Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2022-0025
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Gnutzmann Küster SchrammAnna Katharina SCHNELL: Schreibprozesse und Schreibentwicklung in der Fremdsprache. Eine empirische Untersuchung zum L2-Schreiben von Französischstudierenden. Berlin [etc.]: Lang 2020, 460 Seiten [74,80 €]
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Marlene Aufgebauer
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DOI 10.24053/ FLuL-2022-0025 51 • Heft 2 Anna Katharina S CHNELL : Schreibprozesse und Schreibentwicklung in der Fremdsprache. Eine empirische Untersuchung zum L2-Schreiben von Französischstudierenden. Berlin [etc.]: Lang 2020, 460 Seiten [74,80 €] Desiderata der Schreibprozess- und Schreibentwicklungsforschung sowohl in Bezug auf das erstsprachliche als auch auf das fremdsprachliche Schreiben sind trotz mindestens fünf Jahrzehnten Forschungsarbeit in diesen Bereichen bis heute zahlreich vorhanden. S CHNELL thematisiert in ihrer Monographie einleitend in Kapitel 1 ebenso das Fehlen von „Forschungsarbeiten und wissenschaftliche[n] Diskussionen [vor allem] zu methodisch-didaktischen Fragen zum L2-Schreiben“ (S. 13), verdeutlicht die Dringlichkeit weiterer Untersuchungen zu L2-Schreibprozessen und daraus ableitbarer Erkenntnisse für die fremdsprachliche Schreibdidaktik und setzt sich in ihrer Longitudinalstudie das Ziel, L2-Schreibprozesse anhand der Grounded Theory (GT) zu analysieren, mögliche Veränderungen von L2-Schreibprozessen über den Untersuchungszeitraum von zwei Jahren aufzudecken und ausgehend von den Ergebnissen ihrer Analysen schreibdidaktische Empfehlungen abzuleiten. Im Sinne der GT formuliert die Autorin sehr offene forschungsleitende Fragestellungen, die darauf fokussieren, welche L2- Schreibprozesse sich bei den Studienteilnehmer*innen (10 Frankoromanistikstudierende (BA) der Universität Bremen) generell rekonstruieren lassen, wie sich diese innerhalb von zwei Jahren verändern, wie sich die Produktqualität der produzierten Lerner*innentexte verändert, welche L2-schreibdidaktischen Empfehlungen sich aus den Ergebnissen ableiten lassen und ob „neue Erkenntnisse für die Theoriebildung des L2-Schreibens oder der L2-Schreibdidaktik ermittelt werden“ (S. 15) können. In diesem ambitionierten Vorhaben werden synchrone Schreibprozessdaten mittels Lauten Denkens und Bildschirmaufnahmen sowie asynchrone Daten mittels retrospektiver Interviews erhoben und um Informationen aus einer Fragebogenerhebung zu Lese-, Schreib-, und Fremdsprachenlernerfahrungen sowie Fremdsprachenlernbemühungen ergänzt. Nach diesem einleitenden Überblick wird in Kapitel 2 der Forschungsstand der L1- und L2-Schreibprozessforschung dargestellt, der von zahlreichen, ungewöhnlich langen direkten Zitaten vorangegangener Studien geprägt ist. Bemerkenswert bei der Darstellung des Forschungsstandes ist der sehr interessante Blick über den Tellerrand, der neben Erkenntnissen aus der Expertise- und Problemlösungsforschung auch Gefühle und Selbstregulationsmechanismen beim Schreiben sowie lernpsychologische Aspekte (writing-to-learn-content v.a. beim L1-Schreiben und writing-to-learn-language in Bezug auf die fremdsprachliche Sprachlehr- und -lernforschung) integriert. Kapitel 3 fokussiert ausführlich die einleitend bereits angerissenen Aspekte der Datenerhebung und beschreibt den Ablauf der Studie, die Schreibaufgabe, die Datenaufbereitung und die Teilnehmer*innen en détail. Erwähnenswert und diskussionswürdig erscheint die Entscheidung der Autorin, für alle Datenerhebungen (sowohl zu Beginn der Untersuchung, am Ende der Untersuchung und bei 4 der 10 Teilnehmer*innen auch ca. in der Mitte des Untersuchungszeitraumes) dieselbe Aufgabestellung * für das Elizitieren der Schreibprozessdaten vorzugeben (S. 144f.). Es stellt sich die Frage, inwiefern sich ein Gewöhnungseffekt