Forum Modernes Theater
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0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0006
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2023
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BalmeABBAs Hologramm-Show
61
2023
Magdalena Zorn
Im Jahr 2022 machte die Musikwelt durch ein besonderes Ereignis auf sich aufmerksam: Zu erleben war das Comeback der Band ABBA in Form einer Bühnenshow, die vier Avatare bestreiten. Diese ‚ABBAtare‘, die äußerlich deckungsgleich mit Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid aus den späten 1970er Jahren sind, rufen beim Publikum ähnlich enthusiastische Reaktionen hervor wie sterbliche Popstars. Ausgehend von der Konstellation zwischen humanem Publikum und digitalen Avataren werden die für die Hologramm-Show ABBA Voyage konstitutive Zeitlichkeit sowie spezifische Formen der Liveness beschrieben, die Rezipient*innen dabei erzeugen. Einer atmosphärischen Form von Liveness, die durch Vergegenwärtigung von ‚Gestorbenem‘ zustande kommt, wird eine reflexive Liveness gegenübergestellt, die aus der humanen Selbstbefragung im posthumanen Raum resultiert. Im Unterschied zu den Raumbegriffen von ‚Atmosphäre‘ und ‚Reflexion‘ bringt derjenige der ‚Ökologie‘, wie der Artikel abschließend zeigen will, in solche Akte humaner Zentrierung eine Aporie.
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ABBAs Hologramm-Show Mit ‚ Gestorbenem ‘ leben Magdalena Zorn (Frankfurt am Main) Im Jahr 2022 machte die Musikwelt durch ein besonderes Ereignis auf sich aufmerksam: Zu erleben war das Comeback der Band ABBA in Form einer Bühnenshow, die vier Avatare bestreiten. Diese ‚ ABBAtare ‘ , die äußerlich deckungsgleich mit Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid aus den späten 1970er Jahren sind, rufen beim Publikum ähnlich enthusiastische Reaktionen hervor wie sterbliche Popstars. Ausgehend von der Konstellation zwischen humanem Publikum und digitalen Avataren werden die für die Hologramm-Show ABBA Voyage konstitutive Zeitlichkeit sowie spezifische Formen der Liveness beschrieben, die Rezipient*innen dabei erzeugen. Einer atmosphärischen Form von Liveness, die durch Vergegenwärtigung von ‚ Gestorbenem ‘ zustande kommt, wird eine reflexive Liveness gegenübergestellt, die aus der humanen Selbstbefragung im posthumanen Raum resultiert. Im Unterschied zu den Raumbegriffen von ‚ Atmosphäre ‘ und ‚ Reflexion ‘ bringt derjenige der ‚ Ökologie ‘ , wie der Artikel abschließend zeigen will, in solche Akte humaner Zentrierung eine Aporie. Ewige Gegenwart Am 27. Mai 2022 war in London die Premiere eines außergewöhnlichen Konzerts zu erleben, das, so ist auf der dazugehörigen Homepage zu lesen, „ 40 Jahre lang geplant “ 1 worden sei. Die Rede ist von einer Bühnenshow der Kultformation ABBA, die in rund neunzig Minuten einen musikalischen Bogen über deren künstlerisches Schaffen spannt. Die meisten der im Programm dargebotenen Songs sind nicht nur eingefleischten ABBA-Fans bekannt, sondern gehören seit Jahrzehnten zum Inventar von Popkultur. Zu hören sind etwa die bekannten alten Hits „ Dancing Queen “ , „ Gimme! Gimme! Gimme! (A Man After Midnight) “ , „ Mamma Mia “ und „ Waterloo “ , die der Band in den 1970er Jahren zu großen Erfolgen verhalfen, daneben aber auch Tracks vom 2021 erschienenen Album Voyage. Dieses erste Studioalbum der Band seit der Veröffentlichung von The Visitors im Jahr 1981 lieferte dem Konzertprogramm Namen und Motto: Die Marketingstrategie des Events ABBA Voyage, so der Titel der Show, verkauft die vierzigjährige Sendepause, in deutlicher Allusion an die religiös einschlägige Dauer von vierzig Tagen, als Zeit der Vorbereitung eines Opus summum, das in Form einer Gesamtschau des musikalischen Schaffens der vier schwedischen Künstler*innen nun an sieben Tagen der Woche in Vorstellungen zu erleben ist. Dass ABBA Voyage dieserart eine klingende Autobiographie darstellt, bei der aus dem Rückblick die wichtigsten Stationen des Bandlebens noch einmal aufsummiert werden, ist nicht allein dafür verantwortlich, dass es sich dabei um ein Ausnahmeereignis handelt. Die Vorstellungen inszenieren nämlich zudem eine Apotheose der sterblichen Körper der Gruppe: Die Performance übernehmen anstelle der physischen Mitglieder die kinetisch-visuellen Systeme ihrer digitalen Hologramme. In zeitaufwändigen Sessions wurden mithilfe von Motion Capture-Tracking die natürlichen Bewegungs- Forum Modernes Theater, 34/ 1, 54 - 65. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0006 abläufe der vier Musiker*innen erfasst. Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid haben dafür Wochen im Studio verbracht. Die gewonnenen Informationen über ihr Körperverhalten übersetzte ein Team aus Digitalkünstler*innen sodann in lebensechte digitale Versionen, mit einer entscheidenden Variation: Die Geste der Rückschau auf ABBAs Vergangenheit übertrug sich auch auf das Erscheinungsbild der Bühnenavatare, die anstelle von in die Jahre gekommenen Idolen Charaktere präsentieren, die „ für immer jung “ 2 geblieben sind (Abb. 1). Den ebenfalls gealterten Fans der ersten Stunde, von denen sich in den Vorstellungen stets einige im Publikum befinden, stehen on stage digitale Kreaturen gegenüber, denen das Leben offenbar nichts anhaben konnte und die darum aussehen wie zur musikalischen Blütezeit ABBAs in den späten 1970er Jahren. Auch ihr Gesang stammt von früheren Studioaufnahmen und wird über Band eingespielt. So beglaubigen die Avatare mit ihren visuellen und akustischen Artikulationen performativ eine ewige Gegenwart, die nach dem Motto „ zum Raum wird hier die Zeit “ 3 keine Vergänglichkeit kennt. Ein Memento mori bietet das Bühnenkonzept einzig in Gestalt einer zehnköpfigen Band, die das Gefüge aus stimmlichkörperlichen Reproduktionen live unterstützt. Von der Kollision der Zeitschichten konnte sich das Premierenpublikum, zu dem außer dem schwedischen Königspaar das Who ’ s Who der Film- und Popmusikszene zählte, auch in dem Moment überzeugen, als die echten ABBA-Mitglieder, mittlerweile mit grauen Haaren und Gehstock, zum Dank an das Auditorium die Bühne betraten. Digitales Überleben Der zeitliche und finanzielle Aufwand, der für die erfolgreiche Realisierung der Show vonnöten war, beläuft sich auf rund sechs Jahre Vorbereitungszeit und ein Budget von Abb. 1: Die verjüngten Avatare von Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid performen die Show ABBA Voyage. 55 ABBAs Hologramm-Show. Mit ‚ Gestorbenem ‘ leben 175 Millionen Dollar. 4 Sogar die ABBA- Arena im Londoner Queen Elizabeth Olympic Park mit 3.000 Plätzen, bis mindestens 2024 an mehreren Tagen der Woche der Aufführungsort von ABBA Voyage, wurde eigens gebaut. Anders als im herkömmlichen Tournee-Geschäft, bei dem Künstler*innen ihr Publikum in aller Welt bereisen, pilgert im Jahr 2022 alle Welt für ABBA in ein Londoner Stadion und exemplifiziert damit in konstitutiver Umkehrung das Gleichnis des Berges, der zum Propheten kommt. Die performative Funktion des ABBA- Theatrons lässt sich darum mit derjenigen von kulturellen und religiösen Aufbewahrungsstätten wie Sakralbauten, Schreinen und dergleichen engführen, die ebenso Orte der Sammlung und Verehrung sind. Die ‚ ABBAtare ‘ fungieren im architektonischen Aufführungssetting als Reliquien, deren religiöse Bedeutung seit jeher auf einer paradoxen Zweideutigkeit gründet: Ähnlich den verehrungswürdigen Überresten sterblicher Körper stellen die Hologramme im Verhältnis zu ihren physischen Doppelgängern einerseits Formen von Unvollständigkeit dar. „ [E]chte Menschen sehen halt [ … ] immer noch besser aus “ 5 , räumte etwa eine Rezensentin im Rolling Stone-Magazin ein. Da die Avatare, weil konservier- und aktualisierbare Reliquien, die Menschen Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid jedoch überleben, kommt ihnen andererseits der Vorschein von Vollkommenheit zu. Aus diesem Grund bringt die ABBA-Show für Oliver Bendel, einen Experten für Avatar-Konzerte, sogar die mimetische Relation zwischen physischem Vorbild und digitalem Nachbild ins Wanken: „ Mit diesem Abbild brennt man uns etwas ins Gehirn. Und ich glaube, diese Avatare - wenn wir sie oft genug sehen - werden wir mehr erinnern als die Originale. Die werden Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte überleben. “ 6 Was Bendel zur Sprache bringt, ist der emblematische Ewigkeitswert, den die überlebensfähigen digitalen Nachbilder von ABBA Voyage verkörpern. Die stets auf dieselbe Art und Weise agierenden Avatare sind beliebig reproduzierbar und darum prinzipiell auch endlos konsumierbar. Sie erzeugen eine geistig-materielle Hyperrealität, die auch der von ihnen dargebotenen Musik das Wertprädikat der Zeitlosigkeit verleiht. Nicht mehr der vergängliche Klang, der eine „ meditatio mortis continua “ 7 ermöglicht, steht in den Konzerten offenbar im Zentrum. Der Klang erscheint vielmehr als ein zeitloses, statisches Medium, das Hörenden die virtuelle Überwindung existenzieller Grenzen ermöglichen soll. Die Londoner Arena, so die Veranstalter, „ is built around ABBA ’ s timeless music “ 8 . Musikalische Reproduktionstechnologien standen seit jeher im Dienst einer Entzeitlichung und Verewigung des vergänglichen Klangs und initiierten damit einen Paradigmenwechsel in der Idee von musikalischer Aufführung. Ein Effekt, den der Wandel des Aufführungsmediums weg vom menschlichen Körper hin zu technischen Instrumenten der Wiedergabe mit sich brachte, betrifft das Verhältnis zwischen Vorbild und Nachbild. Aufnahmen wurden immer mehr zum Maßstab für Aufführungen und ihr Qualitativ der Perfektion zur Richtschnur auch für das prinzipiell unvorhersehbare spatiotemporale Live-Geschehen vor Bühnenpublikum. Heute etwa gehört, um ein Beispiel zu geben, der Einsatz von Playback in Live-Shows längst zum Standard. Es ist denkbar, dass die körperliche Praxis des „ musicking “ 9 in Zukunft auch von „ multimedialen Konstellationen “ 10 wie ABBAtaren nachhaltig normiert wird und Hologramme nicht mehr als künstlerischer Verfremdungseffekt, sondern als ein Normalfall von performativer Anwesenheit empfunden werden. Von solchen Prozessen der Normalisierung und Naturalisierung des medialen Artefakts, die ins- 56 Magdalena Zorn besondere digitale mimetische Technologien im Feld der Kunst anstoßen können, ist die jüngere Popmusikgeschichte voll. Verlieh die Software Auto-Tune Chers Song „ Believe “ aus dem Jahr 1998, indem sie als Stilmittel eingesetzt wurde, noch eine ästhetische Signifikanz, so wird der Einsatz digitaler Tonhöhenkorrektur heute, da er zur Selbstverständlichkeit von Kulturindustrie geworden ist, von Hörenden gar nicht mehr unbedingt distinkt wahrgenommen. Das Beispiel soll darauf hinweisen, dass digitale Medien wie