Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2024-0002
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2024
531
Gnutzmann Küster SchrammTurn-Taking als Merkmal interaktionaler Kompetenz in einem Virtual Exchange – Konversationsanalyse von videogestützter Online-Interaktion zwischen israelischen und deutschen Englischstudierenden
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2024
Nils Drixler
This article investigates turn-taking as a feature of Second Language Interactional Competence (L2 IC) within a Virtual Exchange (VE) project involving undergraduate English Foreign Language (EFL) students. Through Conversation Analysis (CA), a German-Israeli focus group (n = 4) is monitored over seven online meetings. VE, or Collaborative Online International Learning (COIL), is a telecollaboration method involving participants from different cultures or geographical regions. The study refers to the Extended Telecollaboration Practice Project, with English as the target language serving as a Lingua Franca. Turn-taking processes within the focus group are considered and discussed, utilizing GAT2 transcription excerpts. Since the data pertains to a group of participants over the course of a semester, aspects of longitudinal conversation analysis are also incorporated.
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53 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0002 N ILS D RIXLER * Turn-Taking als Merkmal interaktionaler Kompetenz in einem Virtual Exchange - Konversationsanalyse von videogestützter Online-Interaktion zwischen israelischen und deutschen Englischstudierenden Abstract. This article investigates turn-taking as a feature of Second Language Interactional Competence (L2 IC) within a Virtual Exchange (VE) project involving undergraduate English Foreign Language (EFL) students. Through Conversation Analysis (CA), a German-Israeli focus group (n = 4) is monitored over seven online meetings. VE, or Collaborative Online International Learning (COIL), is a telecollaboration method involving participants from different cultures or geographical regions. The study refers to the Extended Telecollaboration Practice Project, with English as the target language serving as a Lingua Franca. Turn-taking processes within the focus group are considered and discussed, utilizing GAT2 transcription excerpts. Since the data pertains to a group of participants over the course of a semester, aspects of longitudinal conversation analysis are also incorporated. 1. Einleitung Der vorliegende Beitrag untersucht Zoom-Meetings zwischen deutschen und israelischen Englischstudierenden im Rahmen eines Virtuellen Austausches (von hier an „VA“ abgekürzt), respektive Collaborative Online International Learning (COIL) (O’D OWD 2018; R UBIN / G UTH 2015). Der Schwerpunkt der konversationsanalytischen Untersuchung liegt auf der Aushandlung von Rederechten (turn-taking und turn-management) und deren Bedeutung für die Interaktionale Kompetenz (K RAMSCH 1986; Y OUNG 2006), bzw. Second Language Interactional Competence (im Folgenden „L2 IC“ genannt) der Teilnehmenden während der Online-Projektarbeit. Der vorliegende Artikel begleitet eine einzelne Fokusgruppe (n = 4) über insgesamt sieben Online-Meetings und kann somit Einblicke in die Entwicklung von Turn- Taking-Praktiken im Laufe eines VAs geben. Das untersuchte Projekt, namentlich Extended Telecollaboration Practice (W ALDMAN / H AREL / S CHWAB 2019), ist ein andauernder und einmal im Jahr stattfindender VA zwischen Lehramtsstudierenden * Korrespondenzadresse: Nils D RIXLER , M.A., Institut für Englisch, Reuteallee 46, Pädagogische Hochschule L UDWIGSBURG . E-Mail: nils.drixler@ph-ludwigsburg.de Arbeitsbereiche: Linguistische Pragmatik, Konversationsanalyse, Interactional Competence 10 Nils Drixler DOI 10.24053/ FLuL-2024-0002 53 • Heft 1 des Faches Englisch in Israel und Deutschland. Die Video- und Transkriptionsdaten dieser Studie entstammen aus diesem Projekt, genauer der Kohorte 2019/ 20, welche kurz vor dem Ausbruch von COVID-19 endete. 2. Turn-Taking als Merkmal interaktionaler Online-Kompetenz Der Begriff der kommunikativen Kompetenz, der als Antwort auf C HOMSKYS Arbeit zur „linguistischen Kompetenz“ (1965) entstand, wurde von H YMES (1972) geprägt. Dessen Modell betonte die Analyse von Sprachformen im Anwendungskontext und kontrastierte C HOMSKY s Unterscheidung zwischen linguistischer Kompetenz und Performanz. Aufgrund von Kritiken an der Vernachlässigung spezifischer zwischenmenschlicher Interaktionspraktiken, führte K RAMSCH s Vorstellung der Interaktionalen Kompetenz im Fremdsprachenerwerb (1986) zu einer differenzierteren Sicht. Sie definierte Interaktion als Aushandlung von Bedeutungen, einschließlich der Antizipation von Hörerreaktionen und Missverständnissen, sowie des Erkennens und Verdeutlichens eigener und fremder Absichten, mit dem Ziel einer hohen Übereinstimmung zwischen beabsichtigten, wahrgenommenen