Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2023-0024
121
2023
522
Gnutzmann Küster SchrammAkademische Lesekompetenz in der L2 Deutsch:
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2023
Silvia Introna
Given that reading German scientific texts is an essential skill for international students in German-language degree programs, one would not expect that this key competence for academic success is hardly promoted at German universities. That is why the question arises of how international students can achieve the level of academic reading competence required in German-language degree programs. This paper focuses on findings from a study using educational design research to investigate the academic reading competence in L2 German of international students in humanities and social sciences. Through the development and implementation of an academic reading program for international students, valuable insights into the acquisition of this key competence were gained in authentic learning situations.
flul5220108
DOI 10.24053/ FLuL-2023-0024 52 • Heft 2 S ILVIA I NTRONA * Akademische Lesekompetenz in der L2 Deutsch: Erste Erkenntnisse zur Förderung einer noch unerforschten Schlüsselkompetenz und ihrem Erwerb seitens internationaler Studierender Abstract. Given that reading German scientific texts is an essential skill for international students in German-language degree programs, one would not expect that this key competence for academic success is hardly promoted at German universities. That is why the question arises of how international students can achieve the level of academic reading competence required in Germanlanguage degree programs. This paper focuses on findings from a study using educational design research to investigate the academic reading competence in L2 German of international students in humanities and social sciences. Through the development and implementation of an academic reading program for international students, valuable insights into the acquisition of this key competence were gained in authentic learning situations. 1. Ausgangslage Dass die Verarbeitung von Fachliteratur einen wesentlichen Bestandteil jeglichen Studiums darstellt, ist allen Akteur*innen des akademischen Kontexts bestens bekannt. Studienanfänger*innen erfahren das direkt zu Beginn ihres Studiums, spätestens am Ende der ersten Vorlesungswoche, wenn sie die Vorbereitungslektüre der zweiten Sitzungen auf ihre To-do-Liste setzen. Wie sollen sie aber die Fachliteratur lesen? Was genau wird von ihnen erwartet und was heißt überhaupt Lesen im akademischen Kontext? All diese Fragen werden während der ganzen Studienzeit i.d.R. nicht explizit angesprochen. Trotz der wesentlichen Relevanz wissenschaftlichen Lesens im Studium wird akademische Lesekompetenz vorausgesetzt, aber nicht explizit thematisiert * Korrespondenzadresse: Dr. Silvia I NTRONA , Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, Universitätsstr. 25, 33615 B IELEFELD E-Mail: silvia.introna@uni-bielefeld.de Arbeitsbereiche: Wissenschaftliche Textkompetenz, Hochschulliteralitätsforschung, Entwicklungs- und gestaltungsorientierte Fremdsprachenforschung. N i c h t t h e m a t i s c h e r T e i l Akademische Lesekompetenz in der L2 Deutsch 109 52 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0024 oder vermittelt. Auch internationale Studierende deutschsprachiger Studiengänge erleben die gleiche Situation. Internationale Studierende stellen 11% aller Studierenden in Deutschland dar (vgl. DAAD/ DZHW 2022). Unter dem Stichwort Hochschulinternationalisierung gilt die Anzahl internationaler Studierender heutzutage als ein Qualitätsmerkmal von Hochschulen (vgl. G ROTHUS / M ASCHKE 2013: 10). Durch den Internationalisierungsprozess werden Hochschulen jedoch vor neue Herausforderungen gestellt, die Veränderungen im Einklang mit den spezifischen Bedürfnissen internationaler Studierender notwendig machen. „Internationalisierung […] ergibt sich nicht selbstverständlich aus der physischen Präsenz von ausländischen Studierenden“ (R ÖSCH 2015: 19). Dass der Internationalisierungsprozess der deutschen Hochschulbildung es noch nicht geschafft hat, den internationalen Studierenden die gleichen Studienbedingungen und Erfolgsmöglichkeiten wie deutschen Studierenden zu garantieren, zeigen die höheren Studienabbruchquoten der internationalen Studierendengruppe. Im Hinblick auf den Absolventenjahrgang 2018 haben 49 Prozent der internationalen Studierenden gegenüber nur 27 Prozent der deutschen Studierenden das Bachelorstudium abgebrochen. Bezüglich des Masterstudiums liegen die Studienabbruchquoten internationaler Studierender bei 26 Prozent gegenüber 17 Prozent der deutschen Studierenden (vgl. H EUBLEIN / R ICHTER / S CHMELZER 2020: 3f.). Gründe für die höheren Studienabbruchquoten können u.a. in sprachlichen, fachlichen und finanziellen Problemen gefunden werden (vgl. M ORRIS -L ANGE 2017). Bezüglich des Lesens im Studium kann internationalen Studierenden der Erwerb akademischer Lesekompetenz in der L2 Deutsch