Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2023-0006
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2023
521
Gnutzmann Küster SchrammSlam Poetry and Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht:
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Almut Hille
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52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 A LMUT H ILLE * Slam Poetry and Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht: Erleben, Analysieren, selbst Verfassen und Präsentieren Abstract. Slam poetry and poetry slams position a performative act at the forefront of the foreign language classroom, and thereby present numerous possibilities for linguistic, cultural and artistic teaching and learning. This allows for a form of applied language to be learned and experimented with that draws attention to the receptive and interpretive possibilities of the utterances as well as to the aesthetic dimensions of texts and the media of their presentation. Slam poetry in the foreign language classroom can enable immediate impressions and interactions, most typically among young slammers, and encourage closer analysis of texts, their performance, and the media involved in their performance. Slam poetry can also encourage students to create and perform their own texts. Such assignments promote basic communicative competencies as well as individual skill sets. This contribution will articulate these aspects on the basis of recent research on slam poetry and poetry slams in the foreign language classroom. It will also cover newer empirical studies of the successes of performative pedagogies, of poetic practice with spoken poems, and of learning to recite poetry in a foreign language. An example of such a praxis will show how learners can compose their own slam poetry and present their poems in (public) poetry slams that they organize themselves or in selfproduced poetry videos. 1. Einleitung Der Einbezug der Künste - das heißt der Einbezug von Theater, Musik, Tanz, Film, Literatur, Bildender Kunst, Aktionskunst, Fotografie und künstlerischem Erzählen - in den Fremdsprachenunterricht wird in der Perspektive des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache schon seit längerem intensiv diskutiert und erprobt. Davon zeugen Monografien wie Fremdsprache inszenieren. Zur Fundierung einer dramapädagogischen Lehr- und Lernpraxis (1993) von Manfred S CHEWE und Fremde Sprachen - Fremde Künste? Bild- und Musikkunst im interkulturellen Fremdsprachenunterricht (2006) von Camilla B ADSTÜBNER -K IZIK ; Sammelbände wie Ästhetisches Lernen im DaF/ DaZ-Unterricht. Literatur - Theater - Bildende Kunst - Musik - Film * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Almut H ILLE , Freie Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, Raum JK31/ 238, 14195 B ERLIN E-Mail: almut.hille@fu-berlin.de Arbeitsbereiche: Kulturelles Lernen im Fach Deutsch als Fremdsprache, Literatur und Medien im Fach Deutsch als Fremdsprache, Deutschsprachige Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. 74 Almut Hille DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 52 • Heft 1 (2014), herausgegeben von Nils B ERNSTEIN und Charlotte L ERCHNER ; Themenhefte wie Performative Didaktik der Zeitschrift Fremdsprache Deutsch (G OETHE -I NSTITUT 2020) und Bilder im DaF-/ DaZ-Unterricht (2017) bzw. Film im DaF-/ DaZ-Unterricht (2018) der Zeitschrift Informationen Deutsch als Fremdsprache (F A D A F/ DAAD 2017; 2018) sowie die Online-Zeitschrift Scenario. A Journal for Performative Teaching, Learning, Research (U NIVERSITY C OLLEGE C ORK ). Empirische Arbeiten wie Fremdsprachenunterricht als Ereignis. Zur Fundierung einer performativ-ästhetischen Praxis (2020) von Alexandra H ENSEL zeigen, dass die Wahrnehmung der Künste sowie die Ausübung eigener künstlerischer Tätigkeit in bzw. mit der Fremdsprache Sprechbereitschaft, Empathie und Wahrnehmungsfähigkeit fördern. Sie zeigen aber auch - wie die Aufsätze von Claire K RAMSCH und Michael H UFFMASTER (2008) sowie Almut H ILLE (2017) -, wie schwierig es mitunter selbst für (zukünftige) Lehrende ist, künstlerische Ausdrucksformen angemessen, d.h. in ihrem Potenzial für vielfältige Wirkungen und mögliche Deutungen, zu erfassen. Der möglichst lebendigen Erfahrung der Künste kommt hier eine entscheidende Rolle zu, aber auch der analytischen und produktiv handelnden Auseinandersetzung mit ihren (Bau-)Formen, ihren möglichen Funktionen und Wirkungen sowie mit Dimensionen ästhetischer Sprachverwendung. In der Arbeit mit Slam Poetry spielen sowohl das Erleben wie das genauere Betrachten von Texten eine Rolle. Slam Poetry und Poetry Slams können unmittelbare Eindrücke, Begegnungen mit Texten und meist jungen Slammer: innen initiieren, aber auch zur Analyse und Beurteilung der Texte und ihrer medialen Präsentationen sowie zum eigenen Verfassen und Performen von Texten anregen. Im vorliegenden Beitrag wird dargelegt, was unter Slam Poetry und Poetry Slams zu verstehen ist und wie sie sich entwickelt haben, welche Potenziale sie für den Fremdsprachenunterricht besitzen und wie sie in diesem eingesetzt werden können. 