Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2022-0018
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
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Gnutzmann Küster SchrammDas Konzept der funktionalen Mehrsprachigkeit im Kontext der Internationalisierung deutscher Hochschulen
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Constanze Bradlaw
Britta Hufeisen
Stefanie Nölle-Becker
flul5120038
DOI 10.24053/ FLuL-2022-0018 51 • Heft 2 C ONSTANZE B RADLAW , B RITTA H UFEISEN , S TEFANIE N ÖLLE -B ECKER * Das Konzept der funktionalen Mehrsprachigkeit im Kontext der Internationalisierung deutscher Hochschulen Abstract. Internationalisation is a key word for Higher Education Institutions (HEIs) in Germany. It also encompasses mobility policies in order to increase the numbers of incoming international students from all over the world as well as the numbers of outgoing national students. For this reason, English as lingua franca/ lingua academica is becoming the language of teaching and communication in German international university courses more and more. The authors argue that this attitude often labelled as English only neither mirrors nor exploits the vast multilingual repertoires of today’s societies in general and European HEIs in particular. Nevertheless, building truly inclusive (scientific) communities deeply committed to democratic and pluralistic principles allowing participation for all citoyennes and citoyens needs to encompass our multilingual and multicultural realities. Anchoring the concept of functional multilingualism in the institution’s internationalisation and languages strategies, the Technical University Darmstadt serves as an example of a German HEI following multilingual paths beyond German and English. 1. Zur Einführung Im Zuge der Internationalisierungsbestrebungen der deutschen Hochschulen werden immer häufiger sogenannte internationale Studiengänge etabliert. Das Attribut international ist dabei semantisch nicht eindeutig definiert, es bedeutet in diesem Zusammenhang in der Regel die Umstellung der Verkehrs- und Fachsprache in Forschung und Lehre von Deutsch auf Englisch (vgl. F ANDRYCH / S EDLACZEK 2012: 9, 11; H ET - TIGER 2019: 383; K RUMM 2021: 148). Damit rücken Aspekte des Sprachengebrauchs zunehmend in den Fokus: Die sich häufig aus vielen Nationalitäten zusammensetzende internationale Studierendenschaft an deutschen Hochschulen verfügt über ein * Korrespondenzadressen: Constanze B RADLAW M.A., Technische Universität Darmstadt, Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft, FG Sprachwissenschaft - Mehrsprachigkeit, Hochschulstraße 1, 64289 D ARMSTADT E-Mail: constanze.bradlaw@tu-darmstadt.de Arbeitsbereiche: Internationalisierung und Sprachenpolitik an Hochschulen Prof. Dr. Britta H UFEISEN , Postadresse wie oben E-Mail: britta.hufeisen@tu-darmstadt.de Arbeitsbereiche: Mehrsprachigkeitsforschung, Textkompetenz Stefanie N ÖLLE -B ECKER M.A., Postadresse wie oben E-Mail: stefanie.noelle-becker@tu-darmstadt.de Arbeitsbereiche: Linguistic Landscapes, Sprachenpolitik, Mehrsprachigkeit Das Konzept der funktionalen Mehrsprachigkeit 39 51 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0018 reiches Sprachenrepertoire, und auch die BildungsinländerInnen sind sowohl durch ihre schulischen Fremdsprachenkenntnisse als auch durch diverse Herkunftssprachen oftmals mehrsprachig. Diese Sachlage befeuert den Diskurs über Mehrsprachigkeit nicht zuletzt im akademischen Kontext. Dabei stellen sich viele Fragen: Welche Sprachen nutzen wir zum Lehren, welche zum Kommunizieren, welches sind offiziell vorgegebene, welches alltäglich gebräuchliche Sprachen? Welche Rolle spielen die Sprachen, die internationale Studierende mitbringen? Ersetzt Englisch als Lehrsprache die Kommunikation in anderen Sprachen? Welche Rolle wollen wir Englisch zusprechen? Unser Beitrag versteht sich als einführender Überblick. Er versucht, die verschiedenen Dimensionen zusammenzuführen, in denen Mehrsprachigkeit an Hochschulen relevant ist. Dazu gehören Sprachenpolitik und -planung, sekundäre und tertiäre Bildungspolitik, europäische Hochschulpolitik sowie Aspekte des Sprachenerwerbs. Dabei versteht er sich als Plädoyer, mehr Mehrsprachigkeit - über Deutsch und Englisch hinaus - in den Hochschulen zu wagen. Mehrsprachigkeit wird nicht einheitlich definiert. Die Definition in diesem Beitrag folgt derjenigen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (GeR) und fasst zwei unterschiedliche Dimensionen: Als Plurilingualität oder Mehrsprachigkeit beschreibt der GeR die individuelle Mehrsprachigkeit einer einzelnen Person und als Multilingualität oder Vielsprachigkeit die Mehrsprachigkeit ganzer Gesellschaften (vgl. C OUNCIL OF E UROPE 2020: 34). Der Terminus Mehrsprachigkeit umschließt im Weiteren als eine Art Oberbegriff beide Dimensionen. Außerdem verstehen wir unter mehr-, pluri-, multi- oder vielsprachig immer mehr als zwei Sprachen (L1+L2+Ln). Zweisprachigkeit/ Bilingualität ist für uns