eJournals Forum Modernes Theater 34/1

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0008
61
2023
341 Balme

Do you get the #vibe?

61
2023
Tanja Prokić
Als alltagsnahe Konvention für unsagbare, subkutane Stimmungen hat sich mit den Sozialen Medien der Ausdruck ‚Vibe‘ etabliert, der im zugehörigen Hashtag Konjunktur hat. Was differenziert sensorisch erfahrbar ist, sich aber einer begrifflichen Festlegung verwehrt, bleibt durch die Kennzeichnung als ‚Vibe‘ offen für Assoziationen und Eindrücke. Gerade weil der Vibe ein indexikalisches Verhältnis zu einer sinnlich erlebten Wirklichkeit unterstellt, weist er eine Nähe zu installativen Künsten auf, die uns durch die Kreation von Atmosphären sinnlich involvieren, ohne eine eindeutige Bedeutung nahezulegen. Seit einigen Jahren tut sich auch in der Theorielandschaft die Forderung kund, den Atmosphären und Stimmungen von (literarischen, theatralen, filmischen, skulpturalen, musikalischen, architektonischen etc.) Kunstwerken und Objekten mehr Aufmerksamkeit einzuräumen. Die folgenden Ausführungen nehmen diese gehäufte Präsenz des ‚Vibe‘ in unterschiedlichen Zusammenhängen von der Theorie über die Kunst bis in die Alltagskultur zum Anlass einer konstellativen Analyse, um den Vibe als spezifische Wissensfigur in Betracht zu ziehen.
fmth3410080
Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre Tanja Prokic´ (München) Als alltagsnahe Konvention für unsagbare, subkutane Stimmungen hat sich mit den Sozialen Medien der Ausdruck ‚ Vibe ‘ etabliert, der im zugehörigen Hashtag Konjunktur hat. Was differenziert sensorisch erfahrbar ist, sich aber einer begrifflichen Festlegung verwehrt, bleibt durch die Kennzeichnung als ‚ Vibe ‘ offen für Assoziationen und Eindrücke. Gerade weil der Vibe ein indexikalischesVerhältnis zu einer sinnlich erlebten Wirklichkeit unterstellt, weist er eine Nähe zu installativen Künsten auf, die uns durch die Kreation von Atmosphären sinnlich involvieren, ohne eine eindeutige Bedeutung nahezulegen. Seit einigen Jahren tut sich auch in der Theorielandschaft die Forderung kund, den Atmosphären und Stimmungen von (literarischen, theatralen, filmischen, skulpturalen, musikalischen, architektonischen etc.) Kunstwerken und Objekten mehr Aufmerksamkeit einzuräumen. Die folgenden Ausführungen nehmen diese gehäufte Präsenz des ‚ Vibe ‘ in unterschiedlichen Zusammenhängen von der Theorie über die Kunst bis in die Alltagskultur zum Anlass einer konstellativen Analyse, um den Vibe als spezifische Wissensfigur in Betracht zu ziehen. Zuletzt wurden die „ Good Vibrations “ der kalifornischen Sonne Mitte der 1960er Jahre von den Beach Boys besungen. Heute kommen ,Vibes ‘ in sämtlichen Situationen vor: ‚ Schlechte Vibes ‘ , ,düstere Vibes ‘ oder rein situationsspezifische Vibes (wie ,Sommervibes ‘ oder ,Adventsvibes ‘ ) lassen sich im Alltag ausmachen oder via Hashtag über die Sozialen Medien teilen. Der Vibe ist die alltagsprachliche Kurzform von ‚ Vibration ‘ . Diese bezeichnet die Einstimmung oder sympathetische Resonanz eines Objekts auf die originäre Frequenz eines in unmittelbarer Nähe befindlichen anderen Objekts. 