Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2023-0005
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2023
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Gnutzmann Küster SchrammDas Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht
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Christine Gardemann
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52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 C HRISTINE G ARDEMANN * Das Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht Abstract. The Corona pandemic has highlighted the consequences of individuals remaining in filter bubbles, in which background assumptions and subjective value systems are not recognised as such and are thus neither evaluated nor reflected upon. However, mutual understanding, or at least the willingness to engage with other perspectives, is the basis for our democratic coexistence. This article addresses the question of how the use of literature in the foreign-language classroom can contribute to stimulating the students’ self-reflection and reflection on the world. It discusses an understanding of the EFL classroom as an irritation-friendly space, in which the potential of literature can be explored through a changed view of the learners. It also argues for the consideration of the developmental tasks of adolescence as text selection criteria. Finally, it explores a comparison of the didactics of Fremdverstehen and a pedagogy of discomfort. 1. Ein ‚bildender‘ Blick auf den Englischunterricht Die Fremdsprachendidaktik hat den Anspruch, Schüler: innen im Fremdsprachenunterricht nicht nur fremdsprachliche Kompetenzen zu vermitteln, sondern auch Lernprozesse anzuregen, die zu einer Vielfalt von fachübergreifenden Lern- und Bildungszielen beitragen. Zu diesen zählen auch die (inter)kulturelle Bildung sowie der Beitrag, den der Fremdsprachenunterricht zur Persönlichkeitsentwicklung von Schüler: innen leisten kann. Es ist jene Persönlichkeitsentwicklung, die im Mittelpunkt dieses Beitrags steht. Dieser soll zum einen ein Plädoyer für die Nutzung literarischer Texte sein. Zum anderen aber blickt er auch kritisch auf die in Lehrwerken häufig anzutreffende Aufgabenstellung, die Schüler: innen dazu anregt, sich zur Anbahnung von selbst- und weltreflexiven Denkprozessen in die Perspektive einer fiktiven Figur hineinzudenken. Um Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung anzuregen, erscheint ein irritationsfreundliches Verständnis von Fachunterricht (B ÄHR et al. 2019) nötig, das den Ausgangspunkt für diesen Beitrag darstellt. Die Überlegungen zu dieser ‚Irritationsfreundlichkeit‘ sind anschlussfähig an die ebenfalls einzubringenden Diskurse aus der * Korrespondenzadresse: Vertr.-Prof. Dr. Christine G ARDEMANN , Universität Marburg, Institut für Schulpädagogik, Pilgrimstein 2, 35032 M ARBURG . E-Mail: christine.gardemann@uni-marburg.de Arbeitsbereiche: Literaturdidaktik, Lernerforschung, Professionsforschung 60 Christine Gardemann DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 52 • Heft 1 Fremdsprachendidaktik, die das Potenzial deutungsoffener Lerngegenstände wie Literatur für das Lernen und Lehren von Fremdsprachen betonen. Theoretische und empirische Arbeiten aus diesem Feld verbindet ein Blick auf (Fremd-)Sprache und Kultur(en), der diese (vor dem Hintergrund rezeptionsästhetischer und neuerer kulturdidaktischer Ansätze) als zu verhandelnde Konstrukte versteht. Besonders greifbar wird dieser Konstruktionscharakter von Sprache und Kultur im Fremdsprachenunterricht traditionell in der Literatur. Begegnen Lerner: innen fremdsprachlichen und kulturellen Phänomenen nicht abstrakt, sondern z.B. vermittelt durch die Weltsicht einer fiktiven Figur in einem erzählenden Text, werden diese einerseits konkreter greifbar. Andererseits werden derartige Phänomene in einer solchen, an individuelle Figuren gebundenen Weise, deutlicher als standortgebunden verständlich, was lesenden Lerner: innen wiederum erleichtern kann, auch ihre eigene Weltsicht als standortgebunden zu reflektieren. An dieser Stelle ist der literaturdidaktische Diskurs anschlussfähig an bildungstheoretische Ansätze, die Bildung als „Transformation von Selbst- und Weltreferenz“ (M AROTZKI 1990: 52) definieren, wie R OSELIUS (2021) mit Verweis auf K OLLER (2012) erläutert. Empirische Studien zum Englischunterricht (vgl. Abschnitt 4) zeigen allerdings, dass sich dieses Potenzial der Öffnung von Horizonten durch Literatur im institutionell gerahmten Setting der Schule immer wieder an Schließungstendenzen bricht, die sowohl von Lehrer: innen als auch Lerner: innen ausgehen. Als gemeinsames Muster tritt ein Bedürfnis der schulischen Akteur: innen nach Sicherheit, Vergewisserung und Eindeutigkeit hervor, das zum einen von persönlichen Voraussetzungen, zum anderen von situativen Vorbedingungen abzuhängen scheint. Die empirischen Ergebnisse teilen allerdings auch den Befund, dass es Schüler: innen