Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2022-0027
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
2022
512
Gnutzmann Küster SchrammGiuseppe MANNO, Mirjam EGLI CUENAT, Christine LE PAPE RACINE, Christian BRÜHWILER (Hrsg.): Schulischer Mehrspracherwerb am Übergang zwischen Primarstufe und Sekundarstufe I. Münster: Waxmann 2020, 342 Seiten [39,90 €]
91
2022
Jürgen Mertens
flul5120127
Besprechungen 127 51 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0027 ein besonders interessantes Merkmal des Buches. Was den Aufbau betrifft, so ist die kleinteilige Strukturierung der Kapitel ohne Zusammenlegen auf größerer Ebene zwar auf den ersten Blick etwas unübersichtlich, erlaubt aber im Gegenzug ein schnelles und zielgenaues Nachlesen und Wiederauffinden von Informationen. Einige Kleinigkeiten in der Formatierung hätte man noch verbessern können um die eigentlich gute Lesefreundlichkeit noch zu erhöhen: weniger Fußnoten und ein Index rerum wären hilfreich gewesen. Durch den Fokus auf den L3-Erwerb und das Miteinbeziehen der ersten Fremdsprache Englisch im Forschungsdesign behandelt die Studie ein wichtiges Thema für die Fachdidaktik der L3-Sprachen (d.h. v.a. der romanischen Sprachen) im deutschsprachigen Raum. D IETRICH - G RAPPIN nimmt dadurch die L3-Lehrpersonen in die Verantwortung für eine mehrsprachigkeitsdidaktische Unterrichtsgestaltung, aber sie liefert auch konkrete Vorschläge dafür, wie dies gelingen kann. Besonders interessant ist zudem die Haltung der Autorin (und ihrer Studie) gegenüber dem Englischen, das nicht als leidige Konkurrenz behandelt wird, sondern aktiv als Ressource im L3-Unterricht zum Einsatz kommt. Der Appell der Autorin in ihren abschließenden Überlegungen, Mehrsprachigkeitskompetenz als Bildungsziel zu verankern, ist aus Forschungssicht eine logische Konsequenz - und zu begrüßen. Dadurch wäre es besser möglich, die Heterogenität dieser Kompetenz anzuerkennen (und zuzulassen! ) und auch den identitätsstiftenden Aspekt von Mehrsprachigkeit mit in den Blick zu nehmen und zu fördern. Innsbruck C ARMEN K ONZETT -F IRTH Giuseppe M ANNO , Mirjam E GLI C UENAT , Christine L E P APE R ACINE , Christian B RÜHWILER (Hrsg.): Schulischer Mehrspracherwerb am Übergang zwischen Primarstufe und Sekundarstufe I. Münster: Waxmann 2020, 342 Seiten [39,90 €] Strukturveränderungen im Bildungsbereich kollidieren i.d.R. mit systemischer Trägheit, sind oft Folge von gegenstandsfernen Abwägungsprozessen und geben Anlass zu innersystemischen Konflikten. Umsetzung und Akzeptanz von Bildungsreformen beruhen nicht allein auf valider Evidenz und fundierten Sachargumenten; oft sind sie Ausdruck eines Kompromisses angesichts divergierender politischer Interessen. Das Autorenteam des vorliegenden Sammelbandes stellt sich der Aufgabe, eine evidenzbasierte Fachexpertise zu generieren. Es beforscht im Kontext der bereits 2004 lancierten Schweizer Fremdsprachenreform, vor dem Hintergrund der eidgenössischen Mehrsprachigkeit (4 Nationalsprachen, hoher Anteil an Herkunftssprachensprecher*innen, Diglossie-Situation für die Deutschschweiz) verschiedene Wirkungen einer solchen Systemveränderung; diese ist gekennzeichnet durch die Vorverlegung des Englischfrühbeginns in die 3. Klasse, die Umkehrung der Sprachenfolge (Englisch vor Französisch) und somit die Einführung eines „doppelten schulischen Fremdsprachenerwerbs“ (S. 9) innerhalb der 6 Klassen umfassenden Schweizer Primarstufe. Im Rahmen eines quasi-experimentellen Forschungsdesigns evaluieren die Forscher*innen auf der Grundlage umfangreicher Stichproben (Kanton St. Gallen) die horizontale wie auch die vertikale Kohärenz dieser Reform und setzen die Ergebnisse der Untersuchungsgruppe („Modell 3/ 5“, d.h. E ab Kl. 3, F ab Klasse 5) mit den Ergebnissen einer Vergleichsgruppe („Modell 5/ 7“, d.h. F ab Kl. 5, E ab Klasse 7) in Beziehung. Unter