Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2024-0003
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2024
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Gnutzmann Küster SchrammInteraktionsprozesse in einem virtuellen Austauschprojekt – duoethnografische Reflexionen der begleitenden Lehrpersonen
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2024
Christine Biebricher
Diana Feick
Petra Knorr
In the discussion of international student mobility, virtual exchange(s) (VE) become increasingly important. Similar to on-site exchanges, VEs aim to provide students with an international experience and transcend geographical, social, and cultural boundaries. While students’ experiences with VEs have been presented repeatedly, this paper focuses on an aspect that features less prominently in the literature: the perceptions of a VE from the perspective of the facilitating team. We report on our experiences, interactions and reflections as supporting teacher educators in a VE project between German and New Zealand pre-service English teachers and New Zealand students of German. We employ the collaborative research approach of duoethnography to critically reflect on our experiences and practices with the VE as well as to portray our reflections on duoethnography as our chosen research approach. Our findings are based on continuous individual and collaborative written reflections throughout the project.
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53 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0003 C HRISTINE B IEBRICHER , D IANA F EICK , P ETRA K NORR * Interaktionsprozesse in einem virtuellen Austauschprojekt - duoethnografische Reflexionen der begleitenden Lehrpersonen Abstract. In the discussion of international student mobility, virtual exchange(s) (VE) become increasingly important. Similar to on-site exchanges, VEs aim to provide students with an international experience and transcend geographical, social, and cultural boundaries. While students’ experiences with VEs have been presented repeatedly, this paper focuses on an aspect that features less prominently in the literature: the perceptions of a VE from the perspective of the facilitating team. We report on our experiences, interactions and reflections as supporting teacher educators in a VE project between German and New Zealand pre-service English teachers and New Zealand students of German. We employ the collaborative research approach of duoethnography to critically reflect on our experiences and practices with the VE as well as to portray our reflections on duoethnography as our chosen research approach. Our findings are based on continuous individual and collaborative written reflections throughout the project. 1. Einleitung Virtueller Austausch (auch: virtual exchange, VE) nimmt einen immer bedeutsameren Platz im Angebotsspektrum von Hochschulen, insbesondere im Rahmen der Umsetzung von Digitalisierungs- und Internationalisierungsstrategien ein. Ebenso wie physische haben auch virtuelle Austauschprojekte das Ziel, geographische, soziale und kulturelle Grenzen zu überwinden und Studierenden internationale Erfahrungen zu ermöglichen. Die Forschung in diesem Bereich zielt auf vielfältige Aspekte der * Korrespondenzadressen: Dr. Christine B IEBRICHER , Waipapa Taumata Rau / The University of Auckland, Faculty of Education and Social Work, School of Curriculum and Pedagogies, 10 Symonds Street, A UCKLAND 1010. E-Mail: c.biebricher@auckland.ac.nz Arbeitsbereiche: Lehrendenprofessionalisierung, interkulturelle Kommunikation, Virtueller Austausch. Dr. Diana F EICK , Waipapa Taumata Rau/ The University of Auckland, School for Cultures, Languages and Linguistics - German, 18 Symonds Street, A UCKLAND 1142. E-Mail: diana.feick@auckland.ac.nz Arbeitsbereiche: Digitale Medien, Virtueller Austausch, Interaktion. Dr. Petra K NORR , Universität Leipzig, Institut für Anglistik, Didaktik des Englischen, Beethovenstr. 15, 04107 L EIPZIG . E-Mail: pknorr@uni-leipzig.de Arbeitsbereiche: Lehrendenprofessionalisierung, Virtueller Austausch. 28 Christine Biebricher, Diana Feick, Petra Knorr DOI 10.24053/ FLuL-2024-0003 53 • Heft 1 Durchführung von VE. Dieser Beitrag widmet sich den Interaktions- und Reflexionsprozessen der projektbegleitenden Dozent: innen, einem zentralen, aber bisher noch wenig beforschten Aspekt von VE. Die erhobenen Daten, die in Form von schriftlichen Reflexionen und darauf aufbauenden schriftlichen Dialogen vorliegen, entstammen einem virtuellen Austauschprojekt zwischen (internationalen) neuseeländischen und deutschen Lehramtsstudierenden sowie neuseeländischen Deutschstudierenden. Die Studie folgt einem duoethnografischen Ansatz, demzufolge sich mehrere Forscher: innen kollaborativ zu einem bestimmten Phänomen kritisch austauschen. Im Folgenden geben wir einen kurzen Forschungsüberblick, nehmen eine Selbstpositionierung als Dozent: innen in einem VE vor, stellen die Duoethnografie und unser methodisches Vorgehen sowie zentrale Ergebnisse der Studie vor. 2. Virtueller Austausch und dialogische Reflexion Im Kontext des Einsatzes digitaler Medien im Fremdsprachenunterricht wird virtueller Austausch als Oberbegriff für „the engagement of groups of students in sustained online intercultural interaction and collaboration with international partners under the guidance of their teachers“ (O´D OWD / D OOLY 2022: 21) verwendet. Etablierte Konzepte wie beispielsweise E-Tandem, Telekollaboration oder Cooperative Online International Learning (COIL) werden darunter subsumiert und haben dabei die aufgabengeleitete, digital vermittelte Kommunikation zum Zwecke des sprachlichen und/ oder kulturellen Lernens von Angehörigen