eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 54/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2025-0022
0428
2025
541 Gnutzmann Küster Schramm

Mareike TÖDTER: Fremdheit im Englischunterricht. Eine interdisziplinäre Grundlagenarbeit zur Gestaltung von Fremdheitserfahrungen. WVT: Trier 2023 (Reihe Diversitätsorientierte Literatur-, Kultur- und Sprachdidaktik. Band 5), 415 Seiten [43,50 €]

0428
2025
Lotta König
flul5410141
Besprechungen 141 54 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2025-0022 einer intensiven Phase der Verhandlung von Deutungshoheiten und Perspektiven auf guten Fremdsprachenunterricht und gute fachliche Lehrer: innenbildung. Da dieser Diskurs in Anbetracht von Lehrer: innenmangel, Quereinstieg und stets neuen Herausforderungen an einen zeitgemäßen Fremdsprachenunterricht nicht abgeschlossen ist, leistet dieses Buch noch deutlich mehr insbesondere für die aktuellen Herausforderungen der Fremdsprachendidaktik. Erstens veranschaulicht die Studie die Wirkungsbreite und auch -tiefe von Referenzrahmen sowohl für die Praxis der Lehrer: innenbildung als auch die Forschung innerhalb einer Disziplin, hier am Beispiel der Arbeiten zum Professionswissen veranschaulicht (Kapitel 3.2). Dieses Bewusstsein sollte auch als kontinuierlicher Auftrag an fremdsprachendidaktische Forschung und Verbandsarbeit sein, sich weiterhin und gar verstärkt in den bildungspolitischen Diskurs einzubringen - auch im Sinne einer zunehmend geforderten und auch praktizierten Third Mission. Johanna M ARKS ’ Studie bietet dafür eine gute Argumentations- und Motivationsgrundlage. Zweitens bietet die Studie über die rückblickende Analyse und Aufarbeitung hinaus wichtige konkrete Denk- und Forschungsanstöße innerhalb von Kapitel 7 („Entwicklungstendenzen und Desiderate“), in dem die Autorin insgesamt zehn Desiderate formuliert. Diese behandeln das Entwicklungspotenzial der bestehenden Referenzrahmen (Digitalisierung und Anwendungsfreundlichkeit, Übertragung auf weitere Phasen und Institutionen der Lehrer: innenbildung sowie berufliche Kontexte). Es ist zu hoffen, dass die zurecht geforderte stärkere Einbindung von Lehrkräften in deren Weiterentwicklung im Sinne partizipativen Denkens der aktuellen Zuwendung fremdsprachendidaktischer Forschungsprojekte etwa zu designbasierter Forschung und anderen kooperativen und praxisorientierten Formen entspricht. W IEN M ANUELA S CHLICK Mareike T ÖDTER : Fremdheit im Englischunterricht. Eine interdisziplinäre Grundlagenarbeit zur Gestaltung von Fremdheitserfahrungen. WVT: Trier 2023 (Reihe Diversitätsorientierte Literatur-, Kultur- und Sprachdidaktik. Band 5), 415 Seiten [43,50 €] Mareike T ÖDTER widmet sich in der auf ihrer Dissertationsschrift basierenden Monographie einem Thema, das den Kern der Fremdsprachendidaktik betrifft: dem Konzept der Fremdheit selbst. Die Autorin verfolgt dabei drei Forschungsfragen, die den Aufbau der Arbeit strukturieren: Im ersten Teil fragt sie nach dem Verständnis von Fremdheit in der Fremdsprachendidaktik, welches sie analysiert und durch einen Abgleich mit interdisziplinären Perspektiven kontextualisiert und intradisziplinär historisch einordnet (Kap. 3-5). Auf dieser Grundlage werden im zweiten Teil umfassend begründete Aussagen zu den beiden anderen explizit normativen Forschungsfragen gemacht: nämlich, wie Fremdheit gefasst werden sollte und wie sie im schulischen Kontext so inszeniert werden kann, dass offene Aushandlungen von Fremdheit im Englischunterricht stattfinden können (Kap. 6-11). Die „Bausteine“ (S. vi-vii) für diesen zweiten Teil sind • eine Analyse und kritische Auswertung bestehender einschlägiger Veröffentlichungen aus den sogenannten Fremdsprachendidaktiken (darunter sowohl konzeptionelle als auch empirische Arbeiten) im Hinblick auf mögliche Inszenierungsprinzipien von Fremdheitserfahrungen (Baustein A), • ein Einbeziehen psychologischer und pädagogischer Forschung zum Umgang mit Dissonanzen und Stereotypen (Baustein B) sowie schließlich • die Erhebung von Expert*inneninterviews mit Lehrer*innen zum Umgang mit Fremdheit 142 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2025-0022 