ein Spezialfall, der eine eigene Nomenklatur hat.Das Konzept der funktionalen Mehrsprachigkeit fußt zunächst auf Überlegungen beziehungsweise bezieht Dimensionen ein, die an anderer Stelle bereits formuliert wurden, vor allem, wenn es um individuelle Sprachenverwendung geht. Diese Sichtweisen gehen davon aus, dass sich sprachliche Fertigkeiten von mehrsprachig Sprechenden auf unterschiedlichen Niveaus bewegen können. Insbesondere mit Blick auf mündliche Interaktion charakterisiert L ÜDI (2020) die Verwendung der verschiedenen Sprachenrepertoires als funktional: „Viele Menschen sind mehr oder weniger asymmetrisch mehrsprachig, d.h., sie besitzen Gebrauchskompetenzen in mehreren Sprachen auf sehr unterschiedlichem Niveau. Diese Sprachrepertoires werden in aller Regel funktional eingesetzt, also in einer Art, welche jedes Mal den größten symbolischen oder ökonomischen Nutzen verspricht“ (ebd.: 50). Dies bezeichnen G OGOLIN und L ÜDI (2015: o.S.) als individuelle Mehrsprachigkeit, bei der die Kommunikationsleistung unabhängig von Erwerb und Sprachenniveaus betrachtet wird. Wie bei B ERTHELE s (2010: 226) Konzept der mehrsprachigen kommunikativen Kompetenz kommt dabei dem Kontext der Sprachenverwendung eine besondere Bedeutung zu. Wir würden hierbei von mehrsprachiger Sprachenhandlungskompetenz sprechen, deren Zweck immer die Sicherstellung von gelingender Kommunikation ist. So sieht es auch F RANCESCHINI : „Unter funktionaler Mehrsprachigkeit versteht man deshalb allgemein die Fähigkeit, in mehr als einer Sprache kommunizieren zu können“ (2014: 40 Constanze Bradlaw, Britta Hufeisen, Stefanie Nölle-Becker DOI 10.24053/ FLuL-2022-0018 51 • Heft 2 o.S., Hervorhebung im Original). Die Auffassung eines flexiblen und dynamischen sprachlichen Repertoires, die auch unserer Auffassung von funktionaler Mehrsprachigkeit zugrunde liegt, hat Eingang in den aktuellen Begleitband des GeR gefunden, der die Förderung der plurilingualen Kompetenzen der Lernenden adressiert und diese wie folgt definiert: Mehrsprachigkeit wird als „ungleichmäßige und sich verändernde Kompetenz dargestellt, bei der die Ressourcen eines/ einer Sprachnutzenden/ Sprachlernenden in der einen Sprache oder Varietät sehr verschieden von den Ressourcen in einer anderen sein können“ (C OUNCIL OF E UROPE 2020: 34). Hier deutet sich die Ausweitung des Konzepts der funktionalen Mehrsprachigkeit über die individuelle Mehrsprachigkeit hinaus an, wie wir es in diesem Aufsatz vorstellen. Eine weitere Verwendung des Begriffs findet sich bei O ETER (2020: 330) in Bezug auf Gesellschaften und spezifische Domänen, in denen beispielsweise Englisch in seiner Funktion als Verbindungssprache verwendet wird und damit zu plurilingualer Sprachenverwendung in funktionalen Gefügen führt. Für uns hat das Konzept der funktionalen Mehrsprachigkeit neben anderen auch ausgeprägte interkulturelle Dimensionen, die gesellschaftspolitisch kommunikationsfördernd oder hinderlich sein können: „Kunskaper i olika språk stärker oftast också interkulturell kompetens und förståelse, vilket spelar en viktig roll för sammamhållnigen i samhället och internationella kontakter“ (U NDERVISNINGS - OCH KULTURMINISTERIET o.J.: 7). 2. Mehrsprachigkeit als Bestandteil und Bildungsziel europäischer Lebensrealität Mehrsprachigkeit ist kein aktuelles Phänomen der Gegenwart, sondern eine konstante Begleiterin der Menschheit und ihrer Migrationsbewegungen. Aktuell wird der gesellschaftlichen Bedeutung individueller Mehrsprachigkeit ein besonders starkes öffentliches Interesse entgegengebracht. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Einer liegt sicherlich in dem wirtschaftlichen Nutzen, den Mehrsprachigkeit im Umgang mit den unter dem Begriff Globalisierung subsumierten, die ganze Welt umspannenden Vernetzungs- und Beziehungsgeflechten bringen kann. Das Arbeiten in multidisziplinären und multikulturellen Teams profitiert nicht nur von angemessenen Englischkenntnissen aller Beteiligten, sondern auch von Kenntnissen der von den jeweiligen GeschäftspartnerInnen gesprochenen Herkunftssprachen und ihrer kulturellen Bezüge und Einbettung (vgl. z.B. M EYER 2015). Die Sprachensituation in Europa ist dabei im internationalen Kontext als einzigartig zu bezeichnen, denn durch die offizielle Sprachenpolitik der Europäischen Union (EU) hat die Sprachenvielfalt dieses Kontinents eine weltweit einmalige institutionelle Verankerung erfahren. Die mit Stand Dezember 2021 27 Mitgliedstaaten der EU verfügen über insgesamt 24 Amtssprachen mit 3 Alphabeten (Lateinisch, Griechisch und Kyrillisch). Mit dem im Jahr 2002 veröffentlichten sogenannten Barcelona-Ziel 1+2 empfiehlt der Europäische Rat erstmals Mehrsprachigkeit als Bildungsziel europäischer BürgerInnen (vgl. E UROPEAN C OUNCIL 2002: 19). Dieses Bestreben gewann Das Konzept der funktionalen Mehrsprachigkeit 41 51 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0018 zusätzlich an Dynamik durch die oft als Grundsatzrede bezeichneten Ausführungen des französischen