oft schwerfällt, einen persönlichen Bezug zu Lerngegenständen aufzubauen. Um dies insbesondere Jugendlichen zu erleichtern, wendet sich der Beitrag daher im nächsten Schritt der Bildungsgangdidaktik zu, deren Vertreter: innen empfehlen, sich bei der Auswahl von Unterrichtsinhalten an den Entwicklungsaufgaben des Jugendalters zu orientieren. Anhand des Jugendromans Ace of Spades (À BÍKÉ -Í YÍMÍDÉ 2021) wird illustriert, wie eine solche entwicklungsgerechte Textauswahl gestaltet werden und zu welchen Entwicklungsaufgaben der Fremdsprachenunterricht beitragen kann. In einem letzten Schritt sollen dann zwei didaktische Perspektiven vorgestellt und verglichen werden. Zum einen ist dies die aus literaturdidaktischer Sicht positiv konnotierte Vorstellung, Leser: innen könnten sich im fiktiven Raum literarischer Welten mit Figuren identifizieren und stellvertretend Handlungen durchdenken (B REDELLA 2012). So werde die Imaginationsfähigkeit der Lernenden gestärkt, und genau diese Auseinandersetzung mit den Figuren und ihren Handlungsmöglichkeiten erlaube das Verstehen fremder Sichtweisen auf die Welt. Dem gegenüber steht die eher bildungstheoretisch verortete Perspektive B OLERS (1999), die in ihrer pedagogy of discomfort infrage stellt, ob eine Identifikation mit literarischen Figuren überhaupt möglich und zielführend ist, wenn es darum geht, Schüler: innen zu einer Reflexion von Selbst- und Weltverhältnissen zu bringen. Das Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht 61 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 2. Englischunterricht als ‚irritationsfreundlicher‘ Raum Im Englischunterricht begegnen Lernende den Sprachen, Kulturen und der Geschichte englischsprachiger Länder. Damit geht einher, dass sie neben einer anderen sprachlichen Sicht auf die Welt auch anderskulturelle Perspektiven kennenlernen. Eine solche Begegnung mit dem tatsächlich oder vermeintlich Anderen kann anfänglich zu Irritationen auf Seiten der Lernenden führen. Diese Irritation kann wiederum einen Impuls darstellen, um Anschlusskommunikation zu initiieren. Auf diese Weise verstanden sind derartige Irritationen nicht als Lernhürde oder Bildungshemmnis zu betrachten, sondern haben „das Potenzial, ein erfahrungsbasiertes, individuell und sozial bedeutsames Lernen anzuregen“ (B ÄHR et al. 2019: 12). Gelingt dies, geht der Unterricht hinaus über das reine Kennenlernen englischsprachiger Kulturen. Ergänzend können sich Lernende dann über die Subjektivität ihrer eigenen Weltsicht bewusst werden - eine Bewusstmachung, die ggf. sogar über den Rahmen des schulischen Englischunterrichts hinausgehen kann. Ein Unterricht, der die bei Schüler: innen auftretenden Irritationen aufgreift oder diese sogar gezielt inszeniert, wird von B ÄHR et al. (ebd.: 9) als „irritationsfreundlicher Fachunterricht“ bezeichnet. In einem solchen Unterricht kommt Lehrkräften die Aufgabe zu, die potenziell irritierenden Begegnungen zu begleiten, sie aber auch aktiv zu gestalten. Was dies bedeutet, kann anhand eines empirischen Fallbeispiels kurz verdeutlicht werden. In der Auseinandersetzung mit einer Rassismus und Polizeigewalt zeigenden Filmszene wird deutlich, dass sich die beiden diskutierenden Oberstufenschüler: innen involviert und irritiert fühlen, zugleich aber hochgradig stereotype Vorstellungen zu historischem wie aktuellem Rassismus in den USA in die Diskussion einbringen. Die durch das Gespräch über das Material ausgelöste Irritation wird in der Folge nicht produktiv bearbeitet, sodass die stereotypen Vorstellungen der beiden Schüler: innen trotz der anfänglichen Irritation bestehen bleiben und sie sich, im Gegenteil, sogar in ihrem Halbwissen gegenseitig bestätigen. Im experimentellen Setting der zugrundeliegenden Erhebung fehlt an dieser Stelle die Begleitung der Irritation durch die Lehrkraft. Diese könnte z.B. Kontextinformationen einbringen, falsches Wissen korrigieren und stereotype Vorstellungen aktiv moderierend aufbrechen (vgl. G ARDEMANN 2022: 40). Ein irritationsfreundliches Verständnis von Englischunterricht ist auf Seiten der Lernenden voraussetzungsreich. In einer klassischerweise vor allem durch die Allokationsfunktion, d.h. durch die Bewertung von Leistungen geprägten Schulumgebung (vgl. F END 2006), ist es nicht nötig, sich als ganze Person in unterrichtliche Kommunikation einzubringen. Das Erreichen guter Bewertungen ist auch ohne persönlichen Bezug zu den Lerngegenständen möglich (vgl. B REIDENSTEIN s Konzept des „Schülerjobs“, 2006). Im Gegensatz dazu fordert ein irritationsfreundlicher Fachunterricht die Lernenden dazu auf, sich auf für sie ungewohnte Sichtweisen einzulassen und damit auch einen Verzicht auf einfache Binaritäten wie ‚richtige‘ und ‚falsche‘ Textlesarten zu akzeptieren. Ein solcher Unterricht setzt allerdings ein für die erhofften Bildungsprozesse nötiges Vertrauen und Zutrauen von Lehrkräften in die Fähig- 62 Christine Gardemann DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 