Fremdsprachen Lehren und Lernen
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0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2023-0017
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2023
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Gnutzmann Küster SchrammManuela FRANKE, Kathleen PLÖTNER (Hrsg.): Rekonstruktion und Erneuerung. Die neue Lehrwerkgeneration als Spiegel fremdsprachendidaktischer Entwicklungen. Tübingen: Narr Francke Attempto 2022, 242 Seiten [58,00 €]
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Jochen Plikat
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138 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0017 52 • Heft 1 Als direkte Handlungsanweisung für die Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit Lesestörungen, bei denen ebenfalls Schwierigkeiten bei den mündlich-kommunikativen Kompetenzen vorliegen, schlägt R INDLISBACHER vor, durch zusätzliche Hinzunahme von Schrift die kommunikativen Aufgaben zu vereinfachen. Ebenso soll ein intensives Lesetraining helfen, Textinhalte zunehmend selbständig erschließen zu können (S. 300). Im abschließenden Teil (Kapitel 7) benennt die Verfasserin Implikationen für die Praxis. So solle der Fremdsprachenunterricht frühzeitig Unterstützungsmaßnahmen für schwache Leserinnen und Leser anbieten, denn etwa 20-30% der Schülerinnen und Schüler benötigten eine spezifische Förderung entsprechend ihren individuellen Stärken und/ oder Schwächen. Weiterhin sollten Lehrerinnen und Lehrer den Entwicklungsstand ihrer Schülerinnen und Schüler kennen und immer beobachten und dabei möglichst frühzeitig allfällige Leseschwierigkeiten erfassen. Die angewendete Diagnostik solle sich am pädagogisch-interaktiven Ansatz, nicht an Defizitorientierung ausrichten; dies sei besonders wichtig, da Schülerinnen und Schüler mit spezifischen Lesestörungen nicht unbedingt Defizite im mündlich-kommunikativen Bereich zeigen. Darüber hinaus sei klar strukturierter Fremdsprachenunterricht, besonders wichtig für die schwächeren Lernenden, der auch bewusstmachende Strategien einsetzt und Fossilisierungen explizit entgegenwirkt. Ein entsprechender Unterricht solle auch die Vernetzung von Wissensinhalten aus der Erstschriftsprache nutzen (Mehrsprachigkeitsdidaktik). R INDLISBACHER stellt ebenfalls fest, dass leseschwächere Schülerinnen und Schüler vermehrt von Übungen nach dem Schema focus on form-Aktivitäten profitieren. Schließlich zeige sich, dass Schülerinnen und Schüler mit isolierten Sprachentwicklungsstörungen vergleichbare Kompetenzen bei hierarchieniederen Lesekompetenzen erreichen, wie unauffällige Schülerinnen und Schüler (S. 314-317). Insgesamt liegt hier eine sehr verdienstvolle Studie vor, die von hoher Relevanz für die Lehrerausbildung ist, indem sie durchgängig den Rückbezug auf die schulische Praxis ermöglicht und mit reliablen Ergebnissen unterfüttert. Im Fazit postuliert Barbara R INDLISBACHER ein grundsätzlich mehrkanaliges, kreatives unterrichtliches Arbeiten, um allen Lernenden ein motiviertes und freudiges Sprachenlernen zu ermöglichen. R INDLISBACHER schließt mit einem Satz, den die Rezensentin uneingeschränkt unterschreiben kann: „Im Sinne der Chancengerechtigkeit ist es notwendig, dass der frühe Fremdsprachenunterricht allen [Schülerinnen und Schülern; die Rezensentin] die gleichen Chancen bietet, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine Fremdsprache anzueignen.