eJournals Forum Modernes Theater 33/1-2

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2022-0008
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2022
331-2 Balme

Editorial

61
2022
Wolf-Dieter Ernst
Anja Klöck
fmth331-20101
Editorial Wolf-Dieter Ernst (Bayreuth), Anja Klöck (Leipzig) Verfolgt man die aktuellen Debatten um den Strukturwandel der Stadttheater, so ist eine Neubestimmung des Berufsbildes der Schauspieler*innen unübersehbar: Mehr Autonomie, gerechte Bezahlung und Auswege aus der Selbstausbeutung sind Programm. Die Debatten sind hitzig, Rücktritte beschäftigen die Kulturpolitik und Prozesse die Gerichte. 1 Die Konflikte, in deren Zentrum Schauspieler*innen stehen, betreffen alle Bereiche von Theaterarbeit: die prekär gewordenen Arbeitsbedingungen, die Wahrung von Persönlichkeits- und Grundrechten im wenig regulierten kreativen Prozess, den Schutz vor Machtmissbrauch und Selbstausbeutung, aber auch die Forderung nach mehr Autonomie, Selbstermächtigung und Flexibilität, die - auch in ästhetischer Hinsicht - innerhalb feststehender öffentlicher Theaterbetriebe vielleicht nicht gegeben sind. Der vorliegende Band nimmt diese Konflikt-Dynamiken zum Anlass, um grundlegender nach den Machtkonstellationen zu fragen, in denen Schauspieler*innen agieren. Wir schlagen dafür den Begriff ‚ Spielraum ‘ vor, den wir von gängigen Bezugsgrößen wie ‚ Institution ‘ und ‚ Dispositiv ‘ abgrenzen. Mit dem Begriff ‚ Spielraum ‘ ist dabei zweierlei gemeint: eine historisch spezifische Situation des strukturell Sag- und Machbaren und ein möglicher Zuwachs an subjektiver Ermächtigung und Handlungsmacht der Schauspieler*innen. Spielraum ist somit mehr als eine Gesetzeskraft, als welche eine Institution wirkt, mehr als eine Struktur, die als Organisation erscheint, und mehr als eine Assemblage heterogener Elemente, für die das Dispositiv steht. Spielraum steht metaphorisch für die Dynamik innerhalb einer Machtkonstellation und meint zugleich konkrete Vorgänge in konkreten Räumen (wie die Bühne, der Trainingsraum, der Messengerdienst, der Kongressraum): Wer räumt hier wem Raum ein? Wer verteidigt seinen Raum, nimmt ihn sich, exponiert sich vor wiederum anderen, die lieber auf der sozialen oder politischen Hinterbühne verbleiben? Die Beiträge antworten damit auf zwei deutliche Lücken im Theaterdiskurs: Zum einen machen die aktuellen Debatten kaum historische Bezüge auf; diese werden vielmehr zugunsten konkreter affektiver Mobilisierung ausgeblendet. 2 Damit aber gerät die historische Entwicklung der aktuellen Konflikte aus dem Blick, also die Einsicht in die Abfolge der Kämpfe, die allererst zu den heute in Frage stehenden Hierarchien der Theater führten ebenso wie zu den Selbstbeschreibungen der Schauspieler*innen als Arbeitnehmer*innen oder Künstler*innen. In der Zusammenschau lassen sich die hier versammelten Quellenstudien als eine Genealogie dieser Kämpfe lesen. Zum anderen tragen sie der Erkenntnis Rechnung, dass auch die aktuellen Verteilungskämpfe weitestgehend von konkreten Akteur*innen in der Praxis ausgetragen werden: von Schauspieler*innen und anderen Theatermacher*innen, von Intendant*innen, Pädagog*innen, Journalist*innen und Aktivist*innen. In der Forschung zu den Krisen der öffentlich geförderten Theater finden die Stimmen dieser Akteur*innen selten Berücksichtigung. Mit dem vorliegenden Band möchten wir, wenn wir schon den Theorie- Praxis-Gap nicht überwinden können, zumindest mit Einzelfallstudien solche Akteur*innen und ihre je spezifischen Aushandlungskämpfe ins Zentrum der Diskussion stellen. Damit ermöglichen die Beiträge, ge- Forum Modernes Theater, 33/ 1-2, 101 - 104. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2022-0008 nauer hinzuschauen und die Widersprüche und Ambivalenzen aufzuzeigen, die vergangene und gegenwärtige Spielräume professionellen Schauspielens bestimmen. Mit Blick auf das teilweise kurzatmige Empörungspotential publizistischer Beiträge zur aktuellen Debatte und die tief verwurzelten Glaubenssätze, wie am Theater zu arbeiten sei, was der Kunst zu opfern wäre und wie für diese Berufe ausgebildet werden müsse, bieten die hier versammelten Fallstudien hoffentlich Stoff zur Reflexion und Neubewertung der Widersprüche und Konflikte. Der Band ist die dritte Publikation der AG Schauspieltheorie der GTW 3 , deren Zusammensetzung insofern zeitgemäß ist, als hier Forscher*innen unterschiedlicher Karrierestufen von Universitäten und Kunst-Universitäten oder Hochschulen sowie freiberuflich Arbeitende miteinander ins Gespräch kommen. Die Beiträge sind in drei Arbeitsschritten mit jeweils unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten entstanden, die im Folgenden kurz skizziert werden. 2017 vollzog die AG mit der Tagung „ Dispositive professionellen Schauspielens: Praktiken, Diskurse, Machtgefüge “ 4 , die durch das Gießener DFG-Forschungsprojekt “ Theater als Dispositiv “ 5 inspirierte Abkehr von der Aufführungsanalyse und von dem Fokus auf das Ereignis. Schauspielen als historisch kontingente Praxis wurde in Wechselwirkung mit Institutionen (öffentliche Theater, Theaterwissenschaft als universitäre Disziplin, staatliche Schauspielschulen), staatlichen Steuerungsinstrumenten (Subventionen, Preise, Vermittlungsregularien) und schauspieltheoretischen Diskursen beleuchtet. Die an der Tagung beteiligten Schauspielstudierenden brachten darüber hinaus die existentielle Frage nach dem wirtschaftlichen Haushalten von Künstler*innen ein, also den Aspekt der oikonomia. Es wurde das für den vorliegenden Band grundlegende Desiderat formuliert, anhand historischer Beispiele und gegenwärtiger Möglichkeiten eine kritische Schauspielpraxis zu erforschen. Die zweite Etappe stellte die Düsseldorfer Jahrestagung Theater und Technik 2018 dar. Im Anschluss an die Technikreflexion André Leroi-Gourhans 6 wurden Körpertechniken der Wiederholung und Verfestigung diskutiert. Dabei war die Beobachtung leitend, dass in Bezug auf das Schauspielen Technik zumeist ein Synonym für Verkörperung ist und von anderen Technikbegriffen abgekoppelt bleibt. Man versteht darunter am Körper ablesbare Körper-, Sprech- und Bewegungstechniken, die in Schulen vermittelt werden und denen sich Schauspielkörper unterwerfen. Nach Leroi-Gourhan materialisiert sich die Beziehung von Mensch und Werkzeug aber nicht durch die Einverleibung oder Verkörperung von Technik, sondern in der technischen Geste des Zur-Hand-habens. Damit wurde dem reflexartigen Rückgriff auf das Konzept der Verinnerlichung als Schauspiel-Technik begegnet und wiederum das Phänomen Schauspiel sowohl als Effekt wie auch als Akteur innerhalb von Machtgefügen reflektiert. 7 Schließlich widmete sich die Arbeitstagung „‚ Spielräume ‘ professionellen Schauspielens: Dispositiv, Institution or what else? “ in Mainz 8 dem Schauspielen aus der Perspektive der Institutionentheorie. Sie reagierte damit auf die eingangs zitierte kulturpolitische Krise der Theaterlandschaft, die Gegenstand der vom Münchner Institut für Theaterwissenschaft geleiteten DFG- Forschungsgruppe „ Krisengefüge der Künste “ ist. Wichtige Impulse gingen vor allem von der Einsicht aus, dass Institutionen in hohem Maße bestimmen, welche Organisationsformen und welche Akteure das jeweilige Theater und damit auch die Spielräume der Schauspieler*innen prägen. Der soziologische Zugriff ermöglicht, Prozesse und Kräfte sichtbar zu machen, die der Fokus auf Schauspiel als ästhetisches Phänomen eher 102 Wolf-Dieter Ernst / Anja Klöck ausblendet: Schauspieler*innen sind