ABBA-Hologramme im Prozess ihrer gesellschaftlichen Normalisierung dazu tendieren können, sich selbst unsichtbar zu machen. Im Moment werden die ABBAtare noch am Verhalten ihrer sterblichen Vorbilder gemessen: „ Man glaubt, die vier Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne live zu sehen, und nicht nur ihre ‚ Abbatare ‘“ 11 . „ Ich konnte nicht glauben, dass sie nicht echt waren “ 12 . Oder: „ als könntest du rübergreifen, sie berühren “ 13 . Publikumsreaktionen wie diese bringen die Ungläubigkeit über die ‚ Unechtheit ‘ der Hologramme zum Ausdruck und erklären deren realistischen Effekt über Metaphern. Die Kommentare deuten zugleich an, dass sogar digitale Wesen als symbolische Verkörperungen von Lebendigkeit wahrgenommen werden können und ihr Gesang für Rezipierende so klingt, „‚ als wäre e[r] live ‘“ 14 . Dieser Realitätseffekt, den das ABBA-Mitglied Björn Ulvaeus mit Blick auf die eigene Show feststellte, basiert auf der Bereitschaft des Publikums, das fiktionale Szenario als uneigentliche Realität anzunehmen, dem, was Samuel Taylor Coleridge als willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit bezeichnete. 15 Seit Jean Baudrillards Theorie des Simulacrums dürfte jedoch klar geworden sein, dass es von hier aus nur mehr ein gradueller Schritt hin zu einer medialen Welterzeugung ist, die symbolische Trugbilder erschafft, die als eigentliche Realitäten angenommen werden. 16 Die ABBAtare bringen Metaphern von Lebendigkeit hervor, jedoch, wie sämtliche Reproduktionstechnologien, als Kehrseite auch eine diskursive Präsenz des Todes mit sich. Schon Thomas Alva Edison verstand den von ihm erfundenen Phonographen, der zum Schlüsselinventar der im 20. Jahrhundert aufkommenden Musikindustrie gehört, als Kommunikationsmittel zwischen Toten und Lebendigen. Die Audioaufzeichnung war für ihn ein Instrument, um die Stimmen von Verstorbenen festzuhalten und deshalb eine Möglichkeit, die Grenzen des Todes zu überwinden. Dementsprechend bewarb er sein Produkt 1878 in The North American Review mit folgender rethorischer Frage: „ Can economy of time and money go further than to annihilate time and space, and bottle up for posterity the mere utterance of man [ … ]? “ 17 Dem Umstand, dass Reproduktionen, gerade weil sie vergegenwärtigende Zeugnisse für die Lebenden sind, vom Tod sprechen, widmete Roland Barthes 1980 sein Buch über Fotografie. 18 Der von Barthes in La chambre claire zur Sprache gebrachten Dialektik zwischen Erinnerung und Todesbedenken sind neben Fotografien genauso Tonträger unterworfen, die die Opernstimme einer Verstorbenen festhalten, oder Hologramm-Konzerte, die bis in die jüngste Zeit hinein nicht lebenden, sondern „ toten Musikern “ 19 gewidmet waren. Auch die verstorbene Operndiva Maria Callas etwa erlebte dabei ihre Auferstehung als Hologramm (Abb. 2). Die ABBAtare künden demgegenüber im Modus einer zukünftigen Vergangenheit davon, dass ABBA einmal ‚ gestorben sein wird ‘ . Indem die Hologramme die Mitglieder der Popband verjüngen, legen sie bereits zu deren Lebzeiten Zeugenschaft über ihr unwiederbringliches „ Es ist so gewesen “ 20 ab. Die digitalen Simulacren bekräftigen dabei nicht nur futuristisch 57 ABBAs Hologramm-Show. Mit ‚ Gestorbenem ‘ leben das Gestorbensein der Band und die zukünftige „ Verzichtbarkeit “ 21 ihrer humanen Verkörperung, sondern auch die Uneinholbarkeit von längst abgeschlossenen kreativen Prozessen. Der Komponist Daniel Weissberg hat auf eine in diesem Zusammenhang instruktive Formulierung aus der Praxis der Schallaufzeichnung hingewiesen: „‚ Gestorben ‘ nennt man eine Aufnahme, wenn sie abgeschlossen ist und die Interpretinnen und Interpreten nicht länger benötigt werden. “ 22 Da auch die ABBAtare ihre menschlichen Verursachungen nicht mehr brauchen, sind sogar sie selbst bereits ‚ gestorben ‘ und markieren in konstitutiver Weise eine Abwesenheit von Liveness, die in Aufführungen stets als „ index of humanness “ 23 fungiert. Atmosphärische Liveness Wie gehen die Konzertbesucher*innen des Londoner Spektakels mit dieser umfassenden Präsenz des Todes um? In Anbetracht der fundamentalen ‚ Abwesenheit ‘ der ABBAtare ist es sogar bemerkenswert, dass sie keine Kosten und Mühen scheuen, um selbst ‚ anwesend ‘ zu sein. Individuen begeben sich in Gemeinschaft, um in Echtzeit Avataren zuzujubeln, obwohl es diesen ‚ Überlebenden ‘ versagt bleibt, entsprechend auf den Jubel zu reagieren. Die Feedbackschleife zwischen Bühne und Publikum, die mit Erika Fischer-Lichte wesentlich für Live- Aufführungen ist, weil sie Unvorhersehbarkeit und Kontingenz durch die Anwesenheit von Lebenden erzeugt, 24 scheint allem Anschein nach empfindlich gestört. Woher kommt der nichtsdestoweniger hohe Grad an Involvierung vonseiten des Auditoriums? Wie geht das rezipierende Subjekt mit der nicht vorhandenen Responsivität der Avatare um? Eine Antwort kann der ästhetische Begriff der ‚ Atmosphäre ‘ geben, der inmitten der Gestorbenen aufseiten des Publikums dennoch eine Erfahrung von Liveness ermöglicht. Ästhetische Definitionen von ‚ Atmosphäre ‘ fassen einen Vorgang, in dem Beziehungen zwischen Subjekten und Umwelten in differenzlose Gefüge übergehen. So versteht Gernot Böhme die Atmosphäre etwa als „ gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen “ 25 und entwirft damit einen unteilbaren ästhetischen Raum, in dem die Trennung zwischen Subjekt