1 Vibes scheint eigen zu sein, dass sie empfangen werden und die Empfangenden ohne eigentliches Zutun, auch ohne gerichtete, rezeptive Haltung, das heißt ungewollt in Schwingung versetzen. Ihrer Definition nach setzt die Vibration die Beteiligten in ein Objektverhältnis. Diese relationale Schwingung scheint auch für das Alltagsphänomen des Vibes zu gelten. Deshalb lässt sich schwer festlegen, wo Vibes eigentlich zu verorten sind. Bei einem Song wie „ Good Vibrations “ ? Bei den Hörenden? Oder im Dazwischen? Objektivierbar ist der Vibe dementsprechend nur durch die sensorische Ko-Erfahrung anderer. Sprachliche Fixierungen hingegen drohen ihn eher zu ‚ zerreden ‘ . Dennoch scheint der Vibe als relationales Phänomen von Kommunikation, kultureller Codierung und medialer Rahmung abhängig zu sein, denn es handelt sich ja nicht um ein physikalisches Phänomen, sondern um ein soziales. Begrifflich steht der Vibe nicht zuletzt deshalb dem Begriff der Atmosphäre (Böhm), der Stimmung (Heidegger), der Einfühlung (Worringer), der Aura (Benjamin), dem Ambiente (Spitzer) oder der Präsenz (Gumbrecht) nahe. Analogien, Überschneidungen und spezifische Differenzen weist der Begriff wiederum zum Konzept der Umwelt (Uexküll), dem Ozeanischen Gefühl (Rolland, Freud) oder dem Milieu (Spitzer) auf. Im Vibe manifestiert sich ein aisthetisches Erleben, das mit der Rezeption Forum Modernes Theater, 34/ 1, 80 - 96. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0008 von Naturereignissen oder Kunst zusammenfallen, sich aber auch in beliebigen Alltagszusammenhängen einstellen kann. Im Kontext der Sozialen Medien lebt der Vibe als ein spezifischer Erfahrungsmodus neu auf. Diese Rückkehr des Vibes scheint, so die Hypothese der folgenden Ausführungen, in unmittelbarem Zusammenhang mit einer zunehmend mediatisierten Umwelt zu stehen. Vulgärtheoretische Annäherungen, die den Verlust an kopräsentischem, räumlich gesättigtem Erleben in Folge der Nutzung Sozialer Medien durch die Kompensation an verschlagworteten Zeugnissen räumlich gesättigten Erlebens in den Sozialen Medien erklären, greifen allerdings zu kurz, um ein gegenwartsspezifisches Phänomen wie den #vibe zu erklären. Daher folgen diese Ausführungen einem konstellativen Ansatz, der sich dem Vibe zugleich als medialem Phänomen und als Wissensfigur nähert. 1. Der Vibe und die Aura Am Ausgangspunkt meiner Überlegungen steht eine Beobachtung, die mit dem Kinobesuch der Neuverfilmung von Dune (USA 2021) in einem Unbehagen theoretischer Natur kulminierte, das sich vielleicht so auf den Punkt bringen lässt: 2 Wie war es möglich, dass mein Körper mit Gänsehaut und Erschaudern und vollkommen ohne intellektuelles Einverständnis auf dieses Überwältigungskino reagierte? Wie war die äußerste körperliche Affektion, sogar entgegen meiner reflexiven Einstellung möglich? Mein diagnostischer Befund, dass nämlich die unmittelbare Wirkung der körperlich verifizierten Erfahrung einer benennbaren Ursache vorgeordnet wird, erinnerte mich an ästhetisch geframte Situationen, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt für ein ähnliches theoriebasiertes Unbehagen theoretischer Natur gesorgt hatten. So war mir die Bewegung invertierter Kausalität als ästhetisches Konzept bereits im isländischen Pavillon auf der Biennale 2019 in Venedig begegnet. Unter dem Titel Chromo Sapiens hat die in Reykjavik geborene und in New York lebende Künstlerin Shoplifter (Hrafnhildur Amardottir) auf dem Biennale-Gelände der Insel Giudecca eine farbenfrohe, großzügig begehbare Grotte mit echtem und synthetischem Haar ausgekleidet (Abb. 1 und 2). Während der Eingangsbereich der Grotte mit Haarmassen in dunkleren Tönen ausgekleidet ist, dominieren im mittleren Bereich schillernde, kräftige Farben wie Pink, Gelb, Grün. Schließlich wird, je tiefer man vordringt, das Haar umso heller, und mit ihm die gesamte Grotte. In der Beschreibung heißt es, dass die Künstlerin in Anlehnung an wissenschaftliche Erkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie mit der Wirkung