in diesem Sinne Akteur*innen, die Spielregeln folgen, welche von Institutionen gesetzt werden. Dabei gibt es ökonomische, juristische, organisatorische und auch unausgesprochene und intrinsische Spielregeln, die mithin über mythische Erzählungen tradiert werden. Der postulierte institutionelle und organisatorische Wandel der Theater ist immer auch eine neue Aushandlung dessen, was ins Recht gesetzt werden soll oder aus diesem Raum entlassen wird. 9 Einige Beiträge in diesem Band lassen sich demnach auch als Berichte über die allmähliche Institutionalisierung durch Erzählung lesen und fokussieren dabei auf die Schauspieler*innen als sichtbare Protagonist*innen, mithin auch als Gründer*innen von (neuen) Institutionen. Während der Dispositiv-Begriff theoretisch vielfältig aufgeladen und daher tendenziell als überdeterminiert erscheint, zeichnet sich der Institutionen-Begriff gerade durch seine Unbestimmtheit und Zugänglichkeit über den alltagsweltlichen Sprachgebrauch aus; im wissenschaftlichen Sinne treffender ist zumeist jener der Organisation. 10 Auch vor diesem Hintergrund fiel die Wahl für den hier vorgelegten Band auf den eher in der Theaterpraxis gebräuchlichen Begriff ‚ Spielraum ‘ . 11 Im Unterschied zu diskurstheoretischer Terminologie bietet er die Möglichkeit, auch außerhalb von wissenschaftlichen Expertenkreisen verstanden zu werden. Zugleich fokussiert er auf die Akteur*innen, die Spielemacher*innen in Relation zu historisch gesetzten Möglichkeiten des Sag- und Machbaren im ökonomischen, juristischen, organisatorischen und ästhetischen Sinn. Spiel mag dabei zunächst als ein überstrapazierter Begriff erscheinen, auf den alles Mögliche projiziert wird. Seine disziplinäre Ausdifferenzierung und gegenwärtige Virulenz ist jedoch symptomatisch für die Verhandlung von Grenzproblemen. 12 In Bezug auf das Schauspielen vermittelt er an den Bruchlinien zwischen Wissenschaft und Praxis, kreativer Praxis und Struktur. Dabei ist das Spielen eigenartig aufgespannt zwischen transitiver und intransitiver Verwendung. Wir spielen und das Spiel spielt uns im Modus der Hingabe oder Unterwerfung unter eine Spielregel oder in Missachtung oder Widerständigkeit gegenüber derselben. Gerade diese Unschärfe darüber, wer wen spielt, zielt auf jene Dynamik zwischen Aufführung und den Ordnungen des Theaters, in der Schauspieler*innen sich bewegen. ‚ Spielraum ‘ ist daher bewusst gewählt, um anschlussfähig an die Sprechweisen in den Theatern zu bleiben und zugleich akademisch vorgehen zu können. Als Arbeitsdefinition schlagen wir vor, von Spielraum als jener Konfiguration zu sprechen, die Schauspieler*innen sich erspielen, die ihnen zugewiesen wird und in der sich eine spezifische Subjektivität herstellt. Der Spielraum ist das Verhältnis zwischen dem sich ereignenden Spiel und seiner Umgebung, ohne dass man es in Ereignis- und Strukturkategorien auflösen könnte. Anmerkungen 1 Zahlreiche Initiativen wie das 2015 gegründete Ensemblenetzwerk, die 2015 aufkommende #MeToo-Bewegung und die jüngst in die Presse geratene Anlaufstelle für Missbrauch in Theaterberufen Themis legen Zeugnis davon ab. Vgl. Viktoria Morasch, „ Eine Bühne für Sexisten - Me Too an der Berliner Volksbühne “ , Die Tageszeitung, 13.3.2021, https: / / taz.de/ Metoo-an-der-Berli ner-Volksbuehne/ ! 5754690/ [Zugriff am 28.05.2021]; „ 14.03.21 Klarstellung der Themis Vertrauensstelle “ , https: / / themis-vertrau ensstelle.de/ news/ [Zugriff am 25.05.2021]. Lisa Jopt, „ Wer wenn nicht wir: Über den Zauberkasten Theater und seine Schattenseiten, schädlichen Zynismus und die Ziele des neugegründeten Ensemble-Netzwerks - 103 Editorial die Schauspieler Lisa Jopt, Shenja Lacher und Johannes Lange im Gespräch “ , in: Theater der Zeit 10 (2016), S. 10 - 15; vgl. auch http: / / www.ensemble-netzwerk.de [Zugriff am 30.03.2022]. 