und Umgebung, ihrerseits Voraussetzung für den kantischen Begriff der Ästhetik, 26 ihren Stellenwert verliert. Der Medienwissenschaftler Paul Roquet spitzte diese Idee noch erheblich zu: In ‚ Atmosphären des Selbst ‘ 27 wird der äußere Umgebungsraum zur Funktion des affektiven Ichs. Die Hülle der Erde, die Newtons Begriff der ‚ Atmosphäre ‘ meint, und die der Vermittlung von Licht- und Schallwellen dient, so Roquets Idee, wird zum Medium des Individuums, das die Umwelt für seine Zwecke inhaliert. Roquet entwickelte seine Vorstellung im Kontext einer Medienkunst, die mit apparativen Strategien eine solche Umwertung befördert, etwa Videos, die mit repetitiven Strukturen für Entspannung sorgen, oder die Praxis der Kopfhörermusik, die das Subjekt in seine eigene „ auditory bubble “ 28 einschließt. Die neoliberale Gefühlskultur Abb. 2: Maria Callas als Hologramm gibt in Begleitung eines Live-Orchesters ein Konzert vor Publikum in der Pariser Salle Pleyel. 58 Magdalena Zorn stellt unentwegt neue Techniken bereit, die es Subjekten erlauben, mithilfe ästhetischer Environments die eigenen individualistischen Erfahrungsräume auszuweiten. Der Begriff der ‚ Liveness ‘ bleibt von diesem atmosphärischen Aufführungsbegriff nicht unberührt. „ The quality or condition of being alive “ 29 entsteht in der Atmosphäre, weil der ästhetische Rezeptionsvorgang eine ganz bestimmte Erlebnisqualität erzeugt. Im Modus eines „ emotional attunement “ 30 resoniert das Individuum dabei mit seiner Umwelt. Im Unterschied zu reflektierenden Handlungen, bei denen die Distanz zwischen beidem bestehen bleiben muss - ohne die Autonomie des Außenraums gibt es keine Reflexion, kein Echo - , kreieren resonierende Zustände unauflösliche Verbindungen. Das Subjekt schwingt mit dem ästhetischen Raum mit, 31 macht sich auf diese Weise zu seinem Zentrum und lässt die Stimmung der Sphäre in ‚ seine ‘ Stimmung invertieren. Die Idee von Liveness verwandelte sich stets im Gefolge medialer Entwicklungen. Erst seit der Entwicklung von Reproduktionstechnologien kam überhaupt die Praxis auf, über ästhetische An- und Abwesenheit zu sprechen, 32 und mit jeder medialen Erfindung wurde die Definition von ‚ live ‘ an neue Gegebenheiten ästhetischer Erfahrung angepasst. Zwar mag musikalische Liveness heute immer noch in jener „ actual, direct, live experience “ 33 der Rezipierenden begründet sein, die der Musikwissenschaftler Jonathan Dunsby 2001 im Eintrag „ Performance “ des Oxford Music Online als humane Universalie beschrieb. Medienkontakt jedoch steht dieser Erfahrung von Unmittelbarkeit schon seit dem 20. Jahrhundert nicht mehr im Weg. Besonders deutlich führen dies im intermedialen Spektrum die filmischen und fotografischen Medialisierungspraktiken von Performance-Künstler*innen vor. Die apparative Verewigung machte aus der proklamierten Einmaligkeit und Flüchtigkeit von Aufführungen immer schon einen Mythos. Zugleich lenkte sie die Aufmerksamkeit auf die Kopplung von Liveness und Medialität. Durch den historischen Wandel von Wahrnehmungsdispositiven wurde die unmittelbare Erfahrung schließlich sogar in digitalen Räumen möglich. Die Vorstellung von Echtzeit-Produktion wich dabei konsequent derjenigen von Echtzeit- Rezeption. Liveness ist heute „ the quality or condition (of an event, performance, etc.) of being heard, watched, or broadcast at the time of occurrence “ 34 . Lebendigkeit im digitalen Zeitalter also entsteht aus der Echtzeit von Rezipient*innen heraus: als „ perception of liveness “ 35 . Überträgt man den atmosphärischen Liveness-Begriff auf ABBA Voyage, so gelten die resonierenden Handlungen des Publikums, ihr Jubeln, Kreischen und Weinen oder die körperliche Äußerung des Tanzens, nicht in erster Linie den gestorbenen AB- BAtaren. Diese Verjüngten fungieren vielmehr als Apparate, die Subjekten im Auditorium dabei behilflich sein können, ein Gefühl eigenen Lebendigseins zu kreieren. Die apparative Strategie der Verlebendigung - die optische Mimesis der Hologramme an die ‚ abgestorbene ‘ Blütezeit der Band - führt aufseiten des Publikums zur Vergegenwärtigung musikalischer Erlebnisse, die in der Vergangenheit liegen. Insbesondere die ‚ Fans von damals ‘ , wie ABBA im „ Herbst ihres Lebens “ 36 angekommen, machen verstärkt von der Praxis des ‚ Lebendigens ‘ 37 Gebrauch. Diese Gruppe ästhetisch Wahrnehmender belebt im Wiederhören der altbekannten Musik ihr eigenes ‚ gestorbenes ‘ Leben, erzeugt eine Echtzeit aus Erinnerung, die als Atmosphäre des Ichs, als Raum der Selbsterfahrung zur Aufführung gelangt. In solcher Selbstzentrierung im Aufführungsraum, mit der ein extensives, Vergangenheit und Gegenwart verkoppelndes Zeiterleben einhergeht, das Totes wieder lebendig macht, finden Rezipierende von ABBA 59 ABBAs Hologramm-Show. Mit ‚ Gestorbenem ‘ leben Voyage eine Form von „ (kausaler) Realisierung “ 38 vor, die Virtualität in uneigentliche, aber nichtsdestoweniger intensiv erlebte Realität kippen lässt. Der Vanitas-Diskurs dient dabei auf widersprüchliche Weise als Bezugsgröße: Einerseits zeigt sich, da die drohende Zukünftigkeit des Endens zu fehlen scheint, eine umgekehrte Form von Vergänglichkeit. Andererseits wird Vanitas gerade durch den Auftritt der verjüngten ABBAtare nolens volens beschworen. Reflexive Differenzen Das enthusiastische Live-Publikum der Show muss jedoch nicht unbedingt unaufhörlich mit der virtuellen