52 • Heft 1 keiten der Schüler: innen voraus, deren Sichtweisen im Umkehrschluss von Lehrenden wiederum ernst genommen und ggf. ausgehalten werden müssen (vgl. G ARDEMANN 2022: 40). Vor allem in der Begegnung mit englischsprachiger Literatur liegt eine große Chance, wenn es um die aktive Auseinandersetzung der Schüler: innen mit potenziell selbst- und weltreflexiver Literatur geht. 3. Literatur und Kultur: Vom Text zur Reflexion Ein grundsätzliches Hindernis, das es Schüler: innen erschwert, schulische Lernprozesse als für sie persönlich relevant zu erleben, identifizieren C OMBE und G EBHARD in der Tatsache, dass „Lernumgebungen und Arrangements […] oft künstlich und konstruiert“ seien (C OMBE / G EBHARD 2012: 17). Die Beschäftigung mit Jugendliteratur kann hier eine Möglichkeit darstellen, jener konstruierten Künstlichkeit ein Stück weit entgegenzuwirken. Trotz ihrer Fiktionalität sind die Figuren in diesen Texten in unserer Vorstellung von Realität verhaftet, werden von uns also so behandelt, als würden wir tatsächliche Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung betrachten. Dieses Einlassen auf die Logik fiktionaler Welten kann für jugendliche Leser: innen erleichtert werden, wenn die Themen der Texte Anschlüsse an die Lebenswelt der Lernenden bieten. An dieser Stelle erscheint ein kurzer Exkurs zu den verschiedenen Merkmalen und Potenzialen literarischer Texte sowie den Lernzielen, die mit der Behandlung von Literatur im Fremdsprachenunterricht eingelöst werden können, sinnvoll. Die Deutungsoffenheit literarischer Texte ist zum einen ihr wichtigstes Definitionsmerkmal (vgl. P ARKINSON / R EID T HOMAS 2022); sie bietet zum anderen ihr größtes Potenzial bei der Umsetzung eines irritationsfreundlichen Englischunterrichts. Die Offenheit literarischer Texte für verschiedene Lesarten erlaubt authentische Anschlusskommunikation und kann damit motivierend wirken, Freude am Lesen wecken und erhalten (vgl. H ENSELER / S URKAMP 2007), aber auch Ambiguitätstoleranz fordern wie fördern. Damit eröffnet Literatur auch Potenziale für kulturelle Bildungsprozesse (vgl. F REITAG -H ILD 2010). Die Texte bieten ihren Leser: innen Zugang zur Innenperspektive der Figuren. Zumeist werden in den Texten dabei sowohl eine eher kognitive (z.B. Wissen über Kulturen) als auch eine eher emotionale Ebene (z.B. kulturell geprägte emotionale Figurenreaktionen) angesprochen. Der anderskulturell geprägte Blick auf die Welt, der im Denken und Handeln der Figuren deutlich wird, kann zunächst irritieren, bei sensibler Begleitung des Leseprozesses und einer grundsätzlichen Bereitschaft, sich einzulassen auf diese Irritation, in einem nächsten Schritt aber auch den eigenen, ebenfalls kulturell geprägten Blick auf die Welt bewusst machen und schärfen. Bei dieser aktiven Beschäftigung kann deutlich werden, dass unterschiedliche Perspektiven auf dieselben Gegenstände, Aktionen und Situationen intersubjektiv nachvollziehbar sein können. Auf diese Weise kann Literatur ihre Leser: innen dazu bringen, sich selbst sowie ihr Verhältnis zu anderen zu reflektieren. Weil Literatur Welten eröffnet und erschafft, bietet sie Lernenden darüber hinaus die Das Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht 63 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 Möglichkeit, eigene Ideen im geschützten Raum der fiktionalen Welt zur Probe zu denken (vgl. D ELANOY 2002: 3). Schließlich erlaubt Literatur ihren Leser: innen auch Einblicke in die Funktionsprinzipien literarischer Sprache, also den sprachlichen Konstruktionscharakter der literarischen Welt, der wiederum Reflexionsprozesse anregen kann, die den sprachlichen Konstruktionscharakter der Welt insgesamt in den Mittelpunkt rücken (vgl. H ALLET 2015: 17). Die Anregung von solch sprachlichen wie inhaltlichen Reflexionsprozessen ist folglich das gemeinsame Band, das Literatur- und Kulturdidaktik im Englischunterricht verbindet. Diese Reflexionsprozesse können angeregt werden, wenn Lerner: innen und ‚Anderes‘ zusammengebracht werden, sei es in der vergleichenden Betrachtung zweier Kulturräume oder im Vergleich der eigenen Lebenswelt und der Welt des literarischen Textes. Beidem liegt das Verständnis zugrunde, dass gegenseitiges Verstehen keinen Automatismus darstellt, sondern erlernt werden muss (und kann). Die eigene Weltsicht als nur eine von vielen möglichen zu erkennen, kann gelingen, wenn der Konstruktionscharakter des eigenen Standpunkts erkannt wird. So wie das Verstehen eines literarischen Textes einen Prozess der Bedeutungskonstruktion darstellt, den Leser: innen auf der Basis ihrer eigenen Weltsicht vollziehen, ist diese eigene Weltsicht ebenfalls das Ergebnis eines Prozesses der Bedeutungskonstruktion, der kulturell geprägt ist. Die Beschäftigung mit literarischen Texten im Englischunterricht scheint für das Erreichen dieser Einsichten zur eigenen Standortgebundenheit auf Lerner: innenseite quasi prädestiniert. Durch die Texte und