eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 53/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2024-0022
121
2024
532 Gnutzmann Küster Schramm

Vorbereitung auf inklusiven Fachunterricht:

121
2024
Nicole Gotling
Julia Hüttner
Michelle Proyer
Manuela Schlick
In order to prepare foreign language teachers for successful inclusive teaching, particularly from a subject-specific perspective, there is a need for suitable formats for teacher education to be developed and evaluated. The project ELLeN (English Language Learning & Neurodiversity, http://ellen-project.eu/) applied an inquiry-based learning (IBL) and participatory approach to base pre-service teachers’ learning on first-person narratives of neurodivergent individuals’ and professionals’ experiences in inclusive education. In this interdisciplinary project, pre-service teachers were introduced to the principles of inclusive teaching and neurodiversity through the format of IBL. Supported by multimodal and multi-perspective materials, they prepared tasks on neurodiversity and the implementation of qualitative interviews and their analysis. To investigate the development of their attitudes and perceived competence growth regarding neurodiversity-inclusive English teaching, we employed questionnaires, written reflections and focus group interviews. Results show that a focused IBL approach can help strengthen prospective teachers in seeing inclusive EFL teaching as feasible and enriching.
flul5320074
DOI 10.24053/ FLuL-2024-0022 53 • Heft 2 N ICOLE G OTLING , J ULIA H ÜTTNER , M ICHELLE P ROYER , M ANUELA S CHLICK * Vorbereitung auf inklusiven Fachunterricht: Hochschuldidaktische Überlegungen und Erfahrung zur Englischlehrer*innenbildung bezüglich Neurodiversität Abstract. In order to prepare foreign language teachers for successful inclusive teaching, particularly from a subject-specific perspective, there is a need for suitable formats for teacher education to be developed and evaluated. The project ELLeN (English Language Learning & Neurodiversity, http: / / ellen-project.eu/ ) applied an inquiry-based learning (IBL) and participatory approach to base pre-service teachers’ learning on first-person narratives of neurodivergent individuals’ and professionals’ experiences in inclusive education. In this interdisciplinary project, pre-service teachers were introduced to the principles of inclusive teaching and neurodiversity through the format of IBL. Supported by multimodal and multi-perspective materials, they prepared tasks on neurodiversity and the implementation of qualitative interviews and their analysis. To investigate the development of their attitudes and perceived competence growth regarding neurodiversity-inclusive English teaching, we employed questionnaires, written reflections and focus group interviews. Results show that a focused IBL approach can help strengthen prospective teachers in seeing inclusive EFL teaching as feasible and enriching. 1. Einleitung Die Implementierung von inklusiven Bildungsangeboten wird rezent unter anderem in der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen (BMSGPK * Korrespondenzadressen: Dr. Nicole G OTLING , BA, MA, Universität Wien, Institut für Bildungswissenschaft, Sensengasse 3a, 1090 W IEN E-Mail: nicole.gotling@univie.ac.at Arbeitsbereiche: Historische und vergleichende Bildungsforschung, Multikulturalismus und Mehrsprachigkeit Dr. Julia H ÜTTNER , MSc, Universität Wien, Institut für Anglistik und Amerikanistik (Philologisch-kulturwissenschaftliche Fakultät) sowie Zentrum für Lehrer*innenbildung, Spitalgasse 2, 1090 W IEN E-Mail: Julia.Huettner@univie.ac.at Arbeitsbereiche: Bilingualer Sachfachunterricht (CLIL), Englisch als Unterrichtsprache (EMI/ EME), Lehrer*innenbildung (Englisch als Fremdsprache) Ass.-Prof. Mag. Dr. Michelle P ROYER , Universität Wien, Zentrum für Lehrer*innenbildung, Porzellangasse 4, 1090 W IEN E-Mail: michelle.proyer@uni.lu Arbeitsbereiche: Inklusive Bildung im schulischen und außerschulischen Bereich, Inklusion in der Lehrer*innenbildung, Partizipative Forschungsansätze Dr. Manuela S CHLICK , Universität Wien, Institut für Anglistik/ Amerikanistik, Spitalgasse 2, 1090 W IEN E-Mail: manuela.schlick@univie.ac.at Arbeitsbereiche: Professionalisierungsforschung, Aktionsforschung, Montessori-Pädagogik Vorbereitung auf inklusiven Fachunterricht 75 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0022 2016) oder auch der Agenda 2030 gefordert, die sich der Umsetzung der Sustainable Development Goals widmet. Dabei stehen unter anderem hochqualitative, gleichwertige und inklusive Angebote für alle Lernenden im Zentrum der Forderungen. Dies bedeutet nun in Folge, dass Inklusion ein zentrales Prinzip jeglichen Unterrichts sein muss, also Haltung