eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 53/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2024-0013
61
2024
531 Gnutzmann Küster Schramm

JPB GERALD: Antisocial Language Teaching. English and the Pervasive Pathology of Whiteness. Bristol/Jackson: Multilingual Matters 2022, 192 Seiten [EUR 29,95]

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2024
Barbara Schmenk
flul5310150
150 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2024-0013 53 • Heft 1 Allen Beiträgen ist gemein, dass sie sich engagiert, kritisch und multiperspektivisch mit der Frage auseinandersetzen, wie Aspekte von Gender, Sexualität(en) und Vielfalt in forschungs- und unterrichtsbezogene DaF/ DaZ-Diskurse eingeschrieben werden können. Damit gelingt tatsächlich der ambitioniert versprochene Lückenschluss der Aushandlung dieser Identitäts- und Differenzaspekte spezifisch für den DaF/ DaZ-Bereich - und dies auf einem breiten Spektrum von konzeptionellen Grundlagen über professionelles Handeln von Lehrenden bis hin zu unterrichtspraktischen und materialbezogenen Implikationen. Ich habe diesen Band mit viel Gewinn rezipiert, da er für DaF/ DaZ neue Handlungsfelder und Verantwortlichkeiten erarbeitet, die zukünftige Forschung und Lehre inspirieren kann. Es überrascht dennoch, dass in der Gesamtschau der Beiträge insgesamt recht wenige Referenzen auf thematisch verwandte Forschung aus dem internationalen und deutschsprachigen Raum angelegt sind, die den Themenkomplex der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt bereits für andere Fremdsprachendidaktiken und für die Pädagogik etabliert haben. So scheint es, dass die Ergebnisse dieses Bandes mit einem gewissen Umweg hergestellt wurden, auch wenn sie in ähnlicher Form bereits vorliegen (z.B. der Transfer von Gender- und Queer-Theorien in sprach-, kultur- und literaturdidaktische Forschung). Es wäre außerdem wünschenswert gewesen, durch anders gelagerte Gewichtungen noch vielseitigere Perspektiven durch die Beiträge zu eröffnen, z.B. dezidierter empirisch orientierte Unterrichtsforschung statt des starken Schwerpunkts auf Material und Lehrwerke. Als Letztes sei angemerkt, dass insgesamt das dekonstruktiv-transformatorische Potenzial der Queer- und Genderstudien noch intensiver hätte entwickelt werden können. Viele Beiträge leisten dies zwar mit einem Blick auf Heteronormativität oder non-binäre Konzeptionen von Gender, einige Beiträge bleiben aber recht stark in binären Ansätzen verhaftet. Alles in allem ist aus meiner Sicht der Band Gender_Vielfalt_Sexualität(en) empfehlenswert. F REESE und V ÖLKEL ist es gelungen, vielseitig aufgestellte Beiträger: innen zu gewinnen, sodass in der Gesamtschau so differenzierte Aspekte wie Grundsatzüberlegungen, professionelle Handlungsbedarfe und mikroskopische Einblicke in Lern- und Lehrkontexte zusammenkommen. Auch werden sprachliche, inter- und transkulturelle sowie literarisch-ästhetische Darstellungen in den Beiträgen versammelt, sodass hier ein reichhaltig angelegtes Referenzwerk für die verschiedenen Dimensionen von DaF/ DaZ vorliegt. Essen T HORSTEN M ERSE JPB G ERALD : Antisocial Language Teaching. English and the Pervasive Pathology of Whiteness. Bristol/ Jackson: Multilingual Matters 2022, 192 Seiten [EUR 29,95] * JPB G ERALD hat ein Buch vorgelegt, dessen Titel bereits deutlich macht, worum es ihm geht: um Sprachunterricht, genauer, um den Bereich English Language Teaching (ELT), den der Autor als antisozial und durchtränkt von Weißseinsideologien begreift. Wer sich noch nie mit kritischen Theorien zu whiteness (was im Deutschen etwas ungelenk als ‘Weißsein’ bezeichnet wird) befasst hat, wird die Verbindung von ELT, pathologischer Störung und Weißsein zunächst merkwürdig finden. Doch JPB G ERALD beabsichtigt, genau diese Verbindung an den Pranger zu stellen und v.a. diejenigen