die in ihnen verhandelten kulturellen Phänomene kann deutlich werden, dass individuelle und kollektive Perspektiven einerseits als lang gewachsene und Veränderungen kaum zugängliche Phänomene erscheinen - so zum Beispiel, wenn Jess’ indischstämmige Eltern in Bend It Like Beckham (C HADA 2002) die Fußballbegeisterung ihrer Tochter vehement ablehnen, weil diese nicht in das konservative Frauenbild der Familie zu passen scheint. Angesichts der in den letzten Jahren gewachsenen Akzeptanz des Frauenfußballs in Deutschland dürfte diese im Text angetroffene Perspektive auf die Welt für die meisten Englischlernenden zu mindestens anfänglicher Irritation führen. Gleichzeitig kann durch die Entwicklung der Charaktere im Film sowie die Anschlusskommunikation im Klassenzimmer deutlich werden, dass auch unveränderlich erscheinende Perspektiven nicht absolut sein müssen, sondern dass diese immer nur das vorläufige Ergebnis eines kontinuierlichen Aushandlungsprozesses darstellen und damit auch veränderbar sind. Das konservative Frauenbild der Familie Bharma wird so im Film nicht nur als spezifisch kulturell geprägt erläutert (und zum Ende hin als veränderbar gezeigt), sondern auch um Perspektiven ergänzt, die die vermeintlich zu strenge Sicht der Eltern intersubjektiv nachvollziehbar erscheinen lassen: So erlebte Jess’ Vater in seiner Jugend als Mitglied eines Sportvereins Rassismus, vor dem er seine Tochter heute schützen möchte, indem er ihr die Mitgliedschaft in einem (dominant von weißen Spielerinnen geprägten) Verein verbietet. Seine anfängliche Ablehnung des Hobbys seiner Tochter erscheint so nicht mehr als willkürlich, sondern kann als Position verstanden werden, die sowohl aus seiner persönlichen Geschichte, dem religiösen sowie dem kulturellen Hinter- 64 Christine Gardemann DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 52 • Heft 1 grund der Familie gespeist wird. Die Bewertung seines Handelns kann in der Klasse differenzierter erfolgen, sobald der Konstruktionscharakter seines Weltbilds deutlich geworden ist. Deutungsoffen ist dann, welche Sicht auf den Vater und sein Handeln die individuellen Leser: innen entwickeln. Wenn es nun aber die Deutungsoffenheit der Texte ist, die das Verfolgen der Ziele der Selbst- und Weltreflexion ermöglicht, und wenn es außerdem der Konstruktionscharakter von Perspektiven ist, dessen Erkennen das sine qua non der Reflexion darstellt, dann muss sich all dies nicht nur in der Textauswahl, sondern auch im unterrichtlichen Vorgehen widerspiegeln. An der Schnittstelle von theoretischen Potenzialen und unterrichtlicher Umsetzung im Englischunterricht allerdings zeigen sich in empirischen Studien Brüche, zum einen auf Seite der Lehrer: innen, aber auch auf Seite der Lernenden. 4. Vom Schließen des Öffnungsangebots in der schulischen Praxis… Die Konstruktion von Sinn, nicht nur in der Auseinandersetzung mit literarischen Texten, erscheint mit C OMBE und G EBHARD (2012: 8) als „höchst individueller, eigentätig-konstruktiver Vorgang und Entwurfsprozess, der nicht delegierbar ist“. Sinn kann also nicht von außen vermittelt, sondern „muss subjektiv erzeugt werden“ (ebd.). Für solche Sinnkonstruktionsprozesse der Schüler: innen können Lehrkräfte über die Auswahl von Lerngegenständen im Unterricht Angebote machen. Ob diese von den Lernenden angenommen werden, um sich ihrer Selbst- und Weltverständnisse bewusst zu werden und diese zu reflektieren, ist zunächst einmal offen. Empirisch wurde in den letzten Jahren festgestellt, dass das Annehmen eines Öffnungsangebots den Schüler: innen häufig nicht gelingt. Mit Blick auf die Literaturarbeit im Englischunterricht stellt B RACKER (2015) in ihrer Studie zur ungesteuerten Schüleranschlusskommunikation über eine Kurzgeschichte fest, dass die Lernenden mehrheitlich „vereinfachende, vereindeutigende und statisch gefasste Vorstellungen“ des vermuteten Handlungsorts in einem unbenannten Entwicklungsland oder auf dem afrikanischen Kontinent reproduzieren. Auch G ARDEMANN (2022) stellt in der Analyse einer Schülerdiskussion über die Verfilmung eines Jugendromans fest, dass die Lernenden vor allem das Andere des literarischen Textes wahrnehmen und dieses aus ihrer Lebenswelt herausweisen. Beide Forscherinnen vermuten einen Grund für die jeweils rekonstruierte „Abgrenzungsbewegung“ (B RACKER 2015: 231) einerseits darin, dass die Differenz zwischen Text- und Lebenswelt als besonders groß wahrgenommen wird; andererseits darin, dass die von den Lernenden ausgemachten inhaltlichen Leerstellen ohne eine unterstützende Intervention durch die Lehrkraft übereilt zum Rückgriff auf vermeintlich Bekanntes führen. Auch auf Lehrendenseite finden sich in der empirischen Forschung Tendenzen, die als Schließung des von den literarischen Texten gemachten Öffnungsangebots verstanden werden können (vgl. S CHÄDLICH / S URKAMP 2015). So rekonstruiert G ARDE - MANN (2021: 326-328 ), wie stark handlungsleitend sich das berufliche