eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 52/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2023-0031
121
2023
522 Gnutzmann Küster Schramm

Brooke R. SCHREIBER, Eunjeong LEE, Jennifer T. JOHNSON, Norah FAHIM: Lingustic Justice on Campus. Pedagogy and Advocacy for Multilingual Students. Bristol, Jackson: Multilingual Matters 2022 [44,95 €]

121
2023
Constanze Bradlaw
flul5220141
Besprechungen 141 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0031 Autor, dass Urteilsbildung und Begründungen im Schreiben wie im Sprechen im GER erst für ein Niveau B1 vorgesehen sind. Das Verdienst der Arbeit ist es, wichtige Leerstellen der Lehrwerke im Hinblick auf politische Bildung im Spanischunterricht aufzuzeigen und den Lehrkräften gute Anhaltspunkte für die eigene Ausgestaltung politischer Bildungsprozesse zu geben. Dass dies auf breiter Forschungsbasis sehr detailrecht und teilweise redundant geschieht, ist für eine Dissertation nachvollziehbar und wichtig. Für die Publikation derselben hätte aber eine Straffung oder das Weglassen allgemein bekannter bildungspolitischer, forschungsmethodologischer und didaktischer Aspekte zu einer stärkeren Fokussierung auf die zentralen Fragestellungen der Arbeit beigetragen. Halle K ATHARINA W IELAND Brooke R. S CHREIBER , Eunjeong L EE , Jennifer T. J OHNSON , Norah F AHIM : Lingustic Justice on Campus. Pedagogy and Advocacy for Multilingual Students. Bristol, Jackson: Multilingual Matters 2022 [44,95 €] Mehrsprachigkeit sowohl in ihren auf das Individuum als auch in ihren auf Gesellschaften bezogenen Erscheinungsformen kollidiert mit den immer noch vorherrschenden expliziten und impliziten Einsprachigkeitsnormen, auch und insbesondere in Bildungseinrichtungen. Diese Feststellung ist für sprachenpolitische Überlegungen im Kontext des Tertiären Bildungssektors von großer Bedeutung. Als Orte der höchstmöglichen akademischen Bildungsabschlüsse spielen Hochschulen als Ausbildungsstätten eine besondere Rolle, qualifizieren sie ihre Absolvent: innen doch für potenziell einflussreiche berufliche Positionen. Der Konnex zwischen Bildungsabschluss sowie gesellschaftlicher Teilhabe und Einflussnahme verdient also unser besonderes Augenmerk; die Forderung, allen Menschen und ihren Sprachen dabei die gleichen Rechte zuzugestehen im Sinne einer wahrhaften Sprachengerechtigkeit, ist deshalb eine hochpolitische und grundsätzliche. Und sie ist eine mit hoher Sprengkraft, zwingt sie doch dazu, über das nachzudenken, was Hans-Jürgen K RUMM in seiner programmatischen Rede zu Sprachengerechtigkeit auf der Internationalen Tagung der Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer (IDT) 2022 an der Universität Wien die „Wirkungsmechanismen von Sprachen“ genannt hat. Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit Fragen der Machtausübung, Herrschaft, Unterdrückung und haben, so K RUMM, „Bedeutung für das demokratische Zusammenleben“. Der 2022 erschienene Band Lingustic Justice on Campus. Pedagogy and Advocacy for Multilingual Students behandelt den Themenkomplex Sprachengerechtigkeit aus einer spezifisch US-amerikanischen Perspektive. Damit scheint er auf den ersten Blick wenig übertragbar auf deutsche, europäische oder internationale Frage- und Problemstellungen von Sprachengerechtigkeit. Aus zwei Gründen ist seine Lektüre dennoch für eine breite Leserschaft lohnend und wertschöpfend: Zum einen belegt das deutliche Plädoyer für mehr Mehrsprachigkeit der in diesem Band versammelten Autor: innen die generelle Relevanz von Sprachengerechtigkeit, auf die von Mehrsprachigkeitsforschenden seit langem hingewiesen wird; zum anderen ist das hier abgebildete, kollektive In-Frage-Stellen der akademischen Sprachendominanz eines (Standard) English Only insofern ein Novum, als die Betrachtung dieses Phänomens - einen monolingualen Sprachnationalismus in den USA theoretisch voraussetzend - aus einer originär englischsprechenden Domäne erfolgt, also auf Englisch nicht aus einer Perspektive der Fremd-, Zweit- oder Tertiärsprachendidaktik blickt, wie es in der Regel der Fall aus der Sicht deutscher und europäischer