Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2022-0031
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Gnutzmann Küster SchrammAndreas BONNET, Uwe HERICKS: Kooperatives Lernen im Englischunterricht. Empirische Studien zur (Un-)Möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule. Tübingen: Narr Francke Attempto 2020, 467 Seiten [78,00 €]
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Petra Knorr
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Besprechungen 137 51 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0031 schen Lehrer*innen und Schüler*innen das Hauptaugenmerk Kritischer Fremdsprachendidaktik gälte (vgl. ebd.). Indirekt distanzieren sie sich somit von vielen der oben gelisteten Schwerpunktsetzungen des vorliegenden Bandes. Der von ihnen präferierten Ausrichtung entspricht hingegen der (m.E. besonders lesenswerte) Aufsatz von P LIKAT zu R OSA s Resonanztheorie und deren Relevanz für das Verständnis und die Ziele unterrichtlicher Interaktion im fremdsprachlichen Kassenzimmer. Alle Beiträge habe ich mit Gewinn gelesen, ich kann das Buch somit unbedingt empfehlen. Gleichwohl weist es auch Schwachstellen auf. Wie oben angedeutet, haben wir es bei der ‚Kritischen Fremdsprachendidaktik‘ mit einem fuzzy concept zu tun, das in den einzelnen Beiträgen durchaus unterschiedlich mit Bedeutung gefüllt wird. Das muss keineswegs ein Manko sein. Wo allerdings innerhalb der Beiträge das Adjektiv ‚kritisch‘ so inflationär gebraucht wird, wie dies in manchen von ihnen der Fall ist (mir ist es vor allem im Beitrag zum Gaming aufgefallen), drängt sich der Eindruck einer Sloganisierung des Begriffs auf (vgl. auch S. 165). Das hätte vermieden werden können. Mich überrascht ferner, dass G ERLACH in seinem Einleitungsbeitrag die angeführten Bezugsquellen Kritischer Fremdsprachendidaktik nicht historisch rahmt. So wird die gesamte Debatte um die poststrukturalistisch inspirierte Kritik eines Denkens in Kategorien der Aufklärung unerwähnt gelassen. Ich denke v.a. an die Kritik Bruno L ATOUR s an eben jener strukturalistischen bzw. dekonstruktivistischen Kritik mitsamt ihrer Infragestellung des Wahrheitsbegriffs - eine Positionierung, die in soziologischen und philosophischen Diskursen bis in die Gegenwart hinein lebhaft diskutiert wird. Eher in der Einleitung hätte ich mir zudem eine Systematisierung des Kritikbegriffs gewünscht, wie sie später bei B ONNET / H ERICKS zu finden ist. Unter Berufung auf eine Verwendung in deutscher Wissenschaftstradition unternehmen die Beiträger einen pragmatisch-vereinfachenden Definitionsversuch: Zum einen bezeichne ‚Kritik‘ „die grundlegende und kategoriale Analyse einer Sache“, zum anderen aber auch „sich gegenüber einer Sache im Modus des Zweifels zu nähern und damit auszudrücken, dass man selbst damit noch nicht zufrieden“ sei (S. 165). Diesen Gedanken greifen David G ERLACH und Kenneth F ASCHING -V ARNER in einer den Band abschließenden Überlegung auf, wenn sie metareflexiv anmerken, dass das Postulat einer zweifelnden Grundhaltung selbstverständlich auch für die Positionierungen des vorgelegten Werks gelte (S. 230). Allzu leicht gerät Kritik in der Tat - wie in der aktuellen Pandemie auf beiden Seiten einer gespaltenen Öffentlichkeit zu beobachten ist - zu einer dogmatischen Haltung, die sich gegen jeweils anderslautende Auffassungen systematisch abschottet. Summa summarum: Das Buch stellt den gelungenen Versuch dar, die deutschsprachige Fremdsprachendidaktik hinsichtlich ihrer zentralen Aufgaben und Verantwortlichkeiten neu zu hinterfragen und kontroverse Diskussionen anzustoßen. In diesem Sinne ist dem Buch ein breites Echo zu wünschen. Berlin L UTZ K ÜSTER Andreas B ONNET , Uwe H ERICKS : Kooperatives Lernen im Englischunterricht. Empirische Studien zur (Un-)Möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule. Tübingen: Narr Francke Attempto 2020, 467 Seiten [78,00€] Die Monographie von Andreas B ONNET und Uwe H ERICKS dokumentiert auf 467 Seiten (inkl. Literatur) in detaillierter Weise eine longitudinal angelegte explorative Studie, in der vier Lehrer: innen und jeweils eine ihrer Klassen über drei Schuljahre bei der Umsetzung von Koopera- 138 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2022-0031 51 • Heft 2 tivem Lernen (KL) im Englischunterricht begleitet wurden. Die in mehrfacher Hinsicht lesenswerte Untersuchung nimmt triangulierend mehrere Perspektiven auf den komplexen Gegenstand ein: eine unterrichtsbezogene Prozessperspektive, eine auf sprachliche und soziale Kompetenzen gerichtete Produktperspektive sowie eine die Lehrer: innen und ihre Professionalisierung in den Blick nehmende Akteursperspektive. Die Studie wurde von 2007 bis 2010 an einem Gymnasium und einer Hauptschule durchgeführt. Grundlage der Publikation sind zwei ausführliche Einzelfallstudien der Gymnasiallehrerinnen Silke Borg und Yvonne Kuse (pseudonymisiert), die sich im Verlauf des Projekts als maximal kontrastierende Fälle herauskristallisierten. Die Einführung von KL in der gymnasialen Mittelstufe wird hier nicht, wie eventuell zu erwarten gewesen wäre, als Wirksamkeitsstudie oder Aktionsforschungsprojekt angelegt. Neben einem empirischen Interesse an der Weiterentwicklung von Unterricht und dem damit verbundenen Kompetenzzuwachs der Schüler: innen richtet sich das primäre Interesse des Forschungsteams auf die Orientierungen der Lehrerinnen in ihrem zeitlichen Verlauf und darauf, wie Schule als gesellschaftliche Institution die Umsetzung von KL erschwert oder unterstützt. Orientierungen bzw. Orientierungsrahmen werden einer wissenssoziologischen Grundhaltung folgend vor allem als implizites, atheoretisches Wissen verstanden, teils ergänzt durch explizites Wissen, welches mittels der Dokumentarischen Methode rekonstruiert wird. Als eine der immer noch seltenen longitudinal angelegten Studien leistet die Untersuchung einen wichtigen Beitrag, Entwicklungsprozesse sowohl in Hinblick auf Englischunterricht als auch bezüglich der Professionalisierung von Lehrer: innen in Wechselwirkung mit schulischen Strukturen nachzuzeichnen. Die im Vorwort vorgeschlagenen Leseoptionen für diesen umfangreichen Band wenden sich an verschiedene Lesergruppen: die Autoren stellen eine eher narrativ angelegte äußere Klammer (Kap. 1 und 7), eine innere Klammer (Kap. 2 und 6) sowie den Kern der Studie (Kap. 3-5) vor und zeigen damit, dass es ihnen trotz (oder aufgrund) des Umfangs von knapp 500 Seiten ein Anliegen ist, durch leserorientierende Maßnahmen eine breite Leserschaft anzusprechen und sich entsprechend auf sie einzustellen. Das erste Kapitel stellt die Ausgangssituation und Genese des Projekts sowie die Ziele der Akteure aus der (rekonstruierten) Sicht der Lehrerinnen sowie der Forscher dar, um anschließend die Forschungsfragen abzuleiten. Unter Rückgriff auf von den Lehrerinnen verwendete Metaphern („Pausenclown“, „Dompteur“, „Entertainer“) wird die Perspektive der Lehrerinnen zu Beginn des Projekts dargestellt. Sie zeugt von Unmut und dem Gefühl andauernder Anspannung, die u.a. aus einem Autonomiedefizit auf Lehrerinnensowie Schüler: innenseite resultiert. Sowohl Silke Borg als auch Yvonne Kuse möchten ihre Schüler: innen perspektivisch eher als Mentorinnen oder Lernbegleiterinnen unterstützen und sehen Potentiale in einer Stärkung individualisierender, kooperativer Lehr- und Lernformen. Die Darstellung anfänglicher Sichtweisen zeigt Beweggründe und Ziele für die Teilnahme an diesem Projekt auf. Gleichzeitig wird der/ die Leser: in bereits implizit mit Methoden der rekonstruktiven Sozialforschung vertraut gemacht. Neben der Sicht der teilnehmenden