aufgrund von sprachlichen Problemen sowie kulturbedingten Lesegewohnheiten und -traditionen schwerfallen. Obwohl Schwierigkeiten beim wissenschaftlichen Lesen noch nicht in Zusammenhang mit dem Studienabbruch erforscht worden sind, weisen einzelne Untersuchungen darauf hin, dass fehlende Kenntnisse und Techniken zum akademischen Schreiben einen Einfluss auf eine solche drastische Entscheidung haben (vgl. H ARJU / W ERNER 2019: 23). Vor dem Hintergrund des engen Verhältnisses zwischen Lesen und Schreiben im akademischen Kontext (vgl. u.a. T HILLOSEN 2008: 73) und angesichts der wesentlichen Rolle von Lesen und Schreiben für den Studienerfolg, die bereits empirisch belegt ist (vgl. W ISNIEWSKI et al. 2020), liegt es nahe anzunehmen, dass die Lesedefizite der internationalen Studierenden bei der Entscheidung, das Studium in Deutschland abzubrechen, eine Rolle spielen könnten. Der Mangel an Unterstützungsangeboten zum wissenschaftlichen Lesen in der Hochschulpraxis lässt sich durch die erheblichen theoretischen und empirischen Lücken begründen, die zur fremdsprachigen akademischen Lesekompetenz existieren. Die Frage, woraus fremdsprachige akademische Lesekompetenz (FALK) überhaupt besteht, wurde bisher noch selten diskutiert, ein kohärentes FALK-Verständnis fehlt. Was die Forschung betrifft, wurden einzelne Studien zu den Schwierigkeiten von Studierenden mit dem Lesen fremdsprachiger wissenschaftlicher Texte fast nur im englischsprachigen Raum durchgeführt (vgl. u.a. P HAKITI / L I 2011; K ONDIYENKO 2010; C HENG 1996). Im Gegensatz zu diesen Studien, die die Meinungen der Studierenden zu eigenen Leseproblemen fokussieren, wird in Deutschland eher eine Außen- 110 Silvia Introna DOI 10.24053/ FLuL-2023-0024 52 • Heft 2 perspektive bevorzugt. Die Erforschung der Schwierigkeiten der Studierenden erfolgt dabei entweder durch die Befragung von Dozierenden (vgl. W ERDER 1994) oder anhand einer Art Fehleranalyse mündlicher und schriftlicher Textwiedergaben (vgl. E HLICH 1999; S CHRAMM 2001; G ROßMANN 2014). Aufgrund der unterschiedlichen Ziele und Designs dieser Studien sind ihre Ergebnisse nur schwer zu vergleichen. In Bezug auf den Erwerb fremdsprachiger akademischer Lesekompetenz sind zudem noch keine empirischen Studien in der Fachliteratur belegt. Auch im Rahmen der Instruktionsforschung, welche mit einzelnen Untersuchungen (vgl. P INNINTI 2019) die Effektivität didaktischer Angebote zur Förderung fremdsprachigen akademischen Lesens erforscht, wird nicht über die Evaluation der Angebote hinausgegangen. Bewegt von der paradoxen Situation akademischen Lesens an deutschen Hochschulen, an denen die Lesekompetenz eine wesentliche Rolle im Studium spielt, aber kaum thematisiert wird, und überzeugt von der Notwendigkeit empirischer Erkenntnisse zur FALK vor dem Hintergrund der großen Desiderata in der Theorie und Forschung habe ich im Rahmen meiner Promotion an der Universität Bielefeld eine Studie durchgeführt, die zu Fortschritten sowohl in der Praxis als auch in der Theorie beitragen sollte. 2. Die FALK-Studie Das Forschungsprojekt „Der Erwerb fremdsprachiger akademischer Lesekompetenz. Eine Educational Design Research-Studie zur Lesekompetenz in der L2 Deutsch internationaler Studierender der Geistes- und Sozialwissenschaften“ (I NTRONA 2021) - das im Folgenden FALK-Studie genannt wird - zielte einerseits auf eine empirische Annäherung an das Phänomen des FALK-Erwerbs durch internationale Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften, andererseits auf die Entwicklung eines Programms zur Förderung ihrer akademischen Lesekompetenz im Studium. Diese duale Zielsetzung wurde anhand der Educational Design Research (EDR), des Forschungsansatzes der Studie, verfolgt. Im Folgenden wird zunächst auf die EDR sowie auf das Konstrukt fremdsprachige akademische Lesekompetenz eingegangen, bevor der Ablauf der Studie erläutert wird. Anschließend werden ausgewählte Erkenntnisse jeweils aus einem quantitativen und einem qualitativen Teil der FALK-Studie präsentiert und diskutiert. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit. 2.1 Der Forschungsansatz Educational Design Research (M C K ENNEY / R EEVES 2019) - oder design-based research (D ESIGN -B ASED R ESEARCH C OLLECTIVE 2003) oder design research (E ULER 2014; B AKKER 2019) - ist ein relativ junger Forschungsansatz, der seine Wurzeln in der US-amerikanischen Bildungsforschung (in den Arbeiten von C OLLINS 1992 und B ROWN 1992) sowie in der niederländischen Curriculumforschung (developmental research von F REUDENTHAL 1988 und development research von V AN DEN A KKER Akademische Lesekompetenz in der L2 Deutsch 111 52 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0024 1999) hat. Die Besonderheit des EDR-Ansatzes besteht in einer dualen Zielsetzung: Einerseits wird auf das theoretische Verständnis eines untersuchten Phänomens abgezielt, andererseits auf eine Verbesserung der Praxis. Ermöglicht wird dies im Rahmen eines iterativen Forschungsprozesses, in dem die Entwicklung und mehrmalige Erprobung, Evaluation und