2. Was ist Slam Poetry, was ist ein Poetry Slam? Slam Poetry, auch Spoken Word Poetry genannt, ist ein hybrides Genre, das von selbst verfassten Texten der Slammer: innen und deren Performance lebt. Die literarischen Formen variieren stark - von Lyrik, Rap, Kurzgeschichten und Minidramen bis hin zu Kabarett- und Comedy-Beiträgen. Die meisten Texte weisen jedoch lyrische Elemente auf wie Reime, Wiederholungen, Lautmalerei, Refrains und Interjektionen. Inhaltlich nehmen Slam-Texte oft aktuelle, auch politische Tagesereignisse auf und kommentieren diese, verorten Themen wie Freundschaft, Liebe, Alltagserfahrungen, Lebensentwürfe und Utopien im aktuellen Zeitgeist. In ihrer Einführung Poetry Slam in Deutschland beschreibt Stefanie W ESTERMAYR (2010: 91) das Selbstverständnis von Slammer: innen als Versuch, „auf unkonventionelle Art und Weise dem modernen, verwirrenden Leben in einer Zeit der ständigen Veränderung literarisch beizukommen“. Slam Poetry ist schnelle Literatur, die einer starken Dynamik unterliegt. Sie beobachtet Individuen, Gesellschaft(en) und deren Alltag genau, oft mit einer Slam Poetry und Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht 75 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 (zeit-)kritischen, humoristischen Attitüde. Sie ist mitunter politische Literatur (vgl. H ILLE / L UGHOFER 2015), mit Thomas E RNST (2013) wäre sie auch als subversive Literatur zu fassen. Slam Poetry weist vielfältige Elemente von Alltagssprache auf und ist „- abgesehen von den wenigen mündlich basierten Freestyles - konzeptionell schriftlich und medial mündlich“ geprägt (A NDERS 2012: 282). Die (Schrift-)Form der Texte ist Klang, Rhythmus und Performance in der Regel nachgeordnet. Gleichzeitig legen Slammer: innen großen Wert auf vielfältige Wirkungs- und Rezeptionsmöglichkeiten ihrer Texte - on stage und on page. Auf Internet- und Buchseiten sind die Texte auch außerhalb der Bühne erleb- und erfahrbar. In Poetry Clips werden sie in der Ästhetik von Video Clips inszeniert. Slam Poetry ist insofern gekennzeichnet durch die konzeptionelle Schriftlichkeit der Texte die Mündlichkeit der Performance und die Multimodalität der Aufzeichnung und weiteren Verbreitung der Texte. Sie knüpft an einen Lyrikbegriff an, in dessen Mittelpunkt die gesprochene Sprache in ihrer Dynamik und Originalität steht, erweitert ihn aber auch in die Print- und digitalen Medien hinein. Ein Poetry Slam ist ein Wettbewerb und gleichzeitig eine offene Bühne für die Performance eigener Texte. Auf ihr stehen Slammer: innen, MC (Moderator: in) und Publikum in direktem Austausch miteinander. Im Jahr 1985 veranstaltete Marc Kelly S MITH in der Get Me High Lounge in Chicago erste Poetry Performances mit einer Jazzband im Hintergrund 1 , die Literatur lebendig machen sollten. Er gründete das Chicago Poetry Ensemble, das zum Prototyp aller späteren Slam Teams wurde. 1986 veranstaltete er im renommierten Green Mill Jazz Club einen ersten Poetry Slam, der großes Interesse fand und als Uptown Poetry Slam in den folgenden Jahren immer erfolgreicher wurde. In vielen Städten der USA wurden in der Folge regelmäßige Poetry Slams begründet, ab 1990 fanden sie auch im Nuyorican Poets Café und Bowery Poetry Club in New York statt. 1990 wurde der erste National Poetry Slam in San Francisco ausgerichtet, 1992 startete das MTV-Format Poetry Unplugged. 1993 erreichte die neue literarische Bewegung Europa. Erste Slams wurden in Finnland, Schweden und Großbritannien gegründet, in dem kleinen Berliner Verlag Druckhaus Galrev wurde in Kooperation mit der Literaturwerkstatt Berlin die Anthologie Slam! Poetry. Heftige Dichtung aus Amerika aufgelegt. In ihr sind Texte von frühen Stars der US-amerikanischen Szene wie Paul B EATTY , Neeli C HERKOVSKI , Alan K AUFMAN , Dominique L OWELL , Luis J. R ODRIGUEZ und Patricia S MITH zu finden. Der erste regelmäßige Poetry Slam in Deutschland entstand 1994 im Berliner Club Ex’n Pop, begründet von den US-Amerikaner: innen Priscilla B E und Rik M AVERIK ; auch die auftretenden Slam-Poet: innen kamen hauptsächlich aus den USA. 1 Den Zusammenhang zwischen Slam Poetry und Jazz beschreibt Bert P APENFUß in seinem Vorwort zu der Anthologie Slam! Poetry (1994: 5): „performance poetry ist, wie jazz, eine kunst des augenblicks, nicht jeder streich gelingt“. 76 Almut Hille DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 52 • Heft 1 1997 fanden im Ex’n Pop die ersten „Deutschen Poetry Slam Meisterschaften“ statt, deren Einzelwettbewerb Bas B ÖTTCHER für sich entscheiden konnte. 