Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2024-0019
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Gnutzmann Küster SchrammLesestrategien im inklusiven Französisch- und Spanischunterricht
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Sophie Engelen
Whereas language learning strategies are considered as an integral part of a learneroriented foreign language classroom, the opportunities and limitations of strategy use in inclusive settings have been less discussed so far, especially where reading (and writing) strategies are concerned. The article offers some insights into four groups of neurodivergent French and Spanish language learners in an inclusive setting at different German comprehensive schools. In these highly heterogeneous classrooms, students with and without learning disabilities and other individual dispositions such as dyslexia, ADHD and autism learn together in open and interactive learning environments. The analysis of lessons with a focus on reading comprehension, students’ notes on reading tasks and their learning journals reveal an enormous range of individual reading and compensatory strategies. Moreover, not only does the data show the importance of cognitive and metacognitive strategies for empowering students to deal with simple and complex reading tasks in the foreign language classroom, but also of social and affective learning strategies.
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53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0019 S OPHIE E NGELEN * Lesestrategien im inklusiven Französisch- und Spanischunterricht Abstract. Whereas language learning strategies are considered as an integral part of a learneroriented foreign language classroom, the opportunities and limitations of strategy use in inclusive settings have been less discussed so far, especially where reading (and writing) strategies are concerned. The article offers some insights into four groups of neurodivergent French and Spanish language learners in an inclusive setting at different German comprehensive schools. In these highly heterogeneous classrooms, students with and without learning disabilities and other individual dispositions such as dyslexia, ADHD and autism learn together in open and interactive learning environments. The analysis of lessons with a focus on reading comprehension, students’ notes on reading tasks and their learning journals reveal an enormous range of individual reading and compensatory strategies. Moreover, not only does the data show the importance of cognitive and metacognitive strategies for empowering students to deal with simple and complex reading tasks in the foreign language classroom, but also of social and affective learning strategies. 1. Einleitung Die Diskussion um Lesestrategien ist in der Fremdsprachendidaktik an den Diskurs um Lernstrategien rückgebunden, der bereits seit mehreren Jahrzehnten sprachübergreifend eine große Beachtung findet (z.B. O’M ALLEY / C HAMOT 1990; O XFORD 2017) und eine feste Verankerung in zentralen Rahmendokumenten des Fremdsprachenunterrichts wie dem Companion Volume zum „Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen“ aufweist (vgl. C OUNCIL OF E UROPE 2018). So ist die Entwicklung von Lernstrategien eine wesentliche Zielsetzung eines lerner- und kompetenzorientierten Fremdsprachenunterrichts, der Schüler: innen an ein selbstgesteuertes Sprachenlernen heranführt: Wer über adäquate Lernstrategien verfügt, kann Lernprozesse bewusst steuern, individuelle Ressourcen für das Fremdsprachenlernen nutzen und eventuelle Schwächen kompensieren (vgl. R IEMER 2009: 20). Während Lernstrategien insgesamt „als Verfahren bezeichnet [werden], mit denen Lernende den Aufbau, die Speicherung, den Abruf und den Einsatz von Informationen steuern und kon- * Korrespondenzadresse: Dr. Sophie E NGELEN , Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Romanistik, Karl-Glöckner-Straße 21G, 35394 G IEßEN . E-Mail: Sophie.I.Engelen@rom.jlug.de Arbeitsbereiche: Inklusiver Fremdsprachenunterricht, Testen und Bewerten fremdsprachlicher Kompetenzen, Lese- und Schreibförderung im Fremdsprachenunterricht. 44 Sophie Engelen DOI 10.24053/ FLuL-2024-0019 53 • Heft 2 trollieren“ (M ARTINEZ 2016: 372), beziehen sich Lesestrategien auf die spezifischen Anforderungen des rezeptiven Kompetenzbereiches des Leseverstehens und können je nach Leseziel und Textsorte ganz unterschiedliche Formen annehmen (vgl. C OUNCIL OF E UROPE 2018: 60-67). Auch in den überarbeiteten Bildungsstandards für die erste Fremdsprache haben Lesestrategien einen festen Platz. Beispielsweise heißt es dort für den Mittleren Schulabschluss: „Die Schülerinnen und Schüler können [...] die in einer Sprache/ weiteren Sprachen verfügbaren Kenntnisse und erlernten Strategien in der Regel selbstständig aktivieren, um zielsprachige Texte zu verstehen“ (KMK 2023: 12, Hervorhebung SE). Ein individueller und zielgerichteter Einsatz von Lesestrategien ist somit dezidiert Teil der Kompetenzerwartungen