Bildungsinstitutionen ist. 142 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0031 52 • Heft 2 Dies erfolgt in insgesamt 11 Beiträgen, die in drei Themenblöcke gegliedert sind: Translingual and Antidiscriminatory Pedagogy and Practices, Advocacy in the Writing Center sowie Professional Development. Die einzelnen Kapitel wurden mit großer Sorgfalt gereiht und bauen schlüssig aufeinander auf, sie werden gerahmt von einer einführenden Einleitung der vier Herausgeberinnen und einem zusammenfassenden Nachwort von Shawna S HAPIRO . Folgende Grundannahmen werden von den Autor: innen unisono geteilt: Die defizit-orientierte Sicht auf Mehrsprachige hat sich überholt und spiegelt auch nicht die realen gesellschaftlichen Hyper- Diversitäten wider; sie sollte endgültig einer die kognitiven Leistungen und den inter- und translingualen Mehrwert von Mehrsprachigkeit würdigenden Haltung Platz machen; dazu ist ein Paradigmenwechsel erforderlich, der die Berechtigung von Sprachnormen der diversen Ausformungen von Standard (American) English in einem ersten Schritt in Frage stellt und sie im nächsten Schritt in ihrer Funktion als Herrschafts- und Unterdrückungsinstrument demaskiert, um sie im Sinne einer De-Kolonialisierung schließlich zu überwinden. Die Argumentation ist dabei oft eingebettet in die jüngsten Ereignisse der US-amerikanischen Zeitgeschichte, allen voran Bürgerrechtsbewegungen wie Black Lives Matter und MeToo. Die Notwendigkeit und Dringlichkeit des solidarischen Eintretens gegen Rassismus und Diskriminierung der Autor: innen wird noch verstärkt durch das fatale zeitliche Zusammenfallen mit Strömungen des Post Truth- und White Supremacy-Denkens in den Vereinigten Staaten. So nimmt beispielsweise Kapitel 2 Bezug auf die durch die COVID19-Pandemie motivierten Angriffe auf internationale Studierende aus China, denen zu ihrem eigenen Schutz von ihren Dozent: innen geraten worden war, auf dem Campus kein Chinesisch zu sprechen. In Kapitel 4 werden historische Bezüge zum Umgang mit indigenen Sprachen der nordamerikanischen Ureinwohner hergestellt, um für die vielfältigen Erscheinungsformen von Sprachenungerechtigkeit zu sensibilisieren. Kapitel 5 legt die Bedeutung kindlicher Sprach(en)mittlung für die Inklusionsanstrengungen vietnamesischer/ laotischer Einwander: innen und ihrer (weiblichen) Nachkommen dar und zeigt, wie diese zu deren individuellem Bildungserfolg beitragen können. Da sich die beiden ersten Themenblöcke aus Studien von Lehrenden an Schreibzentren zusammensetzen, stehen in diesen studentische Textproduktionen in ihren vielfältigen Erscheinungsformen im Fokus. Der Versuch, Einsprachigkeitsideologien als solche erkennbar zu machen und durch ein integrierendes Mehrsprachensystem zu ersetzen, eint alle Beiträge. Die Vorschläge umfassen dabei auch Varietäten innerhalb des englischen Sprachsystems wie Dialekte oder accented writing im Kontext world Englishes (Kapitel 9). Das Aufeinandertreffen von egalisierenden Sprachenpraktiken zur praktischen Implementierung von Sprachengerechtigkeit und Sprachnormen in der Tradition monolingualer Sprachstandards wird dabei immer wieder als ein sich grundsätzlich stellendes Problemfeld benannt: Letztlich unterliegen studentische Textproduktionen einer Bewertung, die auch sprachlichen Anforderungen zu Präzision und Korrektheit im Sinne von Verständlichkeit (intellegibility) genügen muss. Die drei Kapitel des dritten und letzten Themenblocks nehmen schließlich die Gruppe der Lehrenden in den Blick. Als Bewertende sind sie wohl der Dreh- und Angelpunkt eines möglichen Paradigmenwechsels von Monozu Multi/ Plurilingualität im Hochschulkontext. Da es insgesamt nur sehr wenige Studien gibt, die diese Gruppe (mächtiger) Hochschulagierender zum Untersuchungsgegenstand haben, darf man für die hier vorgestellten Studien besonders dankbar sein. Sie unterbreiten schließlich auch konkrete Vorschläge, wie das Dilemma zwischen der realen Sprachhegemonie des Standard English und der geforderten Mehrsprachigkeit aufzulösen begonnen werden könnte. Hier ist die Studie in Kapitel 10 hervorzuheben, denn sie ist an