2 2004 gab es zum ersten Mal Slam-Weltmeisterschaften: die „Poetry World Slampionship“ im Rahmen des Festivals Poetry International Rotterdam. Im English Theatre in Frankfurt oder in der Z-Bar in Berlin performen bis heute Slammer: innen auf Englisch; mehrsprachige Slams fanden bislang z.B. unter der Regie der Berliner Literarischen Aktion am Paulo Freire Zentrum in Wien oder auch an Goethe-Instituten statt, die auf diese Weise auch für das Konzept europäischer Mehrsprachigkeit warben. Regeln für Texte und Performance gibt es bei einem Poetry Slam nur wenige, diese sind jedoch stark fixiert: Selbstgeschriebene Texte müssen in einer bestimmten Anzahl von Minuten vorgetragen werden. Requisiten, Kostüme und Musikinstrumente sind nicht erlaubt. Mitunter wird ein Slam auf ein Thema oder ein Format festgelegt, z.B. gibt es Berliner Mauer Slams oder Science Slams, in denen Wissenschaftler: innen ihre Forschungen präsentieren. Bei Poetry Slams im deutschsprachigen Raum ist zumeist eine Beurteilung durch das Publikum vorgesehen. Dies kann etwa eine Punktewertung durch Juror: innen aus dem Publikum oder eine Abstimmung aller per Lautstärke des Applauses sein. Falls es - wie oft in der Heimat des Slams, den USA - eine Jury gibt, urteilt diese eher als Parodie einer konventionellen Wettbewerbsjury. Auch die Offenheit und Interaktivität der Poetry Slams sowie der Präsentationen von Slam Poetry im Internet kennzeichnen dieses hybride literarische Genre. Dass sie die Sieger: innen von Poetry Slams selbst küren, lädt die Zuschauer: innen zum genauen (Zu-)Hören, Sehen und Werten ein. Viele Live-Vorträge werden als Bühnenmitschnitte auch im Internet, auf den Homepages der Slammer: innen oder der Veranstalter: innen präsentiert. Sie können, ebenso wie die von einigen Slammer*innen produzierten Poetry Clips, jederzeit gesehen und kommentiert werden. Auch eigene Produktionen können jederzeit ins Netz eingestellt werden. Das Phänomen Slam gilt inzwischen als beispielhaft für die Dynamik gegenwärtiger Literatur: Schon vor zwanzig Jahren wurde es durch den Literaturwissenschaftler und Slammer Stephan Porombka als „paradigmatisch für eine Entwicklung des Literaturbetriebs in Richtung Popularisierung und Eventisierung“ betrachtet, einhergehend mit einem „Funktionswandel der Literatur für die Gesellschaft“ (P OROMBKA 2001: 20) hin zu Unterhaltung und Vernetzung, in der literarische Kommunikationsformen immer stärker mit Formen der Alltagskommunikation, der Wissenschaftssprache u.a. verschmelzen. 3. Potenziale für den Fremdsprachenunterricht Mit Slam Poetry und Poetry Slams rückt ein performativer Akt in den Mittelpunkt des Fremdsprachenunterrichts, der zahlreiche Möglichkeiten für das sprachliche, kulturelle und künstlerische Lehren und Lernen bietet. Erlebt und selbst erprobt werden 2 Zu diesem Abschnitt der Geschichte des Poetry Slam vgl. auch H ILLE / L UGHOFER (2015). Slam Poetry und Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht 77 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 kann eine Form der Sprachverwendung, die mit den Wahrnehmungs- und Deutungsangeboten der Aussagen auch die ästhetische Dimension von Texten und deren mediale Präsentationen fokussiert. Das komplexe Zusammenspiel von individuellen Beobachtungen und Empfindungen, deren Versprachlichung in verschiedenen Textformen, von diversen medialen Formaten einerseits und wechselnden Rollen der Lernenden als Zuhörende wie Zusehende und bestenfalls selbst Performende andererseits, erlaubt ein partizipatives Lernen auf rezeptiven und produktiv handelnden Wegen. Gefördert werden können grundlegende kommunikative Kompetenzen der Lernenden wie Hör-, Seh-, Lese- und Schreibkompetenz, Sprechbereitschaft, Selbstvertrauen im Gebrauch der Fremdsprache und Fehlertoleranz, aber auch Textarten- und Medienkompetenz. Hinzu kommen - auch als Förderung persönlicher Fähigkeiten - Empathie- und ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit, Kreativität und Kooperationsfähigkeit. Nicht zu unterschätzen ist die Motivation, die die Arbeit mit Slam Poetry für Spracherwerbsprozesse bedeuten kann. 3 In den Unterricht einbezogen wird Slam Poetry in der Regel durch aufgezeichnete Auftritte von Slammer: innen oder durch Poetry Clips, verfügbar auf YouTube oder den Homepages einzelner Slammer: innen und Veranstalter: innen. Diese Aufzeichnungen oder Clips können als Ereignisse, wenn auch nicht als Live-Ereignisse, wahrgenommen und durch die filmische Nähe zu den Slammer: innen nahezu authentisch erlebt werden. Das ästhetische Erlebnis ermöglicht den Genuss von Sprache in ihren verschiedenen Dimensionen und kann für deren vielfältige, auch originelle und pointierte Verwendung sensibilisieren. In analytischen Betrachtungen der gefilmten Performances spielen der jeweilige Slam-Text als solcher, die Performance der Slammer: in und deren mediale Präsentation eine Rolle. Erforderlich sind neben dem genießenden auch das genaue (Zu-)Hören und (Hör-)Sehen, bei zusätzlich gedruckt oder als E-paper vorliegenden Texten auch der Einsatz verschiedener Lesestile wie das globale oder detaillierte Lesen; weiterhin eine Medienreflexion, die den multimodalen Charakter von Slam Poetry fokussiert. Die ästhetische Dimension des (Zu-)Hörens wird in fremdsprachendidaktischen Diskussionen zunehmend hervorgehoben. 