Staatspräsidenten Emmanuel M ACRON im September 2017 an der Pariser Sorbonne. In seinem Plädoyer „Initiative pour l’Europe“ bezieht er sich direkt auf das europäische Sprachenrepertoire und fordert, dass „chaque étudiant parle deux langues européennes d’ici 2024“ (M ACRON 2017). Weiter führt er aus: „Nous devons créer des Universités européennes, réseaux d’universités qui permettent d’étudier à l’étranger et de suivre des cours dans deux langues au moins“ (ebd.). Tatsächlich kam es in der Folge dieser Rede zur raschen Formierung zahlreicher Europäischer Hochschulallianzen, die den Ausbau des Europäischen Hochschul- und Forschungsraums maßgeblich befördern. Aktuell gehören dem Europäischen Hochschulraum 48 Mitgliedstaaten an, er erschöpft sich also nicht in den Mitgliedstaaten der EU und ist somit bei weitem mehrsprachiger als die Union selbst. Die Schaffung dieses Raums wird begleitet von der eines gemeinsamen Europäischen Forschungsraums und steht mit ersterer in einem sowohl inhaltlich als auch strategisch engen Zusammenhang. Beide eint das übergeordnete Ziel einer zu fördernden Internationalisierung europäischer Bildungs- und Wissenschaftsinstitutionen, auch, um sich geeint im internationalen Wettbewerb um talentierte NachwuchswissenschaftlerInnen behaupten und möglichst prominent platzieren zu können. Gleichzeitig gilt es zu berücksichtigen, dass internationale Studierende einen nicht zu vernachlässigenden ökonomischen Faktor darstellen, allerdings in Abhängigkeit von der Organisation des jeweiligen Hochschulsystems. Eine Studie von London Economics beziffert den Netto-Erlös durch internationale Studierende in Großbritannien mit 25,9 Milliarden Britischen Pfund, derzeit umgerechnet rund 30,6 Milliarden Euro (siehe ACA 2021: o.S.). Am Beispiel Australien beschreibt H ETTIGER (2021: 259f.), dass zur Sicherung der Einnahmen durch internationale Studierende die sprachlichen Eingangsniveaus gesenkt wurden, mit negativen Auswirkungen auf den akademischen Erfolg. Auch wenn die Finanzierung der deutschen Hochschullandschaft anders organisiert ist, so gibt es doch gravierende wirtschaftliche Auswirkungen durch eine Erhöhung der Zahl internationaler Studierender an deutschen Universitäten. Vor diesem Hintergrund sehen Kritiker neoliberaler Strömungen in der Hochschullandschaft eine Tendenz, Sprachenkenntnisse und dabei insbesondere die Beherrschung von Englisch als wirtschaftliche Ressource (commodity) zu betrachten, welche weitreichende Folgen für die Bewertung und Vermittlung von Sprachen im akademischen Kontext hat (vgl. H ELLER / D UCHÊNE 2016: 141). Auch in Deutschland stellen Studierende einen Wirtschaftsfaktor dar: Neben den Erfordernissen, die sich aus der Zugehörigkeit deutscher Hochschulen zur EU ergeben, ist ein weiterer wichtiger Ursachenfaktor für Internationalisierung der zahlenmäßige Rückgang inländischer Studierender. Um die Kapazitäten des deutschen Hochschulsystems in Zukunft wenigstens annähernd auszuschöpfen, sind die Hochschulen in Deutschland sehr um die Gewinnung ausländischer Studierender bemüht. 42 Constanze Bradlaw, Britta Hufeisen, Stefanie Nölle-Becker DOI 10.24053/ FLuL-2022-0018 51 • Heft 2 3. Die Internationalisierung der deutschen Hochschulen, Englishization und Mehrsprachigkeit Vor diesem Hintergrund wird in Deutschland unter dem Begriff Internationalisierung deshalb die Öffnung der deutschen Hochschulen für Studierende, die ihre Hochschulzugangsberechtigung im Ausland erworben haben, sowie für ausländische Dozierende und Forschende gefasst. Sie wird als Notwendigkeit zeitgemäßer Hochschulpolitik und -entwicklung angesehen, weshalb die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) ihrer Internationalen Strategie (2012: 3) folgende These voranstellte: „Die Hochschule der Zukunft ist eine transnationale Hochschule“. In ihren „Empfehlungen zur Internationalisierung von Hochschulen“ (2018) definiert sie die „[…] Internationalisierung der Wissenschaft als ein[en] Prozess zunehmender grenzüberschreitender Aktivitäten und länderübergreifender Kooperationen“ (HRK 2018: 18). Begleitet wird dieser Prozess oft von hochschulspezifischen Internationalisierungsstrategien, die zusätzlich durch Sprachenstrategien ergänzt werden können. Diese gehen allerdings sehr selten explizit auf Mehrsprachigkeit oder auf diesbezügliche sprachenpolitische Vorgaben seitens der EU ein, sondern konzentrieren sich meist auf die Umstellung auf Englisch als Lehrsprache bzw. den Ausbau englischsprachiger Studiengänge (vgl. G ÖPFERICH 2021: 95) sowie die Etablierung des Englischen als zweiter Gremiensprache. Dieses Vorgehen wird mit unterschiedlichen Termini wie z.B. Englishization (z.B. H U 2018: 372) oder Anglisierung (z.B. R ABE 2016) belegt. Dabei wird gerne vergessen, dass es zwischen Studiengängen in ausschließlich deutschsprachiger oder ausschließlich englischsprachiger Version viele Varianten geben kann. So kann ein Studiengang zwar rein auf Englisch beginnen, den Studierenden kann aber im Laufe des Studiums