eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 53/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2024-0016
121
2024
532 Gnutzmann Küster Schramm

Diversitätsorientierung und Kritische Fremdsprachendidaktik:

121
2024
David Gerlach
Language education is still in search of ways to integrate a diversity orientation into its curriculum, materials and language teacher development. This article assumes that both neurodiversity and critical foreign language didactics are characterized by their political momentum and the claim to raise awareness for criticality and diversity among learners and teachers. After discussing relevant constructs for critical foreign language didactics (critical literacy, critical pedagogy, critical discourse competence), these are put into perspective in relation to teaching that is sensitive regarding diversity. Critical language education and neurodiversity are then finally discussed in relation to the requirements (and constraints) of language teacher education and with regard to necessary future research.
flul5320014
DOI 10.24053/ FLuL-2024-0016 53 • Heft 2 D AVID G ERLACH * Diversitätsorientierung und Kritische Fremdsprachendidaktik: Perspektiven für einen bildungsorientierten Fremdsprachenunterricht und die fremdsprachliche Lehrer*innenbildung Abstract. Language education is still in search of ways to integrate a diversity orientation into its curriculum, materials and language teacher development. This article assumes that both neurodiversity and critical foreign language didactics are characterized by their political momentum and the claim to raise awareness for criticality and diversity among learners and teachers. After discussing relevant constructs for critical foreign language didactics (critical literacy, critical pedagogy, critical discourse competence), these are put into perspective in relation to teaching that is sensitive regarding diversity. Critical language education and neurodiversity are then finally discussed in relation to the requirements (and constraints) of language teacher education and with regard to necessary future research. 1. Einleitung Die Idee von Neurodiversität, wie sie auch im Einleitungskapitel zu diesem Themenheft zusammenfassend dargestellt wird, geht über das (breite) Verständnis von Inklusion und Diversität/ diversity hinaus: Ihr geht es nicht nur um das Schaffen von Partizipationsmöglichkeiten von Lernenden mit unterschiedlichen Voraussetzungen. Vielmehr soll das Konzept von Neurodiversität ein umfassendes Bewusstsein für Vielfältigkeit vermitteln und damit Personen in unterschiedlichen Kontexten (Bildungsinstitutionen, Forschung, Gesellschaft, privater Raum) sensibilisieren. Das dem Neurodiversitätskonzept damit inhärente, politisch-aktivistische Momentum kann auch mithilfe von kritischen Perspektiven auf den sonst stark lehrwerk- und standardorientierten Fremdsprachenunterricht eingelöst werden. Ein Konstrukt wie critical pedagogy in Anschluss an F REIRE (2006) kann als Grundlage dienen, Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten aufzudecken, umzudeuten und insofern zu transformieren, als * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. David G ERLACH , Bergische Universität Wuppertal, Didaktik des Englischen, Gaußstraße 20, 42119 W UPPERTAL E-Mail: gerlach@uni-wuppertal.de Arbeitsbereiche: Fremdsprachendidaktische Professionsforschung, Kritische und inklusive Fremdsprachendidaktik, Methoden der Fremdsprachenforschung (bes. Dokumentarische Methode), Lernschwierigkeiten (insb. Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten) Diversitätsorientierung und Kritische Fremdsprachendidaktik 15 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0016 Betroffene im Sinne eines empowerments agency erfahren, welche wiederum den schulischen Fremdsprachenunterricht trägt (z.B. C ROOKES 2013). Die Machtförmigkeit von Sprache beim diskursiven Verhandeln von sozialen Konstrukten wie ‚Normalität‘ oder der hier zugrunde gelegten Neurodiversität muss dabei genauso reflektiert werden wie dem Inklusions- und Diversitätsdiskurs inhärente, intersektionale Kategorien, die dann Gegenstand von Unterricht werden (müssen). Dieser Beitrag stellt zunächst die Verknüpfungen und Anliegen der zentralen Konstrukte hinter einer Kritischen Fremdsprachendidaktik vor (insbesondere critical pedagogy, critical literacy und kritische Diskursfähigkeit; vgl. G ERLACH 2020; M ARXL / R ÖMHILD 2023). Das Potential dieser Konstrukte wird sodann vor dem Hintergrund der unterrichtlichen Anforderungen eines diversitätssensiblen Fremdsprachenunterrichts hinterfragt (G ERLACH / S CHMIDT 2021), um es somit nicht nur methodisch-didaktisch zu erschließen, sondern auch um normative Grenzen innerhalb des wissenschaftlichen, bildungstheoretischen Diskurses auszuloten. Aus dieser Sichtung insgesamt entstehen unterschiedliche Implikationen und Fragen für die Gestaltung von Fremdsprachenunterricht, die fremdsprachliche Lehrer*innenbildung sowie die Fremdsprachenforschung. 