am Ende der Sekundarstufe I und verweist zugleich auf die Sprachverwendung außerhalb des Klassenraums: Dort werden Lesestrategien auch als Sprachgebrauchs- und Kommunikationsstrategien relevant, die zu einer Aufrechterhaltung und einem Gelingen von Kommunikation beitragen (vgl. M ARTINEZ 2016: 373f.). Rückt man Neurodiversität als zentrale Heterogenitätsdimension des Fremdsprachenunterrichts in den Fokus (siehe B LUME / B ÜNDGENS -K OSTEN in diesem Heft), die allen Lerngruppen inhärent ist, erhöht sich der Stellenwert von Lernbzw. Lesestrategien umso mehr - beispielsweise, wenn Lernende von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS) betroffen sind. So weisen S OUVIGNIER / A NTONIOU (2007) im Rahmen einer Metaanalyse für das Leseverstehen einen direkten Zusammenhang von Strategieverwendung und Lernerfolg von Schüler: innen mit Lernschwierigkeiten nach. Zugleich stellt die Förderung von Lesestrategien in inklusiven Settings eine besondere Herausforderung dar. Aktuelle Studienergebnisse deuten darauf hin, dass manche Schüler: innen mit LRS dazu neigen, bei der Bearbeitung von Lese- und Schreibaufträgen im Französischunterricht vorrangig Vermeidungsstrategien zu wählen (vgl. E NGELEN 2023: 170-173). Für Lernende mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) kann es herausfordernd sein, ihre Konzentration über einen längeren Zeitraum auf die Auseinandersetzung mit Schriftsprache zu lenken und dabei das eigene Handeln auf metakognitiver Ebene zu evaluieren (vgl. J ANICKA 2015: 177- 179). L ÖßLEIN (2022: 262f.) erläutert in Bezug auf Schüler: innen mit Autismus, dass kooperative Arbeitsformen wie beispielsweise Lesetandems zu einer Entwicklung von Lesekompetenz beitragen können, jedoch nur dann ihr Potential entfalten, wenn sie unter Wahrung klarer Verhaltensregeln und entlang antizipierbarer Strukturen ablaufen. Anknüpfend an diese Befunde rückt der vorliegende Beitrag den Fokus auf den Kompetenzbereich des Lesens im Französisch- und Spanischunterricht der Sekundarstufe I. Denn gerade für die typischen zweiten Schulfremdsprachen liegen bislang kaum empirische Befunde dazu vor, welche Lesestrategien Lernende in inklusiven Settings nutzen und welche Rolle strukturelle Merkmale der verschiedenen Zielsprachen bei der Wahl adäquater Lesestrategien spielen könnten. 1 Auf Basis der Beobach- 1 Für die Teilkompetenz des Schreibens ist eine ähnliche Ausgangslage festzustellen, weshalb im Kontext der Kooperationen mit Französisch- und Spanischlehrkräften sowohl Daten zur Förderung von Lese- Lesestrategien im inklusiven Französisch- und Spanischunterricht 45 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0019 tung von Unterrichtsstunden mit besonderem Schwerpunkt auf der Förderung von Lesekompetenz, schriftlichen Notizen von Schüler: innen zu Leseverstehensaufgaben sowie Eintragungen in Lerntagebüchern wird im Folgenden analysiert, welche Lesestrategien Lehrkräfte in heterogenen Lerngruppen anbahnen und wie neurodivergente Schüler: innen diese für ihren individuellen Kompetenzerwerb nutzen. Nach einem Überblick über die Didaktisierung von Leseprozessen im Kontext inklusiven Fremdsprachenunterrichts erfolgt eine globale Auswertung und Systematisierung der verwendeten Lesestrategien anhand eines kombiniert deduktiv-induktiv entwickelten Kategoriensystems (vgl. K UCKARTZ 2018: 97-102), auf dessen Basis relevante Strategietypen einer intensiveren Betrachtung unterzogen werden. 2. Lesen im Fremdsprachenunterricht aus inklusiver Perspektive Leseprozesse stellen Lernende im Fremdsprachenunterricht nicht nur vor hohe kognitive, sondern auch emotionale und motivationale Herausforderungen. Dies erfährt gerade im Unterricht der zweiten Fremdsprachen jedoch oftmals nur wenig Beachtung, da einerseits der Fokus auf einer gelingenden mündlichen Kommunikation liegt; andererseits, da implizit von einem erfolgreich abgeschlossenen Schriftspracherwerb ausgegangen und ein routinierter Zugriff auf basale Lese- (und Schreib-)fertigkeiten seitens der Lernenden vorausgesetzt wird (vgl. E NGELEN / G ERLACH 2022: 124f.). Folglich zielen die meisten Ansätze zur Förderung von Lesestrategien im Fremdsprachenunterricht auf „hierarchiehohe“ (C HRISTMANN 2015: 23) Fertigkeiten wie beispielsweise das sinnentnehmende Lesen, den Einsatz von Lesestilen oder auch den integrierten Rückgriff auf Lese- und Schreibkompetenzen, z.B. wenn ein Sachtext erörtert oder ein literarischer Text analysiert werden soll. Im Umkehrschluss werden „hierarchieniedrige“ (ebd.) Fertigkeiten im Unterricht der zweiten Fremdsprachen kaum explizit adressiert; zentrale Fertigkeiten wie z.B. die Etablierung von Phonem- Graphem-Relationen oder die phonologische Bewusstheit, die für ein Gelingen komplexerer Lese- und Schreibprozesse unabdingbar erscheinen, werden nur selten in Förderkonzepte einbezogen. Ein Fremdsprachenunterricht, der auch Lernende mit Schwierigkeiten im Bereich basaler Lese- (und Schreib-)fertigkeiten adressieren möchte - wie es beispielsweise bei LRS oder einer