durchaus abverlangt werden, soweit Deutsch zu lernen, dass sie spätestens im letzten Semester Veranstaltungen auf Deutsch besuchen können (vgl. A LTHAUS et al. 2014). Die Dominanz des Englischen als lingua franca bzw. lingua academica erscheint im akademischen Kontext bisweilen so weit vorangeschritten, dass sich die internationale Wissenschaftsgemeinschaft auf sie zum einen als gemeinsamen Nenner bereits abschließend geeinigt haben mag, zum anderen scheint man im deutschen Hochschulkontext im Sinne von „Publish in English or Perish in German“ (G NUTZMANN / J AKISCH / R ABE 2015) die Unvermeidlichkeit des Englischen als gemeinsame Kommunikations- und Publikationssprache weitestgehend akzeptiert zu haben (vgl. F ORSDICK 2018: 76 sowie die Diskussion in V IEBROCK / M EIER / A L S ABAHI in diesem Band). Kommen internationale Studierende und GastwissenschaftlerInnen in universitären Lehr- und Forschungsformaten womöglich gut mit Englisch und ohne oder lediglich basalen Kenntnissen der (deutschen) Umgebungssprache zurecht, so kann dadurch dennoch die soziale und später auch berufliche Integration in der Hochschule oder am Arbeitsplatz maßgeblich erschwert oder verhindert werden (vgl. F ANDRYCH / S EDLACZEK 2012: 47f.). Eine weitere Erschwernis für das Gelingen von Studium und Lehre sind für den wissenschaftlichen Gebrauch ungenügende Englischkenntnisse, die Lehrende ihren Studierenden, und zwar inländischen wie ausländischen gleichermaßen, vorwerfen und vice versa (vgl. E ARLS 2014: 18). Das Spektrum Das Konzept der funktionalen Mehrsprachigkeit 43 51 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0018 der gegenseitig unterstellten Unzulänglichkeiten ist breit und reicht von fachsprachlichen und allgemeinsprachlichen Defiziten (vgl. A IREY 2012: 74-76) über Schwierigkeiten beim Verstehen ungewohnter Aussprachen (vgl. M ITTERER / E GER / R EINISCH 2020) bis hin zu ungenügenden Kenntnissen der diversen Varietäten der International Englishes (vgl. E ARLS 2014). „Internationalisierung einer Hochschule ohne Professionalisierung der Lehrenden im Umgang mit Mehrsprachigkeit birgt […] Gefahren für den Lernerfolg der Studierenden und ihrer Kommunikationsfähigkeit in multilingualen Gesellschaften“ (G ÖPFERICH 2021: 96). Die Gleichsetzung von Internationalisierung an deutschen Hochschulen mit einer sprachlichen Situation, die als English only bezeichnet werden kann, droht dabei im Zuge eines möglichen Domänenverlustes (erneut) in einen monolingualen Habitus abzurutschen (vgl. F OSCHI A LBERT / F AISTAUER 2019: 88f.): Die Emanzipation vom Lateinischen als Wissenschaftssprache war ein jahrhundertelanger Prozess, verbunden mit großen Mühen und Anstrengungen. Nun erscheint Englisch mancherorts als das „neue Latein“ (F ORSDICK 2018: 76). In diesem Zusammenhang ist es wichtig herauszustellen, dass die Wissenschaft und das Generieren von Erkenntnissen vom Austausch über sprachliche und fachliche Grenzen hinweg leben und insofern per se auf Mehrsprachigkeit angelegt sind. Der internationale wissenschaftliche Diskurs wird auf den ersten Blick durch Englisch sehr erleichtert; nichtsdestotrotz können Kenntnisse in weiteren und anderen Sprachen für spezifische Wissenschaftskontexte immanent bzw. konstituierend sein: Ohne Kenntnisse des Chinesischen wäre keine Sinologie möglich, ohne Kenntnisse des Deutschen könnten bedeutende Werke der Philosophie nicht im Original rezipiert werden. Die Akzeptanz und auch die Notwendigkeit der Verwendung des Englischen variieren allerdings stark. Sie hängen u.a. von den Diskurskonventionen der einzelnen Disziplinen ab und berühren Aspekte der wissenschaftlichen Kooperations- und Wettbewerbsfähigkeit sowie der internationalen Sichtbarkeit (vgl. D I B ITETTI / F ERRERAS 2017: o.S.) - auch innerhalb der jeweiligen Wissenschaftsgemeinschaft. Indes stehen seit geraumer Zeit die Ansprüche, die an (fremd)sprachliche Kompetenzen im Allgemeinen und an (fremd)sprachliche Hochschulzulassungsanforderungen im Speziellen gestellt werden, auf dem Prüfstand. So stellt beispielsweise A LTHAUS (2018: 93-95) die existierenden Praktiken der Festlegung und Testung sprachlicher Studienzulassungsvoraussetzungen in Deutschland in sehr grundsätzlicher Art in Frage, zumal sie die allgemeine Studierfähigkeit berühren können. Allerdings sind diese Ansprüche, neben allgemeinen Sprachenwandelerscheinungen, auch in Zusammenhang mit dem fortschreitenden Abrücken vom sprachlichen Ideal von ErstsprecherInnen zu stellen. War der Blick (und die Beurteilung) von Standardsprachen selbst nach der kommunikativen Wende ab den 1970er Jahren immer noch stark normativ geprägt, so weitet sich dieser aktuell im Zuge einer Hinwendung zu einer stärker diversifizierenden und realitätsnäheren Sichtweise mit Schwerpunkt auf Aspekten der Handlungsorientierung und Angemessenheit: „Sowohl das Beschreibungssystem des GeR als auch der handlungsorientierte Ansatz stellen die gemeinsame Konstruktion von Bedeutung (durch Interaktion) in den Mittelpunkt des Lehr-/ 