Selbstver- Das Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht 65 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 ständnis von erfahrenen Englischlehrkräften auf ihr Unterrichten von Literatur auswirkt. Auch außerhalb des Forschungsfelds der Literaturdidaktik, nämlich anhand einer Untersuchung zur Umsetzung kooperativer Lernformen im Englischunterricht, zeigen B ONNET und H ERICKS (2020), wie sich die Öffnung durch die neuen Lernformen immer wieder bricht an der Rahmung des Unterrichts durch Klassenarbeiten, Tests und andere Bewertungskontexte. Vor allem die Prüfungsorientierung wird von den untersuchten Lehrkräften als ausgesprochen kritisch gerahmt, in der schulischen Praxis jedoch häufig als „nahezu unumgänglich“ (ebd.: 423) empfunden. Die Nutzung der Literatur im Englischunterricht aus dem an abfragbarem Wissen orientierten schulischen Gesamtkontext herauslösen oder diesen ignorieren zu wollen, wäre naiv und utopisch. Als Weg aus der „ubiquitäre[n] Test- und Prüfungsorientierung“ (ebd.: 410) deuten jedoch alle oben angeführten Studien dasselbe an: Die Inszenierung potenziell subjektrelevanter Interaktion, sei es durch die Wahl eines literarischen Textes oder durch die Nutzung offener Aufgabenformate und unterrichtlicher Settings, ist möglich. Subjektrelevante Interaktion kann immer dann gelingen, wenn den Schüler: innen Raum und Zeit zugestanden wird, um sich mindestens in einem Teil des Unterrichts selbstständig mithilfe offener Angebote austauschen zu können. Sie kann auch dann gelingen, wenn Lehrkräfte und Mitschüler: innen (häufig nur vermeintlich) von der Aufgabenstellung abweichende, tatsächlich aber die persönliche Lebenswelt der Schüler: innen betreffende Äußerungen anhören und diese einbeziehen. Um eine stärkere Verknüpfung von Relevanzsetzungen der Schüler: innen und unterrichtlichen Gegenständen zu erreichen, wird von Vertreter: innen der Bildungsgangdidaktik vorgeschlagen, sich bei der Auswahl von Lerngegenständen, hier: literarischen Texten, stärker an den Entwicklungsaufgaben des Jugendalters zu orientieren. Fallen die entwicklungspsychologisch ohnehin zu bearbeitenden Entwicklungsaufgaben sowie die in der Schule zu bearbeitenden Themen und Aufgaben zusammen, ist zumindest theoretisch ein Synergieeffekt zu erwarten, da eine Inbezugsetzung von eigener Lebenswelt und Lerngegenstand erleichtert wird. 5. … zum erneuten Öffnungsangebot: Textauswahl anhand der Entwicklungsaufgaben des Jugendalters Ursprünglich von H AVIGHURST (1948) beschrieben, durchlief das Modell der Entwicklungsaufgaben des Jugendalters in den letzten Jahrzehnten verschiedene Aktualisierungsprozesse. Das Modell enthält in seiner Originalfassung eine Liste von Anforderungen, die es Heranwachsenden ermöglichen sollen, sich als produktive Mitglieder in die sie umgebende Gesellschaft einzufügen. Die verschiedenen Überarbeitungsfassungen der letzten Jahrzehnte orientieren sich stärker an den Heranwachsenden und ihren Bedürfnissen und haben so potenziell auch eine innovative Funktion für die Veränderung von Gesellschaft. Die folgende Darstellung orientiert sich maßgeblich an der von H ERICKS und S PÖRLEIN (2001: 36) vorgenommenen Synthese aus H AVIGHURST s (1948) Originalmodell und der Überarbeitung durch D REHER und 66 Christine Gardemann DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 52 • Heft 1 D REHER in den 1980er Jahren, berücksichtigt dabei allerdings inhaltliche Impulse sowohl aus den Aktualisierungen als auch kritische Beiträge zur (veralteten) Vorstellung von Geschlechteridentitäten, die den früheren Modellen unterliegen. P EER Neue Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts aufbauen. K ÖRPER Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung, Annehmen von Veränderungen des Aussehens. A BLÖSUNG Von den Eltern unabhängig werden. F AMILIE Vorstellungen der zukünftigen Partnerschaft/ Familie entwickeln, auch unter Berücksichtigung von freiwilliger Kinderlosigkeit, Asexualität und nicht-traditionellen Familienmodellen. Z UKUNFT Entwicklung einer Zukunftsperspektive, dazu auch die Entwicklung einer Vorstellung späterer beruflicher Tätigkeit, auch unter Berücksichtigung nicht mehr lebenslanger Tätigkeit in ein- und demselben Berufsfeld. W ERTE Entwicklung einer eigenen Weltanschauung. S ELBST Ein tragfähiges Selbstbild entwickeln, dazu u.a. Aufbau einer Geschlechtsidentität, auch unter Berücksichtigung unterschiedlicher geschlechtlicher Identitäten und sexueller Orientierungen. Tab. 1: Übersicht über die Entwicklungsaufgaben des Jugendalters (eigene Darstellung in Anlehnung an H ERICKS / S PÖRLEIN 2001: 36) Die Entwicklungsaufgaben lassen sich in zwei Fragen subsumieren: „Wer bin ich und wer will ich sein? “ und „Was ist mein Platz in dieser Welt? “. Der Jugendroman Ace of Spades (2021) greift diese zentralen Fragen in einer Weise auf, die hochgradig anschlussfähig ist an alle oben genannten Entwicklungsaufgaben, und die darüber hinaus einen besonderen