2. Konstrukte und Prinzipien einer Kritischen Fremdsprachendidaktik Die starke Orientierung des Fremdsprachenunterrichts an Lehrwerken und die dort häufig generischen, wenig alltagsrelevanten Themen sind ein zentraler Punkt für die Forderung einer stärker kritisch orientierten Fremdsprachendidaktik: Eine „textbookdefined practice“ (A KBARI 2008a: 647; G ERLACH / L ÜKE 2024), welche primär auf die Progression sprachlicher Strukturen oder alleine auf das Fördern von Fertigkeiten um ihrer selbst willen ausgelegt ist, verhindert die Integration von Themen und Ideen, die für Lernende in besonderem Maße relevant sein können z.B. aufgrund des Kontexts, sozialen Milieus oder aktueller Geschehnisse. Bereits P ENNYCOOK (1990) kritisierte vor fast 35 Jahren die „trivialization of content and an overemphasis on communicative competence“ (ebd.: 13; später u.a. auch K RAMSCH 2006). In einem kritisch orientierten Fremdsprachenunterricht geht es somit um eine (Re-)Fokussierung von Themen oder thematischen Schwerpunkten und beispielsweise auch eine Zumutung solcher, auch kontroverser Themen für jüngere Lernende (G ERLACH 2020; S CHÄFER / T ÖDTER 2022). Nicht alle der häufig zitierten, insbesondere aufgrund von Lehrwerkkritik vorgebrachten und unter dem Akronym ‚PARSNIP‘ (G RAY 2002) zusammengefassten Themen sind für diese Zielgruppe geeignet (politics, alcohol, religion, sex, narcotics, isms und pornography). Gleichwohl verdeutlichen sie die Bandbreite an unbequemen, nicht selten tabuisierten (L UDWIG / S UMMER 2023), aber unbedingt relevanten Themen, die auch im Fremdsprachenunterricht eine Rolle spielen sollten. Dieser zeigt nämlich durch seine Doppelstruktur von Inhalts- und Sprachlernen eine besondere Chance, die Machtförmigkeit von Sprache überhaupt bewusst zu machen 16 David Gerlach DOI 10.24053/ FLuL-2024-0016 53 • Heft 2 (s. 3.; vgl. F AIRCLOUGH 2015). Das bedeutet gleichzeitig: Die kritisch orientierten Themen einer solchen Fremdsprachendidaktik sind unbedingt in direkte Beziehung zu setzen zu sprachdidaktischen Überlegungen zur Vermittlung von Fertigkeiten und sprachlichen Strukturen. Nur durch eine sprachdidaktische Förderung und Bewusstmachung (auch z.B. mittels (critical) language awareness) kann Schüler*innen überhaupt deutlich gemacht werden, warum bestimmte Diskurse - beispielsweise in sozialen Medien - manipulativ oder diskriminierend sind. Und auch nur, wenn diese Förderung in einer gewissen Breite und Differenziertheit stattfindet, ermöglichen wir allen Lernenden die Partizipation an diesen Diskursen in einem inklusiven Sinn. Wie deutlich geworden sein sollte, überlegt eine Kritische Fremdsprachendidaktik zunächst einmal ausgehend von Themen oder bildungstheoretischen Überlegungen (und damit einer durchaus normativen Relevanzsetzung), was Gegenstand von fremdsprachlichen Lehr-/ Lernprozessen werden könnte. Sie basiert auf der Prämisse, dass jeder Unterricht zu jeder Zeit eine gewisse politische Dimensionierung aufweist (A KBARI 2008b; F ÄCKE / P LIKAT / T ESCH 2017). Es geht damit allerdings zunächst einmal (noch) nicht um die methodische Ausgestaltung dieser Prozesse (s. 4.). Gleichwohl ist wichtig anzuerkennen, dass methodische Entscheidungen hier den Themensetzungen folgen (müssen), z.B. wenn diese Themen von den Lernenden selbst gesetzt werden, was häufig eines der Grundprinzipien kritischer Ansätze darstellt (z.B. F REIRE 2006). Drei dieser für den deutschen Diskurs und eine mögliche Unterrichtspraxis meines Erachtens besonders relevanten Ansätze möchte ich nachfolgend kurz umreißen, um sie anschließend im Kontext eines diversitätsorientierten Fremdsprachenunterrichts und unter den Bedingungen von Neurodiversität diskutieren zu können: Critical literacy, critical pedagogy und kritische Diskursfähigkeit. 