Bühnenrealität resonieren, sondern kann sich für Momente auch in einer dem atmosphärischen Erfahren entgegengesetzten Weise in das Geschehen der Toten involvieren: durch Distanznahme zum Ereignis selbst. Das geschieht etwa, indem eine Einzelne die spezifisch virtuellen Angebotsbestimmungen des Konzerts, nämlich sich von Avataren in Enthusiasmus versetzen zu lassen, kritisch hinterfragt. Das tat während einer der Vorstellungen die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel, die für verschiedene deutschsprachige Medien von ABBA Voyage berichtete: Es gibt einen Moment, in dem plötzlich die Selbstreflexion einsetzt. Ein Moment, in dem ich mich frage: Was mache ich hier eigentlich? Die Antwort lautet: Ich jubele mit etwa 3000 anderen Menschen einer Projektion zu. Kreischende Begeisterung über 90 Minuten für die Lichtreflexion von vier Menschen auf einer Bühne. Ich habe sogar ein Poster gekauft - ein Poster, auf dem eine Projektion abgebildet ist, die Menschen zeigt, wie sie vor 35 Jahren einmal ausgesehen haben. 39 Meckel stellt die Absurdität ihrer eigenen Präsenz und zugleich ihre Faszination an dem Spektakel fest. Sie befragt ihre eigenen Beweggründe, Hologramme wie humane Popstars zu behandeln. Ihre Selbstbefragung wirkt in der Untersuchung der Liveness von ABBA Voyage wie ein Kontrastmittel: in den Atmosphären des Selbst findet eine Erkenntnissuche statt. Diese intentionale Geste gilt der Frage nach dem Standpunkt des Subjekts in der technologisierten Welt selbst und letztlich einem zentralen philosophischen Anliegen. Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy war einer jener Denker des Humanen, der das Subjektsein jenseits seiner Grenzen, im Außenraum der Technisierung verortete. In der Öffnung hin zur Technologie begreift der Mensch mit Nancy „ the exas proper “ 40 . Die humane Erkenntnis des Selbst-als-Außen hat eine Umwelt zur Bedingung, Technologie stößt in ihr eine „ Hermeneutik des Möglichen “ 41 an. In diesem Vorgang der Selbstauslegung verschieben sich nicht nur die Grenzbedingungen subjektiver Existenz permanent nach außen, sondern auch die Antworten auf die Frage „ Wer bin ich? “ sind kontinuierlich im Fluss. Dabei erkennt das Subjekt letzten Endes, dass ihm die Definition von sich selbst immer wieder von Neuem abhandenkommt, woraus eine produktive Verunsicherung resultiert. Dass sogar Projektionen aus Licht wie Menschen wirken können, ist eine der zentralen, aus existentieller Verunsicherung rührenden Erkenntnisse, die die Londoner ABBA-Show möglich macht. Was macht es aus, im Unterschied zu Hologrammen ein Wesen aus Fleisch und Blut zu sein? Worin unterscheiden sich Darbietungen von Menschen und Darbietungen von Avataren? Mit solchen genuin subjektphilosophischen Fragen, die den eigenen humanen Standort bestreffen, geht ein Riss durch das atmosphärische Erfahren. ABBA Voyage wird für Momente zum Raum der Reflexion und seine Avatare zu Spiegeln oder Echos, die dem Subjekt ein 60 Magdalena Zorn Bild, einen Widerhall zurückwerfen. In diesem Kommunikationszusammenhang zwischen Menschen und Maschinen dominieren Ähnlichkeitsbeziehungen: Die „ Selbstverständigung “ 42 des Subjekts nimmt an dem Umstand Anstoß, dass die ABBAtare ihm (zu) ähnlich sind. Erst die Erkenntnis über diese mimetische Relation sorgt für die Suche nach Differenz. Nicht nur die Lebendigkeit der Hologramme wird dabei fraglich, sondern insbesondere auch die menschenähnliche Bindung, die der Mensch für neunzig Minuten zu ihnen aufnimmt. Im Sinne der Aufforderung, die am Tempel des Apollo in Delphi geprangt haben soll, rufen ihm die Avatare gleichsam zu: „ Erkenne dich selbst! “ . In der Reaktion auf diesen Imperativ, der aus der Erfahrung von Ähnlichkeit hervorgeht, zieht das denkende und fragende Subjekt die entscheidende Differenz zur Umwelt wieder ein, die die Atmosphäre des Selbst verwischt. Der Gewissheit darüber, selbst ein Mensch zu sein, steht nun das Staunen darüber gegenüber, Objekte aus Licht so zu behandeln, als wären sie Menschen. So ermöglicht der Einsatz der Hologramm-Technologie in ABBAs neuer Bühnenshow eine Differenzerfahrung, die aus Handlungen der Reflexion und Selbstreflexion resultiert. Weniger die Gruppe der treuen ABBA-Fans als jene der technologisch affinen und an den neuesten ästhetischen Innovationen der digitalen Welt interessierten Besucher*innen konsultiert das Londoner Event sogar von Anfang an aus diesem reflexiven Erkenntnisinteresse heraus, bei dem sich das Subjekt mithilfe eines technologischen Gegenübers definiert. Dabei werden die ABBAtare, in den Worten des Musikwissenschaftlers David Trippett, behandelt „ as pilgrims once treated the high priestess Pythia, the fabled oracle of Apollo ’ s Temple at Delphi: a venue for the self ’ s unknowability “ 43 . Was Trippet in seiner Untersuchung von digitalen Stimmen wie Siri oder Alexa auf diese Weise unterstreicht, den Umstand nämlich, dass künstlichen Intelligenzen häufig die Autorität von Offenbarung zukommt, gilt ungebrochen für ABBA Voyage: Posthumane Agency wirbt hier zwar nicht mit dem Angebot, Individuen mit lebenspraktischen Ratschlägen zur Seite zu stehen, dafür aber mit dem Versprechen, mehr über diese zu wissen als diese selbst. 