Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2024-0012
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2024
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Gnutzmann Küster SchrammAnika FREESE, Oliver Niels VÖLKEL (Hrsg.): Gender_Vielfalt_Sexualität(en) im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. München: iudicium 2022, 237 Seiten [30,00 € und Open Access]
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2024
Thorsten Merse
flul5310148
148 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2024-0012 53 • Heft 1 Anika F REESE , Oliver Niels V ÖLKEL (Hrsg.): Gender_Vielfalt_Sexualität(en) im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. München: iudicium 2022, 237 Seiten [30,00 € und Open Access]. Die unterrichtliche Thematisierung geschlechtlicher und sexueller Identitätsdiversität wird seit geraumer Zeit nicht nur durch Lehrpläne und Bildungsrichtlinien eingefordert. Zunehmende Aufmerksamkeit erfährt sie auch in allgemeinpädagogischen und fachdidaktischen Forschungs- und Praxisdiskursen, was oftmals durch fundierte Rückgriffe auf Gender- und Queer-Theorien gerahmt wird. Für die Englischdidaktik ist dieser Diskurs sowohl international als auch im deutschsprachigen Raum spätestens seit Ende der 1990er Jahre und verstärkt seit den 2010ern etabliert. Umso erfreulicher ist es, dass nun durch F REESE und V ÖLKEL erstmalig für den Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (DaF/ DaZ) eine umfassende Herausgeberschaft mit insgesamt 14 Fachbeiträgen und einer Einführung zu diesem Thema vorgelegt wird. Nicht weniger als einen inhaltlichen Lückenschluss in Forschung, Lehre und Unterrichtspraxis versprechen F REESE und V ÖLKEL : „Der vorliegende Band ist der erste, der sich explizit mit Gender und seinen Verknüpfungen mit Sexualität(en) und anderen Differenzlinien im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache beschäftigt“ (S. 11). Der Anspruch und die Zielperspektiven dieses Bandes sind folglich ambitioniert formuliert. Dabei spiegelt sich dieser Anspruch in dem vielleicht etwas ungewöhnlichen, aber klug gewählten Titel wider: Gender_Vielfalt_Sexualität(en). Die Beschäftigung mit Gender ist der klar artikulierte Ausgangspunkt für den Band, von wo aus sich Verknüpfungen mit verschiedenen sexuellen Identitäten, heteronormativen Setzungen sowie weiteren soziokulturellen Differenzlinien ergeben. In der kurzen Einführung von F REESE und V ÖLKEL führt dies dazu, dass sie sich dem Themenkomplex vor allem aus der Perspektive von Gender(debatten) und den Gender Studies nähern - und weniger aus den sich hier ebenfalls anbietenden Queer Studies oder kritischen poststrukturalistischen Differenztheorien. Die Einführung von F REESE und V ÖLKEL hat folglich insgesamt einen eher moderierenden Charakter; ein für die Herausgeberschaft leitendes Konzept zur Verankerung dieser Aspekte in die Lehre und Forschung von DaF/ DaZ wird nicht vorgelegt. Diese Aufgabe erfüllen aber konzeptuell ausgerichtete Beiträge, die später im Band noch folgen. Sehr überzeugend ist hingegen die umfassende Legitimierung, die hier erarbeitet wird. Die Entwicklung kommunikativer und interkultureller Kompetenzen sei ohne Bezüge zu den wirkmächtigen Identitätskategorien Gender und Sexualität kaum mehr denkbar, v.a. wenn sie mit einer klaren Positionierung für Persönlichkeitsbildung und ästhetisches Lernen im DaF/ DaZ-Unterricht einhergeht. Weitere Gründe für die Thematisierung von Gender und Sexualitäten finden sich zudem in bildungspolitischen Dokumenten. Offen bleibe aber vor dem Hintergrund dieser curricularen Forderungen - und hier ergeben sich weitere Lücken, die der Band schließt - wie Lehrkräfte professionell mit Aspekten von Gender, sexuellen Identitäten und Vielfalt umgehen können. Zur Erarbeitung des breiten Horizonts des Bandes bieten die Einzelbeiträge jeweils ganz eigene Schwerpunktsetzungen an. Es liegt dabei in der Natur der Sache, dass nicht jedes Kapitel alle denkbaren thematischen Perspektiven vollumfassend verknüpfen kann, sondern