und antizipierten Bedeutungsaushandlungen. Dies bezieht sich auf eine Bandbreite von Kontexten, von Alltagssituationen bis hin zur Vertragsverhandlung (ebd.: 366). L2 IC bezeichnet die Fähigkeiten 1 , interaktionale Merkmale, wie u.a. Reparatursequenzen, interaktives Zuhören, Sequenzorganisation oder Topic-Management (G ALACZI / T AYLOR 2018) mit Hilfe der verfügbaren sprachlichen Mittel so einzusetzen, dass kommunikative Absichten der Interaktanten in konkreten Situationen zum Ausdruck kommen. Die Erforschung von L2 IC in videogestützter Online-Interaktion, z.B. Videokonferenzen, ist ein junges Feld, das nicht zuletzt aufgrund von COVID-19 in der Sprachlehrforschung zunehmend an Bedeutung gewinnt (H OSHII / S CHUMACHER 2020; D AI / G RIEVE / Y AHALOM 2022; B ALAMAN / S ERT 2017; P EKAREK D OEHLER / B ALAMAN 2021). Auch im Online-Kontext erfordert L2 IC die Fähigkeit, Rederechte im Rahmen von Beitragskonstruktionseinheiten auszuhandeln, Überlappungen sowie Pausen zu vermeiden und auch in Gruppengesprächen erfolgreich das Rederecht zu ergreifen (J ENKS 2014: 126). Diese Praktiken sind Teil des zentralen Turn-Taking und -Managements in interaktionalen Kompetenzmodellen (G ALACZI / T AYLOR 2018). Ein erfolgreicher Turn-Taking-Prozess erfordert eine feine Abstimmung zwischen den Gesprächsteilnehmenden sowie ein Verständnis von Hinweisreizen, um zu erkennen, wann es angebracht ist, das Wort zu ergreifen oder abzugeben. G ALACZI / T AYLOR (2018: 8) sehen Turn-Taking als eines der zentralen Merkmale ihres interaktionalen Kompetenzmodells, von welchem wiederum sogenannte Microfeatures wie Beginn, Erhaltung, Beenden, Pausieren, Unterbrechen und Einklinken abzweigen. Konversationsanalytische Studien haben stabile, kontextspezifische Abläufe für Sprecherwechsel sowohl in Präsenzals auch in Remote-Interaktionen festgestellt (S ACKS / 1 Die weitgehend englischsprachige Fachliteratur zu L2 IC spricht i.d.R. von Features. Turn-Taking als Merkmal interaktionaler Kompetenz in einem Virtual Exchange 11 53 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0002 S CHEGLOFF / J EFFERSON 1974). Dennoch sind diese Regeln des Sprecherwechsels keinesfalls statisch, sondern werden insbesondere in neu aufkommenden Gesprächssituationen neu ausgehandelt und abgestimmt (J ENKS 2014). 2.1 Turn-Taking in videogestützter Kommunikation Einer dieser neueren Kontexte sind Videokonferenzplattformen, wie beispielsweise Zoom, Microsoft Teams oder Skype. Die tiefgreifenden Veränderungen im Alltag von Lernenden und Lehrenden aufgrund von COVID-19 haben in den vergangenen drei Jahren zahlreiche Forschende dazu motiviert, die Mechanismen des Sprecherwechsels 2 auf diesen Plattformen zu untersuchen (S TONE / B RINHAM 2022; S EUREN et al. 2021; S ATAR / W IGHAM 2023; T OMPROU et al. 2021). Das Turn-Taking in videogestützter Online-Kommunikation ist zu einem Hauptforschungsthema geworden, da einige Aspekte sich von bisherigen Erkenntnissen sowohl in Face-to-Face-Konstellationen als auch in Telefoninteraktionen (S ACKS / S CHEGLOFF / J EFFER - SON 1974) unterscheiden. Hierzu gehören: (1) Übertragungslatenzen beeinflussen die zeitliche Reihenfolge von Redebeiträgen, was Herausforderungen für flüssiges Turn-Taking birgt. Längere Pausen an übergaberelevanten Stellen führen oft zu ungewollten Überlappungen durch gleichzeitiges Ergreifen des Rederechts (S EUREN et al. 2021). (2) Nonverbale Hinweise wie Blickrichtung und Körperorientierung können aufgrund von Kamera-Positionierung, Videoqualität und Latenz verändert oder missverstanden werden. Dennoch nutzen Teilnehmende visuelle Informationen zur Gesprächskoordination (H EATH / L UFF 1993). T OMPROU et al. (2021) kommen hingegen zu dem Ergebnis, dass Teams ohne visuelle Hinweise, also nach Abschaltung ihrer Kameras, erfolgreicher in der Berücksichtigung stimmlicher Hinweise und der Synchronisation ihrer Redebeiträge sind. (3) Die Integration multimodaler Elemente wie Textchat, Bildschirmfreigabe und Emojis in Videokonferenzen präsentiert eine neue und vielschichtige Dimension der Sequenzorganisation (S ATAR / W IGHAM 2023), die bei der Datenanalyse berücksichtigt werden muss. So können beispielsweise längere Pausen sowohl Kommunikationsabbrüche als auch schriftliche Kommunikation über andere Plattformen signalisieren. (4) Aufgrund eingeschränkter visueller Hinweise in Online-Meetings nimmt die Bedeutung prosodischer Attribute zu. Tonhöhenänderungen können ein Hinweis auf eine terminale Positionierung des Sprechbeitrages sein und somit einen anstehenden Sprecherwechsel ankündigen (J ENKS 2014: 60). 2 Die Mechanismen des Sprecherwechsels, bzw. des Rederechts, werden in S ACKS / S CHEGLOFF / J EFFER - SON (1974: 725) als Turn-Taking-Machinery bezeichnet. 