44 Indem Einzelne auf den Imperativ der Avatare, ihr ‚ Gnothi seauton ‘ reagieren, entsteht eine Liveness außerhalb des atmosphärischen Raums. Der Prozess dieses Entstehens hat allerdings zur Voraussetzung, dass das Subjekt das nicht-humane Gegenüber als ‚ präsent ‘ und ‚ anwesend ‘ akzeptiert. Mit dem Medienwissenschaftler Philip Auslander fordern virtuelle Artefakte häufig von uns ein, so behandelt zu werden, als wären sie live. Diese Forderung erheben Suchmaschinen, Homepages und Bots, indem sie suggerieren, in Echtzeit eine Antwort auf unsere Fragen parat zu haben. 45 Unter der Bedingung, dass ABBAtare dem Publikum anders als Suchmaschinen, Homepages oder Bots kein sprachähnliches Feedback geben, ist Auslanders Beobachtung auch für das Londoner Konzerterlebnis instruktiv - , das zeigt sich an einer Reaktion wie derjenigen der Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel. Das digitale Orakel äußerst sich dabei nicht über sprachliche Verlautbarungen, wie dies auch menschliche Künstler*innen auf der Bühne für gewöhnlich zu tun pflegen, sondern es macht stattdessen ein Reflexionsangebot. An die Stelle von Resonanz, in der die Umwelt als Auslöser eines individuellen Mitschwingens und einer Erfahrung des Selbst fungiert, tritt die reflexive Involvierung in das digitale Andere. Diese bewirkt jedoch nicht nur das selbstgewisse Nachdenken über das Humane, sondern eine Exzentrierung des eigenen Standpunkts, der ein anthropozentrisches Weltbild offenbart. 61 ABBAs Hologramm-Show. Mit ‚ Gestorbenem ‘ leben Leben unter den Zwängen des Raumes Definitionsgemäß weiß ein Orakel mehr als seine Gesprächspartner*innen; seine Intelligenz wäre damit uneinholbar von der Selbstreflexion des Subjekts. Das Bild des Orakels weist auf ein Dilemma hin, in dem sich der Humanismus aus posthumanistischer Perspektive befindet. Die Theorie des Posthumanismus, die die ABBAtare konkretisieren, richtet sich ostentativ gegen das autonome menschliche Subjekt und sucht es durch Entwürfe von alternativen Intelligenzen zu verdrängen. 46 Dem posthumanistischen Diskurs gilt deshalb auch jegliche Form von autopoietischer Selbstkonstitution als wirklichkeitsfremd. Was Wirklichkeit ist, so die Ansicht, lässt sich nicht vom isolierten humanen Standpunkt aus beschreiben. Die Debatte begegnet jenen, die lebendtote Hologramme als Reflexionen und Projektionen von Subjektivität begreifen, mit dem Verweis auf einen anthropozentrischen Confirmation Bias, der die Tatsachen verzerrt. Die umfassende Kritik am humanen Korrelationismus, der Welt als das vom Menschen Wahrnehmbare sowie ‚ Lebendigkeit ‘ als Effekt subjektiver Selbsterfahrung und Selbstbefragung beschreibt, bestimmt nicht nur posthumanistische Positionen, sondern seit geraumer Zeit auch die ökologische Debatte. Unter dem Schirmbegriff der ‚ Ökologie ‘ , die laut ihrem Namensgeber Ernst Haeckel die „ Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt “ 47 darstellt, wird für einen Umweltbegriff argumentiert, in dem sich der Mensch umfassend von sich selbst exzentriert. Zu den Protagonist*innen dieser ökologischen Bewegung gehört etwa die Biologin und Gendertheoretikerin Donna Haraway. In ihrem jungen, aber bereits heute schon zum Klassiker avancierten Buch Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene aus dem Jahr 2016 wendet sie sich explizit gegen jene Autopoiesis, die das philosophische Subjektdenken seit Kant prägt. „ Nothing makes itself “ , so Haraway, „ nothing is really autopoietic or self-organizing “ 48 . Haraways Plädoyer für ein ‚ Making-with ‘ gründet demgegenüber auf einem von allen Lebewesen gemeinsam gestalteten, ‚ sympoietischen ‘ Leben. 49 Skizziert wird ein artenübergreifender Modus der Miterfahrung, mit dem auch eine multilaterale Perspektivenübernahme einhergehen soll. Zur Symbolisierung eines solchen wechselseitig dynamischen Kommunikationszusammenhangs greift die Autorin auf den Vorgang der Kompostierung zurück, der nicht auf genetischen Beziehungen, sondern auf Verwandtschaftsverhältnissen ( ‚ kin ‘ ) mit dem Fremden beruht. 50 Aufgerufen ist damit eine Idee von gemeinsamem Tod und gemeinsamer Wiedergeburt, die sich sogar vom Posthumanismus, der das Humane begrifflich noch integriert, so weit wie möglich distanziert. So kulminiert Haraways manifestartiges Gedankengebäude in der Losung: „ We are compost, not posthuman; we inhabit the humusities, not the humanities. Philosophically and materially, I am a compostist, not a posthumanist. “ 51 Ihre normative Empfehlung, sich als Mensch gemeinsam mit anderen Lebewesen dem biologischen Ablauf der Kompostierung zu fügen, ist allerdings voraussetzungsreich, denn das humane Wesen müsste dazu breit sein, sich selbst ‚ abzubauen ‘ . Denkt man den Kreislauf der Allverwandtschaft konsequent zu Ende, so fällt ihm auch die Differenz zwischen Organismus und Umwelt zur Gänze zum Opfer. Der Vorgang der Entdifferenzierung im Prozess der Kompostierung betrifft nicht nur dieses Verhältnis zwischen Organismus und Raum, sondern letztlich das Unterschiedene selbst: Auch die Dichotomie von Subjektivität und Digitalität, von Lebendigkeit und Tod verschwindet mit ihm. Die für ökologische Theorien typischen, „ normative[n] Implikationen “ 52 weist das Buch des Philosophen Timothy Morton 62 Magdalena Zorn mit dem Titel Hyperobjects. Philosophy and Ecology after the End of the World aus dem Jahr 2013 auf. Die Schrift ist von Anfang bis Ende räumlichen Gebilden gewidmet, denen Objektivität zukommen soll. Paradefälle von Hyperobjekten sieht Morton nicht nur in der