zu zahlreichen Minderheitenspra- 52 Vaidas Šeferis chen des ehemaligen preußischen Staates - etwa dem Litauischen, Polnischen, Kaschubischen u. a. - gekennzeichnet. Die Texte, welche im Laufe dieses langjährigen politischen und kulturellen Kontakts produziert und rezipiert wurden, bilden ein attraktives Forschungsobjekt, welches zwar nicht dem Kerngebiet der Germanistik zugeordnet werden kann, andererseits aber gerade durch seine kulturellen und sprachlichen „Grenzerfahrungen“ Inspirationen für das konzeptionelle Forschungsparadigma der Germanistik zu bieten vermag. Sei es nun die religiöse oder schöngeistige Literatur, zahlreiche königliche und behördliche Verordnungen oder die handschriftliche literarische Produktion - überall zeigen sich mannigfaltige Spuren der gegenseitigen Beeinflussung der Mehrheits- und Minderheitensprache(n). Ziel des folgenden Aufsatzes ist es, ein spezifisches Beispiel aus diesem kulturellen Grenzgebiet einem breiteren Publikum vorzustellen und das darin vorhandene Forschungspotenzial zu veranschaulichen. Das eigentliche Objekt unserer Erwägungen ist der literarische Nachlass des Pfarrers Christian Donelaitis 1 (1714-1780) aus Tollmingkehmen in Preußisch Litauen (heute Tschistyje Prudy im Kaliningrader Gebiet, Russland). Seine Texte bilden einen wichtigen Teil der deutsch litauischen Kulturbeziehungen und besitzen speziell für die Entwicklung der litauischen Literatur außerordentliche Bedeutung. 2 Donelaitis schrieb in beiden Sprachen: litauisch veröffentlichte er Mitte des 18. Jahrhunderts das umfangsreiche Jahreszeitengedicht Das Jahr (litauisch Metai ) sowie sechs originelle Fabeln. Die ersten Druckauflagen dieser Werke erfolgten allerdings erst einige Jahrzehnte nach dem Tode des Autors durch die Editionen des Professors der Königsberger Universität Ludwig Jedemin Rhesa: Das Jahr erschien im Jahr 1818, die Fabeln kamen 1824 heraus. Deutsch verfasste Donelaitis kirchliche und weltliche Poesie, von der leider nur drei kürzere Gedichte erhalten sind (im Weiteren werden wir uns eben diesen Texten zuwenden), in dieser Sprache zeichnete er ebenfalls seine autobiographischen Notizen Allerley zuverlässige Nachrichten für meinen Successor auf und führte ein umfangsreiches Pfarr-Archiv in Tollmingkehmen, welches zahlreiche unikale Urkunden aus Preußisch Litauen des 17.-18. Jahrhunderts beinhaltete. 3 Als ein zweisprachiger litauisch-deutscher Autor steht Donelaitis im Interessenfeld sowohl der litauischen als auch der deutschen Philologie und gehört zu den meisterforschten Schriftstellern der alten preußisch-litauischen Literatur. Dabei gilt, dass sein litauisch-sprachiges Schaffen (also Das Jahr und die Fabeln) bislang im Zentrum philologischer Untersuchungen stand, während sein deutscher literarischer Nachlass wesentlich weniger Aufmerksamkeit auf sich zog. Nicht zuletzt kam diese Disproportion durch spezifische, kulturgeschichtlich bedingte Rezeptionsumstände seines Schaffens zustande, die dazu führten, dass Von der Auferstehung des ehrlichen Amtmanns 53 seine litauische Dichtung in einem vorteilhaften Lichte wahrgenommen und beurteilt wurde: das Litauische war im 19. Jahrhundert vom akuten Aussterben bedroht, aus diesem Grunde sah man in der litauischen Poesie von Donelaitis, die sich durch außerordentliche Sprachqualitäten und einen beträchtlichen Textumfang auszeichnete, einen äußert wertvollen sprachlichen Schatz des bedrohten Litauischen. In diesem Zusammenhang konnte August Schleicher Das Jahr (in seiner eigentümlichen Rechtschreibung) mit folgenden Worten rühmen: „Beim lesen dieses meisterwerkes bedauert man innig, daß eine solche sprache zu grunde geht, one eine literatur zu besitzen, die an formvolkommenheit mit den werken der Griechen, Römer und Inder hätte wetteifern mögen“ (Schleicher VIII). Im Gegensatz dazu besaßen die deutschen Gedichte von Donelaitis keinen derart romantischen sprachlichen Edelrost und wurden mit einer gewissen Gleichgültigkeit vernommen. Sein erster Herausgeber Rhesa kommentierte die Situation folgendermaßen: Diese wenigen Zeilen geben uns zu erkennen, daß Donaleit auch auf dem deutschen Pindus kein Fremdling gewesen ist, indessen verstatteten die Mängel jener Zeit, als noch kein Klopfstock und Schiller aufgetreten waren, seiner deutschen Muse, noch nicht einen höheren Schwung zu nehmen. (Rhesa XX) Es ist wichtig, diesen spezifischen Rezeptionsaspekt hier genau zu vermerken: für das damalige Ostpreußen gilt in der Regel gerade das umgekehrte sprachliche Verhältnis als normal, d. h. man spricht von der übergeordneten Position des Deutschen gegenüber den lokalen Sprachen, wobei für den literarischen Genre- und Formtransfer das Litauische eindeutig als die passive, d. h. die rezipierende Seite des Kulturdialogs angesehen wird. Im Fall von Donelaitis scheint die Situation umgekehrt zu sein, da sein deutschsprachiges Schaffen weit im Schatten seiner litauischen Werke steht und in der Rezeption offensichtlich als minderwertig wahrgenommen wird. Wir werden uns dieser Situation noch einmal am Ende unserer Analyse zuwenden, an dieser Stelle genügt es lediglich hinzufügen, dass das von Rhesa eingeführte Rezeptionsmuster der donelaitischen Dichtung anachronistisch ist, da es stark von der romantischen Literaturphilosophie geprägt war, die sich zwar zur Zeit der ersten Druckauflage von Dem Jahr (1818) bereits als ein dominierendes Kulturelement etabliert hatte, in der Entstehungszeit der Werke von Donelaitis (Mitte 18. Jh.) jedoch noch keinerlei Gültigkeit besaß ( Joachimsthaler 8-10). Trotzdem drängte diese Frührezeption die deutschen Gedichte von Donelaitis für eine lange Zeit in den Hintergrund der Forschung: erst in letzten Jahren wurde dieser Teil seines Schaffens wiederum als Gegenstand für eine komplexe Interpretation entdeckt, die sich zum Ziel setzt, diese Texte in den adäquaten chronologischen und kulturellen Kontexten zu lesen. Dieser Aufsatz stellt den Versuch dar, eine neue 54 Vaidas Šeferis Betrachtungsperspektive auf diese Gedichte zu finden, um so deren bisherige Interpretationen zu erweitern und zu präzisieren. Donelaitis Schaffen erweist sich auf dem Feld der alten Philologie als ein Forschungsobjekt par excellence : die Quellenlage seiner Werke sowie ihre Überlieferungs-, Publikations- und Rezeptionsgeschichte ist derart kompliziert, dass eine adäquate Interpretation nur durch die komplexe, detektivartige Rekonstruktion der ursprünglichen Textfassung sowie der Kontexte, in welche seine Texte hineinproduziert wurden, möglich ist. Die Hauptschwierigkeiten, die man dabei zu überwinden versucht, entspringen einerseits der ungewissen Chronologie des literarischen Schaffens von Donelaitis und wurzeln andererseits in den äußerst spärlichen Angaben über die Entstehungsimpulse seiner Dichtung, bei der wir nur indirekt das von dem Schriftsteller angesprochene Zielauditorium zu ermitteln im Stande sind ( Joachimsthaler 13-19, Kessler 239-42). Der Forscher der deutschen Donelaitis-Dichtung begegnet also seinem Objekt in einer schwierigen, zugleich aber intellektuell herausfordernden Ausgangsituation. Es sind drei deutsche Gedichte von Donelaitis bekannt, die in der Fachliteratur den Konventionen gemäß durch ihre ersten Zeilen betitelt sind: Ihr Schatten schneller Zeit , Unschuld sey mein ganzes Leben und Der Gott der Finsternis. Alle drei Texte sind bereits seit dem 19. Jh. für die Donelaitis-Forschung bekannt und - die ungünstige Frührezeption einmal außer Acht gelassen - unzählige Male sowohl Deutsch als auch in litauischer Übersetzung zusammen mit dem weiteren deutschsprachigen Donelaitis-Nachlass publiziert worden. 