von Personal und Gestaltung von Lernumgebung, die allen Schüler*innen ein geeignetes Lernumfeld bieten. Dies wird auch zusehendes in Forschung (s. z.B. R IEGERT / M USENBERG 2015) und in konkreten Handreichungen und Lehrvorschlägen zu inklusivem Fachunterricht thematisiert (für das Unterrichtsfach Englisch siehe z.B. V OGT 2018). Dennoch sehen wir uns in der Situation, dass Fachlehrer*innen, wie in unserem Fall Englischlehrkräfte, in ihrer Ausbildung nach wie vor trotz verschiedener Initiativen selten fokussiert auf den Umgang mit verschiedenen Heterogenitätsdimensionen vorbereitet werden (s. auch K ÜCHLER / R OTERS 2014: 245; V OGT / C HILLA 2019). Obwohl es im großen Bereich des inklusiven Fachunterrichts im Allgemeinen und in Bezug auf bestimmte Heterogenitätsdimensionen deutliche Verbesserungen gibt, wie etwa zum Thema individuelle Lerner*innenunterschiede, inklusive sprachliche Vielfalt und Genderdimensionen, sind Neurodiversität und die Potenziale und Bedürfnisse neurodivergenter Personen (s. B ÜNDGENS -K OSTEN / B LUME in diesem Heft) nach wie vor ein Bereich, der kaum systematische Aufmerksamkeit in der Englischlehrer*innenbildung erhält. Neurodiversität sehen wir hier „nicht ausschließlich als neutrales Sammelbecken von Neurotypen […], sondern als explizit politischen Begriff, der inhärent mit der Forderung nach voller und gleichberechtigter Teilhabe, sowie nach Respekt für alle Neurotypen verbunden ist“ (B ÜNDGENS -K OSTEN / B LUME 2022: 233). Im Projekt English Language Learning and Neurodiversity (im Folgenden ELLeN) 1 unter der Leitung von Jules B ÜNDGENS -K OSTEN (Goethe-Universität Frankfurt) wurde angestrebt, im Rahmen von englischdidaktischen Lehrveranstaltungen das Lehrer*innenwissen der Studierenden in Bezug auf Neurodiversität zu verbessern, ihnen einen partizipativen Blick auf Forschung mit (und nicht in erster Linie über) neurodivergenten Menschen zu ermöglichen und ihre Einstellung zu dieser Dimension inklusiven Englischunterrichts positiv zu beeinflussen. Als ein zentrales Element wurde in allen Lehrveranstaltungen die studentische Forschung mit neurodivergenten Personen und/ oder Personen im inklusiven Bildungskontext positioniert, was konkret bedeutete, dass Studierende Forschungsinterviews mit diesen Personengruppen planten, durchführten und analysierten. 2 1 Siehe http: / / ellen-project.eu/ für weitere Informationen. Wir danken dem Erasmus+ KA2 Strategic Partnership Programm der Europäischen Union für die finanzielle Förderung dieses Projekts (Projektnummer: 2020-1-DE01-KA203-005696). 2 Die von The ELLeN Group entwickelten Kursmaterialen sowie weitere Informationen sind frei online verfügbar (siehe http: / / ellen-project.eu/ materials-for/ neurodiversity-english-language-learning-teachersguide/ ) 76 Nicole Gotling, Julia Hüttner, Michelle Proyer, Manuela Schlick DOI 10.24053/ FLuL-2024-0022 53 • Heft 2 2. Lehrer*innenbildung Englisch unter Berücksichtigung der Neurodiversität Um Schule im Sinne der eingangs beschriebenen inklusiven Prinzipien zu fördern bzw. zu ermöglichen, bedarf es neben administrativen und organisatorischen Verbesserungen von Rahmenbedingungen auch Weiterentwicklungen im Bereich der Lehrer*innenaus- und -weiterbildung. In Österreich führte dies im Jahr 2016 zur Einführung von Spezialisierungen im Bereich Inklusiver Pädagogik bzw. einem davor gelagerten Ende sonderpädagogischer Qualifizierungsangebote und einer Fokussierung auf den Bereich Inklusion für alle Lehramtsstudierenden im Rahmen der erziehungswissenschaftlichen Studien (B UCHNER / P ROYER 2020). Eine vollumfängliche Änderung hinsichtlich inklusiver Schulentwicklung konnte im administrativen bzw. schulpraktischen Kontext nicht erwirkt werden. Der folgende Beitrag fokussiert auf die von B ÜNDGENS -K OSTEN / B LUME (2022) angesprochene Nicht-Thematisierung von Neurodiversität im englischdidaktischen Diskurs. Abgesehen von einigen wenigen internationalen Studien (z.B. Y PHANTIDES 2021) bleibt eine fachspezifische Perspektive weitestgehend unbehandelt und konzentriert sich einschränkend auf sprachliche Aspekte, die sich beispielsweise im Bereich Dyslexie oder durch ADHS ergeben (L UNDBERG 2002). Die Herausforderungen, eine neue Generation an Lehrkräften zu ermuntern, ihren Fachunterricht inklusiv zu gestalten, selbst wenn innerhalb dieses Projektes nur auf eine Heterogenitätsdimension fokussiert wird, sind hoch. Sie bedürfen einer (Neu-) Konzeptualisierung der Verantwortlichkeiten als Englischlehrkraft, die zwar nicht ein*e inklusive*r Pädagoge*in, also Absolvent*in der Spezialisierung Inklusive Pädagogik, werden kann, aber dennoch die eigene Disziplinarität erweitern muss, um sich Kenntnisse und Einstellungen anzueignen, die einen inklusiven Fachunterricht ermöglichen. 