eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 52/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2023-0030
121
2023
522 Gnutzmann Küster Schramm

Frank HEISEL: Politische Bildung im Fremdsprachenunterricht. Eine Analyse aktueller Lehrbücher für den Spanischunterricht. Stuttgart: ibidem 2022 (Romanische Sprachen und ihre Didaktik, Band 74), 631 Seiten [109,90 Euro]

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2023
Katharina Wieland
flul5220138
138 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0030 52 • Heft 2 sprachenunterricht die kognitive Basis bildet, auf welcher eine erhöhte und fundierte Bewusstheit zu linguistischen Mustern und unterrichtlichem Diskurs aufgebaut werden kann (vgl. S. 206). Die beiden Beiträge von B LELL / B REMEN und T HOMSON stellen jeweils Unterrichtskonzepte für die Herausbildung fremdsprachenunterrichtlicher Diskurskompetenz in der Lehrer*innenbildung vor. B LELL / B REMEN präsentieren die Webseite VirtU, auf welcher Studierende zahlreiche Materialien wie auch Videos von authentischen Unterrichtssituationen finden, die mittels strukturierter Analyseaufgaben (basierend auf den Stufen des reflective practice model von Wallace) die Reflexionskompetenz sowie didaktisches Wissen der Studierenden erweitern sollen. T HOMSON beschreibt die theoretischen Hintergründe eines Kurskonzepts („The Way Teachers Talk: Developing Classroom Discourse Competence“) und demonstriert anhand praktischer Beispiele, wie sukzessive im Sinne des knowledge based reasoning durch Beschreiben, Analysieren, Bewerten und Reflektieren von Unterrichtsvideos oder eigenen videographierten Microteachingsequenzen Wissen zu fremdsprachenunterrichtlicher Diskurskompetenz, aber auch relevantes metalinguistisches Wissen aufgebaut wird. Auch der letzte Beitrag des Sammelbandes von S TADLER -H EER konzentriert sich auf den Aspekt der reflective practice, die von Studierenden durch das tiefgehende Analysieren von zwei selbstständig geplanten und durchgeführten Microteachingeinheiten trainiert wird, indem u.a. das SETTframework (Self Evaluation of Teacher Talk) nach Walsh zur Anwendung kommt, um die studentische professionelle Wahrnehmung zu verschiedenen Aspekten der Unterrichtsinteraktion auszubauen. Zusammenfassend kann der Sammelband als überaus gelungen bewertet werden. Er bietet einen detaillierten Einblick in aktuelle Forschungsprojekte und theoretische Überlegungen zur gezielten Unterstützung angehender Fremdsprachenlehrer*innen in der Herausbildung von Diskurskompetenzen. In den Beiträgen werden Desiderata der Lehrer*innenbildung mit Fokus auf die vielfältigen Facetten von Diskurskompetenz aufgezeigt und zugleich auch essentielle Hinweise zu möglichen Forschungsdesigns in zukünftigen Studien gegeben. Sowohl die theoretischen Überlegungen als auch die empirischen Erkenntnisse werden in den Beiträgen durch überzeugende praktische Beispiele untermauert. Wien M ARLENE A UFGEBAUER Frank H EISEL : Politische Bildung im Fremdsprachenunterricht. Eine Analyse aktueller Lehrbücher für den Spanischunterricht. Stuttgart: ibidem 2022 (Romanische Sprachen und ihre Didaktik, Band 74), 631 Seiten [109,90 Euro] In der Zielstellung des Fremdsprachenunterrichts, bei den Lernenden Sprachbewusstheit sowie fremdsprachliche Diskursbewusstheit zu entwickeln, ist eine politische Dimension impliziert. Doch ob die Lehrkräfte sich dieser bewusst sind und sie aktiv mitgestalten, hängt unter anderem auch von der Verfügbarkeit politisch bildenden Materials und entsprechender Aufgabenstellungen für den Fremdsprachenunterricht ab. Vor diesem Hintergrund nimmt sich Frank H EISEL in seiner Dissertation zunächst der Frage des konkreten Beitrags des Fremdsprachenunterrichts zur Förderung einer politischen Bildung an, um anschließend ausgewählte Lehrbücher für den schulischen Spanischunterricht auf ihr politisch bildendes Potenzial hin zu untersuchen. Der Autor geht für seine Arbeit von einem weiten Politikverständnis aus. Für ihn ist Politik „ein kollektiver, konflikthafter und demokratischer Prozess zur Herstellung