eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 52/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2023-0015
31
2023
521 Gnutzmann Küster Schramm

Mark BECHTEL, Tom RUDOLPH (Hrsg.): Reflexionskompetenz in der Fremdsprachenlehrer*-innenbildung. Theorien – Konzepte – Empirie . Berlin: Lang 2022, 188 Seiten [44,95 €, ebook 45,05 €]

31
2023
Britta Viebrock
flul5210134
134 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0015 52 • Heft 1 Mark B ECHTEL , Tom R UDOLPH (Hrsg.): Reflexionskompetenz in der Fremdsprachenlehrer*innenbildung. Theorien - Konzepte - Empirie . Berlin: Lang 2022, 188 Seiten [44,95 €, ebook 45,05 €] Reflexionskompetenz gilt für Lehrkräfte, deren zentrales Handlungsfeld (Unterricht) durch eine prinzipielle Unvorhersehbarkeit charakterisiert ist, als wichtiges Professionalisierungsmerkmal, das auch in den KMK-Standards bzw. -Anforderungen für die Lehrer: innenbildung für Bildungswissenschaften, Fachwissenschaften und Fachdidaktik Niederschlag findet. Trotz der großen Bedeutung, die den Reflexionskompetenzen zugeschrieben wird, kann nicht von einem allgemein geteilten Begriffsverständnis ausgegangen werden. Zwar erweist sich S CHÖN s Leitbild eines ‚reflective practitioner‘ seit inzwischen fast vier Jahrzehnten als einflussreich auf Diskurse der Lehrer: innenbildung in den Fremdsprachendidaktiken und darüber hinaus, doch bisweilen lässt sich der Eindruck nicht von der Hand weisen, dass der Begriff zu einer inzwischen fossilisierten Floskel verkommen ist. Grundsätzliche Einigkeit besteht allerdings darüber, dass Reflexionskompetenzen an der Schnittstelle zwischen konzeptionellem, theoretischem und empirisch abgesichertem Wissen auf der einen Seite sowie individuellen Erfahrungen und persönlichen Überzeugungen auf der anderen Seite ansetzen, die in einen zirkulären Austausch gebracht und bewusst bearbeitet werden. An dieser Ausganglage setzt der vorliegende Sammelband an, der insgesamt acht Fachbeiträge aus den unterschiedlichen Fremdsprachendidaktiken (Deutsch als Fremdsprache, Englisch und die romanischen Sprachen, v.a. Französisch) vereint und mit einer positionsbestimmenden Einleitung der Herausgeber komplettiert wird. Der Band ist auf der Grundlage eines gleichnamigen Symposiums im September 2020 an der Universität Osnabrück entstanden, das noch unter den Bedingungen der Pandemie als Hybridveranstaltung stattfinden musste. Die ersten drei Beiträge von Dagmar A BENDROTH -T IMMER , Birgit S CHÄDLICH und David G ERLACH bilden die konzeptionelle Grundlage der Diskussion, die folgenden fünf Beiträge präsentieren empirische Studien in unterschiedlichen Stadien - von geplant bis bereits vollständig abgeschlossen. Dagmar A BENDROTH -T IMMER s Beitrag „Reflexion und professionelle Flexibilität im (berufs)biographischen Entwicklungsprozess von Fremdsprachenlehrenden“ stellt - wie es der Titel verspricht - den berufsbiographischen Ansatz in den Mittelpunkt und entwirft auf der Basis einer integrierten Sicht auf „Sprache, Leib und Identität“ (S. 26) Modelle zur Definition und Rahmung von Reflexion. Diese zeichnen sich durch eine große Komplexität und Dynamik aus und eignen sich in der vorliegenden Form vermutlich besser für die Anbahnung von Reflexionskompetenz als für deren empirische Untersuchung, da sie zwar zahlreiche wichtige Aspekte und Dimensionen von Professionalität aufrufen und anstoßen, mit denen (angehende) Lehrkräfte sich auseinandersetzen können, zugleich aber schwer vorstellbar ist, wie sich empirische Daten trennscharf den genannten Aspekten und Dimensionen zuordnen und wie sich eindeutige Kausalbeziehungen zeigen lassen. Birgit S CHÄDLICH stellt in ihrem Beitrag Ergebnisse einer Studie vor, die mit qualitativen Inhaltsanalysen zum Fachpraktikum Französisch arbeitet, und konzeptionalisiert fremdsprachendidaktische Reflexion als ‚Interimsdidaktik‘. Sie problematisiert zunächst die in der Lehrer: innenbildung gleichermaßen relevanten Dimensionen ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘, die mit ihren je eigenen inneren Logiken einander ,fremde Kulturen‘ (S. 47) bleiben müssen. Die Autorin orientiert ihren