3. Forschend Lernen und partizipativ Forschen in Vorbereitung auf inklusiven Fremdsprachenunterricht Um Lehramtsstudierende für inklusiven Fachunterricht vorzubereiten, wurde im hier diskutierten Projekt der Ansatz des forschenden Lernens gewählt. Auf konstruktivistischen Lerntheorien basierend findet forschendes Lernen zunehmend Anwendung in der Lehrer*innenbildung, da es die Lernenden, die Wissen durch eigene Entwicklungs- und Analysearbeit herleiten, zu einer besonders intensiven und aktiven Auseinandersetzung mit den Lerninhalten führt (D AMSA / N ERLAND 2016). So wird dem forschenden Lernen für die Überbrückung der Theorie-Praxis-Kluft und der Anbahnung für forschungsbasierte Unterrichtsentwicklung hohes Potenzial beigemessen (vgl. S CHOCKER -V ON D ITFURTH 2001; V IEIRA et al. 2021). Während im deutschsprachigen Raum die offene und enge Kooperation von Schule und Forschung noch nicht überall fest verankert ist, ist diese Öffnung von Schule für Forschung in erfolgreichen Vorbereitung auf inklusiven Fachunterricht 77 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0022 Bildungsländern wie Finnland oder Singapur lange etabliert und ein ausgewiesener Erfolgsfaktor (vgl. H EINRICH / K LEWIN 2020; P UUSTINEN et al. 2018; T ATTO 2015). Innerhalb der Lehrer*innenbildung sind Ansätze des forschenden Lernens außerhalb von Praktika und Qualifizierungsarbeiten weniger verbreitet bzw. beschrieben und erforscht, was sich aktuell zunehmend ändert, wie eine kurze Übersicht aktueller Studien zeigt. N GUYEN / D AO / I WASHITA (2022) konnten für 130 angehende Fremdsprachenlehrer*innen zeigen, dass forschendes Lernen sie dabei unterstützt, die Relevanz von Forschung und Forschungsergebnissen für die eigene Praxis zu artikulieren, die Bereitschaft zu forschungsbasiertem Unterrichten und eine positive Einstellung gegenüber Forschung zu erhöhen. Die Studierenden äußern gleichzeitig Bedenken bezüglich einer künftigen eigenen Forschungstätigkeit wegen mangelnder Zeitressourcen (vgl. ebd. 599). Die Studie von S PERNES / A FDAL (2023) zeigt insofern Ähnlichkeiten zum hier diskutierten Projekt als darin Lehramtsstudierende empirische Forschungsaufträge für den direkten Austausch mit Lernenden in Form von Fokusgruppeninterviews und Beobachtungen erhielten. Die Autorinnen formulierten vorab professionsspezifische als auch akademische Lernziele und konnten in allen Bereichen Lernfortschritte nachweisen. Sie kommen zum Schluss, dass die achtsame Planung von Begleitkursen und eine enge Begleitung der Studierenden in allen Schritten des forschenden Lernens notwendig ist (vgl. S PERNES / A FDAL 2023: 253). Für das forschende Lernen innerhalb des hier vorgestellten Projektes wurde für einige Projektaspekte ein möglichst partizipativer Ansatz gewählt, um entsprechend seiner Definition partnerschaftlich (vgl. U NGER 2014) die soziale Wirklichkeit inklusiver Bildungserfahrungen von und mit insbesondere neurodivergenten Fremdsprachenlernenden zu erforschen. Durch bislang mehrheitlich exklusive Bildungspraxis verfügen derzeitige Lehramtsstudierende kaum über eigene inklusive Bildungserfahrungen (vgl. für Österreich B RUNEFORTH et al. 2016: 94-95). Dabei führen laut Studien vorausgehende gemeinsame Lebens- und Lernerfahrungen mit neurodivergenten Personen zu besserem Wissen, was stereotypen Missverständnissen entgegenwirkt. Diese Akzeptanzerfahrungen wirken sich nachweislich positiv auf die psychische Gesundheit neurodivergenter Personen aus (vgl. C AGE / D I M ONACO / N EWELL 2018: 7; vgl. auch D E B OER / P IJL / M INNAERT 2011). Auch für Maßnahmen der Lehrer*innenbildung konnten diese förderlichen Effekte durch z.B. S HARMA et al. (2008) nachgewiesen werden. Neben Feedback zum Vorgehen, der Kursgestaltung und ausgewählten Interviewfragen durch Mitglieder der neurodivergenten Community strebte das Projekt ELLeN auch in Bezug auf die Materialentwicklung in Kooperation mit neurodivergenten Künstler*innen Partizipation an (vgl. F LETCHER -W ATSON et al. 2018). 78 Nicole Gotling, Julia Hüttner, Michelle Proyer, Manuela Schlick DOI 10.24053/ FLuL-2024-0022 53 • Heft 2 4. English Language Learning and Neurodiversity (ELLeN): Ein Projekt zur neurodiversitätssensiblen Englischdidaktik Da es trotz vieler Forderungen noch keine eindeutige, allgemein akzeptierte oder eindeutig validierte Konzeptualisierung inklusiven Fachunterrichts gibt, war Interdisziplinarität für das Forschungsteam des Projekts ELLeN ein essenzieller Aspekt. Das Projektteam umfasste Forscher*innen und Lehrer*innenbildner*innen aus Belgien, Deutschland und Österreich, darunter Inklusionsforscher*innen (Gotling, Proyer, van Hove) sowie Englischfachdidaktiker*innen (Blume, Bündgens-Kosten, Dieckhoff, García, Hüttner, Schlick). Für das Projekt ELLeN wurden Lehrveranstaltungen der Fachdidaktik Englisch entwickelt, welche an drei Standorten (Dortmund, Frankfurt, Wien) im Wintersemester 2021/ 2022 angeboten wurden (für weitere Details s. T HE ELL E N G ROUP 2023) 3 . Im Rahmen dieser Lehre wurde begleitend erforscht, inwieweit sich Lehrkräftewissen der Studierenden zu inklusivem, neurodiversitätssensiblem Englischunterricht durch konkrete Lehr-Lernformate, die forschendes Lernen fokussierten, verändert. Die leitenden Forschungsfragen lauteten: 1. Welche Aspekte des Lehrer*innenwissens (insbesondere Einstellungen) angehender Englischlehrer*innen zu Neurodiversität und inklusivem Englischunterricht bestehen nach einem thematisch fokussierten Seminar? 