4 Es war zunächst Jutta W ERMKE in der Fachdidaktik Deutsch, die ein Konzept zur Hörerziehung als Wahrnehmungsschulung, die sie als Teil einer ästhetischen Bildung versteht, entwickelte. Das Hören wird in dem Konzept „als Hören auf den Klang der Welt und nicht als nachgeordnete Funktion in Kommunikationsprozessen“ (W ERMKE 1995: 18) aufgefasst. Besonders das genaue Zuhören ist auch als soziale Fähigkeit zu betrachten, die in der Arbeit mit Slam Poetry gefördert werden kann. Da Slam Poetry in der Regel über verschiedene Kanäle wahrgenommen wird (Sehen und Hören/ Augen und Ohren), ist auch von Hör-Sehen zu sprechen, einem bild- und zeichengestützten Hören, das in der alltäglichen Kommunikation von Bedeutung ist (vgl. S CHWERDTFEGER 1989: 143). Denn das Hören ist 3 Vgl. auch B ERNSTEIN (2019) zur Motivation als zentraler Motor von Spracherwerbsprozessen. 4 Vgl. hier auch den Vorschlag von Š LIBAR (2011), mit dem Hören in einen Text ‚einzusteigen‘, und die Unterrichtsvorschläge von S AMIDE (2020) sowie N EIDLINGER und P ASEWALCK (2011). 78 Almut Hille DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 52 • Heft 1 häufig visuell unterstützt - durch Symbole und Piktogramme, durch non-verbale Zeichen wie Gestik und Mimik von Kommunikationspartner: innen (vgl. ebd.: 60) und durch die bildlich-räumliche Umgebung einer Kommunikationssituation. Die Auseinandersetzungen mit den aufgezeichneten Auftritten von Slammer: innen oder Poetry Clips können für Lernende zu Impulsen für das eigene Verfassen und Performen von Texten werden. Die Fremdsprache wird dabei produktiv, kreativ und performativ in verschiedenen Dimensionen genutzt. (Konzeptionelle) Schriftlichkeit und Mündlichkeit werden deutlich nachvollziehbar. Beim Verfassen von Texten werden Originalität und vielleicht Witz im Umgang mit der Sprache, Wortschatz, Grammatik und Sprachgefühl gefördert. Nils B ERNSTEIN (2019: 299) verweist auch auf den Zusammenhang zwischen dem Verfassen kreativer Texte und der Ausprägung eines bildungssprachlichen Registers. Beim Performen werden Sprechbereitschaft und Mut zum (lauten) Sprechen, Prosodie sowie Körperhaltung, Atmung, Mimik und Gestik gefördert. Der Arbeitsprozess ist, besonders wenn im Team durchgeführt, interaktiv und auch kooperativ bzw. kollaborativ angelegt und fördert damit die Kooperationsfähigkeit. 5 Im Rahmen der eigenen Textarbeit bietet das Ziel einer Präsentation auf der Bühne oder in einem Poetry Clip - eventuell sogar vor einer gewissen Öffentlichkeit - eine Authentizität und unmittelbare Sinnhaftigkeit, die sonst kaum im (Fremdsprachen- )Unterricht erreicht werden kann. Die Präsentation wird nicht nur ‚gespielt‘, es geht um die tatsächliche Mitteilung eines eigenen literarischen Textes - eventuell sogar im Wettbewerbskontext. Dass bei Präsentationstätigkeiten verschiedene Kompetenzen gebündelt und verknüpft werden, legen D ANNERER und F ANDRYCH (2012) in ihrem Aufsatz zu Formen und Funktionen, Ansprüchen und Leistungen des Präsentierens im Unterricht dar. Wie andere Präsentationen auch, nur lebendiger und zumeist motivierender, stehen Slam Performances im Fremdsprachenunterricht zwischen gesprochener und geschriebener Sprache, legen starkes Gewicht auf Körperhaltung, Atmung, Mimik, Gestik, Bewegung, Intonation und Interaktion mit dem Publikum. Die Sprachverwendung wird nahezu vorbildlich handelnd und partizipativ umgesetzt. Ein (öffentlicher) Poetry Slam kann an der Schule oder Universität, in einem Club oder Theater von den Lernenden organisiert werden. Auch die Organisation eines Slams in der Fremdsprache fördert Kompetenzen und Fähigkeiten wie die bereits genannten: Schreib- und Sprechkompetenz, Selbstvertrauen im Gebrauch der Fremdsprache und Fehlertoleranz, Textarten- und Medienkompetenz, Kreativität und Kooperationsfähigkeit. Die einzelnen Schritte und erforderlichen Kompetenzen zur Vorbereitung eines Poetry Slam sind in Abschnitt 5, Phase 3 dargestellt, ebenso die Schritte zur Produktion eines eigenen Poetry Clips. Hier sind andere Faktoren entscheidend, geht es doch um die Übersetzung einer Textperformance in ein filmisches Format. 5 Zum kooperativen bzw. kollaborativen Schreiben vgl. H ILLE / S CHIEDERMAIR (2021: 71f.). Slam Poetry und Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht 79 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 4. Empirische Studien Zur Arbeit mit Slam Poetry im (Fremdsprachen-)Unterricht liegen bislang kaum empirische Studien vor. Eine erste Arbeit von Petra A NDERS (2010) zu Poetry Slam im Deutschunterricht widmet sich den individuellen und sozialen Gratifikationen, die Jugendliche durch den Umgang mit dieser kulturellen Praxis erwerben. Es wird gezeigt, wie erfolgreich auch Jugendliche mit Migrationshintergrund an ihr teilnehmen, ohne dass allerdings den sprachlichen Voraussetzungen und Erwerbsprozessen im Rahmen der Studie explizite Aufmerksamkeit galt. Die Zielsetzungen von Lehrkräften, auch mit Blick auf den Fremd- und Zweitspracherwerb, beinhalten aber laut A NDERS , dass Jugendliche Aktivität und Mut im Umgang mit der Sprache fänden, „die Sprache auch fühlen. Und nicht einfach lernen“ (A NDERS 2010: 149). Von