eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 53/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2024-0017
121
2024
532 Gnutzmann Küster Schramm

Repräsentation und own voices Literatur im (Fremd-)Sprachenunterricht

121
2024
Jules Bündgens-Kosten
Grit Alter
Neurodiversity is a dimension of heterogeneity rarely considered in textbooks (ALTER 2019; ALTER/KÖNIG/MERSE 2021; ALTER/KÖFFLER 2021). We discuss the potential of texts written by neurodivergent people, i.e. own voices literature, for the EFL classroom, drawing on the notion of epistemic justice (LEGAULT/BOURDON/POIRIER 2021) and own voices literature as education about as well as for the other (KUMASHIRO 2000). Moreover, these texts are relevant for FLT in light of their potential contributions to discourse competence (HALLET 2008) and ability to widen the scope of what may be considered successful communication. With Nelson Beats the Odds (SIDNEY/VAN WAGONER 2015), we discuss ways in which a specific own voices text might be utilized for teaching English in the middle grades.
flul5320028
DOI 10.24053/ FLuL-2024-0017 53 • Heft 2 J ULES B ÜNDGENS -K OSTEN , G RIT A LTER * Repräsentation und own voices Literatur im (Fremd-) Sprachenunterricht Abstract. Neurodiversity is a dimension of heterogeneity rarely considered in textbooks (A LTER 2019; A LTER / K ÖNIG / M ERSE 2021; A LTER / K ÖFFLER 2021). We discuss the potential of texts written by neurodivergent people, i.e. own voices literature, for the EFL classroom, drawing on the notion of epistemic justice (L EGAULT / B OURDON / P OIRIER 2021) and own voices literature as education about as well as for the other (K UMASHIRO 2000). Moreover, these texts are relevant for FLT in light of their potential contributions to discourse competence (H ALLET 2008) and ability to widen the scope of what may be considered successful communication. With Nelson Beats the Odds (S IDNEY / VAN W AGONER 2015), we discuss ways in which a specific own voices text might be utilized for teaching English in the middle grades. 1. Repräsentation Dieser Beitrag betrachtet own voices Literatur im (Fremd-)Sprachenunterricht, vor allem unter dem Blickwinkel von Repräsentation. Wir füllen diesen Begriff inhaltlich und arbeiten seine Relevanz für fremdsprachliche Schul- und Lernkontexte heraus. Lehrwerksanalysen zeigen, dass Menschen mit Behinderung und Neurodivergenz stark unterrepräsentiert sind. Daher diskutieren wir die Relevanz von Repräsentation und die Chancen, die own voices Texte in Bezug auf Repräsentation bieten, auch anhand eines konkreten Beispiels: der graphic novel Nelson Beats the Odds (S IDNEY / V AN W AGONER 2015). Für unseren Kontext verstehen wir Repräsentation als erkennbares Vorkommen auf der Inhalts- und ggf. Produktionsebene in Materialien und Diskursen 1 im Klassen- * Korrespondenzadressen: PD Dr. Jules B ÜNDGENS -K OSTEN , Goethe-Universität Frankfurt, IEAS, Norbert-Wollheim-Platz 1, D-60323 F RANKFURT / M. E-Mail: buendgens-kosten@em.uni-frankfurt.de Arbeitsbereiche: Inklusion, Computer-assisted language learning, Mehrsprachigkeit Prof. Dr. Grit A LTER , Pädagogische Hochschule Tirol, Pastorstraße 7, 6010 I NNSBRUCK E-Mail: grit.alter@ph-tirol.ac.at Arbeitsbereiche: Fachdidaktik Englisch in der Primarstufe, diversitätssensible Lehrwerksforschung, Literaturdidaktik 1 Diskurse im Klassenzimmer sind untrennbar verbunden mit den Menschen im Klassenzimmer: Schüler*innen und Lehrkräfte. Auf Repräsentation in Verbindung mit der Frage, welche Gruppen im Klassenzimmer direkt vertreten sind, gehen wir im Rahmen dieses Artikels nicht weiter ein. Repräsentation und own voices Literatur im (Fremd-)Sprachenunterricht 29 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0017 zimmer. Repräsentation basiert auf der direkten und indirekten Sichtbarkeit von Personen, die einer konkreten Gruppen angehören oder identitätsrelevante Eigenschaften besitzen. Sichtbarkeit ist dabei metaphorisch zu verstehen und zeigt sich nicht nur in Abbildungen, sondern auch in geschriebenen, gesprochenen, gebärdeten sowie multimodalen Texten. Sichtbarkeit verdeutlicht sich auf mehreren Ebenen: Auf der Inhaltsebene (z.B. Thematisierung von Behinderung, Lehrbuchtext über eine berühmte neurodivergente 2 Person) und auf der Ebene der Produktion (wessen Stimmen, wessen