12 Nils Drixler DOI 10.24053/ FLuL-2024-0002 53 • Heft 1 2.2 Turn-Taking in Virtuellen Austauschen Bei Virtuellen Austauschen handelt es sich um Projekte zwischen zwei oder mehreren Bildungsinstitutionen, in denen Lernende aus unterschiedlichen Regionen online zusammenarbeiten. Diese können projektbasiert über einen längeren Zeitraum oder kürzer für einzelne Aufgaben, also task-basiert, organisiert werden. Die derzeit etabliertesten Bezeichnungen dieser Lehr-/ Lernmethode sind Virtual Exchange (O’D OWD 2021), Collaborative Online International Learning bzw. COIL und Telecollaboration. Konversationsanalytische (CA) Studien in VA stellen ein junges, aber wachsendes Forschungsfeld dar. Thematische Schwerpunkte liegen im Bereich des Topic Management (C IMENLI / S ERT / J ENKS 2022), multimodaler Interaktion (P OUROMID 2019), epistemischer Aushandlungen (B ALAMAN / S ERT 2017), linguistische Angemessenheit in Anfragesequenzen (C UNNINGHAM 2017), Storytelling (D OOLY / T UDINI 2022) und Übertragungslatenz (R USK / P ÖRN 2019). Lediglich letztere, sowie die vorliegende Studie thematisieren explizit den Sprecherwechsel in virtuellen Austauschen. 3. Forschungskontext und Methodologie Die vorliegende Studie setzt sich als Ziel, den Aushandlungsprozess von Rederechten (turn-taking und -management) in einem VA zu untersuchen und veranschaulicht dessen Bedeutung für die Interaktionale Kompetenz der Teilnehmenden. Es wird untersucht, welche Praktiken in Bezug auf das Rederecht sich im Laufe des Austausches etablieren und wie diese von Präsenz-Mechanismen abweichen. Daher hat die Studie einen explorativen Charakter und umfasst Elemente einer Langzeitstudie (P EKAREK D OEHLER / B ERGER 2018). 3.1 Kontext und Teilnehmende der Studie Die Daten für diese Studie wurden im Rahmen des VA-Projekts Extended Telecollaboration Practice (s. Abschnitt 1) zwischen November 2019 und Januar 2020 erhoben. Das Projekt besteht seit 2015 zwischen dem Kibbutzim College in Tel Aviv und der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Englischstudierende bilden Gruppen von 4-6 Personen und diskutieren wöchentlich in Zoom-Meetings den Stand ihrer Projekte mit dem Ziel, telekollaborative Unterrichtseinheiten für die Sekundarstufe zu entwickeln. Die Analyse basiert auf Aufzeichnungen und Transkripten der vierten Kohorte, mit Gruppensitzungen zwischen deutschen und israelischen Studierenden von insgesamt ca. 49 Stunden. Eine bezüglich der durchschnittlichen Gruppengröße sowie Gender-Verteilung der Teilnehmenden repräsentative Fokusgruppe (n = 4) wurde ausgewählt, um die Entwicklung der Turn-Taking-Prozesse und interaktionalen Ressourcen zu verfolgen. Turn-Taking als Merkmal interaktionaler Kompetenz in einem Virtual Exchange 13 53 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0002 Diese besteht aus zwei weiblichen Studierenden in Israel und einem männlichen und einer weiblichen Studierenden in Deutschland. Die Gruppe traf sich sieben Mal im Laufe des Semesters, was ein Datenkorpus von 283 Minuten ergibt, welches grob transkribiert wurde. Einzelne Exzerpte, die im Hinblick auf den Turn-Taking-Prozess besonders aufschlussreich sowie exemplarisch sind, wurden nach Gesprächsanalytischem Transkriptionssystem 2 / GAT 2 (S ELTING et al. 2009) feintranskribiert. Das Datenset unterscheidet sich von vielen anderen konversationsanalytischen Studien zur videogestützten Interaktion, da die Studierenden lokal an einem gemeinsam geteilten Endgerät sitzen und nicht, wie es während COVID-19 typisch war, räumlich getrennt am jeweils eigenen. Diese Verteilung erfolgte aufgrund begrenzter Räumlichkeiten und um die bestehenden Gruppen an den jeweiligen Hochschulstandorten nicht aufzulösen. Die Studierenden wurden von den Seminarleitenden in unterschiedliche Seminarräume oder Büros an ihren jeweiligen Hochschulen verteilt. Somit müssen die Interagierenden in einem hybriden Setting zwei Ebenen berücksichtigen: das Online-Gegenüber auf Zoom sowie die Gruppenmitglieder vor Ort. In einer beispielhaften und typischen Gruppenkonstellation sind also drei israelische Studierende physisch in einem Raum versammelt und nutzen gemeinsam einen Laptop, um über Zoom mit drei deutschen Studierenden zu interagieren, die sich in einer analogen Situation befinden. 3.2 Forschungsmethode Die Konversationsanalyse (s. Abschnitt 2) (S ACKS et al. 1974) zieht zur Analyse Audio- oder Videodaten von echten Sprechanlässen, auch Talk-In-Interaction genannt, vor. Dies ermöglicht es den Forschenden, die emische, d.h. teilnehmendenrelevante, Perspektive der Sprechenden/ Interaktanten einzunehmen, welche sich von der etischen, d.h. exogenen, Perspektive unterscheidet (B ALAMAN / S ERT 2017: 3). Ein herkömmliches konversationsanalytisches Verfahren besteht zunächst darin, eine Sammlung von Sprechanlässen in Form von Transkriptionen anzulegen (D AI / G RIEVE / Y AHALOM 2022). Dies erfolgt in der vorliegenden Studie mit einem Fokus auf Turn- Taking (S ACKS et al. 1974) nach den Konventionen des GAT 2. Die Transkriptionskonventionen lassen sich S ELTING et al. (2009) entnehmen, welches online frei zur Verfügung steht. 