Revision eines Designs 1 für die Bildungspraxis den Kontext für die empirische Erforschung eines bestimmten Phänomens darstellt. Somit werden anhand der EDR Theorieentwicklung und Praxisverbesserung parallel verfolgt. Der EDR-Ansatz lässt sich als interventionistisch, theorieorientiert, kollaborativ, responsiv und iterativ bezeichnen (vgl. E ULER 2014; B AKKER 2019; M C K ENNEY / R EEVES 2019): • interventionistisch insofern, dass durch das Design die Praxis geändert wird; • theorieorientiert, weil in der EDR die Theorie zur Entwicklung des Designs zentral ist und weil Theoriegewinnung und -erweiterung - anders als in der Aktionsforschung - ein wesentliches Ziel des Ansatzes darstellen; • kollaborativ, denn die duale Zielsetzung der EDR setzt eine Zusammenarbeit zwischen Forscher*innen und Praktiker*innen voraus; • responsiv, weil das entwickelte Design auf den spezifischen Forschungskontext ‚reagieren‘ soll, indem es die Variablen des authentischen Lehr-/ Lernkontexts mitberücksichtigt; • iterativ, denn der EDR-Forschungsprozess besteht aus mehreren iterativen Zyklen, durch die die Relevanz und Qualität des Designs in der Praxis erhöht werden. Trotz dieser gemeinsamen Hauptmerkmale können EDR-Studien sehr vielfältig sein, u.a. aufgrund der Auswahl einer spezifischen Forschungsorientierung sowie je nach entwickeltem Design-Typ. Für eine detailliertere Betrachtung der EDR ist hier auf INTRONA (2021: 9-19) zu verweisen. 2.2 Das FALK-Konstrukt Bevor der Ablauf der FALK-Studie im Einklang mit dem Forschungsprozess anhand EDR beschrieben wird, ist an dieser Stelle das Konstrukt fremdsprachige akademische Lesekompetenz als konzeptueller Rahmen der Studie darzulegen. Eine Definition dieses Begriffs wurde auf der Grundlage einer ausführlichen Revision der Fachliteratur zu den Konstrukten Kompetenz, Sprachkompetenz, Lesekompetenz, akademische und fremdsprachige Lesekompetenz herausgearbeitet. 2 1 Unter Design können u.a. Bildungskonzepte, Lehrmethoden oder Lernmaterialien verstanden werden, die neues Lernen anregen sollen (vgl. R EINMANN 2016: 2). 2 Herangezogen wurden zur Definition des FALK-Konstruktes u.a. Erkenntnisse aus der kognitionspsychologischen Leseforschung (vgl. u.a. C HEN / D RONJIC / H ELMS -P ARK 2016); Literalitätsforschung (vgl. u.a. S TREET / L EFSTEIN 2007); L2-Leseforschung (vgl. u.a. G RABE 2009); L2-Lesestrategieforschung (vgl. u.a. S AMSIAH / M OSES 2011); aus der Forschung zu wissenschaftlichen Texten (vgl. u.a. S TEINHOFF 2007) 112 Silvia Introna DOI 10.24053/ FLuL-2023-0024 52 • Heft 2 Fremdsprachige akademische Lesekompetenz wurde als multidimensionales Konstrukt aufgefasst, das aus vier Ebenen besteht. Auf kognitiver Ebene (1) umfasst FALK alle Wissensbestände, die für das Lesen fremdsprachiger wissenschaftlicher Texte nötig sind. Während die Rolle des Weltwissens beim Lesen hinsichtlich des allgemeinen Leseverständnisses anerkannt wird, erwiesen sich L2- und kulturelles Wissen als kognitive Voraussetzungen fremdsprachigen Lesens. In Bezug auf das wissenschaftliche Lesen wurde die Notwendigkeit von Text-, Lese- und Fachwissen erkannt. Zuletzt ergab sich Strategiewissen als zentral im Rahmen aller Lese-Forschungsbereiche. Die metakognitive Ebene (2) des Konstruktes bezieht sich auf die Selbstregulierung des Lesens, d.h. die zielgerichtete Planung, Steuerung und Evaluation des eigenen Leseverfahrens anhand metakognitiver Strategien, die insbesondere durch die Praktiken wissenschaftlichen Lesens (vgl. die prozedurale FALK-Ebene) akzentuiert werden. Die motivationale FALK-Komponente (3) umfasst die emotionalen und motivationalen Faktoren des Lesens, wie Selbstwirksamkeit oder attitude. Die kognitiven, metakognitiven und motivationalen Ebenen des FALK-Konstruktes bauen auf denen der akademischen Lesekompetenz in der L1 auf, was sich als zentrales Merkmal fremdsprachiger Lesekompetenz herauskristallisierte, und ermöglichen das fremdsprachige akademische Lesen. Dieses umfasst auf prozeduraler Ebene (4) vier Hauptleseaktivitäten, kritisches Lesen, Lernen aus Texten, Lesen multipler Texte und schreibendes Lesen, die sich als spezifische Lesepraktiken des universitären Kontextes im Sinne von S TREET und L EFSTEIN (2007: 193-200) erwiesen. Kritisches Lesen bezeichnet die tiefgründige reflektierte Textanalyse und die Entwicklung einer eigenen Meinung zum Text; Lernen aus Texten meint den zielbezogenen und selbstregulierten Einsatz verschiedener Lernstrategien im Umgang mit wissenschaftlichen Texten; Lesen multipler Texte heißt, mehrere Texte sowie deren Zusammenhänge tiefgründig reflektiert zu analysieren; schreibendes Lesen besteht schließlich in der Nutzung des Schreibens beim Lesen zwecks einer aktiven und effizienten Textverarbeitung. Als Einflussfaktoren fremdsprachiger akademischer Lesekompetenz wurden personale Voraussetzungen, soziale Bedingungen, textseitige Anforderungen (vgl. H URRELMANN 2009) und der soziokulturelle Hintergrund des*r L2-Lesers*in erkannt, wobei der Letztgenannte sich als spezifischer Einflussfaktor fremdsprachigen Lesens ergab. 