“ (S. 324) Karlsruhe S YLVIE M ÉRON -M INUTH Manuela F RANKE , Kathleen P LÖTNER (Hrsg.): Rekonstruktion und Erneuerung. Die neue Lehrwerkgeneration als Spiegel fremdsprachendidaktischer Entwicklungen. Tübingen: Narr Francke Attempto 2022, 242 Seiten [58,00 €] Wer sich heutzutage auf den Webseiten eines großen Schulbuchverlags über ein Lehrwerk informiert, findet neben dem eigentlichen Lehrbuch bekanntlich längst nicht mehr nur ein grammatisches Beiheft und ein Übungsheft vor. Vielmehr stößt man nun rund um das jeweilige Buch auf beeindruckende Produktpaletten. So finden sich etwa auf der Produktseite der Lehrwerkreihe Découvertes (Klett) aktuell in 12 weiteren Kategorien Produkte für Lernende und in 10 weiteren Kategorien Produkte für Lehrkräfte. Zu den Kategorien zählen z. B. eBook, eCourse, Prüfungsvorbereitung, Software oder Digitaler Unterrichtsassistent. Ein ähnliches Besprechungen 139 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0017 Bild bietet sich auch bei anderen großen Schulbuchverlagen wie z.B. Cornelsen oder C. C. Buchner. Lernende wie Lehrkräfte finden somit in der Regel ein vielfältiges Angebot an Publikationen vor, welche sie beim Lernen und Unterrichten mit einem bestimmten Lehrbuch unterstützen sollen. Neben gedruckten Erzeugnissen spielen digitale Formate eine immer wichtigere Rolle. Zudem stehen die Lehrbücher selbst in der Regel zusätzlich als eBook zur Verfügung. Gerade das Lehrbuch, darüber besteht in der fremdsprachendidaktischen Fachcommunity weiterhin ein breiter Konsens, übt einen erheblichen Einfluss auf die Unterrichtswirklichkeit aus. Es strukturiert den Unterricht, indem es eine Themenauswahl sowie eine kompetenzbezogene, grammatische und lexikalische Progression vorgibt. Neben solchen offensichtlichen Schwerpunktsetzungen werden vom Lehrbuch aber noch viele weitere Entscheidungen vorweggenommen, z.B. in Bezug darauf, ob und in welchem Umfang neuere fachdidaktische Entwicklungen aufgegriffen werden oder nicht. Der Titel des vorliegenden Sammelbandes, „Rekonstruktion und Erneuerung“, deutet bereits diese zentrale Fragestellung an: Inwiefern gelingt es der neuen „Lehrwerkgeneration“ - ein Begriff, den die beiden Herausgeberinnen Manuela F RANKE und Kathleen P LÖTNER durchaus auch kritisch reflektieren (S. 7) -, „(Er)Neuerungen oder sogar Umbrüche“ umzusetzen „oder aber, ob es sich eher um Rekonstruktionen bzw. um neue Präsentationsformen von tradierten Konzepten handelt […]“ (ebd.). Das Korpus der insgesamt neun Untersuchungen besteht aus seit 2012 publizierten Lehrwerken zu den romanischen Schulfremdsprachen der, in einer etwas missverständlichen Formulierung, „Lehrwerkgeneration von Cornelsen, Klett, Diesterweg & Co.“ (S. 9). Missverständlich ist die Formulierung deshalb, weil erst auf den zweiten Blick klar wird, dass nicht der in vielen Firmennamen vorhandenen Zusatz „& Co.“ gemeint ist, sondern schlicht „etc.“, also weitere Verlage. Drei Autorinnen widmen sich Lehrwerken für Französisch (Kathleen P LÖTNER , Anne- Marie L ACHMUND , Emma D AKLA , Untersuchungsschwerpunkte: Grammatik, Erklärvideos und Anforderungen an Lehrwerke aus der Sicht von Französischlehrkräften). Zwei Autorinnen beschäftigen sich mit Lehrwerken für Spanisch (Virtudes G ONZÁLEZ , Janina M. V ERNAL S CHMIDT , Untersuchungsschwerpunkte: Enfoque por tareas und Darstellung der Kolonisierung Amerikas). Zwei weitere Autorinnen befassen sich mit Lehrwerken für Italienisch (Michaela R ÜCKL , Sara C OLOMBO , Untersuchungsschwerpunkt in beiden Fällen: Mehrsprachigkeit). Schließlich untersuchen zwei weitere Autorinnen sowohl Französischals auch Spanischlehrwerke (Julia L ANGE , Manuela F RANKE , Untersuchungsschwerpunkte: Ausspracheschulung und Sprechkompetenzförderung). Alle Beiträge sind auf Deutsch verfasst, mit Ausnahme des Beitrags von Virtudes G ONZÁLEZ (Spanisch). Bei der Mehrzahl der Beiträge stehen das jeweilige Lehrbuch und das passende Arbeitsheft im Mittelpunkt der Untersuchung (S. 10). Die Einschätzungen in Bezug auf die Leitfrage fallen sehr heterogen aus. Drei Beispiele seien hier kurz zusammengefasst: So kommt Kathleen P LÖTNER in ihrer vergleichenden Analyse der Grammatikvermittlung in À plus! 2012 und 2020 (Cornelsen) sowie in den begleitenden Carnets d’activités zu einem verhalten positiven Ergebnis: „Der lexiko-grammatische Zugang wird durch chunks, die in zahlreichen auditiven und kommunikativen Übungen sowie in Texten genutzt werden, umgesetzt.