Fremdsprachen Lehren und Lernen
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0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2023-0012
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Gnutzmann Küster SchrammPhil BENSON: Language Learning Environments. Spatial Perspectives on SLA. Bristol/Blue Ridge Summit: Multilingual Matters 2021, 157 Seiten [29,95 €]
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Sabine Jentges
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126 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2022-0012 52 • Heft 1 Phil B ENSON : Language Learning Environments. Spatial Perspectives on SLA. Bristol/ Blue Ridge Summit: Multilingual Matters 2021, 157 Seiten [29,95 €] „Der, die, das ... Wer, wie, was … wieso, weshalb, warum“: All diese Fragen aus dem Sesamstraßen-Song kennt im deutschsprachigen Raum nicht nur fast jedes Kind, sie werden in der Fremdsprachen(erwerbs)forschung auch seit Jahren bzw. Jahrzehnten bearbeitet: Wer sind die Lernenden, wie lernen sie, was lernen sie und warum? Die Frage, wo sie lernen („The where of second language aquisition“), findet demgegenüber bisher kaum Berücksichtigung. Dabei ist Raum in den Bezugswissenschaften, nicht nur in der Geographie, sondern im Rahmen des Spatial Turns beispielsweise auch seit einigen Jahrzehnten für die Kulturwissenschaft ein zentraler Forschungsbegriff. Über die Angewandte Linguistik fand Raum in den letzten Jahren mit dem Ansatz der Linguistic Landscapes zumindest vereinzelt in Form einer praktischen Umsetzung in der Fremdsprachendidaktik Berücksichtigung. Raum im Sinne des Lernortes oder der Lernumgebung wird im Bereich des Fremdsprachenerwerbs bisher jedoch nur vereinzelt berücksichtigt. Phil B ENSON hat diese räumliche Dimension des Fremdsprachenlernens in seinem, im Sommer 2021 erschienenen Band „Language Learning Enviroments“ zum Thema gemacht. Fragen, denen er sich in diesem Band theoretisch anzunähern versucht, sind: Welchen Einfluss hat der Raum auf das Sprachenlernen und wie beeinflusst die Lernumgebung den Sprachlernprozess? (3). Phil B ENSON , Professor für Angewandte Linguistik und Direktor des Forschungszentrums für Mehrsprachigkeit an der Macquarie University in Sydney, Australien, fokussiert im hier besprochenen Band auf die räumliche Dimension von v.a. informellem Sprachenlernen außerhalb des Klassenzimmers, beispielsweise im Rahmen von Studienaufenthalten im Zielsprachengebiet. Er geht der Frage nach: Welche Räume werden von den individuellen Lernenden geschaffen, in denen Sprachenlernen stattfindet? Um dieses zunächst abstrakt wirkende Unterfangen zu veranschaulichen, sei hier auf ein konkretes Fallbeispiel aus B ENSON s eigener Forschung verwiesen. Berichtet wird von einer vietnamesischen Studentin, die in Australien Englisch lernt, um dort ein Masterstudium aufzunehmen, mit dem langfristigen Ziel, einen Job in Australien zu finden. Sie lernt unter der Woche an einer Sprachschule und arbeitet an den Wochenenden in einem Einkaufszentrum, zu beiden Orten pendelt sie von ihrer Wohngemeinschaft in einem Vorort aus. Sie spricht Englisch mit ihren chinesischen und indischen Mitbewohnerinnen und nutzt ihre Zeit zu Hause, um Hausaufgaben zu machen und gemeinsam mit den Mitbewohnerinnen fernzusehen. In ihrem Job spricht sie mit den Kunden Englisch und Vietnamesisch, und in der Sprachschule versucht sie, Gelegenheiten zu nutzen, um mit den Lehrenden außerhalb des Unterrichts Englisch zu sprechen. Sie hat weniger Kontakt mit Erstsprachensprecher: innen des Englischen als gewünscht, ist aber zufrieden und hat das Gefühl, ihren Zielen näher zu kommen (132). Dieses Fallbeispiel dürfte zunächst verdeutlichen, dass es B ENSON um das Lernen bzw. den Erwerb einer weiteren Sprache nach einer oder mehrerer Erstsprachen geht, und darüber hinaus darum, welche Lernräume sich hierbei außerhalb des Unterrichts eröffnen bzw. von den Lernenden selbst geschaffen werden, und wie relevant diese für den Sprachlernprozess sind. Als Zielgruppe verweist B ENSON auf Sprachlernende im Kontext von Globalisierung, Tourismus, Migration und in