von Farben auf menschliche Stimmungen und Befindlichkeiten spielt. Die kleine Spritztour zu dem vom Hauptgelände etwas abgelegenen Pavillon soll, wie die Künstlerin betont, mit guter Laune, Entspannung und einem Anstoß für die Fantasie belohnt werden. Zu einer Reflexion eben dieser Funktionalisierung als Rückzugsort scheint die Installation allerdings nicht wirklich einzuladen, sondern vielmehr zu einem Gefühl. So artikuliert es auch die Künstlerin im Interview: „ Of course there is like layers of meanings and references in this work, but you don ’ t have to know anything about anything. It simply makes people happy. “ 3 Die Besucher*innen streicheln das Haar, staunen und bewegen sich wellenförmig durch die Grotte. Die begleitende Klangmalerei sowie der weiche Teppich absorbieren Unterhaltungsgeräusche und dämpfen Bewegungen ab, was zu dem Gefühl eines physisch vom Rest der Welt abgeschlossenen Orts beiträgt. 4 Was aber bleibt von der Installation nach Verlassen in die gleißende Sonne Venedigs? Als Zeugin meiner eigenen 81 Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre körperlichen Affektion war ich ‚ hier, jetzt ‘ anwesend (gewesen). Die ästhetische Faktizität, die die Grotte erzeugt, scheint in diesem Selbstzweck vollkommen aufzugehen. Ein kognitiver Überschuss ergibt sich durch die Konzeption der Installation nicht, vielmehr ein affektiver Überschuss, der das Bedürfnis der Mitteilung hinterlässt - eine Mit-teilung allerdings, deren Informationscharakter rein idiosynkratischer Natur ist. Denn dass sich die Erfahrung des Hier-und- Jetzt genauso angefühlt hat, wie sie sich eben angefühlt hat, lässt sich nicht wirklich diskursiv zur Disposition stellen. Sie ist in sich als affektiv-leibliche authentifiziert und dadurch auch gleichermaßen verifiziert. Es kann sich also allenfalls um eine Mitteilung handeln, die schon von vornherein um den Blackbox-Charakter der eigenen Botschaft weiß, und die ein Verstehen als Missverstehen systematisch einkalkuliert - das aber auch nur, insofern sie um die Nichtgeneralisierbarkeit der eigenen Erfahrung weiß. Abb. 1: Fluffy White. Im Herzen der Grotte Abb. 2: Rainbowcolors. Blick nach oben Am Beispiel des isländischen Pavillons Chromo Sapiens lässt sich eine doppelt gegliederte Bewegung beobachten. Installative, medial verfasste Kunst tritt zunehmend als eine Erweiterung lebensweltlicher Zusammenhänge auf, 5 wobei nicht selten ein im Verhältnis zu diesem formulierter Gebrauchszweck als Rückzugs- und Erholungsort ins Spiel kommt. Vorübergehende Weltflucht scheint nicht nur in der Gegenwartskunst eine zentrale Rolle zu spielen, sondern eine Tendenz zu sein, die sich für alltägliche Mediennutzung und Medienästhetik ganz allgemein beobachten lässt. In diesem Sinne fordert Paul Roquet: „ we must also attend to how media are becoming more atmospheric at a formal level “ 6 . Mit seinem Konzept der „ ambient media “ rekurriert Roquet auf ein spezifisches Verständnis von Atmosphäre „ as something mediated by and for the human senses “ 7 . Den historischen Wendepunkt für eine solche Entwicklung findet Roquet in den 82 Tanja Prokic´ ausgehenden 1970er Jahren mit den Überlegungen von Brian Eno zu seinem 1978 erscheinenden, sechsten Album Ambient I: Music for Airports. In den dortigen Liner Notes definiert Eno „ ambience [ … ] as an atmosphere, or a surrounding influence: a tint “ 8 . Dementsprechend sieht er die Aufgabe von Ambient Music darin, „ to accomodate many levels of listening attention without enforcing one in particular; it must be as ignorable as it is interesting “ 9 . Ambient Music breitet sich, so Roquet, ab den 1980er zunächst in Japan aus und bringt zunehmend auch Gesamtkonzepte hervor, die einen atmosphärischen Umgebungsraum zu erzeugen suchen. Enos Idee „ to induce calm and a space to think “ 10 spielt dabei nach wie vor eine zentrale Rolle, vor allem stehen jedoch die affektiven Anreize in verschiedenen ästhetischen und sensorischen Registern im Vordergrund, die eine starke Stimmung auch ohne die volle Aufmerksamkeit des Publikums erzeugen sollen. 