verbindlicher Entscheidungen“ (S. 36). Für die Schule ist bedeutsam, dass sowohl das u.a. als ‚Politik‘ verankerte Besprechungen 139 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0030 Fach als auch alle anderen Fächer für die gesamtschulische Aufgabe politischer Bildung zuständig sind. Nach einer ausführlichen historischen Betrachtung schulischer politischer Bildung in Deutschland arbeitet der Autor im zweiten Kapitel deren Leitkonzepte heraus. Die hier gelegten Grundlagen sind wichtig, um überschneidende Kompetenzbereiche von politischer Bildung und Fremdsprachenunterricht aufzeigen zu können. Dennoch verwundert die relative Isoliertheit und Ausführlichkeit des Kapitels, da es ja gerade nicht Ziel der Arbeit ist, den Politikunterricht darzustellen, sondern den Blick auf den Fremdsprachenunterricht zu richten, diesen auf seine politischen Implikationen zu durchdenken und entsprechende Themen im Unterricht zu realisieren. Insgesamt werden verschiedene Kompetenzbereiche und didaktisch-methodische Prinzipien der politischen Bildung umfassend und präzise dargestellt, genauso später im dritten Kapitel diejenigen des Fremdsprachenunterrichts, z.B. interkulturelle bzw. transkulturelle Kompetenz oder Handlungs- und Aufgabenorientierung. Es werden die Ähnlichkeiten zwischen den Kompetenzen beider Fächer herausgearbeitet, z.B. im Bereich der Sprachbewusstheit, der Text- und Medienkompetenz, des interkulturellen oder Globalen Lernens, letzteres allerdings nur als Leitprinzip des Fremdsprachenunterrichts, nicht der politischen Bildung. Aus fremdsprachendidaktischer Sicht ist es allerding etwas verwunderlich, dass Globales Lernen als didaktische Weiterentwicklung des interkulturellen Lernens dargestellt wird, da die Hinwendung zu Globalem Lernen in der Pädagogik und die Anfänge des interkulturellen Lernens in der Fremdsprachendidaktik ungefähr zeitgleich Ende der 70er Jahre erfolgten. Bei der Darstellung fremdsprachlicher Handlungskompetenz unterläuft dem Autor dann ein Fehler, wenn er schreibt (S. 187ff.), dass diese oft reduziert auf das kompetente kommunikative und interkulturelle Handeln im fremdsprachlichen Kontext der schulischen wie außer- und nachschulischen Lebenswelt modelliert werde, wohingegen die Lernenden im Politikunterricht das politische Sehen, Beurteilen und Handeln lernten und befähigt würden, eine eigene politische Handlungsorientierung zu entwickeln. Mag die schulische Realität auch eine andere sein, die fremdsprachendidaktische Modellierung u.a. von inter- und transkultureller Kompetenz, von Sprach- oder Diskursbewussheit ist mit den ihnen inhärenten Perspektivwechseln durchaus politisch modelliert, was der Autor selbst an anderer Stelle deutlich macht (u.a. S. 159-161, S. 167-169, S. 254). Nach einem Kapitel zu Lehrwerken, in dem der Verfasser deren explizites wie implizites politisch-bildnerisches Potenzial darstellt, erläutert er übersichtlich sein methodisches Vorgehen und das Forschungsdesign. Er ist sich der Problematik bewusst, dass für Lehrbuchanalysen erstellte Kriterienkataloge auf neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen könnten als die Lehrwerke, was zu einer Defizitanalyse oder zu einer Vernachlässigung interessanter Aspekte führen kann. Es bleibt aber bis zum Ende unklar, wie der Autor diesem Problem in seiner Arbeit begegnet. Auch einige der von ihm untersuchten Lehrwerke sind von 2012- 2015, also ca. zehn Jahre alt und alle sind mindestens zwei bis drei Jahre älter als die neusten von ihm berücksichtigten wissenschaftlichen Texte. Unter anderem hätte die Verwunderung des Autors über die hohe Präsenz von Unabhängigkeitsbewegungen in den autonomen Gemeinschaften Spaniens auf die zeitliche Genese der Lehrwerke zurückgeführt werden können, was allerdings unterbleibt. Anhand ausgewählter Lehrpläne und deren Inhaltsfelder der politischen Bildung entwickelt er nachvollziehbar die Kernthemen für die Lehrwerksanalyse von Lehrwerken für die Sekundarstufe I (Spanisch als dritte Fremdsprache) und Sekundarstufe II: Facetten des politischen Lebens, Aspekte einer modernen und multikulturellen Gesellschaft, wirtschaftliches Handeln im globalen Wandel. Der erstellte Kriterienkatalog ist in thematisch-inhaltliche und didaktisch- 140 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0030 52 • Heft 2 methodische Kriterien untergliedert. Wünschenswert wäre hier noch gewesen, nicht nur die bildungspolitischen Setzungen als thematische Setzungen zu fassen, sondern stärker zu hinterfragen, welche Themen im Bereich politischer Bildung im Spanischunterricht vielleicht im Lehrplan nicht thematisiert sind und entsprechend noch hinzugenommen werden könnten. Als Facetten des politischen Lebens untersucht der Verfasser die Darstellung der politischen Systeme Spaniens und der lateinamerikanischen Länder und die dortigen Möglichkeiten zu einer politischen Partizipation. Er hebt hervor, dass das politische System insgesamt nur sehr reduziert und bis auf eine Ausnahme eines Planspiels mit dem Fokus auf rezeptiver Wissensvermittlung dargestellt wird. Auch politische Partizipationsmöglichkeiten werden selten und vor allem nicht handlungsorientiert präsentiert. Als Konsequenz seiner Analyse schlägt Frank H EISEL u.a. Ergänzungen wie Stellungnahmen, Diskussionen oder eigene Kampagnen der Lernenden (z.B. zum Wahlalter) vor. Dies ist zu begrüßen, wenngleich der Autor eventuell etwas stärker die lebensweltliche Relevanz in seine Überlegungen einbeziehen könnte, da für die meisten Jugendlichen eine politische Partizipation im zielsprachlichen Kontext nicht wirklich gegeben sein wird. Bei den Aspekten einer modernen und multikulturellen Gesellschaft stehen die Situation der Jugend und Aushandlungsprozesse zwischen Jung und Alt im Mittelpunkt. Der Autor arbeitet gut heraus, dass in den Lehrwerken ein sehr harmonisierendes und damit nicht unbedingt realistisches Jugendbild dargestellt wird. Aspekte von Diversität in den Lehrwerken werden von ihm erfasst, weiterhin arbeitet er kritisch heraus, wie kolonialistisch nach wie vor der Blick auf Armut ist. Diese wird nur in Bezug auf Lateinamerika überhaupt dargestellt. Auch bedenkt er die Darstellung der indigenen Bevölkerung mit der Kritik, dass diese auf negative Aspekte (Armut, Gewalt, Unterentwicklung) reduziert werde. Das Fazit dieses Kapitels besteht aber nicht nur in Kritik an den Lehrwerken, sondern auch in einer positiven Hervorhebung der Rolle der Medien oder verschiedener Dimensionen von Sprachbewusstheit in einigen Oberstufenlehrwerken. Im Kapitel zum wirtschaftlichen Handeln stellt der Autor eine Abweichung von den Themen der Oberstufe fest und äußert die Kritik, dass berufliche Orientierung, wirtschaftliche Dimensionen der Globalisierung jenseits des Verhältnisses von Ökonomie und Ökologie oder Fragen der Relevanz von Wissenschaft und Technologie kaum Berücksichtigung fänden. Außerdem ergibt die Analyse, dass die Lernenden häufig auf die Rolle der Wirtschaftssubjekte reduziert würden. Die Notwendigkeit einer staatlich initiierten wirtschaftlichen Entwicklung hin zu mehr Nachhaltigkeit ebenso wie die politische Dimension des Nachhaltigkeitsdiskurses blieben unberücksichtigt (vgl. u.a. S. 537). Die Arbeit stellt insgesamt sehr gut heraus, dass der Fremdsprachenunterricht das Potenzial dazu hat, politischer zu werden. Dabei werden klar die Handlungsfelder aufgezeigt sowie die Methoden und didaktischen Überlegungen benannt, derer sich dazu bedient werden könnte. Der Autor vernachlässigt dabei allerdings die fremdsprachendidaktische Perspektive des Spracherwerbs oder des sprachlichen Scaffoldings. Dies wird deutlich, wenn er in der Analyse kritisiert, dass die Lehrwerke für die Sekundarstufe I die politische Dimension von Themen den Aspekten des Spracherwerbs unterordnen. Auch wenn diese Kritik nachvollziehbar ist, verwundert es, dass der Autor - im Gegensatz zu Verbesserungsvorschlägen an anderen Stellen - kaum Vorschläge unterbreitet, wie die Komplexität politischer Bildung mit rudimentären Sprachkenntnissen in Einklang gebracht werden kann und es häufig bei der Feststellung bleibt, dass „die Komplexität des Themas