Leser: innen anzusprechen, die dabei sind, eine Ahnung oder ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was Weißsein ist, wie es (nicht nur) die Welt des Sprachunterrichts durchzieht (wenn nicht gar entscheidend bestimmt) und warum Weißsein, * DOI https: / / doi.org/ 10.21832/ GERALD3276 Besprechungen 151 53 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0013 und zumal das eigene Weißsein, meist unbemerkt und unreflektiert ein Schattendasein in Leben, Bildung und Forschung führt - und das schon seit ein paar Jahrhunderten. Schon diese Beschreibung des Unterfangens lässt vermuten, dass JPB G ERALD kein gewöhnliches wissenschaftliches Werk verfasst hat, wie es üblicherweise an dieser Stelle oder in anderen Fachzeitschriften rezensiert wird. Das Buch ist in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich: ungewöhnlich direkt, ungewöhnlich persönlich, ungewöhnlich jargonfrei und ungewöhnlich engagiert. G ERALD ist ein activist scholar, führt Seminare und Fortbildungen durch, hat einen Podcast und ist auch ansonsten aktiv in sozialen Medien. Die Monographie, um die es hier geht, greift sowohl auf seine wissenschaftlichen Recherchen und Arbeiten sowie seine eigenen Erfahrungen als auch die derjenigen, die an seinen Seminaren teilgenommen haben, zurück und kann als eine Verlängerung und Erweiterung seiner selbst gestellten Aufgabe als public educator gesehen werden: Hier schreibt jemand, der nicht akademisch-distanziert und möglichst neutral bleiben möchte, sondern der etwas in Bewegung setzen will und deshalb alle Kanäle nutzt, um Lesende, Zuhörende und Followers zu mobilisieren. Und um das zu tun, legt er schon im Prolog die akademische Maske ab und erklärt: “I am a Black and neurodivergent man who has spent his entire life immersed in white spaces, and I only recently came to understand the impact this has had on me, which is a story that will be threaded throughout the narrative of this book” (S. vii). G ERALD ist Amerikaner, lebt in New York City und hat u.a. als Lehrer im Bereich ELT gearbeitet, erst in Südkorea, später in den USA. Geschichten aus dieser Zeit finden sich an vielen Stellen im Buch, was sowohl zur Lesbarkeit beiträgt als auch zur Illustration dessen, was der Autor an den Pranger stellen möchte. Methodologisch kombiniert die Monografie Autoethnographie und narrative Interviews, verfasst mit Verve und einer gehörigen Portion Sendebewusstsein und Überzeugung. So stellt G ERALD bereits eingangs fest: “based on my identity, my experience and my research, I believe I am the person best positioned to write this book, and I hope you will agree” (S. viii). Das Buch besteht aus drei Hauptteilen. Teil 1, Disorder, führt die zentralen Themen ein und behandelt neben hegemonialem Weißsein auch Schwarzsein (und zwar nicht in einem biologischen Sinne von Rasse, sondern als Resultat von Rassialisierung) sowie deren Verzahnung mit Pathologisierung (dis/ abling blackness) und Sprache bzw. ELT. Hier geht es v.a. um Standardisierung sowie das Native Speaker-Konstrukt und seine ideologische Amalgamierung mit Nation und Weißsein. Die - groben - theoretisch-konzeptuellen Erläuterungen erfolgen unter Rückgriff auf Critical Race Theory (CRT), Critical Whiteness Studies (CWS) und Disability Critical Race Studies (Dis/ Crit), angereichert und veranschaulicht durch zahlreiche persönliche Einlassungen und Erzählungen. Weißsein wird hier als der ideologische Ausgangspunkt identifiziert, der durch Aus- und Abgrenzungen Pathologien und Hierarchien schafft, die sich überall und auch im Sprachunterricht bemerkbar machen und dort zugleich beständig perpetuiert werden, und zwar zum Nachteil fast aller (auch Weißer): As a system, whiteness derives its power from persuading individuals and institutions to buy into its value, such that even the people who may never be considered ‘white’ thirst after a proximity to its customs and privileges. Like any pyramid scheme, though, few ever see lasting benefits from pursuing its illusory promises, even as they perpetuate the oppression upon which it depends. (S. 55) Der zweite Teil des Buchs, Symptoms, basiert auf einer einfachen, frechen und subversiven Idee: G ERALD nimmt die Definition für antisocial personality disorder der American Psychological Association und wendet sie auf das ELT-Feld an. Die Definition weist sieben Kriterien aus, die die antisoziale Persönlichkeitsstörung ausmachen. G ERALD behandelt alle sieben, wid- 152 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2024-0013 53 • Heft 1 met jedem Kriterium ein Kapitel und argumentiert, inwiefern das jeweilige Kriterium auf den Bereich ELT zutrifft. Dieser Konter ist somit als rhetorische Gegenpathologisierung eines Feldes angelegt, das seinerseits auf zahlreichen Pathologisierungen - von Sprachlernenden und Sprachnutzenden bzw. Languagers - basiert. Auch wenn Lesende aufgrund der bisweilen stark durch die US-Brille perspektivierten Darstellungen sowie eine damit verbundene z.T. recht verengte Sicht auf ELT nicht allen Punkten folgen können, ist dieser Konter definitiv lesenswert und soll hier deshalb nicht ‘verraten’ werden. Der dritte und letzte Teil, Treatment …? , richtet den Blick auf das, was Einzelne tun können, um Weißsein zu dezentrieren, ELT zu entpathologisieren und zu entrassialisieren bzw. um das Feld sukzessive mehr prosocial zu machen. Der Titel dieses Teils ist aus naheliegenden Gründen mit einem Fragezeichen versehen. G ERALD stellt seine Seminare und andere Aktivitäten vor, teilt Ideen zur Sichtbarmachung von Weißsein (“the whiteness of teaching and how challenging it is to discuss this explicitly”, S. 120f.) und präsentiert Ergebnisse seiner Studie mit ELT-Lehrenden und -Forschenden, die an seinen Seminaren teilgenommen haben und deren Geschichten von Hochs und Tiefs und viel Gegenwind berichten. Schließlich präsentiert G ERALD auch seine eigenen Vorschläge (die wiederum nicht bereits in dieser Rezension verraten werden sollen). Hier wendet er sich auch direkt an die Lesenden: There are plenty of people who find the decentering of whiteness in our field to be of utmost importance, and plenty who put forth considerable effort in trying to discredit the work we are doing. Far more troubling, though, are the many who don’t much care either way and just keep their head down to try and eke out a living in a field that isn’t particularly set up for such a thing (…). I really am writing this for the people who are intrigued by these ideas but hopefully just need a push to take action. (S. 144) Diesen Überlegungen kann man anschließen: Wer sich von G ERALD s Worten angesprochen fühlt, wird in seinem Buch sicher einiges finden, das sehr unangenehm und auch sehr zutreffend ist. Für diejenigen ist nach der Lektüre die Option, den Kopf in den Sand zu stecken, vom Tisch. Insgesamt bietet das Buch einen persönlich-autobiographisch motivierten Einstieg in eine Diskussion, die derzeit im anglo-amerikanischen und australischen Raum sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Forschung fast ausschließlich im Bereich ELT sehr hitzig geführt wird. Die kurzweilige Lektüre könnte insofern auch für einige Anlass bieten, sich gezielt weiter mit dieser Diskussion zu beschäftigen und systematischer zu hinterfragen, ob und inwiefern die angesprochenen Themen und Missstände auch im deutschsprachigen Raum und im Fremdsprachenunterricht anzutreffen sein könnten. G ERALD verweist zudem auf einige einschlägige Titel, die diese Diskussion maßgeblich beeinflusst und mitbestimmt haben. In diesem Sinne kann sein Buch als Einladung gesehen werden: zum Weiter- und Nachlesen sowie zum kritischen Weiter- und Nachdenken. Waterloo B ARBARA S CHMENK