verzögerten Alphabetisierung der Fall ist - müsste jedoch Angebote für alle Lernenden schaffen. Systematische Ansätze zur Förderung von Lernbzw. Lese- und Schreibstrategien könnten hier eine wichtige Funktion einnehmen, denn von ihnen könnten Schüler: innen mit und ohne besondere Förderbedarfe im Bereich der Schriftsprache gleichermaßen profitieren (vgl. R IEMER 2009: 18f.). Zugleich ist aus der Forschung zu Lernstrategien bekannt, wie komplex die Anbahnung eines selbstgesteuerten Strategieeinsatzes im Fremdsprachenunterricht sein kann und dass nicht selten eine Diskrepanz zwischen der Selbsteinschätzung als auch Schreibkompetenzen erhoben wurden. Ein weiterer Beitrag, der den Fokus auf die Entwicklung und den Einsatz von Schreibstrategien lenkt, ist in Vorbereitung. 46 Sophie Engelen DOI 10.24053/ FLuL-2024-0019 53 • Heft 2 von Lernenden und ihrem tatsächlichen Einsatz von Lernstrategien besteht (vgl. ebd.: 20). Im Folgenden werden zentrale Aspekte der Didaktisierung von Leseprozessen im Fremdsprachenunterricht thematisiert, um anschließend auf den spezifischen Zusammenhang der Entwicklung von Lesestrategien in neurodivergenten Lerngruppen einzugehen. 2.1 Didaktisierung von Leseprozessen im Fremdsprachenunterricht Unabhängig von Lernschwierigkeiten weisen Leseprozesse sowohl in der L1 als auch in den Fremdsprachen eine hohe Komplexität auf und sind in Teilprozesse gliederbar, die verschiedene Anforderungen an die „Schriftkompetenz“ bzw. „Textkompetenz“ (B ACHMANN / B ECKER -M ROTZEK 2017: 26-29) der Lernenden stellen. Ausgehend von der Annahme, dass Leseprozesse in unterschiedlichen Dimensionen wie z.B. einer Prozess-, Subjekt- und sozialen Ebene ablaufen (vgl. R OSEBROCK 2008: 177), entfalten Modelle zur Phasierung von Leseprozessen in der Didaktik eine hohe Wirksamkeit. In der Regel werden drei Phasen der Lektürevorbereitung, -durchführung und nachbereitung unterschieden (pre-, while- und post-reading bzw. writing, vgl. H UDSON 2010: 108). Diese zielen darauf ab, Teilanforderungen von Leseprozessen sichtbar und methodisch für Lehrende und Lernende zugänglich zu machen. Während in der Planungsbzw. Vorbereitungsphase von Leseaufgaben Aspekte wie die Aktivierung von Vorwissen, die Bewusstmachung von Lesezielen oder die Identifikation von Textsortenmerkmalen im Fokus stehen, die auch kollaborativen Arbeitsformen zugänglich sind, kennzeichnet sich die Phase der Lektüre meist durch eine individuelle Auseinandersetzung mit dem zu rezipierenden Text und eine Dominanz kognitiver Lesestrategien (vgl. F RITSCH 2014: 95f.). Die abschließende Phase der „Anschlusskommunikation“ (R OSEBROCK 2008: 177) dient dazu, einen Austausch über den Lesetext auf einer sozialen Ebene anzuregen und dem Gelesenen so individuelle Relevanz zu verleihen, was für die Lesesozialisation und die Etablierung einer langfristigen Lesemotivation von entscheidender Bedeutung ist (vgl. ebd.: 178). Verlässt man die Mesoebene der Phasierung von Leseprozessen und fokussiert die Mikroebene konkreter Schüler: innenhandlungen, rücken verschiedene Lesestrategien in den Fokus, die potentiell zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Leseprozesses wirksam werden können. Typische Klassifizierungen unterscheiden kognitive und metakognitive Strategien, affektive bzw. emotionale und soziale Strategien sowie Kommunikationsbzw. Sprachgebrauchsstrategien (vgl. M ARTINEZ 2016: 373f.). Während kognitive Strategien auf die unmittelbare Textrezeption abzielen (z.B. das Erschließen von Wortbedeutungen), dienen metakognitive Strategien der Steuerung und Regulierung des eigenen Leseprozesses (z.B. die Identifikation des passenden Lesestils). Die auch als „Stützstrategien“ (P HILIPP 2015: 214) bezeichneten emotionalen und sozialen Strategien unterstützen die Textrezeption in indirekter Form - dennoch kommt ihnen für das Gelingen von Leseprozessen eine zentrale Rolle zu (vgl. R OSEBROCK 2008: 177f.). Zu dieser Gruppe von Lesestrategien zählen beispielsweise die Wahl eines angemessenen Arbeitsortes, die Einräumung ausreichender Pausen Lesestrategien im inklusiven Französisch- und Spanischunterricht 47 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0019 bzw. der Einbezug von Personen, die bei der Auseinandersetzung mit Schriftsprache unterstützen können. In der Forschung besteht Konsens darüber, dass für ein erfolgreiches Fremdsprachenlernen eine Planung, Reflexion und Evaluation des individuellen Strategiegebrauchs nötig ist, um diese perspektivisch auch in Kommunikationssituationen außerhalb des Fremdsprachenunterrichts einsetzen zu können - auf diesen Zusammenhang beziehen sich auch die genannten Kommunikations- und Sprachgebrauchsstrategien (vgl. M ARTINEZ 2016: 373f.). Zudem zeichnet sich ein effektiver Rückgriff auf Strategien dadurch aus, dass diese für die Lösung des jeweiligen Problems geeignet sind und ihr Einsatz bewusst gemacht bzw. metakognitiv gesteuert werden kann (vgl. O’M ALLEY / C HAMOT 1990: 98-101). Folglich stellt ein Fremdsprachenunterricht, der auf eine Vermittlung von Lernbzw. Lesestrategien abzielt, hohe Anforderungen sowohl an die vermittelnde Lehrkraft - diese muss Unterrichtssituationen kreieren, in denen Strategien eingeübt und bewusst gemacht werden können - als auch an die Lernenden selbst, die aktiv werden und Verantwortung für ihre Lernbzw. Rezeptionsprozesse übernehmen müssen. 