11 Diese dissonante und gleichsam konsonante Tendenz von Ambient Media sorgt zwar für Entspannung, treibende Reflexionen und wandernde Gedanken, verhindert aber eine gerichtete Reflexion, die erlauben würde, sich zur Musik oder zum Umgebungskunstwerk zu verhalten. Ambient Media sind nicht darauf angelegt als klar konturiertes ‚ Objekt ‘ im Unterschied zu einem ‚ Subjekt ‘ erfasst zu werden, sie verbleiben eher im ‚ Hintergrund ‘ , insofern für eine umgebungserzeugende Ästhetik überhaupt noch die Differenzierung von Vorder- und Hintergrund bemüht werden kann. Mit Blick auf den isländischen Pavillon als Umgebungskunstwerk wird deutlich, dass nach der Trennung eines klar konturierten Objekts von der subjektiven Erfahrung wenig mitzuteilen bleibt. Was vielmehr bleibt, ist die ästhetische Erfahrung selbst. Wie beeindruckend das Zusammenspiel von Materialität und Sound, wie fluoreszierend die Farben sind, das lässt sich eben nur in Abhängigkeit vom eigenen Empfinden, der eigenen leiblichen Erfahrung mitteilen. Kunst, die derart auf Relationalität angelegt ist, 12 basiert darauf, dass die Formebene unter die Ebene der Medialität gleitet, mit der Folge, dass sich die ästhetische Medialität mit der sensorischen Erfahrung gewissermaßen synthetisiert. Dass genau diese Synthese auch als ein parasitäres Andocken zu einem relationalen Mangel führen kann, davon geben nicht zuletzt die Versuche Zeugnis, das ästhetische Erleben medial zu arretieren. Wunderbar illustriert diesen Effekt die erste umfassende internationale Werkschau der japanischen Künstlerin Fujiko Nakaya, die unter dem Titel Nebel leben im Münchener Haus der Kunst stattfand (08.04.2022 - 31.07.2022). Der Kern der Ausstellung ist auf die beiden Nebelskulpturen Munich Fog (Wave), #10865/ I im Hauptraum der Ausstellung und Munich Fog (Fogfall) #10865/ II im Außenraum an der Ostseite des Hauses ausgerichtet. Sie bilden den Publikumsmagneten der Ausstellung. 13 Die Nebel werden im 30-Minuten-Takt produziert. Das Publikum erlebt hautnah, wie der Raum binnen weniger Minuten vollständig in den Nebel eingehüllt wird. Die Atmosphäre, die sich hier ergibt, basiert auf einer Reihe von singulären Parametern, die von der Künstlerin kalkuliert werden, um ein Gesamtphänomen zu erzeugen, deren einzelne Faktoren unter der Wahrnehmungsschwelle verbleiben würden. Auch wenn sich die in den Nebelarbeiten angegebenen Zahlenkombinationen auf die nächstgelegene Wetterstation beziehen, deren Daten die Planung der jeweiligen Installation beeinflussen, bleibt auf der Seite des Publikums nur die ästhetische Erfahrung, an die sich im Entstehen der Skulptur bzw. in ihrem Vergehen anschließen lässt. Ähnlich wie im Pavillon Islands gleitet die Form - für die ja der Begriff der Skulptur mehr als konstitutiv ist - unter das Medium 83 Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre bzw. die Medialität (des Nebels). Fast schon symptomatisch signifizieren die in die Höhe gehaltenen Smartphones die Relationalität des Kunstwerks. (Abb. 3). Die reine Erfahrung ist defizitär, sie ist auf Vervollständigung, auf mediale