2.3 Die Forschungsphasen Die FALK-Studie gliederte sich in drei Forschungsphasen: die Analyse- und Explorations-, die Entwicklungs- und die Evaluations- und Reflexionsphase. Die Analyse- und Explorationsphase der Studie begann mit der Identifizierung eines verbesserungswürdigen Aspekts der Bildungspraxis, und zwar des Mangels an Unterstützungsangeboten für internationale Studierende zur Förderung ihrer fremdsprachigen akademimit Hinblick auf ihre Anforderungen an die akademische Lesekompetenz sowie aus existierenden Modellen zur Lesekompetenz (vgl. u.a. H URRELMANN 2009). Akademische Lesekompetenz in der L2 Deutsch 113 52 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0024 schen Lesekompetenz an deutschen Hochschulen. Der anschließenden Definition des FALK-Konstrukts als konzeptueller Rahmen der Studie (s. Abschnitt 2.2.) folgte eine Bestandsaufnahme der Situation des Lesens deutscher wissenschaftlicher Texte in den Geistes- und Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld. Diese erfolgte anhand einer quantitativen Befragung (s. Abschnitt 3), durch die a) die Relevanz akademischer Lesekompetenz für ein erfolgreiches Studium nachgewiesen wurde, b) die Notwendigkeit gezeigt wurde, akademische Lesekompetenz in der (Fremd-)Sprache Deutsch zu beherrschen, c) festgestellt wurde, dass sich die befragten Studierenden hinsichtlich aller prozeduralen Komponenten akademischer Lesekompetenz verbessern wollen. Inwieweit sich internationale Studierende bezüglich ihrer Schwierigkeiten im Umgang mit deutschen wissenschaftlichen Texten von anderen Studierenden unterscheiden, wird im Abschnitt 3 genauer diskutiert. In der Entwicklungsphase erfolgte zunächst die Konzeption eines ersten Designentwurfs. Zu diesem Zweck wurde die Fachliteratur zur Förderung fremdsprachigen akademischen Lesens ausführlich rezipiert. 3 Der erste Designentwurf wurde anschließend mehrmals durchgeführt, evaluiert und revidiert. Bei dem Design dieser Studie handelte es sich um ein Blockseminar, das die Vermittlung, Einübung, Reflexion und Verstärkung von Lesestrategien zu verschiedenen Zwecken im Mittelpunkt hatte. Gefördert werden sollten das tiefgründige Textverstehen, die Textkritik, das Lernen aus Texten, das Lesen unter Zeitdruck, das Synthetisieren mehrerer Texte und der Umgang mit der Sprache wissenschaftlicher Texte. Das Blockseminar wurde zum ersten Mal im Sommersemester 2018 im Rahmen der PunktUm 4 -Angebote an der Universität Bielefeld durchgeführt und anhand Evaluationsbögen und einer Gruppendiskussion qualitativ evaluiert. Die qualitativen Daten wurden anhand der konstruktivistischen Grounded Theory (vgl. C HARMAZ 2014) und mithilfe der Software ATLAS.ti interpretiert. Ziel dieser formativen Evaluation war es, die Eignung und Umsetzbarkeit des Designs von den Beteiligten bewerten zu lassen und es darauf aufbauend zu revidieren. Das revidierte Blockseminar wurde im Wintersemester 2018/ 19 erneut an der Universität Bielefeld angeboten. Für die zweite Evaluationsschleife wurden neben den Evaluationsbögen leitfadengestützte Interviews eingesetzt. Nach den zwei iterativen Zyklen von Erprobung, Evaluation und Revision des Programms fand in der letzten Forschungsphase, der Evaluations- und Reflexionsphase, zuerst eine abschließende summative Evaluation des Blockseminars statt. Dabei wurde festgestellt, dass das Blockseminar zur Förderung der Selbstregulierung, des 3 Nachdem hierbei festgestellt wurde, dass zwecks der Leseförderung meistens Lesestrategien trainiert werden, wurden zur Auswahl der im Rahmen des Designs zu vermittelnden Lesestrategien verschiedene Quellen rezipiert, wie Ratgeber für Studierende und Dozierende (vgl. u.a. R OST 2018; S TONE 2013), umfangreiche Werke zum L2- und akademischen Lesen (vgl. u.a. G RABE 2009), Modelle der Strategievermittlung (vgl. u.a. O´M ALLEY / C HAMOT 1990) sowie Förderungsansätze des Lesens, wie z.B. Transactional Strategy Instruction (vgl. P RESSLEY et al. 1992) und CALLA (vgl. O´M ALLEY / C HAMOT 1990). 4 PunktUm, das Deutschlernzentrum der Universität Bielefeld, unterstützt internationale Studierende deutschsprachiger Studiengänge u.a. mit Workshops zum wissenschaftlichen Arbeiten in der Fremdsprache Deutsch. 114 Silvia Introna DOI 10.24053/ FLuL-2023-0024 52 • Heft 2 tiefgründigen Verständnisses wissenschaftlicher Texte, des schreibenden Lesens und des Strategie-, Lese- und Textwissens der Seminarteilnehmenden führte. Abschließend wurde die Hauptforschungsfrage der Studie untersucht: Was trägt zum Erwerb fremdsprachiger akademischer Lesekompetenz im Rahmen eines strategieorientierten Programms zur Förderung der akademischen Lesekompetenz in der L2 Deutsch von internationalen Studierenden der Geistes- und Sozialwissenschaften an einer deutschen Universität bei? Durch eine retrospektive Analyse der Daten wurde eine empirische Annäherung an das Phänomen des FALK-Erwerbs internationaler Studierender im Rahmen eines authentischen Unterrichtskontextes ermöglicht. Die Erkenntnisse zu der Hauptforschungsfrage der Studie werden im Abschnitt 4 dargelegt und diskutiert. 