2.2 Lesestrategien im Kontext von Neurodiversität Im Kontext neurodivergenter Lerngruppen und schulischer Inklusion stellt sich die Frage, inwieweit die skizzierte Strategiesystematik anderen Logiken und Priorisierungen unterliegen könnte. Beispielsweise unterscheidet A LEXANDER -P ASSE (2006) für jugendliche Schüler: innen mit LRS den Einsatz anforderungsbezogener Strategien (task-based coping), emotions- und selbstwertbezogener Strategien (emotional-based coping) sowie Vermeidungsstrategien (avoidance-based coping) bei der Bewältigung von Schwierigkeiten. Diese Differenzierung verdeutlicht die Breite der Herausforderungen, mit denen Lernende mit LRS (nicht nur) im Schulkontext konfrontiert sein können und legt eine Erweiterung bzw. Umstrukturierung des Strategierepertoires nahe, um die Anforderungen an betroffene Personen auch im Fremdsprachenunterricht angemessen abzubilden. Denn stehen emotions- und selbstwertbezogene bzw. Vermeidungsstrategien gleichauf mit anforderungsbezogenen Strategien, zeigt dies, dass eine umfassende Flankierung der Lesestrategien im engen Sinne nötig sein kann, um eine Bearbeitung von Leseverstehensaufgaben auf kognitiver Ebene zu ermöglichen. Auch der Begriff der Kompensationsstrategien bzw. „compensatory strategies“ (O XFORD 2017: 150, 297), der auch unabhängig von Lernschwierigkeiten gängig ist, liegt transversal zu den oben skizzierten Strategietypen und betont die Funktion des Strategieeinsatzes für die Lernenden in Form eines Ausgleichs beeinträchtigter oder als defizitär erlebter Fertigkeiten beispielsweise anhand alternativer Kommunikationswege oder technischer Hilfsmittel. Zudem ist für die Auswahl und Passung von Lesestrategien in heterogenen Lerngruppen relevant, dass inklusiver Unterricht oftmals in einem Spannungsfeld von Individualisierung und Gemeinsamkeit stattfindet und ausgehandelt werden muss, inwieweit primär kognitive oder psychosoziale Lernziele in bestimmten Unterrichtsphasen im Fokus stehen. Prominente Antworten darauf wurden in der Förderpädago- 48 Sophie Engelen DOI 10.24053/ FLuL-2024-0019 53 • Heft 2 gik gefunden, beispielsweise in Form des - im Inklusionsdiskurs mittlerweile vielzitierten - Lernens am gemeinsamen Gegenstand (vgl. F EUSER 1998), das die individualisierte und zugleich kollaborative Arbeit an bildungsrelevanten Inhalten auf ganz unterschiedlichen Lernwegen vorsieht und damit modellhaft für ein binnendifferenziertes Unterrichten auch bei sehr unterschiedlichen Lernausgangslagen steht. Verschiedene Ansätze zur Leseförderung in inklusiven Settings berücksichtigen diese doppelte Zielsetzung und sehen eine Integration von individualisiertem und kooperativem Arbeiten an Leseverstehensaufgaben vor. Exemplarisch seien hier Methoden wie das paired reading and thinking oder das reciprocal reading genannt, die vorrangig auf hierarchiehohe Prozesse der Textrezeption abzielen. Mit G ERLACH / L ÜKE (2020) liegt ein evaluiertes Trainingsprogramm vor, das sowohl auf eine Steigerung der Leseflüssigkeit als auch eine Förderung des Leseverstehens abzielt und zudem anhand von leseanimierenden Verfahren langfristig auch die Lesemotivation von leseschwachen Lernenden steigert. Vor diesem komplexen und vielschichtigen Hintergrund besteht ein zentrales Erkenntnisinteresse des vorliegenden Beitrags darin, empirische Zugänge zu inklusiven Unterrichtssettings der zweiten Fremdsprachen zu schaffen, die seitens der Lehrkräfte explizit auf die Entwicklung von Lesekompetenz abzielten. Die Datenerhebungen, die verschiedene Perspektiven auf Leseprozesse anhand von Unterrichtsbeobachtungen sowie der Analyse von Schülertexten und Lerntagebüchern zusammenführen, rücken insbesondere den schüler: innenseitigen Einsatz und die Reflexion von Lesestrategien in den Fokus. 3. Datenbasis Im Rahmen der Datenerhebungen, die auf übergeordneter Ebene sowohl auf die Erfassung von Leseals auch Schreibstrategien im Französisch- und Spanischunterricht der Sekundarstufe I abzielten, wurde mit zwei Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen kooperiert. In einem Zeitraum von drei Monaten wurden in vier Kursen insgesamt 19 Unterrichtsstunden beobachtet, die einen besonderen Schwerpunkt auf die Förderung von Lesekompetenz legten; sie bilden die Basis der folgenden Datenauswertung. Die Lerngruppen des Französischen bzw. Spanischen als zweite Fremdsprache ab der 7. Jahrgangsstufe setzten sich wie folgt zusammen: • Gruppe 1 (FG1 2 ): Französisch, Klasse 7, 1. Lernjahr, 27 Schüler: innen, • Gruppe 2 (FG2): Französisch, Klasse 10, 4. Lernjahr, 15 Schüler: innen, • Gruppe 3 (SG3): Spanisch, Klasse 8, 2. Lernjahr, 20 Schüler: innen, • Gruppe 4 (SG4): Spanisch, Klasse 10, 4. Lernjahr, 23 Schüler: innen, Präsenz einer Schulbegleiterin. 