Kunst, wessen Literatur im Unterricht gezeigt und diskutiert wird). Die meisten Studien (s.u.) reduzieren Repräsentation auf die Inhaltsebene, d.h. auf ein erkennbares Vorkommen im Material, das Rezipient*innen zeigen kann, dass sie einen Platz in der Gesellschaft und in der Gemeinschaft der Zielsprachenutzenden, haben. B OOTH und N ARAYAN (2018: 213) bezeichnen dies als „place“. Wir betrachten Repräsentation hier jedoch bewusst auch auf der Produktionsebene, die Lesenden das Potenzial aufzeigt, selber Text- und Medienschaffende (ggf. auch in der Zielsprache) zu sein. B OOTH und N ARAYAN (2018: 203) nutzen hierfür den Begriff „possibility“. Auch wenn Repräsentation oft in Bezug auf einen konkreten Text diskutiert wird, mag es hilfreicher sein, Repräsentation im Unterricht als Zusammenspiel einer quantitativen und einer qualitativen Ebene über längere Zeiträume und nicht nur exemplarisch und punktuell zu fassen. Als Minimalvoraussetzung für Repräsentation lässt sich das erkennbare Vorkommen in Lehr-Lernmaterial (ggf. über einen konkreten Zeitraum hinweg) setzen. Wann diese Erkennbarkeit gegeben ist, ist dabei keine naive Frage, da zum Teil subtile Hinweise für manche Rezipierende die Zuordnung zu einer Gruppe nahelegen, die andere Materialnutzer*innen nicht erkennen oder anders lesen. So unterscheidet etwa J ONES (2024) in ihrer Studie zur Sichtbarkeit von Autist*innen in populären Medien zwischen canon characters (Figuren, deren Neurotyp im Material selber expliziert wird, wie Shaun Murphy in The Good Doctor) und coded characters (Figuren, die als einem Minderheiten-Neurotyp zugehörig gelesen werden, z.B. Sheldon Cooper in The Big Bang Theory). Diese Unterscheidung impliziert auch, dass Lesende Zuordnungen vornehmen können, die von Autor*innen nicht zwingend beabsichtigt wurden, aber vom Text ermöglicht werden (vgl. z.B. L IPTON 2008). Zudem wird Sichtbarkeit erst dann zur gelingenden Repräsentation, wenn sie in Quantität und Qualität ausreichend ist. Für die quantitative Ebene mag es naheliegen, sich bei Repräsentation auf statistische Häufigkeitsverteilungen zu beziehen. Dabei entstehen aber durchaus eine Reihe von Herausforderungen, etwa nach der Bezugsgröße: englischsprachige Welt, Bundesrepublik, relevantes Bundesland, direkte Lebensumgebung der Lernenden, Klassenzimmer, etc. Seltene, aber wichtige, 2 Wir verwenden Neurodiversität als Bezeichnung der Heterogenitätsdimension (im Rahmen eines neurodiversity paradigms (W ALKER 2021: 17-20) und Neurodivergenz (bzw. das Adjektiv neurodivergent), wenn wir über Personen, Texte oder Erfahrungen sprechen, die nicht dem Mehrheitsneurotyp entsprechen (siehe auch Einleitung in diesem Band). 30 Jules Bündgens-Kosten, Grit Alter DOI 10.24053/ FLuL-2024-0017 53 • Heft 2 Lebenserfahrungen würden bei einem solchen Vorgehen zudem fast notgedrungen wegfallen, ebenso entstünden Schwierigkeiten, intersektionale Lebenserfahrungen angemessen zu repräsentieren. Auch weitere Fragen stellen sich: Während die Repräsentation alter Menschen in Schulbüchern durchaus kritisiert werden kann (z.B., wie sie dargestellt werden), ist zu fragen, ob tatsächlich 18,66% aller im Schulbuch vorkommender Personen 65 Jahre oder älter sein sollten, wie es dem bundesdeutschen Durchschnitt (bzw. vergleichbaren Zahlen in den anderen deutschsprachigen Ländern) entsprechen würde (S TATISTA 2023). Die Frage, wer und wie repräsentiert werden soll, ist zentral, durchaus komplex und bisher unterbestimmt. Eine Gleichsetzung von Repräsentation mit einer möglichst engen Abbildung gesellschaftlicher Realitäten ist nicht in jeder Hinsicht sinnvoll. Repräsentation auf der qualitativen Ebene kann ebenfalls nicht alleine durch das Vorhandensein einer Figur in einem Repertoire an Figuren erfüllt werden. Es gilt auch eine Bandbreite an Diskursen und Lebenserfahrungen abzubilden und die Figuren als Protagonist*innen holistisch, also in all ihrer Komplexität und Tiefe, in die Narration bzw. Kontexte einzubinden. S EBURN argumentiert, dass dies fast unmöglich sei, wenn nur eine einzige Figur oder Geschichte vorkommt, die eine ganze Gruppe von Menschen repräsentieren soll, und ergänzt: [...] [i]ncreasing frequency isn’t itself the solution: individuals from minority groups can still easily be portrayed as one specific type, possibly feeding into a conscious