2.1 Critical Literacy Critical literacy als Teil von multiliteracies education (C OPE / K ALANTZIS 2000), und damit einem breiten Textbegriff verpflichtet, versteht sich als kritische Lesekompetenz, die zum einen darauf ausgelegt ist, Texte in sich zu erschließen und damit zu verstehen. Im Folgeschritt geht es dann jedoch um eine kritische Analyse der in einem Text transportierten Werte, Meinungen, Formen von Diskriminierung und der Identifikation von Machtverhältnissen (vgl. B REIDBACH / M EDINA / M IHAN 2014; C ROOKES 2009; G ERLACH 2020; J ANKS 2014). Dies geschieht über das Erkennen von expliziten Diskriminierungsformen (d.h. z.B. offenem Sexismus oder Rassismus) hinaus und betrifft Fragen von (Nicht-)Repräsentation, eine Bewertung der Anteile der Sprechenden bzw. machtausübenden Personen etc. Bestandteil einer Förderung von critical literacy muss demzufolge ebenfalls kritische Sprachbewusstheit (critical language awareness) sein, welche anhand sprachlicher Mittel Lernenden eine kritische Analyse machtförmiger Sprache ermöglicht. Eine solche Analyse, selbst wenn sie Sprache zu dekonstruieren versucht, fokussiert hierbei natürlich stark auf die rezeptive Ebene und Verstehensprozesse. Häufig wird im Anschluss an dieses Durchdrin- Diversitätsorientierung und Kritische Fremdsprachendidaktik 17 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0016 gen sprachlicher Machtstrukturen die Forderung formuliert, dass Lernende in die Lage versetzt werden müssen, diese Texte sodann zu transformieren: Critical literacy is about imagining thoughtful ways of thinking about reconstructing and redesigning texts, images, and practices to convey different and more socially just and equitable messages and ways of being that have real-life effects and real-world impact (V ASQUEZ 2017: 9). In einem solchen Prozess der Transformation (redesign) zeigt sich unterrichtlich, ob die diskriminierende Botschaft des Ausgangstextes identifiziert und derart umgestaltet wurde, dass sie sozial angemessen versprachlicht wurde. Die Bandbreite für solche Aufgabenformate ist groß und geht von der Überarbeitung relativ simpler Werbebotschaften (G ERLACH / L ÜKE 2023) über eine Auseinandersetzung mit Schönheits- und Körpernormen (K ÖNIG 2020) bis hin zur komplexen Umgestaltung rassistischer zu rassismuskritischen Diskursen (B RASELMANN 2023; G ÜLLÜ / G ERLACH 2023). 2.2 Critical Pedagogy Wie oben bereits angedeutet, ist das bedeutendste Grundprinzip hinter critical pedagogy das der Ermächtigung (empowerment) von Lernenden. Es geht um die Ermöglichung transformatorischer Bildungsprozesse (vgl. z.B. K OLLER 2018), denen das Potential innewohnt, außerhalb des Klassenraums, d.h. gesellschaftlich, Wandel insbesondere im sozialen Bereich herbeizuführen: Critical pedagogy is teaching for social justice, in ways that support the development of active, engaged citizens who will, as circumstances permit, critically inquire into why the lives of so many human beings, including their own, are so materially (and spiritually) inadequate, be prepared to seek out solutions to the problems they define and encounter, and take action accordingly (C ROOKES 2013: 77). Critical literacy kann hierbei critical pedagogy insofern vorausgehen, als dass sie im ersten Schritt hilft, Texte derart zu entschlüsseln, dass ein kritisches Bewusstsein bei Lernenden geweckt wird, welches im Anschluss sozial wirksam werden kann. Critical pedagogy geht auf die Pedagogy of the Oppressed (F REIRE 2006 [1970]) sowie die späteren Arbeiten zur Pedagogy of Hope (F REIRE 2014 [1992]) zurück, besonders auf die jeweiligen Fortführungen im neomarxistisch orientierten Diskurs in Nordamerika (G IROUX 1983). In der internationalen Fremdsprachenforschung haben sich insbesondere G RAY (2002) sowie C ROOKES (2009; 2013) und A KBARI (2008b) um die fremdsprachenunterrichtliche Perspektivierung von critical pedagogy-Prinzipien verdient gemacht (Übersicht auch in G ERLACH 2020: 12-15). Insgesamt geht es um die Idee, auf Seiten von Lernenden das oben angedeutete kritische Bewusstsein zu fördern, welches nicht ausschließlich eine Relevanz im Unterricht hat. Interessanterweise war es F REIRE in seiner Arbeit immer wichtig, basale schriftsprachliche Kompetenzen zu fördern: Diese waren der ‚Schlüssel zur Welt‘, der Schlüssel, die Welt zu lesen und zu verstehen. Ohne basale Lese- und Schreibkompetenz waren ein Verstehen oder gar ein produktiver Umgang mit relevanten Themenstellungen nicht 18 David Gerlach DOI 10.24053/ FLuL-2024-0016 53 • Heft 2 möglich. Dies deckt sich mit grundsätzlichen Überlegungen zu inklusivem (Sprach-) Unterricht, der sehr stark