eJournals Forum Modernes Theater 34/1

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0004
61
2023
341 Balme

Editorial

61
2023
Johanna Zorn
fmth3410035
Editorial - Intensive Umgebungen. Zu environmentalen Gefügen ästhetischer Erfahrung Johanna Zorn (München) In Theater, Performance, Installation und Musik, in Bildender Kunst, Architektur, Stadtplanung und Design, in Sozialen Medien wie in Populärkulturen - , quer durch die unterschiedlichen Künste, Gestaltungs- und Medienformate lässt sich gegenwärtig eine signifikante Tendenz zur Inszenierung von intensiven Umgebungen beobachten. Sie sind intensiv im wörtlichen Sinne: Sie dringen in die Körperlichkeit und Gefühlswelt der Rezipierenden ein, um dort einen starken Eindruck zu hinterlassen. Hinter diesem speziellen Subjekt-Umwelt-Bezug, der die ontologische Grenzziehung zwischen Subjekten, Objekten und Räumen zugunsten einer environmentalen Verflochtenheit erodieren lässt, steht in der philosophischen Ästhetik der Begriff der ‚ Atmosphäre ‘ . Die Denkfigur der Atmosphäre knüpft die Eindringlichkeit der umschließenden Außenwelt programmatisch an die Undefinierbarkeit ihrer Wirkung: Wer wollte letztgültig klären, welchen spezifischen Eindruck der in den Sakralraum diffundierende Weihrauch im ästhetisch wahrnehmenden Subjekt hinterlässt; wer definieren, was die erotische Stimme aus den Kopfhörern über die mechanistische Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR) hinaus mit den Gefühlen und Einstellungen einer Einzelnen macht; wer die spezifischen Orte von individuellen Bedürfnissen und technologischen Suggestionen, von computationaler Antizipation und Reaktion in einer multipel vernetzten Ambient Intelligence in äußerster Konkretion bestimmen? Es scheint, als seien intensive Umgebungen, weil ostentativ unsagbar und in ihrer Wirkung diffus, weniger für solche, auf distinkte Erkenntnis über die Umwelt zielenden Antworten konzipiert, als vielmehr für die Erfahrung von räumlich transportierter, wechselseitig zirkulierender Energie da. Atmosphären sind nicht bloß gestalteter Raum und kreierte Umgebung, sondern, wie Gernot Böhme es formuliert, mit „ Gefühlston “ 1 gefüllte Umwelten, die nur im Modus der subjektiven Involvierung und im synästhetischen Erleben spürbar werden, mit anderen Worten: Sie lassen sich, da sie sich im Zwischen ereignen, weder dingfest machen noch durchanalysieren. Environmentale Gefüge räumlicher, körperlicher und medialer Konstellationen fordern sogar auch dort ein umfassendes In- Sein der sinnlich erfahrenden Subjekte, wo sie handlungsbefähigende Verfügbarkeit evozieren. Indem atmosphärisch verdichtete theatrale Räume, installative Soundscapes oder mit hoher Nutzer*innenaktivität kalkulierende digitale Plattformtechnologien produktionsseitig als „ affective tonalities “ 2 auskomponiert werden, findet ein strategisches ‚ attunement ‘ des rezipierenden oder interaktiv partizipierenden Subjekts statt. Diese Einstimmung von Publika und Akteur*innen in spezifische Situationen erzeugt Momente des leiblich-sinnlichen Einschlusses, die alle auf Distinktion gerichtete Aufmerksamkeit der Idee nach zugunsten einer immersiven Gefühlswelt absorbieren. So vielfältig die Gefühle sein können, die die unter den Anwesenden geteilten Stimmungen auslösen, so unbestimmbar und unlokalisierbar bleiben ihre Ursprünge. So verschieden die emotiven Effekte und deren Charakteristiken sein mögen, die intensive Räume erzeugen, so zielen sie doch allesamt Forum Modernes Theater, 34/ 1, 35 - 38. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0004 prinzipiell auf eine Amplifizierung von Affekten. Dass zugleich mit der sensorischen Überwältigung die Möglichkeit zur reflexiven Durchdringung jener komplexen medientechnologischen Verfahren, die an der Produktion dieser Umgebungen beteiligt sind, flach gehalten werden soll, hat zur Konsequenz, dass sich über diese weniger von außerhalb und im Ganzen systematisch konstatieren als vielmehr leiblich ‚ etwas ‘ in ihnen erspüren lässt. Entsprechend argumentierte die phänomenologisch lebensweltliche Theoriefigur der Atmosphäre für den affizierten Körper als ‚ Transmitter ‘ 3 , während die ökologische Kontextualisierung des ästhetischen