54 • Heft 1 (Baustein C), mit dem die theoretische und empirische Forschung in Expertisen aus dem schulischen Kontext verankert werden. Aus diesen Bausteinen leitet die Autorin Prinzipien ab und entwickelt auf dieser Grundlage im elften Kapitel ein Modell zur Inszenierung von und zum Umgang mit Fremdheitserfahrungen. Mit diesem Modell, seiner interdisziplinär und methodisch vielfältig angelegten Entwicklung und der zugrunde liegenden kritischen Analyse zentraler Begriffe der Disziplin hat Mareike T ÖDTER eine Arbeit vorgelegt, die von hohem Erkenntniswert für die Fremdsprachendidaktik ist. Die im ersten Teil der Arbeit entwickelten Überlegungen berühren den gesamten Gegenstandsbereich dieser Disziplin, Sprachebenso wie Literatur- und Kulturdidaktik (so dass der von der Autorin verwendete Begriff der Sprachdidaktik, nachdem sie begründet die Bezeichnung der ‚Fremdsprachendidaktik‘ verworfen hat, in dieser Hinsicht allerdings fast zu kurz greift). Die Verfasserin dekonstruiert scharfsichtig die meist implizit bleibenden Annahmen von Fremdheit als etwas zu Überwindendem, Fernen, Anderen in dieser Disziplin. Als konstruktiver Gegenvorschlag wird sehr plausibel das Ziel entworfen, im Sprachunterricht Fremdheitserfahrungen zu ermöglichen. Diese liegen im Individuum und beziehen sich auf individuelle Irritationen pluraler Art und nicht auf ein häufig immer noch national-kulturell verstandenes kollektives ‚Anderes‘, dem Fremdheit zugeschrieben wird oder bei dem die Fremdheit durch Gegenüberstellung von Eigenem und Anderem erst hervorgerufen wird. Methodisch und im Hinblick auf die verschiedenen Forschungs- und Handlungsfelder der sog. Fremdsprachendidaktik bietet die Arbeit ein für eine Dissertation breites Spektrum von konzeptionellen über empirischen bis hin zu unterrichtspraktischen Erträgen: In erster Linie konzeptionell ausgerichtet, erfüllt sie den Anspruch theoretischer Entwicklung durch die umfassenden Grundlagen, ihre kleinschrittige Zusammenführung und die genauestens und transparent dargelegte Aufstellung des Modells zur Inszenierung von Fremdheit. Zugleich finden empirische Perspektiven Eingang in diese Entwicklung. Zunächst werden theoretische und empirische Studien fast einer Meta-Studie zum Umgang mit Fremdheit gleich (in Bausteinen A und B) zusammengefasst. Der Baustein C besteht zudem aus einer eigenständigen empirischen Erhebung: Leitfadenbasierte Expert*inneninterviews mit zehn Lehrer*innen werden zielführend mit Auswertungsschritten für theoriegenerierende Expert*inneninterviews nach M EUSER und N AGEL , begründet ergänzt durch Schritte der Thematic Analysis nach B RAUN und C LARKE , ausgewertet. Die entstehenden Codes fließen in die Prinzipienformulierung des im Laufe der Monographie entwickelten Modells ein. Somit steht die empirische Erhebung im Dienste der konzeptionellen Entwicklung, in welche auf diese Weise Handlungswissen und Logiken der Schulpraxis zum bis dahin in der Arbeit vor allem theoretisch verhandelten Thema der Fremdheit einfließen. Diese Binnen-Studie und die Formulierung von Prinzipien zum Modell machen die Arbeit zugleich sehr anschlussfähig für weiterführende umfassendere empirische Forschung: Sie können als Grundlage dienen, wenn - im Anschluss an diese Arbeit - Unterricht erforscht wird, in dem Fremdheitserfahrungen ermöglicht werden. Die Prinzipien empfehlen sich dabei insbesondere für Design-Based Research, da sie von der Verfasserin in Anlehnung an ein solches Forschungsdesign formuliert und in Meta-, pragmatische und spezifische Prinzipien differenziert werden. Insbesondere die Ebene der pragmatischen und spezifischen Prinzipien (auf denen die Ergebnisse der Expert*inneninterviews maßgeblich in die Formulierung der Prinzipien eingeflossen sind) machen schließlich den Erkenntnisgewinn der Arbeit für die unterrichtspraktische Inszenierung von Fremdheit aus, da diese Ebenen des Modells bereits viele Hinweise auf konkrete Umsetzungsmöglichkeiten und Unterrichtssettings bieten. Zur Illustration dient ein Beispiel aus dem Modell: Dem aus fachdidaktischen Studien zusammengeführten Meta-Prinzip „Die Aufmerksamkeit der