verschiedener Sprachen und Kulturen in selbst- oder lehrendengesteuerten Lernumgebungen zum Inhalt. In der Fremdsprachenforschung wurden VEs bereits umfangreich aus der Perspektive der beteiligten Lernenden und deren Lernprozessen untersucht (vgl. Forschungsüberblick bei D OOLY / V INAGRE 2022). Zunehmend stehen auch die in VEs involvierten Lehrpersonen im Zentrum des Forschungsinteresses, sodass VEs zum „Reflexionsraum für Sprachlehrprozesse“ (W ÜRFFEL / S CHUMACHER 2022: 144) werden. Die Perspektive der projektleitenden Lehrpersonen wurde bisher meist unter praxisrelevanten Gesichtspunkten erforscht. Diese reichen von Erfahrungsberichten (vgl. Beiträge in D OOLY / O’D OWD 2018) über Lehrendenwahrnehmungen (vgl. P ENNOCK -S PECK / C LAVEL -A RROITIA 2018) bis hin zu lehrendenseitigem interkulturellen Lernen (vgl. B ATUNAN et al. 2023). Wegweisend ist zudem das 2015 von O’D OWD entwickelte Lehrendenkompetenzmodell für Telekollaboration, welches 40 Kann-Deskriptoren in den Bereichen (A) Organisation, (B) Pädagogik, (C) digitale Kompetenz sowie (D) Einstellungen und Überzeugungen formuliert. Im Bereich A stehen dabei vor allem Aspekte der Zusammenarbeit mit den Partner-Lehrenden im Mittelpunkt, wie bspw. das effektive Aushandeln der Projektorganisation oder das Aufrechterhalten guter Arbeitsbeziehungen. Obwohl nicht explizit aufgeführt, liegt allen modellierten Kompetenzbereichen eine professionelle Reflexionskompetenz zugrunde, die individuell mittels Lehrendenlogbüchern, aber auch dialogisch mittels Duoethnografie (s. Abschnitt 4) angelegt sein kann. Die Interaktionsprozesse in einem virtuellen Austauschprojekt 29 53 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0003 Reflexion von VEs wurde bisher vornehmlich in der Sprachlehrendenausbildung untersucht. Für berufstätige Lehrpersonen in Schule und Hochschule besteht insbesondere bezüglich der dialogischen Reflexion über das VE im Allgemeinen sowie die projektbegleitenden Lehrendeninteraktionen im Besonderen eine Forschungslücke. Wir widmeten uns daher den Fragen, wie wir aus Sicht des Betreuungsteams ein VE- Projekt, insbesondere unsere Zusammenarbeit sowie die Arbeit mit den Studierenden, wahrnehmen und welche Erfahrungen wir mit der Durchführung duoethnografischer Forschung in unseren Reflexionen thematisieren. Die Daten für die vorliegende Studie entstanden im Rahmen eines VE-Projekts 1 (April-Juni 2023) zwischen TESOL- und Deutschstudierenden der Waipapa Taumata Rau/ The University of Auckland (UoA/ NZ) sowie Lehramtsstudierenden für das Fach Englisch der Universität Leipzig (UL) und der PH Ludwigsburg (PHL). Sie arbeiteten in binationalen, zwei- oder englischsprachigen Teams zusammen. Konzeptionell wurde ein aufgabenorientierter Ansatz verfolgt: Die Projektaufgabe bestand darin, dem Thema Diversität in urbanen Sprachlandschaften (linguistic landscapes) nachzugehen und damit verbundene sozio-kulturelle Praktiken vergleichend zu untersuchen. Die Projektarbeit hatte die Erstellung eines digitalen, interaktiven Lernangebots für Fremdsprachenlernende sowie die Erarbeitung einer Open Educational Resource (OER) zum Ziel, die abschließend auf einer OER-Plattform 2 der UL veröffentlicht wurde. Das Projekt sollte Studierenden fremdsprachlicher Fächer internationale Erfahrungen ermöglichen und sie in ihrer Entwicklung interkultureller, fremdsprachlicher, fremdsprachendidaktischer, digitaler sowie telekollaborativer Kompetenzen unterstützen. Die Zusammenarbeit der Projektleitenden umfasste eine Kennenlern- und Vorbereitungsphase vor Beginn des Austauschs, regelmäßige digitale Projekttreffen, E-Mail- und Messenger-Kommunikation sowie das Schreiben individueller und dialogischer Reflexionstexte. 3. Selbstpositionierung des Forschungsteams Duoethnografisch angelegte Studien beinhalten die Darlegung einer Selbstpositionierung der involvierten Forschenden (in diesem Fall das Autorinnenteam und Götz Schwab in der Doppelrolle der Forschenden und VE-Lehrpersonen). Bevor wir in Kapitel 4 ausführlich auf das methodische Vorgehen eingehen, stellen wir Auszüge aus unseren ersten Reflexionen vor dem Projektstart vor, um die kontextuelle Einbettung weiterer individueller und dialogischer Reflexionen zu ermöglichen. 3 1 Weitere Informationen zum Projekt: https: / / www.philol.uni-leipzig.de/ institut-fuer-anglistik/ forschung/ virtual-exchange-ve 2 https: / / oer.uni-leipzig.de/ ? r=1&fsubjects%5B0%5D=englisch#fjt 3 Es wird fortan auf die VE-Lehrpersonen / Forschenden mit der Nennung des ersten Buchstabens der Vornamen verwiesen. Die Datenquelle wird mit Refl. I / II oder III plus Autor/ in angeben. Dialogische Passagen, in denen auf Reflexionen der Projektpartner: innen reagiert wurde, sind kursiv und eingerückt dargestellt. 30 Christine Biebricher, Diana Feick, Petra Knorr DOI 10.24053/ FLuL-2024-0003 53 • Heft 1 C: Uns verbindet, dass wir alle aus Deutschland kommen und Deutsch als Muttersprache haben. Wir alle haben in Deutschland studiert und sind dort als Lehrer: innen ausgebildet worden. (Refl.I_Christine) D: Ich habe als einzige in der Gruppe kein Lehramtsstudium absolviert, sondern einen Magister in DaF, der zwar auch diverse Unterrichtspraktika vorsah, aber kein Referendariat, Staatsexamen etc. C: Innerhalb der Gruppe gibt es weitere Verbindungen und Schnittmengen, z.B.: Götz und Christine stammen aus Baden-Württemberg, Petra und Diana aus Sachsen. Götz und Petra arbeiten an deutschen Universitäten und mit Lehramtsstudierenden. Christine und Diana leben in Neuseeland und arbeiten an unterschiedlichen Fakultäten der gleichen Universität. D: Wir beide bilden zudem in mehr oder weniger großem Umfang zukünftige ESOL- Lehrende aus (jedoch in zwei