eJournals Forum Modernes Theater 34/1

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0002
61
2023
341 Balme

Hanamichi und Mie-Pose: Modern imprägnierte Versatzstücke des japanischen Kabuki in Max Reinhardts frühen Bühnenmodellen und Inszenierungskonzepten

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2023
Nicole Haizinger
Dieser Artikel skizziert im ersten Teil die Wiener Theaterkultur in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts mit Akzentuierung des Japonismus, in der Max Reinhardt (1873-1943) sozialisiert wurde. Diese von der Forschung meist nur als Randnotiz erwähnte strukturelle und ästhetische Gebundenheit Reinhardts an die Wiener Moderne scheint mit entscheidend für das Verständnis seiner ersten Bühnenmodelle und Inszenierungskonzepte zu sein. Die Analyse der Inszenierung Sumûrun (1905) dient im zweiten Teil schließlich zu thesengeleiteten Antworten auf die Frage, welche spezifische Funktion die aus dem japanischen Kabuki entlehnten Versatzstücke Hanamichi (Blumensteg) und die Mie-Pose hatten und welche ästhetische Erfahrung sie evozierten.
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Hanamichi und Mie-Pose: Modern imprägnierte Versatzstücke des japanischen Kabuki in Max Reinhardts frühen Bühnenmodellen und Inszenierungskonzepten Nicole Haitzinger (Salzburg) Dieser Artikel skizziert im ersten Teil die Wiener Theaterkultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Akzentuierung des Japonismus, in der Max Reinhardt (1873 - 1943) sozialisiert wurde. Diese von der Forschung meist nur als Randnotiz erwähnte strukturelle und ästhetische Gebundenheit Reinhardts an die Wiener Moderne scheint mir entscheidend für das Verständnis seiner ersten Bühnenmodelle und Inszenierungskonzepte zu sein. Die Analyse der Inszenierung Sumûrun (1905) dient im zweiten Teil schließlich zu thesengeleiteten Antworten auf die Frage, welche spezifische Funktion die aus dem japanischen Kabuki entlehnten Versatzstücke Hanamichi (Blumensteg) und die Mie-Pose hatten und welche ästhetische Erfahrung sie evozierten. Zur Theaterkultur Wiens in Zeiten der Konstruktion einer modernen Hauptstadt für ein altes Reich Um 1900 inszeniert sich Wien als Theaterstadt par excellence. Im Kontext der Konstruktion einer „ modernen Hauptstadt für ein altes Reich “ 1 wird ein vereinigendes festliches Theater imaginiert. 2 Das Supplement Welt avanciert zum Maßstab des kulturellen und politischen Denkens. Die ehemalige dynastisch geprägte Residenzstadt eines großen alten Reichs wird nach dem postrevolutionären und neoabsolutistischen Jahrzehnt der 1850er Jahre auf Basis eines kaiserlichen Erlasses von 1857 in den nächsten Dekaden zur metropolitanen Reichshauptstadt umstrukturiert, zu einem neuen modernen Wien in Verflechtung von Monarchie und Liberalismus: „ Die Planung und Errichtung eines riesigen Neubaukomplexes innerhalb des bestehenden Wiens [entlang der kreisförmigen Ringstraßenzone] war mit Sicherheit eine der herausragenden Leistungen der Stadtplanung und der bürokratischen Einbildungskraft des 19. Jahrhunderts. “ 3 War die Innere Stadt jahrhundertelang durch eine militärische Schutzzone, das Glacis, räumlich - und vorbehaltlich soziokulturell, obgleich hier vielerlei Fluktuationen beobachtbar sind - von den Vorstädten getrennt gewesen, werden nun in rascher Manier die ehemaligen Befestigungsmauern und Bastionen gesprengt, Militärareale wie das Arsenal mit einem (Waffen-)Museum ausgestattet und ehemalige Exerzierplätze oft mit der Kultur und Bildung gewidmeten Architekturen (Museen, Oper, Theater, Universität) bebaut. Es existieren Pläne von Carl Freiherr zu Liechtenstein, die neu zu erbauenden Hoftheater über Arkadengänge mit der Hofburg zu verbinden, das heißt als die architektonische Manifestation einer der theatralen Repräsentation und Kultur verpflichteten K.-u.-k.-Monarchie zu instituieren. Die endgültige Situierung der neuen Gebäude des Hofoperntheaters (Eröffnung 1869) und des Hofburgtheaters (Eröffnung 1888) am Ring und in der Nähe der Hofburg zeugt gegenwärtig noch von diesen nicht in letzter Konsequenz verwirklichten Plänen. Die in der europäischen Neuzeit jahrhundertelang gültige und für dynastische Forum Modernes Theater, 34/ 1, 6 - 17. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0002 Monarchien konstitutive kulturelle Amalgamierung von Diskursen, Narrativen und Inszenierungspraktiken, die für das anlassgebundene Festtheater bei Hof (Oper, Ballett) bestimmend gewesen ist, trifft auf die Herausbildung von Nationalismen und die Erstarkung des Bürgertums im europäischen 19. Jahrhundert: Beide Phänomene spiegeln sich in verschiedenen Ausformungen in der facettenreichen Wiener Spielplangestaltung. In einer hin- und herpendelnden Auf- und Abwertung des Theaters und der einzelnen Genres Sprechtheater, Oper, Ballett als Unterhaltung oder Kunst zeigt sich der Loyalitätskonflikt zwischen Dynastie und Nation seitens des größtenteils der Elite zugehörigen Hoftheaterpublikums geradezu paradigmatisch. Das Ballett im Wiener Hoftheaterkontext im 19. Jahrhundert wird quasi in einem Balanceakt in gleichem Maße von Partikularität (in Hinblick auf monarchische Gebundenheit und Geschmack) konstituiert wie über das Faible für Exotismus. Exemplarische und höchst beliebte Inszenierungen, in denen beispielsweise das Ballett als aristokratische Schaukunst, instituiert im Barock, weitergeführt wird, sind Die Japanesin (1874), Mikado (1885) oder die Die Puppenfee (1888); die japonistische Färbung im Sinne einer zeitgeistigen Modeerscheinung zeigt sich hier deutlich. Die Wiener Aristokratie hat neben der Hervorbringung einer hochartifiziellen Habsburger