von Schriftsprache abhängig ist und dann schwache Lernende vernachlässigt, wenn diesen Schriftsprache bzw. schriftsprachliche Prinzipien nicht systematisch vermittelt und zugänglich gemacht werden (E NGELEN / G ERLACH 2022; G ERLACH / S CHMIDT 2021). Je nachdem, welchen (internationalen) Diskurs man sich um die Konstrukte critical literacy und critical pedagogy anschaut, spielt die Welt außerhalb des Klassenraums eine mehr oder minder bedeutsame Rolle: Gerade die neomarxistische Tradition von critical pedagogy (im Anschluss an F REIRE 2006 und G IROUX 1983) wird in Nordamerika nicht selten zum Anlass genommen, das Konstrukt von critical pedagogy zu vernachlässigen oder stärker von critical literacy zu sprechen, selbst wenn auch transformatorischer Wandel im Sinne von social justice education außerhalb des Klassenraums impliziert ist. In seiner puristischen Form arbeitet critical literacy primordial zunächst einmal auf Textebene (vgl. G ERLACH 2020). 2.3 Kritische Diskursfähigkeit Diskursbewusstheit bzw. -fähigkeit haben als Zielkonstrukte des Fremdsprachenunterrichts in den vergangenen zehn Jahren an Momentum gewonnen. H ALLET (2008) formulierte bereits ausgehend von P IEPHO s Diskursbegriff (1974), was Diskursfähigkeit in einem modernen Fremdsprachenunterricht bedeuten müsste, wenn dieser Diskurs im F OUCAULT ’schen Sinne verstehen und gleichzeitig einen gewissen Bildungsanspruch verfolgen möchte. In den Bildungsstandards für die Mittlere Reife wird eine solche Diskursfähigkeit mittlerweile etwas stärker ausdifferenziert eingefordert (KMK 2023) als noch in der letzten Fassung für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012), in welcher Diskursfähigkeit nicht über funktional-pragmatische Fertigkeiten hinausging. Gemeinhin versteht sich Diskursfähigkeit als ein Bündel an Fähig- und Fertigkeiten, die dabei helfen, in komplexen sozialen und interaktionalen Kontexten in Austausch treten zu können. Hierzu gehört dann im sprachanalytischen Sinne ebenfalls das Dekodieren versteckter, machtvoller Botschaften oder beispielsweise das Entschlüsseln der Fragen von (Nicht-)Repräsentation. Bezüge lassen sich hierbei häufig herstellen zu K RAMSCH s (2006) Diskussionen von symbolischer Macht und symbolischer Kompetenz dahingehend, dass Sprachenlernen im 21. Jahrhundert über den Zweck der Kommunikation hinausgehen und kontextsensibel für den Austausch symbolischer Güter unter machttheoretischen Vorzeichen sein muss. Auch wenn sie diese grundlegende Idee zunächst ausschließlich für das Sprachenlernen von Erwachsenen konzeptualisiert hat, wird es zunehmend auch für jüngere Lernende relevant gesetzt. Insbesondere als Gegenentwurf zur interkulturellen kommunikativen Kompetenz konzeptualisiert P LIKAT (2017) die Idee von Diskursbewusstheit: Er verknüpft bildungstheoretische Konstrukte wie z.B. transformatorische Bildung nach K OLLER (2018) und sprachtheoretische Konstrukte wie Diskurstheorie und Sprachbewusstheit mit Menschenrechten. Letztere dient hierbei als universelle Grundlage, um jenseits Diversitätsorientierung und Kritische Fremdsprachendidaktik 19 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0016 von je spezifischen rechtsstaatlichen Bedingungen oder kulturtheoretischen Konstrukten sich der Qualität (oder Macht) von Diskursen bewusst zu werden und diese Machtförmigkeit als Teil der Diskurse zu entlarven. M ARXL und R ÖMHILD (2023) diskutieren den Begriff einer kritischen Diskursfähigkeit ausgehend von H ALLET (2008) und P LIKAT (2017), aber auch K RAMSCH s symbolischer Kompetenz. Sie argumentieren, dass allen drei Konzeptionen von Diskursfähigkeit/ -bewusstheit bereits ein philosophisch-kritisches Moment durch die Bezüge zu F OUCAULT (1980) oder auch F AIRCLOUGH (2015) innewohnt, meinen jedoch, dass das Schaffen eines Bewusstseins über machtvolle Diskursstrukturen allein nicht reicht. Es sei vor allem wichtig, „über eine reine Bewusstmachung hinauszugehen und Lernende darin zu unterstützen, aktiv und kritisch-reflektiert an globalen, mehrsprachigen Diskursen teilzunehmen“ (M ARXL / R ÖMHILD 2023: 114). Hierfür dienen ihnen (ähnlich wie P LIKAT 2017) universelle Menschenrechte als Wertekompass, entlang dessen sie Diskurse (oder Diskursfragmente) bewerten und sich selbst positionieren können. Eine so verstandene kritische Diskursfähigkeit ist damit in Einklang zu bringen mit einer an kritischen Gegenständen orientierten Kritischen Fremdsprachendidaktik - kritische Diskursfähigkeit kann als Kompetenzziel auf Seiten der Lernenden verstanden werden, welche durch ein Engagement entlang relevanter Gegenstände entsteht. Das aktivistische Momentum einer critical pedagogy ist in dem Konstrukt von kritischer Diskursfähigkeit noch nicht enthalten, letztere ist aber eine notwendige Voraussetzung für eine solche relevante Partizipation an Diskursen außerhalb des fremdsprachlichen Klassenzimmers. 