horizontal sind die Bezüge der Fremdsprachen Englisch und Französisch zueinander, wie auch zur Schulsprache Deutsch zu verstehen, unter vertikal die Verknüpfung des Fremdsprachenlernens über Schulstufen hinweg, insbesondere vor dem „Kontext wachsender sprachlicher Diversifizierung durch Migra- 128 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2022-0027 51 • Heft 2 tion“ (S. 312). Diese Perspektive ist vor allem im Hinblick auf die Nachhaltigkeit grundschulischen (Fremd-)Sprachenlernens von Relevanz, zumal die Bewertung dieses Lernbereichs i.d.R. unidirektional ausfällt und die Qualität der abgebenden Instanz Primarstufe, nicht aber die Qualität der aufnehmenden Sekundarstufe ins Visier genommen wird, was in der Geschichte des Fremdsprachenfrühbeginns in mehreren Fällen - bis heute - zum Um- und Abbruch entsprechender Initiativen geführt hat. Das Forschungsprojekt ist im Rahmen der Mehrsprachigkeits- und Tertiärsprachenforschung verortet, die von einem „dynamische[n], komplexe[n] Zusammenspiel zwischen den Sprachen“ (S. 10) ausgeht und sprachliches Lernen als integrativen Prozess, bei dem Lernende im konstruktivistischen Sinn neue Wissensbestände mit bereits vorhandenen verknüpfen. Untersucht werden am Übergang von (schweizerischer) Primar- und Sekundarstufe (d.h. anhand der Klassen 6 und 7) (1) „sprachenübergreifende Bezüge bzw. Spuren von Transferleistungen“ zwischen den beteiligten (Fremd-/ Schul-)Sprachen im Hinblick auf Textkompetenzen (mdl./ schriftl. Textproduktion und -rezeption) und (2) Überzeugungen zum und Wahrnehmung von Sprachunterricht aus der Sicht von Lehrkräften und Lernenden. Angesichts der Komplexität dieses Forschungsprojekts kann eine Rezension die vielfältigen Ergebnisse des Sammelbandes nur unzureichend würdigen. Diese Komplexität - mehrsprachlicher Ansatz, Vergleich zweier Kontexte, Lehrer*innen und Schüler*innenperspektive sowie eine Vielzahl an verschiedenen miteinander in Bezug gesetzten Variablen - zeugt von ungemein präziser Forschungsarbeit und macht zugleich die Lektüre des Bandes zu keinem Selbstläufer. Trotz einer klaren Struktur, einer auch in den Einzelbeiträgen erkennbaren transparenten Kontextbeschreibung, informierter fachlicher Einbettung und einer gründlichen methodischen Reflexion wie auch detailreich präsentierter und diskutierter Ergebnisse verlangt dieser Band seiner Leserschaft ein Höchstmaß an Konzentration, Ausdauer und Geduld ab. Es empfiehlt sich daher, neben dem ausgezeichnet synthetisierten Vorwort von Britta H UFEISEN (S. 7f.) sich zuerst der Einleitung (S. 9-27) und dem Synthesekapitel (S. 311-340) zuzuwenden. Diese rahmenden Kapitel (I, IV) verhelfen dazu, das Projekt einzuordnen und sich einen groben Überblick über die vielfältigen Facetten zu verschaffen. In den zentralen Kapiteln II und III widmen sich die Autoren in unterschiedlichen Teilforschungsteams den beiden Hauptachsen des Projekts: 1) der gegenseitigen Einflussnahme vorhandener mehrsprachlicher Ressourcen auf die rezeptive und produktive Textkompetenz bei den Lernenden und 2) der Rolle externer Einflussfaktoren (individuelle Lernvoraussetzungen, Unterrichtsmerkmale, Schultypen) auf den parallelen Erwerb mehrerer Sprachen. Unerlässlich ist es für den/ die Leser*in aber, sich parallel einen groben Überblick über das eidgenössische Bildungssystem zu verschaffen, um die Strukturbedingungen wie auch die verwendeten Begrifflichkeiten (z.B. Übergang, Primarstufe, Sekundarstufe, Schulsprache) korrekt einordnen zu können. Diese Informationen werden von den Autor*innen zwar immer wieder geliefert, z.T. auch redundant, doch nicht so kompakt, dass einem an zentraler Stelle der Lesefluss geebnet würde. Die jeweiligen Autoren*innen leiten die einzelnen Fragestellungen ihres Beitrags, mit exzellenten bibliographischen Verweisen und ausführlich dokumentierten Forschungskurzberichten