Tanz- und Festkultur und einem vielsprachigen höfischen Unterhaltungsangebot, das bis weit ins 18. Jahrhundert vorwiegend italienischsprachige Oper und französisches Drama zeigt, eine besondere Vorliebe für die Belustigungen des Volkes (Stehgreifspiele, Jahrmarkt- und Wandertruppentheater). Die Weltausstellung im Prater 1873, angelegt als immersives theatrales Ereignis, ist ein Publikumsmagnet und wird von allen Bevölkerungsschichten der Stadt Wien und internationalen Gästen besucht. Ein besonderes Highlight ist die Rekonstruktion eines Japanischen Teehauses: Nach einem bis dahin beinahe ausschließlich über Reiseberichte vermittelten ‚ Savoir japonais ‘ aus zweiter und dritter Hand seien hier die architektonisch detailgetreue Rekonstruktion eines Teehauses und inszenatorisch die Aufführung von Teezeremonien für europäische Gäste genannt, die das ‚ wirkliche ‘ Japan erfahrbar machen sollten. Außerdem ist die Affinität der europäischen Aristokratie zur Verwandlung in privilegiert antike oder ‚ fremde ‘ Figuren eine kulturelle Praxis, die in der Habsburgischen Festkultur seit dem 16. Jahrhundert praktiziert wird. Das als faszinierend anders erfahrene Japanische wird im Japanischen Kirschblütenfest der Pauline Fürstin von Metternich im Prater 1901 als Sujet aufgegriffen. Hierbei werden kulturelle Marker des Japanischen (wie Kostüm, Fächer) in der Wiener Aufnahmekultur hochgradig assimiliert und imaginierte japanische Figuren im Habsburger Stil verkörpert. Im Vergleich von Diskurs und Inszenierungspraxis der beiden Hoftheater in der „ zugleich dynastischen und etatistischen Residenz- und Reichshauptstadt “ 4 werden Bruchlinien von bildungskultureller und populärkultureller Ästhetik sichtbar: Das Sprechtheater in der Burg sieht sich der Konzeption eines neuen Nationaltheaters mit hauptsächlich deutschsprachigen Inszenierungen und der Herausbildung eines individuierten Repertoires verpflichtet, die Hofoper wird weiterhin bestimmt durch paneuropäische Vernetzungsoffenheit und Schematisierung. Zeitgleich wachsen, wie vorher erläutert, die Innere Stadt und die Vorstädte im Taumel der Ringstraßeneuphorie räumlich und kulturell mehr und mehr zusammen. Protegierte bis Ende der 1850er Jahre das Habsburgerregime hauptsächlich fünf stehende Theater - zwei Hoftheater in der noch mit Stadtmauern befestigten Inneren Stadt (Burgtheater und Theater nächst dem 7 Hanamichi und Mie-Pose Kärntnertor) und drei privilegierte Theater in den Vorstädten (Josefstadt, Leopoldstadt und an der Wien mit Sommertheater-Dependancen) - werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Reihe von neuen Unterhaltungstheatern genehmigt. Die Zahl der Vergnügungsstätten erhöht sich rasant (Panoramen, Zaubertheater, Varietés, Singspielhallen). 5 Um 1900 schließlich existieren, neben den zwei in neue Architekturen an der Ringstraße transferierten Hoftheatern (Burg, Oper), mehrere Volksbühnen (Raimundtheater, Deutsches Volkstheater, Kaiserjubiläums-Stadttheater), das eigens für Operetten erbaute Johann Strauss Theater, vielerlei Privattheater (u. a. Josefstadt, Carltheater, Theater an der Wien, Stadttheater, Pratertheater), Singspielhallen als Art wienerisches Vaudeville, Varietés (wie Danzers Orpheum, Ronachers Spezialitätentheater, Schwenders Kolosseum, das Wiener Colosseum und Drexlers Singspielhalle im Prater mit bis zu 2.000 Plätzen), drei feststehende Zirkusgebäude (Renz (1854), Busch (1892) und Schumann (1903)) und schließlich Stätten wie das Budapester Orpheum, Kabaretts, Volkssängerlokale, Dilettantenvereine, Affentheater, Panoramen, Menagieren, Zaubertheater, Seiltänzergesellschaften und Wanderzirkusse. 6 Die Wiener Theaterkultur um 1900 ist zweifelsohne facettenreich. Sie umfasst elitäre Ausformungen ebenso wie Stätten des kommerzialisierten Schauvergnügens. Diese Vielfalt ist erstens konstitutiv für die partikuläre Topographie der Stadt und zweitens für ein Verständnis von Theater als „ Chiffre für miteinander konkurrierende Erinnerungsräume “ 7 . Die Wiener Theaterkultur des 19. Jahrhunderts zeigt sich als komplexe Konstellationen verschiedener, teils verflochtener, teils widerstreitender Aspekte: erstens der vielsprachigen und barock ausgeformten monarchischen Festkultur, zweitens der Konstitution eines nationalen ‚ deutschsprachigen ‘ Sprechtheaters, drittens der sich kommerzialisierenden Unterhaltungskultur, viertens der Faszination für das Exotische und schließlich dem Faible für diverse aus den Volkskulturen kommende Belustigungen. Max Reinhardts theatergebundene Sozialisierung: Zur zweiten Geburt auf der vierten Galerie des Burgtheaters Max Reinhardt wurde als ältestes Kind von Wilhelm und Rosa Goldmann (geb. Wengraf), beide ungarischer Herkunft, am 9. September 1873 in eine jüdische Kaufmannsfamilie in Baden bei Wien geboren. Früh nahm er Schauspielunterricht bei Rudolf Perak, einem Statisten des Wiener Burgtheaters, und Emil Bürde, Professor am Konservatorium, und schließlich bei Maximilian Streben, einem der Direktoren des Fürstlichen Sulkowsky-Privattheaters in Wien Matzleinsdorf. Dort debütierte der junge Schauspieler im April 1890 erstmals auf der Probebühne und führte seit seinem ersten Auftritt den Künstlernamen „ Reinhardt “ . 8 In den nächsten Jahren spielte er in Wiener und österreichischen Theatern verschiedenste Rollen in einem gemischten Repertoire (von Schwänken, Volksstücken, Possen bis adaptierten ‚ Klassikern ‘ wie Shakespeares Dramen oder antike Tragödien/ Komödien), bis er - und hier beginnt die bekannte Reinhardt ’ sche Biographie - schließlich vom Berliner Regisseur Otto Brahm entdeckt und ans Deutsche Theater nach Berlin verpflichtet wurde. 