2 „ Der Affekt immunisiert gegen Fakten. Es kommt nicht so sehr darauf an, ob etwas stimmt, als darauf, dass es affektiv anschlussfähig ist. “ Ulrich Böckling, „ Man will Angst haben “ , in: Mittelweg 36/ 6 (2016), S. 4. 3 Andere Veröffentlichungen sind: Wolf-Dieter Ernst, Anja Klöck und Meike Wagner (Hg.), Psyche-Technik-Darstellung: Beiträge zur Schauspieltheorie als Wissensgeschichte, München 2016; Petra Bolte-Picker et al., „ Kunst - Nicht-Kunst - Andere Kunst: Verhandlungen des Theaters zwischen professionellem und dilettantischem Dispositiv “ , in: Milena Cairo et al. (Hg.), Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit, Bielefeld 2016, S. 551 - 574. 4 „ Dispositive professionellen Schauspielens: Praktiken, Diskurse, Machtgefüge “ , Arbeitstagung der AG Schauspieltheorie der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, Schauspielinstitut „ Hans Otto “ , Hochschule für Musik und Theater „ Felix Mendelssohn Bartholdy “ , Leipzig, 17. und 18. März 2017. 5 Vgl. programmatisch Lorenz Aggermann, „ Die Ordnung der darstellenden Kunst und ihre Materialisation. Eine methodische Skizze zum Forschungsprojekt Theater als Dispositiv “ , in: Lorenz Aggermann, Georg Döcker und Gerald Siegmund (Hg.), Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in der Ordnung der Aufführung, Frankfurt am Main 2017, S. 7 - 32. 6 Vgl, André Leroi-Gourhans Schriften über die Geste und Sprache, die in drei Teilen 1964 - 65 im französischen Original und 1980 auf Deutsch unter dem Titel Hand und Wort erschienen sind. André Leroi- Gourhan, Hand und Wort, Frankfurt am Main 1980. 7 Vgl. Wolf-Dieter Ernst, „ Sprechtechnik als Zeitobjekt. Elsie Fogerty's The Speaking of the English Verse (1923) “ , in: Maren Butte, Kathrin Dreckmann und Elfi Vomberg (Hg.), Technologien des Performativen: Das Theater und seine Techniken, Bielefeld 2020, S. 223 - 234; Anja Klöck, „ Technik von der Hand in den Mund? Geste, Gestus und gestisches Sprechen aus der Perspektive der Technikreflexion “ , in: Dreckmann, Butte und Vomberg, S. 215 - 222. 8 „ ,Spielräume ‘ professionellen Schauspielens: Dispositiv, Institution or what else? “ , Tagung der AG Schauspieltheorie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 22. und 23. November 2019. Die Tagung erfolgte in Kooperation mit dem Mainzer Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft (FTMK) und dem an der Schnittstelle von Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften forschenden DFG-Teilprojekt „ Theater zwischen Reproduktion und Transgression körperbasierter Humandifferenzierungen “ (2016 - 2021). 9 Christopher Balme, „ Legitimationsmythen des deutschen Theaters: eine institutionsgeschichtliche Perspektive “ , in: Birgit Mandel und Annette Zimmer (Hg.), Cultural Governance. Legitimation und Steuerung in den darstellenden Künsten, Wiesbaden 2021, S. 19 - 42. 10 Vgl. zum alltagsweltlichen Verständnis von Institutionen bspw. Raimund Hasse und Georg Krücken, Neo-Institutionalismus, Bielefeld 2005, S. 13 f. 11 Zur Verwendung des Begriffs in der Theaterhistoriografie vgl. Petra Stuber, Spielräume und Grenzen. Studien zum DDR-Theater, Berlin 1998. 12 Vgl. aus medienphilosophischer Perspektive Astrid Deuber-Mankovsky und Reinhold Görling, Denkweisen des Spiels, Wien 2016; aus theaterpädagogischer Sicht Mira Sack, Spielend denken. Theaterpädagogische Zugänge zur Dramaturgie des Probens, Bielefeld 2011; aus theaterwissenschaftlicher Perspektive Helmar Schramm, „ Spiel “ , in: Erika-Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 307 - 314 und Friedemann Kreuder und Stefanie Husel (Hg.), Spiele Spielen. Praktiken, Metaphern, Modelle, Paderborn 2018. 104 Wolf-Dieter Ernst / Anja Klöck