Interesse sind auch Studien zu den Wirkungen gehörter Lyrik (vgl. U TLER 2016), zum Sprechen und Vortragen lernen im Fremdsprachenunterricht mittels Ästhetischer Kommunikation (vgl. S TÖVER -B LAHAK 2012) sowie zur Fundierung einer performativ-ästhetischen Praxis im Fremdsprachenunterricht (vgl. H ENSEL 2020). Diese Studien fokussieren universitäre Kontexte, denen „ein hohes Maß an Freiwilligkeit und Eigenverantwortlichkeit zu eigen ist“ (S TÖVER -B LAHAK 2012: 8), was es in der Betrachtung ihrer Ergebnisse sicher zu beachten gilt. In der Arbeit mit Slam Poetry kann ein gewisses Maß an Freiwilligkeit und Eigenverantwortlichkeit, im besten Fall Begeisterung nicht zuletzt durch die verschiedenen Möglichkeiten der Mitwirkung (in einem Team) aber auch in schulischen Kontexten erreicht werden. Die Lyrikerin und Literaturwissenschaftlerin Anja U TLER zeigt in ihrer Studie „manchmal sehr mitreißend“ - Über die poetische Erfahrung gesprochener Gedichte (2016), was poetische Erfahrungen bewirken und wie gesprochene Gedichte mit den Wahrnehmungen von Zuhörer: innen interagieren und (Nach-)Denken induzieren können. Reflektiert werden die Besonderheiten des Hörens von Gedichten, live gelesen von den Autor: innen. Die „erstarkende Bedeutung des Gedichts als gesprochene Kunstform“ führt U TLER unter anderem darauf zurück, dass „der gesprochene Text [...] sinnlich reicher als der geschriebene“ ist, nicht zuletzt durch die Wirkungen der Stimme (U TLER 2016: 14f.). Im Kontext einer performativen Ästhetik (vgl. F ISCHER - L ICHTE 2002) fasst auch sie Kunstwerke als ‚Ereignisse‘ auf: Das Publikum wohnt ihnen nicht nur bei, sondern wird zu einem Teil von ihnen (vgl. ebd.). In ihrer Studie geht es um Prozesse der Interaktion von Individuen mit Kunstwerken und mit sich selbst. Zentrale These ist, dass gesprochene Lyrik in den Hörenden Selbstgespräche über neue oder fremde Eindrücke auslöst, in denen Bedeutungen entstehen (vgl. ebd.: 20f.). Voraussetzung für die Bedeutungsbildung ist, dass „eine aktive Kontaktaufnahme zum gehörten Gedicht“ gelingt, die von Stanley F ISH (1994) auch eine „aktualisierende Teilnahme“ (vgl. U TLER 2016: 22) genannt wird. Solche Selbstgespräche wurden im Rahmen eines Forschungsprojekts mit Germanistik- und Slawistikstudierenden, teilweise auch weiteren Hörer: innen, der Universität Regensburg über zwei Semester hinweg analysiert. Fünf Dichter: innen wurden in Lesungen an der Universität gehört. Im Anschluss wurden die Zuhörer: innen gebeten, 80 Almut Hille DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 52 • Heft 1 auf Fragebögen ihre Eindrücke zu schildern. Mit den Studierenden der Seminare wurden anschließend vertiefende und differenzierende Gruppengespräche geführt und aufgezeichnet (vgl. ebd.: 19). Verdeutlicht werden konnte in den Auswertungen etwa, auf welchen Ebenen die Lesungen ggf. welche Wahrnehmungen ausgelöst hatten: körperlich, emotional, visuell, akustisch und gedanklich. Auch wurde sichtbar, welches die stärksten Eindrücke überhaupt bzw. welches die zentralen akustischen Eindrücke waren. Nachvollzogen werden konnte zudem, welche Sätze, Wendungen oder Verse im Gedächtnis geblieben waren und ob das Gehörte an etwas Bekanntes erinnerte und was dieses Bekannte gewesen war. Nicht systematisch nachgegangen wurde den Fragen, wie sich die akustischen Eindrücke zur konkreten stimmlichen Realisation der Texte verhalten, wie die Intensität der akustischen Reize im Vergleich zu den anderen sensoriellen Kanälen beurteilt wird und welche Relationen zwischen den geschilderten Wahrnehmungen und den Sprachkenntnissen der Zuhörer: innen bestehen (vgl. ebd.: 202). Letzteres wäre für den Fremdsprachenunterricht natürlich von besonderem Interesse. Vorgetragen wurden die Gedichte von den Autor: innen jeweils im Original in deutscher oder anderer Sprache; die Zuhörer: innen schätzten in den Fragebögen selbst ein, wie gut sie die jeweilige Sprache kannten. In ihren geschilderten Wahrnehmungen zeigten sie, dass - auch wenn der Text zunächst nicht verstanden wurde - „Stimme und Sprachmelodie bereits zur Hypothesenbildung und einer gedanklichemotionalen Auseinandersetzung“ (ebd.: 198) mit den gesprochenen Gedichten einluden. Diese Dimensionen könnten weiter differenziert werden; auch könnte die eventuell gleichrangige Präsenz einer Wortsemantik und einer individuelle Bezüge fördernden Klangsemantik der Stimme weiter erkundet werden (vgl. ebd.: 33). Anke S TÖVER -B LAHAK (2012) greift in ihrer Studie Sprechen und Vortragen lernen im Fremdsprachenunterricht: Interpretativ, kreativ und ganzheitlich mit Gedichten auf Grundlagen der Sprechwissenschaft zurück. Sie erprobt den Einsatz von Ästhetischer Kommunikation, verstanden als sprecherische Interpretation von literarischen Texten (vgl. ebd.: 73), in einem Kurs für Deutsch als Fremdsprache am Fachsprachenzentrum der Universität Hannover. Sie geht der Fragestellung nach, ob die Sprech- und Vortragskompetenzen der Studierenden durch die Erarbeitung einer Sprechfassung eines Gedichts gefördert werden können. In Form