9 Max Reinhardt, und dies scheint mir für meine späteren Thesen von Relevanz, artikulierte wiederholt in Notizen und Gesprächen (s)eine zweite Geburt: Ich bin auf der vierten Galerie geboren. Dort erblickte ich zum ersten Mal das Licht der Bühne. Dort wurde ich genährt (für 40 Kr. 8 Nicole Haitzinger altösterreichischer Währung pro Abend) mit den reichen Kunstmitteln des Kaiserlich- Königlichen Instituts, und dort sangen an meiner Wiege die berühmten Schauspieler ihrer jener Zeit ihre klassischen Sprecharien. 10 Max Reinhardts Akzentuierung einer eigentlich schauspielerischen und theatergebundenen Existenz zeugt von der wohl tiefst möglichsten Verbindung mit der Wiener K.-u.-k.-Theaterkultur und dem Burgtheater. Arthur Kahane, langjähriger Dramaturg an den Reinhardt ’ schen Bühnen, spezifiziert in Tagebuch des Dramaturgen (1928) diese vierte Galerie, weit über ihre Funktion als Sitzplatzkategorie hinausgehend, als Weltanschauung: Wer die vierte Galerie des Burgtheaters nicht persönlich erlebt hat, dem wird man sie nie begreiflich machen können. Die vierte Galerie des Burgtheaters war nicht etwa eine Theaterbillettkategorie (die billigste! ) mit nicht numerierten Sitzen, sondern ein Tempel (Tempel, nicht Synagoge); eine geweihte Stätte der Begeisterung; ein Sammelplatz der kunstliebenden Jugend Wiens, die Erziehung zur Kunst, und zwar zu einer strengen Anschauung der Kunst; ein Treffort der genauesten Theaterkenntnis und der unerbittlichsten Theaterkritik; und eine Schule stärkster Begabungen. Das Kapitel von der anonymen Bedeutung der vierten Galerie des Burgtheaters für die Theatergeschichte ist noch zu schreiben. Sie bildete eine esoterische Gemeinde. Sie ersetzte eine Weltanschauung. 11 Die theaternahe und kulturelle Sozialisierung von Max Reinhardt und seine Vorstellung von einem vom Schauspieler ausstrahlenden festlichen Welttheater, das vermeintlich gegensätzliche Aspekte der Wiener Theaterkultur des 19. Jahrhunderts vereint und genreelastisch angelegt ist, ist - so meine These - untrennbar mit der partikulären Situation der Konstruktion einer modernen Hauptstadt für ein altes Reich, sprich die partikulären Verschichtungen von zwei städtischen Modellen, also von alter Residenzstadt und neuer Metropole verbunden. Zugleich beginnt der sich ausbreitende Antisemitismus die Kunst- und Theaterwelt zu desillusionieren. Drei Aspekte sind, meinen Untersuchungen zufolge für Reinhardts frühes Oeuvre bestimmend: (1) die Resonanzen einer ‚ dynastisch und barock ‘ imprägnierten Habsburger Festkultur, (2) die Kommerzialisierung der Schaulust in neu etablierten Unterhaltungstheatern und (3) die Stadt Wien als ‚ Versuchslabor für Identitätskonstruktionen ‘ im künstlerischen Feld und, spezifischer für Max Reinhardt gedacht, der bedrohten und verletzten jüdischen Identitäten. 12 Ludwig Wittgenstein bringt es in einem Brief an Bertrand Russel vom 17. Oktober 1913 treffsicher auf den Punkt: „ Die Identität ist der Teufel in Person. Sehr viel wichtiger, als ich glaubte. “ 13 In Wien um die Jahrhundertwende ist die L ’ art pour l ’ art Haltung als [ … ] wohl politikfernste Kunst, am ehesten geeignet [ … ] eine genuin politische Funktion zu erfüllen. Das Streben nach ästhetisch vollendeten Formen sollte das Streben nach der Harmonie zwischen den Völkern, aus denen sich die Monarchie zusammensetzte, heraufbeschwören. 14 Diese Ästhetisierung der Existenz betrifft sowohl die Konstruktion von künstlerischen Identitäten wie von theatralen Inszenierungen. Die Ambivalenz zwischen dem kollektiven Phantasma der einheits- und gemeinschaftsstiftenden Theaterstadt und ihrer Attribuierung als Versuchsstation für Weltuntergänge könnte nicht stärker ausgeprägt sein als in Wien um 1900. Warum faszinierte Max Reinhardt das Kabuki und insbesondere der Hanamichi und die Mie-Pose, sodass er bereits in seinem frühen Œ euvre wiederholt darauf 9 Hanamichi und Mie-Pose zurückgreift? 15 Welche Resonanzen des Japanischen und welche Modi der Transformation lassen sich hinsichtlich Bühnenarchitektur und Modellierung von Körperlichkeit bestimmen? Welche Ähnlichkeiten - Ähnlichkeit verstehe ich hier als eine durch Differenz markierte Denkfigur - sind im Vergleich von japanischem Kabuki und dem Reinhardt ’ schen Regiekonzept zu dechiffrieren? Eine Liaison von Wien und Japan: Sumurûn als ‚ vermischte ‘ Inszenierung Die Premiere von Sumurûn fand am 24. April 1910 nicht in Wien, sondern in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin statt. In dieser Inszenierung setzte Max Reinhardt nicht nur erstmals den Hanamichi ein, es wird außerdem die Mie-Pose aus dem japanischen Kabuki assimiliert. In den darauffolgenden Jahren tourte Sumurûn wegen des großen Erfolgs; Stätten der Aufführung sind u. a. in New York, Paris und London. 16 Die Inszenierung basiert auf dem Textbuch Sumurûn. Eine Pantomime in 10 Bildern nach orientalischen Märchenmotiven des Deutschen Literaten Friedrich Freksa. In zeittypischer Manier spielt die Handlung anderswo, hier im Bagdad des 9. Jahrhunderts, die Figuren sind typisiert: ein Gaukler mit Buckel, eine Tänzerin, eine Alte, ein Stoffhändler, ein alter Scheich, der junge Scheich, die Herrin des Harems, Eunuchen, Haremsdamen. Ernst Lubitsch drehte 1920 den gegenwärtig noch verfügbaren Stummfilm Sumurûn (1920) als Hommage an seinen Mentor Max Reinhardt; meine Analyse basiert auf einer multiperspektivisch angelegten Zusammenschau dieser Quellen (hauptsächlich Libretto und Film). Thomas Mann hat im Zauberberg (1924) die Handlung (basierend auf dem Film) pointiert und treffsicher skizziert: Es war eine aufgeregte Liebes- und Mordgeschichte [ … ] stumm sich abhaspelnd am Hofe eines orientalischen Despoten, gejagte Vorgänge voll Pracht und Nacktheit, voll Herrscherbrunst und religiöser Wut der Unterwürfigkeit, voll Grausamkeit, Begierde, tödlicher Lust und von verweilender Anschaulichkeit, wenn es die Muskulatur von Henkersarmen zu besichtigen galt. 17 Max Reinhardt erwarb sich nachweislich nähere Kenntnisse über das japanische Kabuki, seine räumliche Ordnung und seine spezifische Modellierung von Körperlichkeit in seiner künstlerischen Zusammenarbeit mit dem Graphiker und Maler Emil Orlik. Dieser studierte während eines einjährigen Forschungsaufenthalts in Japan im Jahr 1900 japanische Holzschnittkunst. 