Fokus auf die verbindende Frage des SELBST im Sinne eines belonging legt. À BÍKÉ -Í YÍMÍDÉ lässt ihre Geschichte, die als Mischung aus Coming-of-Age- und Whodunit-Roman beschrieben werden kann, an einer amerikanischen High School spielen. An dieser Schule versuchen sowohl Devon Richards als auch Chiamaka Adebayo ihren Platz zu finden. Devon ist ein musikalisch begabter Außenseiter, der in einem größtenteils von Schwarzen bewohnten, wirtschaftlich schwachen Bezirk lebt und nur durch ein Stipendium die Möglichkeit hat, die fast ausschließlich von weißen Mitschüler: innen besuchte Privatschule zu besuchen. Devon pendelt zwischen den beiden Stadtbezirken, gibt sich in der Schule jedoch mit der ihm zugeschriebenen Rolle als Außenseiter zufrieden. Chiamaka hingegen hat sich eine Identität regelrecht kuratiert: Nach ihrer Erfahrung an der Middle School hat sie sich für ihre letzten Schuljahre für die Rolle der bei den Lehrkräften beliebten und von Mitschüler: innen beneideten Musterschülerin entschieden, für die sie strategische Freundschaften ein- Das Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht 67 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 geht und der sie ihre tatsächlichen Gefühle unterordnet. Beide Hauptfiguren leben in zwei Welten. Bei Devon steht seine soziale Schichtzugehörigkeit im Gegensatz zur reichen Oberschicht seiner Mitschüler: innen im Mittelpunkt, bei Chiamaka geht es um die bewusste Rollenübernahme in der Schule, aber auch um ihre bikulturelle Familie zuhause, deren italienischer Familienteil ihre Mutter, als schwarze Frau, nach der Heirat ächtet (Entwicklungsaufgabe KÖRPER). Alle Entwicklungsaufgaben werden im Roman von beiden Hauptfiguren bearbeitet. Auch wenn vor allem Rassismus im Roman eine zentrale Rolle spielt, ist hervorzuheben, mit welcher Sensibilität Chiamakas zwischenzeitlich aufkeimendes romantisches Interesse an einer Mitschülerin entwickelt wird, während Devon sich seiner Homosexualität sicher ist, aber mit ihr zu kämpfen hat (Entwicklungsaufgabe SELBST). Dies ist nicht zuletzt aufgrund der Tatsache der Fall, dass ein unabsichtliches Outing in seinem Wohnviertel zu einer Exklusion aus seinem sozialen Netzwerk führen würde, auf das er zur Unterstützung seiner alleinerziehenden Mutter jedoch angewiesen ist. So erscheint Devon auch noch deutlich stärker an sein Elternhaus gebunden als Chiamaka, die im Gegensatz zu Devon, der sich um zwei kleinere Geschwister kümmert, ein Einzelkind ist (Entwicklungsaufgabe ABLÖSUNG). In den Mittelpunkt der Handlung gerät im Verlauf der Geschichte die Entwicklungsaufgabe ZUKUNFT. Sowohl Devons als auch Chiamakas Weg scheint von ihnen bei aller Unterschiedlichkeit durchgeplant: Während Chiamaka aufgrund ihrer guten Leistungen von einer Aufnahme in Yale überzeugt ist, nutzt Devon jede freie Minute, um im Musikraum der Schule ein Vorspiel am Juillard-Konservatorium in New York vorzubereiten. Beide Figuren sind sich der Unterstützung ihrer Umgebung sicher: Chiamaka hat vermögende Eltern; Devon stehen seine ihn moralisch unterstützende Mutter sowie sein zugewandter Musiklehrer zur Seite. Als ein anonymer Nutzer über den Messenger-Dienst der Schule Gerüchte und Geheimnisse verbreitet, geraten sowohl das soziale Netzwerk der beiden Hauptfiguren als auch ihre Position an der Schule - und damit ihre Zukunftspläne - ins Wanken. Die Suche nach dem oder der vermeintlich missgünstigen Mitschüler: in treibt die Handlung des Romans voran. Am Ende decken Chiamaka und Devon mit Hilfe einiger unerwarteter Verbündeter (Entwicklungsaufgabe PEERS) auf, dass es sich bei den existenzbedrohenden Nachrichten um eine konzertierte Aktion von Mitschüler: innen, Lehrkräften und Ehemaligen der Schule, und damit um eine Art grausames Sozialexperiment, handelt (Entwicklungsaufgabe WERTE). Es würde Schüler: innen im Englischunterricht sicher leichtfallen, Parallelen zwischen sich selbst und den Figuren der Geschichte zu entdecken. Sie befinden sich in einem ähnlichen Alter, die Handlung spielt an einer Schule, an der es einerseits zu ersten romantischen Beziehungen kommt, an der aber andererseits auch Mobbing eine Rolle spielt. Darüber hinaus sind die beiden jugendlichen Protagonist: innen in einem umfassenden Sinne auf der Suche nach sich selbst und ihrem Platz in der Welt. Ähnlich wie in anderen Jugendromanen, in denen das Thema Mobbing durch Mitschüler: innen verhandelt wird, liegt es auch bei der Beschäftigung mit Ace of Spades nahe, Schüler: innen danach zu fragen, wie sie sich in der Situation von Devon oder Chia- 68 Christine Gardemann DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 52 • Heft 1 maka verhalten würden. Vor einem solchen Vorgehen warnt B OLER (1999), die mit ihrem Konzept der pedagogy of discomfort die These aufstellt, dass auf dem klassischen Weg des Fremdverstehens eine tatsächliche Selbst- und Weltreflexion nicht erreicht werden kann. Vielmehr würde an ihre Stelle eine Art reflexive Selbstinszenierung treten, die eine unerwünschte Nebenwirkung der im Unterricht geforderten Selbstreflexion sei. Beide Perspektiven auf den an die Schüler: innen gerichteten Arbeitsauftrag, sich in die Position der literarischen Figur hineinzudenken, werden hier abschließend kurz vorgestellt und diskutiert. 