Lehrpersonen wird auch die Perspektive der Forschenden dargelegt und reflektiert, die an der Schnittstelle von Lehrer: innen(aus)bildung und beobachtender, rekonstruktiver Forschung agierten. Teil des Projekts war u.a. die Erstellung von Unterrichtsmaterialien in Absprache mit den Lehrenden im Rahmen universitärer Veranstaltungen, die den Lehrer: innen als Anregung und Entlastung dienen sollten und im Projektverlauf sukzessive an ihre Bedürfnisse angepasst wurden. Das Forschungsinteresse bestand hingegen primär darin, die Entwicklung des eigenen Unterrichts der Lehrerinnen unter Alltagbedingungen zu rekonstruieren. Der Herausforderung, das Geschehen so wenig wie möglich von außen zu beeinflussen, wurde dahingehend begegnet, dass die Lehrpersonen „didaktisch und methodisch sowohl das erste als auch das letzte Wort“ hatten (S. 24). Besprechungen 139 51 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0031 Theorierahmen und Forschungsstand werden gemessen an der Komplexität des Gegenstands in relativ konziser Form in Kapitel 2 erörtert (S. 33-65). Zentral für die Studie ist die Begriffsdefinition von KL als ein Konzept, das sich auf einem Kontinuum zwischen einfacher, niedrigschwelliger Umsetzung kooperativer Lehr-/ Lernformen auf der methodischen Mikroebene von Unterricht (im Sinne eines Think-Pair-Share), Makromethoden wie z.B. task-based approaches sowie einem umfassenderen Verständnis von KL, das integrative Modelle (z.B. Lernbüro, Projektarbeit) umfasst, befindet. Einen wesentlichen Bezugsrahmen bilden außerdem die sieben Basiselemente von KL (u.a. positive Abhängigkeit, gegenseitige Unterstützung, individuelle Verantwortung), die u.a. genutzt werden, um den Grad an Kooperativität zu bestimmen. Das zweite Kapitel leitet abschließend aus Theorie und Forschungsstand das Design der Studie ab. Gemäß der oben skizzierten drei Perspektiven auf den Forschungsgegenstand umfasst die Untersuchung eine Unterrichtsstudie, eine Sprachstudie und eine Professionsstudie. Die Unterrichtsstudie wird in Kapitel 3 in Form von zwei Fallstudien zum Unterricht von Silke Borg und Yvonne Kuse ausführlich präsentiert. Die Studie verwendet die auf der praxeologischen Wissenssoziologie basierende Dokumentarische Methode, um „wesentliche Merkmale des Unterrichts in den Projektklassen zu rekonstruieren und deren Entwicklung über die Dauer des Projekts nachzuzeichnen.“ (S. 75). Die Datenbasis dieser beiden Fallstudien bilden mehrere teilnehmende Beobachtungen sowie Videographien des Unterrichts, die über die drei Jahre hinweg durchgeführt wurden. Es bleibt unklar, wie viele Daten hier tatsächlich erhoben wurden. Aus der Ausbildungsperspektive ist interessant, dass eine umfassende Materialerstellung inklusive Unterrichtsplanung durch Studierende von den Lehrerinnen als nicht praktikabel, später erstellte, flexibel einsetzbare digitale Aufgabenblätter hingegen als hilfreich empfunden wurden. Diesbezüglich wären Einblicke in die Art der erarbeiteten und genutzten Materialien im Anhang interessant gewesen. Die ausführliche Darstellung der Unterrichtsstudie gewährt tiefe Einblicke in die Umsetzung von KL durch Silke Borg und Yvonne Kuse. Gleichzeitig wird ein Einblick in die forschungsmethodische Praxis der Dokumentarischen Methode gegeben, die für (Nachwuchs-)Wissenschaftler: innen mit Interesse an rekonstruktiver Forschung beispielhaft und inspirierend ist. Gleichermaßen aufschlussreich sind die Ergebnisse, die in Kapitel 3.4 fallvergleichend dargestellt werden. Hinsichtlich der untersuchten Aufgabenstruktur überwiegen die Ähnlichkeiten zwischen den Lerngruppen. Es ist z.B. bemerkenswert, dass eine relativ starke Form-Orientierung und nur in einem Fall eine leicht zunehmende Mitteilungsorientierung im Verlauf der drei Lernjahre rekonstruiert werden kann, obwohl der