Schüler*innen für die Wahrnehmung des Widersprüchlichen und Irritierenden schulen“ wird u.a. das psychologisch und lite- Besprechungen 143 54 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2025-0022 raturdidaktisch begründete pragmatische Prinzip „Aus einem vom Lehrer (sic) ausgewählten oder vorbereitenden Material Widersprüchliches formulieren und reflektieren lassen“ zugeordnet. Unter den neun darunter subsumierten pragmatischen Prinzipien findet sich z.B. „Als Lehrkraft die Schüler*innen anhalten, Informationen zu prüfen, indem man z.B. Unzuverlässigkeit bei den Quellen demonstriert“ (S. 349). Das Modell zur Inszenierung von Fremdheit steht also auf einem breiten Fundament von bestehender Forschung und Praxiswissen, das durch die eigenständige Einordnung und Vernetzung durch die Autorin zu einem kohärenten und hoch anschlussfähigen Vorschlag wird. Mareike T ÖDTER beweist dabei eine fundierte Kenntnis der fachdidaktischen Fachliteratur, die sie für das Anliegen der Inszenierung von Fremdheit produktiv macht (darunter maßgeblich Monographien von Hans H UNFELD , Nicole M ITTERER , Stephan B REIDBACH und Thorsten M ERSE ). Außerdem erfüllt Mareike T ÖDTERS Arbeit den für die sog. Fremdsprachendidaktik charakteristischen, aber nicht immer eingelösten Anspruch interdisziplinärer Bezugnahme: So erschließt sie z.B. Erkenntnisse aus Philosophie und Politischer Theorie für ihre didaktischen Überlegungen zum Thema Fremdheit (Kap. 4), nutzt psychologische Studien als einen Baustein für Inszenierungsprinzipien zum Umgang mit Fremdheit (Kap. 9) oder verweist auf kunst- und philosophiedidaktische Impulse beim Weiterdenken der Implikationen aus dem Modell (in Kap. 11). Die Autorin setzt sich dabei immer auch kritisch mit ihren Quellen auseinander, indem sie eigene Kritikpunkte anführt, blinde Flecken aufzeigt und bei den von ihr verwendeten Ansätzen stets mögliche Einwände benennt. Die zentralen Begriffe der Arbeit werden sehr genau begründet (gerade wenn sie in den Quellen vage oder widersprüchlich verwendet sind) und reflektiert: So bietet die Arbeit überzeugende Definitionen und Diskussion nicht nur für das Konzept der Fremdheit, sondern auch für in der fremdsprachendidaktischen Literatur häufig verwendete Schlagworte wie Verstehen und Verständigung (S. 68-76), Aushandlungen (S. 79-89), Inszenierung (S. 101-102) und Prinzipien (S. 111-116). Diese zahlreichen Definitions- und Analyseerträge sind dabei nie ausufernd und verlieren sich nicht in der Auseinandersetzung mit den Ausgangstexten oder den eigenen Setzungen, was einem weiteren Merkmal der Arbeit zu verdanken ist: Mareike T ÖDTER s Qualifikationsschrift besticht durch eine herausragende Argumentationsführung. Jeder Gedanke und jeder verwendete Impuls werden präzise hergeleitet, ohne dabei zu detailliert zu werden oder den roten Faden der Arbeit zu verlieren. Vielmehr werden die einzelnen Argumente und die Gründe, warum sie angeführt werden, stets zielführend auf den Punkt gebracht. Zwar gibt es einige Wiederholungen, wenn Lücken zunächst aufgezeigt und später ausführlich gefüllt werden, aber dies dient immer der Entwicklung der Argumentation und wird durch angenehme Leser*innenlenkung an den Übergängen der verschiedenen Bestandteile der Arbeit kohärent gestaltet. Dadurch schafft die Autorin es, einen argumentativen Spannungsbogen zu gestalten, der die Arbeit in ihrem großen Umfang zusammenhält: So werden aus den nur auf den ersten Blick fast disparat erscheinenden verschiedenen Ansätzen und „Bausteinen“ der Arbeit hoch sinnvolle Bestandteile, die das entwickelte Modell auf eine wirklich multiparadigmatische Grundlage stellen. Angesichts aktueller gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen sind die sprachenbildenden Fächer einmal mehr dringend aufgefordert, sich der Frage zu stellen, wie Fremdheit in der eigenen Disziplin und im schulischen Unterricht mit jugendlichen Lernenden (anders) verstanden und ein reflexiver Umgang damit angeregt werden kann. Mareike T ÖDTER leistet dazu mit ihrer Arbeit zur Inszenierung von Fremdheitserfahrungen im Unterricht einen sehr lesenswerten Beitrag. Bielefeld L OTTA K ÖNIG