18 1902 veröffentlicht Orlik einen Artikel mit dem Titel „ Japanisches Theater und Sada Yacco “ im Feuilleton des Prager Tagblatts, in dem er u. a. seine ästhetische Erfahrung eines Kabuki-Erlebnisses artikuliert, wie er sie wohl auch Max Reinhardt vermittelt hat. Er akzentuiert durch die Adaptierung der Drehbühne und des Hanamichi die Möglichkeit einer „ plastischen Scene “ und einer dimensionalen Erweiterung der Bühne. 19 Aber welche Funktion hat der Hanamichi, der von so großem Interesse für die europäische Theater- und Bühnenreform der Moderne wird, 20 im Kabuki Kontext? Das große japanische Theatergeschichtsnarrativ setzt den Entstehungsmoment des Kabuki an den Anfang des 17. Jahrhunderts. Ich zitiere Toshio Kawatake: The origin of Kabuki, it is popularly believed, was the Buddhist prayer dance known as nembutsu odori [i. O.], which a woman calling herself Izumo no Okuni performed in Kyoto in 1603. These performances took place out of doors in the precinct of the Kitano Shrine and along the riverbed at Shij ō on crude and temporary stages that were imitations of the N ō stage that preceded them. 21 10 Nicole Haitzinger In der gegenwärtigen japanischen Historiographie des Kabuki werden wiederholt folgende Aspekte betont: Erstens der Ursprungsmythos des Auftritts einer ‚ Tänzerin ‘ , zweitens die Nähe zum Kitano, einem Shint ō -Schrein und seinen kultischen Implikationen, drittens die Errichtung einer temporären Freilichtbühne, die die Bühnenarchitektur des streng der Funktion und Ästhetik der Aufführungen des japanischen Kriegsadels gehorchenden N ō als Matrix heranzieht und für einen städtischen Kontext (und ein breiteres Publikum) hochgradig assimiliert. Kawatake übersetzt aus Kabuki no sôshi aus der frühen Tokugawa Periode: ‚ a woman masqueraded as a man, and a man masqueraded as a woman [H. d. A.], dressing up as the madam of a teahouse and averting ‘ her ’ eyes with a bashful look ’ ; [ … ] flirting [ … ]; ‘ then, the more ‘ he ’ encouraged the madam of the teahouse to dance, the more winsome ‘ she ’ became; when the slow and graceful way she danced met their eyes, people would stare, and, especially among rich and poor, if ‘ he ’ encouraged a woman who seemed interested and made her dance, people ’ s feelings would be caught up; even monks and priests would be drawn in, and, forgetting their own shame or the eyes of others, they would dance excitedly in the theatre [H. d. A.]. ‘ 22 Obgleich die historische Existenz einer Tänzerin mit dem Namen Izumo no Okuni umstritten ist, 23 bildet sich hier ein Narrativ heraus, dessen Resonanzen für die Rezeption des japanischen Theaters für den Reinhardt ’ schen künstlerischen und intellektuellen Zirkel entscheidend zu sein scheinen: erstens die Tänzerin als Reformfigur der szenischen Künste, zweitens die erotische grundierte Maskerade/ Verwandlung, drittens der Erscheinungsauftritt (eines Geistes) und viertens schließlich die gemeinschaftsstiftende Funktion, die eine Teilnahme des Publikums am tänzerischen Ereignis vorsieht. Die ersten zwei Aspekte werde ich bei der Mie-Pose noch einmal aufgreifen. Für den dritten und vierten Aspekt, in denen der Raum quasi als Ko-Autor der Inszenierung zu verstehen ist, gibt Kawatake noch weitere Hinweise. Die Stätte des Tanzes, im Japanischen Shiba-I und bei ihm mit ‚ Theater ‘ übersetzt, besteht aus zwei Zeichen, nämlich 芝居 „ Gras “ [gepflegte Grünfläche] und 居 „ anwesend sein “ [verweilend, um dem Tanz zuzusehen]. 24 Ließe sich das vielleicht im Sinne einer verborgenen Resonanz in der europäischen Reform der Theater- und Bühnenarchitekturen dechiffrieren? Handelt es sich um eine den Sujets entsprechende Suche von Max Reinhardt nach theatralen Schauplätzen, die eine gemeinschaftsstiftende Anwesenheit ermöglicht? Die Wahl des Hanamichi für die Inszenierung von Sumurûn scheint eine logische Konsequenz zu sein, denn dieser bildete sich aus dem im N ō situierten Hashigakari - eine überdachte Passage, die den Außenraum, d. h. die Grünfläche, mit der im Innenraum befindenden Bühnenplattform verbindet - heraus. 50 Jahre nach dem ersten Auftritt von Okuni etablierte sich der Hanamichi dann im Kabuki. 25 Er diente zunächst als temporärer Verbindungssteg zur Bühne für Auf- und Abtritte, auf den Geschenke wie Blumen (Hana) für die seit 1629 ausschließlich männlichen Akteure 26 gelegt wurden. Mit der Dramatisierung des Kabuki im späteren 17. Jahrhundert wird der Hanamichi zum bühnenarchitektonischen Mittel funktionalisiert. Dies ermöglicht eine spezifisch inszenatorisch überlegte Interaktion zwischen den Akteuren und dem Publikum, d. h. eine räumliche Nähe zwischen beiden Parteien wird herstellt und zugleich eine Distanz aufrechterhalten, die über die Erhöhung des Hanamichi über den Köpfen des Publikums markiert ist. Der Hanamichi ermöglicht, ausgestattet mit Vorhängen an den Auftritten sowie 11 Hanamichi und Mie-Pose eingebauten Falltüren, 27 Erscheinungsauftritte von Figuren, die - im Theater generell und aus europäisch-rezeptionsgeschichtlicher Perspektive im artifiziellen Kabuki speziell - in einem ‚ Theater der menschlichen Existenz ‘ nicht ausschließlich als ‚ Menschen ‘ verstanden werden können. 