Klimaerwärmung, sondern auch in der Musik: Beide Phänomene überragen die Dimensionen des humanen Denkens und seien diesem deshalb nur in Form von indexikalischen Zeichen zugänglich. Die Indices des Klangs etwa, seine Schwingungen und Frequenzen, begreift der Autor zudem nicht nur als bloße Zeichen von Objektivität, sondern auch als Quellen humaner ästhetischer Praxis: Die Formen von Lebendigkeit, die das Subjekt in ABBA Voyage aus der Selbsterfahrung und Selbstreflexion heraus erzeugt, wären, mit Morton gesprochen, von numerischen Relationen, zählbaren Proportionen, digitalen Intelligenzen determiniert, einer platonistischen „‚ non-music ‘“ 53 also, die als außerzeitliche Instanz das Gesetz ästhetischer Wahrnehmung bereits in sich trägt. Versteht man Musik als ökologisches Hyperobjekt, dann involviert sie das Subjekt letztlich in eine Relation der Asymmetrie: Nicht der erfahrende und reflektierende Mensch schreibt seiner Umwelt dabei ästhetische Bedeutung zu, sondern der Raum selbst ist bedeutend. Ökologische Utopien, die für die Herrschaft des Raumes über das humane Subjekt argumentieren, bekräftigen einen Mechanismus, den der französische Philosoph und Soziologe Roger Caillois anhand mimetischer Praktiken im Tierreich beschrieben hat. Der Blattschmetterling, der sich in Farbe und Form an die Büsche angleicht, die er anfliegt, löst seine Differenz zur Umwelt bis zur Unkenntlichkeit auf. Mit Caillois kommen dabei jedoch nicht evolutionäre Anpassungsleistungen zum Tragen, sondern eine Zwangshandlung, die aus dem Gefühl eigener Unvollkommenheit resultiert. Ein empfundener Mangel veranlasse das Lebewesen zur „ Angleichung an die Umgebung “ 54 . Der Élan vital gibt einem „ Trieb zur Selbstaufgabe “ 55 nach, der Organismus wird zum Raum und zum „ enteigneten Wesen “ 56 . „ Leben weicht “ , so resümiert Caillois diesen aus Angst geborenen Mechanismus der Evolution, „ um eine Stufe zurück “ 57 . Indem ökologische Diskurse für die Angleichung des Lebens an den Kreislauf und die Autorität des Raumes plädieren, bringen sie in das humane Denken über das Nicht- und Posthumane eine Aporie. Aporetisch ist der Umstand, dass der Aufruf zur humanen Exzentrierung in räumliche Gefüge aus den Mündern von selbsterfahrenden und sich selbst befragenden Subjekten ertönt. Bekräftigt wird auf diese Weise ein humaner Korrelationismus, der verworfen werden soll. Gegen diesen selbstreferentiellen Mechanismus humanen Denkens kommt das Denken selbst weder im Namen der Wissenschaft noch in der Ästhetik an. Die Spielräume der Erfahrung und Reflexion, die die ABBAtare dem Publikum ermöglichen, sind nicht das Produkt von künstlichen Intelligenzen, sondern das Resultat einer ästhetischen Praxis, mit der sich der Mensch seine virtuelle Umwelt unterwirft. Es mag sich in der Tat so verhalten, dass digitale Orakel klüger sind als diejenigen, die sie befragen. Klüger sind sie bislang jedoch nur deshalb, weil jene fragen. Abbildungen Abb. 1: Die verjüngten Avatare von Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid performen die Show ABBA Voyage. Film-Still zum Video „ ABBA Voyage - Official First Look Trailer “ , https: / / www.youtube.com/ watch? v=iEikjzZO2 N8 (0: 24) [Zugriff am 15.09.2022]. Abb. 2: Maria Callas als Hologramm gibt in Begleitung eines Live-Orchesters ein Konzert vor Publikum in der Pariser Salle Pleyel. 63 ABBAs Hologramm-Show. Mit ‚ Gestorbenem ‘ leben Film-Still zum Video „ Astonishment as hologram, live orchestra put Callas back onstage “ , https: / / www.youtube.com/ wat ch? v=ieTsKYg1_Qo (0: 17) [Zugriff am 15.09.2022]. Anmerkungen 1 ABBA Voyage, https: / / abbavoyage.com/ [Zugriff am 15.09.2022]. 2 Vgl. „ Abba-Konzert als Hologrammshow. Für immer jung “ , https: / / www.deutschland funkkultur.de/ abba-als-avatare-100.html [Zugriff am 15.09.2022]. 3 Richard Wagner, „ Parsifal. Ein Bühnenweihfestspiel “ , in: Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen 10, Leipzig 1911, S. 324 - 375, hier S. 339. 4 Vgl. Alex Marshall, „ Abba Returns to the Stage in London. Sort Of “ , https: / / www.ny times.com/ 2022/ 05/ 27/ arts/ music/ abba-voya ge-london.html [Zugriff am 15.09.2022]. 5 Sassan Niasseri, „‚ Abba: Voyage ‘ in London. Was die Abbatare können, was sie nicht können “ , https: / / www.rollingstone.de/ kritik-ab ba-voyage-in-london-was-die-abbatare-koen nen-was-sie-nicht-koennen-2452455/ [Zugriff am 15.09.2022]. 6 Zit. nach „ Abba-Konzert als Hologrammshow. Für immer jung “ . 7 Adam von Fulda, „ Musica “ (1490), in: Martin Gerbert (Hg.), Scriptores Ecclesiastici de Musica Sacra Potissimum 3, Sankt Blasien 1784, S. 329 - 381, hier S. 335. 8 ABBA Voyage. 9 Vgl. Christopher Small, Musicking: The Meanings of Performing and Listening, Middletown 1998. 10 Nicholas Cook, „ Klang sehen, Körper hören. Glenn Gould spielt Weberns Variationen für Klavier “ , in: Katrin Eggers/ Christian Grüny (Hg.), Musik und Geste. Theorien, Ansätze, Perspektiven, München 2018, S. 71 - 88, hier S. 74. 11 Miriam Meckel, „ Sein oder Nichtsein. Die Virtualisierung der Unterhaltungsbranche “ , https: / / www.handelsblatt.com/ meinung/ ko lumnen/ kreative-zerstoerung/ kolumne-krea tive-zerstoerung-sein-oder-nichtsein-die-vir tualisierung-der-unterhaltungsbranche/ 2860 1652.html [Zugriff am 15.09.2022]. 12 „ ABBA-VOYAGE PREMIERE. Fans begeistert - Erstmals singen die ‚ Abbatare ‘ in London “ (02: 28), https: / / www.youtube.com/ wat ch? v=PVNJCSZf1ZE [Zugriff am 15.09. 