2. In welcher Weise nehmen Lehramtsstudierende Prozesse forschenden Lernens im Rahmen eines Seminars mit dem Fokus neurodiversitätsinklusiver Englischunterricht an? Von den insgesamt 66 Studierenden in den vier Lehrveranstaltungen waren 35 Teilnehmer*innen bereit, Daten für eine genauere Analyse zur Verfügung zu stellen und taten dies auch. Studierende wurden im Vorfeld über Zweck und Durchführung der Studie, sowie über die Rolle der Lehrveranstaltungsleiter*innen, informiert. Wichtiger Teil dessen war, dass bis zur abgeschlossenen Benotung der Kurse den Lehrveranstaltungsleiter*innen nicht bekannt war, welche Studierenden an der Studie teilnahmen, und die Datenerhebung von Forschungsassistentinnen durchgeführt wurde. Die Teilnahme an der Studie war freiwillig und erfolgte nach schriftlicher Einverständniserklärung. Folgende Daten wurden erhoben: • Fragebogen 1 (Kursstart, Fokus Vorkenntnisse, Erwartungen bez. inklusiven Englischunterrichts) • Fragebogen 2 (Kursende, Fokus Erfahrungen im Kurs, Erwartungen bez. inklusiven Englischunterrichts) 3 In teils überarbeiteter Version wurden diese Kurse auch im Sommersemester 2022 und Wintersemester 2022/ 23 angeboten, allerdings waren die Studierenden dieser Kurse nicht an der hier vorgestellten Forschung beteiligt. Vorbereitung auf inklusiven Fachunterricht 79 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0022 • Reflexion 1 (Kursmitte, Fokus Interview, ca. 350 Wörter) • Reflexion 2 (Kursende, Fokus Datenanalyse / Themen zu Neurodiversität, ca. 350 Wörter) • Reflexion 3 (Kursende, Fokus Lernerfahrungen im Seminar, ca. 1.000 Wörter) • Fokusgruppeninterviews (Kursende, Fokus Lernerfahrungen im Seminar, Dauer ca. 45 bis 60 Minuten) Erhebungsinstrumente Datensätze Fragebogen 1 Fragebogen 2 Reflexion 1 Reflexion 2 Reflexion 3 Fokusgruppen Interviews Dortmund 13 12 0 0 4 0 Frankfurt 15 7 0 0 0 1 Wien 7 10 15 14 0 2 Gesamt 35 29 15 14 4 3 Tab. 1: Datenübersicht Die quantitativen Daten wurden durch Fragebogen 1 (24 Items, Likert- und Likert- Typ Skalen, Ja-/ Nein-Fragen und offene Fragen) und 2 (24 Items, Likert- und Likert- Typ Skalen, Multiple-choice- und offene Fragen) erhoben. Fragebogen 1 erhob Vorwissen zu Neurodiversität und bestimmten Neurotypen, zu schulischen Lehr-Lernmethoden (v.a. bezüglich Individualisierung) sowie zu Methoden forschenden Lernens. Weiters wurden Studierende auch zu ihren Einschätzungen bezüglich Neurodiversität im Englischunterricht und zum Einfluss der ggf. eigenen Erfahrungen mit Neurodiversität auf ihre zukünftige Unterrichtspraxis befragt. Fragebogen 2 fokussierte auf das Lernen der Studierenden durch Fragen nach den angewandten Forschungsmethoden und deren Nutzen für universitäres Lernen und/ oder Schulpraxis; nach Einschätzungen der eigenen Befähigung zu neurodiversitätssensiblem Englischunterricht, der persönlichen Motivation zu solchem Englischunterricht und den Emotionen, die damit verbunden werden. Es wurde in offenen und geschlossenen Frageformaten auch nach Veränderungen im Wissen und Verständnis zu verschiedenen Aspekten neurodiversitätssensiblen Englischunterrichts gefragt. Die quantitativen Daten (Fragebogen 1 und 2) wurden einer deskriptiven Analyse unterzogen (s. auch T HE ELL E N G ROUP 2023). Die qualitativen Daten umfassen die Reflexionen der Lehramtsstudierenden, die verpflichtende Kursaufgaben darstellten, und drei abschließende freiwillige Fokusgruppeninterviews. Insgesamt wurden drei verschiedene Reflexionen gesammelt. Reflexion 1 und 2 wurden in zwei Lehrveranstaltungen erhoben und von jeweils denselben Studierenden verfasst (N=14), eine zusätzliche Person gab nur Reflexion 1 ab. Reflexion 3 wurde in einer Lehrveranstaltung gesammelt und von 4 Studierenden abgegeben (s. Tab. 1). Tabelle 2 bietet einen Überblick über das Textkorpus der Reflexionen. 