unterschiedlichen Studiengängen). C: Götz und Christine kennen sich aus Zeiten, in denen beide an der PH Ludwigsburg gearbeitet und promoviert haben. Diana und Petra kennen sich aus der Zeit an der Universität Leipzig, wo sie beide gearbeitet und promoviert haben. Götz, Petra und Christine haben Englisch als Lehr- und Forschungsbasis, Diana Deutsch. Alle Mitglieder des Forschungsteams positionieren sich beruflich als Ausbildner: innen von Sprachlehrenden bzw. Language Teacher Educators. Dabei setzen sie zum Teil unterschiedliche Akzente, was ihre eigene Rolle betrifft: als „Facilitator / Lernpartner, der die Studierenden bei ihrer Entdeckungsreise begleitet und da unterstützt, wo es nötig ist“ (Refl.I_Götz), „als teacher educator an der Schnittstelle von Theorie und Praxis“ (Refl.I_Petra), als Lehrperson, für die „Ausbildung und Forschung in einem sich gegenseitig befruchtenden Wechselverhältnis stehen“ (Refl.I_Diana) oder als Initiatorin methodischer Experimentierfreude, „die Studierende mit anderen Methoden oder provokanten Materialien herausfordert“ (Refl.I_Christine). Bezüglich ihrer wissenschaftlichen Sozialisierung und Forschendenidentität werden unterschiedliche Arbeitsschwerpunkte deutlich, welche alle der mehrperspektivischen Beforschung von virtuellen Austauschprojekten zuträglich sind: Internationalisierung (Götz), Digitalisierung (Götz und Diana), interkulturelles Lernen (Götz, Christine) und die Lehrendenprofessionalisierung (Petra und Christine). Biographisch sind alle Teammitglieder durch mehrmalige, längere Austauscherfahrungen auch im außereuropäischen Ausland nachhaltig geprägt, welche zur eigenen Kultursensibilität und Positionierung als Ausbildner: in beigetragen haben. Aus persönlichen positiven und z.T. auch herausfordernden Erfahrungen mit Aufenthalten in anderen Ländern während der eigenen Berufs(ausbildungs)laufbahn sowie der aktuellen Berufstätigkeit im Ausland zweier Teammitglieder ergab sich die gemeinsame Motivation, virtuelle Austausche in die eigene Lehre zu implementieren. Das gemeinsame virtuelle Austauschprojekt VELLA23 entstand vor dem Hintergrund, dass Petra und Diana bereits drei VEs gemeinsam durchgeführt und begleitend erforscht hatten (vgl. F EICK / K NORR 2021a; b; 2022). Christine und Diana arbeiteten in einem Forschungsnetzwerk zusammen und konnten eine Forschungsförderung für Interaktionsprozesse in einem virtuellen Austauschprojekt 31 53 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0003 eine gemeinsame VE-basierte Studie einwerben. Christine lud Götz ins Team ein, welcher ebenfalls seit vielen Jahren zu VE arbeitet (vgl. S CHWAB / D RIXLER 2020). 4. Methodisches Vorgehen - Duoethnografie Die Duoethnografie ist ein interaktiver dialogischer Forschungsansatz, der zunächst in den Geistes- und Sozialwissenschaften an Bedeutung gewann, aber zunehmend auch in anderen Bereichen wie der Bildungsforschung sowie angewandter Sprachwissenschaft und Fremdsprachenforschung genutzt wird (vgl. z.B. B ANEGAS / G ERLACH 2021; L OWE / L AWRENCE 2020). Sie baut auf der Vorgehensweise der Autoethnografie und der narrative enquiry auf und wird teils auch als collaborative autoethnography bezeichnet (vgl. B LALOCK / A KEHI 2018). In der Fremdsprachenforschung wird Duoethnografie bislang entweder zur Unterstützung reflexiver Prozesse im Sinne des reflective practitioners genutzt (vgl. L OWE / L AWRENCE 2020) oder in Bereichen, die sich mit (Sprach)Lehrer: innen- oder Lerner: innenidentitäten befassen, verwendet (vgl. B ANEGAS / G ERLACH 2021; B IEBRICHER / Y OU 2022). In der Duoethnografie beschäftigen sich zwei oder mehrere Forscher: innen gemeinsam mit einem ihrer Erfahrungswelt entstammenden Thema. Die Forscher: innen bringen sich mit persönlichen Erfahrungen, Perspektiven und Reflexionen ein und ermöglichen somit eine vielschichtige Erfassung des jeweiligen Forschungsgegenstands (vgl. B URLEIGH / B URM 2022). In Bezug auf das zu erforschende Thema konstruieren die Forscher: innen ihre Erfahrungen narrativ und entwickeln diese im Forschungsprozess dialogisch weiter. Forscher: innen sind in der Duoethnografie so gleichzeitig Forschende und Beforschte (vgl. N ORRIS / S AWYER 2012). Der Forschungsansatz erweitert existierende qualitative Forschungsmethoden und Teilnehmer: innen „use themselves to assist themselves and others in better understanding the phenomenon under investigation“ (N ORRIS / S AWYER 2012: 13). Duoethnografie ist eine flexible, methodenplurale und kontextgebundene Forschungsstrategie. Kritische Selbstreflexion, Subjektivität und dialogisches Vorgehen sind entscheidende Bestandteile des Forschungsansatzes. Individuelle Sichtweisen, die möglicherweise auch gegensätzlich sein können, stehen im Mittelpunkt und tragen zur Vielschichtigkeit des dargestellten Phänomens bei (vgl. B URLEIGH / B URM 2022). Weitere wichtige Grundsätze der Duoethnografie sind gegenseitiges Vertrauen der Beteiligten und Respekt füreinander. Kritische Selbstreflexion kann nur stattfinden, wenn sich die Beteiligten vertrauen und bereit sind, sich in ihren Reflexionen zu öffnen. Die Methoden der Datenerhebung und -analyse in der Duoethnografie sind unterschiedlich und folgen häufig (auto-)ethnografischen Forschungsprinzipien, wie beispielsweise der Selbstpositionierung der Forschenden, der kritischen Reflexivität und einem Fokus auf persönlichen Erfahrungen (L OWE / L AWRENCE 2020). Obwohl in der Duoethnografie, ähnlich wie bei anderer qualitativer Forschung, Daten auf herausragende Themen, interessante oder unerwartete Inhalte hin untersucht werden, gibt es keine präskriptiven Vorgaben zur Datenauswertung und es findet sich häufig der 32 Christine Biebricher, Diana Feick, Petra Knorr DOI 