ausgewählte Aspekte, Unterrichtskontexte und Bildungspraktiken zum Spektrum aus Gender, Sexualität(en) und intersektionaler Diversität fokussieren muss. Ins Auge fällt, dass den Lesenden die verschiedenen Beiträge in keiner explizit angelegten, ausdifferenzierten Binnenstruktur angeboten werden, welche die Kapitel inhaltlich gruppiert, sondern in einer eher lose-eklektisch angelegten Reihenfolge, in der man sich zunächst abhängig vom Leseinteresse selbst orientieren muss. Dennoch ergeben sich im Gesamtblick der Beiträge folgende inhaltliche Cluster, auch wenn hier nicht auf alle Beiträge im Einzelnen eingegangen werden kann: Besprechungen 149 53 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0012 • zwei Beiträge sind v.a. theoretisch-konzeptionell ausgerichtet und systematisieren die Aspekte Geschlecht und Sexualität für DaF/ DaZ-Lernumgebungen; so erarbeitet B IEKER schlüssig die diskursive Herstellung der identitätserzeugenden „Masterkategorie“ (S. 21) Geschlecht und entwickelt „sieben Werkzeuge“ (S. 24) zur Genderreflexion für das Fach DaF/ DaZ, die sich vor allem auf einer Metaebene für Unterrichtskonzeptionen eignen; V ÖLKEL zeigt mit Rückgriff auf ein fundiertes Verständnis des Begriffes ‚Queer‘ auf, wie sich „die eher subjektorientierte Queersensibilität mit dem dekonstruktiven Potenzial des Queerings“ (S. 89) verbinden lässt; • die meisten Beiträge enthalten in unterschiedlicher Ausprägung pädagogische Implikationen sowie nützliche unterrichtspraktische Handlungsempfehlungen, die auf DaF/ DaZ zugeschnitten sind, z.B. H ILLE s sehr überzeugende Erarbeitung eines queeren literarischen Textnetzes, das mit vorgeschlagenen „Lektürepfaden“ (S. 113) für gendersensibles und heteronormativitätskritisches Arbeiten geeignet ist, sowie B AAR s Ideen der „Bildung für Fremd- und Selbstakzeptanz“ (S. 73) zur Sichtbarmachung sexueller Vielfalt; äußerst vielversprechend ist auch B ÜCHSEL s partizipatorischer Ansatz, DaF/ DaZ-Kursleitungen und queere Migrant: innen in die Entwicklung von Materialien einzubeziehen, die dem Ziel eines „intersektionalen Empowerments“ (S. 201) folgen; • insgesamt vier Beiträge widmen sich der exemplarischen Analyse von Bilderbüchern (T HIEL ; K ONRAD ; E LSEN ) oder Lehrwerken (K EGYES ) und arbeiten v.a. heraus, wie Gender (weniger aber sexuelle Identität oder Heteronormativität) in diesen Materialien repräsentiert, stereotypisiert und hierarchisiert wird; hier wird insbesondere der inhaltliche Ist-Zustand dieser Materialien erforscht, jedoch kaum, wie diese (teils auch defizitären) Materialien konkret im Unterricht von Lehrenden angewendet werden - ein Desiderat, das schon länger in der Material- und Lehrwerksforschung bekannt ist (vgl. H AR - WOOD s Konzept der consumption), aber bisher kaum bearbeitet wurde; die vorgestellten Analyseraster sind jedoch nützlich für weitere Studien ähnlicher Art. Zwei Beiträge möchte ich für ihren besonderen Wert hervorheben, da sie Desiderate bearbeiten, die nicht nur im DaF/ DaZ-Bereich liegen, sondern für die fremdsprachendidaktische Forschung allgemein relevant sind: • In der Fremdsprachendidaktik gibt es bisher neben theoretischen Legitimationspapieren und am Reißbrett entstandenen Praxisvorschlägen nur sehr wenige empirisch fundierte Erkenntnisse, wie ein auf sexuelle und geschlechtliche Vielfalt fokussierter Unterricht in der Praxis aussieht. Hierzu legt K OCH eine vielversprechende qualitative Studie vor, in der sie Lehrkräfte von DaZ-Kursen zu ihrer Unterrichtspraxis befragt hat. Die Ergebnisse liefern bei begrenzter Stichprobengröße erste Hinweise zu konkreten Gelingensbedingungen und potenziellen Problemen bei der Thematisierung von Sexualität im Unterricht. • Auf Konferenzen und in Forschungsliteratur wird seit längerer Zeit auf die noch unbeantwortete Problematik hingewiesen, wie das (scheinbar) so progressive und kontroverse Thema der queeren Vielfalt in Kontexten unterrichtbar sein kann, in denen das gesellschaftliche Klima eher skeptisch bis feindlich ausfällt. K OCYBA gelingt es, am