80 Nicole Gotling, Julia Hüttner, Michelle Proyer, Manuela Schlick DOI 10.24053/ FLuL-2024-0022 53 • Heft 2 Reflexion 1 Wörter gesamt/ Ø pro Text Reflexion 2 Wörter gesamt/ Ø pro Text Reflexion 3 Wörter gesamt/ Ø pro Text Textkorpus gesamt Wörter gesamt/ Ø pro Text 6.279 / 418,6 4.675/ 333,93 4539/ 1.134,75 15.493 Tab. 2: Reflexionen 1-3 Für alle drei Reflexionen gab es Aufgabenstellungen durch die Lehrveranstaltungsleiterinnen. Reflexion 1 musste zu Semestermitte abgegeben werden und fokussierte auf den Lernprozess durch die Interviewführung mit einem Fokus auf Neurodiversität. Reflexionen 2 und 3 mussten zu Semesterende abgegeben werden. Reflexion 2 fokussierte auf den Prozess der Datenanalyse. Für Reflexion 3, die deutlich längere Texte elizitierte, war die Aufgabenstellung breiter und fokussierte auf das studentische Lernen durch diesen Kurs bezüglich Neurodiversität (v.a. in Bezug auf forschendes Lernen, dessen Bedeutung für Unterrichtspraxis und möglichen Implikationen für die eigene berufliche Praxis). Die Fokusgruppeninterviews (eines zu den Kursen in Deutschland, zwei zu den Kursen in Österreich) wurden von zwei Projektmitarbeiterinnen durchgeführt. Die Fragen fokussierten auf die Erfahrungen der Studierenden mit forschendem Lernen in Bezug auf die Durchführung und Analyse der Interviews und den Lerngewinn durch das Seminar v.a. für die zukünftige oder gegenwärtige Unterrichtspraxis gestellt. Die wörtlichen Transkripte liegen jeweils in den Sprachen des Interviews vor (Interview 1: Englisch und Deutsch, Interview 2 und 3: Deutsch). Die drei Datensätze umfassten Interviews mit 9 Studierenden (2, 4 und 3 Teilnehmende) und dauerten zwischen 45 und 60 Minuten (Interview 1: 45 Minuten, Interview 2 und 3: 1 Stunde, siehe auch Tab. 3). Fokusgruppen Teilnehmer*innen Interviewerinnen Dauer 1 (Deutschland/ Zoom) 2 2 45 min 2 (Wien) 4 2 60 min 3 (Wien) 3 2 60 min Gesamt 3 9 2 165 min Tab. 3: Fokusgruppen Übersicht Alle qualitativen Daten wurden sowohl einer thematischen Analyse (B RAUN / C LARKE 2008) als auch einer qualitativen Inhaltsanalyse (M AYRING 2008, unter Einsatz von MAXQDA Version 22) durch zwei Forscher*innenteams unterzogen. Vorbereitung auf inklusiven Fachunterricht 81 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0022 5. Forschungsergebnisse 5.1 Ergebnisse der quantitativen Analyse (Fragebögenauswertung) Aufgrund der geringen Teilnehmer*innenzahl dienen die quantitativen Daten einer allgemeinen Kurs- und Konzeptevaluation und bieten Hinweise für die spätere qualitative Analyse in Bezug auf Vorwissen, Veränderungen in den Einstellungen sowie den subjektiv eingeschätzten Lerngewinn durch die Studierenden. Zu Beginn des Kurses gaben die meisten Teilnehmer*innen an, von bestimmten Neurotypen gehört zu haben (ADHS (100%), Legasthenie (91,4%), Dyskalkulie (77,1%), dyslexia (74,2%), Autismus (65,7%), mit dem deutlich geringsten Bekanntheitswert für das darüberstehende Konzept der Neurodiversität von 31,4%). Den Grad der Schwierigkeit, neurodivergente Schüler*innen inklusiv zu unterrichten, schätzten vor dem Kurs 51,5% als sehr schwierig und 42,8% der Studierenden als schwierig ein, 5,7% gaben keine Antwort. Nur 25,7% der Studierenden gaben an, mit Methoden des forschenden Lernens vertraut zu sein. Die Lehrveranstaltungen wurden im Fragebogen 2 insgesamt als positiv bewertet, insbesondere da sie nach Einschätzung der Studierenden dazu beitrugen, ihr Wissen um Neurodiversität und verschiedene inklusive Lehrmethoden (sowie Methoden des forschenden Lernens für die eigenständige Kompetenzerweiterung) zu erhöhen. Gleichzeitig fühlten sie sich weiterhin mehrheitlich gefordert in Anbetracht dessen, was sie für inklusiven Unterricht noch lernen müssten. Konkret differenzierten die Studierenden, sowohl in den geschlossenen wie auch den offenen Fragen, ihre Sorge in Bezug auf die generelle Herausforderung 1) neurodivergente Schüler*innen zu unterrichten, 2) die Vielzahl möglicher Unterrichtsmethoden und -materialien zu beherrschen, die für erfolgreichen neurodiversitätssensiblen Unterricht erforderlich sind, und 3) nicht genügend kompetent oder erfahren zu sein, um die notwendigen unterrichtlichen Handlungsoptionen zu erkennen. Die Einschätzung, dass neurodiversitätssensibler Unterricht „sehr schwierig“ sei 4 , sank im Laufe des Semesters von 51,4% auf 39,2%. Bewusst wurden die Studierenden neben der wahrgenommenen Schwierigkeit auch nach der potenziellen Bereicherung durch neurodiversitätssensiblen Englischunterricht gefragt. Nach dem Kurs gaben 71,4% der Studierenden an, diesen als „sehr bereichernd“ einzuschätzen und 28,6% als „bereichernd“ mit keinen negativen Einschätzungen 5 . Erfreulich ist auch, dass 64,3% der Studierenden angeben, dass sich ihre Einstellung verbessert hat. Für 35,7% der Teilnehmer*innen blieb sie unverändert. Eine Verschlechterung gibt niemand an 6 . 