or unconscious stereotype within the majority group’s perspective. Even if not stereotypical, quite often these individuals may be presented in their safest, most ambiguous versions in order to shield more realistic examples from a perceived target market that could be offended. (S EBURN 2021: 66) Ob eine konkrete Darstellung sachlich korrekt und frei von Stereotypen ist und problematische narrative Strukturen vermeidet, wurde in Bezug auf Kinder- und Jugendliteratur (A LTIERI 2008; P RATER 2003; V ENKER / L ORANG 2024) und Populärkultur (J ONES 2024; K IRBY 2019) mehrfach wissenschaftlich betrachtet. Dabei ist die Frage, auf wessen Wissens- und Erfahrungsbasis diese Einstufung getroffen wird, zentral. Lehrkräfte oder Wissenschaftler*innen könnten hierbei durchaus andere Perspektiven haben als Personen mit lived experience, wobei sich diese Kategorien überlappen können (wie in J ONES 2024) und auch in jeder dieser Kategorien selbst eine gewisse Bandbreite an Perspektiven zu erwarten ist. 3 Was unter Qualität der Sichtbarkeit genau verstanden wird, variiert (vgl. z.B. S EBURN 2021; R IEGER / M C G RAIL 2015: 19). 1.1 Repräsentation im Lehr-Lern-Material Einer der Kontexte, in dem die Darstellung von Diversität relevant ist und auch mehrfach empirisch untersucht wurde, ist die Gestaltung von Lehrwerken. Aktuelle For- 3 Es geht über den Rahmen dieses Beitrags hinaus, diese Frage unterschiedlicher Perspektiven auflösen zu wollen. Es soll aber auf die Möglichkeit partizipativer Prozesse hingewiesen sein (vgl. z.B. das LEANS Projekt (Learning about neurodiversity at school) an der University of Edinburgh). Repräsentation und own voices Literatur im (Fremd-)Sprachenunterricht 31 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0017 schung zeigt, dass Lehrwerke als zentrale Bildungsmedien von einer gleichwertigen Repräsentation unterschiedlicher Identitäten weit entfernt sind. So identifizieren A LTER / K ÖNIG / M ERSE (2021) zwar positive Tendenzen auch in Bezug auf die Darstellung von Neurodiversität und körperlicher Variationen, jedoch sind Defizite bei der Repräsentation von neurodivergenten Menschen und sichtbarer körperlicher Behinderung frappierend (A LTER 2019; A LTER / K ÖFFLER 2021; A LTER / K ÖNIG / M ERSE 2021; H EINEMANN 2020). In den acht untersuchten österreichischen Grundschullehrwerken für die Fächer Deutsch, Mathematik, Sachunterricht und Englisch sind in nur 0,8% der Abbildungen rollstuhlnutzende Menschen zu sehen, nur 4,9% der Menschen tragen Brillen (A LTER / K ÖFFLER 2021). Neben dieser verschwindend geringen quantitativen Repräsentation sind diese Menschen nur in absoluten Ausnahmefällen in Handlungen oder Gespräche eingebunden. Ähnliche Schlussfolgerungen ziehen A LTER / K ÖNIG / M ERSE (2021) aus der Analyse von drei deutschen Englischlehrwerken für die neunte Klasse. Hier belegen die wenigen Ausnahmen, dass die Darstellung von Behinderung „wenig Zwischenräume außerhalb von ‚Behinderung-als-individuelles- Problem‘ und ‚Perfektion-trotz-Behinderung‘“ (ebd.: 97) bzw. einem Verständnis von Behinderung als Folge von Krieg erlaubt. Ein nennenswertes Beispiel stammt aus Notting Hill Gate, in dem mit Madeline Stuart ein bekanntes Model mit Trisomie 21 ausführlich vorgestellt wird (vgl. ebd.). In der umfangreichen Analyse von deutschen Lehrwerken für den Englischunterricht der Sekundarstufe I argumentiert H EINEMANN (2020: 182), dass diese in Bezug auf Behinderung „gesellschaftliche Normen tradieren und damit auch das Ergebnis von vorhandenen Paradigmen und Vorurteilen in Bezug auf Behinderung sind“. Die möglichen Wirkungen hiervon sollen im Folgenden herausgearbeitet werden. 1.2 Wirkungen von gelingender/ nicht-gelingender Repräsentation Die Literatur zur Repräsentation von Behinderung nimmt unterschiedliche Effekte für Lesende mit und ohne Behinderung an. So argumentiert z.B. H EINEMANN mit den Informationsbedürfnissen von Menschen ohne Behinderung, für die Medien oft die einzige Informationsquelle seien: „Daher ist es wichtig, zu wissen, welches Bild über Menschen mit Behinderung, insbesondere in Schulbüchern, verbreitet wird da die nachfolgenden Generationen daraus ihr Wissen beziehen“ (H EINEMANN 2020: 23). M AICH / B ELCHER (2012) sprechen im Zusammenhang mit Kinderbüchern, in denen autistische Figuren vorkommen, von ‚peer