eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 51/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2022-0030
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
2022
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David GERLACH: Kritische Fremdsprachendidaktik. Grundlagen, Ziele, Beispiele. Tübingen: Narr 2020, 236 Seiten [28,99 Euro]

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Lutz Küster
flul5120135
Besprechungen 135 51 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0030 Lernende außerschulisch rezipieren, nach der Entwicklung einer schulischen Lesekultur, um keine Bildungsausschlüsse zu produzieren, sowie nach einer stärker fächerübergreifend gedachten Förderung literarischer Kompetenzen. Ableiten lassen sich aus diesen Empfehlungen auch Implikationen für die Ausbildung von Fremdsprachenlehrenden. Nicht zuletzt ist die Studie ein Plädoyer für die enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis - auch, weil die beteiligten Lehrkräfte das Projekt für sich als gewinnbringend empfunden haben. Göttingen C AROLA S URKAMP David G ERLACH : Kritische Fremdsprachendidaktik. Grundlagen, Ziele, Beispiele. Tübingen: Narr 2020, 236 Seiten [28,99 Euro] Der Titel des Bandes macht neugierig, ist doch das Konzept einer Kritischen Fremdsprachendidaktik bislang nicht etabliert. Was ist darunter zu verstehen? Der Untertitel kündigt an, dass den Leser bzw. die Leserin sowohl theoretische Fundierungen und fremdsprachendidaktische Zielbestimmungen als auch beispielhafte Konkretisierungen erwarten. Der thematische Horizont ist also weit gesteckt. In seinem Einleitungsbeitrag, der in einer Entwurfsfassung vorab allen Beitragenden als Orientierungsrahmen zur Verfügung gestellt wurde, versucht der Herausgeber, an unterschiedliche soziologische, erziehungswissenschaftliche und sprachdidaktische Konzepte anknüpfend die Reichweite dessen auszuloten, was in seinem Verständnis unter kritischer Fremdsprachendidaktik gefasst werden kann. Wie ambitioniert das Vorhaben ist, lässt bereits ein der Einleitung vorangestelltes Zitat von Allan L UKE erahnen. Es sei, so der zitierte Autor, an der Zeit „to reconsider the nature of education and schooling in society“ (S. 7). Um eine derart umfängliche gesellschaftliche und pädagogische Perspektive geht es auch David G ERLACH . Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die im deutschen Bildungssystem angelegte und sich selbst reproduzierende Ungerechtigkeit, die laut OECD daraus resultiert, dass schulischer Erfolg in entscheidendem Maß von sozioökonomischen Faktoren abhängt. „Was wäre“, so G ERLACH , „wenn Schule und Bildung grundsätzlich auf den Abbau dieser Ungerechtigkeit fokussieren würde? “ (ebd.) Hierzu einen Beitrag zu leisten, betrachtet er als zentrale Aufgabe schulischen Fremdsprachenunterrichts. Schließlich ist dessen Gegenstand Sprache bzw. Sprachen ein Medium, das gesellschaftliche Machtstrukturen etabliert und perpetuiert, andererseits aber auch in der Lage ist, diese Machtstrukturen zu erkennen, zu hinterfragen und ihnen Paroli zu bieten. Daraus leitet G ERLACH das pädagogisch-didaktische Ziel ab, die Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufen zu einer Teilhabe an demokratischen Entscheidungsprozessen anzuleiten und sie in der Selbständigkeit des Denkens und Handelns zu fördern. Diesbezüglich sieht er in fremdsprachendidaktischen Diskursen zwar sehr wohl wichtige Ansätze, dominant sei jedoch eine Ausrichtung, der es vor allem um eine möglichst effektive Vermittlung funktional-kommunikativer Kompetenzen gehe. Pädagogische und bildungstheoretische Zielsetzungen macht er demgegenüber allenfalls isoliert in kultur- und literaturdidaktischen Schriften aus. Zur theoretischen Fundierung einer Kritischen Fremdsprachendidaktik, wie er sie versteht, greift er auf folgende „mögliche Bezugsquellen“ (S. 10-17) zurück: Kritische Theorie im Sinne der Frankfurter Schule, Kritische Erziehungswissenschaft (u.a. S ÜNKER , K LAFKI , J ANK und M EYER ), Kritische Pädagogik (v.a. F REIRE , G IROUX ), Critical Literacy (u.a. J ANKS , L UKE , B REIDBACH ) sowie Kritisches Denken (u.a. B LOOM , W ILLINGHAM ). Die Vielzahl dieser Theoriebasen vermittelt dem Band einen eher explorativen Charakter. Ein kohärentes Konstrukt vermag er hingegen nicht vorzustellen, was aber auch nicht sein Anspruch ist (vgl. S. 33). 