4 Den spezifischen Rezeptionsumständen ist es allerdings zuzuschreiben, dass ungeachtet dieser umfangreichen Fachtextproduktion noch immer einige Aspekte in der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der deutschen Gedichte von Donelaitis bleiben, die mitunter unbemerkt geblieben sind und die einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf ihre Interpretation auszuüben vermögen. Der Schlüssel dafür liegt in der Analyse der Überlieferungsgeschichte der Texte, dank der wir heute im Stande sind, die verschollenen handschriftlichen Urquellen von Donelaitis bis zu einem gewissen Grad zu rekonstruieren, um dadurch neue interpretative Impulse für ein adäquates Lesen seiner Texte zu gewinnen. Bei dem Text Ihr Schatten schneller Zeit handelt es sich um zwei Auszüge aus einem längeren Gelegenheitsgedicht von Donelaitis, das in seiner Vollfassung leider nicht erhalten ist und dessen exakte Textgestaltung unbekannt bleibt. Das Gedicht ist lediglich durch die Publikation von Rhesa belegt, der es in seinem Vorbericht zur Erstausgabe des Hauptwerks von Donelaitis Das Jahr folgendermaßen beschreibt und zitiert: Von der Auferstehung des ehrlichen Amtmanns 55 Um den Geschmack, welcher in seinen deutschen Versen herrschte zu zeigen, stehe hier der Anfang einer poetischen Epistel an seinen Verwandten und Freund, den Amtsrath Donaleitis in Sommerau, um ihn, nach dem Verlust seiner Gattin, zu trösten: Ihr Schatten schneller Zeit, ihr leicht beschwingten Stunden! Du zwanzig Jahr hindurch empfundner Augenblick, Dein Nichts ist schon dahin, dein Alles ist verschwunden: Die Liebe ruft umsonst was sie geliebt zurück. - Doch seyd einmal verschmerzt, ihr unbarmherz’gen Schmerzen! Ihr Seufzer geht zur Ruh, ihr Thraenen haltet ein; Komm Freude, komm zurück zum gramverzehrten Herzen Und laße meinen Freund nun wieder froehlich seyn! Der buntbebluemte Mai erschien mit seinen Lenzen, Und ließ sein Galakleid an allen Orten sehn; Die Flora ging ihm nach mit ihren Blumenkränzen Und hieß den Balsamduft durch unsre Luefte wehn. Gleich toente Wald und Feld von muntern Fruelingsliedern, Und Groß und Klein erschien mit seinem Saitenspiel. Das Echo hoerte man in Wiederhall erwiedern, Bis es mit seinem Nichts in seinem Nichts zerfiel. etc. Und wie? soll nur ein Mensch allein sein Unglück zaehlen, Und ohne Muth und Trost auf seinem Posten stehn? O nein, ihm ist die Welt zum Paradies gegeben Und nicht wie Heraklit nur Thraenen drin zu seh’n. (Rhesa XIX-XX) Aufgrund dieses Fragments dürfen wir annehmen, dass es hier um zwei Bruchstücke des ursprünglichen Textes handelt (durch das Kürzel „etc.“ am Ende der 16. Zeile gekennzeichnet) und dass Rhesa die Zitate aus der Anfangssequenz des Textes entnommen hat, wobei die genaue textuelle Entfernung zwischen beiden zitierten Auszügen im Dunklen bleibt. Dieser Text erhielt erst in den zurückliegenden Jahren endlich seine Gültigkeit - nämlich als selbstständiges Forschungsobjekt durch ausführliche Studien von Dilytė und Kuzborska, in denen der Text getreu der oben angeführten Aussage Rhesas als Trostgedicht interpretiert wird: „[…] Ihr Schatten schneller Zeit wurde dem Verwandten und Freund - G. A. Donalitius, Amtsrat in Sommerau, zum Trost nach dem Verlust seiner Frau gewidmet“ (Kuzborska, Deutsche Gedichte von Donelaitis 160). 5 In der langen Rezeptionsgeschichte des Gedichts ist uns jedoch kein Versuch einer genaueren Datierung des Textes bekannt. Rhesa selbst hat keinerlei Zeitangaben hinsichtlich der Entstehung des Briefs in der Erstausgabe gemacht, und in den späteren Editionen wurde dieses Gedicht zu- 56 Vaidas Šeferis meist ohne Datierung abgedruckt und interpretiert. In der letzten Ausgabe der Donelaitis-Werke wird Ihr Schatten schneller Zeit nur vorsichtig als ein Text des Schriftstellers im hohen Alter bezeichnet und - chronologisch nah an den beiden anderen deutschen Gedichten von Donelaitis - in das Jahr 1774 datiert (Vaicekauskas, Krištopaitienė und Zubaitienė xxxix). Die fehlende exakte Datierung des Gedichts lässt sich freilich anhand der sekundären Quellen rekonstruieren. Hierfür steht die Biografie des Amtsrats Donalitius aus Sommerau zur Verfügung: sie ist bereits im Jahr 1793 im Druck erschienen (Krüger) und war für die Donelaitis-Forscher sehr wohl bekannt (Passarge 370; Gineitis, Donelaičių genealogija 119). Georg Albrecht Donalitius (1. 7. 1719 in Tilsit-20. 10. 1792 in Kurschen) war Amtsrat im königlichen Amt Sommerau in Preußisch-Litauen und jener Adressat, dem Donelaitis das Gedicht Ihr Schatten schneller Zeit widmete. Zwar werden in seiner Biografie weder der Dichter Donelaitis noch das Trostgedicht erwähnt, doch finden sich genaue Zeitangaben zum Eheleben des Amtsrats: Am 19ten September 1749 verehlichte er sich mit einer Tochter des Landrentmeisters Jester in Gumbinnen, lebte mit ihr bis zum 20sten Januar 1769 im Ehestande, da sie im Kinderbette starb, und erzeugte mit derselben funfzehn Kinder, wovon jetzt nur noch sieben leben, die aber alle versorgt sind. Am 20sten Julius 1769 verheiratete er sich wiederum mit Maria Barbara, einer Tochter des Cammer Registrator Schmidt in Gumbinnen, und erzeugte mit derselben drei Kinder, die jetzt noch unversorgt bei ihrer Mutter leben. (Krüger 8-9) Aufgrund dieser Angaben können wir das Gedicht Ihr Schatten schneller Zeit vorerst in das Jahr 1769 datieren, wobei das Todesdatum (20.01.1769) der ersten Ehefrau des Amtsrats George Donalitius als terminus post quem dient: sollte das Gedicht zum Trost nach dem Tode der Ehefrau des Amtmanns geschrieben sein, konnte dies lediglich nach diesem Datum geschehen sein. Die im Gedichttext erwähnten 20 vergangenen Jahre („Du zwanzig Jahr hindurch empfundner Augenblick“) stimmen mit den in der Biografie erwähnten Zeitangaben überein und verweisen eindeutig auf die Dauer der ersten Ehe des Amtsrats Donalitius 1749-1769. Alternative Deutungen dieser Textstelle sind kaum möglich, aus diesem Grunde erweist sich leider die Annahme Kuzborskas, das Gedicht sei 20 Jahre nach dem Tod der Ehefrau des Amtsrats als eine tröstende Erinnerung an diese entstanden ( Deutsche Gedichte von Donelaitis 166), als unbegründet. Wir