10.24053/ FLuL-2024-0003 53 • Heft 1 Begriff der ‚Sinngebung‘ (meaning making) statt der der Datenanalyse (B URLEIGH / B URM , 2022). Jegliche Analyse beruht jedoch stets auf dialogischen Verfahren und Diskussionen, aus denen sich im gemeinschaftlichen Diskurs thematische Fokusse entwickeln (L OWE / L AWRENCE 2020). In unserer Studie erstreckte sich der dialogische Prozess der Datenerhebung insgesamt über neun Monate. Primäre Datenquelle waren unsere schriftlichen narrativen Reflexionen, die durch Dialoge der virtuellen Treffen ergänzt wurden. Wir kamen im Vorfeld des Projekts dreimal im Abstand von vier bis sechs Wochen zusammen und trafen uns dreimal während des Projekts im Abstand von ungefähr vier Wochen. Inhalte dieser virtuellen Treffen waren Fragen zur Projektplanung und -durchführung, Feedback zum Verlauf in den einzelnen Kursen und Diskussionen zum Umgang mit Herausforderungen und Schwierigkeiten. Die Reflexionstexte, die durch ihren dialogischen Charakter auch konzeptionell mündliche Elemente enthalten, erfassten wir zu drei verschiedenen Zeitpunkten: in der Planungsphase, während des VEs und nach Abschluss des Projekts. Geleitet wurden unsere jeweiligen Reflexionen durch schriftliche Impulse einer der Verfasserinnen 4 . Hierdurch waren verschriftlichte Themen bereits vorstrukturiert, obwohl die Möglichkeit bestand, Gedanken und Themen jenseits der vorgeschlagenen Impulse anzusprechen. Wir verständigten uns darauf, dass wir idealerweise mehrere Einträge während einer Reflexionsphase verfassten, um kontinuierlich zu kommentieren und zu reflektieren. Wie oft und in welchem Umfang wir unsere Eindrücke verschriftlichten, war jedoch jedem/ r selbst überlassen. Jede Reflexion wurde nach individueller Fertigstellung, aber spätestens an einem zuvor festgelegten Zeitpunkt auf unsere gemeinsame Plattform geladen. So entstanden 12 unterschiedlich strukturierte dialogische Reflexionen von je 1300 - 6200 Wörtern Länge. In einem folgenden Schritt lasen wir alle unsere Reflexionen und ergänzten entweder unsere eigenen Texte mit Zusätzen wie beispielsweise, „Christines Darstellung ihres Werdegangs erinnerte mich daran, dass…“ oder kommentierten, wie im folgenden Ausschnitt zu sehen ist, direkt in die Reflexionen anderer: C: Vielleicht hätten wir auch mehr Zeit auf die Diskussion zu Diversität verwenden sollen. Ich hatte angenommen, dass dies ein Konzept ist, mit dem sich Studierende bereits beschäftigt haben […]. Bei Diskussionen hat sich rausgestellt, dass doch recht unklar ist, was damit gemeint ist. Eine intensivere Diskussion mit allen in einer weiteren synchronen Sitzung wäre vielleicht gut gewesen. Aber das ist natürlich ein Balanceakt, da wir die Teilnehmerinnen nicht mit zu vielen synchronen zusätzlichen Sitzungen überfordern wollten. (Refl.III_Christine) 4 Impulse Reflexion I: Selbstverständnis als Betreuende des VE, Erwartungen, Herausforderungen, Wahrnehmung der Methode der Duoethnografie, Impulse Reflexion II: Eindrücken zum laufenden VE, zum Begleitendenteam, eigene Befindlichkeit während des Projekts, Potentiale und Herausforderungen durch das schriftliche Reflektieren, Impulse Reflexion III: Bilanz bezüglich des VEs, überraschende Entwicklungen, Eindruck zur Methode. Interaktionsprozesse in einem virtuellen Austauschprojekt 33 53 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0003 G: So ging es mir auch. Im Nachhinein denke ich, dass wir eigentlich einen Anschlusskurs zum Thema Diversity anbieten müssten, in dem wir genau diese ganzen Punkte vertieft aufgreifen - basierend auf dem, was die Studierenden herausgearbeitet haben. D: Ich fand es aber auch spannend so einem mehr oder weniger unbekannten Thema ganz bottom-up zu begegnen, also über die Exploration im eigenen Umfeld und den Austausch darüber erst die Augen dafür zu öffnen. […] Die Aha-Effekte entstehen denke ich eher im explorierenden Handeln bei solchen Projekten, aber Vertiefung als followup finde ich auch eine gute Idee. P: Ich finde aber auch, wie Christine, dass eine Rahmung zu Beginn wichtig ist, um neben den anderen Hürden (Tools, Kollaboration, …) inhaltlich zu motivieren. Sie müssten wissen, mit welcher Brille sie explorieren sollen, um sich nicht verloren zu fühlen. Rückmeldungen, Kommentare und schriftliche Dialoge wurden Teil des sich verändernden Datensatzes und zeigen den iterativen Charakter der Methode. Nachdem alle Reflexionen in den drei Phasen verfasst, gelesen und kommentiert waren, lasen wir alle erneut die Gesamtheit des entstandenen Datensatzes und begannen zunächst individuell die Daten auszuwerten und inhaltlich zu kodieren. Im Anschluss teilten wir unsere Datenanalyse miteinander und diskutierten die entstandenen Themen in einem weiteren virtuellen Treffen. In diesem handelten wir aus, welche Schwerpunkte sich durch unsere Reflexionen ergaben und welche Aspekte wir in welcher Form vorstellen möchten. 5. Ergebnisse der dialogischen Reflexionen Im Folgenden stellen wir ausgewählte Themen vor, die sich aus der Analyse unserer Reflexionen ergaben und sich für unseren Forschungsfokus als zentral erwiesen. Sie befassen sich mit Aspekten unserer Zusammenarbeit als Projektleitende, mit unserer Arbeit mit Studierenden und mit unseren Überlegungen zur Methode der Duoethnografie. 