einstellt (eine Möglich- * „Ist das Studentenleben dem Schülerdasein vorzuziehen? “ (S. 144). B e s p r e c h u n g e n Besprechungen 123 51 • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2022-0025 keit, deren sich die Autorin auch bewusst ist) und ob aufgrund einer möglichen Entlastung des Arbeitsgedächtnisses während des Ideengenerierungsprozesses durch bereits vorhandenes bereichsspezifisches Wissen die tatsächliche Schreib(prozess)-entwicklung abgebildet werden kann. Gerade in Bezug auf die Datenerhebungsmethode des Lauten Denkens wird davon ausgegangen, dass automatisierte Prozesse nicht verbalisiert werden und demnach kaum rekonstruiert werden können. Für den Einsatz derselben Aufgabenstellung spricht neben der besseren Vergleichbarkeit der Textprodukte laut S CHNELL auch folgendes Argument: Am wichtigsten ist, dass die Art der Fragestellung den Schreibaufgaben ähnelt, die in dem Kurs Schriftliche Kommunikation gestellt wurden und zu denen die untersuchten Studierenden während des Untersuchungszeitraums mehrere Texte schrieben. Dadurch konnte in dieser Arbeit der Einfluss schreibdidaktischer Interventionen in die Auswertung miteinbezogen werden (S. 144). Die Schreibproduktuntersuchung wird in Kapitel 4 dargestellt. Trotz einer recht allgemein gehaltenen kurzen Definition der Analysekriterien für die Textbewertung (Orthografie, Grammatik, Ausdruck, Textgrammatik, Inhalt) überzeugt das weitere Vorgehen in Bezug auf die Auswahl und Anzahl der Rater*innen (10 Lehrer*innen; L1Französisch), die Wahl der Ratingskala (sechsstufige bipolare Rating-Skala zur Vermeidung einer starken Tendenz zur Mitte) und die Integration von drei Texten von Schreiber*innen mit der L1 Französisch (S. 175f.). Die Berechnung der Interrater-Reliabilität ergibt für alle fünf Kriterien gute bis sehr gute Übereinstimmungen. Überraschend waren für die Autorin die Ergebnisse der Textqualitätsbewertung, die zeigten, dass die Bewertungen der sprachlichen Leistungen vieler Studierender zumeist im Minusbereich, also zwischen einem und drei Punkten, wobei nur vier bis sechs Punkte eine „positive“ Leistung darstellen, und bei der finalen Datenerhebung nur leicht darüber lagen (S. 179f.). Kapitel 5 beleuchtet die Grenzen und Möglichkeiten von Lautdenkdaten bei Schreibprozessuntersuchungen. Hier werden neben den hinlänglich bekannten Aspekten wie Güteeinschätzung des Lauten Denkens, Sprachvorgaben, Sprachwahl während der Instruktion der Proband*innen und Reaktivität auch selten thematisierte Aspekte berücksichtigt, wie beispielsweise die Verbalisierungsfähigkeit der einzelnen Teilnehmer*innen. Ebenso werden zahlreiche sehr treffende Beispiele aus den erhobenen Lautdenkdaten diskutiert, die vor allem selten rekonstruierbare Prozesse (z.B. Selbstbeobachtung) und während des Lesens oder Formulierens parallel ablaufende Prozesse (Planung, Bewertung, Entscheidungen), die mitunter erst im Nachhinein verbalisiert werden, veranschaulichen. Die gewählte Datenanalysemethode Grounded Theory wird in Kapitel 6 zielführend mit Blick auf die Anwendbarkeit einzelner Analyseschritte auf das eigene Datenmaterial beschrieben. Adaptierungen der Methode bzw. Limitationen werden reflektiert und nachvollziehbar begründet. In Kapitel 7 werden die entwickelten Analysekategorien präsentiert und anhand von Datenbeispielen untermauert. Zunächst werden Subkategorien aufgezeigt, welche anschließend zwei Hauptkategorien zugeordnet werden. Die Hauptkategorien repräsentieren zwei Phasen im Schreibprozess, die als Problembezogene Passagen (Schreib- und L2-Probleme) und Voranschreitende (problemfreie) Textproduktion bezeichnet werden. Ebenso konnten im Sinne der GT Prozessaspekte der Aktualgenese rekonstruiert werden, die drei Textproduktionsphasen (Nebentext-, Haupttext- und Revisionsphase) abbilden. Kapitel 8 geht auf die Ergebnisse der Schreibprozessuntersuchung ein. Es