Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2024-0014
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2024
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Gnutzmann Küster SchrammZur Einführung in den Themenschwerpunkt
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Jules Bündgens-Kosten
Carolyn Blume
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53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0014 J ULES B ÜNDGENS -K OSTEN , C AROLYN B LUME * Zur Einführung in den Themenschwerpunkt Dieses Themenheft beschäftigt sich mit Neurodiversität im Fremdsprachenunterricht und in der fremdsprachlichen Lehrkräftebildung. Neurodiversität ist dabei ein vielschichtiger Begriff, auf den auch die Autor*innen der jeweiligen Beiträge mit unterschiedlicher Betonung rekurrieren. Diese Varianten in der Nutzung des Begriffs reflektieren dabei ein über die Jahre entwickeltes Verständnis desselben. Inhaltlicher Kern des Konzepts Neurodiversität ist einerseits das Verständnis von neurologischer Vielfalt als Diversitätsdimension, andererseits die positive Bewertung dieser Form von Diversität. S INGER 1 (1998: 13) nutzt Biodiversität als Folie, um metaphorisch den Wert von neurologischer Diversität für Gesellschaften herauszustellen. Gerade mit dieser begriffsinhärent-positiven Perspektive auf Heterogenität passt Neurodiversität als Konzept gut in ressourcenorientierte fremdsprachendidaktische Überlegungen, wie sie auch für anderen Heterogenitätsdimensionen wie z.B. Mehrsprachigkeit längst Usus sind (vgl. C OUNCIL OF E UROPE 2018). Auch wenn Neurodiversität als Begriff gesellschaftliche Vielfalt betont - eine Person alleine kann nur im Hinblick auf den Personenstand als „divers“ gelten - wird mit ihm häufig lediglich auf diejenigen Personen rekurriert, die sich neurologisch von einer angenommenen Norm (Neurotypizität) abgrenzen lassen. So verwendet etwa B AKER den Begriff, wenn sie schreibt: (...) neurodiversity refers to atypical functionalities found in individuals who have identifiable neurological differences and to their interactions with individuals considered neurologically typical in the context of public infrastructures built around a presumption of neurotypicality. (B AKER 2011: 22) * Korrespondenzadressen: PD Dr. Jules B ÜNDGENS -K OSTEN , Goethe-Universität Frankfurt, IEAS, Norbert-Wollheim-Platz 1, 60323 F RANKFURT / M. E-Mail: buendgens-kosten@em.uni-frankfurt.de Arbeitsbereiche: Inklusion, Computer-assisted language learning, Mehrsprachigkeit Dr. Carolyn B LUME , Juniorprofessorin für digitales Lehren und Lernen, TU Dortmund, DoKoLL (Dortmunder Kompetenzzentrum für Lehrer*innenbildung und Lehr-/ Lernforschung), Emil-Figge-Str. 50, 44227 D ORTMUND E-Mail: carolyn.blume@tu-dortmund.de Arbeitsbereiche: Englischdidaktische Lehrer*innenbildung, Inklusion, Digitalisierung, Diversität 1 Wir zitieren S INGER in diesem Kontext aus historischen Gründen, ohne uns alle ihre Positionen zu eigen zu machen. Neurodiv ersität in Fremdspra chenunterricht und -lehrkräftebildung 4 Jules Bündgens-Kosten, Carolyn Blume DOI 10.24053/ FLuL-2024-0014 53 • Heft 2 Wichtig ist, dass Neurotypizität hier als eine (gesellschaftlich dominante) Ausprägung neurologischer Vielfalt gesehen wird. Eine Gleichsetzung von Neurotypizität mit Normalität entspräche eher einem „pathology paradigm“ als einem „neurodiversity paradigm“ (W ALKER 2021: 17-20). Die Verwendung in diesem Sinne wird jedoch kritisiert. Alternativ wird der Begriff Neurodivergenz, der Kassiane A. A SASUMASU zugeschrieben wird, in diesem Sinne zunehmend verwendet, um zwischen gesellschaftlicher Neurodiversität und Neurodiversität als neurologischem Unterschied im Vergleich zu einer angenommenen Norm zu differenzieren (z.B. W ALKER 2021: 38- 46). Als neurodiversity paradigm wird entsprechend eine Perspektive auf Heterogenität bezeichnet, die durch Wertschätzung neurologischer Vielfalt, Ablehnung der Gleichsetzung von Neurotypizität mit Normalität sowie einen Blick auf Neurodiversität als eine weitere Heterogenitätsdimension charakterisiert wird. Mit letzterem einhergehend sind typische Phänomene wie kreatives Potenzial einerseits, und gesellschaftliche Diskriminierung andererseits (W ALKER 2021: 19-20). Das daraus inspirierte praktisch-aktivistische Bemühen kann als neurodiversity movement bezeichnet werden (z.B. S INGER k.D.: o.S; W ALKER 2021: 37-38). C HAPMAN (2020) argumentiert für die epistemische Nützlichkeit des Begriffs Neurodiversität: Er erlaube uns, auf neue Wissensformen zuzugreifen und zu generieren, z.B. indem er uns ermöglicht, eine Welt zu imaginieren, die z.Z. pathologisierte und dehumanisierte Personengruppen anders behandelt. Gleichzeitig schaffe der Begriff den Rahmen, innerhalb von Neuro-Minderheiten eine gemeinsame Sprache für die eigenen Erfahrungen zu entwickeln, und fördere so z.B. die Solidarität innerhalb dieser Gruppen (ebd.: 119-120). Die Verwendung des Begriffs ist auch eine Anerkennung der Tatsache, dass relevante epistemische Ressourcen von Menschen mit lived experience geschaffen werden: Der Begriff Neurodiversität wurde in den 1990er Jahren im Kontext von Diskursen (primär) innerhalb der autistischen Community, genauer in Diskussionen auf dem ListServ “InLv” (kurz für „Independent Living“), konzipiert (D EKKER 2020; B OTHA et al. 2024). Geprägt wurde er von Judy S INGER , die ihn auch das erste Mal in wissenschaftliche Kontexte einbrachte. Gerade in Bezug auf Communities, die Marginalisierung erfahren, ist das Prinzip „nichts über uns ohne uns“ (ursprünglich bezogen auf politische Entscheidungsprozesse, aber übertragbar auf sämtliche Diskurse) Grundlage einer epistemischen Gerechtigkeit auch im Sinne von testimonial justice (F RICKER 2007). In diesem Themenheft kommen alle Dimensionen des Begriffs Neurodiversität sowie der Terminus Neurodivergenz vor. Die Irritation, die diese fehlende Präzision auszulösen vermag, steht unserem Wunsch als Herausgebenden gegenüber, der Vielschichtigkeit des Konzepts gerecht zu werden. Gerade die Diversität der Interpretationsweisen spiegelt die Diversität der Beiträge und darüber hinaus die Diversität der Lehrenden und Lernenden wider, die im Zentrum der Beiträge stehen. Die Polysemie des Begriffs erinnert dabei an die multiplen Verständnisse von schulischer Inklusion im deutschen Diskurs, die P IEZUNKA / S CHAFFUS / G ROSCHE (2017: 13) anhand von Expert*inneninterviews herausgearbeitet haben. Diese reichen von der Nicht-Diskri- Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 5 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0014 minierung einzelner Gruppen als Realisierung der UN-Behindertenrechtskonvention bis hin zur Dekonstruktion sozial konstruierter Differenzlinien. Diese Polysemie von Neurodiversität - genau wie die von Inklusion - stellt im negativen Sinne einen komplexitätserhöhenden Faktor im Diskurs dar und kann somit als Herausforderung für Forschung und