5.1 Zusammenarbeit der Projektleitenden Als zentrale Themen innerhalb der Reflexionen zur Zusammenarbeit des Projektteams erwiesen sich die Arbeitsatmosphäre, Arbeitsstile, Verantwortung sowie Zeitmanagement. Von Anfang an heben alle Teammitglieder die äußerst positive Arbeitsatmosphäre, das gegenseitig entgegengebrachte Vertrauen und die dadurch gut funktionierende Zusammenarbeit hervor. Diese Wahrnehmung erstreckt sich über den gesamten Projektverlauf, d.h. sie wird in der zweiten Reflexion wieder aufgegriffen und bestätigt sowie auch nach Projektende rückblickend manifestiert. Es wird reflektiert, dass die gute Zusammenarbeit vermutlich auch auf unseren gemeinsamen kultu- 34 Christine Biebricher, Diana Feick, Petra Knorr DOI 10.24053/ FLuL-2024-0003 53 • Heft 1 rellen Hintergrund zurückgeführt werden kann, welcher für multinationale VE- Projekte sonst eher unüblich ist. Bezüglich der individuellen Arbeitsweisen innerhalb der Kooperation im Team zeigten die Reflexionen auch selbstwahrgenommene Unterschiede im Arbeitsstil und der Entscheidungsfindung, welche dennoch das erfolgreiche Lösen von auftretenden Problemen im Projektverlauf nicht behinderten: G: Dennoch merke ich auch, dass ich im Gegensatz zu den anderen nicht immer so schnell auf Schwierigkeiten und Anfragen der Studierenden reagiere. Das liegt z.T. an der Zeit, aber wohl auch an unseren unterschiedlichen Arbeitsweisen. (Refl.II_Götz) D: Ja, gerade wenn es darum ging, Probleme schnell lösen zu müssen, war ich öfters mal in der Zwickmühle erst alle Reaktionen des Teams abzuwarten oder aus Zeitgründen eine Entscheidung (hoffentlich) im Sinne aller allein zu treffen. Grundsätzlich denke ich, dass ich das Vertrauen dafür von allen gehabt hätte, aber es war mir prinzipiell wichtiger, einen Konsens herzustellen als im Alleingang zu handeln, auch wenn das den Arbeitsprozess natürlich insgesamt verzögert hat. Die persönlichen Präferenzen und die Praktikabilität der Arbeitsstile (z.B. vorausschauendes Planen und reaktives Problemlösen), u.a. in der Kommunikation mit den Studierenden, sind sicherlich auch auf die kontextuellen Gegebenheiten und die institutionell verankerten Erwartungen an die Lehrkräfte zurückzuführen. Damit einher geht der Faktor Zeitmanagement. In den Reflexionen wurde ersichtlich, dass wir unterschiedlich viel Zeit in das Projekt investieren konnten, eine zunehmende zeitliche Belastung verspürten und z.T. auch an das Limit des Machbaren stießen. Im Hinblick auf das Thema Verantwortung wurde deutlich, dass wir uns besonders für unsere eigenen Studierendengruppen und deren jeweilige Herausforderungen zuständig sowie dem Team gegenüber dafür verantwortlich fühlten: C: Wenn sich meine Studierenden nicht melden, stelle ich fest, dass ich mich dafür verantwortlich fühle, was streng genommen nicht stimmt, ist aber so. (Refl.II_Christine) D: Ja, geht mir ganz genauso. Dies ist gekoppelt an die Wahrnehmung eines gewissen Drucks oder einer Art Bringschuld jedes/ r einzelnen gegenüber dem Team, dass die eigenen Studierenden zum Projekterfolg beitragen. Die Identifikation mit und Betreuung der eigenen Lernendengruppe stellt somit einen nicht zu unterschätzenden Einflussfaktor auf die Zusammenarbeit im Projektteam dar, da wir dazu tendierten, den z.T. als hoch empfundenen Erwartungen unserer Studierenden Rechnung zu tragen. Vor diesem Hintergrund artikulierte Petra (in Refl. II_Christine) deshalb den Bedarf, von Anfang an das gemeinsame Gruppengefühl auch auf Dozent: innenseite und in Hinblick auf die anderen Projektgruppen systematisch auszubauen und zu stärken. Interaktionsprozesse in einem virtuellen Austauschprojekt 35 53 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0003 5.2 Arbeit mit den Studierenden Die Reflexionsimpulse richteten das Augenmerk neben dem Fokus auf die Zusammenarbeit der Projektleitenden auch auf die Arbeit mit den Studierenden. Themen, die für alle Teammitglieder Anlass zu intensiverer Reflexion boten, waren die Projektprodukte, die gestellten Aufgaben und die Unterstützung der Studierenden bei der kollaborativen Projektarbeit. Die von den Studierendenteams erstellten Produkte erfüllten zu einem Großteil unsere Erwartungen und übertrafen sie sogar bisweilen: „Es hat mich überrascht, welche kreativen und hochwertigen Produkte viele Studis erstellt haben und wie viel Fleiß und Knowhow in viele der Aktivitäten geflossen ist, z.B. der Escape Room.“ (Refl.III_Diana). Neben diesen positiven Erfahrungen wurden während des Projektverlaufs ebenso diverse Herausforderungen wahrgenommen. Diese unterschieden sich je nach Studierendengruppe. Diana und Christine thematisierten Schwierigkeiten in ihren Gruppen in Bezug auf die Erstellung eines interaktiven (didaktisierten) Projektprodukts, was sie in der relativ großen Offenheit der Aufgabe begründet sahen (Refl.III_Diana, Refl.II_Christine). Alle Teammitglieder berichteten zudem über wiederholte Nachfragen der Projektteilnehmenden zum Aufgabenverständnis. So schildert Götz z.B., dass es ihn verwundere, „wie viele Fragen von Studierendenseite aufkamen, obwohl m.E. die Vorbereitung sehr gut und durchdacht war“ (Refl.III_Götz). Gerade aufgrund der Erfahrungen und bereits erstellter und erprobter Dokumente sowie der Lernplattform aus Vorgängerprojekten gingen wir davon aus, dass Anforderungen umfassend, klar und ausreichend veranschaulicht wurden. P: Diesen Eindruck scheinen einige Studierende nicht zu teilen. Woher rührt diese Diskrepanz? […] Vielleicht müsste man sich auch die Zeit nehmen, zu Beginn des Projekts über die Spezifika einer komplexen Projektarbeit zu sprechen, zu der es ja auch gehört, sich eigenverantwortlich zu informieren und zu organisieren. Vielleicht liegt es auch an der generellen Informationsflut, mit der alle konfrontiert sind, die dazu führt, dass Texte nur noch überflogen werden. (Refl.III_Petra) G: M.E. liegt es auch (oder vor allem? ) an den zwei Gruppen, mono- und bilingual. Gefühlt hatte sich dadurch die Menge der Informationen verdoppelt. Finde ich aber im Nachhinein gar nicht so tragisch. Das Leben ist leider recht komplex … gerade auch im interkulturellen Kontext. Auch die