44 Constanze Bradlaw, Britta Hufeisen, Stefanie Nölle-Becker DOI 10.24053/ FLuL-2022-0018 51 • Heft 2 Lernprozesses“ (C OUNCIL OF E UROPE 2020: 34). Im Begleitband des GeR steht in diesem Zusammenhang „Paradigmenwechsel“ (ebd.: 31), da die in ihm dargestellten Kann-Beschreibungen davon ausgehen, „was Sprachnutzende/ Lernende mit Sprache tun können sollen“ (ebd.) und sich von einer „linearen Progression“ (ebd.) beim Sprachenlernen sowie von einer Fokussierung auf Defizite abwenden. Dieser Standpunkt bezieht explizit die mehrsprachliche Lebensrealität als menschlichen Kommunikationsstandard mit ein, wobei Dynamik ein wesentliches Charakteristikum dieses Standards ist. Dabei wird C2 als höchste Niveaustufe des GeR zwar als kompetente Sprachverwendung (Master) bezeichnet, dies bedeutet aber nicht, dass eine muttersprachliche oder fast muttersprachliche Kompetenz erreicht ist. Beabsichtigt ist nur, die Präzision, Angemessenheit und Leichtigkeit zu charakterisieren, welche die Sprache dieser sehr erfolgreich Lernenden auszeichnen (ebd.: 44). Genau hier setzt das Konzept der funktionalen Mehrsprachigkeit an der TU Darmstadt an, welches anerkennt, dass selbst L1-Sprechende und -Schreibende keineswegs stets in allen Fertigkeiten C2 erreichen würden und dennoch berücksichtigt, dass es im Wissenschaftsbetrieb Situationen gibt, in denen die hochpräzise und detaillierte korrekte Ausdrucksweise notwendig ist, egal in welcher Sprache (vgl. G ÖPFERICH s Gegenüberstellung von Sprache als Kommunikationsmittel und Sprache als Denkwerkzeug, 2021: 99). 4. Funktionale Mehrsprachigkeit als Sprachenhandlungskompetenz Funktionale Mehrsprachigkeit bezeichnet Sprachenhandlungskompetenzen 1 in mehreren Sprachen, die für eine spezifische Situation, eine bestimmte Domäne und den jeweiligen Kommunikationskontext angemessen sind. Dabei wird u.a. zwischen den einzelnen Fertigkeiten differenziert (Lesen, Schreiben, Hören, Sprechen sowie Sprachenmitteln und Hörsehverstehen) und auf eine Nutzung derjenigen Fertigkeit(en) gesetzt, die in einer Situation oder einem Sachverhalt notwendig und angemessen sind. So ist gerade im universitären Kontext das Hörsehverstehen eine solche Fertigkeit, die Studierende bei Lehrveranstaltungen wie Vorlesungen besonders benötigen. Hier erfolgt neben Hören und Sehen sogar der Einsatz einer weiteren Fertigkeit, nämlich Schreiben. Indem die einzelnen Fertigkeiten situationsspezifisch betrachtet werden, können sie den jeweils benötigten Sprachenstand präzise abbilden. So lesen Forschende beispielsweise französischsprachige wissenschaftliche Beiträge in ihrem Forschungsfeld, sprechen es aber nicht, verstehen auch nur wenig gesprochenes Französisch, und zu schreiben brauchen sie es nicht. Für sie reicht die Fertigkeit Lesen in ihrem beruflichen Kontext vollkommen aus. Auch der Wissenschaftsrat berücksich- 1 Wir verwenden bewusst den Plural, um zu verdeutlichen, dass SprecherInnen in den beschriebenen Kontexten in mehreren Sprachen, Varietäten, Soziolekten etc. denken, sprachenhandeln, sprachenmitteln, um zu kommunizieren. Der Plural verdeutlicht, dass im Sprachenmittlungsprozess immer zwei oder sogar mehr Sprachen verwendet werden. Das Konzept der funktionalen Mehrsprachigkeit 45 51 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0018 tigt die Unterschiedlichkeit sprachlicher Anforderungen je nach Kontext und Situation in seinen „Empfehlungen zur Internationalisierung von Hochschulen“ und schlägt als Maßnahme vor, „ein Sprachenkonzept [zu] erarbeiten, das zwischen Unterrichts-, Prüfungs-, Fach- und Verkehrssprache unterscheidet“ (W ISSEN - SCHAFTSRAT 2018: 11). Indem sich funktionale Mehrsprachigkeit an konkreten Kontexten orientiert, ist sie dynamisch und anpassungsfähig. Ihre Dynamik kann sich beispielsweise darin ausdrücken, dass Teilnehmende einer Tagung an der chinesischen Partneruniversität einige chinesische Wendungen aufgreifen, um sie im Laufe der Tagung zu verwenden und Interesse und Entgegenkommen zu signalisieren. Das erfreut die Gastgeber, weil sie sich wertgeschätzt fühlen, und erleichtert vielleicht sogar Gespräche und Verhandlungen auf einer zwischenmenschlichen Ebene. Später werden diese Wendungen vielleicht im Langzeitgedächtnis integriert oder aber vergessen, weil sie nicht mehr benötigt werden. Sprachenhandlungskompetenz bedeutet also, dass die SprecherInnen produktiv und/ oder rezeptiv alle Sprachenhandlungen, die für den jeweiligen Kontext relevant sind, in den Sprachen vollziehen können, die ihr Sprachenrepertoire bilden. Sie sprachenhandeln. Dabei gilt, dass mit Sprachen nicht nur National-, Wissenschafts- oder Kultursprachen wie Deutsch, Spanisch, klassische Sprachen wie Latein und Altgriechisch oder Herkunftssprachen zugewanderter MitbürgerInnen gemeint sind, sondern auch Dialekte und Varietäten, Fachsprachen oder Sprachen mit vergleichsweise wenigen SprecherInnen wie Schweizerdeutsch. Mit dieser Schwerpunktsetzung werden SprecherInnen jedweder Sprache(n) als sozial Handelnde begriffen, die bei