3. Schwierigkeiten beim Lesen deutscher wissenschaftlicher Texte: Die Erkenntnisse aus der quantitativen Befragung Die quantitative Befragung innerhalb der Analyse und Explorationsphase der Studie erfolgte anhand eines Online-Fragebogens. Zielgruppe der Befragung waren Studierende aus deutschsprachigen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern an der Universität Bielefeld. Insgesamt nahmen 305 Studierende an der Umfrage teil, wobei nur 241 Fragebögen ausgewertet werden konnten. 5 Von der Gesamtstichprobe zählten 21 Untersuchungsteilnehmer*innen zur Gruppe der internationalen Studierenden (Bildungsausländer*innen) und 220 zur Gruppe anderer Studierender, die sich aus 215 deutschen Studierenden und 5 Bildungsinländer*innen zusammensetzte. Hinsichtlich ihrer Schwierigkeiten im Umgang mit deutschen wissenschaftlichen Texten sollten die Befragten im Fragebogen anhand einer 4-Punkte-Likert-Skala angeben, inwieweit die einzelnen Komponenten der prozeduralen Ebene des FALK- Konstruktes - Textverstehen, Textkritik, Lernen aus Texten, Synthetisieren mehrerer Texte und Lesen unter Zeitdruck 6 - sowie Unteraspekte davon - z.B. Verständnisschwierigkeiten mit Fachbegriffen oder wissenschaftlichen Ausdrücken - für sie eine Herausforderung darstellten. Eine fünfte „weiß nicht“-Antwortmöglichkeit für jedes Item sowie eine abschließende offene Frage nach weiteren Herausforderungen waren im Fragebogen vorhanden. Im Folgenden werden die Ergebnisse aus dem t-Test vorgestellt, anhand dessen die Herausforderungen der 21 internationalen Studierenden mit denen der anderen 220 Studierenden verglichen wurden. 7 Ziel dabei war es, die Hypothese zu verifizie- 5 Neben den nicht vollständig ausgefüllten Fragebögen wurden die Exemplare nicht berücksichtigt, in denen Teilnahmevoraussetzungen verletzt waren. 6 Die Herausforderung, unter Zeitdruck zu lesen, hatte sich aus dem Forschungsstand zu Leseschwierigkeiten von Studierenden als problematisch herausgestellt und wurde deswegen als weiterer Aspekt wissenschaftlichen Lesens im Fragebogen übernommen. 7 Da nur ein kleiner Anteil der Befragten - 21 von 241 Studierenden - zu der Gruppe internationaler Studierender gehörte und somit die t-Test-Voraussetzung der Stichprobengröße (zu vergleichende Stichproben dürfen nicht weniger als 30 Elemente umfassen) verletzt wurde (vgl. K UCKARTZ et al. 2013: 169), Akademische Lesekompetenz in der L2 Deutsch 115 52 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0024 ren, dass sich die Einschätzungen von internationalen Studierenden aufgrund ihrer spezifischen Schwierigkeiten beim Lesen deutscher wissenschaftlicher Texte von denen der anderen Studierenden unterscheiden. Diese Hypothese konnte bestätigt werden. Hochsignifikante Unterschiede (p<,01) zwischen internationalen und anderen Studierenden ergaben sich hinsichtlich der Schwierigkeiten mit drei Komponenten akademischer Lesekompetenz - dem Textverstehen, dem Lernen aus Texten und dem Synthetisieren mehrerer Texte - sowie bezüglich fast aller spezifischen Verständnisschwierigkeiten beim Lesen - mit Fachbegriffen, unbekannten deutschen Wörtern, Satzbau, wissenschaftlichen Ausdrücken und Aufbau des Texts. Signifikante Unterschiede (p<,05) zwischen den zwei Gruppen resultierten bezüglich der Herausforderungen mit dem Lesen unter Zeitdruck. Herausforderungen mit t df M andere SD M inter. SD Sig. (2-seitig) Textverstehen -4,131 239 2,03 ,933 2,90 ,831 ,000* Lernen aus Texten -3,064 237 2,17 ,908 2,81 ,981 ,002* Synthetisieren -2,650 238 2,16 ,925 2,71 ,902 ,009* Textkritik -1,296 235 2,45 ,995 2,75 1,070 ,196 Lesen unter Zeitdruck -2,534 237 2,74 ,963 3,30 ,733 ,012* Fachbegriffen 3,099 236 2,38 ,856 3,00 ,918 ,002* unbe. deutschen Wörtern 2,623 236 2,04 ,981 2,62 ,865 ,009* Satzbau 3,316 237 1,94 ,904 2,65 1,040 ,001* wiss. Ausdrücken 6,979 239 1,28 ,559 2,29 1,146 ,000* Aufbau 2,782 238 1,92 ,869 2,48 ,981 ,006* Tab. 1: Mittelwertvergleich zwischen internationalen Studierenden und anderen Studierenden Die Schwierigkeitseinschätzungen der internationalen Studierenden waren immer höher als die der anderen Studierenden. Diese Erkenntnisse bestätigten teilweise die Ergebnisse aus anderen Studien (C HENG 1996; K ONDIYENKO 2010; P HAKITI / L I 2011), wobei sich die Untersuchungen zu Leseschwierigkeiten von Studierenden u.a. in Bezug auf Zwecke, Erhebungsinstrumente und Befragte deutlich voneinander unterscheiden. Nach der statistischen Auswertung der quantitativen Daten analysierte ich die Antworten auf die offenen Fragen des Fragebogens anhand eines themenorientierten beschreibenden Analyseverfahrens. Die Befragten äußerten weitere Herausforderungen mit dem Textverstehen, dem Lernen aus Texten und der Textkritik, die ich mit den verschiedenen Ebenen des FALK-Konstrukts in Verbindung brachte. Insbesondere bezüglich des kritischen Lesens wurde von vielen Herausforderungen berichtet, habe ich neben dem t-Test auch einen U-Test durchgeführt und beide Testergebnisse miteinander verglichen, um eventuelle Ergebnisverzerrungen identifizieren zu können. 