4 Analyse Ziel des empirischen Teils dieser Studie ist es, die Mechanismen des Turn-Takings während Video-Teammeetings im Rahmen eines virtuellen Austauschs offenzulegen und zu veranschaulichen. Die hierfür verwendeten Beispiele stammen aus dem Datenset (s. Abschnitt 3.1) und fokussieren sich auf eine Gruppe deutsch-israelischer Lehramtsstudierender im Fach Englisch. Die Transkriptionsexzerpte stammen aus 14 Nils Drixler DOI 10.24053/ FLuL-2024-0002 53 • Heft 1 unterschiedlichen Meetings besagter Gruppe, welche mit Datum und Zeitstempeln versehen sind. Zur besseren Verständlichkeit werden die vier Teilnehmenden besagter Fokusgruppe vorgestellt: Abb. 1: Deutsche Studierende Abb. 2: Israelische Studierende Von links nach rechts: G-MIA: weibliche Teilnehmerin aus Deutschland G-FLO: männlicher Teilnehmer aus Deutschland I-SIA: weibliche Teilnehmerin aus Israel I-LEE: weibliche Teilnehmerin aus Israel Bei einigen Ausschnitten spielen multimodale Ressourcen wie Mimik, Gestik oder Blickrichtung eine Rolle. Diese multimodalen Handlungen werden entlang M ONDA - DA s (2018) Konventionen für multimodale Transkription mit Bildausschnitten veranschaulicht und deren Dauer mit Zeichen wie im Folgenden begrenzt: 1 G-MIA + ja (.) ja + I-LEE +nickt----+ * begrenzt multimodale Handlungen von G-MIA ⊥ begrenzt multimodale Handlungen von G-FLO ∆ begrenzt multimodale Handlungen von I-SIA + begrenzt multimodale Handlungen von I-LEE Die Teammeetings wurden wenige Monate vor der COVID 19-Pandemie aufgezeichnet, somit ist der Umgang mit der Videokonferenzsoftware Zoom für die meisten Studierenden sprichwörtliches ‚Neuland‘, was stellenweise in deren Aussagen in den ersten Meetings zum Ausdruck gebracht wird: Sequenz 1: Meeting 1, Team 8, 0: 51: 38 - 0: 51: 49 01 G-MIA +<<lachend> wie man sie tippen + hörn (--)und schreiben I-LEE +tippt etwas am Laptop--------+ 03 sehen ´kann (.) °hh (--) its really cool ¯haha-> Turn-Taking als Merkmal interaktionaler Kompetenz in einem Virtual Exchange 15 53 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0002 In Sequenz 1 drückt G-MIA ihre Überraschung über verschiedene Aspekte der neuen multimodalen Umgebung, wie das Tippen der Israelis im synchronen Shared Document, sowohl verbal explizit als auch durch das Code-Switching zu ihrer Erstsprache aus. Dieses Code-Switching verstößt gegen eine vereinbarte Regel und unterstreicht die Herausforderungen des neuen Mediums. Die über Wochen des virtuellen Austausches entwickelten Online-Turn-Taking- Praktiken werden im Folgenden kategorisiert und besprochen: 4.1 Beitragskonstruktion; 4.2 Tag-Questions und Prosodie an finaler Position; 4.3 Selbstselektion, Überlappung und Unterbrechung; 4.4 Unterbrechung und Rolle technischer Probleme. 4.1 Beitragskonstruktion: Überblick unterschiedlicher Turn-Taking-Praktiken Das System des Rederechts von Online-Teammeetings ist höchst geordnet. Die Sprecherbeiträge dieses Systems bestehen aus Beitragskonstruktionseinheiten, respektive Turn-Constructional-Units (TCU), welche nicht ausschließlich aus ganzen Sätzen bestehen, sondern beispielsweise auch lediglich Backchanneling („mhm“) oder andere einzelne Wortsegmente beinhalten können (J ENKS 2014: 52). Oft werden innerhalb kurzer Zeitsegmente mehrere Strategien der Rederechtsübergabe praktiziert, wie in der folgenden Sequenz veranschaulicht: Sequenz 2: Meeting 1, Team 8, 0: 46: 14 - 0: 46: 28 01 G-MIA `e: : hm ↑FLO? (1.0) ↑EXpectations? * (1.1) * *lacht--* 02 G-FLO ⊥ `hm[m: : .] (---) ⊥ ⊥ blickt in Richtung Decke und verzieht Mund ⊥ 03 -SIA [ehm ] to work a: : [nd; = 04 -LEE =to to + tellt Blickkontakt zu I-SIA her (3.8)+ 05 -SIA +(hebräisch) +∆ -LEE +Israelis schauen sich gegenseitig an (4.2)+∆ 06 -LEE to meet new culture (.) ↑NO? + lickt weiterhin Richtung I-SIA+ Dieser Abschnitt von 14 Sekunden beinhaltet zahlreiche Merkmale des Online-Spreherwechsels, die sich teils vom Sprecherwechsel in Präsenz abheben; nämlich u.a.: (01): Fremdselektion der nächsten Sprechenden; (02): fehlgeschlagene Aufrechterhaltung des Rederechts (Turn-Maintenance), (03): Überlappung bzw. Unterbrechung 3 (Kap. 4.3); 3 Zur Unterscheidung zwischen Überlappung und Unterbrechung, vgl. O LBERTZ -S IITONEN (2009). 16 Nils Drixler DOI 10.24053/ FLuL-2024-0002 53 • Heft 1 (01 und 06): Signalisierung des Endes einer TCU durch terminale Marker „no? “ und/ oder deutlich ansteigender bzw. absinkender Prosodie (Kap. 4.2) und turn-finales Lachen (S HAW / H EPBURN / P OTTER 2013; S TONE / B RINHAM 2022: 20) (04-06): Herstellung einer ausschließlich lokalen Joint-Action durch multimodale Handlungen (Blickkontakt), direkten Anschluss (Latching) sowie Code-Switching in die Muttersprache. Auf einige dieser rederechtsbezogenen Online-Praktiken wird in den folgenden Abschnitten vertieft eingegangen. 