und mit ihrer sprachlichen Interaktion Bedeutungen schaffen. Dies hat zur Folge, dass aufgrund der individuellen Sprachenrepertoires SprecherInnen unterschiedlich sprachenhandeln, weil sie andersartige Anforderungssituationen bewältigen müssen. So tauscht sich ein Gärtner mit seinem Kollegen in beider Herkunftssprache fachkundig auf Serbisch aus, eine Professorin tut dies in ihrer Arbeitssituation mit ihren südafrikanischen KollegInnen auf Englisch. Dies geschieht immer auf verschiedenen sprachlichen Ebenen, auch in der/ den Erstsprache(n), denn menschliche Kommunikation ist multimodal und schließt zum Beispiel im persönlichen Gespräch körperliche Ausdrucksmöglichkeiten wie Mimik, Gestik etc. mit ein bzw. kann das gesprochene Wort sogar ganz ersetzen. Auch in ihren L1 passen SprecherInnen ihre Sprache(n) und Sprechweise(n), oft intuitiv, der spezifischen Kommunikationssituation an. So ist im Gespräch mit einem kleinen Kind beispielsweise häufig zu beobachten, dass Erwachsene unvermittelt in eine höhere Stimmlage wechseln, ihr Sprechtempo verlangsamen und sich aus ihrer Sicht einfacherer Wörter und Satzkonstruktionen bedienen. Desgleichen erfolgt das Wechseln in einen allen GesprächsteilnehmerInnen bekannten Dialekt oft ohne explizit getroffene Übereinkunft. Sie geschieht aus der Situation heraus und kann sehr zu einem Gemeinschaftsgefühl und zum Gelingen der Kommunikation beitragen. Diese verschiedenen Verwendungen ein und derselben Sprache in funktionalen Zusammenhängen wird als „innere Mehrsprachigkeit“ (z.B. W ANDRUSZKA bereits 1979) einer 46 Constanze Bradlaw, Britta Hufeisen, Stefanie Nölle-Becker DOI 10.24053/ FLuL-2022-0018 51 • Heft 2 Person bezeichnet. Das Verwenden unterschiedlicher Sprachenregister ist ebenfalls ein Ausdruck von Angemessenheit und, im fremdsprachlichen Kontext, von inter- oder transkultureller Kompetenz und kann hier wesentlich zur Herstellung eines Gemeinschaftsgefühls oder einer von allen Beteiligten geteilten metasprachlichen Kommunikationsebene beitragen. Auf diese Weise berücksichtigt das Konzept der funktionalen Mehrsprachigkeit, dass das Sprachenrepertoire einer Person ein dynamisches System darstellt und deshalb veränderlich ist. Diese Sichtweise findet sich in vielen Modellen in der Mehrsprachigkeitsforschung wieder (siehe beispielweise die Beiträge in G OGOLIN et al. 2020). Ihr inhärent ist ein hohes Maß an Flexibilität, Toleranz und Empathie gegenüber Phänomenen, die sich typischerweise aus authentischen mehrsprachlichen Sprech- und Denkweisen ergeben und die die mentale Verknüpfung der verschiedenen Sprachensysteme einer Person belegen. Code-Switching oder Code-Meshing erfahren insofern eine Neubewertung, als dass sie im Sinne eines Translanguaging 2 als die den Sprachenwechsel begleitenden Normalfälle und nicht als Defizite definiert werden. Die mitunter hochkomplexen Situationen urbaner und transnationaler Kommunikation, wie sie auch mit dem Begriff des Metrolingualism beschrieben werden (vgl. O TSUJI / P ENNYCOOK 2010: 246) und sich in sprachlich, kulturell und ethnisch superdiversen Settings darstellen, verlangen nach kreativen Lösungen, um Kommunikation gelingen zu lassen: We are facing serious Post-Multilingualism challenges […] where simply having different languages is no longer sufficient either for the individual or for society for a whole, but multiple ownerships and more complex interweaving of languages and language varieties, and where boundaries between languages, between languages and other communicative means, and the relationship between language and the nation-state are being constantly reassessed and challenged (L I 2017: 15). Das Hin- und Herwandern zwischen verschiedenen Sprachen zeugt insbesondere in polyglotten Kommunikationssituationen von dem Bemühen der SprecherInnen, ihre Gedanken mit einem Höchstmaß an sprachlicher Präzision zum Ausdruck zu bringen und so zu einem optimalen gegenseitigen Verstehen beizutragen. Auch sprachökonomische Gründe kommen hier zum Tragen, denn es ist effizienter, in der Sprache zu sprechen, in der der Gedanke mental geformt wird, als Zeit zu investieren, um nach einer passenden Übertragung oder Übersetzung in eine andere Sprache zu suchen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf Verständigung, weshalb die Übertragung eher sinngemäß als wortwörtlich vorgenommen wird. Auch in Bezug auf historische Realitäten leistet das Konzept der funktionalen Mehrsprachigkeit einen wichtigen Beitrag dazu, anachronistische Vorstellungen zu 2 Gleichzeitig weist der Ansatz des Translanguaging nach L I (2017: 27) über die eigentliche Sprachenhandlung hinaus, da er vielmehr eine Forschungsperspektive darstelle, die nicht nur herkömmliche sprachliche Systeme in Frage stelle, sondern auch über die Disziplinen hinweg neue Sichtweisen auf das Sprachenlernen eröffne. Das Konzept der funktionalen Mehrsprachigkeit 47 51 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0018 überwinden, denn die Gleichwertigkeit, die sie allen Sprachen