Begriffs durch Gernot Böhme, die stark die Relation Subjekt-Objekt fokussiert, noch dezidierter für eine Eliminierung der Unterscheidung von Innen und Außen, von Substanz und Akzidens votierte. Unvorhersehbar waren die Konsequenzen dieses relationalen Umweltbegriffs: Das ästhetische Plädoyer für den Abbau von Grenzen schien zwar das poststrukturalistische Theoriesetting und seinen Schlüsselbegriff der Dezentrierung aufzurufen, erweist sich jedoch in der Gegenwart, wie eine Vielzahl an konzeptuellen Entwürfen zeigt, wesentlich anbindungsfähiger an das posthumanistische Paradigma der „ agential intra-action “ 4 . Der von Atmosphärewie von Posthumanismus-Diskursen gleichermaßen lancierte ethische Imperativ zur Erosion des autonomen Subjekts soll dabei eine virulente Bezugnahme auf die zeitgenössisch akute, ökologische Krisensituation leisten: Nachdem das Subjekt an der Zerstörung von Umwelt arbeitete, lässt nun der Posthumanismus das Subjekt der Erkenntnis erodieren. So wird der von Menschen gewaltsam vorangetriebene ‚ Abbau ‘ der Umwelt, der sich in geschmolzenen Gletschern und ausgetrockneten Flüssen ebenso zeigt wie in der Versteppung von Gebieten und dem Abrieb von Gestein, von posthumanistischen Theoriebildungen zum Anlass genommen, für das Knüpfen neuer Gefüge und Verwandtschaftsverhältnisse 5 zwischen humanen und nicht-humanen Akteur*innen zu argumentieren, mit dem nunmehr im Gegenzug die anthropozentrische, vernunftgeleitete Zentralität des Subjekts ‚ abgebaut ‘ werden soll. Getilgt wird die Perspektive des stets machtbewusst von außen auf die Ökologien der Natur und der Kunst blickenden und urteilenden Erkenntnissubjekts gegenwärtig bevorzugt durch neumaterialistische Ansätze. Der auffallend häufige Import des Neumaterialismus in ästhetische Diskurse nun bringt das ökologische Paradigma einer vorsubjektiven Relationalität von Agentien und ihren Umwelten wiederum in ein interessantes Verhältnis zum Begriff der Atmosphäre. Beides, die Ideen von Ökologie und Atmosphäre, scheint in environmentalen Versprechen auf unmittelbare Erfahrung heute sogar vielfach bis zur Unkenntlichkeit ineinander verschränkt und zudem ökonomisch verwertbar zu sein: Die Aussicht auf ‚ wahrhaftiges ‘ Naturerleben, auf ein ökologisches Ambiente ästhetischer Erfahrung, aber auch auf einen global distribuierten Einschluss in Umwelten sozialer Medien geht nicht nur mit sozialpolitischem Output einher, sondern ist längst Verkaufsargument einer verwalteten „ experience economy “ 6 . In dieser augenscheinlichen Verkopplung von ökologischen und ökonomischen Begehrnissen werden Kommunizierende und Diskutierende der Tendenz nach zu Kompliz*innen und Kollaborateur*innen einer Sphäre der ästhetischen Erfahrung, die Teilnahme und Verwertung, nicht aber Erkenntnis vorsieht. Mit dem atmosphärisch vermittelten Gebrauchscharakter ökologischer Ästhetiken schwindet das Potential zu Kritik an sich, die bei aller Involvierung doch stets des Schritts nach außen, in die Distanz bedarf: Das totale Ambiente des Selbst, das die ökologische Atmosphäre kreiert, bindet 36 Johanna Zorn die Legitimität von Ich-Positionen vorrangig an eine gefühlsbasierte „ self-mediation “ 7 . Wenn wir gegenwärtig, wie Ivan Krastev sagt, „ in einer Welt [leben], die stärker vernetzt, aber weniger integriert ist “ 8 , dann können sich folgende Fragen jedoch nur aus kritischem Blickwinkel stellen: Welche Formen nehmen Inszenierungen von Atmosphäre im spätmodernen Zeitalter der medientechnologischen Synchronisierung an? Welche Umwelten produzieren installative Settings? Welche Gebrauchsbedingungen gehen von diesen ökologischen Atmosphären aus? Und schließlich: Welche Wissensformen und Wissenspraktiken werden durch medientechnologische Strategien der Affizierung befördert? Das vorliegende Themenheft fokussiert das Negative der Atmosphäre aus einer medienkomparatistischen Perspektive: die komplexen Medientechnologien und Inszenierungsstrategien, die in atmosphärischen Umwelten zugunsten der Erzeugung von Effekten der emotiven Authentizität in Vergessenheit geraten sollen. Die Beiträge aus theater-, tanz-, musik-, medien- und kulturwissenschaftlicher Perspektive argumentieren in ihren unterschiedlichen