116 Silvia Introna DOI 10.24053/ FLuL-2023-0024 52 • Heft 2 u.a. hinsichtlich des Erkennens des fachlichen Bezugsrahmens von Texten, des Nachvollziehens der Position des*r Autors*in und der eigenen Stellungnahme zum Text. Diese Erkenntnisse zum kritischen Lesen bestätigten teilweise Erkenntnisse aus anderen Studien (Z HOU / J IANG / Y AO 2015; V ELAYATI et al. 2017), wobei diese jedoch nur die Schwierigkeiten internationaler Studierender erforschen. Die Tatsache, dass sich in der FALK-Studie internationale Studierende und andere Studierende hinsichtlich der Schwierigkeiten mit der Textkritik nicht signifikant unterschieden und dass alle freien Antworten zu weiteren Herausforderungen mit kritischem Lesen von deutschmuttersprachigen Studierenden gegeben wurden, spricht für die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen, die die Perspektive aller Studierenden über die eigenen Probleme mit akademischem Lesen erforschen. Zusammenfassend wurde durch die Ergebnisse aus der quantitativen Befragung u.a. die Hypothese verifiziert, dass internationale Studierende spezifische Probleme im Umgang mit deutschen wissenschaftlichen Texten haben, aber auch erwiesen, dass kritisches Lesen für alle Studierende eine Herausforderung darstellt. 4. Zum Erwerb fremdsprachiger akademischer Lesekompetenz: Die Erkenntnisse aus der retrospektiven Datenanalyse Die Datengrundlage zur Beantwortung der Hauptforschungsfrage der Studie umfasste eine Gruppendiskussion, vier leitfadengestützte Interviews sowie die Antworten auf die offenen Fragen in den Evaluationsbögen zum Blockseminar. 8 Die Dateninterpretation anhand konstruktivistischer Grounded Theory (vgl. C HARMAZ 2014) wurde abgeschlossen, als die zentralen Faktoren des FALK-Erwerbs identifiziert wurden. Als zentrale Faktoren des FALK-Erwerbs im Rahmen des entwickelten Programms ergaben sich das Sammeln von Leseerfahrungen anhand fachspezifischer Texte sowie die Verstärkung der Reflexion der Studierenden beim Lesen - im Sinne von Selbstregulierung - und über das akademische Lesen. Als wesentlich resultierten zudem eine Steuerung des FALK-Erwerbs seitens einer kompetenten Person sowie die stützende Funktion des Peer-Austauschs. Auf die zentrale Rolle von Leseerfahrungen für den FALK-Erwerb wiesen vielfältige Daten zur Relevanz des Einübens von Lesestrategien im Blockseminar hin. Die Einübung war eine der vier Strategievermittlungsphasen im Blockseminar und bestand aus dem Ausprobieren der betrachteten Lesestrategien beim Lesen wissenschaftlicher Texte. Durch das Ausprobieren der vermittelten Strategien wurde somit das Sammeln von Leseerfahrungen ermöglicht. Als Vorteile des konkreten Ausprobierens der Strategien im Rahmen des Blockseminars wurden u.a. das bessere Verständnis und Behalten der Strategien, eine Entscheidungsbefähigung zur Nützlichkeit 8 Ausgewählte Datenausschnitte sind im Folgenden zur Erläuterung der Studienergebnisse zu finden. Die dabei verwendeten Kürzel sind wie folgt zu interpretieren: WS_I3: 442-446 [Wintersemester]_[Interview mit Untersuchungsteilnehmer 3]: [Transkript-Zeilen]. Akademische Lesekompetenz in der L2 Deutsch 117 52 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0024 der jeweiligen Lesestrategie sowie die unmittelbare Wahrnehmung von Schwierigkeiten damit. Die praktische Strategieeinübung wurde darüber hinaus als zentrale Voraussetzung für die Anwendung der Strategien außerhalb des Blockseminars identifiziert. Erst durch das Ausprobieren der Lesestrategien wurden die Seminarteilnehmenden in die Lage versetzt, diese zu benutzen. Aufgrund der unzureichenden Einübung des Gelernten im Blockseminar war in einigen Fällen genau dieser Prozess der Anwendungsermöglichung gescheitert. Angesichts der Zentralität der Lesestrategieanwendung im FALK-Konstrukt, besonders auf prozeduraler und metakognitiver Ebene, ergab sich somit die Strategieeinübung in Form von Sammeln von Leseerfahrungen, die die Strategieanwendung ermöglichte, als zentral für den Erwerb fremdsprachiger akademischer Lesekompetenz. Das Ausprobieren bzw. die Einübung der Lesestrategien im Blockseminar erfolgte zuerst beim Lesen gemeinsamer, von der Dozentin ausgesuchter wissenschaftlicher Texte und anschließend beim Lesen eigener Fachtexte. Die zahlreichen Vorteile der Arbeit mit eigenen Fachtexten, die in den Daten identifiziert wurden, stützten die Annahme, dass fachspezifische Texte ein wichtiges Element für die Förderung fremdsprachiger akademischer Lesekompetenz darstellen. Im folgenden Interviewausschnitt wird die Möglichkeit, sich über „fachspezifische Schwierigkeiten“ mit der Anwendung der Seminarstrategien bewusst zu werden, als einer dieser Vorteile angesprochen: Neben dem Sammeln von fachspezifischen Leseerfahrungen ergab sich die Verstärkung der Reflexion beim und über das Lesen als weiterer Faktor für den Erwerb fremdsprachiger akademischer Lesekompetenz. Der Reflexion beim Lesen, die als Selbstregulierung bezeichnet wurde, schrieben die Untersuchungsteilnehmenden eine besondere Relevanz