der Welt zuspricht, trägt dazu bei, Resultate kolonialer Sprachendiktaturen zu bewältigen und zu überwinden. Die mit Mehrsprachigkeit einhergehende Vielfalt zielt somit auf das Respektieren menschlicher Diversität und unterschiedlicher Formen der Lebensgestaltung. Das Sprachenrepertoire von HerkunftssprecherInnen birgt in diesem Zusammenhang großes Potential, wenn es darum geht, einander zu verstehen, zwischen verschiedenen Standpunkten zu vermitteln und gemeinsam Lösungen zu finden, denn die SprecherInnen sind nicht nur Sprachen-, sondern auch Werte- und KulturmittlerInnen. So kann funktionale Mehrsprachigkeit Anteil daran haben, Bildungsungerechtigkeiten auszugleichen, indem die Hervorhebung einzelner Sprachen abgeschwächt wird und die Bedeutung und Relevanz von Sprachen und ihren Varietäten gestärkt werden. Fragen des Sprachenprestiges treten bei dieser Betrachtungsweise in den Hintergrund, welche bei einer rein dichotomen Sprachenverwendung Deutsch-Englisch virulent durchscheinen. 5. Funktionale Mehrsprachigkeit am Beispiel der europäischen Technischen Universität Darmstadt Mit der Wahl eines neuen Präsidiums 2019 erfolgte an der Technischen Universität Darmstadt (fortan TU Darmstadt) eine konzeptionelle Neuausrichtung: Das Amt des bisherigen Vizepräsidenten für Transfer wurde um das Ressort Internationalisierung erweitert. Als eine von sieben Teilstrategien bildet die in dessen Aufgabenbereich fallende Internationalisierungsstrategie einen Bestandteil des neu zu entwickelnden bzw. des neu entwickelten innovativen Strategiekonzeptes der TU Darmstadt. Eines der Ziele der Internationalisierungsstrategie ist dabei, die Hochschule zu einer „mehrsprachigen Institution“ (D IE P RÄSIDENTIN DER T ECHNISCHEN U NIVERSITÄT D ARMSTADT 2020: 79) zu entwickeln. Im Rahmen des gesamten Strategiekonzeptes der TU Darmstadt (vgl. ebd.) entsteht ein Sprachenkonzept, für das dieser Beitrag ein Hintergrundbaustein ist. Dieses Sprachenkonzept beauftragt der Vizepräsident für Internationales und beruft Fachleute für seine Erstellung. Dabei ist funktionale Mehrsprachigkeit ein integraler Bestandteil der Internationalisierungsstrategie (ebd.: passim). Dieser Ansatz reflektiert ihr Selbstverständnis als „Europäische Universität“ (ebd.: 77). Als Technische Universität übernimmt die TU Darmstadt hier die Rolle einer Vorreiterin: Dass neben den internationalen auch Studierende aus zugewanderten Familien einerseits fach- und studienbezogene Deutschförderung brauchen, andererseits aber auch sprachliches Kapital mitbringen, das derzeit an den Hochschulen nicht kapitalisiert werden kann […], wird an den Hochschulen bisher noch nicht in vollem Umfang wahrgenommen. Die Ausarbeitung von Mehrsprachigkeitsstrategien an Stelle einer allein auf Englisch ausgerichteten Sprachenpolitik stellt an den Hochschulen ein sprachenpolitisches Desiderat dar (K RUMM 2021: 148, Hervorhebung im Original). Wie das Konzept der funktionalen Mehrsprachigkeit an der TU Darmstadt aussieht, soll im Folgenden an einigen beispielhaften Kommunikationssituationen veranschau- 48 Constanze Bradlaw, Britta Hufeisen, Stefanie Nölle-Becker DOI 10.24053/ FLuL-2022-0018 51 • Heft 2 licht werden. Diese trugen entscheidend dazu bei, in den Gremiensitzungen, bei denen über das Konzept der funktionalen Mehrsprachigkeit teilweise sehr kontrovers diskutiert wurde, Überzeugungsarbeit zu leisten. Wichtig waren hierbei die bereits oben angesprochenen Aspekte des (noch) nicht Perfekten, des Situativen, des momentan Notwendigen an Sprachlichkeit. Sie sind u.a. Ausdruck der ungeheuren Dynamik nicht nur der institutionellen Transformationsprozesse an Hochschulen in Deutschland und anderswo allgemein, sondern auch speziell der akademischen Mehrsprachigkeitsdebatte. Neben der oder den L1 sollen, und das möglichst früh, wenigstens zwei Fremdsprachen erworben werden, wobei diese idealerweise eine überregionale Verständigungssprache wie Englisch oder Spanisch sowie eine Minderheiten- oder Nachbarsprache umfassen, wie die von der Intellektuellengruppe der Europäischen Kommission vorgeschlagene „persönliche Adoptivsprache“ (E UROPÄISCHE K OMMISSION 2008: 7) als Gegengewicht zur Verkehrssprache. Eine dieser Sprachen kann daher eine sein, die man im Urlaub verwendet, weil man immer wieder gerne in dieses eine Land fährt, oder weil man dort immer wieder universitäre Projekte durchführt. Dann kann es praktisch sein, in dieser Landessprache sprachenhandlungskompetent zu sein, d.h. sie auf einem Niveau benutzen zu können, um beispielsweise mit Universitätsangehörigen außerhalb des eigenen Projektverbunds in einem lockeren Plauderton kommunizieren zu können. Dabei kann funktionale Mehrsprachigkeit den Erkenntnisprozess befördern, wie H U (2018: 379) anhand mehrsprachiger Seminarmitschriften an der Universität Luxemburg nachwies, bei denen das Einbeziehen mehrerer Sprachen „ein tieferes Verstehen und Verarbeiten“ der im Seminar vorgestellten Inhalte ermöglicht. Gleichzeitig gilt es, die Gleichwertigkeit der