werden Bearbeitungszeit und Textproduktionsgeschwindigkeit, die Textproduktionsphasen, problembezogene 124 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2022-0025 51 • Heft 2 Passagen (unterschiedliche L2-Probleme, Schreibprobleme und Problembehandlungen) sowie die voranschreitende problemfreie Textproduktion (Planungsprozesse, Formulieren und Verschriften, Bewertungs-, Entscheidungs- und Leseprozesse) in den Blick genommen und hinsichtlich der Veränderungen bzw. Entwicklungen im Laufe des Untersuchungszeitraumes diskutiert. In Bezug auf die problembezogenen Passagen ließen sich Probleme im Bereich der Lexikosemantik am häufigsten und im Bereich der Morphosyntax zahlreich identifizieren. Zu den rekonstruierbaren Schreibproblemen (inhaltliche Probleme, Probleme in Bezug auf Textgrammatik und -pragmatik) und den entsprechenden Lösungsversuchen schreibt die Autorin: „Es gab zahlreiche Hinweise in den Lautdenkdaten, dass die Schreibproblembehandlungen emotional-kognitiv wesentlich belastender für die untersuchten Studierenden waren als die L2- Problembehandlungen“ (S. 373). Trotz des vergleichsweise langen Zeitraumes von zwei Jahren zwischen der ersten und der letzten Datenerhebung und trotz der zwischen den Datenerhebungen von den Studienteilnehmer*innen absolvierten sprachpraktischen Veranstaltungen an der Universität überrascht es sehr - auch die Autorin -, dass nur in wenigen Bereichen (positive) Entwicklungstendenzen zu erkennen waren. Ein leichter Rückgang an Wissenslücken (fehlende L2-Äquivalente) ließ sich ermitteln und es konnten häufiger Ad-hoc-Formulierungen in der L2 und ein entsprechend leichter Rückgang an L1-Formulierungen beobachtet werden. In Kapitel 9 werden ausgehend von den Ergebnissen der Schreibprozessuntersuchungen Hypothesen formuliert, deren Überprüfung ein Desiderat für zukünftige Forschungsarbeiten darstellt, da sich diese „nicht bis zu einer sogenannten Sättigung an den Daten verifizieren“ (S. 381) ließen. Diese Hypothesen werden mit Blick auf die fremdsprachliche Schreibdidaktik diskutiert und in Kapitel 10 in Form von methodisch-didaktischen Vorschlägen für den L2- Schreibunterricht präsentiert. In den schreibdidaktischen Überlegungen werden u.a. die Schulung text- und sprachbezogener Fähigkeiten durch Prewriting-Aktivitäten, die Ausbildung eines Problembewusstseins und die Entwicklung von funktionalen L2-Schreibstrategien, das Definieren von Lernzielen und das Anpassen von Hilfsmitteln (themenbezogene Wortfelder vertiefen; Textmuster anhand von Mustertexten bewusst machen), die zeitliche Entlastung von Gliederungs- und Überarbeitungsphasen sowie die gezielte sprachliche Arbeit vor dem Schreiben vorgeschlagen. Diese methodisch-didaktischen Überlegungen sind passgenau auf die Behebung der in der Studie identifizierten Schreibschwierigkeiten ausgerichtet und auch allgemein für die (fremdsprachliche) Schreibdidaktik empfehlenswert, jedoch kein Novum. Innovativ und interessant sind der in anderen Studien kaum thematisierte Aspekt der Gefühlsregulation und die Vorschläge, die zum Training der Gefühlsregulation gemacht werden, wie beispielsweise in kognitiv-emotional-belastenden Situationen Prozesse bewusst zu verlangsamen, um hohe Erregung (und auch Frustration oder schnelles Aufgeben) zu reduzieren oder zu vermeiden. Kapitel 11 bietet eine kurze Zusammenfassung der Studie und rundet die Arbeit durch Schlussbemerkungen ab. Die Lektüre lohnt sich nicht nur für Schreibforscher*innen, sondern auch für Fremdsprachendidaktiker*innen, obwohl der Lesefluss zeitweise durch bedauerliche Tippfehler unterbrochen wird. Besonders zu empfehlen ist die Lektüre aufgrund der in anderen Schreibprozessstudien kaum thematisierten Aspekte, wie beispielsweise die Gefühlsregulation während des Schreibens, die sich förderlich oder hemmend auf den Schreibprozess auswirken kann. Wien M ARLENE A UFGEBAUER