Praxis gesehen werden. Andererseits kann das gleiche Phänomen aber auch als Offenheit gegenüber Forschenden und Praktiker*innen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen gelesen werden. Die verschiedenen Lesarten des Begriffs erlauben das Arbeiten gegen Ableismus (G OODLEY 2014; W OLBRING 2008) auf verschiedenen Ebenen und zeigen auf, wie fremdsprachliches Lehren und Lernen auf unterschiedlicher Art und Weise inklusiv gestaltet werden kann. Gerade im fremdsprachlichen Bereich ist das breite Verständnis von Neurodiversität höchst relevant. Das gegenseitige Verständnis trotz kommunikativer Differenzen ist sowohl für die Fremdsprachendidaktik als auch für die Neurodiversität (vgl. M ILTON 2012) ein Kernanliegen. Einerseits bildet Kommunikation, worunter fremdsprachlichen Kompetenzen fallen, Grundlage der Partizipation. Hierzu gehören u.a. pragmatische und interkulturelle Aspekte der zwischenmenschlichen Interaktion. Schon 2014 hoben K ÜCHLER / R OTERS in Bezug auf Letzteres etwa hervor, dass eine Annäherung an die Inklusion behinderter Schüler*innen im Rahmen der fachdidaktischen Interkulturalität konzipiert werden könnte. H ILLARY (2020: 95) zeigt anhand der eigenen lived experience Parallelen zwischen Prinzipien der autistischen und interkulturellen Kommunikation auf, die es H ILLARY sowohl erleichtert als auch erschwert, mit Menschen aus für sie fremden Kulturen zu interagieren. Andererseits kommunizieren viele neurodivergente Menschen auf kreative und ungewöhnliche Weise, die Partizipation ermöglicht, wenn sie nicht auf gesellschaftliche Barrieren (inklusive Missverständnis) stoßen. Jedoch werden diese Möglichkeiten der Kommunikation in der Fremdsprachendidaktik kaum rezipiert. Auf basaler Ebene zeigt jüngst ein Review vorhandener Lehrwerke für den inklusiven Englischunterricht beispielsweise, dass nur ein Text von 14 die Möglichkeit der Nutzung von unterstützter Kommunikation überhaupt erwähnt. Dabei wird der Fokus auf Schüler*innen mit kognitiver Einschränkung gelegt (E PPINGER 2024). Die weitaus größere Gruppe von Lernenden, die unterstützt kommunizieren und wozu auch einige neurodivergente Menschen zählen, bleibt außen vor. Dass manche dieser Individuen in digitalen Räumen oftmals Akzeptanz erfahren, die eine intensive Nutzung und die Etablierung anhaltender digitaler Kontakte zur Folge hat, wird ebenfalls vielfach stigmatisiert (A LPER / I RONS 2020). Diese Pathologisierung erfolgt, obwohl zahlreiche Forschungsergebnisse die vorteilhaften sprachlichen, beziehungsrelevanten und identitätsbildenden Konsequenzen zeigen (B LUME / B UENDGENS -K OSTEN 2023; L OGAN 2020; N G / S CHUETT / C ORCO - RAN 2015). Ebenfalls komplex ist, wie neurodivergente Personen sich selbst identifizieren oder von anderen Menschen einem Neurotyp zugeordnet werden, was Dimensionen wie Identität und labelling berührt. Selbst- und Fremdidentifikation sind nicht nur im Kontext von Neurodiversität komplexe Phänomene: Selbstbild und Gruppenzugehö- 6 Jules Bündgens-Kosten, Carolyn Blume DOI 10.24053/ FLuL-2024-0014 53 • Heft 2 rigkeit sind Konstrukte, die auch mit Blick auf z.B. Gender, Ethnie, Religionsgemeinschaft oder Nationalität nicht einfach zu operationalisieren sind. Auch in diesem Themenheft nehmen die Beitragenden die Zuschreibung eines konkreten Neurotyps oder die Identifikation einer Person als neurodivergent unterschiedlich vor. Während J ONES / C LARK etwa die Selbstidentifikation von Lehrkräften als