6. Von passiver Empathie zu aktiver Selbst- und Weltreflexion Als besonders positive Option für die Behandlung von Literatur wird in der Englischdidaktik häufig die Tatsache gerahmt, dass der Raum des Fiktiven sowie der Raum des Gesprächs über das Fiktive als eine Art Schutzraum verstanden werden kann (vgl. z.B. K ÖNIG 2018: 205). So können Schüler: innen, anstatt sich selbst offenbaren zu müssen, im Gespräch bei den literarischen Figuren verbleiben. Gerade weil die Lerner: innen von den Geschehnissen der Romanhandlung nicht unmittelbar selbst betroffen sind, ist es ihnen möglich, z.B. verschiedene Handlungsoptionen für eine Figur zu entwerfen und mit anderen über diese Optionen zu diskutieren. Echte Konsequenzen hat ein solch hypothetisches Handeln nicht. Der Verzicht auf eine persönlichere Bezugnahme auf den Text folgt aus der Anerkennung der Grenzen der Lerner: innen, die zu akzeptieren sind, wenn sich Lerner: innen nicht in der Gruppe oder vor der Lehrkraft in Bezug auf ihre persönlichen Erfahrungen und Gefühle offenbaren wollen (vgl. G ARDEMANN 2023). Verbunden ist dieser Umgang der Lerner: innen mit dem Text dennoch mit der Hoffnung, dass diese Art der Beschäftigung mit Literatur implizit und langfristig Reflexionsprozesse anregen kann, ohne dass diese unmittelbar im Rahmen des Unterrichts besprochen werden (müssen). Auffällig ist beim Blick auf die vorliegenden empirischen Studien, die in der Regel Momentaufnahmen des Englischunterrichts darstellen, allerdings, wie präsent und wirkmächtig u.a. kulturelle Stereotype, ‚gefährliches Halbwissen‘ und vereindeutigende Zugriffe auf eigentlich deutungsoffene Gegenstände sind. In G ARDEMANN s (2022) Analyse einer Schülerdiskussion wird so z.B. deutlich, dass die Lerner: innen sich einer Hauptfigur eines Films zwar durch emotional bestimmtes Mitfühlen annähern, aufgrund mangelnden Wissens bzw. selbstbewusst nach außen getragenen Halbwissens der Figur allerdings gleichzeitig ihre eigenen Deutungsmuster überstülpen: Die Schüler: innen scheitern auf Basis eines naiven Verständnisses von Rassismus und Polizeiarbeit daran, die Intention der Figur im Sinne einer kognitiven Perspektivenübernahme nachzuvollziehen und schreiben ihr somit schließlich sogar die Verantwortung für ihre Ermordung zu (vgl. auch S URKAMP 2019). Zu fragen ist daher, ob der Versuch eines Hineinversetzens in eine literarische Figur einerseits zu einer Anregung von Selbst- und Weltreflexionsprozessen der Schüler: innen führt sowie andererseits, ob ein Verstehen anderer Perspektiven durch Hineinversetzen überhaupt möglich ist. Das Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht 69 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 In ihrer Monographie zu einer pedagogy of discomfort wählt B OLER (1999) ein eindrückliches Beispiel aus einem hochschuldidaktischen Literaturseminar, das diese Problematik greifbar macht. Nach der von ihnen als spannend und lehrreich empfundenen Lektüre der graphischen Erzählung MAUS von Art S PIEGELMAN (1991) äußern viele Studierende, dass sie sich nun vorstellen könnten, was es bedeute, ein: e Holocaust-Überlebende: r zu sein. B OLER (1999) greift den Essay eines Studenten heraus, der betont, wie gut es dem Autor gelungen sei, die Schrecken des Holocaust so darzustellen, dass die Leser: innen nicht durch „emotional turmoil“ irritiert würden und dass Leser: innen „blame and pity“ nicht aufgenötigt werde (ebd.: 161). Der Fokus vieler Studierenden, so B OLER , liege damit auf dem „comfort“ der Leser: innen (ebd.). B OLER problematisiert dies und argumentiert mit N USSBAUM (1995), dass eine solche passive Empathie gegenüber literarischen Figuren vor allem selbstbezogen sei: Wenn ich mich in die Situation einer Figur hineindenke und mir vorstelle, wie es mir dabei ergehen würde, sei das Ziel nicht, die andere Perspektive zu verstehen, sondern lediglich, eigene Ängste und Sorgen in die Situation hineinzuprojizieren (B OLER 1999: 156-158). Das Ziel, sich mit der literarischen Figur auf eine gewisse Weise zu identifizieren und sich in ihre Lage zu versetzen, führe so letztlich dazu, dass Leser: innen „die bequeme Sicherheit der Distanz“ (ebd.: 184) beibehalten können und eine echte Auseinandersetzung sowohl mit der Selbst- und Weltsicht der literarischen Figur als auch mit der eigenen Selbst- und Weltsicht unterlassen können. Ein solches Vorgehen im Unterricht würde somit einem bildenden Anspruch an die Beschäftigung mit Literatur nicht gerecht, und auch die Vertreter: innen der Didaktik des Fremdverstehens (wegweisend B REDELLA / C HRIST 1995) zielen zumindest langfristig auf die mögliche Veränderung von Selbst- und Weltverhältnissen. B