2 Bei der Datenauswertung wurden die Daten anonymisiert und die Lerngruppen sowie die Schüler: innen mit Kennungen versehen, z.B. „FG1: S14“ = Französisch-Lerngruppe 1, Schüler: in 14. Lesestrategien im inklusiven Französisch- und Spanischunterricht 49 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0019 Im Sinne eines weiten Inklusionsbegriffes wiesen die Lerngruppen verschiedene unterrichtsrelevante Heterogenitätsdimensionen auf: Die Schüler: innen sprachen bis zu sieben verschiedene Erstbzw. Herkunftssprachen und es waren individuelle Dispositionen wie LRS (in allen Lerngruppen), ADHS (FG1 und SG3) und Autismus- Spektrum-Störung (ASS) (SG4) bekannt. Bei der Auswahl der teilnehmenden Schulen bzw. Lerngruppen wurde darauf geachtet, dass die Lehrkräfte Elemente der Lese- und Schreibförderung kontinuierlich in ihren Französischbzw. Spanischunterricht implementieren und auch freiere Unterrichtskonzepte regelmäßig umsetzen, um dem individuellen Rückgriff auf Lese- und Schreibstrategien seitens der Lernenden Raum zu geben. Neben einer analogen Unterrichtsbeobachtung, die sich auf relevante Unterrichtsabläufe und Interaktionen in Bezug auf Lese- und Schreibaufträge beschränkte, wurden sämtliche Unterrichtsnotizen und schriftliche Schüler: innentexte eingescannt, die im Rahmen der beobachteten Unterrichtsstunden entstanden sind. Zudem führten die Schüler: innen Lerntagebücher, in denen das individuelle Vorgehen bei Lese- und Schreibaufträgen skizziert, Fragen, Schwierigkeiten und positive Aspekte notiert und darüber hinaus sprachbezogene Aktivitäten außerhalb des Französischbzw. Spanischunterrichts festgehalten werden konnten. Für den vorliegenden Beitrag erfolgte die Datenauswertung mit engem Fokus auf die identifizierbaren Lesestrategien, die anhand eines Analyserasters mithilfe der Analysesoftware MAXQDA quali- und quantifiziert wurden. Dies erfolgte in Form einer kombiniert deduktiven und induktiven Kategorienbildung, wie sie von K UCKARTZ (2018: 97-102) im Rahmen der „inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse“ vorgeschlagen wird. Folglich wurden die gängigen Oberkategorien von Lernbzw. Lesestrategien deduktiv an das Datenmaterial herangetragen und anschließend induktiv um konkrete Lesestrategien erweitert, sodass ein Überblick über verwendete Strategietypen im inklusiven Französischbzw. Spanischunterricht der Sekundarstufe I möglich wird. 4. Lesestrategien im inklusiven Französisch- und Spanischunterricht der Sekundarstufe I Die erhobenen Daten, die eine Außensowie eine Innenperspektive auf Lernprozesse im Französisch- und Spanischunterricht zusammenführen, weisen darauf hin, dass Lernende bei der Auseinandersetzung mit Leseaufträgen eine Vielzahl von Strategien mit jeweils verschiedenen Funktionen und Zielsetzungen einsetzen, wobei sich nur vereinzelt grundlegende Differenzen zwischen dem Französisch- und Spanischunterricht zeigen. Im Folgenden werden die in den Daten identifizierbaren Lesestrategien zunächst im Überblick dargestellt, um anschließend auf ausgewählte Strategietypen differenzierter einzugehen. 50 Sophie Engelen DOI 10.24053/ FLuL-2024-0019 53 • Heft 2 4.1 Eingesetzte Lesestrategien im Überblick Die folgende Übersicht veranschaulicht die Ergebnisse der Datenanalyse in Bezug auf Lesestrategien, die von Lernenden im inklusiven Französisch- und Spanischunterricht der Sekundarstufe I eingesetzt wurden: Abb. 1: Kategoriensystem zur Erfassung der eingesetzten Lesestrategien 3 3 Insofern eine Strategie ausschließlich im Französisch- oder nur im Spanischunterricht identifiziert 1. Kognitive Lesestrategien 1.1 Entlastung basaler Leseprozesse: • Einsatz von Leseschablonen • Schüler: in verfolgt Zeile/ Text mit dem Finger • begleitendes Tondokument / Vorlesestifte (S) • Reduktion der Textmenge • visuelle Modifikation von Arbeitsmaterialien durch die Lehrkraft 1.2 Inhaltliche Texterschließung: • Markieren relevanter Textstellen und Schlüsselwörter • Anfertigen freier Notizen am/ zum Text • Finden von Gliederung(en) und Zwischenüberschriften • lectura tricolor (farbliche Markierung von Klärungsbedarf im Ampelsystem) (S) • Durchstreichen unbekannter/ weniger relevanter Wörter • Formulieren von ‚W-Fragen‘ an den Text 1.3 Umgang mit unbekanntem Vokabular: • Nutzung eines (analogen oder digitalen) Wörterbuchs • Formulieren von Hypothesen zu unbekanntem Vokabular • Erschließungstechniken und Rückgriff auf Kenntnisse anderer Sprachen 1.4 Vorbereitung des Vorlesens von Texten: • Notieren von Informationen zur Aussprache von Wörtern • Nutzung einer individuellen Lautschrift (F) • Murmelndes Lesen in Partner: innenarbeit (F) • Rückgriff auf Lautkarten (F) 2. Metakognitive Lesestrategien • Notieren von Zeitkontingenten für die Textbearbeitung (S) • Aufteilung der Textmenge in kleinere Abschnitte • Vorbereitung des Lesetextes im Vorfeld der Unterrichtsstunde (F) • Austausch über den passenden Lesestil 3. Soziale und affektive Lesestrategien/ Stützstrategien • Adressieren