möchten an dieser Stelle eine weitere Präzisierung der Entstehungszeit dieses Textes zur Diskussion stellen: Der Amtsrat Donalitius schloss auf den Tag genau ein halbes Jahr nach dem Tode seiner ersten Frau eine neue Ehe. Der Tod der ersten Gattin und die neue Hochzeit nur wenige Monaten später spiegeln Von der Auferstehung des ehrlichen Amtmanns 57 eine merkwürdige existentielle Situation, einen scharfen Gegensatz, der offenbar dem Kompositionsmuster des Gedichtes entspricht: diese zwei innerhalb eines kurzen Zeitabstands aufeinanderfolgenden Ereignisse bilden eine starke außertextuelle Referenz für jene semantischen Gegensätze, auf denen das Kompositionsschema dieses Textes beruht, vgl. „Doch seyd einmal verschmerzt, ihr unbarmherz’gen Schmerzen! / / Ihr Seufzer geht zur Ruh, ihr Thraenen haltet ein“. Der Inhalt und die Komposition des Gedichts zeugen davon, dass dieser Text von Donelaitis nicht allein das Unglück und den Tod reflektiert, um dem Adressaten den gebührenden Trost vor Augen zu führen, sondern hebt zugleich die glückliche, ja freudige Seite des Lebens hervor. Sowohl qualitativ wie auch quantitativ genommen transmittiert die Symbolik des Gedichtes weitaus mehr Freude als Trauer und sie beinhaltet zahlreiche Anspielungen auf das neugefundene Glück des verwitweten Amtsrats, welches in der Affirmation des Nicht-Allein-Seins zum Ausdruck kommt, z. B.: Komm Freude, komm zurück zum gramverzehrten Herzen Und laße meinen Freund nun wieder froehlich seyn! […] Und wie? soll nur ein Mensch allein sein Unglück zaehlen, Und ohne Muth und Trost auf seinem Posten stehn? O nein, ihm ist die Welt zum Paradies gegeben Und nicht wie Heraklit nur Thraenen drin zu seh’n. Angesichts aller oben beschriebenen Umstände scheint es uns angemessen, die Entstehung des Gedichts Ihr Schatten schneller Zeit in einen engen Zusammenhang mit der zweiten Hochzeit (20.07.1769) des Amtsrats Donalitius zu stellen und somit in den Juli 1769 zu datieren: der Text könnte entweder kurz vor der Hochzeit oder gleich nach dieser entstanden sein. Die neue Datierung findet Unterstützung auch in den oben erwähnten jüngeren Studien zu diesem Gedicht. Dilytė und Kuzborska weisen auf die Tendenz des Gedichtes hin, den Moment des Todes und der Trauer im Text gewissermaßen zu tilgen und das Fröhliche und Glückliche zu betonen. So merkt Dilytė (23) an: „Da der Autor den Adressaten ermahnt, den Gram zu vergessen und sich des Lebens zu erfreuen, kann man vermuten, dass der Brief nicht sofort nach dem Unglück, sondern mit einigem Zeitabstand geschrieben wurde.“ 6 Kuzborska ihrerseits spricht sehr überzeugend von der Zugehörigkeit des Gedichts zur anakreontischen Dichtung, welche wiederum vor allem Freude und Liebe thematisiert: Der Aussage nach gehört dieses Gedicht in die Konvention der Anakreontik, die die Freude an der Welt und am Leben zum Thema hatte, vor allem in der Darstellung der 58 Vaidas Šeferis Liebe, der Freundschaft und Geselligkeit, des Weingenusses und der Freude an der Natur. […] In diesem Sinne ist es das einzige Werk im Schaffen von Donelaitis, wo das Liebesthema leicht berührt wird.“ ( Deutsche Gedichte von Donelaitis 166-7) 7 Derartige Aspekte des Gedichts lassen sich viel natürlicher unter Berücksichtigung der zweiten Ehe des Amtmanns Donalitius deuten. Die zitierte Angabe Rhesas, nach welcher der Text als ein Trostbrief geschrieben wurde (Rhesa XIX), kann nicht als Gattungsdefinition gelten: Rhesa interpretierte Donelaitis mehrmals ziemlich willkürlich entsprechend seinen aktuellen kulturideologischen Bedürfnissen (vgl. Joachimsthaler 8-11), somit ist auch seine Aussage zum Gedicht Ihr Schatten schneller Zeit mit gewissen Vorbehalten zu genießen. In diesem Zusammenhang erscheint es notwendig, auf einen weiteren bislang nicht diskutierten Aspekt der Textüberlieferung von Ihr Schatten schneller Zeit aufmerksam zu machen. Zwar wissen wir nicht, aus welcher Quelle Rhesa den Donelaitis-Brief in seiner Ausgabe von 1818 zitierte, doch ist es mehr als wahrscheinlich, dass er ihn im Nachlass des Dichters unter anderen Schriftstücken gefunden hat. In jedem Fall kann es sich nicht um jenes Exemplar gehandelt haben, welches der Schriftsteller dem Adressaten übergeben hatte: Rhesa arbeitete ausschließlich mit dem Nachlass des Tollmingkehmischen Donelaitis und nicht mit jenem des Amtsrats aus dem Sommerau. Folglich ging es um ein Schriftstück, welches der Dichter bei sich aufbewahrt hatte. Insofern lässt sich bei aller Vorsicht die Hypothese formulieren, dass Donelaitis das Gedicht dem Adressaten in der schriftlichen Form gar nicht übergab, sondern es mündlich auf der Hochzeit vortrug. Dies stünde im Einklang mit dem kulturellen Kontext jener Zeit, in der die mündliche Textüberlieferung noch in voller Blüte stand ( Joachimsthaler 13-14) und würde auch der bekannten Praxis von Donelaitis entsprechen, seine Dichtung dem Publikum mündlich vorzutragen, vgl. den Brief von Donelaitis an seinen Confrater Johann Gottfried Jordan vom 16.08.1776, in dem Donelaitis explizit hierüber spricht (Vaicekauskas 61-64). Ein solcher Perspektivwechsel in der Rezeptionsgeschichte dieses Textes scheint angemessen zu sein, wobei Ihr Schatten schneller Zeit unter diesem Betrachtungswinkel weit eher als ein Hochzeitsgedicht und nicht als ein Trostbrief zu bezeichnen ist. Somit können wir nicht nur die exakte Entstehungszeit des Gedichts feststellen, sondern auch die Gattungsmerkmale dieses Textes innerhalb des Funktionsspektrums der Gelegenheitsliteratur präzisieren. Das Gedicht Unschuld sey mein ganzes Leben entstammt dem Taufbuch der Tollmingkehmischen Kirche für die Jahre 1755-1773, wo es von Donelaitis am Ende der Taufangaben für das Jahr 1760 eingetragen wurde. Das Taufbuch selbst gilt als verschollen (mehr dazu Schiller 12-14), deshalb ist der Gedichttext nur durch die Erstausgabe von Franz Tetzner aus dem Jahre 1896 gesichert (Tetzner, Die Von der Auferstehung des ehrlichen Amtmanns 59 Tolminkemischen Taufregister 29). 