Arretierung angelegt. Damit wird Munich Fog (Wave), #10865/ I zur Gegenwartskunst par excellence. Denn im großen Raum der Werkschau kommt weniger das Naturspektakel des Nebels zu Aufführung als vielmehr das soziale Phänomen des Vibes. Das Gesamtkunstwerk ergibt sich dabei erst durch die leibliche Verifizierung der Besucher*innen. Zur Gegenwartskunst wird Munich Fog (Wave), #10865/ I erst im Versuch seiner Publika, den Vibe des Nebels medial im Foto zu arretieren. Auch wenn das entsprechende Hashtag zur Ausstellung bei Instagram kaum bespielt wurde, 14 verrät doch die Kalkulation mit dem medialen Weiterleben des Münchner Nebels etwas über die Affinität von relationaler Kunst und medialer Teilhabe, wie sie in den Hashtags auf den digitalen Plattformen TikTok oder Instagram zum Ausdruck kommt. Weder relationale Kunst noch die unter dem Hashtag ‚ vibe ‘ rubrizierten Stimmungsbilder bzw. -videos stehen für sich. Sie vervollständigen sich in der medialen Arretierung, in der Sammlung, im Mitteilen und Verteilen. Abb. 3: „ Nebelsichten “ In den sozialen Netzwerken kursiert das Hashtag ‚ vibe ‘ vermehrt als Suffix, dem ein spezifizierendes Präfix vorangeht. So bürgen etwa #christmasvibes, #artisticvibes, #partyvibes, #holidayvibes, #darkvibes, etc. für die Gestimmtheit bestimmter Situationen. Die unter dem Hashtag versammelten Vibes vereint das paradoxe Unterfangen einer Verfügbarmachung des Unverfügbaren. Dabei fungiert die Rubrizierung als vorläufige, behelfsmäßige Erklärung für ein Zusammenspiel von Faktoren, die in ihrer Singularität unterhalb der Wahrnehmungsschwelle verbleiben. Erst im Gesamtgefüge scheinen sie mit dem Subjekt zu resonieren und aufgrund ihrer Vagheit ein Artikulationsbedürfnis auszulösen. „ It ’ s an intuition with no obvious explanation ( ‚ just a vibe I get ‘ ). “ 15 Lose gekoppelte Medialitäten wie etwa Farben, Formen, Sound, Temperaturwechsel, Wind, Dampf, Wolken, Licht, oder fest gekoppelte Medien wie ein Möbelarrangement, gefaltete Wäsche, Zimmerpflanzen, eine Landschaft, etc. erzeugen dabei einen Gesamteindruck, der eben nicht sprachlich fixiert werden kann: A vibe can be positive, negative, beautiful, ugly, or just unique. It can even become a quality in itself: if something is vibey, it gives off an intense vibe or is particularly amenable to vibes. Vibes are a medium for feeling, the kind of abstract understanding that comes before words put a name to experience. 16 Entscheidend bei diesem Gesamteindruck ist aber auch die Vermengung von ‚ objektiven ‘ Qualitäten mit subjektiven Perzeptionen, die wiederum unter der semantischen Rubrizierung ‚ vibe ‘ Anspruch auf Generativität erheben. Je mehr man sich mit den unter dem #vibe versammelten ‚ Einzelphänomenen ‘ vertraut macht, desto deutlicher wird, dass der Vibe nicht ohne den Versuch seiner Semantisierung - auch wenn diese scheitert - existiert. Der Vibe mag einen individuellen emotiven Gefühlskomplex mediatisieren, aber er erhebt gleichzeitig auch einen Anspruch auf objektive Teilbar- 84 Tanja Prokic´ keit. Der Vibe scheint untrennbar von dem Versuch seiner Kommunizierbarkeit zu sein. Gernot Böhme verweist in Bezug auf Atmosphären auf diesen seltsamen Widerspruch unter dem Hinweis, dass wir offenbar über ein reiches Vokabular [verfügen], um Atmosphären zu charakterisieren, nämlich als heiter, melancholisch, bedrückend, erhebend, achtungsgebietend, einladend, erotisch, usw. Unbestimmt sind Atmosphären vor allem in Bezug auf ihren ontologischen Status. Man weiß nicht recht: Soll man sie den Objekten oder Umgebungen, von denen sie ausgehen, zuschreiben, oder den Subjekten, die sie erfahren? Man weiß auch nicht so recht, wo sie sind. Sie scheinen, gewissermaßen nebelhaft den Raum mit einem Gefühlston zu erfüllen. 