28 Jede Figur, die im Theater auftritt, ist eine komplexe Entität und dies wird durch spezifische Bühnenarchitekturen mehr oder weniger akzentuiert. Das im Wortlaut der Zeit mit ‚ Blumenweg ‘ übersetzte Versatzstück aus dem japanischen Kabuki eignete sich nicht nur, um „ Mordszenen nach japanischer Art “ (Oskar Bie) darzustellen 29 - obgleich uns dies einen wichtigen Hinweis auf das versteckte Narrativ des japanischen Kabuki mit zahlreichen Grausamkeiten und Bühnentoden und deren Rezeption gibt. Es markiert darüber hinaus eine (theater-)revolutionäre Intervention in die räumliche und ästhetische (An-)Ordnung des Guckkastentheaters. Max Reinhardts erste Referenz für die stabile Ordnung des Guckkastentheaters sind sicherlich die nur zwei Dekaden zuvor am Ring der Gründerzeit in neue Architekturen transferierten Wiener Hoftheater; hier vor allem das Burgtheater, wenn wir uns an die Erfindung der vierten Galerie als seine zweite ‚ Geburtsstätte ‘ erinnern. In Robert Musils Mann ohne Eigenschaften (1930), zweifelsohne ein literarisches Schlüsselwerk zum Verständnis der Wiener Moderne, wird ungemein treffsicher von der Romanfigur Ulrich von ‚ Theaterschatullen ‘ gesprochen: „ Es muß in den achtziger oder neunziger Jahren einen Baumeister gegeben haben, der in den meisten größeren Städten solche Theaterschatullen hinsetzte, die um und um mit Zierformen und Statuenzierrat beschlagen waren. “ 30 In einer anderen Szene des Romans wählt Musil die Metapher des „ unmöblierten Theaters “ für das formlos gewordene moderne Leben, über das Ulrich nachdenkt. 31 Der Theatermagier Max Reinhardt sieht zwischen ‚ Theaterschatullen ‘ und einem ‚ unmöblierten Theater ‘ keinen Widerspruch, ganz im Gegenteil. Der in ein europäisches Theaterdispositiv transferierte japanische Hanamichi kann in der Inszenierung von Sumurûn als ein Verbindungssteg zweier Theatermodelle interpretiert werden, der wiederholte Perspektivwechsel des Publikums - nach vorne gerichteter Blick und wiederholte Wendung des Blicks bei Auftritten und Abtritten von Akteuren - forciert und ein Blickregime konstituiert, das andere ästhetische Erfahrungen ermöglicht: Nicht alles kann gleichzeitig monosensorisch gesehen werden (Aktionen auf der Bühne vorne und Auftritte auf dem Hanamichi) und dennoch ist alles gleichzeitig präsent. Die letzte Szene aus dem Sumurûn-Film aus dem Jahr 1920 zeigt, wie die Reinhardt ’ sche Regieidee des Hanamichi in grandioser Geste von Ernst Lubitsch in den Stummfilm transferiert wird. 32 Im Textbuch zur Inszenierung endet Sumurûn mit: „ Der Aufseher des Bazars kommt, findet aber nur die Toten. Er, Nur al Din und die Frauen beschreiten den Blumenweg, den Weg der Befreiung. “ 33 Die perspektivische Ordnung des Hanamichi rhythmisiert strömende Figurationen und Figuren, in denen Akteur, typisierte Rolle und Epiphanien schließlich gleichzeitig präsent sind. Die Mie-Pose ist, so meine These, eine zweite Resonanz aus dem Kabuki, die im frühen Reinhardt ’ schen Oeuvre als Mittel zur Reform der Schauspieltechniken im Theater der Moderne verstanden werden kann. Mie kann laut Kawatake definiert werden mit: „ A mie [H. i. O.] is an acting technique in which an actor strikes a pose at important points in an action and holds it for several seconds. “ 34 Außerdem akzentuiert er in seiner Analyse die kurvenförmige und fluide Grazie der Kabuki Mie „ [ … ] in which the moving body traces a smooth, continuous line that ends at the precise moment that movement reaches its climax, [ … ] a distinctively Japa- 12 Nicole Haitzinger nese aesthetic [ … ] “ 35 Man unterscheidet zwischen verschiedenen Mie-Posen. 36 Bei der Nirami-Pose handelt es sich im eigentlichen Sinn um eine dreigeteilte Bewegungsphrase: Zuerst werden die Beine weit auseinandergestellt, der Körper des Akteurs ist frontal nach vorne, in manchen Fällen profil ausgerichtet. Damit wird die höchste Sichtbarkeit der typisierten Pose für das Publikum garantiert. Danach schüttelt der Kabuki- Spieler mehrere Male den Kopf, genannt ‚ senkai ‘ , um die Aufmerksamkeit auf sein Gesicht zu lenken. 37 Er bewegt die Augen expressiv hin und her und im Anschluss friert er die Pose ein. Max Reinhardt entlehnt die Mie-Pose hauptsächlich zur Reformierung der kodifizierten und stereotypisierten europäischen Bühnentheaterposen und -gesten, d. h. dass sie bewegungs- und gestentechnisch im Kontext einer europäischen Rezeptionsästhetik zwar stark transformiert wird und es sich keinesfalls um eine exakte Rekonstruktion der Mie-Pose handelt, dennoch aber in der Modellierung von Körperlichkeit und in der energetischen Regulierung wesentliche ‚ Partikel ‘ der japanischen Mie-Pose erkennbar bleiben und das Bewegungsmotiv ‚ japanisch ‘ im europäischen Kontext aufruft, wenngleich es sich nicht um eine exakte Rekonstruktion der Kabuki-Pose handelt. Im Textbuch wird Sumurûn als „ Eine Pantomime in neun Bildern “ 38 bezeichnet. Obgleich im Zuge der Antikenkonstruktionen und -rezeptionen die antike römische Pantomime in vielerlei neuzeitlich transformierter Gestalt auf den europäischen Bühnen aufgetreten ist, hat sie eine Hochzeit sicherlich im Kontext der Wiener Hoftheater im 18. Jahrhundert erlebt (u. a. in Zeiten der Engagements von Jean Georges Noverre und Gasparo Angolini), verwehrt sich der künstlerische Kreis um Reinhardt der Idee der Vergegenwärtigung der alten Pantomime. Laut Freksa sollen gerade nicht „ durch stereotype Gebärden Worte ersetzt [werden], so daß man sich wundert, warum die Leute nicht lieber gleich sprechen “ , dafür sollen Szenen konstruiert werden, „ in denen das Wort an sich entbehrlich sei. “ 39 Die schauspieltechnische Modellierung von Körperlichkeit basiert in Reinhardts Sumurûn - bewegungsanalytisch perspektiviert - auf der Adaptierung von tänzerischen Gesten und Posen aus zwei unterscheidbaren Referenzkulturen: erstens der künstlerischen Strömung des mitteleuropäischen Ausdruckstanzes, eine Ausformung des Tanzes der Moderne, die eine von Innen ausströmende Expressivität akzentuiert; nicht zufällig wird die typisierte Figur der Tänzerin im Reinhardt ’ schen Sumurûn von der Wienerin Grete Wiesenthal verkörpert, die mit ihrer schwunghaften Interpretation den Walzer aus der reglementierten soziokulturellen Ballordnung und aus dem Hoftheaterkontext löste und mit ihren tänzerischen Aufführungen bei den Wiener Sezessionisten und später europaweit für Furore sorgte. Arthur Kahane, 1872 in Wien geboren, jüdischer Herkunft, im Kontext der Theaterkultur der Habsburgermonarchie sozialisiert, später enger Mitarbeiter von Max Reinhardt und Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus in Berlin (1905 - 1932), liefert in seinem Tagebuch des Dramaturgen Zeugnis, wie groß der Einfluss der Grete Wiesenthal auf Max Reinhardt und die Wiener Moderne war: Aber man kann ja auch nichts anderes sagen als: wir erlebten ein Wunder, sie war eine Elfe, wenn sie tanzte, tanzte ihre Seele, und es ging ein unendlicher Zauber von ihr aus, der uns nie mehr losließ. [ … ] Kann sein, daß es die eingeborene Weltanschauung des Wieners ist: es gibt nur einen Tanz, und das ist der Walzer. Das Dionysische geschieht für den Wiener im Dreivierteltakt. [H. d. A.] [ … ] Aber im Grunde war alles, was sie [die Schwestern Wiesenthal] tanzten, Walzer und Wien. Wo gibt es noch eine Stadt, deren Seele so singt und tanzt! Wo gibt es noch eine Stadt, die so 13 Hanamichi und Mie-Pose wünschen, so träumen, so küssen und so schweben kann. 40 Zweitens werden bei Reinhardt Anleihen bei dem, seit dem 18. Jahrhundert streng kodifizierten japanischen Kabuki-Theaters genommen, eine - unter den Vorzeichen einer europäischen Ordnung der Künste/ Sparten - genreelastische szenische Form, basierend auf den drei Säulen Musik, Tanz und Virtuosität. In der Figur des Gauklers zeigt sich meiner These nach die Kabuki-Referenz, spezifischer die assimilierende Aneignung des kumadori Make-Ups 41 und der Mie-Pose. Im Sumurûn-Film aus dem Jahr 1920 wird die Figur des Gauklers von Ernst Lubitsch gespielt. Allerdings verkörpert nicht Grete Wiesenthal die Tänzerin, sondern die, den Eros ihrer Figur performativer akzentuierende Pola Negri. Der Film kann als kleine Hommage von Lubitsch an Max Reinhardt verstanden werden, der sein Mentor gewesen ist. In Lubitschs Auslegung der Rolle des Gauklers ist die Reinhardt ’ sche Idee der Mie-Pose sedimentiert. 42 Keineswegs gehorchen die Lubitsch-Posen den Bühnenkonventionen des Kabuki. Vielmehr handelt es sich um eine aus Japan entlehnte Bewegungsformel, die mit expressionistischem Gestus aufgeladen wird. Für Reinhardt und sein künstlerisches Ensemble stellt das Nebeneinander von zwei sich auf den ersten Blick beinahe um das Ganze unterscheidenden Modellen - erstens ein, aus europäischer und rezeptionsästhetischer Perspektive formalisiertes, japanisches Theater und zweitens die expressive europäische Bühnenkunst der Moderne - keinen Widerspruch dar. Beide verbindet die Vorstellung von einem Theater, das die gestische Modellierung von Körperlichkeit und den Fokus auf die Konstellation von Figuren im Raum privilegiert, sei es mit oder ohne gesprochenem oder gesungenem Text. Hugo von Hofmannsthal grenzt sich übrigens nach der ästhetischen Erfahrung von Sumurûn von der ihm zu wenig ‚ reinen ‘ Pantomime Reinhardts in einem Brief vom 5. Juli an Grete Wiesenthal ab: Indem ich mir die Kunstform „ Pantomime “ ausgehend von Reinhardts „ gemischter “ Form klar zu machen suchte, ist mir auch klar geworden, welche großen reichen Möglichkeiten hier für Sie da sind … Es handelt sich um eine Folge reiner Stellungen und Geberden. Die Geberden, die das Schauspielerische begleiten, sind alle unrein, weil vermischt; sie gehen ineinander über; auch ihrer Natur nach sind sie unrein, zum geringen Teil wahrhaft ausgebildete mimische Geberden, zum großen Teil bloße conventionelle Zeichen, wie die Buchstaben, die ja aus wahrhaften Bildern, den Hieroglyphen entstanden sind. 43 Hofmannsthal erfasst hier das Reinhardt ’ sche Konzept einer modernen Pantomime als ein ‚ vermischtes ‘ Genre, in der Wiesenthals expressionistischer tänzerischer Ausdruck mit der assimilierten Mie- Pose koexistiert. Genau diese ‚ Vermischtheit ‘ mit ihren strukturellen und ästhetischen Implikationen scheint mir wesentlich für das Verständnis von Reinhardts Vision eines modernen Theaters zu sein. Wie im Titel angekündigt, verstehe ich den Hanamichi und die Mie-Pose als modern imprägnierte Versatzstücke in Max Reinhardts frühen Bühnenmodellen und Inszenierungskonzepten, die - verflochten mit seinem Bezug auf das Modell einer barocken Festkultur und eines genreelastischen barocken Welttheaters überhaupt - maßgeblich zu einer vielsinnigen und multiperspektivisch angelegten theatralen Erfahrung im Zuge der großen Theaterreform um 1900 beigetragen haben. Max Reinhardt entlehnte in rezeptionsästhetischer Geste in seinem frühen Œ euvre nicht zufällig den Hanamichi und die Mie-Pose aus dem Kabuki: der für das europäische Theater adaptierte ‚ Blumensteg ‘ sprengt die sogenannte vierte Wand der Guckkastenbüh- 14 Nicole Haitzinger ne, (bewegungsanalytisch nachweisbare) Resonanzen der Mie-Pose erweitern außerdem den Bewegungsspielraum im Schauspiel und ermöglichen eine ungewohnte, intensivierte und facettenreiche szenische Präsenz. Durch die Verflechtung von japanischen und wienerischen Fäden mit vielzähligen anderen, hier nur angedeuteten, zaubert der Theatermagier Max Reinhardt in Sumurûn eine Inszenierung, die in der Habsburger Theaterkultur, ausstrahlend von Residenzstadt Wien, genauso historisierbar ist, wie sie zugleich im Kontext einer transnationalen, metropolitanen und avantgardistischen Bühnenreform verstanden werden kann. Anmerkungen 1 Vgl. Carl E. Schorske, Mit Geschichte denken. Übergänge in die Moderne, aus dem Amerikanischen übersetzt von Georgia Illetschko und Erik M. Vogt, Wien 2004, S. 22. 