8 Für unsere weiteren Erwägungen zu diesem Text ist es wichtig, sich streng an die von Tetzner (wieder)gegebene Form der dem Taufbuche entnommenen Einträge für das Jahr 1760 zu halten, aus diesem Grunde bedienen wir uns hier des Faksimiles aus der Altpreußischen Monatsschrift (Abb. 1). Abb. 1: Tetzner, die Donelaitischen Einträge im Taufbuch 1755-1773 für das Jahr 1760 Die abgebildete Textfassung zeigt deutlich, dass Tetzner die Taufbucheinträge nicht komplett wiedergab, sondern mit ausgewählten Inschriften arbeitete, welchen er aus mehreren Gründen (die er allerdings nirgendwo definierte) einen größeren kulturgeschichtlichen Wert zusprach. Für die Donelaitis-Einträge aus dem Jahr 1760 erachtete Tetzner es als notwendig, neben dem Gedicht Unschuld sey mein ganzes Leben noch den Kommentar über den Amtmann Boltz (die ersten zwei Zeilen im Faksimile) und den Nachtrag von Donelaitis für seinen Nachfolger im Pfarramt (die drei letzten Zeilen des Faksimiles) in die Publikation einzubeziehen. (Bei den in eckigen und runden Klammern angeführten Textfragmenten im Faksimile selbst handelt es sich um Tetzners Kommentare, mit welchen er üblicherweise die publizierten Quellen häufig ausstattete.) Das Gedicht Unschuld sey mein ganzes Leben hat sich erst vor kurzem als ein selbständiges Forschungsobjekt etabliert, indem es von Kuzborska ausführlich beschrieben und interpretiert wurde ( Deutsche Gedichte von Donelaitis 160-164; Donelaitis als deutscher Dichter 103-107). Ihre Analyse stellt dieses Gedicht in den Kontext der europäischen Glaubens- und Konfessionsproblematik des 18. Jh. und offenbart darin den Ausdruck der pietistischen Denkprägung des Dichters: 60 Vaidas Šeferis Das Gedicht Unschuld sey mein ganzes Leben ist also ein Fazit des unschuldigen Lebens, dessen Schuld-Rhetorik laute Tugend und Redlichkeit bedeutete. Dieses Gedicht ist ein pietistisches Bekenntnis von Donelaitis, das in seinen Metai an keiner Stelle so offen artikuliert wurde. (Kuzborska, Deutsche Gedichte von Donelaitis 164) Als bedeutsam erweist sich darüber hinaus die spezifische emotionale Prägung des Gedichts, in der Kuzborska eine konventionelle - Donelaitis als Albertina- Student vermittelte - Ausdrucksform des pietistischen Gefühlchristentums erkennt (vgl. Kuzborska, Deutsche Gedichte von Donelaitis 161): Eine wahre Frömmigkeit - „Pietät“ - sei eine Herzensangelegenheit. „Ein redliches Leben“, wie es Donelaitis versteht, ist ebenso die Priorität des Herzens: „sey mein ganzes Herz bereit“; […] Das Gedicht gibt außerdem ein pietistisches ‚Liebesgeständnis‘ wieder, das sonst in seinen Texten niemals zum Ausdruck gebracht wurde: „Gott und Menschen ohne Schein zu lieben“. (Kuzborska, Deutsche Gedichte von Donelaitis 162) Das problematische Moment in der Rezeptionsgeschichte von Unschuld sey mein ganzes Leben sollte man in der älteren Fachliteratur suchen, nämlich in einer kurzen, in seiner interpretativen Wirkung jedoch ausschlaggebenden - 1977 von Leonas Gineitis geäußerten - Aussage über die Entstehungsgründe des Textes. Gineitis bemühte sich, die Entstehung des Gedichts in einem inhaltsrelevanten Zusammenhang mit weiteren Einträgen von Donelaitis im Taufbuch für das Jahr 1760 zu beschreiben. Dabei gelangte er zu folgendem Schluss: Das Gedicht wurde von Donelaitis 1774 bei der Erinnerung des Todes seines Freundes, Amtmanns von Waldaukadel F. Boltz, geschrieben, und wurde neben dem Todeseintrag des letzteren (31.10.1760, Eintrag Nr. 129) in dem Taufbuch der Tollmingkehmischen Kirche für die Jahre 1755-1773 eingeschrieben. (Gineitis, Komentarai 391) Dieser These nach soll es sich bei dem Text Unschuld sey mein ganzes Leben um ein Trauergedicht gehandelt haben, in welchem die herausragenden Charaktereigenschaften des verstorbenen Amtmanns und guten Freunds von Donelaitis zur Geltung kommen. Dieses von Gineitis vorgeschlagene Schema der (kon)textuellen Zusammenhänge der Taufbucheinträge fand auch in die spätere Forschung Eingang (Kuzborska, Deutsche Gedichte von Donelaitis 160, Donelaitis als deutscher Dichter 103; Vaicekauskas, Krištopaitienė und Zubaitienė xxxi, xxxix). Betrachten wir nun diese Aussage von Gineitis unter dem Blickwinkel der Textüberlieferung des verschollenen Taufbuchs etwas genauer. Von der Auferstehung des ehrlichen Amtmanns 61 Bei dem Kommentar über Boltz („ 129. 31. Okt. Herr Amtmann Frantz Boltz - war ein feiner Kopf und ein Freund der Religion“) kann es sich keinesfalls um einen Todeseintrag gehandelt haben. Dagegen spricht nämlich, dass Boltz im Jahr 1760 ohne Zweifel noch am Leben war, zumal zwei Jahre später, nach seinem „wiederholten Begehren“, Donelaitis eine offizielle Mitteilung während des Gottesdienstes in Tollmingkehmen vorlesen und den Gemeindemitgliedern Boltzens Recht auf einen speziellen Stand in der Kirche in Erinnerung gebracht werden sollte (Tetzner, Neue Donalitiana 306). 9 Darüber hinaus wurden die Angaben über die verstorbenen und getauften Gemeindemitglieder damals in Tollmingkehmen, ebenso wie in allen anderen preußischen Pfarreien, strikt separat und keineswegs miteinander vermischt behandelt (im Sächsischen Staatsarchiv Leipzig wird unter der Signatur BA106 die Abschrift des Alphabetischen-Sterbe-Registers der Kirche zu Tollmingkehmen de Anno 1753 aufbewahrt). Es ist daher ausgeschlossen, dass es bei dem in ein Taufbuch eingetragenen Boltzschen Kommentar um einen Todeseintrag gehandelt haben könnte. Gineitis gelangte zu dieser falschen Interpretation wahrscheinlich durch die nächste, von Tetzner wiedergegebene Zeile des Taufbuchs (s. das Faksimile): „ 136 . (Schlussnummer) Es starben 24 + 27 = 51“. Da diese Zeile in der Textfassung Tetzners gleich nach dem Boltzschen Kommentar folgt und von den Verstorbenen spricht, leitet Gineitis daraus einfach einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen beiden Inschriften ab und interpretiert den Kommentar als Todeseintrag. Die verfügbaren kontextuellen Angaben zeigen jedoch, dass es in dem verschollenen handschriftlichen Original des Taufbuchs einen gewissen Textabstand zwischen beiden Inschriften gegeben haben muss: Boltz ist beim Eintrag 129 erwähnt und die Zahlen der Verstorbenen folgen erst unter der Nummer 136. Zwischen beiden Textsegmenten befanden sich also noch 5 Taufeinträge, die Tetzner leider nicht wiedergegeben hat. Die räumliche Distanz zwischen beiden Segmenten im Manuskript selbst muss folglich beträchtlich gewesen sein. Um uns ein genaueres Verständnis davon vor Augen zu führen, kann man das einzig erhaltene Taufbuch aus Tollmingkehmen für die Jahre 1725-1754 hinzuziehen, welches uns ein exaktes Bild von Umfang und Anordnung der Taufeinträge von Donelaitis liefert. 10 Mit seinem spezifischen Format 12 x 35 cm erweist sich das Taufbuch als ziemlich schmal, wobei auf jeder Seite durchschnittlich 3 oder 4 Taufeinträge verzeichnet sind (Abb. 2). 62 Vaidas Šeferis Abb. 2: Donelaitis, Taufeinträge aus dem Jahr 1747 Es besteht keinerlei Zweifel, dass auch das verschollene Taufbuch für die Jahre 1755-1773 in gleicher Weise geführt wurde. Man kann somit annehmen, dass es zwischen dem Kommentar über Boltz und dem Schlusseintrag Nr. 136 (dem noch das Gedicht Unschuld sey mein ganzes Leben folgt) minimal eine Von der Auferstehung des ehrlichen Amtmanns 63 vollbeschriebene Seite mit weiteren Einträgen gab, oder eher, dass sich beide Textsegmente auf zwei verschiedenen Seiten befanden. Vom graphischen Sichtpunkt aus gesehen besteht also kein Grund, diese Textsegmente als miteinander verbundene Inschriften wahrzunehmen: ihre texträumliche Nähe ist lediglich in der Tetznerischen Textfassung vorhanden und darf nicht auf das handschriftliche Original bezogen werden. Was die in dem Eintrag Nr. 136 angegebenen Zahlen der Verstorbenen anbetrifft, handelt es sich dabei um die Statistik der verstorbenen Kinder für das Jahr 1760: konkret geht es um 24 Jungen und 27 Mädchen, vgl. ähnliche Einträge für die Jahre 1753, 1754, 1756, 1757 (Tetzner, Die Tolminkemischen Taufregister 25-26). Diese Zahlen stellen einen systematisch von Donelaitis behandelten statistischen Parameter dar und erscheinen häufig neben der Zahl der getauften Kinder, zumal sich erst aus ihrer Summe ein realer Zuwachs der Kirchgemeinde ergibt. Tetzner seinerseits zeigte ein reges Interesse für diese Angaben und hat diese deshalb in seine Publikation einbezogen. 