Personen mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung) abfragen und diese als Basis ihrer Zuordnung zu diesem Neurotyp verwenden, beziehen sich E NGELEN , C HILLA und S CHAUWECKER auf die formale Diagnostik, die Schüler*innen einen bestimmten Neurotyp bescheinigt. B ÜNDGENS -K OSTEN / A LTER berufen sich demgegenüber auf öffentlich verfügbare biografische Notizen von Autor*innen und verfolgen damit das Prinzip der Selbstidentifikation, ohne diese explizit zu erfragen. Die entsprechenden Operationalisierungen der Autor*innen sind also so vielfältig wie ihre Erkenntnisinteressen. Die Rolle der Identität steht seit langem im Fokus der fremdsprachendidaktischen Forschung (N ORTON 1995), auch wenn diese bisher kaum aus einer Neurodiversitätsperspektive betrachtet wurde. Auch für die kritische Fremdsprachendidaktik, die sich ebenfalls mit Fragen der Identität auseinandersetzt, bietet das Neurodiversitätsparadigma relevante Anknüpfungspunkte. Rassismuskritische, feministische und Dekolonisierungsdiskurse (u.a.) in der Fremdsprachendidaktik rekurrieren, ebenso wie die Neurodiversitätsdiskurse, auf die Wertschätzung variierender Kommunikationsformen, Epistemologien und Lebensmodelle. Gemein haben sie, dass sie das Subalterne zentrieren, um bestimmte Gruppen wahrnehmbar zu machen (vgl. G ERLACH 2020; M ARXL / R ÖMHILD 2023). Diese Perspektiven gehen sowohl in der fremdbzw. mehrsprachigkeitdidaktischen Forschung als auch in den neurodiversity studies mit Fragen der Identität und agency einher (C ANAGARAJAH 2013; F LORES / R OSA 2019; H ENNER / R OBINSON 2021; H UIJG 2020). In der Lehrkräftebildung und in fachdidaktischen Praxiskonzepten im deutschen Kontext sind zunehmend Beiträge zu finden, die etwa durch own-voices-Literatur, kritische Lehrwerksanalyse oder diskursanalytische Rekonstruktionen des Lehrkräftehandelns normative und exkludierende Setzungen hinsichtlich Sprache, Gender, Körper und Behinderungen infrage stellen. Die Beiträge in diesem Heft reihen sich in diese Tradition ein, fokussieren jedoch konzeptionell, pragmatisch und empirisch die Neurodiversität als eine Form der Differenz, um unter Berücksichtigung der multiplen Facetten des Begriffs zur Partizipation und zur epistemischen Gerechtigkeit beizutragen. Zuletzt stellt der Englischunterricht als Englischunterricht, der Umgang mit Sprache als Sprache, unabhängig von utilitaristischen Erwägungen oder Lernzielerreichung, einen Wert für Menschen dar. Ein Mensch kann den Kontakt mit der englischen Sprache genießen, auch wenn (noch) nicht absehbar ist, dass aus diesem Kontakt kommunikative Kompetenzen erwachsen werden (R OSSA 2015: 179). S MILGES (2021: 115) bezieht sich auf literacy-Diskurse, aber das Argument, dass meaning making sehr unterschiedliche Formen annehmen kann, ist auf Fremdsprachenlernen übertragbar: Neben das Lesen eines Texts tritt so auch der ästhetische Genuss am Text, die affektive Begegnung mit dem Text, die auch seine Form (von der Typogra- Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 7 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0014 phie bis zum Geruch des Papiers) umfassen kann. Die Begegnung mit Lauten, die Freude am Geben und Nehmen in kommunikativen Übungen, das Erleben und Teilen von Geschichten, die Interaktion mit Realien, der Genuss von Farben und Formen bei der Arbeit mit Bildern, die spannende Entdeckung der Regelhaftigkeit von Sprache sind sowohl ästhetisch als auch emotional Aspekte