Beispiel von DaF-Unterricht in Ungarn zu zeigen, wie Lehrkräfte durch die Verwendung einer literarischen Erzählung genderbinäre Denkmuster irritieren können und gleichzeitig für Lernende einen sicheren Rahmen für Genderreflexionen schaffen, auch wenn das Thema gesellschaftlich tabuisiert ist. 150 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2024-0013 53 • Heft 1 Allen Beiträgen ist gemein, dass sie sich engagiert, kritisch und multiperspektivisch mit der Frage auseinandersetzen, wie Aspekte von Gender, Sexualität(en) und Vielfalt in forschungs- und unterrichtsbezogene DaF/ DaZ-Diskurse eingeschrieben werden können. Damit gelingt tatsächlich der ambitioniert versprochene Lückenschluss der Aushandlung dieser Identitäts- und Differenzaspekte spezifisch für den DaF/ DaZ-Bereich - und dies auf einem breiten Spektrum von konzeptionellen Grundlagen über professionelles Handeln von Lehrenden bis hin zu unterrichtspraktischen und materialbezogenen Implikationen. Ich habe diesen Band mit viel Gewinn rezipiert, da er für DaF/ DaZ neue Handlungsfelder und Verantwortlichkeiten erarbeitet, die zukünftige Forschung und Lehre inspirieren kann. Es überrascht dennoch, dass in der Gesamtschau der Beiträge insgesamt recht wenige Referenzen auf thematisch verwandte Forschung aus dem internationalen und deutschsprachigen Raum angelegt sind, die den Themenkomplex der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt bereits für andere Fremdsprachendidaktiken und für die Pädagogik etabliert haben. So scheint es, dass die Ergebnisse dieses Bandes mit einem gewissen Umweg hergestellt wurden, auch wenn sie in ähnlicher Form bereits vorliegen (z.B. der Transfer von Gender- und Queer-Theorien in sprach-, kultur- und literaturdidaktische Forschung). Es wäre außerdem wünschenswert gewesen, durch anders gelagerte Gewichtungen noch vielseitigere Perspektiven durch die Beiträge zu eröffnen, z.B. dezidierter empirisch orientierte Unterrichtsforschung statt des starken Schwerpunkts auf Material und Lehrwerke. Als Letztes sei angemerkt, dass insgesamt das dekonstruktiv-transformatorische Potenzial der Queer- und Genderstudien noch intensiver hätte entwickelt werden können. Viele Beiträge leisten dies zwar mit einem Blick auf Heteronormativität oder non-binäre Konzeptionen von Gender, einige Beiträge bleiben aber recht stark in binären Ansätzen verhaftet. Alles in allem ist aus meiner Sicht der Band Gender_Vielfalt_Sexualität(en) empfehlenswert. F REESE und V ÖLKEL ist es gelungen, vielseitig aufgestellte Beiträger: innen zu gewinnen, sodass in der Gesamtschau so differenzierte Aspekte wie Grundsatzüberlegungen, professionelle Handlungsbedarfe und mikroskopische Einblicke in Lern- und Lehrkontexte zusammenkommen. Auch werden sprachliche, inter- und transkulturelle sowie literarisch-ästhetische Darstellungen in den Beiträgen versammelt, sodass hier ein reichhaltig angelegtes Referenzwerk für die verschiedenen Dimensionen von DaF/ DaZ vorliegt. Essen T HORSTEN M ERSE JPB G ERALD : Antisocial Language Teaching. English and the Pervasive Pathology of Whiteness. Bristol/ Jackson: Multilingual Matters 2022, 192 Seiten [EUR 29,95] * JPB G ERALD hat ein Buch vorgelegt, dessen Titel bereits deutlich macht, worum es ihm geht: um Sprachunterricht, genauer, um den Bereich English Language Teaching (ELT), den der Autor als antisozial und durchtränkt von Weißseinsideologien begreift. Wer sich noch nie mit kritischen Theorien zu whiteness (was im Deutschen etwas ungelenk als ‘Weißsein’ bezeichnet wird) befasst hat, wird die Verbindung von ELT, pathologischer Störung und Weißsein zunächst merkwürdig finden. Doch JPB G ERALD beabsichtigt, genau diese Verbindung an den Pranger zu stellen und v.a. diejenigen Leser: innen anzusprechen, die dabei sind, eine Ahnung oder ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was Weißsein ist, wie es (nicht nur) die Welt des Sprachunterrichts durchzieht (wenn nicht gar entscheidend bestimmt) und warum Weißsein, * DOI https: / / doi.org/ 10.21832/ GERALD3276