anderen Teammitglieder stimmten zu, dass aufgrund dieser Schwierigkeiten die Treffen mit den einzelnen Gruppen vor Ort äußerst wichtig waren, um offene Fragen zu klären (Refl.II_Christine, Refl.III_Diana, Refl.III_Götz). Aufgrund der Erfahrungen aus anderen VE-Projekten stellte Petra die Überlegung an, ob diese Art der Unsicherheit Teil komplexer Projekte ist, die alle aushalten müssen. Auch Christine argumentierte ähnlich: „Es scheint, nicht alle Schritte waren allen in vollem Umfang klar; das überrascht mich nicht, es war ein ziemlich komplexes Projekt mit vielen kleinen Schritten und Arbeitsaufgaben“ (Refl.III_Christine). Wie auch Götz (s. oben), führten die anderen Projektleitenden die Komplexität der Aufgabenstruktur u.a. auch auf die Integration von zwei Studienfächern zurück (DaF sowie TESOL/ TEFL) 36 Christine Biebricher, Diana Feick, Petra Knorr DOI 10.24053/ FLuL-2024-0003 53 • Heft 1 (Refl.I_Christine, Refl.III_Diana, Refl.III_Petra). Eine weitere Schwierigkeit stellte der eng gesteckte zeitliche Rahmen dar, der jedoch durch die unterschiedliche Struktur des akademischen Jahres beider Länder nicht zu vermeiden war. Eine weitere Relevanzsetzung erfuhr das Thema der optimalen Unterstützung der Studierenden seitens der Projektleitenden, insbesondere in Bezug auf wahrgenommene Schwierigkeiten sowie die Heterogenität der Projektgruppen. In den Reflexionstexten kommt es wiederholt zu Aushandlungsprozessen darüber, wie die kollaborativen Arbeitsprozesse der Studierenden vorstrukturiert, angeleitet und unterstützt, oder inwiefern Leerstellen bewusst zugelassen und eingeplant werden. Das Datenbeispiel in Kapitel 4 verdeutlicht einen solchen Aushandlungsprozess, der sich auf die Unterstützung der Studierenden zum Thema Diversität bezog. Ähnliche Überlegungen und Dialoge ergaben sich in Bezug auf das Für und Wider hinsichtlich der Arbeit mit konkreten Beispielen von Projektergebnissen, das Vorschlagen bzw. Vorgeben ausgewählter digitaler Anwendungen für die Produkterstellung oder die Unterstützung in didaktischer Hinsicht bei der Erstellung der OERs. Dabei zeigte sich, dass die Studierendengruppen sich z.T. stark voneinander unterschieden und die Herausforderung darin bestand, sie jeweils gemäß ihrer (didaktischen, sprachlichen oder digitalen) Voraussetzungen, ihres Weltwissens oder ihrer individuellen Bedürfnisse (kulturell geprägte Arbeitsstile, Vorerfahrungen) optimal zu unterstützen. P: Die etwas offenere Arbeit in Projekten müsste unseren Studierenden bekannt sein, für die TESOL Studierenden ist dies vielleicht neu. Auch inhaltlich sind unsere Studierenden mit gewissen Konzepten (e.g. diversity) und Arbeitsweisen (e.g. self-directed learning, critical reflection) bereits vertraut. Ich kann nicht einschätzen, ob dies auch bei den TESOL Studierenden der Fall ist. In den Treffen mit den Studierenden in Leipzig wurde viel über die Aufgabenstellungen diskutiert. Sehr gern hätten sie mit konkreten Beispielen gearbeitet. Andererseits wurde auch berichtet, dass sie die Offenheit schätzen würden. Vielleicht ist dies auch von Person zu Person unterschiedlich. (Refl.III_Petra) Lösungsansätze im Umgang mit der Heterogenität der Teilnehmenden waren z.B. ein stärker exemplarisches Vorgehen, die Erarbeitung einer FAQ-Liste, das Anregen von peer-scaffolding oder auch die Anpassung der Ansprüche an Projektprodukte. In Bezug auf die sehr stark variierenden digitalen Kompetenzen fragte Götz, ob „wir den Studierenden mehr Zeit einräumen [müssten], dass sie sich gegenseitig ‚schulen‘ und sie selbst noch mehr explorativ vorgehen können.“ (in Refl.III_Christine). Diana überlegte, ob „wir mehr support [hätten] anbieten sollen, evtl. auch durch die Projektassistentin bzw. in Austauschforen unter Studis, die einige Tools schon besser kannten“ (in Refl.III_Christine). Das Reflektieren über verschiedene Lösungsansätze führte auch dazu, sich über eigene Bedürfnisse und Sichtweisen in Bezug auf die Rolle der Projektleitenden in einem VE bewusst zu werden und sie gegebenenfalls kritisch zu reflektieren. Petra stellte sich diesbezüglich z.B. die Frage „inwiefern wir selbst Offenheit aushalten und mehr Verantwortung abgeben sollten, um Kreativität und Reflektiertheit zu fördern“ (Refl.III_Petra), während Götz sich klar für „mehr Verantwortung auf Seiten der Studierenden“, „nicht so schnell auf Anfragen der Studierenden reagieren“ und „erst einmal abwarten“ (Refl.II_Götz) positionierte, und ihn seine Interaktionsprozesse in einem virtuellen Austauschprojekt 37 53 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0003 Studierenden „in ihrer Kreativität und (z.T.) Reflektivität nicht enttäuscht, sondern eher positiv überrascht [haben]“ (Götz in Refl.III_Petra). Hier zeigen sich Unterschiede in der Arbeitsweise (s. Kap. 5.1) oder den Ansprüchen der VE-Partner: innen, wobei das Erfahren alternativer Vorgehensweisen und Einstellungen Prozesse konstruktiver Selbstreflexion in Gang setzte. Ein wichtiger Aspekt in Hinblick auf eine optimale Unterstützung der Studierenden ist den Reflexionen zufolge auch die sich im Projektverlauf entwickelnde Beziehung zu den Projektteilnehmenden. Nachdem wir zu Beginn gespannt waren, wie die Studierenden auf ihre Partner: innen und die Projektaufgaben reagieren, dachten wir in späteren Texten gemeinsam darüber nach, „ob durch dieses intensive Projekt auch unsere Beziehungen zu den Studis intensiver sind als in herkömmlichen Kursen, z.B. dass wir sie ganzheitlicher mit ihren Problemen, Lebensrealitäten und Einstellungen kennenlernen“ (Diana in Refl.II_Christine). Christine resümierte: C: Ich glaube, dass ich auf jeden Fall ein etwas engeres Verhältnis zu dieser Gruppe habe. Das zeigt sich auch in