der menschlichen Erfahrung und Elemente einer humanistischen Bildung. In diesem Heft ist eine Vielfalt an Beitragsformen vorhanden. Neben akademischen Texten in der üblichen Länge sind ein Interview, ein Erfahrungsbericht und Comics zu finden. Wir glauben, dass eine Annäherung an das Thema „Neurodiversität in Fremdsprachenunterricht und -lehrkräftebildung“ am besten multiperspektivisch gelingt. Beiträge über Lernende im Unterricht (Sophie E NGELEN sowie Solveig C HILLA ) werden also gerahmt von Beiträgen von (ehemaligen) Lernenden wie Sam G AMACHE und Jil-Marie Z ILSKE , neben Beiträgen zur Lehrkräftebildung (Beiträge von Nicole G OTLING , Julia H ÜTTNER , Michelle P ROYER , Manuela S CHLICK und von Yela S CHAUWECKER ) tritt ein Beitrag von der neurodivergenten Absolventin des Lehramtsstudiums Frau A. Wir tun dies in der Annahme, dass dieses Vorgehen sowohl praktische als auch ethische Vorteile mit sich bringt: Praktische Vorteile, insofern als sich die unterschiedlichen Beiträge gegenseitig inhaltlich ergänzen; ethisch, insofern als wir damit auf die Expertise von Personen mit lived experience rekurrieren. Nicht ignoriert werden sollte dabei natürlich, dass es auch Überlappungen zwischen den beiden Gruppen gibt. In diesem Heft positionieren sich etwa die Autor*innen Marc J ONES und Gretchen C LARK als neurodivergente Wissenschaftler*innen und Lehrende. Wie viele wissenschaftlichen Publikationen berührt auch dieses Heft Themen, die starke emotionale Reaktionen auslösen können - manchmal aufgrund der Thematik, manchmal aus anderen Gründen. Zum Beispiel können teilweise die Sprachverwendung oder (Selbst-)Identifikationstermini irritieren - auch in Anbetracht dessen, dass die Wortwahl immer machtrelevante Komponenten innehat. Rebella T OMA s Comic „Dreamy“ stellt in grafischer Form dar, wie ihre schulischen Erfahrungen als Kind mit Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (auf Englisch: ADHD) waren. Bilder, Sprache und Textform wirken zusammen, um den Einfluss positiver und negativer schulischer Erfahrungen auf Tomas Identität zu schildern. Die Widersprüchlichkeit in ihrem Erleben ist v.a. im Hinblick auf das Lehrkräftehandeln aussagekräftig. David G ERLACH (Bergische Universität Wuppertal) betrachtet in seinem konzeptionellen Beitrag Neurodiversität aus der Perspektive einer kritischen Fremdsprachendidaktik und arbeitet Parallelen und Unterschiede zwischen den beiden Konzepten heraus. Beginnend mit einer Darstellung der Konstrukte und Prinzipien einer kritischen Fremdsprachendidaktik, hebt er die machtrelevanten Aspekte eines jeden Unterrichts hervor. Unter diesen Gesichtspunkten zeigt er die Überschneidungspunkte zwischen einer allgemein kritischen und einer neurodiversitätssensiblen Fremdsprachendidaktik auf, um darauffolgend didaktisch-methodische Implikationen dieser Perspektive zu beleuchten. Die Spannungen zwischen einem kritischen Ansatz, der auch eine Neurodiversitätsdimension intersektional berücksichtigt, und dem schuli- 8 Jules Bündgens-Kosten, Carolyn Blume DOI 10.24053/ FLuL-2024-0014 53 • Heft 2 schen Habitus nimmt er als Anlass, Anforderungen für die Lehrkräftebildung und die Fremdsprachenforschung zu konkretisieren. Damit weist er auf ein zukunftsweisendes, programmatisches Desiderat hin. Jules B ÜNDGENS -K OSTEN (Goethe-Universität Frankfurt) und Grit A LTER (Pädagogische Hochschule Tirol) diskutieren die Relevanz von own-voices-Literatur, nicht nur in Bezug auf