zu. Unzufriedenheit mit der eigenen Selbstregulierung wurde als Grund für die Teilnahme am Blockseminar angesprochen, während die Entwicklung der eigenen Reflexionsfähigkeit, u.a. über die eigenen Leseprobleme, als persönliches Ziel im Rahmen des Blockseminars erkannt wurde. Die Wahrnehmung der eigenen Leseprobleme und die Kritik der eigenen Lesegewohnheiten, die als Gewinne aus dem Blockseminar identifiziert wurden, wurden als Ergebnisse einer erhöhten Überwachung des Lesens angesehen. An anderen Stellen in den Daten zeigten einige berichtete Veränderungen der eigenen Lesegewohnheiten eine stärkere Planung des Lesens. In der folgenden Interviewpassage berichtet ein Untersuchungsteilnehmer, im Anschluss an das Blockseminar beim Lesen bewusst an die Strategien zu denken, die er kennengelernt hat und mithilfe der verteilten Arbeitsblätter anwenden kann: [230] das w]ort also zum beispiel meine schwierigekeiten waren in mein feld im mein: : : [231] fach [und da] konnte ich auch texte im mein fach wählen zu lesen °h und das war gut (WS_I1: 230-231) 118 Silvia Introna DOI 10.24053/ FLuL-2023-0024 52 • Heft 2 Anders als die Reflexion beim Lesen, die sich auf den eigenen Umgang mit Texten bezieht, bezeichnet eine Reflexion über das Lesen eine kritische Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Lesen allgemein, z.B. mit seiner Komplexität. An einer Stelle in den Daten resultierte aus einer solchen Reflexion eine veränderte Wahrnehmung von Leseproblemen. Ein Untersuchungsteilnehmer erklärte, dass er sich durch das Blockseminar darüber bewusst geworden ist, dass viele Studierende Leseschwierigkeiten haben und dass Leseprobleme in diesem Sinne „normal“ sind und bewältigt werden können (WS_I1: 304-306). Auch die Möglichkeit der kritischen Auseinandersetzung mit Gelerntem, die als positiver Aspekt des Blockseminars thematisiert wurde, betrifft eine solche Reflexion über das Lesen bzw. über bestimmte Lesestrategien. Im Rahmen der retrospektiven Datenanalyse zeichnete sich also die Reflexion bzw. eine ausgeprägtere Reflexion beim und über das Lesen als grundlegendes Element hinter vielen Aspekten des Blockseminars - dessen positiven Auswirkungen, den Gründen für die Teilnahme, den Verbesserungsvorschlägen der Seminarteilnehmer*innen - ab, sodass Reflexion beim und über das Lesen als weiterer Faktor des FALK-Erwerbs interpretiert wurde. Als wesentlich für den FALK-Erwerb ergab sich auch eine Steuerung des Aneignungsprozesses. Die Notwendigkeit einer Steuerung des FALK-Erwerbs resultierte in den Daten aus der defizitären Situation wissenschaftlichen Lesens an deutschen Universitäten, aus dem Stellenwert des Lesens im Studium sowie aus den Schwierigkeiten internationaler Studierender damit. Für diese Steuerung erwies sich die Rolle einer kompetenten bzw. erfahrenen Hilfsperson als zentral. Wenngleich sich die Notwendigkeit einer Steuerung des FALK-Erwerbs eindeutig aus den Daten herauskristallisierte, blieb jedoch umstritten, wer die Vermittlerrolle übernehmen soll, denn die Seminarteilnehmenden sprachen von Lehrer*in, Dozent*in, Trainer*in, erfahrener Person und allgemein von „einer Person“. Als konkrete Aufgaben dieser Person wurden das Bewusstmachen bestimmter Aspekte wissenschaftlicher Texte, die Zurverfügungstellung von Ressourcen, z.B. einer Orientierungshilfe bezüglich der einzusetzenden Lesestrategien, und eine individuelle Leseberatung erwähnt. Exemplarisch [405] sagen (1.3) s mir ist bewusster geworden wenn ich ein text lese denke ich an das [406] seminar (--) oder versuch=ich an das seminar zu denken ah was haben wir denn [407] gemacht oder was haben wir dort gelernt und die unterlagen habe ich [un: d] [408] darauf greife ich (--) zurück wenn ich dann ein text lese und irgendwie (-- ) sage ich […] [413] lesen (--) ja öh also (--) ich verwende das und früher habe ich äm: nicht so bewusst [414] gemacht oder einfach nicht darauf geachtet (WS_I3: 405-414) Akademische Lesekompetenz in der L2 Deutsch 119 52 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0024 wird im Folgenden die Meinung einer Untersuchungsteilnehmerin wiedergegeben, die die Rolle des*r Lehrers*in beim FALK-Erwerb mit der eines*r Fitnesstrainers*in vergleicht: Neben dem Vorhandensein einer unterstützenden Person wurde der Austausch zwischen Studierenden als fördernd für den FALK-Erwerb empfunden. Der Austausch im Rahmen des Blockseminars diente u.a. dazu, die eigene Umsetzung der vermittelten Strategien zu überprüfen, von Erfahrungen und Meinungen anderer Studierender zu lernen sowie eine eigene Meinung zu bilden. Hinsichtlich der FALK-Förderung trug der Austausch im Blockseminar zu einer neuen Wahrnehmung von Leseproblemen und zu einer damit verbundenen emotionalen Stärkung der Untersuchungsteilnehmenden bei. Im Anschluss an das Blockseminar fühlten sich die Seminarteilnehmer*innen mit ihren Leseproblemen nicht mehr isoliert und hatten weniger Angst und mehr Mut beim Lesen deutscher wissenschaftlicher Texte. Vergleicht man diese Ergebnisse aus der retrospektiven Datenanalyse mit den