11 In jedem Fall besteht kein Zusammenhang zwischen dieser Statistik und den Lebensdaten des Amtmanns Boltz. Die oben dargestellten Textüberlieferungsaspekte zeigen eindeutig, dass man zwischen den Einträgen Nr. 129 (Boltz) und 136 (Kinderstatistik) weder einen texträumlichen noch einen inhaltlichen Zusammenhang postulieren kann. Mit größter Wahrscheinlichkeit handelte es sich bei dem Eintrag Nr. 129, neben dem Donelaitis den Kommentar über den Amtmann Boltz schrieb, um den Taufvermerk eines unbekannten Kindes (der eigentliche Taufeintrag ist von Tetzner nicht überliefert), in dem Boltz entweder als Vater oder als Pate erschien. Mit dem in dieser Weise „auferstandenen“ Boltz bricht nun endgültig die Annahme von Gineitis zusammen, das Gedicht Unschuld sey mein ganzes Leben sei als eine Erinnerung an den verstorbenen Amtmann verfasst worden. Eine solche Interpretation lässt sich weder durch den Text noch durch den Kontext der Taufeinträge für das Jahr 1760 begründen. Bemerkenswert erscheint, dass auch Tetzner nirgendwo von einem biographischen, inhaltlichen oder einem anderen Zusammenhang dieser zwei Einträge spricht. Alle vorhandenen Angaben deuten darauf hin, dass der Kommentar über Boltz überhaupt in keinem inhaltsrelevanten Verhältnis zum Gedicht Unschuld sey mein ganzes Leben steht. Beide Inschriften sind unabhängig voneinander zu lesen und zu interpretieren, und die von Gineitis ins Spiel gebrachte Interpretation schlicht als ein Missverständnis zu bezeichnen. Im Gegensatz dazu besitzt der gleich sich dem Gedicht anschließende, an den zukünftigen Nachfolger gerichtete Nachtrag von Donelaitis für die Erklärung der Entstehungsimpulse und Datierung von Unschuld sey mein ganzes Leben entscheidende Bedeutung: „NB. Mein Bruder, mein Nachfolger, denke an mich, 64 Vaidas Šeferis wenn Du dieses liesest. Uebe Dich allenthalben, redlich und treu zu seyn. Wir werden uns an jenem großen Tage sehn. 1774“. Der Verweis „wenn Du dieses liesest“ deutet auf ein klares metatextuelles Verhältnis zwischen Kommentar und Gedicht und ermöglicht somit, die nach dem Kommentar angeführte Jahreszahl 1774 als die Entstehungszeit des Gedichts zu bezeichnen, vorausgesetzt, beide Segmente wurden in einem Atemzug niedergeschrieben. Nachdem sich die von Gineitis vorgeschlagene Erklärung der Entstehungsimpulse des Gedichts als unzutreffend erwiesen hat, bleibt die Frage offen, was der wahre Anlass für die Entstehung dieses Verses gewesen sein könnte? Für die Beantwortung dieser Frage besitzt die Platzierung des Textes im verschollenen Taufbuch große Bedeutung. Tetzner bezeichnet den Eintrag Nr. 136 als Schlussnummer, hier endeten also die Taufvermerke für das Jahr 1760. An dieser Stelle verbinden sich zwei besondere Textaspekte miteinander: zum einen zeugt die Textgliederung des erhaltenen Taufbuchs von 1725-1754, dass mitunter (jedoch keineswegs regelmäßig) ein leerer Platz nach dem letzten Jahreseintrag auf der Seite verblieb, zumal die Einträge für das darauffolgende Jahr auf einer neuen Spalte oder Seite begannen; zum anderen erweist sich die Schwelle zum neuen liturgischen Jahr als eine stark symbolisch markierte Stelle des Taufbuches, die klar für einen Kommentar geeignet scheint. Im überlieferten Buch aus Tollmingkehmen sieht man, dass wo immer nur die erste Bedingung - also ein leerer Platz auf der Seite des Jahresendes - erfüllt war, Donelaitis seine Kommentare und Nachträge hinzufügte: diese wurden von ihm ex post bei einer Revision des Pfarrarchivs im Zeitraum zwischen 1772 und 1775 eingetragen und wenden sich oft an seinen damals noch unbekannten zukünftigen Nachfolger im Pfarramt. Diese zeitlich dem Unschuld sey mein ganzes Leben nahestehende Schicht der Jahresendkommentare bildet den relevanten Interpretationskontext für das Gedicht: Mi Successor! Gedenke oft bey Führung deines Amtes an die Worte Petri 1. P. 54, 2. 3. 4. Gedenke an meinen Staub und daß du alles verantworten mußt. 1772. (Tetzner, Die Tolminkemischen Taufregister 23) Mi successor! Laß doch deine Söhne, wenn du welche hast und der Theologie widmen willst, fein zeitig littausch lernen, damit sie der Gemeine Gottes in Litt. ordentlich vorstehen können. […] 1773. (Tetzner, Die Tolminkemischen Taufregister 23) Höre mein geehrter Nachfolger! was mein Staub dir zuruft. Führe dein Amt redlich als ein rechtschaffener Knecht Jesu und denke oft an flg. Sprüche: Matth. 5, 9-12; 19, 27 ff. 1 Cor. 4, 1. 1. Petr. 5, 2. 3. 4. Apoc. 20, 11 f. 1773 den 21. Dec. notam. (Tetzner, Die Tolminkemischen Taufregister 27) Von der Auferstehung des ehrlichen Amtmanns 65 Das Gedicht Unschuld sey mein ganzes Leben und der sich daran anschließende Nachtrag für den Nachfolger fügen sich reibungslos in die oben angeführten Belehrungen ein. In derselben Zeit (1773) beginnt Donelaitis auch seine autobiographischen Notizen, die Allerley zuverlässigen Nachrichten für meinen Successor niederzuschreiben, welche ebenfalls eine Fülle von den Ermahnungen, Warnungen und Ratschläge sowohl geistlichen als auch praktischen Charakters von Donelaitis für denselben imaginären Adressaten, nämlich seinen Nachfolger, beinhalten. Deshalb ist das im Gedicht Unschuld sey mein ganzes Leben geformte Menschenbild vor allem unter dem Blickwinkel der didaktischen Textfunktion zu lesen. Die Aussage des Gedichts ist somit nicht an das quasi autobiographische Subjekt (das donelaitische ich ) als ein idealisiertes Selbstporträt gebunden, sondern sie stellt ein Beispiel, ein ideales Bild dar, welches dem Nachfolger vorgezeichnet wird: so soll sich ein rechter Pfarrer benehmen, schaffst du es? Erst die nach dem Gedicht im Kommentar folgenden Worte „denke an mich, wenn Du dieses liesest“ knüpfen an die sekundäre interpretative Isotopie an, wo der Sprecher es wagt, sich selbst neben dieses Exemplum zu stellen und sich dadurch das ethische Ideal zumindest indirekt zu eigen zu machen. 