awareness‘. Dabei geht es primär um eine „education about the other“: das Vermitteln von Wissen über und Entwickeln von Empathie gegenüber von Marginalisierung betroffenen Personengruppen (K UMASHIRO 2000: 31-35). Für Menschen, die direkt von fehlender Repräsentation (von Aspekten) ihrer Identität oder ihres Erlebens betroffen sind, werden negative Effekte auf Lernmotivation und Lebensqualität angenommen: 32 Jules Bündgens-Kosten, Grit Alter DOI 10.24053/ FLuL-2024-0017 53 • Heft 2 The compressing, deflating, or damaging effect lack of representation and negative portrayals can have on the identities of members of marginalized groups may be nearly impossible to fully grasp if you’ve not experienced it yourself. (S EBURN 2021: 54-55) Zudem argumentiert J ONES (2024: 2), dass für diese Personengruppen bei stereotyper Darstellung in Populärmedien ein Risiko der Internalisierung der dargestellten negativen Diskurse besteht. Nicht-stereotype Darstellung in schulischen Medien kann hier einen gewissen Ausgleich schaffen. Bei Überlegungen in Bezug auf Lernende, die von mangelnder Repräsentation im oben genannten Sinne betroffen sind, gehen die meisten Autor*innen in ihrer Kritik nicht so weit, das Ideal einer wirklichen „education for the other“ (K UMASHIRO 2000) zu verfolgen. Das wäre eine Bildung, die nicht nur Empathie fördert und Wissen vermittelt, sondern auch Personen, die Othering erleben, aktiv unterstützt, ihnen Rollenmodelle anbietet oder ihre Diskursteilnahme fördert ohne Anpassung an eine Norm zu verlangen (K UMASHIRO 2000: 27-29). Das Abwenden von Schaden steht stärker im Mittelpunkt als die Befähigung zu self-advocacy. 1.3 Repräsentation im Fremdsprachenunterricht Die oben angebrachten Aspekte lassen sich auf eine Vielzahl von Fächern anwenden. Im Kontext des Fremdsprachenunterrichts kann mangelnde Repräsentation auch bedeuten, dass nicht alle Lerner*innen Personen wie sie selber als legitime Sprachnutzende erleben. Sprach-Lehr-Lernmaterial, das auch Menschen mit Spracherwerbsstörungen oder Artikulationsschwierigkeiten, Menschen, die stottern, Menschen, die langsamer und bedächtiger sprechen oder die mithilfe unterstützender Technologie kommunizieren, mitmodelliert, ist den Autor*innen unbekannt. 4 Bestimmte Arten zu kommunizieren werden damit implizit delegitimiert und es wird manchen Lernenden schwerer gemacht, sich als zukünftige kompetente Zielsprachennutzende zu imaginieren. Der Mangel eines solchen „elaborate and vivid future self image“ (D ÖRNYEI 2010: 19; vgl. U SHIODA 2011: 203) hat leicht einen negativen motivationalen Effekt. Eine andere Folge mangelnder Repräsentation hängt mit dem Konzept der epistemischen Ungerechtigkeit (F RICKER 2007) zusammen, das von L EGAULT / B OURDON / P OIRIER (2021) und C HAPMAN / C AREL (2022) auf Neurodiversität übertragen wurde: Epistemic injustices are situations where persons who do not belong to a dominant social group are denied (or simply not offered) access to or participation in the shared epistemic resources. The various concepts and knowledge base available do not represent their lived experience (hermeneutic injustice), and their testimony is given less weight to shape the collective epistemic resources (testimonial injustice). (L EGAULT / B OURDON / P OIRIER 2021: o.S.) Im Kontext des Fremdsprachenunterrichts ist hier z.B. relevant, inwiefern die eingeführten Redemittel es allen Lernenden erlauben, ihre Bedürfnisse zu kommunizieren 4 Das soll nicht heißen, dass es keine literarischen Texte gäbe, die solche Figuren enthielten, und die prinzipiell auch im Fremd- oder Zweitsprachunterricht bearbeitet werden könnten. Repräsentation und own voices Literatur im (Fremd-)Sprachenunterricht 33 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0017 und Erfahrungen zu teilen, inwiefern ihre unterschiedlichen Lebenserfahrungen sichtbar gemacht und gewürdigt werden und ob der Englischunterricht Raum bietet, diese Erfahrungen zu teilen, oder ob bestimmte Arten von Erfahrungen und Lebenswelten über andere priorisiert werden. Für die Fremdsprachendidaktik sind zudem Konzepte wie Diskursfähigkeit (H ALLET 2008) relevant. Lernende mit hoher Diskursfähigkeit können sich nicht nur flexibel und situationsangemessen verschiedener sprachlicher und nicht-sprachlicher Mittel bedienen, sie können auch am Diskurs