der Lehrkraft • Einbezug von Mitschüler: innen • Lesen in Bewegung (‚flanieren‘) • Pausen während des Lesens / aktive Pausengestaltung • Nutzen eines separaten Raumes (S) • Arbeit mit Kopfhörern (Noise-Cancelling-Funktion) (S) Lesestrategien im inklusiven Französisch- und Spanischunterricht 51 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0019 4.2 Diskussion ausgewählter Typen von Lesestrategien Auf der Ebene der kognitiven Lesestrategien entfaltete sich ein sehr differenziertes Repertoire individueller Handlungsweisen im Umgang mit Lesetexten, das sich auf unterschiedliche Teilaspekte eines weiten Begriffes von Lesekompetenz im Fremdsprachenunterricht bezieht (vgl. R OSEBROCK 2008: 177). So besteht ein zentraler Befund der erhobenen Daten darin, dass im vergleichsweise spät einsetzenden Unterricht der zweiten Fremdsprachen (≥ 7. Klasse) hierarchieniedrige Leseprozesse überhaupt explizit adressiert werden (vgl. Kat. 1.1). Eine konkrete Strategie der Lernenden bestand in der Nutzung von Hilfsmitteln zur Unterstützung der visuellen Orientierung im Text, z.B. in Form von Leseschablonen, die Textpassagen verdecken, die nicht im Fokus des Rezeptionsprozesses stehen und Leser: innen dazu verhelfen können, die relevante Zeile im Text nicht zu verlieren. Zudem wurden basale Leseprozesse anhand von begleitenden Tondokumenten bzw. Vorlesestiften unterstützt, die die schriftliche Präsentation insbesondere längerer Lesetexte im Spanischunterricht auf auditiver Ebene ergänzten. Eine wichtige Rolle nahmen zwei weitere Maßnahmen ein, die - in Abgrenzung zu den zuvor beschriebenen Strategien - jedoch maßgeblich von den jeweiligen Französischbzw. Spanischlehrkräften initiiert bzw. umgesetzt wurden: Zum einen wurden Arbeitsmaterialien durch die Lehrkräfte visuell modifiziert (z.B. indem eine serifenfreie Schriftart gewählt, die Schrift vergrößert und der Zeilenabstand erhöht wurde), zum anderen wurde in einigen Fällen die Textmenge im Sinne einer quantitativen Differenzierung reduziert. Dies hatte - im Gegensatz zu der rein visuellen Modifikation von Arbeitsmaterial - jedoch inhaltliche Konsequenzen für die Textarbeit, beispielsweise indem Passagen eines Sachtextes zum Thema „Immigration en France“ (FG2) gekürzt und so statistische Details zur aktuellen Innenpolitik Frankreichs nicht präsentiert wurden. Gerade im Kontext eines lernzielgleichen Französisch- und Spanischunterrichts weist dieser Ansatz deutliche Grenzen auf und wurde von der Lehrkraft um weitere Differenzierungsmaßnahmen ergänzt, die auf eine Unterstützung der Weiterarbeit an zunächst nicht präsentierten Passagen des Lesetextes abzielten (z.B. in Form von Annotationen des unbekannten Vokabulars). Hinsichtlich der inhaltlichen Texterschließung und des Umgangs mit unbekanntem Vokabular kamen vorrangig Lesestrategien zum Einsatz, die aus der fremdsprachlichen Lesedidaktik auch außerhalb von inklusiven Unterrichtssettings bekannt sind (im Überblick z.B. B IMMEL 2002: 120f.), so z.B. das Markieren relevanter Textstellen oder die Formulierung von Zwischenüberschriften bzw. von Hypothesen zu unbekanntem Vokabular. Analog zu dem quantitativen Differenzierungsansatz der Reduktion der Textmenge zeigte sich im Bereich der inhaltlichen Textarbeit eine Lesestrategie, die in der Streichung weniger relevanter oder unbekannter Wörter in Lesetexten durch die Lernenden bestand. Entscheidend ist hier, dass die Schüler: innen in selbstständiger Auseinandersetzung mit dem Lesetext eine Priorisierung inhaltlicher wurde, ist dies in Klammern mit (F) oder (S) angegeben. 52 Sophie Engelen DOI 10.24053/ FLuL-2024-0019 53 • Heft 2 Aspekte vornehmen und so aktiv zu einer Bildung von ‚Verstehensinseln‘ beitragen, also kleinere Sinneinheiten, die bereits verstanden werden, hervorheben. Darüber hinaus stellten die Streichungen innerhalb der Lesetexte die Basis für anschließende Unterrichtsgespräche dar, die lexikalische und grammatische Strukturen in den Fokus rückten (SG1). Zudem kam im Spanischunterricht (SG3) eine ähnliche Lesestrategie, die lectura tricolor, zum Einsatz: Die Schüler: innen markierten Passagen in Lesetexten hinsichtlich ihrer Verständlichkeit in den Ampelfarben (rot, gelb, grün), wodurch sowohl eine Reflexion individueller Verstehensprozesse auf metakognitiver Ebene angeregt als auch den Lehrkräften eine Einschätzung des individuellen Unterstützungsbedarfes in der jeweiligen Unterrichtssituation erleichtert wurde. Während in den meisten Bundesländern die Fertigkeit des Vorlesens nicht (mehr) in fremdsprachliche Curricula implementiert ist und auch keine Erwähnung in den überarbeiteten Bildungsstandards für die erste Fremdsprache findet (vgl. KMK 2023), zeigte sich in den erhobenen Daten für den inklusiven Französischunterricht, dass Vorlesen dort als separater Kompetenzbereich adressiert wird (vgl. die Befunde in E NGELEN 2023: 267-269). Auch im fortgeschrittenen Französischunterricht kamen weiterhin Lesestrategien zum Einsatz, die auf die Veranschaulichung und Verdeutlichung von