2 Weitere Literaturhinweise zur Theaterkultur in Wien um 1900 siehe: Christian Brandstätter (Hg.), Wien 1900: Kunst und Kultur: Fokus der europäischen Moderne, München 2006; Paul S. Ulrich, Wiener Theater (1752 - 1918), Wien 2018; Peter Payer, Großstadtbilder: Reportagen und Feuilletons - Wien um 1900, Wien 2012; Michael John, Albert Lichtbau, Schmelztiegel Wien - einst und jetzt, Wien 1990. 3 Schorske, Mit Geschichte denken, S. 129. Schorske gibt dem siebten Kapitel seines Buches den schönen und bezeichnenden Titel: „ Museum im umkämpften Raum: Das Schwert, das Zepter und der Ring. “ Das Schwert bezieht sich auf die Macht des Militärs, das Zepter auf die Monarchie und der Ring auf die Ringstrasse als in Architektur manifestierte frühe Moderne. 4 Vgl. Schorske, Mit Geschichte denken, S. 135. 5 Vgl. hierzu Marion Linhardt, Residenzstadt und Metropole. Zu einer kulturellen Topographie der Wiener Unterhaltungstheater (1858 - 1918), Tübingen 2006 und Nic Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869 - 1899), Bielefeld 2007. 6 Birgit Peter, „ Elitär populär. Diversität von Theaterformen im Wien um 1900 “ , in: Elisabeth Röhrlich (Hg.), Migration und Innovation. Perspektiven auf das Wien der Jahrhundertwende, Wien 2016, S. 281. 7 Vgl. zur Chiffre: Peter Plener, „ Zur Konstruktion von Erinnerung in der k. u. k. Monarchie “ , in: Wolfgang Müller-Funk/ Peter Plener/ Clemens Ruthner (Hg.), Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen 2002, S. 81 - 92, hier S. 91. 8 Zur frühen Biographie Reinhardts vgl. Edda Fuhrich, Ulrike Dembski, Angela Eder, Ambivalenzen. Max Reinhardt und Österreich, Wien 2004, insbesondere S. 11. 9 Vgl. zu dieser Zeit beispielsweise die exzellente Studie: Peter Marx, Max Reinhardt: Vom bürgerlichen Theater zur metropolitanen Kultur, Tübingen 2006. Zu seinen Regiekonzepten vgl. insbesondere Jens Roselt, „ Der Regisseur als Autor der Inszenierung - Max Reinhardt “ , in: Ders. (Hg.), Regie im Theater: Geschichte - Theorie - Praxis, Berlin 2015, S. 197 - 205. 10 Max Reinhardt: „ Autobiographische Notizen “ [um 1940]. State University of New York at Binghamton, Max Reinhardt-Archive, R 5585 (O). Zit. nach Fuhrich, Ambivalenzen, S. 13. 11 Arthur Kahane, Tagebuch des Dramaturgen, Berlin 1928, S. 83. 12 Vgl. Michael Pollak, Wien 1900. Eine verletzte Identität, Konstanz 1997, S. 12; 1857 repräsentierten die Juden circa 2 % der Wiener Bevölkerung, 1880 ungefähr 10 %. Jahrmärker plädiert für einen alternativen Blick auf die „ jüdische Moderne “ ohne rassische Argumentation, die die städtische Sondersituation von Wien berücksichtigt. Wegen der strukturellen Probleme einer zu schnell gewachsenen Millionenstadt bringt die scheiternde Integration des Zustroms der aus dem Osten geflüchteten teils mittellosen, teils streng orthodoxen Juden in ein Dilemma, das in den 1880er Jahren in eine Welle von politischem und soziokulturellem Antisemitismus mündet. Vgl. ebd. S. 144. 15 Hanamichi und Mie-Pose 13 Pollak, Wien 1900, S. 19. 14 Ebd., S. 26. 15 Es sind in den letzten drei Dekaden einige richtungsweisende Artikel zu Max Reinhardts Rezeption des japanischen Kabuki veröffentlicht worden. Im Kontext der inszenierungsanalytischen Analyse seien hier erstens Erika Fischer-Lichte mit ihrem Fokus auf die Adaptierung von ‚ fremden ‘ Versatzstücken zur Überwindung der vierten Wand von der historischen Theateravantgarde genannt: Vgl. Erika Fischer-Lichte, „ Einleitung “ , in: Dies. (Hg.), Das eigene und das fremde Theater, Marburg 1999. insbesondere S. 7 f.; Erika Fischer-Lichte: Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Marburg 1997. Hier insbesondere das Kapitel „ Inszenierung von Wahrnehmung. Vom fokussierenden zum schweifenden Blick in Reinhardts Theater am Beispiel von Sumurun (1910) “ , S. 41 - 56.; Erika Fischer-Lichte, „ Inszenierung des Fremden. Zur (De-)Konstruktion semiotischer Systeme “ , in: TheaterAvantgarde. Wahrnehmung - Körper - Sprache. Tübingen u. a. 1995, S. 156 - 241. Erika Fischer- Lichte: Interweaving Cultures in Performance: Different States of Being In-Between, Cambridge 2009. Zweitens ist die Studie von Toshio Kawatake mit seiner Akzentuierung des Barocken im Kabuki von großer Relevanz. Vgl. Toshio Kawatake, Kabuki. Baroque Fusion of the Arts, Tokio 2003. Max Reinhardts Japanaffinität in ihrer spezifischen Situiertheit in der Wiener Theaterkultur um 1900 ist jedoch noch recht wenig beleuchtet worden. 16 Leider ist dieser Film verschollen. Allerdings gibt es eine Rekonstruktion des Films, mit der hier gearbeitet wird. Siehe: Sumurûn (Deutschland 1920, R: Ernst Lubitsch). https: / / www.youtube.com/ watch? v=AHqnsl q6GF8 [Zugriff am 02.02.2022]. 17 Thomas Mann, Der Zauberberg, hg. Michael Neumann, Frankfurt a. M. 2002, S. 480. 18 Emil Orlik, „ Japanisches Theater und Sada Yacco “ , in: Prager Tagblatt 26 (15.02.1902), S. 1 - 2. 