Fremdsprachen Lehren und Lernen
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0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FLuL-2025-0038
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Gnutzmann Küster SchrammAlmut HILLE, Simone SCHIEDERMAIR (Hrsg.): Zur Kategorie „Diskurs“ in der Kultur- und Literaturdidaktik des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. München: IUDICIUM 2023, 339 Seiten [Open Access]
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Jochen Plikat
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142 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2025-0038 54 • Heft 2 Almut H ILLE , Simone S CHIEDERMAIR (Hrsg.): Zur Kategorie „Diskurs“ in der Kultur- und Literaturdidaktik des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. München: IUDICIUM 2023, 339 Seiten [Open Access] Obwohl der Diskursbegriff in angrenzenden Disziplinen seit mehreren Jahrzehnten eine zentrale Rolle einnimmt, hat er in den Fremdsprachendidaktiken, einschließlich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, im deutschsprachigen Raum bisher weniger Beachtung gefunden. Noch 2008 attestierte Wolfgang H ALLET dem Diskursbegriff in diesen Disziplinen sogar einen ‚Non- Status‘. Der 2023 von Almut H ILLE und Simone S CHIEDERMAIR vorgelegte Sammelband rückt die Kategorie ‚Diskurs‘ im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in den Fokus. Er basiert auf den Beiträgen zu einer internationalen Fachtagung, die im September 2021 im Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald stattfand. Zwar lässt sich eine gewisse Randständigkeit der Kategorie Diskurs in Beiträgen zur fremdsprachendidaktischen Forschung bis heute nicht abstreiten. Der Band zeigt jedoch, dass Diskurs zumindest in Forschungskontexten des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an Bedeutung gewonnen hat und in nicht wenigen wissenschaftlichen Beiträgen der letzten Jahre eine wichtige Rolle spielt. Die Herausgeberinnen eröffnen den Band mit einem einleitenden Beitrag, in dem sie einen Überblick über die Begriffsgeschichte der Kategorie Diskurs in ihrem eigenen Fach, aber auch in angrenzenden Fächern bieten. Der Band enthält im Weiteren 14 Einzelbeiträge, die in drei Hauptteile gegliedert sind: I Diskurs und Diskursivität in Kultur-, Bildungspolitik und Lehrkräftebildung (drei Beiträge), II Kulturdidaktik (fünf Beiträge) sowie III Literaturdidaktik (sechs Beiträge). In Teil I gehen Uwe K OREIK und Roger F ORNOFF dem „Diskurs über Kultur im Fach DaF/ DaZ und in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik“ nach und zeigen die vielfältigen Bezüge zwischen diesen beiden Diskurssträngen auf. Zwischen diesen sind laut K OREIK und F ORNOFF im letzten untersuchten Zeitraum (1991-2022) zunehmend Widersprüche entstanden. Zwar sei auch in der Kultur- und Bildungspolitik eine immer deutlichere transnationale Ausrichtung zu verzeichnen gewesen. Der cultural turn habe jedoch die Geistes- und Sozialwissenschaften und somit auch die DaF/ DaZ-Didaktik mit Wucht getroffen und dabei den Nationalbegriff insgesamt mit Vehemenz in Frage gestellt. Die Autoren heben in diesem Zusammenhang den erheblichen Einfluss Claus A LTMAYER s auf eine diskurstheoretisch fundierte Neuausrichtung des Faches hervor. Gleichwohl gehen sie auch kritisch auf dessen Arbeiten ein. So weisen sie einerseits darauf hin, dass bei der von ihm vertretenen Betonung der Kategorie Diskurs unklar bleibe, wie dabei dem Problem der „fake news“ und der „alternativen Fakten“ (S. 51) begegnet werden könne, wenn die Diskurstheorie den Begriff von objektiver Wahrheit und überprüfbaren Fakten radikal in Frage stellt; weiterhin betone er zu einseitig die Rolle des Individuums bei der