Phonem-Graphem-Relationen abzielten (z.B. in Form von erklärenden Lautkarten oder der Nutzung einer individuellen Lautschrift, die sich nicht an den Normen des Internationalen Phonetischen Alphabets orientiert). Im Spanischunterricht war dies hingegen nicht zu beobachten; dennoch konnten entsprechende Unterrichtssituationen auch von Lernenden mit LRS angemessen bewältigt werden. Aus linguistischer Perspektive liegt nahe, dass dieser Befund mit der höheren Transparenz der spanischen Sprache zusammenhängt, die Lernenden die Etablierung von Laut- Buchstaben-Beziehungen erleichtert und in weiterer Folge den Erwerb basaler Lesekompetenzen beschleunigt (vgl. C ARAVOLAS et al. 2013: 1399). Hinsichtlich des Einsatzes metakognitiver Lesestrategien im Französisch- und Spanischunterricht zeigte sich ein weniger umfangreiches Repertoire als im Fall der kognitiven Lesestrategien; jedoch kamen die metakognitiven Lesestrategien in zentralen Unterrichtssituationen zur Geltung, die für die weitere Bearbeitung komplexer Leseaufträge richtungsweisend waren. Dies gilt insbesondere für den kooperativen Austausch über den passenden Lesestil in Lesetandems sowie die individuelle Vorbereitung von Leseaufträgen bereits im Vorfeld der Unterrichtsstunden, die zwei Lernende mit LRS für den Französischunterricht leisteten (FG1), damit ihnen eine Partizipation an der folgenden Unterrichtsstunde möglich wurde. Jedoch ließen Einträge in die Lerntagebücher darauf schließen, dass diese Unterstützungsmaßnahme in hohem Maße von einem häuslichen Umfeld abhing, das bereit und in der Lage war, sich kürzeren Texten in Französischlehrwerken zuzuwenden (z.B. „Meine Mutter und ich gucken dann zusammen schonmal den Text an und gucken, was ich vielleicht gar nicht lesen kann oder verstehe“, FG1: S14). Auf der Ebene der sozialen und emotionalen Lesestrategien wurde deutlich, dass diese im Französisch- und Spanischunterricht keineswegs eine untergeordnete Rolle spielten, Lernende aber je nach individuellem Unterstützungsbedarf in sehr unter- Lesestrategien im inklusiven Französisch- und Spanischunterricht 53 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0019 schiedlicher Weise auf sie zurückgriffen. Während fünf Schüler: innen mit LRS in drei Lerngruppen (FG1, SG3, SG4) primär externe, soziale Strategien einsetzten und häufig ihre Lehrkraft oder Mitschüler: innen insbesondere im lexikalischen Bereich um Rat fragten oder um Korrektur von Leseverstehensaufgaben baten, wendeten Lernende mit ADHS, aber auch Schüler: innen ohne diagnostizierten Förderbedarf, in unterschiedlichen Formen die Methode ‚Lesen in Bewegung‘ an: Während einige Lernende beim Gespräch über Lektüreinhalte im Klassenraum bzw. auf dem Flur umhergingen (FG1), verbanden andere Schüler: innen (SG2) ihre Bewegungen mit inhaltlichen Aspekten der Textarbeit, z.B. indem sie die Richtung wechselten, wenn sie auf unbekannte sprachliche Strukturen trafen. Andere Stützstrategien wie die Nutzung eines separaten Raumes und die Arbeit mit Kopfhörern mit Geräuschunterdrückung in stillen Lesephasen wurden von einem Schüler mit ASS angewandt (SG4: S3), wobei ihm eine Schulbegleiterin auch im Spanischunterricht zur Seite stand und organisatorische Aspekte wie beispielsweise die Verfügbarkeit von Räumlichkeiten klären konnte. Hinsichtlich der Rückbindung der eingesetzten Lesestrategien an verschiedene Lesephasen wurde deutlich, dass metakognitive Strategien in den beobachteten Unterrichtskontexten ausschließlich in der Phase der pre-reading activities (vgl. H UDSON 2010: 108) zum Einsatz kamen, während kognitive, affektive und soziale Lesestrategien zu allen Zeitpunkten der Leseprozesse relevant erschienen. Insbesondere im Bereich der „Anschlusskommunikation“ (R OSEBROCK 2008: 177) zu Lektüreaufträgen entfaltete sich die hohe Relevanz sozialer Lesestrategien, einerseits indem Schüler: innen die Inhalte der Lesetexte bzw. Funktionen der Textsorten reflektierten, andererseits indem sie sich über das Gelingen und Scheitern ihrer Leseprozesse austauschten, was teils im Rahmen der Lerntagebücher teils plakativ in Form eines Ampelsystems oder anhand einer Schätzung auf einer Skala von 1-10 erfolgte. Ein wesentlicher Auslöser für die hohe Strategievielfalt in den analysierten Datensätzen bestand darin, dass die Lernenden in den jeweiligen Unterrichtskontexten in hohem Maße selbst darüber entscheiden konnten, wann sie welche Lesestrategien einsetzen möchten. Dies wurde beispielsweise angebahnt, indem in der Phase der Lektürevorbereitung das weitere Vorgehen reflektiert wurde oder Strategiekärtchen im Klassenraum auslagen, die verschiedene Lesestrategien in Erinnerung riefen und auf die Lernende während der Aufgabenbearbeitung zurückgreifen konnten. Zudem spielte im Fall der Lerngruppen FG1 und SG3 eine wichtige Rolle, dass diese zu Beginn der Sekundarstufe I einen Förderkurs besuchten, der den Einsatz von Lernstrategien fächerübergreifend anregt; für FG2 und SG4 konnte herausgearbeitet werden, dass die Lernenden im Verlauf der vier