unseren regelmäßigen Sitzungen, in denen die Gruppe immer offener wird, auch mal über Privates gesprochen wird, kleine Witze gemacht werden, etc. (Refl.II_Christine) Auch Petra berichtete, dass sich in ihren Gruppentreffen eine Entwicklung von einer anfänglich „sehr kritischen Anspruchshaltung“ hin zu konstruktiven gemeinsamen Gesprächen über Gelingensbedingungen für VE gezeigt hätte. Es kam auch wiederholt die Idee auf, noch stärker mit den anderen Gruppen in Verbindung zu treten. Da das Projekt vor allem Tandemcharakter hatte, waren nur drei gemeinsame Treffen vorgesehen. Gerade auch vor dem Hintergrund auftauchender Probleme mit einzelnen Kollaborationen oder in Hinblick auf die Kommunikation von Anforderungen an eine Gruppe, stellten wir fest, dass es gut gewesen wäre, als Projektleitende die anderen Gruppen besser kennenzulernen: P: Vielleicht wäre ein direkterer Austausch hier auch für mich gut, um mich auch in meine Studierenden besser eindenken zu können. Wäre z.B. mal ein online team teaching mit Christine sinnvoll gewesen? (Es wäre auch interessant gewesen, mehr Kontakt nach Ludwigsburg zu haben.) Auch von den Studierenden kam die Frage, ob wir da in einen Austausch kommen würden. (Refl.II_Petra) Da wir uns vor allem für unsere eigenen Studierendengruppen verantwortlich fühlten (s. Kapitel 5.1), diese auch am besten kannten, jedoch wenig von den anderen Projektgruppen im VE wussten, wäre es vermutlich zuträglich, auch in den Partnerinstitutionen in einzelnen Sitzungen aufzutreten, sich vorzustellen oder Inhalte zu übernehmen. Dies würde es nicht nur ermöglichen, alle Studierenden besser kennenzulernen, sondern würde der Studierendengruppe auch die Zusammengehörigkeit des Betreuendenteams zeigen, die wiederum Inhalte auf gleiche Weise in allen Gruppen vermitteln könnten. 38 Christine Biebricher, Diana Feick, Petra Knorr DOI 10.24053/ FLuL-2024-0003 53 • Heft 1 5.3 Das duoethnografische Vorgehen In allen drei Phasen der schriftlichen Reflexion setzten sich die Teammitglieder mit der gewählten Methode der Duoethnografie auseinander, wobei sich über die Dauer des Projekts hinweg folgende Themen herauskristallisierten: a) der zeitliche Aufwand, b) die möglichen Formate der Methode und c) gegenseitiges Vertrauen und Offenheit als Voraussetzung. Wie sich der zeitliche Aufwand schon bei der Durchführung des VE für das Team als Herausforderung darstellte, galt dies auch für die Erstellung der dialogischen Reflexionen, sodass beispielsweise „obwohl geplant, keine Zeit blieb regelmäßig zu schreiben“ (Refl.II_Diana). Petra stimmte zu, dass regelmäßiges, tagebuchartiges Schreiben sinnvoll wäre, aber dass auch sie „nicht dazu gekommen [ist]“ (Refl.II_ Petra). In Verbindung mit dem zeitlichen Aufwand, Gedanken und Gefühle zu verschriftlichen, reflektierte das Team auch darüber, ob möglicherweise andere Vorgehensweisen denkbar wären. Die Stütze und Vorstrukturierung durch Prompts wurde von allen als hilfreich empfunden, die aber durch unstrukturiertes, notizartiges Schreiben ergänzt werden könnten, wie Diana und Petra vorschlugen (Refl.II_Petra, Refl.III_ Diana), da Eindrücke sonst schnell von Neuem überlagert oder ganz vergessen werden können (Refl.II_Petra). Grundsätzlich überlegten Diana, Götz und Petra, ob die schriftlichen Reflexionen nicht durch gemeinsame Gespräche ergänzt oder ersetzt werden könnten: G: Manchmal habe ich mir gewünscht, dass wir die Fragen und Aufgaben direkt in gemeinsamen Gesprächen in der Gruppe oder mit einzelnen Partnern hätten diskutieren und bearbeiten können. (Refl.III_Götz) Dieser Aspekt findet sich in Christines Reflexionen nicht und sie hebt eher die Vorteile einer schriftlichen Reflexion hervor, da ihr „im Schreibprozess oft auch einige Gedanken, Gefühle, Herausforderungen, etc. erst bewusstwerden“ (Refl.II_Christine), die sie spontan im Gespräch vielleicht nicht angesprochen hätte. Trotz der dialogischen Auseinandersetzung mit anderen Reflexionsformaten findet sich in allen individuellen Reflexionen auch Wertschätzung des schriftlichen Formats, das ermöglicht, Gedanken zu vertiefen, offener und ehrlicher zu sein (Refl.II_Petra, Refl.II_ Götz, Refl.III_Christine, Refl.III_Diana) und ein detailliertes Bild der Eindrücke im Projektverlauf vermitteln zu können (Refl. III_ Petra). Ein wichtiger Aspekt, der in allen drei Reflexionen auftaucht, ist die Tatsache, dass die Methode gegenseitiges Vertrauen voraussetzt. Wie Götz anmerkte, gab es auch in anderen VE-Projekten Überlegungen zur kollaborativen Reflexion, die möglicherweise jedoch nicht stattfanden, da dies zu persönlich war (Refl.I_Götz). Auch Diana und Christine waren sich sehr bewusst darüber, dass die Methode persönliche Öffnung erfordert. So stellte Christine fest, dass man „sich in den Reflexionen angreifbar und verletzbar [macht]“ (Refl.III_Christine) und Diana fragte sich, „wieviel Persönliches man preisgibt oder ob man das später bedauert“ (Refl.I_Diana). Das Team war sich Interaktionsprozesse in einem virtuellen Austauschprojekt 39 53 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0003 ebenfalls bewusst, dass die Reflexionen die Beziehung zu anderen im Team beeinflussen könnten und dass wir möglicherweise bereits „im Kopf Kategorien bilde[n]“ (Refl.III_Petra) und vorstrukturieren, was wir niederschreiben. Während des Schreibprozesses mussten wir daher stets die Balance zwischen persönlicher Öffnung und dem Wissen finden, dass unsere Reflexionen auch von anderen gelesen werden. Die Methode erfordert jedoch nicht nur Vertrauen im Team, sondern auch Vertrauen in die weitere Öffentlichkeit und in die Leserschaft einer Publikation, die Informationen, Gedanken und Eindrücke des Forschungsteams in den Mittelpunkt rückt. Forschungsdaten sind üblicherweise ano- oder pseudonymisiert, während in unserem Datensatz klar zu erkennen ist, wem eine Aussage zugeordnet werden kann. So bedarf es auch während des Schreibens des vorliegenden Textes der stetigen Kollaboration, in der wir „gemeinsam entscheiden, was wir gewillt sind mit der Öffentlichkeit zu teilen“ (Refl. III_Christine). 