Bedeutungsaushandlung und berücksichtige dadurch zu wenig „Sozialisationsfaktoren wie schulisches Curriculum, medial beeinflusste Informationsvermittlung, familiäre Gespräche oder auch die Einflussnahme religiöser Institutionen“ (ebd.). Ausgehend von einem Symposium in Göttingen, das bereits 2019 stattgefunden hatte und ebenfalls den Herausforderungen einer zeitgemäßen Sprach- und Kulturdidaktik gewidmet war, und einem aus diesem Symposium hervorgegangenen Sammelband untersucht Almut H ILLE in ihrem Beitrag, inwiefern ein „bedeutungs-, symbol- und wissensorientierter Kulturbegriff“ bei angehenden Lehrkräften vorausgesetzt werden kann. Ein solcher Kulturbegriff ist für sie die „Grundlage diskursorientierten Lernens im Fremdsprachenunterricht“. Sie rückt somit die Rolle der Lehrkräftebildung in den Fokus. Den Hauptteil des Beitrags bildet die Auswertung einer Seminarreihe im Masterstudiengang „Deutsch als Fremdsprache: Kulturvermittlung“ an Besprechungen 143 54 • Heft 2 DOI 10.24053/ FLuL-2025-0038 der Freien Universität Berlin. U. a. werden schriftliche Antworten von Studierenden auf die Frage „Was ist Kultur? “ ausführlich im Wortlaut dokumentiert. Die Ergebnisse zeigen, dass die Studierenden durchgehend einen bedeutungs-, symbol- und wissensorientierten Kulturbegriff vertreten (S. 71), sich aber auch der Schwierigkeiten seiner unterrichtlichen Umsetzung bewusst sind. Teil I schließt mit einem Beitrag von Sabine J ENTGES , die am Beispiel des Faches DaF in den Niederlanden der Frage nachgeht, wie sprach- und kulturreflexives Lernen - das sie als an Diskursen ausgerichtetes Lernen versteht - curricular zu verankern wäre. Dabei stützt sie sich einerseits auf Claus A LTMAYER s Beiträge zum Thema, andererseits auf ein von Suzanne I MMERS entwickeltes Modell des kulturreflexiven Lernens (S. 88). Teil II (Kulturdidaktik) umfasst fünf Beiträge. Charlotta S EILER B RYLLA entwickelt ein Modell diskurssemantischer Analysen. Yuan L I und Di P AN gehen im Kontext des DaF-Unterrichts in China der Frage nach, wie das verbreitete dichotomische Kulturverständnis der interkulturellen Didaktik durch den Diskursbegriff überwunden werden könnte, und wenden ihre Überlegungen auf die neue Lehrwerksreihe „Willkommen! “ an. Christine B ECKER präsentiert die Ergebnisse einer Fallstudie mit schwedischen Studierenden, die sich mit dem Thema Zweiter Weltkrieg und Holocaust auseinandergesetzt haben. Markus R AITH arbeitet in seinem Beitrag mit dem Begriff ‚Diskursfähigkeit‘ und illustriert seine Überlegungen am Beispiel mehrerer Instagram-Posts einer Influencerin. Teil II schließt mit einem Beitrag von Camilla B ADSTÜBNER -K IZIK . Sie operiert mit dem Begriff linguistic landscapes und arbeitet heraus, wie „Kommunikate“ in ukrainischer Sprache im öffentlichen Raum in Polen und Deutschland zur Förderung einer mehrsprachigen diskursiven Kompetenz eingesetzt werden können. In Teil III finden sich insgesamt sechs Beiträge zur Literaturdidaktik. Frank Thomas G RUB berichtet von einem Seminar mit Germanistikstudierenden in Schweden, in dem er mit verschiedenen literarischen Texten zum Thema Flucht und Migration gearbeitet hat. Michael E WERT fordert, dass auch ein diskurstheoretisch fundierter fremdsprachenphilologischer Unterricht die „Individualität und Eigengesetzlichkeit von Literatur“ (S. 227) im Blick behalten müsse. Anette S CHILLING zeigt anhand einer Graphic Novel, dass literarische Texte nicht nur mit der Kategorie Diskurs analysiert werden können, sondern dass sie auch ihre eigene Diskursivität zum Gegenstand haben können („Diskurs im Diskurs im Diskurs“, S. 249-256). Damit ist wohlgemerkt nicht gemeint, dass die Lerner im Fremdsprachenunterricht selbst eine Diskursanalyse im engeren Sinne