12 Der Entstehungskontext und der Aussagecharakter des dritten deutschen Gedichts von Donelaitis, Des Gottes der Finsternis , steht dem Gedicht Unschuld sey mein ganzes Leben sehr nahe. Der Gott der Finsternis befindet sich unter den hier schon mehrfach erwähnten autobiographischen Notizen des Dichters Allerley zuverlässige Nachrichten für meinen Successor : dieser handschriftliche „Convolut Pack Nachrichten“, wie es Donelaitis selbst bezeichnete (Donelaitis, Amtsbericht 17), bestand aus 20 kleineren Kapiteln, wobei Der Gott der Finsternis im 14. Kapitel enthalten ist. Auch in diesem Fall gilt die handschriftliche Quelle als verschollen und der Text ist nur durch Tetzners Publikation überliefert, wo er folgendermaßen lautet: Der Gott der Finsternis, der abgefeimte Teufel, Erbauet gern den Thor durch eingehaute Zweifel, Und dieser ranzt sogleich den Unflath in ein Buch; Zum Leyd der Redlichen, und seinem eignem Fluch. Die Hölle freuet sich bey diesen Kindesnöthen, Und jauchzet, wenn sie sieht den Trost des Glaubens tödten, Drauf fährt die Pestilenz, mit der verdammten Schrift, Aus des Verlegers Hand in alle Welt wie Gift (Donelaitis, Amtsbericht 25) 13 Es zeigt sich, dass die vor kurzem festgestellte interpretative Isotopie zwischen den Kommentaren in den Taufbüchern und dem Unschuld sey mein ganzes Leben 66 Vaidas Šeferis auch auf Den Gott der Finsternis ausgedehnt werden kann. Für diesen Zweck es ist wichtig, die Frage nach der Entstehungszeit dieses Gedichts und dem narrativen Kontext, in welchen es hineinproduziert wurde, zu stellen. Die Entstehungszeit Des Gotts der Finsternis kann nur indirekt anhand der chronologischen Angaben an anderen Stellen der Nachrichten ermittelt werden. Der Gott der Finsternis findet sich am Ende des 14. Kapitels ohne jegliche Zeitangaben, somit bilden die Termini post quem und ante quem, die sich im 12. bzw. im 16. Kapitel befinden und deren Chronologie man anhand der Donelaitis-Aussagen relativ exakt berechnen kann, den Datierungsreferenzrahmen. Im 12. Kapitel heißt es: „Da ich dieses schreibe, bin ich 60 ½ Jahr alt und noch recht munter“ (Donelaitis, Amtsbericht 23). Mit Blick auf diese Information und das Geburtsdatum von Donelaitis (01.01.1714) gibt Tetzner die Entstehungszeit des 12. Kapitels als den 1. 7. 1774 an (Tetzner, Zum zweihundertjährigen Geburtstag 186). Es scheint jedoch unbegründet, die Donelaitis-Aussage derart haargenau auf den Tag festzulegen, so dass die Datierung etwas relativiert werden sollte: dieses Kapitel könnte irgendwann Anfang Juli 1774 entstanden sein. Am Beginn des 16. Kapitels finden wir dann folgende Angabe: „16) NB. Soweit war ich Anno 1775, in meinem 62sten Lebensjahre, mit meinen Nachrichten gekommen; als mit einemmal ein Lärm wegen des Kirchenlandes […] erreget wurde, […]“ (Donelaitis, Amtsbericht 27). Die zitierten Zeitangaben beziehen sich in diesem konkreten Fall auf die Entstehungszeit des vorhergehenden Kapitels Nr. 15 und dürfen nicht mit der eigentlichen Schreibzeit des 16. Kapitels verwechselt werden: diese hat Donelaitis mit der ihm üblichen Pünktlichkeit einige Absätze weiter notiert („Scripsi 1778 d. 2. Aprilis am Donnerstag nach Mittag“; Amtsbericht 28). Der erwähnte Streit um den kirchlichen Grund und Boden verweist auf den Prozess der Gütertrennung zwischen der Tollmingkehmischen Pfarrei und dem dortigen königlichen Vorwerk, der mit dem offiziellen Schreiben des Insterburgischen Justiz-Collegii an Donelaitis vom 24. Juli 1775 begann (Tetzner, Christian Donalitius 295), woraus folgt, dass das 15. Kapitel der Allerley zuverlässigen Nachrichten vor diesem Schreiben, also spätestens Mitte Juli 1775, entstanden sein muss. Was die Entstehungszeit des 12. und 15. Kapitels betrifft, sind wir nun in der Lage, die Datierung des Gedichts Der Gott der Finsternis (im 14. Kapitel) festzulegen: es könnte zwischen Anfang Juli 1774 und Mitte Juli 1775 geschrieben worden sein. Manche Forscher arbeiten in diesem Fall mit etwas exakteren Zeitangeben: so identifiziert Tetzner die Entstehung des Gedichts mit dem Jahr 1775 ( Zum zweihundertjährigen Geburtstag 267), während Kostas Doveika die Entstehung des Gedichtes in die Zeit „kurz vor dem Beginn des Jahres 1775“, also in das Jahresende 1774, rückt (Doveika 343); in beiden Fällen lässt sich jedoch keine Argumentation für solche Entscheidung finden. Anhand der überliefer- Von der Auferstehung des ehrlichen Amtmanns 67 ten Quellen verfügen wir über keinerlei Möglichkeit, das Entstehungsdatum des Gedichts genauer als auf ein Jahr ( Juli 1774-Juli 1775) zu datieren; dies erweist sich jedoch als ausreichend, um Den Gott der Finsternis in den gleichen Zeitabschnitt wie die Entstehung von Unschuld sey mein ganzes Leben und der Kommentare in den Taufbüchern einzuordnen. Was den narrativen Kontext Des Gotts der Finsternis anbelangt, ist bei ihm, ähnlich wie im Fall der Unschuld , eine Beziehung zu den Kommentaren in den Taufbüchern klar erkennbar, vgl.: NB.: Zu meiner Zeit nahm schon die Freygeisterey in Preußen sehr überhand; auch manche Geistlichen warens (? ). 1 Cor. 13, 1. (Tetzner, Die Tolminkemischen Taufregister 28) NB.: Bey der überhand nehmenden Freygeisterei und Unglauben zu meiner Zeit habe ich oft an flg. Schriftstellen gedacht Luc. 18, 8. 23. Marc. 13, 21-23. Joh. 6, 66. Röm. 11, 3. 16. 2 Tess. 2, 3-12. 1. Tim. 4, 1. -4, 3, 4. - 3,1. - 2 Petri 3, 3 ff. - Jud 10 ad finem Ap. 16, 15. 20, 11 ff. NB. Hat sich Paulus und andere Bekenner Jesu umsonst martern lassen Matth. 10, 16 ff. (Tetzner, Die Tolminkemischen Taufregister 28) Zu meiner Zeit verfiel die Gottseligkeit in der Art, daß auch Prediger ohne Scheu um Geld lombrierten und das Diebesgeld in die Tasche steckten. Merke dieses Nachwelt. (Tetzner, Die Tolminkemischen Taufregister 30) Den semantischen Kern dieser Aussagen bildet die sich mit der aufklärerischen Weltanschauung einhergehende Verbreiterung der Freigeisterei, welche in ihrer Auswirkung zu einer dramatischen inneren und äußeren Bedrohung der Autorität der Kirche führt. In seinen Allerley zuverlässigen Nachrichten macht Donelaitis ebenfalls Anspielungen an die rhetorischen Angriffe, derer sich ein redlicher Pfarrer in seiner Zeit zu erwehren hatte: Wir müssen […] Niemand ärgern, damit das Christentum zu dieser ungläubigen Zeit nicht verlästert werde. […] Denn uns nimmt man alles übel, und wenn es bisweilen noch so unschuldig ist. […] NB. Ein jeder lauert darauf zu unserer Zeit und macht sich einen jeden Fehltritt des armen Predigers zu Nutze, um ihn zu lästern und zu verfolgen. (Donelaitis, Amtsbericht 23-24) Das unmittelbar diesen Klagen folgende Gedicht Der Gott der Finsternis thematisiert eben eine solche Situation der Bedrohung und Gefahr für die wahre Christlichkeit, allerdings mit dem Unterschied, dass die feindlichen rhetorischen Angriffe diesmal nicht durch (anonyme) Bekenner der Freigeisterei, sondern durch das Druckmedium drohen, vgl. „Drauf fährt die Pestilenz, mit der verdammten Schrift, / Aus des Verlegers Hand in alle Welt wie Gift“ (Donelaitis, 68 Vaidas Šeferis Amtsbericht 25). Der Gott der Finsternis erweist sich somit im Kontext der vorher angeführten Donelaitis-Kommentare in den Taufbüchern und den Allerley zuverlässigen Nachrichten als eine konsequent fortgeführte, literarisch gesteigerte Kritik der Freigeisterei und