über Diskurs teilnehmen: Lernende verfügen über sprachliche und nicht-sprachliche Mittel, ihre Bedürfnisse in Bezug auf Kommunikation zu verdeutlichen und auf die Bedürfnisäußerungen anderer zu reagieren, z.B. darum zu bitten, langsamer oder in einfacheren Sätzen zu sprechen, Umgebungsgeräusche zu reduzieren, die Antwort von einem digitalen Endgerät abzulesen oder eine Sitzanordnung zu wählen, die weniger stressinduzierend ist. Damit diese „metadiskursive Kompetenz“ (H ALLET 2008: 87) ausgebaut werden kann, muss aber erst der Raum geschaffen werden, in dem unterschiedliche Kommunikationsbedürfnisse sichtbar werden (dürfen) und in dem „die Reflexion, Hinterfragung und Kritik von Diskursverläufen, -regeln oder -verhalten eingeübt werden kann“ (ebd.: 87). Die pedagogy of multiliteracies (N EW L ONDON G ROUP 1996) erinnert uns zudem daran, dass sich meaning making nicht nur verbalsprachlich manifestiert und erfolgreiche Kommunikation verschiedene Sprachen und Modalitäten kombinieren kann. 5 Aus der Perspektive einer kritischen Fremdsprachendidaktik (G ERLACH 2020) sollte angemerkt werden, dass Repräsentation als Selbstzweck immer Gefahr läuft, den Diskurs nur minimal zu erweitern, ohne aber substantielle Veränderung zu vollbringen. Auch ein Text, in dem Personen mit einer Vielzahl von Gruppenzugehörigkeiten und Eigenschaften repräsentiert sind, kann unkritisch Othering betreiben oder in anderer Form existierende Marginalisierungen verstärken oder stützen. Der kritische Blick auf den Diskurs selbst (im Sinne einer neuroqueer inquiry, um Nelsons (2009) queer inquiry und das Konzept von Neurodivergenz als neuroqueerness 6 zusammenzufügen) ist hier ein wichtiger weiterer Baustein, für den an dieser Stelle leider der Platz für eine detaillierter Reflexion fehlt (vgl. in diesem Kontext auch die Überlegungen zu criticality im literacy-fokussierten Aufsatz von R ABINOWITZ et al. (2024)). 5 Ähnlich der unterschiedlichen Kommunikationsmodi, die in multimodaler Literatur genutzt werden, ermöglicht die Perspektive der Crip Linguistics (H ENNER / R OBINSON s 2023) eine Erweiterung dessen, was wir auch im Fremdsprachenunterricht als languaging verstehen und als Zielnorm des Fremdsprachenunterrichts definieren. 6 Y ERGEAU bezeichnet den Begriff neuroqueer als „a relatively new and web-based invention“, den sie*er einer Kollaboration der autistischen Blogger*innen Ibby Grace, Athena Lynn, Michaels-Dillon, Nick Walker und sich selbst zuschreibt (Y ERGEAU 2018: 27). Vgl. dazu auch W ALKERS Buch (2021), das dem Begriff weitere Sichtbarkeit gegeben hat. 34 Jules Bündgens-Kosten, Grit Alter DOI 10.24053/ FLuL-2024-0017 53 • Heft 2 1.4 Own voices: Definition und Forschungsstand Own voices Texte sind Texte von Autor*innen, die marginalisierten Personengruppen angehören und die deren Erfahrungen widerspiegeln; es sind Texte, die Repräsentation auf der Inhalts- und Produktionsebene leisten. 7 Aus einer sprachdidaktischen Perspektive haben sie das Potential, angemessene Darstellungen von sonst unter- oder fehlrepräsentierten Gruppen zu transportieren. 8 Sachliche Korrektheit und Realismus können auch andere Autor*innen bieten, gute Recherche und/ oder langjährige Kontakte mit entsprechenden Communities vorausgesetzt. Aber nur own voices Texte zeigen Lesenden, die diesen marginalisierten Gruppen angehören, die Option auf, selber Autor*innen zu sein („place and possibility“, B OOTH / N ARAYAN 2018: 203). Damit haben sie einen besonderen Stellenwert sowohl in einer „education about the other“ (Empathie- und Disruptions-förderndes Lernen über marginalisierte Personengruppen) sowie einer „education for the other“ (K UMASHIRO 2000). Empirisch belegt sind diese Annahmen - wie auch die oben diskutierten - kaum. Quantitative und qualitative Studien, die über das rein Anekdotische hinausgehen und Effekte auf Lernende beschreiben, sind uns nicht bekannt. Diskussionen, die einzelne Datenpunkte aufnehmen, wollen wir im Folgenden kurz darstellen. R UTHERFORD / J OHANSON / R EDDAN (2022) analysieren den Diskurs um ein nicht-own voices young adult fiction Buch mit einer trans Hauptfigur und benennen drei Kritikpunkte innerhalb des Diskurses über nicht-own voices Texte: Fehlrepräsentation, Appropriation sowie variable Einschätzungen ästhetischer Qualität. L EONHARDT / V IEBROCK (2020) berichten