der internationalen Wirtschaft. Die räumlichen Dimensionen solcher Lernprozesse bezeichnet er als (Lern)Umgebungen („environments“) und (Lern)orte („setting“), und in Abgrenzung zu (Lern)kontexten („context“). Kurz zusammengefasst wird die Umgebung („environments“) als Aggregat mehrerer Orte („settings“) verstanden. Ein Ort („setting“) ist demgegenüber ein einzelner Raum, während eine Umgebung aus mehreren Räumen bzw. Orten besteht, die entweder geografisch oder im Leben eines Individuums miteinander verbun- Besprechungen 127 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0012 den sein können (9 sowie ausführlich Kapitel 5). Kontext kann laut B ENSON alles sein, was dem/ der Lernenden begegnet bzw. ihn/ sie als Input erreicht. Der vorliegende Band, der mit seinem Umfang von insgesamt 140 Seiten Fließtext als überschaubar bezeichnet werden kann, gliedert sich in sechs Kapitel, in denen sich B ENSON mit einem breiten und multidisziplinären theoretischen Spektrum von Auffassungen über die Rolle des Raums in der Sprache und beim Spracherwerb auseinandersetzt. Entsprechend ist die Lektüre als durchaus theoretisch dicht zu bezeichnen. Von daher ist die im einführenden Kapitel - mit Herleitung des Themas („The where of second language aquisition“) und Überblick über die Inhalte der einzelnen Kapitel - angeschlossene Übersicht („Some key terms“) von Definitionen der im Band verwendeten Kernbegriffe für ein detailliertes Verständnis der folgenden theoretischen Abhandlungen äußerst hilfreich. Diesem einleitenden Kapitel zum Ort des Fremdsprachenlernens folgen mit jeweils ca. 25 Seiten fünf weitere Kapitel zu den Themen: Raumtheorien, Linguistik und Räumlichkeit der Sprache, sprachtragende Assemblagen, Sprachlernumgebungen, Raum und Fremdsprachen(erwerbs)forschung. Zwischen den einzelnen Kapiteln werden Abbildungen gezeigt, die für B ENSON die jeweils behandelten Themen symbolisieren dürften, so zum Beispiel eine Luftaufnahme der Umgebung des Amsterdamer Flughafens Schiphol als Beispiel einer durch menschlichen Eingriff gestalteten Landschaft (10) oder ein Foto eines doppelstöckigen, mit lateinischen und chinesischen Schriftzeichen und weiteren Symbolen gestalteten Busses in einer Straße von Hongkong zur Illustration einer mehrsprachig sprachtragenden Assemblage („Language-bearing assemblage“) in Bewegung (64). Unter solchen sprachtragenden Assemblagen versteht B ENSON Objekte, die, wie dieser Bus, sprachtragende Elemente beinhalten und somit der Sprache Räumlichkeit verleihen, indem sie sie in die Welt tragen. Kapitel 2 („Theories of Space“) bietet einen multidisziplinär ausgerichteten Überblick über postmoderne Raumtheorien. Davon ausgehend, dass Raum sozial produziert ist, sieht B ENSON Sprachlernumgebungen als Ergebnis der Produktion von Raum, die durch globale Mobilität physischer Objekte, wie Menschen, Güter und Informationen, geformt, und auf globaler und lokaler Ebene produziert werden (34). Wesentlich ist hierbei die vom Autor vorgeschlagene Perspektive von Objekten-als-Raum („objects-as-space“), bei der Raum durch Objekte kreiert wird, anstatt sie zu enthalten, wie es bei der Objekte-im-Raum-Perspektive („objects-inspace“), die den Raum als eine Leere sieht, in der Dinge passieren, der Fall wäre. B ENSON beschäftigt sich im 3. Kapitel („Linguistics and the Spatiality“) mit der Verbindung von Raum und Sprache, die - so B ENSON - in der Linguistik durchweg aus einer Sprache-als- Objekt-im-Raum-Perspektive betrachtet wird („objects-in-space“), aus der physische Räume, die sich um das Objekt Sprache herum entwickelt haben, beispielsweise als Nationalstaaten und -sprachen identifiziert werden. Entsprechend neigt die Lehr- und Lern-Perspektive dazu, eine Zielsprache als ein standardisiertes Objekt-im-Raum, verpackt in Lehrbüchern, Wörterbüchern, Grammatiken und andere Sprachlernmaterialien, wahrzunehmen (63). In Kapitel 4 („Language-Bearing-Assemblages“) wird die alternative Sicht des Autors auf Räumlichkeit und Sprachenlernen entwickelt, im Sinne einer Objekte-als-Raum-Perspektive („objects-as-space“) und davon ausgehend, dass die