Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2022-0001
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2022
331-2
BalmeEditorial
61
2022
Christopher Balme
fmth331-20005
Editorial Christopher Balme (München) Vielfalt und Diversität sind zwei Begriffe, die zur Zeit Konjunktur haben und auf kulturelle Differenzen hinweisen. Beide sind tendenziell integrativ, zumindest geben sie vor, kulturellen Unterschieden affirmativ gegenüberzustehen. Wie steht es aber mit der Wissenschaft? Wieviel Vielfalt und Diversität in der Methodologie und in den Gegenständen verträgt eine Disziplin wie die Theaterwissenschaft, ohne an Schärfe und Verbindlichkeit zu verlieren? Oder ist die Frage gar nicht legitim, weil der Forschungsfreiheit abträglich? Man könnte natürlich auf andere Disziplinen und deren längst abgeschlossene bzw. weiter voranschreitende Ausdifferenzierungsprozesse hinweisen. Die Soziologie gibt es wahrscheinlich nicht mehr, sondern eine Vielfalt an Subdisziplinen: Man ordnet sich ein in die Arbeits-, Rechts-, Umwelt-, oder, wenn man richtig am Rand stehen will, in die Kunst- und Kultursoziologie. Das sind wahrscheinlich unaufhaltsame Prozesse, die man wissenssoziologisch schlüssig erklären kann: Nicht nur die Gesellschaft wird komplexer, sondern die Wissensbereiche immer anspruchsvoller und spezialisierter. Die Naturwissenschaften sind besonders geschickt darin, neue Wissens- und damit Forschungsgebiete auszuweisen und damit auch institutionelle Stärke (Personal- und Sachmittel) zu sichern. Ich weiß nicht, ob es die mathematische Mikrobiologie gibt, aber es kann nur eine Frage der Zeit sein, bis jede Universität einen Lehrstuhl braucht. Und die Theaterwissenschaft? Als Fachleute kennen wir unsere eigenen und die Spezialisierungen der Kolleg*innen. Das ist aber Insider-Wissen, das keinerlei Signalwirkung nach außen hat. Bei Neuausschreibungen sind wir zwar angehalten, Schwerpunkte und Denominationen zu definieren, aber ein theaterwissenschaftlicher Lehrstuhl (die wenigen, die es gibt) tragen bei Ausschreibungen immer noch den Anspruch, das Fach „ in voller Breite “ (aber nie Tiefe) zu vertreten. Das bedeutet implizit, die (westliche) Theatergeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Theatertheorie, Dramaturgie, Theaterarchitektur, Szenographie usw., und das sind nur die traditionellen Bezeichnungen, die in der eigentlichen Forschungsarbeit kaum eine Rolle spielen. Faktisch ist es aber so, dass Kolleg*innen, die etwa im Bereich des applied theatre arbeiten, recht spezielle, meistens empirische Forschungsmethoden einsetzen, die Spezialist*innen für antike Theaterarchitektur (gibt es sie überhaupt noch im Fach? ) kaum kennen und wahrscheinlich gar nicht schätzen würden. Ich weiß nicht, ob ein Heft von Forum Modernes Theater überhaupt repräsentativ für das Fach sein kann. In gewisser Weise schon, weil hier ein Querschnitt an Forschungsinteressen abgebildet ist. Wenn wir das vorliegende Heft, das sogar ein Doppelheft ist, betrachten, dann gewinnen wir einen gewissen Eindruck des fachlichen Geschehens, eine Momentaufnahme des disziplinären Pulses. Was die Artikel verbindet, ist, dass sie sich nicht leicht rubrizieren lassen im Sinne der oben genannten Begriffe (Theatergeschichte, -theorie usw.). Berenika Szymanski-Düll ’ s Artikel über Migration und Warten verbindet die Aufführungsanalyse einer zeitgenössischen Inszenierung (What They Want to Hear an den Münchner Kammerspielen) mit historischer Forschung über Theatermigrant*innen des 19. Jahrhunderts auf der Grundlage wis- Forum Modernes Theater, 33/ 1-2, 5 - 6. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2022-0001 senssoziologischer Überlegungen zum Warten. Gulistan Gursel-Bilgins Essay über die Anwendung von Boals Methode des Theater of the Oppressed an türkischen Hochschulen ist eindeutig dem Feld des applied theatre zuzuordnen. Die drei Aufsätze von Siegmund, Yasur, und Climehaga befassen sich mit prominenten Vertreter*innen des postdramatischen Theaters: René Pollesch, Rimini Protokoll und Milo Rau. Der Aufsatz von Meroth und Stauss über Vermittlung im deutschen Musiktheater stellt ein Beispiel für empirische Publikumsforschung dar. Mit Ausnahme des historischen Beispiels bei Szymanski-Düll sind alle Aufsätze fest in der Gegenwart verankert, obwohl sie recht unterschiedliche Methoden anwenden. Die Theaterwissenschaft scheint auf dem besten Weg, den Wappenspruch der Vereinigten Staaten - e pluribus unum (aus vielen eins) - neu zu bestimmen. Die Vielfalt der Beispiele und der Methoden münden letztlich in das Hier und Jetzt. Oder anders formuliert: Anstatt sich in immer neue Subdisziplinen aufzufächern, bleibt das Fach einheitlich, dadurch, dass es sich vornehmlich mit der Gegenwart beschäftigt. Die deutsche Theaterwissenschaft steht hier nicht allein. Vor einigen Jahren hat ein renommierter Kollege aus Großbritannien, der an einem kleineren Institut arbeitete, mir ironisch versichert, der Lehrkörper an seinem Institut würde die Jahre 2000 bis 2010 „ ganz gut abdecken “ . Den Status einer Gegenwartswissenschaft zu sein, teilt die Theaterwissenschaft mit den meisten Sozial- und den Wirtschaftswissenschaften, den Natur- und Lebenswissenschaften: Eigentlich mit fast der ganzen Universität mit Ausnahme der Geschichtswissenschaften und den Philologien. Institutionell sind wir aber meistens mit diesen ‚ alten ‘ Fächern verbandelt und es stellt sich zunehmend die Frage, ob wir unser fachliches Potential - jetzt in die Zukunft gerichtet - in diesen alten Verbünden voll entfalten können? Wie auch immer man sich zu diesem Problem verhält - und es gibt gute Argumente für eine geschichtliche Orientierung - , die Frage nach der disziplinären Zuordnung für die Zukunft wird eine zentrale sein. Vielleicht beruht ja das Zukunftspotential des Fachs in der Konzentration auf die Gegenwart? Jedoch wäre es wichtig, der Gefahr der Atomisierung der Forschungsgegenstände dadurch zu entgehen, dass man das Theatergeschehen der Gegenwart mit Zukunftsfragen verknüpft. Denn letztere werden vermutlich immer stärker die Legitimation unseres wissenschaftlichen Tuns bestimmen. Christopher Balme, München im April 2022 6 Christopher Balme