17 Böhmes Konsequenz lautet dementsprechend, dass „ Atmosphäre [ … ] nur dann zum Begriff “ werden kann, „ wenn es einem gelingt, sich über den eigentümlichen Zwischenstatus von Atmosphären zwischen Subjekt und Objekt Rechenschaft zu geben “ 18 . Rechenschaft über diesen eigentümlichen Zwischenstatus lässt sich u. a. mit einem Umweg über eine der ersten kritischen Auseinandersetzungen mit dem Übergang von der (analogen) Kunst in das Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit ablegen: Die Rede ist von Walter Benjamins Konzept der Aura. In seinem klassisch gewordenen Aufsatz versucht Benjamin diesen Wandel durch die ästhetische Kategorie der Aura zu beschreiben. Benjamin definiert die Aura am Beispiel der Wahrnehmung von Naturphänomenen „ als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. “ 19 Er erläutert weiter: „ An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft - das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen. “ 20 Die Aura, auch wenn es an mancher Stelle so klingen mag, verschwindet als ästhetische Kategorie allerdings keineswegs. Sie passt sich eher korrelativ der durch die Massenmedien veränderten Wahrnehmung an. Die Überpräsenz an Reproduktionen ruft (bei den rezipierenden Massen) das Anliegen hervor, „ des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion, habhaft zu werden “ 21 und verstetigt es gleichermaßen. Indem die Reproduktionstechnik die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle des einmaligen Vorkommens des Kunstwerks sein massenweises. Diesen Anpassungsprozess der Aura an die veränderte Situation unter den Bedingungen der Reproduzierbarkeit bezeichnet Benjamin als „ Verkümmerung “ 22 , als „ Verfall “ 23 oder „ Zertrümmerung “ 24 . Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren ‚ Sinn für das Gleichartige in der Welt ‘ so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt. 25 Dieser Prozess ist für ihn nicht zuletzt deshalb mit einer reduktiven Bewegung konnotiert, weil mit der Expansion in alle Bereiche der Gesellschaft ( „ aus dem Bereich der Kunst “ herausgelöst) auch eine Art Umkehr oder Neukodierung des Auratischen stattfindet. Wenn Benjamin das korrektive Bedürfnis, das sich in Bezug auf die Aura 1 (= vor dem Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit) äußert, mit „ Einmaligkeit und Dauer “ identifiziert, so scheint das Bedürfnis, das er mit der Aura 2 (= im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit) identifiziert, nämlich „ Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit “ 26 , noch immer auf die Zirkulation von Reproduktionen bzw. neuen Genres in den Sozialen Medien zuzutreffen - allerdings mit einer entscheidenden Neuerung, die es möglich macht, den Vibe mo- 85 Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre dellhaft als neuerliche Anpassung, d. h. als Aura 3 (= im (post)digitalen Zeitalter) zu verstehen. Denn Vibes können nahezu synonym für die sympathetische Resonanz mit dem, über grafische Schnittstellen gesendeten und empfangenen Content gelesen werden. „ Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit “ formt sich in den Sozialen Medien zu Singularisierung und Rubrizierbarkeit. Wie es dazu kommt, soll im folgenden Argumentationsschritt genauer beleuchtet werden. 