4.2 Tag-Questions und Prosodie am Ende einer Beitragskonstruktionseinheit Ein in allen zehn Gruppen beobachtbares Phänomen ist die häufig frequentierte Verwendung finaler Marker, wie etwa „no? “, „right? “, „maybe? “, welche das Ende eines Turns und somit die Übergabe des Rederechts an die nächsten Sprechenden verdeutlichen sollen. Dies wird in folgendem Beispiel deutlich: Sequenz 3: Meeting 1, Team 8, 0: 50: 28 - 0: 50: 37 01 G-MIA so this (.) like this about teachers in ´generAL or is 02 it `li: ke. * (0.8) * *schließt Mund, blickt in Webcam* 02 I-SIA e: : h think its for teaching (.) ´no? Obwohl die grammatikalische Funktion der Präposition „`li: ke.“ eine weitere Nominalphrase von G-MIA erwarten lässt, schließt diese ihren Mund und blickt abwartend in die Kamera (01). Doch nicht nur die multimodalen Handlungen der Mundbewegung und Blickrichtung, sondern auch die fallende Prosodie des Wortes „like“ markieren das Ende ihres Turns. Häufig finden Absenkungen der Stimmlage am Ende einer TCU statt (S ELTING 2000) und geben somit das Wort an die nächste Interagierende ab. In diesem Fall lässt G-MIA ihren Gruppenmitgliedern zwei Möglichkeiten, nämlich entweder ihren Satz nach der Präposition zu vervollständigen und eine eigene Alternative zu nennen oder die fallende Stimmlage als Ende des Turns zu interpretieren. Von den deutschen Teilnehmenden wird dieses Stilmittel häufig mit anderen Präpositionen oder der Konjunktion „o: r“ angewandt (vgl. J ENKS 2014: 54f.). Der Ansatz der beiden israelischen Teilnehmerinnen kann hingegen als nahezu reversiv zur ‚deutschen‘ Vorgehensweise betrachtet werden. Wie in Zeile 02 zu erkennen, wird dabei die Verneinung „´no? “ im Sinne von „nicht wahr? “ verwendet. Diese Negation, welche eigentlich epistemische Bestätigung erfragt und das Rederecht abgibt, wird von einer prosodischen Hebung begleitet. Die Stimmlage geht demnach nicht nach unten, sondern akzentuiert nach oben. Turn-Taking als Merkmal interaktionaler Kompetenz in einem Virtual Exchange 17 53 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0002 Folglich kann das Anbahnen eines Sprecherwechsels sowohl mit steigender als auch fallender Prosodie erlangt werden. Auffallend bei den israelischen Teilnehmerinnen ist, dass sie fast ausschließlich das „´no? “ verwenden, von einem gelegentlichen „´maybe? “ einmal abgesehen. Über alle sieben Meetings im Laufe des Projektes wird das „´no? “ als terminale Position innerhalb des Beitrags insgesamt 57 Mal in Gruppe 8 und zudem in anderen Gruppen des Datensets sehr ausgiebig von israelischer Seite angewandt. Von den deutschen Teilnehmenden wird es hingegen nicht angewandt, sondern auf die o.g. Marker „`li: ke.“, „`o: r.“ oder auch „↑right? “ zurückgegriffen. 4.3 Selbst-Selektion, Überlappung und Unterbrechung Die folgende Sequenz wurde zur besseren Übersicht ohne multimodale Details transkribiert, da andere, verbale Beobachtungspunkte im Fokus stehen. Es handelt sich um das fünfte Zoom-Meeting der beobachteten Fokusgruppe, die sich als Ziel gesetzt hat, eine telekollaborative Lehreinheit zum Thema German and Israeli Snacks zu planen. Die Diskussion der Gruppe dreht sich um gemeinsame kulturelle Artefakte, welche sowohl in der israelischen wie auch in der deutschen Kultur bekannt sind. Der thematisierte Gegenstand Bamba entspricht dem Snack Erdnuss Flips in Deutschland. Sequenz 4: Meeting 5, Team 8, 0: 21: 04 - 0: 21: 40 01 G-MIA jaja (.) HOW do you call `them, (0.9) 02 I-SIA we call [´them ] ´bamba. (1.7) 03 I-LEE [bamba.] 04 G-FLO [( ) ] 05 I-SIA [so maybe] we can share (.) you know the similarities 06 in with the [snacks,] 07 G-MIA [its i think] its even the same but its 08 just called `differently-= 09 G-FLO =yeah 10 I-SIA ah_[really_cause_i] 11 G-MIA [made from] peanuts like (.) fluffy ´peanuts? 12 I-SIA ja: h (.) in Israel its like the national snack 13 [(.) like (.)] every: (.) 14 G-FLO [(inaudible ] 15 I-SIA like two years ´o: ld (.) like from two years_old we 16 start to eat it and (.) you know that's [why we ( )] 17 G-MIA [( ) not a ] 18 national snack but (.) i like it ´so: -= 19 G-FLO =yeah everybody knows it,= 20 G-MIA =its definitely something that people would ´ 21 know? [( )] 22 I-LEE [( i (.) )] showed you in the ´google `docs; 18 Nils Drixler DOI 10.24053/ FLuL-2024-0002 53 • Heft 1 23 G-FLO [<<pp> i: : (--) >] 24 I-SIA [you can ] see in the google docs how it looks 25 `like. Dieser Abschnitt ist durch viele Überlappungen und Unterbrechungen geprägt. Er beginnt mit einer Frage von G-MIA (01), die von den israelischen Teilnehmerinnen überlappend beantwortet wird, auf deren Turn wiederum eine Pause folgt (02). Da diese übergaberelevante Stelle mit 1.7 Sekunden ungewöhnlich lang ist und die deutschen Teilnehmenden zunächst nicht antworten, ergreift I-SIA wieder das Wort. Dies geschieht jedoch gleichzeitig mit G-FLOs Selbstselektion, wodurch eine Überlappung zu Beginn des Turns eintritt. Beide Interaktanten haben nun jeweils die Wahl, ihren Turn abzubrechen oder weiterzuführen. G-FLO entscheidet sich für ersteres, I-SIA spricht hingegen ohne weiteres Innehalten weiter. Auch in den Zeilen 14 und 23 versucht G-FLO das