einer Aktionsforschung begleitet sie den Erarbeitungsprozess, in dessen Mittelpunkt Aspekte der Sprech- und Vortragskompetenz wie Atmung und Stimme, Artikulation und Aussprache, Intonation und Prosodie, Körperhaltung, Gestik und Mimik stehen. Die Entwicklung der Sprech- und Vortragskompetenzen der Studierenden durch den Einsatz von Methoden der Ästhetischen Kommunikation wird beobachtet und dokumentiert, sowohl in deren eigener Wahrnehmung als auch aus der Außenperspektive. Anhand von Lerntagebüchern, Fragebögen und Leitfadeninterviews mit Lernenden, Videomitschnitten und Diagnosebögen - ausgefüllt von den Lernenden und externen Expert: innen - entstehen Einblicke in die Phasen der Entwicklung der Sprechfassung eines Gedichts und differenzierte, mehrperspektivische Profile der Lerner: innen, die deren Entwicklungswege nachzeichnen (vgl. ebd.: 233-301). Abgeleitet werden können Methoden der Ästhetischen Kommunikation zur erfolgreichen Förderung von Slam Poetry und Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht 81 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 Sprech- und Vortragskompetenzen (vgl. ebd.: 7), die auch in der Arbeit mit Slam Poetry aufgegriffen werden. Sie betreffen die Arbeit an Aussprache, Körpersprache und Persönlichkeitsausdruck der Lernenden (vgl. ebd.: 310). Alexandra H ENSEL (2020) zeigt in ihrer Studie Fremdsprachenunterricht als Ereignis. Zur Fundierung einer performativ-ästhetischen Praxis, wie durch Theaterspiel ein Kunst-Erleben im Fremdsprachenunterricht möglich ist. Über mehrere Jahre hinweg untersuchte sie ihren Kurs „Deutsch lernen durch Theaterspiel“ an der Universität Göttingen im Rahmen einer Fallstudie. Im Fokus standen die (eigene) Lehrpraxis und die Förderung eines erfahrungsbasiert-körperbezogenen Lernens in der künstlerischen Auseinandersetzung mit (literarischen) Texten und Sprache (vgl. ebd.: 15). Der Unterricht, aufgefasst als dynamischer, eigenständiger und interaktiv-kooperativer Gestaltungsprozess, verlief in drei Phasen: I) Formsuche - Körper- und Stimmarbeit sowie künstlerische Auseinandersetzung mit Texten/ verschiedene szenische Textgestaltungen; II) Formgebung - Probenarbeit/ Inszenierungsphase; III) Form - Präsentation/ Werkschau (vgl. ebd.: 16). Gefördert wurden Sprechbereitschaft, Sprechkompetenz und Sprachbewusstheit, aber auch Aspekte der Persönlichkeit wie Selbstständigkeit, Selbstreflexivität, Selbstbewusstsein, Offenheit und Flexibilität. Dies wird in der Auswertung eigener Beobachtungen und Mitschriften der Forscherin, videografierter Proben und Präsentationen sowie Fragebögen und Reflexionsschreiben der Teilnehmer: innen deutlich (vgl. ebd.: 191-193, 218-220). Entwickelt wird ein Modell zur Gestaltung eines „Fremdsprachenunterrichts als Ereignis“, das Überlegungen zu einem performativ-ästhetischen Unterrichtsvorgehen, ein Kompetenzprofil für Lehrkräfte als performativ-ästhetische Übungsleitende, praktische Übungen zur Text- und Szenenarbeit und ein Kursmodell für Deutsch als Fremdsprache enthält (vgl. ebd.: 235-259). 5. Praxisbeispiel Die vorgestellten empirischen Studien weisen darauf hin, dass Slam Poetry als eine lyrische Form in der Fremdsprache lebendig erfahren, durch ein genaues (Zu-)Hören und (Hör-)Sehen vielfältig wahrgenommen und in einer performativ-ästhetischen Unterrichtspraxis erfolgreich selbst verfasst und präsentiert werden kann. Wie gerade der Schritt von der Slam Poetry zum Poetry Slam gelingen kann, soll im Folgenden anhand eines Workshops (nach H ILLE / S CHÖNLEBER 2009; 2010: 48-62, vgl. auch B EKES / F REDERKING 2009) modelliert werden, der in drei Phasen ablaufen und sowohl mit Studierenden wie auch mit Schüler*innen der Sekundarstufe 2 umgesetzt werden kann. Phase 1: Zunächst wird ein aufgezeichneter Auftritt oder Poetry Clip einer Slammer: in im Unterricht gesehen und gehört, wobei sowohl der Text als auch die Performance und deren Aufzeichnung eine Rolle spielen; bei Poetry Clips auch deren Bildgestaltung und weitergehende akustische Gestaltung z.B. durch Musik. Das Erlebnis 82 Almut Hille DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 52 • Heft 1 der Slam Poetry steht hier an erster Stelle. Ihre (nachfolgende) analytische Betrachtung kann jedoch bereits unter der Zielsetzung des späteren Verfassens und Performens eigener Slam-Texte erfolgen. In der Analyse wären auf der Textebene die Wahrnehmungs- und Deutungsangebote der Aussagen, Wortspiele und -neuschöpfungen, lyrische Elemente wie Reime, Wiederholungen, Refrains und Interjektionen von Bedeutung. Sie werden vielfach mit Blick auf die Performance geschaffen; der Klang der Worte, Lautmalereien und der Rhythmus des Textes spielen schon in dessen Konzeption eine große Rolle. In der Performance sind prosodische Elemente wie Intonation und Rhythmus sowie die emotionale Färbung einer Stimme, die Stimmhöhe, Lautstärke und Sprechgeschwindigkeit von besonderer Bedeutung, ebenso Körpersprache, Gestik und Mimik der Slammer: innen. Petra A NDERS bietet in ihrem Aufsatz „Intermedialität der Slam Poetry“ auch