Gottlosigkeit. Kuzborska hat eine detaillierte Analyse dieser Konfliktsituation und ihrer kontextuellen Zusammenhänge in ihrer Studie vorgelegt ( Deutsche Gedichte von Donelaitis 171-176). Die Forscherin interpretiert das Gedicht nicht als eine situationsbedingte Aussage von Donelaitis über eine konkrete „verdammte Schrift“ (etwa ein Werk von Voltaire oder Rousseau, wie es Gineitis vorgeschlagen hat, s. Gineitis, Komentarai 391), sondern sie sucht den Prätext des Gedichts in der Publizistik der deutschen Frühaufklärung am Anfang des 18. Jahrhunderts (Kuzborska, Deutsche Gedichte von Donelaitis 172). Dabei entdeckt sie, dass Der Gott der Finsternis in einem offenkundigen stilistischen Einklang mit der Rhetorik des damaligen konservativen Pietismus steht: die von orthodoxen Pietisten heftig bekämpfte aufklärerische Presse (Kuzborska analysiert die Situation um die Hamburger Zeitschrift Der Patriot , 1724-1726) wurde damals mit einem ähnlichen rhetorischem Wortarsenal angegriffen, welches wir im Gott der Finsternis entdecken, vgl. die von Kuzborska angeführten Beschimpfungen Des Patriots : „ein Teufel, dessen Anschläge ein Fluch und Pestilenz sind; ein vom Höllischen Fieber unsinniger Pasquillant“ etc. (Kuzborska, Deutsche Gedichte von Donelaitis 173). Das Gedicht Der Gott der Finsternis ist also als eine kultur-theologische Aussage zu verstehen, in welcher Donelaitis seine konservative, pietistisch geprägte und eindeutig gegenaufklärerische Weltanschauung zum Ausdruck bringt. Die einzige Frage, auf die Kuzborska’s Interpretation keine eindeutige Antwort liefert, ist der markante zeitliche Abstand zwischen den aufklärerischen Debatten vom Beginn des 18. Jahrhunderts und der Entstehungszeit Des Gotts der Finsternis (1774/ 1775): Desto erstaunlicher ist es, da die Polemik zu seiner Zeit nicht mehr aktuell war. Wie Donelaitis an die alten Flugschriften gelangte, warum er […] den alten Zwist auffrischen wollte, warum er diese konservativen Gedanken so ordentlich poetisch bearbeitet hat - diese und andere Fragen bleiben offen. (Kuzborska, Deutsche Gedichte von Donelaitis 175) Die in unserer Analyse vorgenommene chronologische und gattungs-funktionelle Umgestaltung der deutschen Gedichte von Donelaitis erlaubt hier eine Erklärung anzubieten, die sich auf die intertextuellen Beziehungen seines Schaffens beruft. Unschuld sey mein ganzes Leben und Der Gott der Finsternis erscheinen bei näherer Betrachtung als zwei eng miteinander verbundene dichterische Äußerungen von Donelaitis, die nicht allein im chronologischen Sinne einan- Von der Auferstehung des ehrlichen Amtmanns 69 der nahestehen, sondern auch inhaltlich aufeinander bezogen sind, indem das erste Gedicht das christliche Ideal und das zweite die Bedrohung der Kirche rhetorisch veranschaulichen. Beide Texte stehen in der Konvention des pietistischen Gefühlchristentums, nur basieren ihre Aussagen auf entgegengesetzten emotiven Haltungen: wurde Unschuld sey mein ganzes Leben als ein Bekenntnis zu der „liebenden“ Christlichkeit verfasst, so äußert sich im Gott der Finsternis der Hass auf die Feinde des wahren Glaubens. In beiden Fällen ist es aber eben die Emotion (Liebe oder Hass), die den rhetorischen Impetus vorantreibt. Die lebensphilosophischen Aussagen von Donelaitis zeichnen sich also durch einen hohen Grad des Affekts aus, was in einem klaren Kontrast zur aufklärerischen Rationalität steht. Zudem verrät die Analyse der verfügbaren chronologischen Daten, dass beide Gedichte einem breiteren intertextuellen Netz des deutschsprachigen schriftlichen Nachlasses von Donelaitis angehören, durch das man die literarische Aktivität des Schriftstellers in den Jahren 1773-1775 zurückverfolgen kann und in welchem diese zwei Donelaitis-Gedichte - zusammen mit den Kommentaren in den Taufbüchern und mit den Allerley zuverlässigen Nachrichten - als Teile eines spezifischen, in mehreren Quellen verstreuten, jedoch inhaltlich und chronologisch kohärenten didaktischen Narrativs, welches die akute Bedrohung der wahren Christlichkeit thematisiert, erscheinen. Die Tatsache, dass die von Donelaitis in diesem Narrativ verwendete Rhetorik in den theologischmoralischen Debatten der Frühaufklärung wurzelt und in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts eigentlich als veraltet gelten sollte, kann durch die Prinzipien der kulturellen Dynamik erklärt werden: in Kulturzentren wie Berlin oder Hamburg galten die Aufklärungsideen am Ende des 18. Jahrhunderts als ein selbstverständliches Werteparadigma, in der tiefen Provinz Ostpreußens hingegen war die pietistische Denkprägung noch immer stark, und Donelaitis konnte die ständig herannahende rationale, „herzenslose“ aufklärerische Ideenwelt sicherlich als eine akute, gegenwärtige Gefahr empfinden. Der Redestruktur nach konzentriert sich das Donelaitische Narrativ auf die Figur des Pfarrernachfolgers, eines imaginären Rezipienten, auf den der Sprecher seine gesamten Äußerungen ausrichtet und gegenüber dem er seine Lebenserfahrung bilanziert, um ein konservatives, stark pietistisch geprägtes Wertparadigma, ein Tugendsystem zum Ausdruck zu bringen, welches als ein Kampfmittel gegen den „abgefeimten Teufel“ der Aufklärung dienen soll. Versuchen wir nun die Ergebnisse dieser Fallstudie im Allgemeinen zu betrachten, um das am Beginn unserer Ausführungen erwähnte Forschungspotenzial zu veranschaulichen. Vom gattungstheoretischen Sichtpunkt aus gestattet unsere Analyse eine deutlich sichtbare Umstrukturierung der deutschen Gedichte 70 Vaidas Šeferis von Donelaitis: die Präzisierung der Entstehungszeit von Der Schatten schneller Zeit macht deutlich, den Status eines Gelegenheitsgedichts bei diesem Text beizubehalten, die Gattungsmerkmale eines schriftlichen Trostbriefes werden hier jedoch zugunsten eines mündlich vorgetragenen Hochzeitsgedichts aufgegeben. Demgegenüber darf Unschuld sey mein ganzes Leben keinesfalls als ein Trauergedicht gelesen werden, vielmehr verliert dieses Gedicht vollständig seine Geltung innerhalb der Gelegenheitspoesie, um in einem neuen Interpretationskontext der didaktischen Dichtung zusammen mit Dem Gott der Finsternis zu erscheinen. Auf dieser Forschungsebene öffnet sich also die Frage nach der Gattungs-Asymmetrie der Donelaitischen Dichtung: augenscheinlich ist, dass das Gedicht Ihr Schatten schneller Zeit separat von anderen zwei steht und auch keine nachweisbaren Parallelen im weiteren Werk von Donelaitis besitzt. Die Entdeckung eines solchen Gattungssolitärs veranschaulicht, in welch hohem Maße das Textkorpus die Wahrnehmung von Donelaitis-Schaffen beeinflusst: gehen wir von dem verfügbaren Korpus seiner Texte aus, so ist Die Schatten schneller Zeit als eine Ausnahme, eine ephemere literarische Äußerung zu interpretieren, auf die Donelaitis nie wieder zurückgriff. Unter der Voraussetzung jedoch, dass uns nur ein Bruchteil seines gesamten Textkorpus