Lernjahre bereits eine große Routine im Umgang mit Lesestrategien entwickelt hatten und Transferleistungen aus dem Englischunterricht erfolgten. Darauf wiesen ebenfalls die Reflexionen der Schüler: innen in ihren Lerntagebüchern hin: „Ich habe wie immer *ersmal den Text überflogen, um zu gucken, was ich gar nicht verstehe“ (SG3: S1) oder „Wir überlegen dann halt, was wir im Englischen machen um so einen Text zu lesen“ (FG1: S16). An diesen Punkten zeigen sich wesentliche Merkmale einer bereits in der Sekundarstufe I entwickelten Sprachlernkompetenz, die sich unter anderem in dem Rückgriff auf ein „potenzielles 54 Sophie Engelen DOI 10.24053/ FLuL-2024-0019 53 • Heft 2 mehrsprachiges Wissen wie auch auf individuelle Sprachlernerfahrungen“ (KMK 2023: 24) zeigen kann. 5. Fazit und Ausblick Ein inklusiver Fremdsprachenunterricht, der sich die Förderung von Leseprozessen zum Ziel setzt, entwickelt nicht nur kognitive und metakognitive Lesestrategien, sondern auch Strategien im Bereich basaler Lesefertigkeiten sowie soziale und emotionale Stützstrategien in kompensatorischer Funktion, die dem Einsatz von Vermeidungsstrategien bei der Auseinandersetzung mit Schriftsprache entgegenwirken. In all diesen Bereichen zeigte sich eine beeindruckende Strategievielfalt seitens der Lernenden, die deutlich macht, dass Lesestrategien nicht nur ein theoretisches Konstrukt der Fremdsprachenforschung, sondern reale Schüler: innenhandlungen im Französisch- und Spanischunterricht darstellen, die sich bereits in der Sekundarstufe I und somit auf eher niedrigen Niveaustufen entfalten können. Dennoch weist die globale Analyse des Strategierepertoires im Kompetenzbereich des Lesens starke Einschränkungen auf: Das gewählte Forschungsdesign lässt keine systematischen Rückschlüsse darauf zu, wie sich die von den Lernenden gewählten Lesestrategien auf einen potentiell messbaren Lernerfolg auswirken, d.h., inwieweit die jeweiligen Strategien effizienter wirkten als andere methodische Ansätze - auch wenn verschiedene Datentypen kombiniert und sowohl die Sicht der Schüler: innen in Form der Lerntagebücher bzw. die Außensicht bei der Unterrichtsbeobachtung als auch die Auswertung der Unterrichtsaufzeichnungen trianguliert wurde. Zudem hätten introspektive Methoden wie z.B. das Laute Denken noch differenziertere Einsichten in Leseprozesse, besonders schwierigkeitsbesetzte Momente bei der Lektüre fremdsprachlicher Texte sowie Lösungsperspektiven eröffnen können. Umso deutlicher wurde jedoch, dass das individuelle Verfügen über Lesestrategien Lernende zu einer Partizipation am Unterricht der zweiten Fremdsprachen ermächtigt hat und somit eine zentrale Forderung der überarbeiteten Bildungsstandards eingelöst wurde, nach der Schüler: innen Lernstrategien „selbstständig aktivieren [bzw.] nutzen“ (vgl. KMK 2023: 12, 16) können. Denn in den ausgewerteten Datensätzen wurden keine Vermeidungsstrategien identifiziert, die in anderen Studienkontexten sehr präsent waren und manche Lernenden mit LRS daran hinderten, überhaupt eine aktive Auseinandersetzung mit Lese- (und Schreib-)aufträgen einzugehen (vgl. E NGELEN 2023: 170-173). In der sukzessiven Übergabe von Verantwortung für eigene Lernprozesse an die Lernenden - beispielsweise in Form von Strategietrainings - liegt ein großes Potential für die inklusive Unterrichtsentwicklung und auch die perspektivische Entlastung von Lehrkräften. Bis Schüler: innen über ein umfangreiches Strategierepertoire verfügen und flexibel darauf zurückgreifen können, ist jedoch ein langer Weg zu gehen - darauf wies auch der höhere Unterstützungsbedarf in den jüngeren Lerngruppen FG1 und SG3 hin. Dies betrifft insbesondere die Entwicklung der „Sprachlernkompetenz“ (vgl. KMK 2023: 24), die in den Bildungsstandards bereits seit 2012 explizit verankert ist Lesestrategien im inklusiven Französisch- und Spanischunterricht 55 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0019 und die insbesondere im Fall der zweiten Fremdsprachen fachübergreifend angebahnt werden kann (vgl. ebd.: 24f.). Darauf weisen auch die Erhebungskontexte der vorliegenden Daten hin: In den Kooperationsschulen der Studie wurde zum einen eine intensive Zusammenarbeit zwischen den (fremd)sprachlichen Fachgruppen gepflegt; zum anderen bestand für die Lernenden die Möglichkeit, an Lerncoachings teilzunehmen, die sich verschiedenen Lernausgangslagen und der Vermittlung von Lernstrategien individuell widmeten. Diese Ansätze werden einem ressourcenorientierten Verständnis von Neurodiversität gerecht, das sich gerade in der Stärkung individueller Lösungsansätze und der Ermächtigung von Lernenden entfaltet, eigene Lernbzw. Lesestrategien zu entwickeln, gezielt einzusetzen und zu reflektieren. Jedoch hängt die Umsetzbarkeit derartiger Fördermaßnahmen in hohem Maße von zeitlichen, räumlichen und insbesondere personellen Ressourcen ab, auf die in inklusiven Lehr-Lernsettings nicht immer in ausreichender Weise zurückgegriffen werden kann. 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