ein Raster zur Analyse von aufgezeichneten Slam Auftritten oder Poetry Clips (vgl. A NDERS 2012: 299-309). Grundlegend sind die Ebenen von Text bzw. Ton, Bildinhalt und (Kamera-)Perspektive. Phase 2: In einem zweiten Schritt stehen das Verfassen und Vortragen bzw. Performen eigener Texte der Lernenden im Vordergrund. Beides kann individuell oder im Team erfolgen; auch bei Poetry Slams gibt es Einzel- und Teamwettbewerbe. Zunächst steht der Text im Mittelpunkt. Anhand verschiedener Impulse, Überlegungen und Assoziationen kann nach einer Idee für ein Textthema gesucht werden. Dabei können bereits erste Wörter, Wortgruppen oder Sätze notiert werden, auch Assoziations- oder Gedankenketten, aus denen später vielleicht erste Sätze entstehen. Es können Wortschatzübungen durchgeführt werden, um mit Wörtern zu spielen und Ausdrucksmöglichkeiten zu variieren. Auch kleine Gedichte wie Elfchen, Siebener, Haikus oder Listengedichte können verfasst und nachfolgend Details in ihnen so variiert werden, dass Bedeutungen sich verändern. Es muss überlegt werden, welche Form am besten zur eigenen thematischen Idee und zur geplanten Performance passt. (Lernende wissen vielleicht schon, ob sie z.B. eine am Rap oder am Storytelling orientierte Performance bevorzugen). Das Verfassen eines Textes kann auch als generatives Schreiben, also anhand eines Ausgangstextes erfolgen, der variiert oder ergänzt wird. 6 Geeignet für den Unterricht Deutsch als Fremd- und Zweitsprache wäre z.B. ein Text wie „Seid ihr alle da“ von Nora G OMRINGER dessen Zeilen größtenteils mit der Wortgruppe „Wir sind alle ...“ beginnen. 7 Dem Klang der Wörter, Wortgruppen, Sätze und Textzeilen muss aber auch beim generativen Schreiben von vornherein Bedeutung zugemessen werden, sie müssen also laut gesprochen bzw. laut gelesen werden. Auch Ausspracheübungen und -spiele können immer wieder mit einbezogen werden. 6 Zum generativen Schreiben vgl. B ELKE (2011). D ÖLL / H ÄGI / A IGNER (2012) wählen einen Slam-Text auch als Ausgangstext des generativen Schreibens zur diagnosegestützten Sprachförderung bei Problemen mit Satzverbindungen. 7 https: / / www.swr.de/ -/ id=5695922/ property=download/ nid=659892/ 1ikf2aa/ swr2-literatur-20100119. pdf (02.06.2022), dort auf S. 4f. Slam Poetry und Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht 83 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 Eine entstandene erste Version des Textes muss sorgfältig überarbeitet und korrigiert werden, am besten in Kooperation mit anderen Lernenden und/ oder der Lehrkraft. Besonders zu achten wäre in dieser Phase auf den Textaufbau, die Wortwahl, die Grammatik sowie die Wahl von Bildern, Metaphern und Wortspielen. Beim lauten Sprechen einzelner Zeilen wie auch des gesamten Textes wäre zu erproben, ob Varianten besser klingen und ob der Rhythmus der Zeilen stimmt. Eine mehrfache Überarbeitung eines Textes kann in diesem Kontext zur Selbstverständlichkeit statt zur aufoktroyierten Arbeit werden - selbst für professionelle Slammer: innen bedeutet eine Performance nicht den endgültigen Abschluss des Schreibprozesses: Nach den Publikumsreaktionen bei Auftritten werden weitere Modifikationen vorgenommen, für mögliche Publikationen werden Texte weiter überarbeitet und liegen am Ende möglicherweise in verschiedenen Fassungen und mit unterschiedlichen Titeln vor. In der weiteren Vorbereitung der Performance ist die schriftliche Fassung des Textes mit Markierungen zu versehen. Entstehen kann eine ‚Partitur‘, die prosodische und andere Aspekte berücksichtigt: (Lese-)Tempo: Geschwindigkeit, Geschwindigkeitswechsel, Pausen (Lese-)Melodie: Tonhöhe, Satzmelodie bzw. Sprechbogen, Klangfarbe Akzentuierung: Betonung, Betonungswechsel, Lautstärke, Lautstärkewechsel Artikulation: Deutlichkeit, Deutlichkeitswechsel Stellen, an denen eine besondere Mimik oder Gestik eingefügt werden sollen. Diese Aspekte sollten wiederholt erprobt und variiert werden, auch mit Blick auf mögliche Bedeutungsveränderungen einzelner Aussagen, bevor eine Fassung des Textes ‚steht‘, die für den (möglichst freien) Vortrag vorbereitet wird. Die Performance sollte nie ein reines Vorlesen sein. Wichtig ist es, in einzelnen kleinen Schritten - d.h. zunächst kurze Sequenzen und vorgefertigte Texte gemeinsam im Chor sprechen, Leseübungen in verschiedenen gespielten Stimmungen usw. - zur Performance zu schreiten. Eine Angst beim Präsentieren sollte gar nicht erst aufkommen, sondern der spielerische Charakter der Übungen überwiegen. Ein behutsames und differenziertes Hinführen zum eigenständigen Vortrag ist dabei essenziell. Für diesen sind auch das Stehen vor einem Mikrofon (oder mit einem Mikrofon in der Hand) in einer stabilen und gleichzeitig lockeren Körperhaltung und das Sprechen durch das Mikrofon zu proben; weiterhin die Bühnensituation mit einem souveränen Auf- und Abgang sowie Blickkontakt zum Publikum. Vor der Performance können Atemübungen, Stimm- und Sprechübungen sowie Aufwärmübungen individuell oder in Teams durchgeführt werden. Phase 3: Die (öffentliche) Präsentation