auch auf diesem Sprachniveau verhandelt werden können“ (S. 365). In seinen eigenen Vorschlägen zu mehr Handlungsorientierung, z.B. einer Diskussion mit anschließender individueller Urteilsbildung in einem Kommentar zu Vor- und Nachteilen der Smartphone-Nutzung für ein zweites Lernjahr (ca. Niveau A2 nach GER) ignoriert der Besprechungen 141 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0031 Autor, dass Urteilsbildung und Begründungen im Schreiben wie im Sprechen im GER erst für ein Niveau B1 vorgesehen sind. Das Verdienst der Arbeit ist es, wichtige Leerstellen der Lehrwerke im Hinblick auf politische Bildung im Spanischunterricht aufzuzeigen und den Lehrkräften gute Anhaltspunkte für die eigene Ausgestaltung politischer Bildungsprozesse zu geben. Dass dies auf breiter Forschungsbasis sehr detailrecht und teilweise redundant geschieht, ist für eine Dissertation nachvollziehbar und wichtig. Für die Publikation derselben hätte aber eine Straffung oder das Weglassen allgemein bekannter bildungspolitischer, forschungsmethodologischer und didaktischer Aspekte zu einer stärkeren Fokussierung auf die zentralen Fragestellungen der Arbeit beigetragen. Halle K ATHARINA W IELAND Brooke R. S CHREIBER , Eunjeong L EE , Jennifer T. J OHNSON , Norah F AHIM : Lingustic Justice on Campus. Pedagogy and Advocacy for Multilingual Students. Bristol, Jackson: Multilingual Matters 2022 [44,95 €] Mehrsprachigkeit sowohl in ihren auf das Individuum als auch in ihren auf Gesellschaften bezogenen Erscheinungsformen kollidiert mit den immer noch vorherrschenden expliziten und impliziten Einsprachigkeitsnormen, auch und insbesondere in Bildungseinrichtungen. Diese Feststellung ist für sprachenpolitische Überlegungen im Kontext des Tertiären Bildungssektors von großer Bedeutung. Als Orte der höchstmöglichen akademischen Bildungsabschlüsse spielen Hochschulen als Ausbildungsstätten eine besondere Rolle, qualifizieren sie ihre Absolvent: innen doch für potenziell einflussreiche berufliche Positionen. Der Konnex zwischen Bildungsabschluss sowie gesellschaftlicher Teilhabe und Einflussnahme verdient also unser besonderes Augenmerk; die Forderung, allen Menschen und ihren Sprachen dabei die gleichen Rechte zuzugestehen im Sinne einer wahrhaften Sprachengerechtigkeit, ist deshalb eine hochpolitische und grundsätzliche. Und sie ist eine mit hoher Sprengkraft, zwingt sie doch dazu, über das nachzudenken, was Hans-Jürgen K RUMM in seiner programmatischen Rede zu Sprachengerechtigkeit auf der Internationalen Tagung der Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer (IDT) 2022 an der Universität Wien die „Wirkungsmechanismen von Sprachen“ genannt hat. Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit Fragen der Machtausübung, Herrschaft, Unterdrückung und haben, so K RUMM, „Bedeutung für das demokratische Zusammenleben“. Der 2022 erschienene Band Lingustic Justice on Campus. Pedagogy and Advocacy for Multilingual Students behandelt den Themenkomplex Sprachengerechtigkeit aus einer spezifisch US-amerikanischen Perspektive. Damit scheint er auf den ersten Blick wenig übertragbar auf deutsche, europäische oder internationale Frage- und Problemstellungen von Sprachengerechtigkeit. Aus zwei Gründen ist seine Lektüre dennoch für eine breite Leserschaft lohnend und wertschöpfend: Zum einen belegt das deutliche Plädoyer für mehr Mehrsprachigkeit der in diesem Band versammelten Autor: innen die generelle Relevanz von Sprachengerechtigkeit, auf die von Mehrsprachigkeitsforschenden seit langem hingewiesen wird; zum anderen ist das hier abgebildete, kollektive In-Frage-Stellen der akademischen Sprachendominanz eines (Standard) English Only insofern ein Novum, als die Betrachtung dieses Phänomens - einen monolingualen Sprachnationalismus in den USA theoretisch voraussetzend - aus einer originär englischsprechenden Domäne erfolgt, also auf Englisch nicht aus einer Perspektive der Fremd-, Zweit- oder Tertiärsprachendidaktik blickt, wie es in der Regel der Fall aus der Sicht deutscher und europäischer Bildungsinstitutionen ist.