3. Zum Verhältnis von Neurodiversität, Diversitätsorientierung und Kritischer Fremdsprachendidaktik Neurodiversität versteht sich als wertschätzende Orientierung, welche Diversität in verschiedenster Form würdigt. Es ist vor allem ein theoretisches und auch durchaus politisches Konzept, das Differenz als Ressource wertschätzt, Barrieren eher in sozialen oder gesellschaftlichen Strukturen sieht - und damit grundlegende Überschneidungen mit Prinzipien einer kritischen Fremdsprachendidaktik aufweist. Eine durch Neurodiversität beeinflusste Perspektive auf Unterricht zeichnet sich nicht nur dadurch aus, Defizite auszugleichen, welche z.B. auf Grundlage von Lernschwierigkeiten bestehen, sondern sie bemüht sich um das gleichwertige Herstellen von Bildungschancen in heterogenen Lerngruppen (B ÜNDGENS -K OSTEN / B LUME 2022; s. auch in diesem Heft). Damit unterscheidet sich Neurodiversität auf den ersten Blick nicht von einem weiten Inklusionsbegriff, geht aber tatsächlich noch einige Schritte weiter: Neurodiversität zelebriert nicht nur Unterschiedlichkeit, sie betont sie, klärt auf über die Ursachen der Unterschiede, fördert ein Bewusstsein über z.B. Lernschwierigkeiten wie Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts-)Störung (AD(H)S) oder Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS) und zeigt damit eine deutlich politischere Agenda als es Diskurse rund um inklusiven Fremdsprachenunterricht vermö- 20 David Gerlach DOI 10.24053/ FLuL-2024-0016 53 • Heft 2 gen (G ERLACH / S CHMIDT 2021). In letzteren gab es zwar in den vergangenen Jahren eine Öffnung hin zu einem weiten Inklusionsverständnis, das neben den klassischen sonderpädagogischen Förderbedarfen auch Aspekte wie Gender oder Mehrsprachigkeit als Diversitätskategorien in Betracht zieht. Gleichzeitig ist der fremdsprachendidaktische Diskurs rund um Inklusion didaktisch-methodisch weiterhin relativ eng auf Aufgabenorientierung beschränkt, welcher als Ansatz hochstilisiert wird und dann (möglicherweise) Anforderungen inklusiver Bildung im Fremdsprachenunterricht einzulösen vermag (vgl. ebd.). Meist verbleiben diese Lösungsoptionen allerdings auf der Ebene von individualisierenden oder differenzierenden Maßnahmen, im besten Fall wird das Potential von Aufgaben als Lernen am Gemeinsamen Gegenstand (F EUSER 2011) genutzt. Differenzierung durch Aufgaben allein erfüllt nicht die von Neurodiversität an den Unterricht herangetragenen Anforderungen, da sich diese Ausgestaltung von inklusivem Fremdsprachenunterricht zunächst einmal nicht notwendigerweise didaktisch (d.h. an notwendigen Themen) orientiert, sondern an der methodischen Umsetzung bzw. der methodischen Adressierung von Differenz im Unterricht. Ein von Neurodiversität inspirierter Fremdsprachenunterricht fokussiert - ähnlich wie eine Kritische Fremdsprachendidaktik - ganz bewusst auf relevante Themen und Gegenstände. Er verfolgt dabei aber keinen „usualisation approach“ (S EBURN 2021: 110-116), der Diversität über Texte oder Materialien versucht zu normalisieren, sondern macht Diversitätsmerkmale explizit, konfrontiert Lernende (und Lehrende) mit ihnen. B ÜNDGENS -K OSTEN und B LUME (2022) argumentieren, dass Normalisierungsansätze („usualisation approaches“) zwar sensibilisieren können, im schlechtesten Fall aber „neurodivergente Personen zwar symbolisch vertreten sind, jedoch als Karikaturen ihrer selbst oder als auf neurotypisch-konforme Aspekte reduzierte Hüllen“ (ebd.: 238) wahrgenommen werden. Sie favorisieren stärker einen „disruptive approach“ (S EBURN 2021: 117-148), wie er auch häufig als Grundlage z.B. für die Förderung von gender awareness genutzt wird, bei der die Stimmen der Personen, die als anders/ neurodivergent angesehen werden können, explizit Gegenstand des Unterrichts werden. Dies ist die entscheidende Gemeinsamkeit eines Neurodiversitäts- Ansatzes mit einer Kritischen Fremdsprachendidaktik: Beide machen bestimmte, entlang der normativen Setzungen relevante Themen zum Gegenstand des Fremdsprachenunterrichts, die aufrütteln, sensibilisieren und zum Handeln animieren (vgl. auch C HAPMAN 2020). Lernende (und Lehrpersonen) werden im positiven Sinne dazu gezwungen, sich gegenüber diesen Themen von Diversität oder Sozialem zu positionieren. Generische Lehrwerkthemen vermögen dieses Potenzial nicht vollumfänglich zu nutzen, möchten sie doch eine relativ breite Schüler*innenschaft adressieren und gleichzeitig unter curricularen und standardorientierten Vorgaben in Schule funktionieren (vgl. G ÜLLÜ / G ERLACH 2023). Diversitätsorientierung und Kritische Fremdsprachendidaktik 21 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0016 4. Didaktisch-methodische Implikationen einer Kritischen Fremdsprachendidaktik für neurodiversitätssensiblen Fremdsprachenunterricht Hintergrund der kritischen Fremdsprachendidaktik, wie ich sie gemeinsam mit Kolleg*innen für den Sammelband im Jahr 2020 vorgeschlagen und anhand eines Einführungskapitels umrissen habe (G ERLACH 2020), ist zunächst eine Frage der inhaltlichen Ausgestaltung, der Frage nach relevanten Themen jenseits von lehrwerkorientierten ‚happy place topics‘. Critical literacy und critical pedagogy sind hier die dominanten Bezugskonstrukte, mittels derer ich die Relevanz einer De- und Rekonstruktion von Texten (critical literacy) oder Praxen (critical pedagogy) und den transformatorischen Umgang mit den Ergebnissen befürwortet habe. Methodische Fragestellungen oder Fragen nach der Gestaltung der Interaktionen zwischen Lehrenden und Lernenden in einem an bildungstheoretischen Werten orientierten Fremdsprachenunterricht (vgl. z.B. B ONNET / H ERICKS 2020a) waren zu dem Zeitpunkt noch nicht im Fokus. Das Konstrukt der Diskursfähigkeit bzw. kritischen Diskursfähigkeit und seine Entwicklung mitsamt den zuletzt vorgelegten Vorschlägen von M ARXL und R ÖMHILD (2023) bieten Anlass, sich genauer die nötigen Aushandlungsprozesse und Lerner*innenprodukte zu betrachten, die in einem kritischen Fremdsprachenunterricht anfallen. Kritische Themen als gemeinsamer Gegenstand nach F EUSER (2011) in einem diversitätsorientierten Fremdsprachenunterricht können angebunden werden an ein breites Inklusions- und Diversitätsverständnis von (dis)ability, gender, race, sozialer Klasse oder Bildung für nachhaltige Entwicklung. Diese (intersektionalen) Themen sollten die Gesellschaft in einer gewissen Breite interessieren. Diese normative Setzung ist sodann im besten Falle im Einklang mit der bildungspolitischen Erwartung, mündige Bürger*innen zu bilden, welche jetzt und später in der Gesellschaft verantwortungsvoll handeln. Wie sieht nun wiederum die methodische Umsetzung hiervon aus? Wenn es das Ziel ist, kritische Diskursfähigkeit zu den Themen aufzubauen, muss der Unterricht sprachdidaktisch so gestaltet werden, dass er multiple Zugänge zum Thema auf unterschiedlichen Niveaus enthält und auf die Bearbeitung einer Aufgabe hinausläuft, welche Produkte (Lerner*innentexte) in unterschiedlicher Komplexität (oder außerdem in unterschiedlichen Modalitäten) entstehen lassen kann. Unterrichtsplanungsmodelle können helfen, einen solchen Unterricht zu planen und Differenzierungsbzw. auch konkret Übungsmöglichkeiten im kompetenzorientierten Sinne zu identifizieren (E ßER / G ERLACH / R OTERS 2018). Spannend wird eine solche Unterrichtsplanung, wenn die Lehrkraft überlegt, wie und an welchen Stellen man ein (wachsendes) kritisches Bewusstsein feststellen möchte, wie und wann man also erkennen möchte, ob die Beschäftigung mit dem Thema eine Relevanz für die je Lernenden bekommt. In einem eigenen Projekt haben wir dies, einem aktionsforschenden pre-/ post-design folgend, über Gruppendiskussionen versucht einzuholen, indem wir auf Basis der Äußerungen von Lernenden zu Beginn und zum Ende einer Unterrichtseinheit deren 22 David Gerlach DOI 10.24053/ FLuL-2024-0016 53 • Heft 2 Orientierungen (Positionierungen) gegenüber kritisch-feministischen Ansätzen rekonstruiert haben (G RANGER / G ERLACH 2024). Die Lernenden konnten in diesem relativ offenen Lehr-/ Lernsetting eigene Relevanzsetzungen aufstellen und interaktiv mit Peers Meinungen und Perspektiven aushandeln. Das ist aufgrund sprachlicher Voraussetzungen bei jüngeren Lernenden natürlich nicht immer in dieser Komplexität darstellbar. Aber auch dort ist es möglich, über (kürzere) mündliche wie schriftliche Produkte die Analyse von Macht und Sprache z.B. zu vermeintlicher Normalität oder Neurodiversität in Inputtexten einzuholen. Gleichzeitig kann hier eine metasprachliche Reflexion auf Deutsch stattfinden, welche