6. Fazit Die Ergebnisse unserer duoethnografischen Studie konnten bestätigen, dass die Kompetenz VEs erfolgreich zu organisieren, eine effektive Zusammenarbeit der Projektleitenden (vgl. Kompetenz A4 nach O’D OWD 2015) zur Basis hat und dabei gute Arbeitsbeziehungen im Projektverlauf aufrechterhalten werden müssen (ebd. A6), welche mit einer Offenheit gegenüber den pädagogischen Überzeugungen der Partner: innen einhergehen (ebd. D2). Gerade in komplexen Projekten mit mehreren Partnerinstitutionen ist hierfür ein hochfrequenter Austausch nötig, der z.B. auch in Form duoethnografischer dialogischer Reflexion stattfinden kann. Setzt man unsere Befunde weiterführend mit dem Lehrendenkompetenzmodell für Telekollaboration (O’D OWD 2015) in Beziehung, erscheint uns diese Reflexionsbereitschaft als zentral (Bereich B / attitudes and beliefs). Das Modell könnte durch folgenden Zusatz ergänzt werden: „The teachers’ willingness to reflect dialogically and systematically throughout the project to enhance the overall project success“. Als ebenso bedeutsam erachten wir das Aushandeln von Verantwortlichkeiten vor oder während des Prozesses der gemeinsamen Projektleitung und schlagen folgenden Zusatz vor: „Negotiate effectively the responsibilities of the partner-teachers and the procedures for decisionmaking within the team“. In Bezug auf Aufgabenstruktur und optimale Unterstützung der Teilnehmenden zeigte sich in unseren Reflexionen, dass verschiedene Studierendengruppen aufgrund institutioneller Regelungen und sozio-kultureller Hintergründe mehr oder weniger kleinschrittig unterstützt werden müssen, während andere Gruppen von einem autonomieförderlichen Betreuungsansatz profitieren. Aufgrund dessen erscheint es bedeutsam, dass das jeweils betreuende Teammitglied dies individuell einschätzt und die Betreuung entsprechend anpasst. Auch im Spannungsfeld von Aufgabenkomplexität (vgl. O’D OWD / W ARE 2009) auf der einen und passendem Scaffolding auf der anderen Seite gilt es zielgruppespezifisch zu handeln, wobei die Aufgabenstruktur 40 Christine Biebricher, Diana Feick, Petra Knorr DOI 10.24053/ FLuL-2024-0003 53 • Heft 1 aufgrund des kollaborativen Aspekts der Projektarbeit im Idealfall gleich ist, während Unterstützungsangebote an die Bedürfnisse, Voraussetzungen und Kompetenzen der Studierenden angepasst werden sollten. Dies setzt voraus, die Teilnehmenden gut zu kennen. Gerade das projektbasierte Arbeiten im VE hat hier gezeigt, dass die (relative) Offenheit der Aufgaben und der Austausch auf persönlicher Ebene dazu führen (können), dass sich die Teilnehmenden gegenüber den Projektleitenden, aber auch untereinander stärker öffnen. Dies erscheint uns gerade vor dem Hintergrund motivationaler Aspekte sowie potenzieller Schwierigkeiten sehr bedeutsam. In Bezug auf letztere kann die lokale Kleingruppe, aber auch die gesamte Projektgruppe eine zusätzliche unterstützende Rolle einnehmen. Das Gruppengefüge auf Mikro- und Makroebene sollte daher im Fokus der Betreuenden einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Im Bereich B des telekollaborativen Kompetenzmodells (Pädagogische Kompetenz) von O’Dowd (2015) hat sich daher aus unserer Sicht folgende Fähigkeit als ergänzenswert erwiesen: „to foster a group identity built on trusting and understanding relationships between students and teachers“. In Bezug auf die verwendete Methode der Duoethnografie lässt sich festhalten, dass sie die Gestalt der gewonnenen Daten und die daraus ermittelten Erkenntnisse stark beeinflusst hat. Die Ausführlichkeit unserer schriftlichen Reflexionen und die dialogische Auseinandersetzung damit ermöglichte es uns, tiefere Einsichten in die Gedanken und Befindlichkeiten des Teams zu erlangen, die uns sonst verborgen geblieben wären, da sich Themen erst durch duoethnografisches Schreiben herauskristallisiert haben. Da die Methode selbst ebenfalls Gegenstand unserer Reflexionen war, lassen sich daraus auch Implikationen zu deren Einsatz ableiten. Grundsätzlich für jedes Team, das kollaborativ in einem VE zusammenarbeitet, aber insbesondere für Teams, die die Duoethnografie in einem VE nutzen möchten, ist es empfehlenswert, sich bereits im Vorfeld des Projekts besser kennenzulernen, evtl. über Audio- oder Videoaufnahmen, um so bereits Vertrautheit miteinander fördern zu können. Schriftliche, durch Prompts vorstrukturierte Reflexionen erwiesen sich für uns als sinnvoll, doch ließen diese sich gleichzeitig durch regelmäßige und unstrukturierte Tagebucheinträge ergänzen. Das Verfassen von Notizen oder die Erstellung von Audio-Dateien im Anschluss an Veranstaltungen mit Studierenden würden es ermöglichen, Eindrücke festzuhalten, die später weiter reflektiert werden könnten. Idealerweise werden schriftliche Reflexionen mit mündlichen Diskussionen und Dialogen ergänzt, die sich nicht nur, wie in unserem Fall, überwiegend auf Organisatorisches beziehen, sondern ebenfalls Prompts zur eigenen Reflexion im Dialog diskutieren. Eine kontinuierliche projektbegleitende dialogische Reflexion wie in der vorliegenden Studie mit Mitteln der Duoethnografie umgesetzt, erscheint dabei als geeignetes Instrument diese Prozesse zu initiieren und aufrechtzuerhalten sowie zu einer professionellen Reflexionskompetenz im Rahmen von VEs beizutragen. 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