der Texte kann in einem von den Lernenden selbst organisierten Poetry Slam oder in selbst produzierten Poetry Clips erfolgen. Die Organisation eines Slams erfordert eine Vielzahl von Arbeitsschritten: Nach der Auswahl eines geeigneten Ortes und der Sicherung einer technischen Grundausstattung (Mikrofon, Musikanlage) muss zunächst ein prägnanter, ansprechender Titel für den Slam gefunden werden. Es müssen ein Plakat und ein Eintrag, mit dem im Internet für 84 Almut Hille DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 52 • Heft 1 den Slam geworben werden kann, verfasst und gestaltet werden. Es muss entschieden werden, wer MC (Moderator: in) werden und wie der Slam ablaufen soll. Soll beispielsweise zwischen den einzelnen Anmoderationen und Beiträgen Musik (mit Text in der Fremdsprache? ) eingespielt werden oder gibt es sogar eine Live-Band? Die Anmoderationen müssen verfasst, zumindest grundlegend konzipiert werden. Die Art der Bewertung der Beiträge durch das Publikum (Punkte, Applaus) und deren Kriterien (origineller Text, Zusammenspiel von Text und Performance, Wirkung der Slammer: in oder des Teams auf der Bühne, Interaktion mit dem Publikum) müssen festgelegt, also in der Fremdsprache ausgehandelt und beim Slam von der Moderator: in vermittelt werden. Vereinbart werden können auch Regeln wie „Nach jedem Beitrag gibt es Applaus! “. Für die eigene Produktion von Poetry Clips ist anderes entscheidend - u.a. müssen sprachliche Bilder in bildliche Zeichen übersetzt werden. Eine wichtige Vorarbeit besteht in der Analyse von Poetry Clips. In ihr werden die filmischen Mittel genau betrachtet und auf die Textstruktur bezogen. So wird deutlich, welche Kameraeinstellungen bzw. -perspektiven, welche Kulissen bzw. visuellen Hintergründe und akustischen Elemente den einzelnen Zeilen bzw. Strophen des Textes zugeordnet sind. Auf dieser Grundlage kann die Produktion eines eigenen Clips konzipiert werden, die in vier Schritten erfolgt (vgl. H ILLE / S CHÖNLEBER 2009: 60-62): Auseinandersetzung mit dem Text: Welche Aussage hat er und wie soll sie in dem Clip verdeutlicht werden? Wie kann die Stimmung des Textes spürbar werden? Welche Textstellen sind besonders wichtig für die filmische Umsetzung? Entwurf eines Storyboards: Die wichtigsten Aspekte der Filmarbeit werden in einem Raster festgehalten, am besten in Form einer Tabelle: Nummer der Einstellung, Länge, Skizze (Kamerastandort, -perspektive und -einstellung, Requisiten), Ton, Musik, Licht, Handlung, Sprechtext, Subtext (wie wird gesprochen), intendierte Wirkung. Aufnahme (Film und Ton): Filmarbeit ist Teamarbeit! Verantwortlichkeiten für Regie, Kamera, Ton, Licht und Requisite müssen verbindlich festgelegt sein. Schnitt (Bild und Ton): Der Schnitt ist sehr wichtig. Mit ihm können in der Textperformance Rhythmus, strophische Gliederungen, Zäsuren u.ä. mitgestaltet werden. Es können ‚harte Schnitte‘ oder weichere Übergänge gewählt werden, auch mit Blick auf die Wirkungsabsicht. Kostenlose Schnittprogramme wie Shotcut oder DaVinci Resolve stehen im Internet zur Verfügung. Die fertiggestellten Poetry Clips können ebenfalls in der Klasse oder Seminargruppe, in der Schule oder am Institut präsentiert werden. Auch ein Slam der Clips wäre denkbar; einen solchen gibt es z.B. seit 2016 jährlich in verschiedenen Städten in Nordrhein-Westfalen, organisiert vom Kinder- und Jugendliteraturzentrum Jugendstil. 8 8 Vgl. https: / / jugendstil-nrw.de/ portfolio/ video-poetry-slam/ (13.09.2022). Slam Poetry und Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht 85 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 6. Fazit Der vorliegende Beitrag zeigt, wie grundlegende kommunikative Kompetenzen des Fremdsprachenunterrichts, aber auch persönliche Fähigkeiten der Lernenden in der Arbeit mit Slam Poetry, Poetry Slams und Poetry Clips gefördert werden können. Differenziert wäre dies in empirischen Studien weiter zu beobachten und zu überprüfen. Auch bereits vorliegende Daten können weiter analysiert werden. Anja U TLER (2016) verweist explizit auf diese Möglichkeit: Interessant wäre es herauszufinden, inwieweit etwa beim Hören eines Gedichtes in der Fremdsprache Stimme und Sprachmelodie bereits zu Hypothesenbildungen und gedanklich-emotionalen Auseinandersetzungen einladen - oder in welchem Verhältnis die Klangsemantik der Stimme und die Wortsemantik für die Lernenden zueinander stehen (vgl. ebd.: 198, 33). Nachgezeichnet werden könnten auch die (kollaborativen) Schreib- und Überarbeitungsprozesse während des Verfassens eines Textes oder die Entwicklung der Sprech- und Vortragskompetenzen der Lernenden in der Erarbeitung der Performance eines Textes. Literatur A NDERS , Petra (2010): Poetry Slam im Deutschunterricht. Aus einer für Jugendliche bedeutsamen kulturellen Praxis Inszenierungsmuster gewinnen, um das Schreiben, Sprechen und Zuhören zu fördern. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. A NDERS , Petra (2012): „Intermedialität der Slam Poetry“. 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