davon, dass own voices eine relevante Kategorie für Englisch-Lehramtsstudierende sei, die sich mit Literatur über trans experience beschäftigen (2020: 46f.). S EBURN trifft seine oben zitierte Feststellung auch mit der lived experience eines Angehörigen der queeren Community. Trotz des noch schmalen Forschungsstandes sind Argumente für die Verwendung von own voices Texten im Fremdsprachenunterricht plausibel, z.B. als Teil einer multiperspektivischen Auseinandersetzung mit einem Thema (neurodiverse text ensembles, analog zu „queer text ensembles“ (M ERSE 2019)), oder um Lernende zu ermutigen, sich selbst als legitime Diskursteilnehmende und/ oder potentielle Autor*innen zu sehen. Besonders im Oberstufenkontext könnte es spannend sein, anhand von own voices Texten, neben literaturdidaktischen Fragen auch Fragen im Kontext kritischen Fremdsprachenunterrichts (z.B. standpoint aesthetics, positionality) oder mit Bezug zur politischen Dimension von language awareness (J AMES / G ARRET 1991) zu bear- 7 Dabei ist zu beachten, dass Texte oft nicht von einer Person alleine geschaffen werden, sondern in komplexen Publikationssystemen. Herausgeber*innen, Auftraggeber*innen, Übersetzer*innen, Illustrator*innen sind Teile dieses Publikationssystems und können so direkt oder indirekt auch zu Repräsentation beitragen. 8 Je nach Text kommen weitere Potentiale von own voices Texten hinzu, z.B. in Bezug auf Wortschatzerwerb, Lesekompetenz, literarische Kompetenz, multiliteracies, etc., die jedoch nicht aus ihrer Eigenschaft als own voices Texte entstehen. Repräsentation und own voices Literatur im (Fremd-)Sprachenunterricht 35 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0017 beiten. Dass kritische Arbeit mit der Darstellung von Behinderung aber prinzipiell in jeder Klassenstufe möglich ist, zeigen T ONDREAU / R ABINOWITZ (2021). Bei own voices Texten handelt es sich nicht nur um traditionelle Schriftprodukte (z.B. die young adult novel A Kind of Spark (M C N ICOLL 2020) oder die Kurzgeschichte Ich lese (S CHERNEKAU o.J..), auf Deutsch und in einfacher Sprache). Multimodale Texte wie Bilderbücher (z.B. Junkyard Wonders (P OLACCO 2010), I Talk Like a River (S COTT / S MITH 2022), We Move Together (F RITSCH / M C G UIRE / T REJOS 2021) auf Englisch und - in Videoform auf der Begleitseite https: / / wemovetogether.ca - in ASL) und graphic novels (z.B. Schattenspringer (S CHREITER 2014)), aber auch digitale Formate wie z.B. Webcomics (z.B, von L ILISPECTRUM (2023)) oder bild- und videobasierte Social Media Texte zählen dazu. Dies ist nicht nur aus einer multiliteracies- Perspektive (N EW L ONDON G ROUP 1996), oder aus der Perspektive einer Bildung in der digitalen Welt (K ULTUSMINISTERKONFERENZ 2017) wichtig, sondern demonstriert auch die Möglichkeiten, die das nicht-geschriebene Wort für die Kommunikation und den Ausdruck der eigenen Ideen eröffnet - eine Möglichkeit, die nicht nur für Lernende mit schriftbasierten Behinderungen relevant sein kann. 2. Didaktisches Potenzial und methodische Ansätze Das Potenzial von own voices Texten für die untere Mittelstufe zeigen wir anhand eines Textes aus dem Neurodiversitätskontext (spezifisch: Repräsentation von neurodivergenten Personen) auf: eine graphic novel über Lernbehinderung und Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) 9 von einem Autoren, der sich öffentlich als Person mit ADHS- und Lernbehinderungsdiagnose positioniert und einer Illustratorin, die keine öffentliche Aussage zu ihrem Neurotyp getroffen hat. Entsprechend verstehen wir das Buch als Beispiel für einen own voices Text mit direktem Bezug zu Neurodiversität bzw. Neurodivergenz. Neurodiversität - in den 1990ern von Judy S INGER in einer Selbsthilfe-Mailing List geprägt - betont, analog zum Konzept der Biodiversität, die Vielfalt darin, wie Menschen ihre Umgebung wahrnehmen, Informationen verarbeiten und Ideen ausdrücken. In diesem Sinne kann das Neurodiversitäkonzept dazu dienen, die Heterogenität von Gruppen und die Erfahrungen und Bedürfnisse aller Menschen - auch solcher, die neurotypisch sind - in den Blick zu nehmen. Eine zweite Lesart fokussiert Neurominderheiten explizit. Ein Beispiel hierfür ist z.B. B AKER , die Neurodiversität als eine Beschreibung für atypical functionalities found in individuals who have identifiable neurological differences and […] their interactions with individuals considered neurologically typical in the context of public infrastructures built around a presumption of neurotypicality (B AKER 2011: 22) verwendet. Eine wachsende Anzahl an Autor*innen - und auch Aktivist*innen - bevorzugt für letzteres den Begriff Neurodivergenz. 