Sprachen zu betonen. Bei funktionaler Mehrsprachigkeit gibt es keine wichtigen oder unwichtigen, wertvollen oder wertlosen Sprachen. Zweifelsohne sind Deutsch und Englisch an der TU Darmstadt auf den ersten Blick die nützlichsten, trotzdem sind andere Sprachen ebenfalls wichtig und in bestimmten Situationen vielleicht sogar nützlicher als diese beiden. Gerade die sogenannten Herkunftssprachen erfahren in diesem Kontext eine wichtige Aufwertung als Beitrag zur sprachlichen Diversität an der Hochschule. Wenn z.B. ein ERASMUS-Student aus der Türkei einen bestimmten Sachverhalt weder auf Deutsch noch auf Englisch versteht (z.B. weil das verhandelte Verfahren in der Türkei so nicht existiert), ist es sehr hilfreich, wenn jemand mit entsprechenden Kenntnissen sprachenmittelnd eingreifen und durch Übersetzung oder Erklärung die Verständnisprobleme lösen kann. Funktionale Mehrsprachigkeit trägt daher zu einem guten Verstehen bei, denn sie lässt zu, auf weitere Sprachen auszuweichen und sie miteinzubeziehen, wenn die Gedanken in der einen Sprache nicht zufriedenstellend zum Ausdruck gebracht werden können. So kann Sprachenmittlung zwischen Menschen mit verschiedenen Erstsprachen zu gelingender Verständigung beitragen. Beispiele einer solchen Sprachenmittlung könnten Nachfragen, Wechsel in eine der Erstsprache(n) der SprecherInnen oder eine Übersetzung im Sinne einer inhaltlichen Übertragung sein. Das Konzept der funktionalen Mehrsprachigkeit 49 51 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0018 Zur Herstellung von Verständigung wird in solchen mehrsprachigen Kommunikationssituationen häufig auf Englisch zurückgegriffen. Zwar umfasst funktionale Mehrsprachigkeit derzeit an der TU Darmstadt auch Englisch, aber es sollte immer klar sein, dass meist die jeweilige Erstsprache in einer englischsprachigen Version gesprochen wird. Sprachensozialisation, also die erzieherische Vermittlung dessen, was in einem spezifischen sprachlichen und kulturellen Kontext als angemessen gilt, erfolgt in der Regel in unserer/ n Erstsprache/ n. Die kulturell gefärbte, individuelle Sprachensozialisation scheint auch im Gebrauch einer Fremdsprache durch (vgl. z.B. B OLTEN 2006). 6. Fazit Im Kontext Hochschule bietet funktionale Mehrsprachigkeit einen Anlass, Entstandenes und Entstehendes in einer lebendigen Sprachenpraxis verschmelzen zu lassen und demokratische, wissensgenerierende sowie inkludierende Prozesse zu initiieren und zu begleiten. Funktionale Mehrsprachigkeit in der Wissenschaft ermöglicht die Integration unterschiedlicher Sichtweisen und befördert die Entwicklung von Wissen und Erkenntnissen. Sie bildet zukünftige Sprachenverwendung bereits heute als Ausdruck einer diversen Gesellschaft ab, in der Sprachen nicht streng an Nationen, Staaten, Ethnien oder Kulturen gebunden sind, sondern individuell je nach Kontext eingesetzt und mit anderen Sprachen kreativ verknüpft werden. Das Konzept greift damit aktuelle gesellschaftliche Veränderungen auf und bezieht sie bereits jetzt in akademisches Handeln mit ein. In den oft superdiversen und hochkomplexen Kontexten unserer alltäglichen Kommunikationssituationen beobachten wir die Mischung unterschiedlicher Sprachenrepertoires, oder mischen Sprachen aktiv selbst. Welche Sprache(n) der Welt im Laufe der weiteren Menschheitsgeschichte für Gesellschaften und ihre Institutionen lokal, regional und global Bedeutung erreichen, können wir heute noch nicht wissen. Aber wir können uns und alle AkteurInnen der Universitäten darauf vorbereiten - indem wir Mehrsprachigkeit fördern und so über die oben beschriebene Inklusion aller zeigen, dass funktionale Mehrsprachigkeit eine demokratische Grundhaltung fördert und abbildet, was wir an anderer Stelle weiter vertiefen werden. Damit kommen wir unserem Auftrag nach, alle Mitglieder der Hochschulgemeinschaften nachhaltig zu bilden, zu fördern und im Sinne unserer europäischen Werte Gleichheit und Solidarität zu schaffen sowie (Sprachen-) Barrieren abzubauen. Gemeinsam werden wir so zu Handelnden, die akademische Kommunikations- und Erkenntnisprozesse aktiv mitgestalten und die angesichts der globalen Herausforderungen notwendige gesellschaftliche Transformationsprozesse in demokratischer Weise befördern. Lasst uns also mehr Mehrsprachigkeit wagen! 50 Constanze Bradlaw, Britta Hufeisen, Stefanie Nölle-Becker DOI 10.24053/ FLuL-2022-0018 51 • Heft 2 Literatur A CADEMIC C OOPERATION A SSOCIATION (ACA) (2021): „Economic benefit of int. students in the UK“. https: / / aca-secretariat.be/ newsletter/ economic-benefit-of-international-students-in-the-ukpre-pandemic-rise-but-what-next/ (07.12.2021). A IREY , John (2012): „‘I don’t teach language’. The linguistic attitudes of physics lecturers in Sweden“. In: AILA Review 25, 64-79. A LTHAUS , Achim / H UFEISEN , Britta / K LEPPIN , Karin / K OREIK , Uwe / L UCKSCHEITER , Roman / R OCHE , Jörg / R ÖSLER , Dietmar / T HIMME , Christian / W ERNER , Jürgen (Hrsg.) 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