136 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2022-0030 51 • Heft 2 In unterschiedlicher Gewichtung verbindet ein Großteil der Einzelbeiträge Grundsatzüberlegungen mit didaktisch-methodischen Konkretisierungen, insbesondere wenn danach gefragt wird, welche Themen und Texte (in einem semiotischen Sinne des Begriffs) das Potenzial bieten, dominanzkritische Bewusstwerdungsprozesse unter Lernenden im Fremdsprachenunterricht anzuregen. Folgende inhaltliche Schwerpunkte kommen dabei zur Sprache: • die Transgender-Thematik anhand von Jugendliteratur (Jan-Erik L EONHARDT , Britta V IEBROCK ), • die Queer Theory im Kontext einer unterrichtlichen Auseinandersetzung mit Heteronormativität (Thorsten M ERSE ), • „Schönheits- und Köpernormen als Thema in einer Kritischen Fremdsprachendidaktik“ (so der Untertitel des Beitrags von Lotta K ÖNIG ), • die Rolle von critical literacy zum Verständnis der gegenwärtigen Risikogesellschaft im Rahmen einer unterrichtlichen Behandlung literarischer Texte (Frauke M ATZ ) sowie • Gaming als kulturelle Praktik sprachlichen Lernens wie auch als Gegenstand gesellschaftskritischer Reflexion (Carolyn B LUME / Jonathon R EINHARDT ). Primär konzeptuell bzw. grundlagentheoretisch ausgerichtet sind Beiträge in Bezug auf • das Konzept einer critical digitalisation zur Fundierung eines machtkritischen Umgangs mit kulturellen Praktiken sozialer Interaktion und fremdsprachlichen Lernens in der digitalen Welt (Ivo S TEININGER ), • Hartmut R OSA s Resonanzkonzept in seiner Bedeutung für Bildungsprozesse generell und für gelingende Interaktionen im Fremdsprachenunterricht im Besonderen (Jochen P LIKAT ) und • die erziehungswissenschaftliche Rahmung des Plädoyers, Fremdsprachenunterricht pädagogisch zu denken (Andreas B ONNET , Uwe H ERICKS ). Dieser Beitrag zeichnet sich zudem dadurch aus, dass er die Setzungen des vorliegenden Bandes bereits einer kritischanalytischen Betrachtung unterzieht. Nicht nur den schulischen Kontext nimmt der Band in den Blick, auch hochschuldidaktische Aspekte kommen zum Tragen. Empirisch unterfüttert sind dabei Ausführungen zu • „Gestaltungsprinzipien einer Kritischen Fremdsprachendidaktik am Beispiel eines universitären Programms im Bereich Deutsch als Fremdsprache“ (Michael S CHART ) und zu • den Potenzialen dramapädagogischer Praktiken im Hinblick auf eine kritisch-reflexive Ausrichtung universitärer Lehrkräftebildung (Dagmar A BENDROTH -T IMMER ). Den Profilen einer Kritischen Lehrer*innenbildung gelten darüber hinaus die den Band abschließenden Überlegungen von David G ERLACH und Kenneth F ASCHING -V ARNER . Es ist hier nicht der Raum, auf alle Beiträge differenziert einzugehen. Gemein ist ihnen ein Menschenbild, das die Selbständigkeit des Denkens und Handelns gegen den Anpassungsdruck dominanter gesellschaftlicher Kräfte ins Recht setzt, seien diese (bildungs)politischer, wirtschaftlicher, moralisch-ethischer oder auch ästhetischer Natur. Sie weisen somit eine Nähe zu Ansätzen der Subjekt- und Bildungsorientierung auf, denen das Leitziel eines empowerment of the learner eingeschrieben ist. In ähnlicher Weise sehen B ONNET / H ERICKS das alle Beiträge Einende in einem pädagogischen Anspruch, der sich gegen vorrangig psycholinguistisch argumentierende und den Erwerb testbarer skills fokussierende Ansätze der Fremdsprachendidaktik wendet (vgl. S. 165). Eine