Neurodiversität. Mit Blick auf die fehlende Sichtbarkeit von Differenz in Lehrwerken und in Schullektüren stellen die Autor*innen dar, wie der Einbezug von Literatur von und mit Personen unterschiedlichen Neurotyps zur epistemischen Gerechtigkeit beiträgt. Die Notwendigkeit einer angemessenen Repräsentation im Allgemeinen und insbesondere für den Fremdsprachenunterricht wird thematisiert. Auf Basis dieser konzeptionellen Grundlagen machen B ÜNDGENS -K OSTEN / A LTER Vorschläge, wie ein konkreter own-voices-Text im Englischunterricht eingesetzt werden könnte. Sam G AMACHE s (@atesomerocks) Comic ist autobiografisch. Die*der Künstler*in stellt darin seine*ihre Erfahrungen mit der eigenen ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung)-Diagnose - und der Reaktionen der Umwelt auf sie - differenziert dar. G AMACHE beschreibt eindringlich, wie sie*er mit den Widersprüchen zwischen der vermeintlichen Intelligenz einerseits und den sozialen und sensorischen Herausforderungen andererseits hadert. Wie bei T OMA (in diesem Heft) wird die Rolle der Umwelt für das eigene Selbstbild thematisiert. G AMACHE kommt dabei zum Schluss: „as I suffered, so did my grades“. Sophie E NGELEN (Justus-Liebig-Universität Gießen) stellt eine Studie zur Textarbeit im inklusiven Französisch- und Spanischunterricht vor. Besonderen Fokus legt sie in ihrem empirischen Beitrag dabei auf die Lesestrategien, die von Lernenden mit Lese- Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS) und ADHS eingesetzt werden. Die triangulierten Daten geben Einblick in die vielfältigen sprachübergreifenden und sprachspezifischen Prozesse, die die Schüler*innen einsetzen. In der Diskussion unterstreicht die Autorin das Potenzial zur Stärkung der Lernendenautonomie durch die Förderung geeigneter Sprachlernstrategien. Solveig C HILLA (Europa-Universität Flensburg) widmet sich in ihrem empirischen Beitrag der Herausforderung der diagnostischen Abgrenzung von Sprachentwicklungsstörungen (DLD) und Spracherwerbsphänomenen bei Lernenden mit forced displacement Erfahrung, die Deutsch als Zweitsprache (DaZ) lernen. Nach einer Erläuterung der relevanten linguistischen Merkmale bei den beiden Gruppen von Lernenden, evaluiert C HILLA das Potenzial unterschiedlicher Instrumente, abweichende Spracherwerbsphänomene bei diesen Schüler*innen zu fassen. Auf Basis dieser Erkenntnisse sowie in Anbetracht weiterer Schüler*innenmerkmale diskutiert sie, wie ein inklusiver DaZ-Unterricht neurotypischen und neurodivergenten Schüler*innen mit und ohne Fluchterfahrung gerecht werden kann. Jil-Marie Z ILSKE (TH Köln) beantwortet in einem Interview Fragen der Themenheft- Herausgebenden rund um ihre Erfahrungen mit dem Lernen und Nutzen des Englischen als Person mit Down-Syndrom und Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Sie beschreibt, wie es für sie und ihre Familie eine Selbstverständlichkeit war, dass sie Englisch lernen würde, und schildert ihre Erfahrungen im englischsprachigen Ausland und mit Sprecher*innen des Englischen. Z ILSKE erzählt von ihren Erfahrungen mit schulischem und außerschulischem Englischlernen und argumentiert für einen frühen Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 9 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0014 Einstieg in die Sprache für Personen, die wie sie viele Wiederholungen benötigen, um Inhalte nachhaltig zu lernen. Nicole G OTLING , Julia H ÜTTNER , Michelle P ROYER (alle Universität Wien) und Manuela