“ (S. 71) Weiterhin „[erfolge die] explizite Systematisierung lexiko-grammatischer Strukturen […] nur teilweise“, was die Autorin ebenfalls als Orientierung an „lexiko-grammatischen Ansätzen“ (ebd.) und daher positiv wertet. Kritischer fallen dagegen die Einschätzungen in den beiden Beiträgen aus, die sowohl Französischals auch Spanischlehrwerke berücksichtigen und die sich beide mit der Mündlichkeit beschäftigen. Julia L ANGE hat die Ausspracheschulung in jeweils fünf Lehrwerken für die 140 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0017 52 • Heft 1 genannten Sprachen untersucht, darunter auch Línea amarilla 1 aus dem Jahr 2006, womit sie den in der Einleitung angekündigten zeitlichen Rahmen überschreitet. Sie moniert, dass in keinem Spanischlehrbuch „explizit über die Entscheidung für die Vermittlung einer bestimmten Varietät“ aufgeklärt werde (S. 35). Insbesondere aber konzentrierten sich die untersuchten Lehrbücher vor allem auf die „Graphem-Phonem-Korrespondenzen“ (S. 48), während andere typische „Ausspracheschwierigkeiten auf segmentalem und besonders auch auf suprasegmentalem Niveau“ (S. 13) kaum berücksichtigt würden. Hingegen beruht der Beitrag von Manuela F RANKE nicht auf der Analyse bestimmter Lehrwerke, sondern auf der Beobachtung von insgesamt 184 Stunden Französisch- und Spanischunterricht (S. 221). Ziel der Studie, von der eine Teilauswertung vorliegt, war es, die „lehrwerkbasierte Unterrichtspraxis von Lehrkräften“ in Bezug auf die „Sprechhandlungskompetenz“ (S. 221) zu erfassen. Auch ihre Auswertung fällt weitgehend kritisch aus. So sei bei einem Großteil der beobachteten Aktivitäten die „imitative Aussprachevermittlung […] ohne eine Systematisierung lediglich isoliert, unreflektiert und ungezielt“ erfolgt (S. 240). Zudem werde „[…] das dialogische Sprechen […] häufig im Plenum und nur in Form von Fragen der Lehrkraft an die Lernenden gestaltet […]“ (S. 239) - also in Form des berüchtigten ‚Lehrer-Schüler- Pingpongs‘ (auch bekannt als ‚IRF-Pattern‘). Besonders die Studie von Manuela F RANKE zeigt somit, dass selbst das beste Lehrbuch nichts ausrichten kann, wenn Lehrkräfte an überholten Lehr- und Lernformen festhalten, wie hier am lauten Vorlesen von Lehrwerkstexten und an der lehrerzentrierten Klassenkommunikation. Die in dem Band versammelten Beiträge überzeugen durchweg durch ein solides methodisches Design sowie eine gut nachvollziehbare Vorstellung und Diskussion der Ergebnisse. Kleinere Kritikpunkte lassen sich nur vereinzelt anbringen. So versäumt es Sara C OLOMBO in ihrem ansonsten gelungenen Beitrag, das offensichtlich nationalkulturell-dichotomische Kulturverständnis im Lehrwerk Scambio kritisch zu reflektieren (S. 162f., 169). Janina M. V ERNAL S CHMIDT legt ihren Überlegungen äußerst umstrittene, inzwischen jedoch auch in deutschsprachigen Kontexten stark verbreitete Positionen des zur Zeit dominierenden nordamerikanischen Antirassismusdiskurses zugrunde, ohne konkurrierende Erklärungsansätze für ungleiche Outcomes von Gruppen auch nur zu erwähnen. Sie sieht sich als involviert „in die rassistischen und ausbeuterischen Strukturen der deutschen Gesellschaft und globalen Wirtschaft“ (S. 177), was sie (selbst-)kritisch thematisiert. Gleichwohl kommt auch sie in ihrer Analyse der Darstellung kolonialhistorischer Inhalte in zwei Ausgaben des Spanischlehrbuchs Encuentros (2013/ 2020) zu weitgehend überzeugenden und (verhalten) positiven Ergebnissen. Die Herausgeberinnen decken mit ihrem neun Einzelbeiträge umfassenden Band wichtige Aspekte der romanistischen Lehrwerkforschung ab - ein vielversprechender Anfang für weitere Forschung ist gemacht. Hier wären aus Sicht des Rezensenten u.a. die Analyseschwerpunkte Lexikalische Kompetenz, Kulturelles Lernen und politisch-ideologische Ausrichtung von Interesse, die im vorliegenden Band nicht berücksichtigt werden konnten. Dem Band sei viel Aufmerksamkeit auch außerhalb der fremdsprachendidaktischen Fachcommunity gewünscht, insbesondere im Verlagswesen und unter Lehrkräften. Dresden J OCHEN P LIKAT