Erkenntnissen anderer Studien zu Faktoren der Kompetenzförderung innerhalb von Förderprogrammen, wie die Studien von N GO (2019) und D OWSE (2013), lassen sich Anknüpfungspunkte zwischen den Studienerkenntnissen finden, und zwar bezüglich der wiederholten Auseinandersetzung mit Übungen als Faktor der Kompetenzförderung sowie des positiven Effekts der Peer-Interaktion für die Kompetenzentfaltung. Zur Interpretation der Erkenntnisse zum FALK-Erwerb aus der vorliegenden Studie wurden die Theorien der Community of Practice (im Folgenden: CoP; vgl. L AVE / W ENGER 1991) und der Deliberate Practice (vgl. E RICSSON 2006) herangezogen. Der Erwerb fremdsprachiger akademischer Lesekompetenz kann nämlich als Ergebnis einer - durch eine kompetente Hilfsperson - gesteuerten Annäherung an die Lesepraktiken der akademischen CoP angesehen werden. Die Position von Studierenden in Bezug auf die akademische Diskursgemeinschaft ist besonders: Obwohl sie i.d.R. an den konkreten Praktiken der akademischen Gemeinschaft nicht teilnehmen, wird von ihnen im Studium eine Annäherung an diese Praktiken erwartet 9 (vgl. 9 Studierende nehmen i.d.R. nicht an der öffentlichen fachlichen Diskussion aktiv durch eigene Publikationen und Vorträge teil. Durch das Verfassen von studentischen Texten, wie z.B. Hausarbeiten, und das Halten von Referaten erfolgt jedoch eine Annäherung an die Schreib- und Redepraktiken der akademischen Gemeinschaft. Im Gegensatz dazu bleiben die Lesepraktiken der akademischen CoP unbeachtet. [352] also (.) beim sport (---) ist es SO (--) besonders für anfänger (--) äh also sie gehen [353] einfach in (--) <<französisch> club> (--) und (-) gibts natürlich der äh (-) wie heißt er [354] hm trainer genau (--) und (---) er (-) zeigt uns die übungen [355] wie man DAS machten soll (.) und wenn wir (.) muskeln haben: (-) soll man ü üben ( [356] -) das ist auch an der universität (-) also (--) mein mann hat mir: einmal gesagt dass ( (SS_GD: 352-356) 120 Silvia Introna DOI 10.24053/ FLuL-2023-0024 52 • Heft 2 P OGNER 1999: 153). Diese Annäherung soll daher von außerhalb der Gemeinschaft gesteuert werden. Die Funktion einer erfahrenen Hilfsperson besteht somit darin, die (Lese-)Praktiken der akademischen CoP - zu denen Studierende keinen Zugang haben - sichtbar und dadurch zugänglich zu machen. Sehr effektiv erscheint an dieser Stelle der von der Untersuchungsteilnehmerin angedeutete Vergleich zwischen der Hilfsperson und einem*r Fitnesstrainer*in, der*die „die Übungen zeigt, wie man das machen soll“. Im Rahmen des Programms der vorliegenden Studie erfolgte die gesteuerte Annäherung an die Lesepraktiken der akademischen CoP durch die Vermittlung und Einübung verschiedener Strategien zum akademischen Lesen. Die Zentralität der Einübung dieser Strategien zum FALK-Erwerb kann mit Bezug auf den Begriff Deliberate Practice erklärt werden, der eine gezielt zum Zweck der Verbesserung durchgeführte Übung bezeichnet, die zur Entfaltung einer Fertigkeit auf Expert*innenniveau führt. Durch Reflexion wurden sich die Studierenden zudem darüber bewusst, was akademisches Lesen bedeutet und wie ihr eigenes Leseverhalten in Bezug darauf einzuordnen ist. Auch die stützende Funktion der Interaktion zwischen Studierenden innerhalb des Blockseminars kann in Anlehnung an die Theorie der Community of Practice erklärt werden. Das Design dieser Studie initiierte nämlich eine Community of Practice, indem die Seminarteilnehmenden freiwillig am Programm teilnahmen, dabei ein gemeinsames Ziel verfolgten und sich in der Interaktion miteinander entwickelten. 5. Fazit Die ausgewählten Erkenntnisse aus der FALK-Studie, die hier präsentiert und diskutiert wurden, zeigen die großen Forschungsdesiderata im Bereich fremdsprachigen akademischen Lesens auf. Durch die quantitative Befragung der FALK-Studie konnten erste Erkenntnisse u.a. zu den Schwierigkeiten und Bedürfnissen von Studierenden beim akademischen Lesen in der (Fremd-)Sprache Deutsch aus einer Innenperspektive gewonnen werden. Weitere quantitative Studien dazu sollten größere Stichprobenumfänge aufweisen, Studierende aus mehreren Fächergruppen fokussieren und/ oder Unterschiede und Gemeinsamkeiten weiterer Studierendengruppen hinsichtlich ihrer Schwierigkeiten und Bedürfnisse beim akademischen Lesen auf Deutsch untersuchen, wie z.B. zwischen internationalen Studierenden und Studierenden mit Migrationshintergrund. Die FALK-Studie ist bisher die einzige, die die Faktoren erforschte, die in einem strategieorientierten Programm für internationale Studierende zum Erwerb akademischer Lesekompetenz in der L2 Deutsch beitragen. Weitere Untersuchungen hierzu sind dringend benötigt, um diesen für die Hochschulbildung zentralen Forschungsbereich zu erhellen. Akademische Lesekompetenz in der L2 Deutsch 121 52 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0024 Literatur B AKKER , Arthur (2019): Design Research in Education. A Practical Guide for Early Career Researchers. London u.a.: Routledge. B ROWN , Ann L. 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