erziehungswissenschaftliche Rahmung hätte in ihren Augen zur Folge, dass Fragen nicht so sehr der Themenwahl als vielmehr der Interaktionsgestaltung zwi- Besprechungen 137 51 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0031 schen Lehrer*innen und Schüler*innen das Hauptaugenmerk Kritischer Fremdsprachendidaktik gälte (vgl. ebd.). Indirekt distanzieren sie sich somit von vielen der oben gelisteten Schwerpunktsetzungen des vorliegenden Bandes. Der von ihnen präferierten Ausrichtung entspricht hingegen der (m.E. besonders lesenswerte) Aufsatz von P LIKAT zu R OSA s Resonanztheorie und deren Relevanz für das Verständnis und die Ziele unterrichtlicher Interaktion im fremdsprachlichen Kassenzimmer. Alle Beiträge habe ich mit Gewinn gelesen, ich kann das Buch somit unbedingt empfehlen. Gleichwohl weist es auch Schwachstellen auf. Wie oben angedeutet, haben wir es bei der ‚Kritischen Fremdsprachendidaktik‘ mit einem fuzzy concept zu tun, das in den einzelnen Beiträgen durchaus unterschiedlich mit Bedeutung gefüllt wird. Das muss keineswegs ein Manko sein. Wo allerdings innerhalb der Beiträge das Adjektiv ‚kritisch‘ so inflationär gebraucht wird, wie dies in manchen von ihnen der Fall ist (mir ist es vor allem im Beitrag zum Gaming aufgefallen), drängt sich der Eindruck einer Sloganisierung des Begriffs auf (vgl. auch S. 165). Das hätte vermieden werden können. Mich überrascht ferner, dass G ERLACH in seinem Einleitungsbeitrag die angeführten Bezugsquellen Kritischer Fremdsprachendidaktik nicht historisch rahmt. So wird die gesamte Debatte um die poststrukturalistisch inspirierte Kritik eines Denkens in Kategorien der Aufklärung unerwähnt gelassen. Ich denke v.a. an die Kritik Bruno L ATOUR s an eben jener strukturalistischen bzw. dekonstruktivistischen Kritik mitsamt ihrer Infragestellung des Wahrheitsbegriffs - eine Positionierung, die in soziologischen und philosophischen Diskursen bis in die Gegenwart hinein lebhaft diskutiert wird. Eher in der Einleitung hätte ich mir zudem eine Systematisierung des Kritikbegriffs gewünscht, wie sie später bei B ONNET / H ERICKS zu finden ist. Unter Berufung auf eine Verwendung in deutscher Wissenschaftstradition unternehmen die Beiträger einen pragmatisch-vereinfachenden Definitionsversuch: Zum einen bezeichne ‚Kritik‘ „die grundlegende und kategoriale Analyse einer Sache“, zum anderen aber auch „sich gegenüber einer Sache im Modus des Zweifels zu nähern und damit auszudrücken, dass man selbst damit noch nicht zufrieden“ sei (S. 165). Diesen Gedanken greifen David G ERLACH und Kenneth F ASCHING -V ARNER in einer den Band abschließenden Überlegung auf, wenn sie metareflexiv anmerken, dass das Postulat einer zweifelnden Grundhaltung selbstverständlich auch für die Positionierungen des vorgelegten Werks gelte (S. 230). Allzu leicht gerät Kritik in der Tat - wie in der aktuellen Pandemie auf beiden Seiten einer gespaltenen Öffentlichkeit zu beobachten ist - zu einer dogmatischen Haltung, die sich gegen jeweils anderslautende Auffassungen systematisch abschottet. Summa summarum: Das Buch stellt den gelungenen Versuch dar, die deutschsprachige Fremdsprachendidaktik hinsichtlich ihrer zentralen Aufgaben und Verantwortlichkeiten neu zu hinterfragen und kontroverse Diskussionen anzustoßen. In diesem Sinne ist dem Buch ein breites Echo zu wünschen. Berlin L UTZ K ÜSTER Andreas B ONNET , Uwe H ERICKS : Kooperatives Lernen im Englischunterricht. Empirische Studien zur (Un-)Möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule. Tübingen: Narr Francke Attempto 2020, 467 Seiten [78,00€] Die Monographie von Andreas B ONNET und Uwe H ERICKS dokumentiert auf 467 Seiten (inkl. Literatur) in detaillierter Weise eine longitudinal angelegte explorative Studie, in der vier Lehrer: innen und jeweils eine ihrer Klassen über drei Schuljahre bei der Umsetzung von Koopera-