wiederum sinnstiftend für zukünftige Sprechakte in der Fremdsprache genutzt werden kann (G ERLACH 2020). Zur Idee von Neurodiversität gehört nämlich auch, neurodivergenten Lernenden eine Stimme zu geben (im Sinne von critical pedagogy), ihre Geschichten zum Gegenstand des Unterrichts zu machen und damit Diversitätssensibilität - über (Fremd-)Sprache vermittelt - herzustellen. Begleitend betrachtet und forschungsmethodisch untersucht werden müsste in solchen Settings gleichwohl, inwiefern schulische Korrektheits-, Leistungs- und Prüfungsnormen (W ILKEN 2021) oder z.B. der Modus des ‚Schülerjobs‘ (B REIDENSTEIN 2006) lediglich zur Aufgabenerfüllung führen oder (im Gegensatz dazu) eine echte Grundlage für Bildungsprozesse liefern (vgl. auch G REIN / T ESCH 2023), die im Sinne einer Diversitätsorientierung unter den Vorzeichen von Neurodiversität gedeutet werden könnten. Meiner Meinung nach gehört die Verantwortung für das Anleiten bzw. schon für das Herstellen der Möglichkeit eines solchen Prozesses in die Hände der Lehrkraft. Sie ist diejenige, die potenzielle inhaltliche Setzungen im Sinne von neurodiverser oder Kritischer Fremdsprachendidaktik vornimmt. Selbst wenn streng im Sinne von critical pedagogy die Lernenden die Inhalte durch individuelle Interessen, aktuelle Schwerpunkte oder gesellschaftliche Konflikte festlegen, ist es doch an der Lehrkraft, den Unterricht an der Stelle für diese Wünsche zu öffnen und methodisch zu gestalten. Inwiefern dann neurodivergente Lernende selbst auch zum Gegenstand des Unterrichts werden, muss dementsprechend immer sensibel zwischen Lehrpersonen und Lernenden ausgehandelt werden. 5. Implikationen für fremdsprachliche Lehrer*innenbildung Um einen heterogenitätssensiblen, auf theoretischen wie politischen Prinzipien von Neurodiversität aufbauenden Fremdsprachenunterricht mit einem Bildungsanspruch zu gestalten, erscheint es logisch, diese Konstrukte in der fremdsprachlichen Lehrer*innenbildung zu verankern. Damit ist natürlicherweise die Hoffnung verbunden, dass zukünftige Lehrer*innen dieselben Potentiale in diesen Zugängen zu kritischer Diversitätsorientierung sehen und in ihrem späteren Unterricht implementieren (vgl. z.B. auch B LUME / G ERLACH / R OTERS / S CHMIDT 2021). Nimmt man die Grundsätze ernst, müssten die hochschuldidaktischen Interventionen derart gestaltet sein, dass sie auch die identity und agency der angehenden Lehrpersonen adressieren (G ERLACH / Diversitätsorientierung und Kritische Fremdsprachendidaktik 23 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0016 F ASCHING -V ARNER 2020; G ERLACH 2023; G ÜLLÜ / G ERLACH 2023), d.h. ein (berufs-) biographisches Momentum entwickeln, in denen die Lehramtsstudierenden sich zu Neurodiversität positionieren (müssen) und damit eine Reflexionsgelegenheit entsteht. Ein solches Setting geht entsprechend über die reine Wissensvermittlung der Konstrukte hinaus und hat zumindest das Potential, nachhaltiger auf die eigene zukünftige Handlungspraxis zu wirken (G ERLACH 2022). Gleichzeitig müssen wir berücksichtigen, dass die unterrichtliche Praxis des Fremdsprachenunterrichts tendenziell gegen eine solche Diversitätsorientierung und Öffnung zu Neurodiversität strebt, wenn jüngere, insbesondere methodisch-methodologisch rekonstruktiv angelegte Arbeiten herausstellen, 1. dass auch im Englischunterricht in Deutschland eine „textbook-defined practice“ (A KBARI 2008a: 647) vorherrscht, welche unterrichtliche Prinzipien vorbestimmt, denen sich die Lehrperson unterwirft (G ERLACH / L ÜKE 2024), 2. dass unterrichtliche Inhalte (auch durch diese Lehrwerkorientierung) nicht im bildenden Sinne vermittelt und durchdrungen werden, sondern eher im Modus einer Durchprozessierungslogik (B ONNET / H ERICKS 2020b) gesetzt werden, ohne (Neuro-)Diversität reflektierbar zu machen, 3. dass seitens der Lernenden aufgeworfene Themen wie Neurodiversität (oder auch Unwahrheiten, z.B. Verschwörungstheorien) von Lehrkräften nicht selten unreflektiert stehen gelassen werden durch ein Sich-Zurückziehen auf ein falsch interpretiertes Neutralitätsgebot (W EISER -Z URMÜHLEN / S CHILDHAUER / G ERLACH 2023), 4. dass eine im Unterricht gesetzte ‚Korrektheitsnorm‘ (W ILKEN 2021) vermutlich dazu führt, dass heterogene Lerngruppen mit neurodivergenten Lernenden gar nicht im inklusiven Sinne adressiert und gefördert werden können und 5. dass neben dieser Korrektheitsnorm zudem eine institutionell gerahmte Leistungsnorm weiterhin die