Wort zu ergreifen und überlappt sich dabei mit anderen Sprecherbeiträgen, wahrscheinlich ohne diese bewusst unterbrechen zu wollen. In Zeile 02 benötigt er zu viel Zeit, um das Wort zu ergreifen, sodass I-SIA ihren eigentlich beendeten Beitrag stattdessen mit einer thematischen Extension weiterführt. In Zeile 13 interpretiert er eine Pause von unter 0,5 Sekunden fälschlicherweise als Ende eines Turns, wohingegen seine Beitragsinitiation in Zeile 23 zu leise ist und deshalb, womöglich unwissentlich, von I-SIA unterbrochen wird. In dieser Sequenz wird deutlich, dass diejenigen Interaktanten, die im Falle einer Überlappung weitersprechen und nicht abbrechen, letztendlich ihren Turn ausführen können. Auch wenn sich bestimmte Teilnehmende als Hauptsprechende etablieren, bleibt auch für diese ‚Gruppenführenden‘ das Online-Rederecht umkämpft, da nicht nur unbeabsichtigte Überlappungen die Turn-Aufrechterhaltung erschweren, sondern auch zunehmend bewusste Unterbrechungen. Beispielsweise wird I-SIA vor Finalisierung ihres Turns von G-MIA unterbrochen (07), was sich in Zeile 17 in dieser Form wiederholt. Da es an diesen Stellen keinerlei Hinweis für eine baldige Finalisierung des Sprecherbeitrages von I-SIA gibt, kann tatsächlich von einer Unterbrechung und nicht von einer unbeabsichtigten Überlappung ausgegangen werden (s. Abschnitt 4.4). Dennoch ist nicht ersichtlich, dass diese Interruptionen den Gesprächsverlauf oder die Teilnehmenden stören. Manche Turns werden auch aufgrund von epistemischen Rückfragen unterbrochen, wie etwa in Zeile 11 ([made from] peanuts like (.) fluffy ´peanuts? ). Diese tragen zu einem besseren Verständnis und der „Sphäre der Intersubjektivität“ (K RAMSCH 1986: 367) aller Gruppenmitglieder bei. 4.4 Interruption und die Rolle technischer Schwierigkeiten Es ist in dieser fortgeschrittenen Phase des Projekts (die Teilnehmenden befinden sich in Meeting fünf von insgesamt sieben) auffällig, dass Unterbrechungen und Überlappungen nicht mehr von Reparatursequenzen oder gar expliziten Entschuldigungs- Turn-Taking als Merkmal interaktionaler Kompetenz in einem Virtual Exchange 19 53 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0002 äußerungen begleitet werden, wie es noch im ersten Meeting der Fall war. Folgende Sequenz zeigt eine gleichzeitige Selbstselektion mit darauffolgender Reparatur. Sequenz 5: Meeting 1, Team 8, 0: 35: 16 - 0: 35: 29 01 G-MIA [and if you’re if you’re; ] 02 I-SIA [( ) like I’m sure you have `eh.] (1.9) 03 G-MIA sorRY? (1.3) 04 I-SIA you_know i’m saying that you have eh (.) i’m sure you 05 have eh… Eine Erklärung für das häufige Unterbrechen in späteren Meetings könnte sein, dass die Teilnehmenden im Laufe des Projektes zahlreichen nicht-interaktionalen Interruptionen ausgesetzt sind. Hierzu gehören u.a. Störungen durch andere Gruppen, die sich zeitweise in denselben Räumlichkeiten aufhalten, vor allem aber technische Unterbrechungen durch schlechte Internetverbindung oder mangelhafte Sprachqualität durch minderwertige oder schlecht platzierte Mikrofone. Auch im folgenden Beispiel spielt ein schlecht platziertes Mikrofon mitunter eine Rolle, insbesondere wird aber die Akzeptanz von Unterbrechungen im Rahmen eines VA weiter verdeutlicht. Sequenz 6: Meeting 5, Team 8, 0: 22: 39 - 0: 23: 01 Abb. 3: Audiospur Sequenz 6 01 I-LEE <<pp> introduction yes (1.8) the: (0.7) the favorite 02 subject (1.6) eh how far they live from the ↑schoo: l 03 how they get to `school.> (--) 04 G-MIA ´mhm= 05 G-FLO <<p>=yeah a lot of them are also part of the: 06 [( )]> 07 G-MIA: [WELL]_I WANTed this to be (.) i wanted this be: 08 ehm a different lesson because i planned it or i was 09 thinking in a way that (.) ehm this is a `group ´work… Sequenz 6 knüpft an die zuvor besprochene Sequenz 4 über Snacks („Bamba“) an. Ursprünglich hatte G-MIA in einer schriftlichen Aufgabe das Thema „a school day in Israel and Germany“ vorgeschlagen und fragt nun die Gruppe, ob dieses Thema weiterhin verfolgt werden soll. I-LEE schlägt vor, beide Ideen zu vereinen und Aspekte 20 Nils Drixler DOI 10.24053/ FLuL-2024-0002 53 • Heft 1 von G-MIAs Vorschlag in die geplante Einführungsstunde zu integrieren (01). Diese Äußerung wird nach einer Pause mit dem Zustimmungssignal (Backchanneling Token) „mhm“ von G-MIA beantwortet (04). G-FLO greift das Thema auf und zeigt Zustimmung durch das Acknowledgement Token „yeah“ (05). Der deiktische Ausdruck „them“ bezieht sich auf die von G-MIA vorgeschlagenen und verschriftlichten Leitfragen der geplanten Stunde. G-FLO möchte seine Ausführungen vertiefen, allerdings unterbricht G-MIA dessen Beitrag und initiiert in Zeile 07 einen neuen Turn, indem sie ihren Wunsch äußert, dass die zu planende Lehreinheit einem bestimmten Plan oder einer Struktur folgen solle. Die Unterbrechung und die Verwendung des Diskursmarkers „WELL“ vor ihrer Wortergreifung verdeutlichen ihre Absicht, die Kontrolle über das Diskussionsthema zu übernehmen. Es wird