S CHLICK (Universität Wien & Ev. Montessori Oberstufenrealgymnasium, Grödig) widmen sich in ihrem empirischen Beitrag Seminaren in der fremdsprachlichen Lehrkräftebildung, die sich explizit mit Einstellungen und Wissen zur und über Neurodiversität beschäftigen. Dazu analysieren sie die Wirkungen eines standortübergreifenden und interdisziplinären Seminarformats in der ersten Phase der Lehrkräftebildung, bei dem Aspekte des forschenden Lernens und der partizipativen Forschung verfolgt wurden. Dabei wurden Studierende dazu befähigt, Interviews mit neurodivergenten Personen und mit Stakeholder*innen inklusiver Bildung zu führen und diese hinsichtlich der eigenen Professionalisierung zu reflektieren. Die insgesamt positiven Ergebnisse in Bezug auf die Seminarziele werden in Anbetracht bleibender Unsicherheit der Studierenden vis-à-vis der praktischen Realisierung von Inklusion mit Blick auf die Lehrkräftebildung reflektiert. Yela S CHAU - WECKER s (Universität Stuttgart) empirischer Artikel betrachtet, ebenfalls am Beispiel eines von ihr konzipierten und durchgeführten Seminars, Fragen der inklusiven Lehrkräftebildung für das Fach Französisch. Wie bei G OTLING et al. gehört der Austausch mit neurodivergenten Menschen zu den eingesetzten Methoden. Mit Blick auf die Besonderheiten des Französischunterrichts im deutschen Kontext ist das Ziel des Seminars, die Einstellungen und das mindset der angehenden Lehrkräfte positiv zu beeinflussen. Hierfür werden vier Formen der Neurodivergenz thematisiert und entlang Unterrichtsentwürfen der Studierenden adressiert. Mittels Fragebögen, Studierendenreflexionen und teilnehmender Beobachtung identifiziert S CHAUWECKER sich verändernde Einstellungen einerseits und statische mindsets andererseits. Diese Ergebnisse reflektiert sie in Bezug auf die Teilnehmenden und die strukturellen Herausforderungen der Inklusion im Französischunterricht. Frau A. (Goethe-Universität Frankfurt) beschreibt die Herausforderungen des Lehramtsstudiums aus Sicht einer Studentin mit Lese-Rechtschreibstörung/ -schwäche (LRS). Besonders Fragen des workloads sowie Probleme in Bezug auf Nachteilsausgleiche adressiert sie mit Blick auf Strukturen, die auf eine angenommene Textverarbeitungsgeschwindigkeit ausgelegt sind. Die von Frau A. beschriebenen Lehr-/ Lernformate, die sie als eher gewinnbringend empfindet, weisen Aspekte eines konstruktivistischen und kompetenzorientierten Ansatzes auf. Sie geht auf das ein, was die Studierenden aus den Interviews mit G OTLING et al. berichten: Lehrkräfte sollen das Gespräch mit dem*der einzelnen Lernenden suchen, um deren Präferenzen und Bedarfe besser zu verstehen. Marc J ONES (Toyo University & TU Dortmund) und Gretchen C LARK (Ritsumeikan University) fokussieren in ihrem englischsprachigen Beitrag die Erfahrungen und das Innenleben von Fremdsprachenlehrkräften mit ADHS. Mit ihrer empirischen Erhebung fokussieren sie also das Erleben neurodivergenter Lehrkräfte und konturieren weiter bereits vorhandene Identitäts- und Selbstwirksamkeitsdiskurse über Fremdsprachenlehrkräfte. Der mixed-methods Ansatz trianguliert quantitative und qualitative Analysen, die sowohl das Gesagte als auch das Unausgesprochene zutage fördern. 10 Jules Bündgens-Kosten, Carolyn Blume DOI 10.24053/ FLuL-2024-0014 53 • Heft 2 Literatur A LPER , Meryl / I RONS , Madison (2020): „Digital socialising in children on the autism spectrum“. 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