einer privaten Technischen Universität angesiedelt, also einer Hochschulform, die gemeinhin als wenig sprach(en)affin gilt und deshalb für unseren Kontext besonders interessant ist. Die Untersuchung thematisiert die Bedeutung von accented speech, hier in Form des von Besprechungen 143 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0031 Lehrenden oft negativ konnotierten Southern accent, und erweitert somit das Verständnis sprachlicher Assimilationszwänge um dialektale Erstsprechende des Englischen. Kapitel 12 berichtet von der Einbeziehung von Primärliteratur jenseits des Englischen, was für in Europa bildungssozialisierte Leser: innen ein eher überraschender Vorschlag sein dürfte. Überhaupt rufen einige der geschilderten didaktischen Empfehlungen manchmal verhaltene Verwunderung aus. So erscheint die Feststellung „If instructors simply present one idea as being the final truth, that negotiation is likely to be lost.” (S. 203) eher anachronistisch, auch das an anderer Stelle vorgeschlagene Zu- und Stehenlassen von Kontroversen in Gruppendiskussionen gehört heute doch wohl zum Standard-Repertoire Lehrender. Einige der gebrauchten Abkürzungen wie K-12 settings oder das Studienangebot composition verlangen von mit der US- Bildungslandschaft nicht vertrauten Leser: innen Recherchearbeit. Kritisch zu sehen ist auch die fast ausschließliche Verwendung englischsprachiger Quellen aller Autor: innen; so bleiben nicht nur wesentliche Entwicklungen und Erkenntnisse der Mehrsprachigkeitsforschung anderer Weltregionen jenseits der USA unberücksichtigt, die Forderung nach mehr Sprachengerechtigkeit wird so den eigenen Ansprüchen nur eingeschränkt gerecht. Ebenso versäumen die Herausgeberinnen, ihrem Band eine Definition von Mehrsprachigkeit zugrunde zu legen. Dass in vielen der Studien der linguistische Sonderfall der Zweisprachigkeit anzunehmen ist, also nicht von Mehrsprachigkeit gemäß der in der Linguistik geltenden Definition L1+L2+Ln ausgegangen werden kann, ist ein Manko, das zu Unklarheiten führt und leicht hätte vermieden werden können. „Englisch“ steht als derzeitige Lingua Franca/ Lingua Academica insbesondere im Kontext der sogenannten Internationalisierung und deren häufigen Gleichsetzung mit Anglisierung der Lehre an Hochschulen weltweit im Dienste einer monolingualen Sprachdominanz, die oft als English Only bezeichnet wird. Vor dem Hintergrund der englischen als plurizentrischer Sprache stellen sich jedoch viele grundsätzliche Fragen wie beispielsweise Von welchem Englisch sprechen wir eigentlich? Fragen wie diese sind auch im Kontext Europäischer Hochschulallianzen und dem Aufbau eines Europäischen Hochschul- und Forschungsraums von großer Relevanz: Auf welches Englisch einigt man sich im Fach Maschinenbau an einer deutschen Technischen Universität, wenn die belgische Professorin mit Englisch als L3 auf C1-Niveau auf den koreanischen Studierenden mit Englisch als L3 mit B1-Niveau trifft? Wie kann eine faire Bewertung der studentischen Textproduktion des Englisch als Fremdsprache-sprechenden Studierenden durch die Englisch als Fremdsprache-sprechende Professorin erfolgen? Auch dies sind Fragen der Sprachengerechtigkeit. Die enge Verknüpfung von Sprachen und ihren Verwendungen mit den soziokulturellen Herkünften, Lebens- und Erfahrungswelten sowie der jeweiligen Bildungssozialisation ihrer Sprechenden, Schreibenden, Hörenden beeinflusst deren Verstehen, Denken und Handeln. Bildungssprachliche Diskursräume sollten deshalb an Hochschulen die notwendigen Orte eröffnen, an denen Sprachengerechtigkeit ausgehandelt und praktiziert werden kann. Als Multiplikator: innen tragen hochschulische Akteur: innen sie in die Gesellschaft hinein und tragen so zu gesellschaftlichen Transformationsprozessen bei. Das geschieht immer über Sprache(n). In ihrem Nachwort formuliert es Shawna S HAPIRO so: „The importance of broadening our perspective applies as well to our own use of language.” (S. 221) Sprachengerechtigkeit beginnt also bei und mit uns selbst. Von ersten möglichen Schritten in diese Richtung berichtet dieses Buch. Darmstadt C ONSTANZE B RADLAW