deutlich, dass das Unterbrechen anderer Teilnehmender zu diesem Zeitpunkt des virtuellen Austauschs bereits als normales Gesprächsverhalten in Gruppe 8 betrachtet wird. Die Beobachtung, dass lokale Gruppenpartner*innen (G-MIA unterbricht G-FLO, 07) sich gegenseitig ins Wort fallen und dies nicht von einer Reparatur- oder Entschuldigungssequenz begleitet wird, zeigt, dass nicht nur technische Probleme und das gegenseitige Nicht-Hören für die Unterbrechungen verantwortlich sind, sondern sich das Kommunikationsverhalten der Teilnehmenden selbst verändert hat. Bei Betrachtung der Wellenform der Audio-Datei (s. Abb. 3) in Sequenz 6 wird zudem deutlich, wie groß die Lautstärkeunterschiede zwischen den einzelnen Sprechenden tatsächlich sind. Die mittlere Lautstärke von G-MIA beträgt dabei -12 dB während die mittlere Lautstärke von G-FLO ca. -22 dB beträgt. Obwohl sich beide im selben Raum und im selben Abstand zum Mikrofon befinden, ist G-MIAs Beitrag also in etwa doppelt so laut wie der Beitrag von G-FLO, da eine Amplitudendifferenz von 10dB einer wahrgenommenen Verdopplung der Lautstärke entspricht. I-LEE fällt in ihrer Beitragslautstärke noch weiter ab (-28dB), was jedoch nicht zwangsweise ins Gewicht fallen muss, da auf der deutschen Seite die Ausgabe-Lautstärke erhöht werden kann. 4 Sequenz 7: Meeting 3, Team 8, 0: 11: 51 - 0: 12: 01 4 Dennoch führt ein zu geringer Audiopegel (Abb. 4) zu Qualitätsverlusten und zu einer höheren Wahrscheinlichkeit von Tonübertragungsstörungen. Abb. 4: Screenshot aus der Transkriptions-Software Turn-Taking als Merkmal interaktionaler Kompetenz in einem Virtual Exchange 21 53 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0002 Abbildung 4 verdeutlicht, dass es auch lokal zu signifikanten Lautstärkeunterschieden kommen kann. In Sequenz 7 beträgt der Unterschied zwischen I-LEE und I-SIA 13 dB. Diese Diskrepanz entsteht durch die seitlich versetzte Position des Mikrofons, wie durch einen Kreis gekennzeichnet. Das betreffende Mikrofon ist Teil der In-Ear- Hörer, die von I-LEE und I-SIA gemeinsam genutzt werden, und es befindet sich deutlich näher am Mund von I-SIA. Dies führt dazu, dass die Stimme von I-LEE wesentlich leiser ist, was ihren Prozess der Turnergreifung und -Aufrechterhaltung (turn maintenance) erschwert. 5. Schlussfolgerung und Diskussion Die in dieser Studie behandelten Daten zeigen, dass viele multimodale Handlungen der Abgabe und des Ergreifens des Rederechts, wie etwa Blickkontakt (A UER 2021), respiratorische Signale (W ŁODARCZAK / H ELDNER 2016), gestisches Zeigen (M ON - DADA 2007) und weitere Embodied Actions (H OFFMANN / S CHWAB 2017) in VA nur eingeschränkt möglich sind bzw. von den Sprechenden stark verdeutlicht werden müssen. Im folgenden Kapitel werden die einzelnen rederechtsrelevanten und onlinespezifischen Praktiken der Teilnehmenden kategorisiert zusammengefasst, in Hinblick auf Interaktionale Kompetenz bewertet und mit der bestehenden Literatur abgeglichen. 5.1 Fremdselektion bei der Turnübernahme In der beobachteten Fokusgruppe stellt die explizite Fremdselektion ein probates Mittel in der kommunikativ herausfordernden Umgebung der Zoom Teammeetings dar. Es ist auffällig, dass sich die Teilnehmenden im Laufe des VA zunehmend gegenseitig beim Namen nennen, was Überlappungen sowie Pausen deutlich reduziert, jedoch auch eine gewisse Ausschlussdynamik mit sich bringt. So richten sich die israelischen Studierenden ab Meeting 5 vermehrt durch direkte Ansprache an G-MIA, die sich zu diesem Zeitpunkt als Gruppenführende etabliert hat, was wiederum eine deutliche Reduktion der Redeanteile von G-FLO nach sich zieht. G-MIA selbst selektiert in regelmäßigen Abständen die nächsten Sprechenden, in einer Art, die den Aufforderung-Antwort-Sequenzen aus dem Klassenzimmer ähneln (s. Sequenz 1, 01) und schwächt diese potenziellen Face-Threatening-Acts mit einem Lachen als turn-finalem Marker ab (S HAW / H EPBURN / P OTTER 2013; S TONE / B RINHAM 2022: 20). Da die gezielte multimodale Selektion des Next-Speakers per Blickkontakt (vgl. A UER 2021) über die Kamera nicht möglich ist, sondern nur die Gruppe adressiert werden kann, ist die gezielte Selektion der nächsten Sprechenden per Namensnennung eine wichtige Methode der Online L2 IC, um den Mechanismus des Rederechts in Videokonferenzen zu glätten. Dies gilt insbesondere für die Ansprache einzelner Teilnehmender auf der „anderen Seite“ des Austausches. Im spezifischen Kontext dieses Projektes müssen Teilnehmende allerdings berück- 22 Nils Drixler DOI 10.24053/ FLuL-2024-0002 53 • Heft 1 sichtigen, nicht nur ihre Partner*innen online anzusprechen, sondern auch ihre Gruppe vor Ort miteinzubeziehen und alle Teilnehmenden zu Wort kommen zu lassen. Dies hat in anderen Gruppen stellenweise besser funktioniert, indem Gruppenführende auf eine gleichmäßigere Verteilung des Rederechts geachtet und dies in Reparatursequenzen zum Ausdruck gebracht haben. 