Implementation von kritischen, gesellschaftlich relevanten Themen verhindert (L ÜKE 2024). Eine diversitätsorientierte und kritische Fremdsprachenlehrer*innenbildung müsste neben der hochschuldidaktischen Implementation der feldimmanenten Themen einer language teacher identity-folgenden Methodik also diese Herausforderungen bewusst machen und agency auf Seiten der angehenden Lehrkräfte insofern fördern, als dass sie gegen diese Praktiken aktiv arbeiten möchten. Dies müsste gleichsam eine identitär nachhaltig wirksame Überzeugung zu Inklusion, Vielfalt und einer (Neuro-)Diversitätssensibilität werden, gleichwohl wir uns darüber bewusst sein müssen, dass viele der in der Aufzählung beschriebenen Praktiken keine bewussten Handlungen sind, sondern habituell einsozialisiert und durch die Strukturhaftigkeit von Schule und Unterricht in Deutschland vorbestimmt sind. Dies ist damit im Wesentlichen auch eine hochschulbzw. ausbildungsdidaktisch-methodische Frage; innovative Ansätze gilt es zu erproben, um Reflexionsgelegenheiten für einen derartigen Unterricht zu gestalten (z.B. M IHAN / G RAF 2021). Zu dieser Hochschullehre und Ausbildung gehören auch engagierte Lehrerbildner*innen, die ein Interesse an einer solchen bildungs- 24 David Gerlach DOI 10.24053/ FLuL-2024-0016 53 • Heft 2 theoretischen Unterfütterung einer inklusiven bzw. (neuro-)diversitätssensiblen Fremdsprachendidaktik haben und sich einer solchen in gleichem Maße hochschuldidaktisch stellen (Einblicke autoethnographischer Natur in B ANEGAS / G ERLACH 2021). 6. Implikationen für die theoretische und empirische Fremdsprachenforschung Selbst wenn wir in der deutschen Fremdsprachenforschung mittlerweile einige Arbeiten vorweisen können, die sich der theoretischen wie empirischen Beforschung inklusiven Fremdsprachenunterrichts verschrieben haben (Übersicht in G ERLACH / S CHMIDT 2021), bleiben natürlich zahlreiche Desiderata offen. Empirische Untersuchungen in der Fremdsprachendidaktik, die dem Neurodiversitätskonstrukt folgen, sind bislang in ihrer Zahl gering bzw. stammen eher aus Aktionsforschungsbzw. Unterrichtsentwicklungsprojekten und sind daher nicht breit publiziert (s. hierzu G OTLING et al. in diesem Heft). Beide Formen von praxisnaher Forschung sind allerdings unbedingt notwendig, um zu verstehen, was im Unterricht entlang Themen rund um Neurodiversität passiert: Wie gehen Lernende mit diesen inhaltlichen Gegenständen oder auch neurodivergenten Peers um? Wie positionieren sie sich? Welche Kommunikationsformen werden in Interaktion mit entsprechenden Themen oder neurodivergenten Peers gewählt, welche sind ggf. angemessen und welche nicht? Wie werden die Gegenstände sprachlich durchdrungen - und welches scaffolding ist seitens der Lehrkraft nötig? Wie entwickelt sich kritische Diskursfähigkeit im Unterricht entlang der thematischen Gegenstände und langfristig entlang wachsender allgemeinsprachlicher Kompetenzen? Diese (und weitere) sind spannende Fragen, welche in Partnerschaft mit Lehrkräften und Schulen - und letztlich auch den Lernenden - beantwortet werden müssten, wenn man die unterrichtlichen Implikationen der oben diskutierten Konstrukte verstehen möchte. Rekonstruktive Methoden vermögen durch ihre Epistemologie und Methodologie die soziale Realität solcher Lern- und Bildungsprozesse einzuholen (B ONNET 2020; G ERLACH 2022; T ESCH / G REIN 2023), berücksichtigen sie doch gerade die Normen, die in einem Unterricht auf die Interaktand*innen (bewusst und unbewusst) wirken. Wenn man davon ausgeht, dass jeder Unterricht politisch ist (A KBARI 2008b; F ÄCKE / P LIKAT / T ESCH 2017) und dieser durch Neurodiversität oder kritische Themen noch einmal stärker politisiert wird bzw. zum Einstehen für Diversität und soziale Gerechtigkeit ermächtigen möchte, wäre es doch überaus lohnenswert sich anzuschauen, was mit allen am Unterrichtsgeschehen Beteiligten dann passiert. Diversitätsorientierung und Kritische Fremdsprachendidaktik 25 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0016 Literatur A KBARI , Ramin (2008a): „Postmethod discourse and practice“. In: TESOL Quarterly 42.4, 641-652. A KBARI , Ramin (2008b): „Transforming lives: introducing critical pedagogy into ELT classrooms“. In: ELT Journal 62.3, 276-283. B ANEGAS , Darío L. / G ERLACH , David (2021): „Critical language teacher education: A duoethnography of teacher educators’ identities and agency“. In: System 98, 102474. 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