2022]. 13 Ebd., (02: 13). 14 Zit. nach dpa/ che, „‚ Ziemlich live ‘ mit den Abbataren. Comeback dank ‚ Star Wars ‘ - Technik “ , https: / / www.bluewin.ch/ de/ enter tainment/ comeback-dank-star-wars-tech nik-1234468.html [Zugriff am 15.09.2022]. 15 Vgl. Samuel Taylor Coleridge, Biographia Literaria, or, Biographical Sketches of my Literary Life and Opinions 2, New York 1817, S. 4. 16 Vgl. Jean Baudrillard, Agonie des Realen, übers. Lothar Kurzawa und Volker Schaefer, Berlin 1978. 17 Thomas Edison, „ The Phonograph and its Future “ , in: The North American Review 126/ 262 (1878), S. 527 - 536, hier S. 536. 18 Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie (La chambre claire, 1980), übers. Dietrich Leube, Frankfurt am Main 1985, S. 87. 19 Niasseri, „‚ Abba: Voyage ‘ in London “ . 20 Barthes, Die helle Kammer, S. 87. 21 Daniel Weissberg, „ Gestorben! Aufzeichnungsmedien als Friedhöfe. Warum Aufnahmen sterben müssen “ , in: Michael Harenberg/ Daniel Weissberg (Hg.), Klang (ohne) Körper. Spuren und Potentiale des Körpers in der elektronischen Musik, Bielefeld 2010, S. 201 - 216, hier S. 204. 22 Ebd., S. 201. 23 Paul Sanden, „ Rethinking Liveness in the Digital Age “ , in: Nicholas Cook/ Monique M. Ingalls/ David Trippett (Hg.), The Cambridge Companion to Music in Digital Culture, Cambridge 2019, S. 178 - 192, hier S. 185. 24 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 67. 25 Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995, S. 34. 26 Das Ästhetische ist mit Kant als „ das Verhältnis der Vorstellungskräfte “ , die das Subjekt seiner Umwelt imprägniert. Vgl. Imma- 64 Magdalena Zorn nuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), hg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, § 11. 27 Vgl. Paul Roquet, Ambient Media. Japanese Atmospheres of Self, Minneapolis/ London 2016. 28 Michael Bull, „ Investigating the Culture of Mobile Listening: From Walkman to iPod “ , in: Kenton O ’ Hara/ Barry Brown (Hg.), Consuming Music Together. Social and Collaborative Aspects of Music Consumption Technologies, Dordrecht 2006, S. 131 - 149, hier S. 133. 29 „ liveness, n. “ , in: Oxford English Dictionary, https: / / www-1oed-1com-10012712w1c23.e media1.bsb-muenchen.de/ view/ Entry/ 10932 0? redirectedFrom=Liveness#eid [Zugriff am 15.09.2022]. 30 Roquet, Ambient Media, S. 2. 31 Vgl. Veit Erlmann, Reason and Resonance. A History of Modern Aurality, New York 2010, S. 10. 32 Vgl. Philip Auslander, „ Live from Cyberspace. Or, I Was Sitting at My Computer This Guy Appeared He Thought I Was a Bot “ , in: A Journal of Performance and Art 24/ 1 (2022), S. 16 - 21, hier S. 16. 33 Jonathan Dunsby, „ Performance “ , in: Oxford Music Online, https: / / doi-org.emedien.ub.u ni-muenchen.de/ 10.1093/ gmo/ 97815615926 30.article.43819 [Zugriff am 15.09.2022]. 34 „ liveness, n. “ . 35 Sanden, „ Rethinking Liveness in the Digital Age “ , S. 183. 36 Niasseri, „‚ Abba: Voyage ‘ in London “ . 37 „ lebendigen, verb. “ , in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/ 21, https: / / www.woerterbuch netz.de/ DWB? lemid=L02600 [Zugriff am 15.09.2022]. 38 Jörg Noller, „ Philosophie der Digitalität: Realität - Virtualität - Ethik “ , in: Uta Hauck-Thum/ Jörg Noller (Hg.), Was ist Digitalität? Digitalitätsforschung/ Digitality Research, Berlin/ Heidelberg 2021, https: / / doi. org/ 10.1007/ 978 - 3-662 - 62989 - 5_4, S. 39 - 54, hier S. 45. 39 Meckel, „ Sein oder Nichtsein “ . 40 Jean-Luc Nancy, „ Our World. An Interview, in: Angelaki 8/ 2 (2003), S. 43 - 54, hier S. 51. Vgl. Erich Hörl, „ Die künstliche Intelligenz des Sinns. Sinngeschichte und Technologie im Anschluss an Jean-Luc Nancy “ , in: ZMK. Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2 (2010), S. 129 - 147. 41 Armin Grunwald, „ Technik als Transformation von Möglichkeitsräumen. Technikphilosophie anders gedacht “ , in: Philipp Richter/ Jan Müller/ Michael Nerurkar (Hg.), Möglichkeiten der Reflexion. Festschrift für Christoph Hubig, Baden-Baden 2018, S. 203 - 216, hier S. 209. 42 Vgl. dazu Daniel Martin Feige, Kunst als Selbstverständigung, Münster 2012. 43 David Trippett, „ Digital Voices. Posthumanism and the Generation of Empathy “ , in: Nicholas Cook/ Monique M. Ingalls/ David Trippett (Hg.), The Cambridge Companion to Music in Digital Culture, Cambridge 2019, S. 227 - 248, hier S. 241. 44 Vgl. ebd. 45 Vgl. Philip Auslander, „ Digital Liveness. A Historico-Philosophical Perspective “ , in: A Journal of Performance and Art 34/ 3 (2012), S. 3 - 11, hier S. 9. 46 Vgl. Trippett, „ Digital Voices “ , S. 234. 47 Ernst Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen 2, Berlin 1866, S. 286. 48 Donna J. Haraway, Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham/ London 2016, S. 58. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 120. 51 Ebd., S. 97. 52 Georg Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe 3, Stuttgart 2011, S. 701. 53 Timothy Morton, Hyperobjects. Philosophy and Ecology after the End of the World. Minneapolis/ London 2003, S. 188. 54 Roger Caillois, „ Mimese und legendäre Psychasthenie “ ( „ Mimétisme et psychasthénie légendaire “ , 1935), in: Roger Caillois, Méduse & C ie , übers. Peter Geble, Berlin 2007, S. 24 - 43, hier S. 35. 55 Ebd., S. 39. 56 Ebd., S. 36. 57 Ebd., S. 37. 65 ABBAs Hologramm-Show. Mit ‚ Gestorbenem ‘ leben