5.2 Selbstselektion: Überlappung und Unterbrechungen Die Selbstselektion ist im Kontext der Online-Video-Teammeetings ein weitaus schwierigerer Prozess. Hier kommt es in der Fokusgruppe regelmäßig zu unbeabsichtigten Überlappungen, aber auch zu intendierten Unterbrechungen (O LBERTZ - S IITONEN 2009), die in vielen Fällen von der Wortführerin der Gruppe ausgehen und somit auch ein Indikator für Hierarchie sein können (S CHEGLOFF 2001). In späteren Meetings folgen auf Überlappungen oder Interruptionen keine Reparatursequenzen der Teilnehmenden mehr, was darauf schließen lässt, dass über den Verlauf des Semesters eine Gewöhnung an diese Umstände und Praktiken stattgefunden hat. Gründe hierfür könnten u.a. die zahlreichen technischen Unterbrechungen, Latenzen und audiotechnischen Qualitäts- und Lautstärkedivergenzen (Sequenz 6-8) sein. Zahlreiche Studien (J ENKS 2014: 56; J ENKS 2009) haben sich mit der Problematik von Überlappungen bei synchroner Online-Kommunikation beschäftigt und bestätigen aufgrund der eingeschränkten non-verbalen Möglichkeiten die Notwendigkeit verdeutlichter verbaler Signale (s. Abschnitt 5.3). Jedoch wurde im Vergleich zur Telefonie oder zum Audio-Conferencing auch bereits in frühen Studien die Vorteile der Videokonferenz in diesem Bereich aufgezeigt (D ALY -J ONES / M ONK / W ATTS 1996). 5.3 Prosodische Hebungen und Senkungen sowie Turn-Final-Markers Sequenz 2 und 3 haben gezeigt, dass Teilnehmende verstärkt bestimmte Signale in der beitragsfinalen Position verwenden, um die Abgabe ihres Rederechts zu kennzeichnen und eine schnelle Turnübernahme zu gewährleisten. Hierzu gehören Signalwörter, wie etwa das auf der israelischen Seite vielfrequentierte „´no? “ oder das von den Deutschen gelegentlich implementierte „´right? “, welche mit prosodischen Hebungen am Ende einer Beitragskonstruktionseinheit einhergehen. Doch auch prosodische Senkungen in Kombination mit gedehnten Vokalen der Konjunktionen „`o: r“ oder „li: ke“ sind hierfür Indikatoren. Diese Erkenntnisse decken sich mit J ENKS (2014: 54f.), der in seiner Forschung zu audio-basierten, synchronen Chatrooms auf das Hinweiswort „`o: r“ eingeht. Turn-Taking als Merkmal interaktionaler Kompetenz in einem Virtual Exchange 23 53 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0002 5.4 Schlussfolgerungen für die Praxis virtueller Austausche In virtuellen Meetings ist eine bewusste Steuerung des Rederechts entscheidend, wobei die Beschränkungen multimodaler Ressourcen durch verstärkten Einsatz verbaler Techniken und prosodischer Signale kompensiert werden können. Eine klare Audioübertragung, optimierte Mikrofonplatzierung und die Fähigkeit, trotz technischer Herausforderungen die Interaktion fortzuführen, sind wesentlich. Eine gewisse Robustheit in der eigenen Turn-Aufrechterhaltung sowie Flexibilität im Umgang mit Überlappungen sowie mit beabsichtigten und unbeabsichtigten Unterbrechungen durch andere Teilnehmende können in der Gruppen-Partizipation hilfreich sein. Diese Aspekte und Techniken sollten im Rahmen einer Seminarsitzung bzw. Unterrichtsstunde zu Beginn eines Virtuellen Austausches besprochen und eingeübt werden. 6. Limitierungen und Ausblick Trotz ihrer Erkenntnisse weist die gegenwärtige Untersuchung Beschränkungen auf, die bei der Interpretation der Resultate zu berücksichtigen sind. Aufgrund des Umfangs und der Komplexität des Sprecherwechsels war es im Rahmen der räumlichen Beschränkungen eines Zeitschriftenartikels nicht möglich, alle relevanten Praktiken des Sprecherwechsels vollständig zu behandeln. Ebenso wurden messtechnische Aspekte, wie die Länge der Pausen bei der Redeübernahme und deren Abgleich mit F2F-Interaktion (vgl. L EVINSON / T ORREIRA 2015), in der vorliegenden Studie nicht umfassend berücksichtigt. Im Unterschied zu Langzeitstudien in sprachimmersiven Kontexten (vgl. P EKA - REK D OEHLER 2018) sind in dieser Untersuchung zudem nur limitierte Schlüsse zur Entwicklung von L2 IC möglich. Die Teilnehmenden befanden sich zu Beginn der Studie bereits auf fortgeschrittenem Sprach- und Kompetenzniveau und die geringe Häufigkeit und Dauer der wöchentlichen Treffen könnten für eine messbare Verbesserung der interaktionalen Kompetenz unzureichend sein. Zukünftige Studien könnten die Optimierung der Kommunikation in telekollaborativen Teams mittels Konversationsanalyse untersuchen. Schulungen zu Online- Kommunikation sowie zur Gestaltung bestmöglicher Arbeitsumgebungen für den Virtuellen Austausch könnten den interkulturellen Austausch verbessern und den Umgang mit spezifischen Herausforderungen fördern. Literatur A UER , Peter (2021): „Turn-allocation and gaze: A multimodal revision of the ‘current-speakerselects-next’ rule of the turn-taking system of conversation analysis“. In: Discourse Studies 23.2, 117-140. B ALAMAN , Ufuk / S ERT , Olcay (2017): „Development of L2 interactional resources for online collaborative task accomplishment“. 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