Verbreitung von Sprache extraterritorial ist. Sie geht - in Anlehnung an D E L ANDA - davon aus, dass Sprache in Form von sprachtragenden Assemblagen (Gedanken, Sprache, Schrift, Facebook-Posts, Gespräche, Briefe, Audio- und Videoaufnahmen usw.) in den Raum integriert ist. Diese Assemblagen werden in Kapitel 5 („Language Learning Environments“) als Ressourcen für das Sprachenlernen konzeptualisiert. Sie bilden durch Globalisierung geprägte lokale räumliche Sprachlernumgebungen, die wiederum durch die individuelle Perspektive einzelner Lernender wahrgenommen und gestaltet werden und Auswirkungen auf das Engagement und 128 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0013 52 • Heft 1 den Erfolg beim Lernprozess haben können. Auch Online-Ressourcen werden hierbei berücksichtigt. Kapitel 6 („Space in SLA Research“) bietet einen Überblick relevanter Fremdsprachen(erwerbs)forschung, die sich auf die Räumlichkeit des Sprachenlernens bezieht, inklusive einiger Zusammenfassungen von Forschungsergebnisse von B ENSON , wie beispielsweise narrative Fallstudien der Lernumgebungen internationaler Studierender beim Englischlernen, zu denen die eingangs vorgestellte vietnamesische Studentin zählt. Abschließend identifiziert B ENSON einige Forschungsdesiderate, u.a. das multilinguale Umfeld im urbanen Raum, das erforscht und verstanden werden müsste, um es beim Fremdsprachenlernen nutzbarer zu machen, der Einfluss von Mobilität und die Ausbreitung mehrsprachiger Räume sowie die Produktion von formellen und informellen Lernumgebungen durch individuelle Lernende. Forschungsmethodologisch plädiert B ENSON für GPS-gestützte Tagebücher und Interviews, Beobachtungs- und Gehmethoden. Zahlreiche Aspekte des Fremdsprachenlernens, nämlich das „wer, wie, was ... wieso, weshalb, warum ...“ sind wichtig, dieser Band lehrt, dass individuelle Lernumgebungen der Lernenden und die Lernorte, die diese kreieren können und wollen, wichtig sind und von der Fremdsprachen(erwerbs)forschung zukünftig stärker berücksichtigt werden sollten. Der Lernort Schule bleibt im vorgelegten Band unterbelichtet, dennoch können B ENSONS Ausführungen auch zum Nachdenken über die räumliche Gestaltung und Nutzung institutioneller Lernorte und den Nutzen des Einbezugs von räumlichen Aspekten außerschulischer Lernorte anregen. Wer praxisnahe Anregungen für die Gestaltung von individuellen oder institutionalisierten Lernumgebungen sucht, der dürfte in diesem Band kaum fündig wer. Wer sich jedoch mit theoretischen Konzepten zu Fremdsprachenlernumgebungen auseinandersetzen möchte, dem sei die Lektüre empfohlen. Nijmegen S ABINE J ENTGES Bernt A HRENHOLZ , Martina R OST -R OTH (Hrsg.): Ein Blick zurück nach vorn: Frühe deutsche Forschung zu Zweitspracherwerb, Migration, Mehrsprachigkeit und zweitsprachbezogener Sprachdidaktik sowie ihre Bedeutung heute. Berlin, Boston: De Gruyter 2021, 305 Seiten [102,95 €] Der Sammelband beruht auf einem Symposium, das im Juli 2018 an der Friedrich-Schiller- Universität Jena zum Abschied von Bernt Ahrenholz in den Ruhestand organisiert wurde, und versammelt acht Perspektiven auf die Anfänge der DaZ-Forschung in den 1970er Jahren. Es ist das letzte Herausgabe-Projekt von Bernt A HRENHOLZ und ein sehr persönliches, das von seiner Weggefährtin Martina Rost-Roth zu Ende geführt wurde. So passt der Nachruf von seinen drei Jenaer Mitarbeiterinnen Isabell F UCHS , Britta H ÖVELBRINKS und Jessica N EUMANN gut an das Ende des Bandes. Gegenwart und Zukunft setzen auf der Vergangenheit auf, und in der Wissenschaft stehen wir immer auf Schultern von ‚Riesen‘ bzw. ‚Riesinnen‘. Acht Größen der DaZ-Forschung in Deutschland - alle zur 68er Generation gehörend - blicken zurück auf ihre frühen Projekte aus der Zweitspracherwerbs- und Mehrsprachigkeitsforschung sowie der Sprachdidaktik im Kontext von Migration und wählen diejenigen Ergebnisse und Ideen aus, die für sie auch heute noch Relevanz haben. Ein einleitendes Kapitel von Bernt A HRENHOLZ und Martina R OST -R OTH erläutert die Konzeption des Bandes. In einem ausführlichen, gemeinsam mit Norbert D ITTMAR und Beate L ÜTKE