versehen, kenntnisreich ein: - Giuseppe M ANNO referiert zentrale Forschungsarbeiten aus der Kognatenforschung und schließt von der Kognatenerkennung auf das Detailverständnis der schulischen Fremdsprachen. - E GLI C UENAT / B RÜHWILER stellen Arbeiten zur Entwicklung mündlicher und schriftlicher Textproduktion in Beziehung zur Frage der Transversalität und zur Kontinuität des Lernens. Besprechungen 129 51 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0027 - E GLI C UENAT / B LEICHENBACHER fokussieren auf den Tertiärsprachenerwerb (hier: Französisch) und die Wirkungen vorgelagerten Fremdsprachenlernens. - In einem zweiten Einzelbeitrag beschäftigt sich M ANNO mit den Zusammenhängen der Lesekompetenz beim Tertiärspracherwerb (hier: Französisch) in Bezug zu einer lebens- und schulsprachlichen Mehrsprachigkeit. - Dem Themenbereich der Lesestrategien widmen sich M ANNO / L E P APE R ACINE . - E GLI C UENAT / M ANNO unternehmen den Versuch, Zusammenhänge zwischen Rezeption und Produktion der Schulsprache Deutsch und der zwei Schulfremdsprachen aufzuzeigen. - Ein weiterer Beitrag (G EBHARDT / B RÜHWILER / M ANNO / E GLI C UENAT ) identifiziert Profile mehrsprachiger Textkompetenz. - Im zweiten Hauptteil des Bandes befragen L E P APE R ACINE / B RÜHWILER die Einstellungen von Schüler*innen und Lehrkräften nach Häufigkeit und Wirksamkeit von Sprachlernstrategien und stellen diese zu demographischen und sozialen Variablen in Beziehung. - Einblicke in die Gestaltung des Sprachunterrichts in Schul- und Fremdsprachen zu geben, ist das Anliegen des weiteren Beitrags von L E P APE R ACINE / B RÜHWILER : sie befragten sowohl Schüler*innen wie auch Lehrpersonen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden des Unterrichts in den Fächern Deutsch, Englisch und Französisch mit dem Ziel, Ansätze für eine Mehrsprachigkeitsdidaktik identifizieren zu können. - M ANNO / G EBHARDT fokussieren abschließend auf die systemische Ebene und stellen den Schultyp bzw. das Anforderungsniveau in den untersuchten Schul-(fremd-)sprachen mit den Lesekompetenzen von Schülern*innen im 7. Schuljahr in Beziehung. Aus der Fülle der Ergebnisse seien exemplarisch ein paar wenige herausgegriffen: - Im Hinblick auf die Lesekompetenz in Französisch konnte gezeigt werden, dass Englisch eine wichtige Brückenfunktion für die Merkleistung romanischer Lexik hat. Zugleich konnte ein Zusammenhang hergestellt werden zwischen der Kognatenerkennung in einer Fremdsprache und der fremdsprachlichen Leseleistung. - Was die Textproduktion anbelangt, so ließ sich vorrangig für das Schreiben nachweisen, dass Lernende sprachenübergreifend auf ihre Textstrukturierungsressourcen in Abhängigkeit der jeweiligen sprachtypologischen Nähe bzw. Distanz zurückgreifen können. - In Bezug auf die Umsetzung von Elementen einer Mehrsprachigkeitsdidaktik verweist die Studie auf die Diskrepanz zwischen dem, was die Lehrkräfte für sinnvoll halten und was sie tatsächlich tun, und folgert daraus Handlungsbedarf, um das Potenzial transversaler Spracharbeit auszuschöpfen. Der Band ist ein Musterbeispiel dafür, wie schulische Reformen begleitet, evaluiert und - so ist zu hoffen - weiterentwickelt, im Sinne von optimiert, werden. Erste Ansätze dazu skizziert das Autorenteam abschließend in seinem als „Desiderate“ bezeichneten Abschlussteilkapitel. Vor allem die Ausführungen zur Curriculumgestaltung, zur Weiterentwicklung von Lehrwerken und zur Lehrerbildung sind es mehr als wert - nicht nur in der Schweiz - Gehör zu finden. Es würde sich lohnen, das Synthesekapitel (S. 312-340) in einer sprachlich noch zugänglicheren Version auszukoppeln, damit die Erkenntnisse in bildungspolitischen Kreisen leichter ihren Einfluss entfalten können. Allen anderen sei die aufwändige, aber erhellende Lektüre des Buches sehr ans Herz gelegt! Ludwigsburg J ÜRGEN M ERTENS