9 Wir nutzen hier den medizinischen Fachbegriff ‚Störung‘, ohne uns seine Konnotationen zu eigen zu machen. 36 Jules Bündgens-Kosten, Grit Alter DOI 10.24053/ FLuL-2024-0017 53 • Heft 2 2.1 ADHS und Nelson Beats the Odds Nelson Beats the Odds (S IDNEY / VAN W AGONER 2015) ist eine graphic novel, in der es Nelson, dem Protagonisten, gelingt, sich entgegen der Erwartungen einiger Lehrpersonen und mit der Unterstützung seiner Familie und einer zugewandten Lehrperson schulisch und akademisch durchzusetzen und die Universität erfolgreich zu absolvieren. Die Geschichte, und auch die enthaltenen Zitate bekannter Persönlichkeiten, fokussieren akademischen Erfolg und andere traditionelle Verständnisse von Erfolg. Dass es abseits der hier genormten schulischen Laufbahn bis zur Hochschule weitere erfolgreiche Lebenswege gibt, bleibt in der Handlung unbeachtet. 10 Im Fokus der unterrichtlichen Behandlung stehen Nelsons Konflikt und Streben nach Selbstverwirklichung. Er ist ein Schwarzer Junge, der in einer hauptsächlich Schwarzen Gemeinschaft aufwächst. 11 Nelson ist an der middle school; er wirkt selbstbewusst und ausgeglichen, er fühlt sich in seinem Freundeskreis wohl. Lernen fällt ihm jedoch schwer. Seine Lehrerin, Mrs. Gronkowski, reagiert auf seine Unterrichtsstörungen ungehalten, ist aber nicht unfreundlich oder offensichtlich gemein zu ihm. Sie gibt Nelsons Eltern den wohlgemeinten und wichtigen Hinweis, dass er ADHS und eine Lernbehinderung haben könnte. Visuell wird sie in kleineren Abbildungen aus der Vogel-, in größeren Abbildungen, wenn Sie mit Lernenden interagiert, aus der Froschperspektive gezeigt. Die Bildsprache impliziert, dass die Lernenden sie als bedrohlich empfinden. Als sie mit Nelsons Eltern spricht, begegnet sie ihnen auf Augenhöhe. Nelson trifft die Entscheidung seiner Eltern, den Sonderschulzweig besuchen zu müssen, sehr. Er hat Angst davor, seinen Freundeskreis zu verlieren und möchte nicht als anders gelten. In der neuen Klasse trifft er dann auf Mrs. T., die an ihn glaubt und ihn unterstützt. „If you can believe it, you can achieve it“ steht groß an der Wand in ihrem Klassenzimmer und wird zu Nelsons Motto. Mrs T. erscheint nur dann aus der Froschperspektive, als sie Nelson die Hand reicht, um auch ihn groß zu machen, und sagt: „You can do it! “. Er beginnt an sich zu glauben, entwickelt Freude am Lernen und Selbstbewusstsein. Nach drei Jahren Sonderschulzweig steht der Wechsel in die high school an, für die sich Nelson wieder gemeinsam mit seinen Freunden in den regulären Unterricht einschreibt. Er ist geschockt, als er wieder in mehreren Fächern in gesonderte Klassen eingeteilt wird. Inzwischen möchte Nelson studieren, so dass er weiterhin engagiert zur Schule geht. Die finale Motivation, es zur Universität zu schaffen, wird durch Mr. Stevenson ausgelöst, der Nelson in Algebra unterrichtet, dem einzigen Sonderschulfach, dem er nach Widerspruch seiner Eltern noch zugeteilt ist. Als Nelson und sein Cousin Jeremy aus Langeweile mit gekauten Papierkugeln auf den Lehrer schießen, ballt er die Fäuste und schreit sie wütend an: „That‘s why neither of you are going to college! “ Nelson nimmt das als Herausforderung an: Er beendet die Schule erfolgreich und besucht anschließend ein 10 Jules B ÜNDGENS -K OSTEN bedankt sich bei den Studierenden des UMBC Kurses „Language Learning and Special Education/ Neurodiversity in TESOL“ Fall 2023 für diesen Hinweis. 