OLER s Monographie ist ein eindrucksvolles Plädoyer für die Thematisierung von persönlichen Bezügen zu literarischen Texten ohne eine unzulässige und trivialisierende Gleichsetzung unterschiedlicher Kontexte. Der Versuch, Schüler: innen zu einem Verstehen anderer Selbst- und Weltentwürfe zu bringen, sollte nicht umschlagen in den oberflächlichen Versuch, Parallelen zwischen literarischer Figur und Schüler: innen herzustellen, wo diese ggf. nicht vorhanden sind, z.B. im Fall politischer Rahmenbedingungen wie Leben in einer Demokratie vs. einer Diktatur, oder sozialer Umstände wie Leben in einer Industrienation vs. einem Entwicklungsland. B OLER weist in einem Vorschlag zu einem anderen Vorgehen im Unterricht auf die Möglichkeit hin, parallele, aber eben eigenständige Beispiele aus der Lebenswelt der Lerner: innen zu nutzen, um tatsächlich eine persönliche Auseinandersetzung mit Literatur zu ermöglichen. So berichtet etwa eine Studentin, die zu einer anderen Beschäftigung mit MAUS angeregt wurde, nach der Lektüre von ihrem Wunsch, zu verstehen, wie es überhaupt zu Ereignissen wie dem Holocaust sowie der ihm vorangegangenen Phänomene von Ausgrenzung, Unterdrückung und Erniedrigung kommen konnte. In der Auseinandersetzung mit dem Text sei ihr bewusst geworden, dass sich ähnliche Phänomene auch in ihrer Familiengeschichte finden; so könnten weit zurückliegende Vorfahren an der Diskriminierung schwarzer Bürger: innen oder amerikanischer Ureinwohner: innen beteiligt gewesen sein. Die Studentin erkennt hier, so B OLER , 70 Christine Gardemann DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 52 • Heft 1 Zusammenhänge zwischen der kollektiven Kulturgeschichte der USA und ihrer individuellen Familiengeschichte und reflektiert die Verantwortung, die aus der historischen Schuld vorheriger Generationen für heutige Generationen erwächst. Deutlich wird hier m.E., dass, anders als in der stärker in der Literaturdidaktik verorteten Perspektive des Fremdverstehens, B OLERS Verständnis von der Arbeit mit Literatur utilitaristischer geprägt ist. Das im engeren Sinne Literarästhetische der Texte tritt hier deutlich in den Hintergrund zugunsten eines stellenweise fast aktivistisch anmutenden Plädoyers für gesellschaftliche Veränderung. Der Wert von B OLER s Vorschlägen liegt daher aus meiner Sicht vor allem in der kritischen Bewusstmachung der Gefahren, die mit einer nur oberflächlichen Perspektivübernahme einhergehen, die kulturell geprägte Unterschiede zwischen literarischen Figuren und lesenden Lerner: innen einebnet, anstatt die Schüler: innen auf differenzierte Weise für jene Unterschiede zu sensibilisieren. B OLER s Ansatz setzt insgesamt darauf, vom Text ausgehend gezielt danach zu fragen, wie unsere Selbst- und Weltsicht von der uns umgebenden Kultur und Geschichte geprägt wurde (vgl. ebd.: 179). Nach einer intensiven Beschäftigung mit dem Text und seinen Figuren sollte die Frage danach, was dieser Text mit mir als Leser: in zu tun hat, demnach keine kurze abschließende Frage am Ende einer Unterrichtseinheit sein. Vielmehr sollte sie den Ausgangspunkt darstellen für eine weitere intensive Auseinandersetzung z.B. mit Fragestellungen, die sich mit den Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen verknüpfen lassen. Statt der Frage „Wie würdest du dich in Chiamakas Situation fühlen? “ während oder nach der Lektüre von Ace of Spades könnte die Frage „Wo fühlst du dich zugehörig? “ formuliert werden, die vom Text weg und hin zu den Leser: innen führt, zugleich aber aus dem Text erwächst. Mit einem solchen Vorgehen sollte eine kritische Analyse von Werten und Überzeugungen verbunden werden, die in B OLER s Sinne durchaus ‚unbequem‘ sein kann. Literarische Texte als Ausgangspunkt für eine solche kritische Reflexion nicht nur der im Text präsenten anderen Selbst- und Weltsichten, sondern gerade der eigenen Selbst- und Weltsicht haben einen entscheidenden Vorteil: „[T]hey make this process palatable by giving us pleasure in the very act of confrontation“ (N USSBAUM 1995: 6, zitiert nach B OLER 1999: 163). Für B OLER ist diese Art der Auseinandersetzung mit Literatur nur ein Zwischenschritt, um sich in der Folge auch veränderter sozialer Praxis zuzuwenden, also den Raum der Literatur gänzlich zu verlassen mit dem Anspruch, Gesellschaft zu verändern. Sie verortet sich so im Kontext der „Social Justice Education“ (maßgeblich: B ELL 1997). Damit ist dieser Ansatz durchaus anschlussfähig an das erklärte Ziel der deutschen Bildungsstandards, Schüler: innen zu mündigen Bürger: innen zu erziehen, auch wenn die praktische Umsetzung zu diskutieren und empirisch zu erforschen wäre (und auch diskutiert wird, vgl. die Beiträge in G ERLACH 2020). Das Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht 71 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 Literatur À BÍKÉ -Í YÍMÍDÉ , Faridah (2021): Ace of Spades. New York: MacMillan. 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