19 „ Unsere ‚ Neue ‘ Erfindung, die Drehbühne, ist da drüben über 100 Jahre alt und macht es möglich, die ganze Scene plastisch aufzubauen. Mitten durch den Zuschauerraum führen zwei erhöhte Stege, hanamichi (Blumenwege) genannt. Auf diesen Ausläufern der Bühne, die sie um zwei Dimensionen erweitern, spielen die Schauspieler im Kommen und Abgehen. “ Emil Orlik, „ Japanisches Theater und Sada Yacco “ , in: Prager Tagblatt 26 (15.02.1902), S. 1 - 2. 20 Um die Jahrhundertwende wurden im französisch- und deutschsprachigen Raum eine Reihe von Beschreibungen des sogenannten Blumenweges (wie beispielsweise sehr früh von Alfred Lequeux in seinem Aufsatz „ Le théâtre au Japon “ (1888) oder später um die Jahrhundertwende von Adolf Fischer in Japans Bühnenkunst und ihre Entwicklung in Westermanns Illustrierten deutschen Monatsheften, 1900/ 1901 publiziert). Ich möchte hier zwei Aspekte nennen, die eine europatypische Rezeption des japanischen Kabuki-Theaters im Fin de Siècle bestimmen: erstens das ästhetisch wahrgenommene andere Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Akteur*innen und Publikum im japanischen Kabuki im Vergleich mit der Guckkastenbühne, das durch den Hanamichi akzentuiert wird; zweitens die durch die räumliche Anordnung gegebene Möglichkeit der Gleichzeitigkeit von Szenen. Vgl. Erika Fischer-Lichte, Das eigene und das fremde Theater, Tübingen 1999. 21 Kawatake, Kabuki, S. 50. 22 Zit. nach ebd. S. 51 und 53. 23 Vgl. Ivan R. V. Rumánek, „ Analysis of Okuni S ō shi as Sources of the Earliest Kabuki “ , in: The SOAS Journal of Postgraduate Research 8 (2015), S. 15 - 35. 24 Vgl. Kawatake, Kabuki, S. 53. 25 Vgl. Adolphe Clarence Scott, The Kabuki Theatre of Japan, London 1955, S. 49. 26 Onna Kabuki wird verboten wegen Korrumpierung der Moral, es folgt die Phase des wakashu Kabuki (schöne junge Männer), bis dieser wegen seiner homoerotischen Wirkungsmacht ebenfalls verboten wird. Schließlich 1653: Kabuki nur unter zwei Bedingungen erlaubt: Erstens Akteure müssen ihre Stirnlocken abschneiden, zweitens Aufführungen sollten „ monomane kyogen 16 Nicole Haitzinger zukushi “ sein, sprich auf Imitation basierende Stücke, keine erotisch aufgeladenen Tänze. Vgl. Kawatake, Kabuki, S. 54. 27 Vgl. Aubrey S. Halford/ Giovanna M. Halford (Hg.), The Kabuki Handbook, Tokio 1956, S. 417. 28 Ich möchte an dieser Stelle das dichotom konstruierte Modell von Kawatake aus rezeptionsgeschichtlich-europäischem Blick ausdifferenzieren. Im definitorischen Vergleich von N ō und Kabuki wird von Kawatake die menschliche Gebundenheit des Kabuki behauptet: „ The one essential difference is that while N ō is oriented heavenward, Kabuki is earthbound, or, put another way, N ō is a theatre of gods and spirits whereas Kabuki is a theatre of human beings. “ Kawatake, Kabuki, S. 51.Übernatürliche Figuren oder Kräfte, das Kumadori Make-Up, die Erhöhung des Hanamichi über den Köpfen des Publikums, Erscheinungsauftritte und die Mie-Pose zeugen von einer hoch artifiziellen Konzeption des Kabuki, sicherlich weniger ausgeprägt als im N ō . Siehe außerdem Peter Arnott, Theatres of Japan, London 1969, S. 15 - 156: „ Kabuki acting, at first acquaintance, seems as eclectic as its settings and to change its style not merely from play to play, but from moment to moment. It is, in fact made up of patterned movement and based on rigidly preserved traditional choreography. The actor receives extensive training in movement and gesture, which he then applies, guided by the interpretations of the past, to the role he is playing. [ … ] In consequence the actor is an imitator rather than an innovator. Improvisation is not easy, nor does the complexity of movement lend itself to experiment of free interpretation. Actors perpetuate their predecessors ’ styles with their names: in their way gestures of kabuki have become as stereotyped as No [theatre] and the actors try to follow the form established as most suitable to each occasion. “ ) 29 Oskar Bie, „ Sumurun “ , in: Die neue Rundschau 21 (1910) 11, S. 874. 30 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 672. 31 Ebd. S. 490. 32 Sumurûn (Deutschland 1920, R: Ernst Lubitsch), https: / / www.youtube.com/ watch? v=AHqnslq6GF8 [Zugriff am 02.02.2022]. 33 Friedrich Freska, Sumurûn, Berlin 1910, S. 24. 34 Kawatake, Kabuki, S. 113. 35 Ebd. S. 114. 36 Neben der nirami-Pose ist die emen no mie- Pose in vielen Stücken vertreten. Diese wird zumeist am Ende eines Aktes von allen Schauspielern gelichzeitig durchgeführt, was einen Tableau-artigen Effekt erzeugt. Außerdem gibt es hippari no mie, welche bei Bühnenauftritten zum Einsatz kommt - charakteristisch dafür ist das Einfrieren jeglicher Bewegung - und genroku mie, das sich aber ausschließlich in Stücken der Ichikawa Familien Kollektion etabliert hat. 37 Scott, The Kabuki Theatre of Japan, S. 104. 38 Victor Hollaender, Friedrich Freksa, Kleine Ausgabe zu Sumurûn: eine Pantomime in neun Bildern, Berlin 1910. 39 Friedrich Freksa, Hinter der Rampe. Theaterglossen, München 1913, S. 114. Vgl. auch Fischer-Lichte, „ Inszenierung von Wahrnehmung “ , S. 46. 40 Kahane, Tagebuch des Dramaturgen, S. 155 - 157. 41 Weiße Gesichtsbemalung, auf die entlang der Knochenstruktur des Gesichts farbige Linien aufgetragen und leicht verwischt werden: die Farbwahl, die Zahl der Linien, deren Stärke und Form visualisieren den Typus der Figur. Vgl. KAWATAKE, Kabuki, S. 109. 42 Sumurûn (Deutschland 1920, R: Lubitsch), [Minute 52: 15 - 53: 42]. 43 Zitiert nach Leonhard M. Fiedler, „‚ nicht Wort, - aber mehr als Wort …‘ . Zwischen Sprache und Tanz - Grete Wiesenthal und Hugo von Hofmannsthal “ , in: Gabriele Brandstetter/ Gundhild Oberzaucher-Schüller (Hg.), Mundart der Wiener Moderne, München 2009, S. 127 - 150, hier S. 142 f. 17 Hanamichi und Mie-Pose