11 Dies wird auch punktuell (am Beispiel eines Gesprächs zwischen Nelson und seinem Cousin, in dem dieser Nelson „acting white“ vorwirft) aufgegriffen. Repräsentation und own voices Literatur im (Fremd-)Sprachenunterricht 37 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0017 community college, um sich für die Universität zu qualifizieren. Letztendlich wird er einer der Jahrgangsbesten und nimmt im Beisein von Familie, Freundeskreis und ehemaligen Lehrpersonen sein college Zeugnis entgegen. Die stark autobiographischen Züge machen das Buch besonders reizvoll. Die Erfahrungen von Nelson reflektieren die lived experience des Autors, d.h., das Buch leistet einen Beitrag zu epistemic justice. Wenn die Lehrkraft den Lernenden biographische Informationen zum Autoren mitteilt, d.h. der own voices Text auch als ein solcher für sie erkennbar wird, entsteht das Potential, neben „place“ auch „possibility“ (B OOTH / N ARAYAN 2018: 203) durchscheinen zu lassen. Das Verstehen der kurzen relativ einfachen Dialoge wird durch die klare Visualisierung unterstützt. Der pro Seite geringe Textumfang kann für einige Lesende ermutigend wirken. Um einen persönlichen Bezug der Lesenden zu dem Protagonisten herzustellen, sind rezeptionsästhetische Ansätze (I SER 1976; J AUß 1970) sinnvoll. Sie fokussieren, wie ein Text gelesen wird und welche Wirkung er auf unterschiedliche Lesende haben kann. Aufgaben, die die Erlebnisse des Protagonisten reflektieren, die zu einem Perspektivwechsel einladen und die die Lernenden auffordern, Erlebnisse und Erfahrungen mit schulischen Herausforderungen aus ihrer eigenen Biografie wahrzunehmen, ermöglichen den Lesenden, Nelsons Erfahrungen und Entwicklung nachzuvollziehen und sich selbst zu diesen zu positionieren. Stilistisch kann erarbeitet werden, wie es Autor und Illustratorin gelingt, entsprechende Interpretationsräume zu schaffen, in denen produktives Lesen möglich wird. In diesem Kontext ist es für Lernende und Lehrende zudem spannend, kritisch darüber nachzudenken, wer zu den „implied readers“ (I SER 1972) des Textes gehört. Zum einen sind das vermutlich Lesende, die selbst Erfahrungen mit Konzentrationsschwierigkeiten haben, bei denen ADHS diagnostiziert wurde und die sich in der Entwicklung des Protagonisten spiegeln können. Sie könnten hoffnungsvoll auf ihre eigene Schullaufbahn blicken und sich entsprechende Ziele setzen. Zum anderen exemplifiziert der Text auch das Verhalten und die Reaktionen des Freundeskreises und der Mitschüler*innen des Protagonisten. Als drittes gelten auch die Lehrpersonen als implied readers, denn der Text stellt unterschiedliche Lehrpersonen vor, die mit ihrem sehr unterschiedlichen Verhalten und ihren Reaktionen unterschiedlich auf den Protagonisten wirken. Es wird deutlich, dass ADHS zwar eine individuelle Lernbedingung ist, Lernerfolg und Zugang zu höherer Bildung jedoch stark von gesellschaftlichen und soziokulturellen Strukturen abhängig sind, die das Individuum selbst nur bedingt beeinflussen kann. 3. Fazit und Ausblick In diesem Beitrag stehen own voices Texte als Form der inhalts- und produktorientierten Repräsentation (hier: mit Schwerpunkt auf Neurodiversität bzw. Neurodivergenz) im Mittelpunkt. Auf motivationaler Ebene kann Repräsentation helfen, Lernenden durch die Sichtbarkeit ihrer eigenen Identitäten eine andere Bezogenheit zum 38 Jules Bündgens-Kosten, Grit Alter DOI 10.24053/ FLuL-2024-0017 53 • Heft 2 Lernen und ihrer Lebensgestaltung zu entwickeln. „If you can see it, you can be it“ (K ING 2021: 43) - wenn Lernende sich selbst als präsent und relevant im gesellschaftlichen Diskurs erleben, dann wird die Möglichkeit eröffnet, entsprechende Selbstwirksamkeit und ein „elaborate and vivid future self image“ (D ÖRNYEI 2010: 19) als Zielsprachennutzende zu entwickeln. Gleichzeitig kann ihr Einsatz existierende epistemische Ungerechtigkeiten reduzieren. Neben diesen soziokulturellen Lernzielen lassen sich durch den Einsatz von own voices Texten auch fremdsprachliche und fachübergreifende Ziele wie Diskurskompetenz sowie kritische multimediale Kompetenzen erreichen. Auf zwei Herausforderungen konnten wir in diesem Beitrag aus Platzgründen leider nicht eingehen. Einerseits kann auch ein relevanter own voices Text in einer Form im Unterricht verwendet werden, die Stereotype perpetuiert (z.B. der Topos des Menschen mit Behinderung, der außergewöhnliche Leistungen erbringt, S CHALK 2016) oder Heterogenität mit Defizit gleichsetzt. Im Gegenzug können auch Texte, die von der Lehrkraft selber als problematisch eingeschätzt werden, im Unterrichtsgespräch (z.B. in Hinsicht auf die Ausbildung von criticality, vgl. R ABINOWITZ et al. 2024., vgl. auch A LTER / A HO 2018) nutzbar gemacht werden. Anderseits besteht die Gefahr, dass Repräsentation als das eigentliche Ziel missverstanden wird. 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