Bezugnahmen allesamt für eine Differenzierung, Begrenzung und Kritik von relationalen Atmosphären. So nimmt die kulturwissenschaftliche Analyse von Silke Felber das aktuell boomende Geschäft mit der Kompostierung von Leichnamen zum Anlass, das dort artikulierte ästhetische Begehren nach umfassender Verbindung mit der Umwelt kritisch zu beleuchten. Das aus atmosphärischen Anreizen hervorgehende Verlangen nach medialer Arretierung und postmortaler Verstetigung steht ebenso in der Analyse von Magdalena Zorn im Zentrum, nun aber mit Blick auf die aporetische Konfrontation von medialer Konservierung und atmosphärischer Vergegenwärtigung, die die Hologram-Bühnenshow ABBAVoyage inszeniert. Das Spiel mit der unterbrochenen Ko-Präsenz durch Avatare, das dort für die auratische Aufladung einer medientechnologischen Unsterblichkeit sorgt, gerät in Susanne Kennedys Inszenierung der Drei Schwestern wiederum programmatisch ins Stocken. Die Lektüre dieser Bühnenarbeit durch Julia Prager geht den konzeptuellen Brüchen eines geteilten Raumes menschlicher Anwesenheit durch avatarhafte Schauspieler*innen nach, mit denen die Verifizierung des menschlichen Körpers strategisch unterbunden wird. Die leibliche Beglaubigung von Anwesenheit im Hier und Jetzt, die körperliche Affizierung durch atmosphärische Involvierung nimmt auch Tanja Prokic´ zum Anlass einer kritischen Lektüre. Ausgehend von der zeitgenössisch ubiquitären ästhetischen Verwertung spezifischer Stimmungsqualitäten in Umgebungen macht sie in ihrer konstellativen Analyse den Vibe als Wissensfigur über die Unverfügbarkeit technoökonomischer Gefüge in Inszenierungsstrategien Sozialer Medien fruchtbar. Das Nicht-zusammen-kommen- Können von Körpern wird schließlich in Katja Schneiders Betrachtung von choreografischen Projekten im öffentlichen Stadtraum während der Covid-19-Pandemie als Argument für die Konstruktion einer Atmosphäre des Fernen identifiziert. Der Beitrag von Johanna Zorn wiederum liest die sinnlich inklusive Atmosphäre eines umfassenden Erfahrens, die zeitgenössische Theaterästhetiken vielfach entwerfen, als quasimystische Praxis einer exzessiven Mimesis, die sich letztlich selbst invertiert. Dem performativen Aussetzen und Abbauen eines gemeinsam geteilten politischen Erscheinungs- und Versammlungsraums zugunsten ortsspezifischer Aushandlungsplätze von Verschiedenem geht zuletzt Julia Stenzel auf Basis zweier politischer Performances aus völlig unterschiedlichen lokalen Kontexten (Teheran und Ruhrgebiet) nach. 37 Editorial - Intensive Umgebungen. Zu environmentalen Gefügen ästhetischer Erfahrung Die von allen Beiträgerinnen geteilte kritische Praxis äußert sich darin, die Inszenierung von Stimmungen, Relationen, Umwelten, Vibes, Installationen, Milieus oder Feelings nicht einfach als Erfahrungsumgebungen hinzunehmen, sondern einer Analyse auszusetzen, ihren ästhetischen, ethischen, sozialen und politischen Paradoxien und Abgründen nachzugehen, um sie aus dem Abstand der Kritik heraus als epistemische Werkzeuge zu behandeln. Anmerkungen 1 Gernot Böhme, Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Berlin 2013, S. 21. 2 Jean-Paul Thibaud, „ The backstage of urban ambiances: When atmospheres pervade everyday experience “ , in: Emotion, Space and Society 15 (2015), S. 39 - 46; https: / / doi. org/ 10.1016/ j.emospa.2014.07.001 [Zugriff am 12.12.2022]. 3 „ Der Leib ist die Empfangsstation für Atmosphären und wirkt auf diese zurück “ . Herman Schmitz, Atmosphären, Freiburg/ München 2016, S. 11. 4 Karen Barad, „ Posthumanist Performativity: Toward an understanding of how matter comes into matter “ , in: Signs. Journal of Women in Culture and Society, 28/ 3 (2003), S. 802 - 831, hier S. 814. 5 Vgl. hierzu das programmatische „ making kin “ in Donna J. Haraway, Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham/ London 2016. 6 Vgl. B. Joseph Pine II, James H. Gilmore, The Experience Economy, Boston 2011. 7 Paul Roquet, Ambient Media. Japanese Atmospheres of Self, Minneapolis/ London 2016, S. 5. 8 Ivan Krastev, „ Auf dem Weg in die Mehrheitsdiktatur “ , in: Heinrich Geiselberger (Hg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin 2017, S. 117 - 134, S. hier 123. 38 Johanna Zorn