Grad an Kooperativität steigt. Die Autoren interpretieren dies u.a. als Folge einer starken Orientierung der Lehrer: innen am Lehrbuch. Da die Bedeutung des Lehrwerks eine nicht geringe Rolle im Rahmen der Studie spielt, wäre ein kurzer Exkurs zu Form- und Mitteilungsorientierung sowie Kooperativität innerhalb der verwendeten Lehrbücher, deren Veröffentlichung gegenwärtig bereits ca. 15 Jahre zurückliegt, zusätzlich von Interesse gewesen. In Hinblick auf die Partizipationsstruktur ist ein überwiegend gegenüberstellend-direktives Interaktionsmuster erkennbar. Art und Grad der Kooperativität unterscheiden sich jedoch in beiden Lerngruppen. Den damit einhergehenden bzw. zugrundeliegenden Orientierungen der Lehrer: innen wird in der Professionsstudie weiter nachgegangen. Die im anschließenden Kapitel dargestellte Sprachstudie basiert auf jeweils drei C-Tests der zwei Lerngruppen gegen Ende des 5., 6. und 7. Schuljahres. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der sprachliche Zugewinn der Lernenden dem üblicherweise im Englischunterricht erreichten Kompetenzzuwachs der 5.-7. Klasse entspricht, d.h. nicht signifikant darunter oder darüber liegt. Neben der mittels C-Tests erhobenen globalen Fremdsprachenkompetenz wurden auch die sozialen und metakognitiven Kompetenzen der Schüler: innen in den Blick genommen. 140 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2022-0031 51 • Heft 2 Die Analyse der Unterrichtsvideographien in Hinblick auf interaktionale Kompetenzen (z.B. der Umgang mit Konflikten oder die Organisationsfähigkeit) zeigte hier einen deutlichen Zugewinn. Im Rahmen der in Kapitel 5 dargestellten Professionsstudie wird danach gefragt, welche berufsbiographisch fundierten Orientierungen zu KL zu Projektbeginn vorhanden sind, wie sie sich im Unterricht niederschlagen und wie die Umsetzung von KL wiederum auf die Orientierungen der Lehrerinnen zurückwirkt. Methodisch werden hierfür explizite und implizite Wissensbestände der Lehrerinnen sowie deren Professionalisierung in longitudinaler Hinsicht mittels der Dokumentarischen Methode rekonstruiert, Datenbasis bilden berufsbiografische sowie episodische Interviews. In Kapitel 6 und 7 werden die drei Teilstudien zusammenfassend und aufeinander bezugnehmend diskutiert. Ernüchternd und ermutigend zugleich steht am Ende, was wir schon geahnt haben: Prüfungs- und Testorientierung, Allokations- und Durchprozessierungslogik, letztere u.a. bedingt durch das Lehrbuch, sind Teil des Habitus beider Gymnasiallehrerinnen. Damit wird das System, das kritisiert wird, zugleich aufrecht gehalten. Mit der Umsetzung von KL im gymnasialen Englischunterricht bringen sich die Akteure in Widerspruch zu kollektiven Normen. Den damit verbunden Erfahrungskrisen begegnen sie jedoch auf unterschiedliche Weise: teils durch Rückzug auf eine instruktivistisch-hierarchische Orientierung, teils durch eine Intensivierung der Bemühungen um KL. Mut macht, dass Yvonne Kuse es schafft, agency zu entfalten, u.a. durch kollegiale Kooperation und niedrigschwellige Einstiegsmethoden, und dass am Ende des Projekts ein Zuwachs an Reflexivität konstatiert werden kann. Interessant ist die Frage, wie diesen Befunden in der Lehrer: innenbildung zu begegnen ist. Hier hätte man sich gewünscht, die Autoren würden ihre vor dem Hintergrund dieser Studie zweifelsohne umfangreiche Expertise in weitere Implikationen für die Aus- und Weiterbildung einbringen. Die Studie ist vor allem in dieser Hinsicht von hohem Wert. Sie leistet einen wichtigen Beitrag, gegenwärtige ausbildungsbezogene Bemühungen um einen stärkeren Fokus auf implizite Wissensbestände, verinnerlichte Orientierungen und identitätsbildende, erfahrungsbasierte Lern- und Bildungsprozesse in der Lehrer: innenbildung zu stärken und weiter voranzubringen. Leipzig P ETRA K NORR