Professionalisierungsansatz nicht an simplen Anwendungsbezügen, sondern an der Dimension des ‚Möglichen‘, die „Normkritik und Veränderungen der Praxis“ (S. 49) denkbar macht. Die empirische Grundlage ihres Beitrags bilden Interviewtranskripte, auf deren Basis sich dominant aufgerufene fachdidaktische Wissensbereiche zeigen lassen ebenso wie Besprechungen 135 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0015 die erreichte Reflexionstiefe, die geringer als erwartet ausfällt. Methodenkritische Überlegungen runden den Beitrag ab. Die Kategorie des impliziten Wissens, das in besonderer Weise als handlungsleitend gilt, zugleich aber nicht direkt zugänglich und verbalisierbar ist, steht im Zentrum des Beitrags von D AVID G ERLACH , der fragt, worüber beim Reflektieren eigentlich reflektiert wird. Der Verfasser beschreibt mit dem Ansatz der ‚impliziten Reflexion‘ (S. 72-75) den Versuch, implizites Wissen zu explizieren und für Professionalisierungsprozesse nutzbar zu machen. Ausgehend von der Annahme, dass implizites Wissen über Beschreibungen und Erzählungen rekonstruierbar ist, Argumentation und Bewertungen hingegen stärker explizites Wissen abbilden, plädiert David G ERLACH für erzählbasierte Reflexionsgespräche über Unterrichtshandlungen, die nicht vorschnell nach Entscheidungsrechtfertigungen fragen. Ebenso fordert er, die Art des Wissens zu explizieren, die jeweils im Fokus der Reflexion steht, sowie Widersprüche zwischen den Wissensarten im Hinblick auf die eigene Lehrer: innenidentität zu thematisieren. Ein fachspezifisches Reflexionssetting für die romanischen Sprachen, das den Einsatz eines ePortfolios vorsieht und die Förderung von Professionalisierung über reflexive Prozesse zum Ziel hat, beschreibt Georgia G ÖDECKE in ihrem Beitrag. Sie diskutiert die Frage, wie Lehr-Lern- Arrangements gestaltet sein müssen, um fachspezifische Reflexionsprozesse anzuleiten. Auf der Basis einer Unterscheidung unterschiedlicher Wissensformen legt die Autorin ein fünfstufiges Reflexionsmodell an (Darstellen und Beschreiben, Analysieren und Vergleichen, In- Beziehung-Setzen, Schlussfolgern, Planen), das die angehenden Lehrkräfte in ihren Portfolios bearbeiteten. Das Ergebnis der Datenauswertung weicht von anderen Studienergebnissen insoweit ab, dass eine gewisse Reflexionstiefe sowie eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis gezeigt werden können, die inbesondere auf die Struktur des Portfolios zurückgeführt werden. Nicht abschließend geklärt wird die Frage, inwieweit die Untersuchung der eigenen Intervention im Kontext eines DBR-Ansatzes die Ergebnisinterpretation beeinflusst. Svenja H ABERLAND stellt eine Interventionsstudie in den romanischen Sprachen zur Reflexion individueller Mehrsprachigkeit bei Lehrenden und Lernenden vor. Ihr Reflexionsbegriff bezieht sich auf ein Mehrebenenmodell, das Gegenstand, Handlung und Lernvermögen unterscheidet. Die Verfasserin beschreibt Gestaltungsprinzipien und Aufbau ihrer hochschuldidaktischen Intervention, die innerhalb eines DBR-Ansatzes umgesetzt wurde. Sie zeigt, wie der mithilfe eines zweiperspektivischen Seminarfokus ein verstärktes Bewusstsein der angehenden Lehrkräfte für Potenziale und Herausforderungen von Mehrsprachigkeit geschaffen werden kann. Im Vergleich zu den vorigen Beiträgen stehen allerdings weder die eigene unterrichtliche Handlungserfahrung noch Theorie-Praxis-Spannungen im Fokus, sodass die Frage offen bleibt, wie sich die Konzeption von einem Seminaransatz unterscheidet, der nicht den Reflexionsbegriff in den Mittelpunkt stellt. Die Nutzung videografierter Handlungspraxis anderer Lehrkräfte als Reflexionsimpuls wird im Beitrag von Tom R UDOLPH diskutiert. In der vorgestellten Studie aus den romanischen Sprachen werden studentische Reflexionstexte, die auf einer 15minütigen Videovignette und strukturierenden Leitfragen basieren, im Hinblick auf zu erkennende Theorie-Praxis bzw. Belief-Praxis-Bezüge analysiert. Am Beispiel eines Auszuges aus dem Datenmaterial werden das inhaltsanalytische Vorgehen im Detail nachvollziehbar gemacht und ‚reflexive Momente‘ in den Bearbeitungen der Studierenden