durchführen sollen; sehr wohl jedoch, dass sie auch bei der Lektüre literarischer Texte „Diskurse erkennen lernen“ (S. 246) und auf diese Weise eine „rezeptive Diskursfähigkeit“ (ebd.) entwickeln. Jens G RIMSTEIN berichtet von einem in Jena gehaltenen Literaturseminar, in dessen Rahmen Studierende im Kontext eines virtuellen Ausstellungsbesuchs schon auf dem Niveau B1+/ B2 Diskursfähigkeit unter Beweis gestellt haben. Bridget L EVINE -W EST und Glenn L EVINE -W EST demonstrieren am Beispiel mehrerer Verfilmungen von Döblins Roman Berlin Alexanderplatz einen diskursorientierten Zugriff auf Literaturverfilmungen. Simone S CHIEDERMAIR schließlich arbeitet die Aufwertung heraus, die literarische Texte im GeR-Begleitband von 2020 im Vergleich zum fast zwanzig Jahre früher erschienenen GeR erfahren haben. Weiterhin diskutiert sie ausführlich das vor allem von Claire K RAMSCH geprägte und in deutschsprachigen Kontexten recht breit rezipierte Konzept der symbolic competence sowie die Didaktik der multiliteracies; in beiden Fällen spielen diskurstheoretische Überlegungen eine zentrale Rolle. Vor diesem Hintergrund berichtet S CHIEDERMAIR über eine Fallstudie mit Studierenden zu diskurssensibel ausgerichteten literaturdidaktischen Verfahren. Die im Band versammelten Beiträge sind durchgehend theoretisch sehr solide fundiert und bewegen sich auf einem hohen Reflexionsniveau. Es finden sich sowohl theoretisch-konzeptionelle als auch mehrere empirische Beiträge. Die tatsächliche Umsetzung und Evaluierung 144 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2025-0038 54 • Heft 2 eines Projektes zum diskursiven Lernen mit Schülern der Sekundarstufe hat jedoch nur der Beitrag von Sabine J ENTGES zum Gegenstand. Das Projekt basierte allerdings auf einem „Modell zum kulturreflexiven Lernen“ nach Suzanne I MMERS (S. 88) - m. a. W., mit der wesentlich abstrakteren Kategorie ‚Diskurs‘ scheint auch hier gerade nicht gearbeitet worden zu sein. Dies trifft laut J ENTGES auf andere, ohnehin eher selten anzutreffende Unterrichtsmaterialien zum kulturreflexiven Lernen ebenfalls zu. Sie hebt hervor: „Trotz vielfältiger und diverser Angebote zu landeskundlichem bzw. kulturellem Lernen, bilden Anregungen zu kulturreflexivem (geschweige denn diskursivem) Lernen [in Lehrwerken für den Deutschunterricht in den Niederlanden und in Polen] die Ausnahme.“ (S. 86) Eine naheliegende Erklärung hierfür ist, dass die Diskrepanz zwischen den sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten von Kindern und Heranwachsenden und der Komplexität des Diskursbegriffs der angestrebten Implementierung eines diskursorientierten Ansatzes im schulischen Fremdsprachenunterricht im Wege stehen könnte. So betonen neben Sabine J ENTGES (ebd.) auch Uwe K OREIK und Roger F ORNOFF in ihrem Beitrag, dass „[…] die Mehrheit der gut fünfzehn Millionen Deutschlernenden weltweit nur ein A1/ A2-Niveau erreichen, auf dem eine diskursive Auseinandersetzung allein sprachlich schon unmöglich ist und zudem gerade bei Schülerinnen und Schülern im jüngeren Alter (z. B. DaF im Gymnasium) das Weltwissen fehlt, um diskursive Auseinandersetzungen führen zu können.“ (S. 50f.) In diesem Licht stellen sich zwei weiterführende Fragen: erstens, für welche (Lerner-) Zielgruppe(n) die Kategorie Diskurs sich eignet, und welche Definition dabei zugrunde gelegt werden könnte; zweitens, mit welchen theoretischen Begriffen und unterrichtspraktischen Modellen diskurssensibles Lernen bereits bei Kindern und Jugendlichen gefördert werden kann. Zu diesen und weiteren Fragen stellt der vorliegende Sammelband einen höchst anregenden Fundus nicht nur für die DaF/ DaZ-Didaktik, sondern auch für andere Fremdsprachendidaktiken dar. Tübingen J OCHEN P LIKAT