4 Basiert auf der Likert-Typ-Skala (1-5) bezüglich: „Wie schwierig schätzen Sie den Umgang mit Neurodiversität im Klassenzimmer ein? “ 5 Basiert auf der Likert-Typ-Skala (1-5) bezüglich: „Wie bereichernd schätzen Sie den Umgang mit Neurodiversität im Klassenzimmer ein? “ 6 Basiert auf der Likert-Typ-Skala (1-5) bezüglich: „Wie hat sich Ihre Einstellung zu Inklusivem Unterricht mit neurodiversen Schülerinnen und Schülern geändert? “ 82 Nicole Gotling, Julia Hüttner, Michelle Proyer, Manuela Schlick DOI 10.24053/ FLuL-2024-0022 53 • Heft 2 Den deutlichsten Lerngewinn identifizierten die Studierenden für ihr Verständnis der Bedürfnisse und Perspektiven von neurodivergenten Schüler*innen (96,5%). Auch wenn Effekte der sozialen Erwünschtheit Teile dieser positiven Äußerungen erklären können, erwarben die Studierenden im Laufe des Semesters auch nachweislich mehr Vertrautheit mit dem Kernkonzept Neurodiversität. So konnten im Fragebogen 2 insgesamt 27 Studierende (von 29, d.h. 92%) eine Definition des Konzeptes geben, während im Fragebogen 1 nur 11 (von 35, d.h. 31%) dazu in der Lage waren. 5.2 Ergebnisse der qualitativen Analysen (Reflexionen, Fokusgruppeninterviews) Im Folgenden werden zunächst einige Kernpunkte aus den Reflexionen und den Fokusgruppeninterviews präsentiert, um anschließend die zentrale Frage nach der studentischen Wahrnehmung ihrer Vorbereitung auf inklusiven Englischunterricht und ihre Einstellung dazu entlang der Analyseergebnisse der qualitativen Daten zu besprechen. In den Reflexionen verwenden die Studierenden den Begriff Neurodiversität, wobei sich sowohl in Fragebogendefinitionen wie auch in den Anwendungen gewisse Unschärfen zeigen. Die Konzeptualisierung von Neurodiversität als Überbegriff (im Sinne von Neurodivergenz; s. B ÜNDGENS -K OSTEN / B LUME in diesem Heft) ist sichtlich vorrangig für die Studierenden und so wird zumeist auf Definitionen, die auf neurologische Unterschiede fußen, zurückgegriffen. So wird der Begriff neurodivers von sechs Studierenden als Adjektiv für Einzelpersonen verwendet, wie z.B. „[the interview] raised my awareness of the struggles of neurodiverse, especially autistic, students“ (1jic 7 , Reflexion 1). Generell übernehmen Studierende Begrifflichkeiten bzgl. Neurodivergenz, die von Interviewpartner*innen vorgebracht wurden, obwohl diese teilweise Termini enthalten, die im Seminar problematisiert wurden. Das zweite Leitprinzip der Kurse, forschendes Lernen, wurde von den Studierenden fast ausschließlich - und erst auf Nachfrage - auf die Durchführung und Analyse des Interviews reduziert, wobei v.a. auf das Lernen der Interviewtechnik und kaum auf Aspekte des Lernens durch selbständige Forschung reflektiert wurde. Insgesamt 21 Zitate in Reflexionen der Studierenden betreffen Schwierigkeiten, wobei alle Bereiche, d.h. Interviewführung, Zusammenarbeit mit Studienkolleg*innen, Datenanalyse und Verfassen des Abschlusspapers, genannt wurden. Dies entspricht den Erfahrungen von S PERNES / A FDAL 2023, wonach eine enge Begleitung in allen, auch zunächst weniger relevant erscheinenden Schritten des forschenden Lernens notwendig ist. Demgegenüber stehen zahlreiche positive Einschätzungen (11) des wahrgenommenen Lerngewinns durch die geführten Interviews wie z.B. „The interview process still was extremely beneficial for my future career, both for university and my life as a teacher“ (1nke, Reflexion 1), und acht Einschätzungen, dass der Interview- und 7 Exzerpte werden wörtlich in der Originalsprache zitiert. Studierende werden durch Kürzel anonymisiert angegeben. Vorbereitung auf inklusiven Fachunterricht 83 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0022 Analyseprozess einfach bzw. einfacher als erwartet war. Zahlreiche Äußerungen (N=17) thematisieren den Lerngewinn durch die Interviews v.a. durch Informationen zu Unterrichtsmethoden und -praxen im inklusiven Englischunterricht und auf die Erfahrungen von und mit neurodivergenten Schüler*innen. In der Mehrzahl bleiben die Beschreibungen allerdings auf der Ebene der Wiedergabe von Interviewinhalten mit nur geringer Evaluierung, und nur selten gibt es ein Beispiel für eine kritische Auseinandersetzung. Aus zahlreichen Reflexionspassagen wird implizit klar, dass der Großteil der Studierenden während und nach den Lehrveranstaltungen eine generell positive Einstellung zu inklusivem Englischunterricht vertritt, was die Ergebnisse der Fragebogenauswertung bestätigt. Explizit wird dies in drei Meldungen in den Reflexionen, wobei diese das Empfinden direkt auf den Punkt bringt: „I now even more support an inclusive approach to teaching as it proves to have numerous benefits for the students“ (seld, Reflexion 1). Zusammenfassend lassen sich folgende Aspekte als learnings in Bezug auf Neurodivergenz aus den Reflexionen ableiten: 1. Relevanz des Wissens um Diagnose: Relevanz des Wissens über den Neurotyp bzw. die Art der Behinderung und der Zeitpunkt der Diagnose 2. Unterschiedliche Methoden