zur Verfügung steht (was als eine sehr wohl begründete Annahme gilt), könnte das Gedicht ein völlig unbekanntes Gebiet seines Schaffens repräsentieren, und zwar jene der Gelegenheitspoesie. Die verfügbaren kontextuellen Daten sprechen eher zugunsten der zweiten Möglichkeit, da es aber sehr unwahrscheinlich ist, dass das heutige Donelaitis-Korpus in der Zukunft um neue dichterische Texte erweitert werden könnte, sollte die Stellung der Gelegenheitspoesie im Donelaitischen Genrespektrum durch genauere Erforschung dieses Gattungsfeldes im nahen sozialen Umkreis des Tollmingkehmischen Dichters präzisiert werden. Dahingegen erlaubt das bei Donelaitis entdeckte kultur-theologische und gegenaufklärerische Spätnarrativ (ca. 1773-1777), in welchem den beiden anderen Gedichten Unschuld sey mein ganzes Leben und Der Gott der Finsternis ein wichtiger Platz zufällt, die Frage nach dem Verhältnis der deutschsprachigen Kultur zu den Minderheitensprachen in Ostpreußen neu zu stellen. Hier gilt die erwähnte Frührezeption von Donelaitis, bei der seinen deutschen Gedichten eine nachgeordnete Stellung gegenüber seinen litauischen Texten zugesprochen wurde, als Ausgangspunkt. Als wichtige Bausteine des erwähnten gegenaufklärerischen Narrativs erhalten seine deutschen Gedichte eine völlig neue Aussagekraft und können nicht mehr im Sinne von Kleintexten interpretiert werden. Das entscheidende Moment liegt dabei in der Tatsache, dass das deutschsprachige Schaffen von Donelaitis sich keinesfalls in einem konkurrierenden Verhältnis zu seinen litauischen Texten befindet: beide Teile seines literarischen Nach- Von der Auferstehung des ehrlichen Amtmanns 71 lasses sind komplementär und basieren auf dem gleichen gegenaufklärerischen Kulturwertparadigma des Spätpietismus. Die von dem Dichter verwendeten Literatursprachen Litauisch und Deutsch sind völlig gleichgestellt und sollten nicht unter einem hierarchisierenden Blickwinkel betrachtet werden: die Wahl erfolgt schlicht aufgrund der Textgattung und des gewünschten Adressaten des konkreten Texts, wobei das Konzept der nationalen Identität und Kultur (sei es litauisch oder deutsch) für Donelaitis noch völlig fremd war. Beim Lesen seiner Dichtung erfreuen wir uns somit der Möglichkeit, manche stereotypen Kulturmodelle in einem neuen Licht zu betrachten und die nachfolgende Frage für weitere Forschungen zu stellen: inwieweit ist die ausgewogene Zweisprachigkeit von Donelaitis für Ostpreußen typisch? Die Suche nach einer Antwort lenkt den Blick auf den breiteren kultursoziologischen Kontext der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, wobei die Dichtung von Donelaitis ein merkwürdiges Beispiel darstellt, bei dem das Deutsch und die lokalen Sprachen in Ostpreußen in einigen sozialen Kontexten als gleichgestellte Kulturelemente fungierten. Man kann somit die Hypothese aufstellen, dass die Emanzipation des Litauischen im 18. Jahrhundert in Ostpreußen eng mit der pietistischen Kultur verbunden war, so dass es sinnvoll erscheint, nach ähnlichen Prozessen auch in anderen pietistisch geprägten Kulturlandschaften im Randbereich der deutschen Philologie, etwa der Herrnhuter Bewegung in Lettland und Estland, zu suchen. List of Figures Abb. 1.: Tetzner, die Donelaitischen Einträge im Taufbuch 1755-1773 für das Jahr 1760: Faksimile aus Tetzners Edition, Altpreußische Monatsschrift 33 (1896): 29. Abb. 2.: Donelaitis, Taufeinträge aus dem Jahr 1747: Taufbuch der Kirche Tollmingkehmen, 1725-1754 . Mikrofilm B96. Sächsisches Staatsarchiv Leipzig. Notes 1 In den Quellen und der Fachliteratur ist der Schriftsteller ebenfalls unter den Namensformen Donalitius und Donaleitis bekannt. 2 Für die vollständige Bibliografie von Donelaitis Leben und Werk s. Narbutienė. Von der neueren deutsch- und englischsprachigen Fachliteratur zu Donelaitis s. Schiller, Bichlmeier und Brohm; Kessler; Schoenborn; Šeferis, The Borderland . 3 Das Tollmingkehmische Pfarrarchiv ist im 2. Weltkrieg verlorengegangen, das darin befindliche Schriftgut lediglich in Bruchstücken handschriftlicher Abschriften überliefert, hinzu kommen die Druckausgaben einiger Urkun- 72 Vaidas Šeferis den aus dem 18. und 19. Jh. Diese Texte stehen dem Leser im IV. Band sämtlicher Donelaitis-Werke zur Verfügung (Donelaitis, Raštai ). 4 Für einen detaillierten Überblick dieser Editionen s. Vaicekauskas, Krištopaitienė und Zubaitienė lxxvii-lxxviii, cxxxiii-cxxxviii. 5 Vgl. Dilytė 23; Vaicekauskas, Krištopaitienė und Zubaitienė xxxvi-xxxvii. 6 Alle Übersetzungen aus dem Litauischen sind von Vaidas Šeferis. 7 Vgl. auch Kuzborska, Kristijonas Donelaitis als deutscher Dichter 108-109. 8 Aus der Druckausgabe leitet sich auch das Datum ab, ab dem Unschuld sey mein ganzes Leben im philologischen Umlauf zu funktionieren begann. Die Hypothese Kuzborskas, Rhesa habe sich in seiner dichterischen Widmung der Ausgabe von 1818 von Dem Jahr an Wilhelm von Humboldt auf die deutschen Gedichte von Donelaitis, und besonders auf Unschuld sey mein ganzes Leben bezogen (Kuzborska, Kristijonas Donelaitis als literarische Figur 32), ist daher ungenau: Rhesa konnte Unschuld sey mein ganzes Leben keinesfalls kennen. 9 Hier jedoch ungenau in das Jahr 1760 datiert. Zur Datierung für das Jahr 1762 s. Šeferis, Įvadas lxxix-lxxx. 10 Das Buch ist als Kopie in Form eines Mikrofilms erhalten und wird im Sächsischen Staatsarchiv Leipzig unter der Signatur B 96 innerhalb der Bestände der Deutschen Zentralstelle für Genealogie geführt. Diese Quelle wurde von Christiane Schiller ausführlich erforscht (Schiller 12-20), die hier angeführten Angaben über Signatur und Aufbewahrungsort des Taufbuchs entstammen dieser Studie. 11 Vgl. Einträge für die Jahre 1755, 1756, 1771, 1772, 1773, 1776, wo Tetzner nur diese Statistik und keine anderen Angaben anführt ( Die Tolminkemischen Taufregister 25, 32, 34). Später hat Tetzner die statistische Information aus den Taufbüchern systematisch bearbeitet ( Zu Christian Donalitius 138-9). 12 Donelaitis war sich sehr wohl seiner Talente und Tugenden bewusst, um eine derart stolze Geste auszudrücken, vgl. seine 1778 geäußerte Aussage in einer Urkunde: „Gott Lob! daß ich mit Ehren graues Haar trage, und mich gegen Niemand in der Welt schämen, nicht schämen, nicht schämen darf.“ (Tetzner, Christian Donalitius 326) 13 Vgl. auch die zweite Publikation: Tetzner, Zum zweihundertjährigen Geburtstag 252. Von der Auferstehung des ehrlichen Amtmanns 73 Works Cited Alphabetisches-Sterbe-Register der Kirche zu Tollmingkehmen de Anno 1753 . Handschrift. Sächsisches Landesarchiv Leipzig, Signatur BA106. Dilytė, Dalia. Kristijonas Donelaitis ir Antika . Vilnius: Vilniaus universiteto leidykla, 2005. Donelaitis, Kristijonas. „Amtsbericht des Donalitius.“ Unsere Dichter in Wort und Bild. Ed. Franz Tetzner. Leipzig: Robert Claußners Verlags-Anstalt, 1896. 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