aufgezeigt, die sich aus einer kritischen Haltung gegenüber dem Praxisfall oder aus Spannungen zwischen erworbenem Theoriewissen und beobachteten Handlungen ergeben. Es wird gezeigt, wie videografierte Handlungen auch ohne eigene Unterrichtshandlungen oder -erfahrungen zu produktiven ‚Reflexionsanlässen‘ werden. In Tanja F OHR s Beitrag stehen Lehrphilosophien als „Instrumente zur Bewusstmachung der 136 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0016 52 • Heft 1 Vorstellungen und Überzeugungen zur Rolle einer zukünftigen Lehrkraft für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache“ (S. 144) im Mittelpunkt. Die Autorin beschreibt ein Forschungsprojekt zur Analyse von Lehrphilosophien (n=17), die in Zusammenhang mit dem Unterrichtspraktikum erstellt wurden, und hinterfragt auch die Eignung dieser Textsorte als individuelles Reflexionsinstrument. Anhand der Lehrphilosophien lassen sich personenbezogene, epistemologische und kontextbezogene Überzeugungen beispielsweise zum Selbstbild, zum Unterrichtshandeln und zum schulischen Kontext zeigen, deren Darstellung mithilfe einer Metaphernanalyse sehr plastisch wird. Ebenso werden in den Lehrphilosophien „Ambivalenzen des Lehrer*innenhandelns“ (S. 159) sichtbar. Das Projekt von Benjamin I NAL fokussiert die Dimension der Mündlichkeit im Spanischunterricht. Mithilfe videografierter eigener Unterrichtshandlungen soll untersucht werden, wie Studierende „theoretische Perspektiven auf Mündlichkeit reflexiv auf beobachtete Praxis […] beziehen“ (S. 166) und welche Reflexionstiefe und -breite sie dabei erreichen. Neben einer Übersicht über konzeptionelle Annahmen zur Förderung von Mündlichkeit wird auch der Ansatz der Reflexion im Sinne eines unproduktiven ‚Reflexionshype‘ kritisch diskutiert. Anschließend werden ein etwas diffuses Modell zur Mündlichkeit im Fremdsprachenunterricht präsentiert und Einblicke in das Erhebungsinstrument gegeben. Man kann dem Projekt nicht anlasten, dass es zu einem frühen Zeitpunkt präsentiert wird, an Reiz dürfte es aber sicher gewinnen, wenn auch empirische Daten herangezogen werden. Alles in allem liefert der Band einen umfassenden Einblick in die fremdsprachendidaktischen Diskussionen um die Modellierung und empirische Erforschung von Reflexionskompetenz. Er zeigt, dass sich trotz des Vorhandenseins unterschiedlicher Modelle und Definition ein geteiltes Begriffsverständnis abzeichnet, das an der Schnittstelle von expliziten theoretischen Wissenbeständen, implizitem Wissen und Unterrichtshandlungen und -erfahrungen ansetzt und anhand verschiedener Kontexte und thematischer Fokussierungen verdeutlicht, zu welchen Einsichten zukünftige Lehrkräfte gelangen und wie sie diese für ihre eigene Professionalisierung nutzbar machen. Frankfurt/ M. B RITTA V IEBROCK Barbara R INDLISBACHER : Lesen in der Fremdsprache Französisch. Kompetenzen von Drittklässlerinnen und Drittklässlern mit unterschiedlichen Schrift- und Sprachfähigkeiten in der Erstsprache Deutsch. Münster, New York: Waxmann 2021, 370 Seiten 44,90 € In der Einleitung (Kapitel 1) zu ihrem umfangreichen Werk - gleichzeitig ihre Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz) - umschreibt die Autorin den Ausgangspunkt ihrer Forschung und fordert programmatisch für eine Neuausrichtung der Lesedidaktik, dass bereits in den frühen Klassenstufen verstärkt die Grundlagen für eine ausreichende Lesekompetenz geschaffen werden müssen, die eine Partizipation am sozialen, kulturellen, beruflichen und politischen Leben der Schülerinnen und Schüler gewährleiste (S. 11). Zunächst handele es sich um die basalen Lesefertigkeiten in den ersten Primarschuljahren, danach gewinne vor allem der Textinhalt an Bedeutung. Ausgehend von diesen grundlegenden Feststellungen entwickelt R INDLISBACHER ihren Forschungsfokus, indem sie die Fragestellungen zum Lesenlernen in der Primarstufe im Hinblick auf das frühe Fremdsprachenlernen - hier speziell: Französischlernen - erweitert. In den ersten Kapiteln (Kapitel 2: Leseerwerb in einer Erstsprache und Kapitel 3: Leseerwerb in einer Fremdsprache) entfaltet sie einen umfassenden Überblick über den aktuellen