kennen und im Sinne aller Lernenden umsetzen können: Differenzierung bzw. unterschiedliche Unterrichtsformen 3. Diskrepanzen zwischen dem Wissen, das an der Universität über Inklusion vermittelt wird und dem Wissen, wie Inklusion in der Praxis wirklich funktioniert Viele bisher besprochenen Themen wurden auch in den Fokusgruppeninterviews thematisiert. Insbesondere die soeben aufgelisteten Aspekte 1 und 2 resonieren mit den Fragekategorien preparation as a teacher oder future teacher self. Im Fokusgruppeninterview 2 werden diese Aspekte deutlich angesprochen, wenn die Studierenden ansprechen, wie sie sich fühlen, wenn sie erfahren, dass der*die interviewte Expert*in sich nicht 100% vorbereitet auf das inklusive Setting sah: dass sogar sie sich mit einer spezialisierten Ausbildung nach der Pädagogischen Hochschule […], schlecht vorbereitet gefühlt hat […] Aber die Frage hat sich eben gestellt, vor allem für mich: Wenn das sogar für einen Spezialisten so ein komplexes Thema ist, ob das dann überhaupt realistisch ist für die Sek 2, für wirklich Fachexperten in zwei Fächern, dass die überhaupt vorbereitbar sind (FGD_2, Pos. 19). Die Teilnehmenden sprechen von einer höheren Bewusstheit („awareness“) hinsichtlich unterschiedlicher „Neurotypen“ (FGD_3, Pos. 155). Hinsichtlich Neurodiversität bleiben die Rückmeldungen der Studierenden vor allem auf die Frage nach dem Zeitpunkt der Diagnose bzw. die genaue Art der Neurodivergenz verhaftet, wie das folgende Zitat veranschaulicht: „Aber ich weiß jetzt immer noch nicht, wie genau der Neurodiverstyp (sic! ) von dem Schüler war, den wir interviewt haben“ (FGD_3, Pos. 143). Hinsichtlich der Fragen der Vorbereitung wird in Interview 3 Folgendes zusammengefasst: „Es gibt nicht so einen richtigen Weg […]. Sondern es ist halt alles irgendwie individuell. Aber man hat auf jeden Fall ein bisschen mehr Wissen schon 84 Nicole Gotling, Julia Hüttner, Michelle Proyer, Manuela Schlick DOI 10.24053/ FLuL-2024-0022 53 • Heft 2 und ist so reingetastet“ (FGD_3, Pos. 156). Die interviewte Studierendengruppe fühlt sich angeregt bzw. bereit, sich weiterführend mit dem Thema auseinanderzusetzen, was viele Kommentare sowohl in den Reflexionen als auch den Interview-Transkripten widerspiegeln, wie z.B. „[t]his course has motivated me to do better, encouraged me to find new ways [of teaching] in a given system […] I feel rather empowered“ (le, Reflexion 3). Ebenso: „[I] definitely want to learn more about inclusion and neurodiversity and… [the] competencies regarding the teaching of these students“ (mw, Reflexion 3). Darüber hinaus kommentierten die Lehramtsstudierenden, dass sie sich nicht nur der unterschiedlichen Typen und konkreter Bedürfnisse neurodivergenter Lernender bewusster wurden, sondern der aller Lernenden. Der Kurs half ihnen, zu erkennen, dass „every student (and every human) can be considered neurodiverse“ (1itl, Reflexion 1) sowie „every child and every student needs a certain amount of support, no matter who they are [and] as teachers it is their job to support every student on their own learning trajectory in the best way they can“ (1vli, Reflexion 1). Durch die Auseinandersetzung mit dem Konzept Neurodiversität und der Interaktion mit Vertreter*innen der neurodivergenten Community erkannten viele der befragten Lehramtsstudierenden, dass Inklusion und integrative Praktiken nicht nur für einige wenige nützlich, sondern für alle wichtig und notwendig sind. Einer der Aspekte, welche die Reflexionen und Interviews jedoch am meisten beleuchten, waren Beispiele und Erläuterungen zu denjenigen Bereichen, in denen sich die Lehramtsstudierenden nach dem Kurs noch ängstlich und überfordert fühlten. Auf die Frage, ob es bestimmte Aspekte des Kurses gab, die dazu beigetragen hatten, ihre Befürchtungen zu lindern, waren die Antworten gemischt: Einerseits hatte der Kurs ihnen bewusst gemacht, was sie noch lernen müssten in Bezug auf Schüler*innenindividualität, verschiedene Neurotypen und Lehr-Lernmethoden. Andererseits lernten sie die Bedeutung dieses neuen Bewusstseins zu schätzen. In den Reflexionen beziehen sich einzelne Studierende einerseits auf Interviews mit sich selbst als neurodivergent bezeichnenden Lernenden, die nach ihrer Schullaufbahn auf diese zurückblicken, und andererseits Inhalte aus den Kursen. In Bezug auf den Englischunterricht half der Kurs den Lehramtsstudierenden, sich dessen bewusster zu werden, dass neurodivergente Lernende vielleicht nicht die gleichen Möglichkeiten hatten, Englisch zu lernen wie ihre neurotypischen Kolleg*innen, und dass es aufgrund der Möglichkeiten und Schwierigkeiten, die oft mit dem Erlernen von Sprachen im Allgemeinen verbunden sind, Ungleichheiten gibt. Diese werden oft im Fremdsprachenunterricht mit seinen vielen sozialen Lernformen, entsprechenden Materialien und Methoden noch verstärkt. 6. Diskussion und Implikationen Durch den Kurs erfolgte zwar eine Sensibilisierung für Neurodiversität und die Notwendigkeit, eine Bandbreite an Arbeitsmethoden für den Unterricht mit neurodiver- Vorbereitung auf inklusiven Fachunterricht 85 53 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2024-0022 genten Schüler*innen zu beherrschen. Die unmittelbaren Austauschsituationen innerhalb des Kurses und in den Interviews mit neurodivergenten Lernenden bzw. deren Lehrer*innen wurden mehrfach als hilfreich hervorgehoben. In Zusammenschau mit einer höheren Bereitschaft und gesunkenen Befürchtungen in Bezug auf inklusiven Fachunterricht konnten die Erkenntnisse von C AGE / D I M ONACO / N EWELL 2018 bestätigt werden. Die Elemente forschenden Lernens innerhalb des Kurses und die Durchführung und Analyse der Interviews waren insofern positiv, als die Studierenden das Gefühl hatten, dass sie ein größeres Bewusstsein für Vertreter*innen der neurodivergenten Community im Allgemeinen sowie für die Notwendigkeit und Bedeutung einer stärkeren Inklusion im Besonderen gewonnen hatten. Dies reflektierten sie insbesondere im Hinblick auf die Schwierigkeiten, mit denen neurodivergente Lernende im Klassenzimmer konfrontiert sind sowie Beispiele für die unterschiedlichen Einstellungen und berichteten Methoden der Lehrkräfte, die sie für sich als hilfreich oder hinderlich beurteilen konnten. Der Prozess des forschenden Lernens an sich konnte häufig erst durch Nachfragen reflektiert werden. Die zentralen Ergebnisse aus der qualitativen Analyse der Reflexionen und Fokusgruppen-Interviews beziehen sich interessanterweise weniger zentral auf inquiry-based learning (IBL) per se und auch nicht auf Neurodiversität, sondern auf breitere Fragen, die das Thema Inklusion und damit einhergehende Notwendigkeiten der Differenzierung betreffen. Deshalb kann in Bezug auf die zweite Forschungsleitfrage geschlossen werden, dass eine noch stärkere Begleitung der Studierenden notwendig ist, wie auch S PERNES / A FDAL (2023) in ihrer Studie beobachten. Für künftige ähnliche Projekte kann dies bedeuten, dass eine kontinuierlichere Reflexion der Forschungserfahrungen für die professionelle Entwicklung förderlich sein kann. Eine Mehrheit der Studierenden reflektiert die Notwendigkeit, dass sie sich der Individualität und der Bedürfnisse ihrer Schüler*innen bewusst sind oder werden, und dass sie bereit und in der Lage sind, ihre Ressourcen und Methoden entsprechend zu gestalten, um eine bessere Inklusion in ihren Klassenzimmern zu erreichen. Die Lehramtsstudierenden wurden sich stärker der Notwendigkeit bewusst, die unterschiedlichen Lernsituationen einzelner Schüler*innen und Situationen anzuerkennen und für diese geeignete methodische Unterstützung zu entwickeln. Die Fachbereiche und Ansätze der Inklusiven Pädagogik und Fachdidaktik müssen hierzu noch weiter zusammenwachsen, wie dies im Kontext von ELLeN versucht wurde. Es zeigt sich in unseren Daten, dass ein einsemestriger Kurs jedenfalls nicht ausreicht, um verankerte Konzepte und Begrifflichkeiten weiterführend zu hinterfragen, was in mehreren Verwendungen unscharfer Definitionen von Inklusion im Allgemeinen, wie auch zum Beispiel im Gebrauch teils veralteter Definitionen von Autismus in den Interviews deutlich wird. Gespräche mit Pädagog*innen konnten die studentischen Ängste nicht gänzlich zerstreuen, aber sie trugen dazu bei, Inklusion differenzierter und als machbarer zu sehen. Die Teilnehmer*innen äußerten eine gesteigerte Bereitschaft, sich weiter und 86 Nicole Gotling, Julia Hüttner, Michelle Proyer, Manuela Schlick DOI 10.24053/ FLuL-2024-0022 53 • Heft 2 vertiefend mit dem Thema auseinanderzusetzen. Dafür sei es in ihren Augen am nützlichsten, Erfahrungen zu sammeln, indem man mit Anderen spricht (z.B. mit aktuellen Lehrer*innen, die ihre eigenen Erfahrungen teilen können), indem man selbst in den Unterricht geht, um Erfahrungen aus erster Hand zu sammeln, da sie die Individualität jedes Falles zunehmend erkannten und recherchieren, welche weiteren personellen oder Materialressourcen verfügbar sind. Am Ende der Ausführungen bietet sich ein Plädoyer für eine weiter interdisziplinär ausgerichtete Leherer*innenausbildung bzw. Forschung sowie eine größere Öffnung von Schulen für Forschung, um aktuelle Bedarfe hinsichtlich der Umsetzung von inklusiven und neurodiversitätssensiblen Schule auf allen Ebenen umzusetzen, damit auch Weiterentwicklungen in den einzelnen Fachdidaktiken zu ermöglichen und auch im Fachunterricht erfolgreich inklusiv zu arbeiten. Literatur B RAUN , Virgina / C LARKE , Victoria (2008): „Using thematic analysis in psychology“. 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