2. Die Wende zum Content Mit der Kommerzialisierung des Internets Mitte der 1990er Jahre ist der Grundstein für eine weitflächige und komplexe Verschränkung von Alltag und Technologie gelegt worden, dessen Folgen für die Contentproduktion mit der Umstellung des Internets auf Web 2.0 ab dem Jahr 2003 sichtbar werden: Sogenannter user*innengenerierter Content flutet das Netz. Während die Literatur- und Teile der Medienwissenschaft noch an klassischen Unterscheidungen von Form und Inhalt oder an der vermeintlich neutralen Medium-Form-Unterscheidung festhalten (etwa um Formkrisen als Generatoren von ästhetischen Innovationen beschreibbar oder Inhaltskritik über Formfragen objektivierbar zu machen), scheint sich ein solcher Ansatz insbesondere im Hinblick auf die Masse an Content, die im Netz zirkuliert, nicht mehr länger zu bewähren. Zentrale Plattformparameter wie Design und Affordanz, die im Zuge der Markteinführung des Smartphones im Jahr 2007 und des Ausbaus des mobilen Internets eine immer größere Rolle spielen, müssen in Rechnung gestellt werden, um den Überschuss von Content und insbesondere dessen soziale Effekte, die sich in veränderten Kommunikationsmodi niederschlagen, beschreibbar zu machen. Dazu müssen zunächst zwei Richtigstellungen in Bezug auf das Verständnis von Content vorgenommen werden. Zunächst wird mit Content erst einmal so etwas wie ein Platzhalter, eine Variable benannt. Content im Kontext von Web 2.0 distanziert sich mit dem Ausbau der digitalen Plattformen nach und nach auf eigentümlich paradoxe Weise von der ursprünglichen Bedeutung ‚ Inhalt ‘ oder ‚ Gehalt ‘ . Die Rede von Content lässt sich als eine graduelle Verkehrung der Unterscheidung zwischen Inhalt und von Inhalten freigelassener Werbefläche bzw. Werbeeinheiten in Zeitungen, Magazinen oder sonstigen Programmen verstehen. Mit der Kommerzialisierung des Internets hat sich die Praxis, Inhalte zu erstellen, um einen Anlass für Werbeblöcke zu haben, derart beschleunigt, dass die Contentproduktion zu einer der wesentlichen Produktionsebenen der globalen Gesellschaft avancierte. Kate Eichhorns aktueller Darstellung in Content (2022) lässt sich zwar einiges hinzufügen, aber ihrer Definition von Content als „ something that circulates for the sake of circulation “ 27 lässt sich ohne Einsprüche zustimmen. Content ist Anlass, eine Falle. Content ist Umgebung für Werbung. Die Nachfrage nach Content ist groß und wird immer größer, weil Content die Frequentierung von Plattformen erhöht und die Verweildauer auf Plattformen verlängert. Zweitens gilt, dass Content einem mathematischen Informationsbegriff nähersteht als dem klassischen Inhaltsbegriff, der eben noch mit Bedeutung assoziiert ist. ‚ Information ‘ im rein mathematischen Sinn ist das Signal, das auf einem stabilen Kanal von ‚ Sender ‘ zu ‚ Empfänger ‘ transportiert werden soll, wobei die zentrale Herausforderung darin besteht, das Signal ohne Rauschen zu übertragen. Die Indifferenz gegenüber dem Inhalt der Information könnte nicht größer ausfallen, wie Tiziana Terranova in Network Culture (2004) hervorhebt. ‚ Wer ‘ in diesem Modell übermittelt bzw. was übermittelt wird, ist ebenfalls egal, gewährleistet werden muss allein 86 Tanja Prokic´ die störungsfreie Übertragung. Was also als Information gilt, bestimmt sich von der technischen Aufgabe her, ohne Störungen oder Verluste zu übermitteln. Weder die Ästhetik noch die Form der Botschaft spielt eine Rolle. Die informationstheoretische Definition von Claude Shannon und Michael Weaver, 28 auf die sich Terranova bezieht, 29 hat die Informations- und Kommunikationstechnologie revolutioniert und gleichzeitig ein Fundament für die Medienwissenschaft gelegt. Marshall McLuhans berühmtes Diktum „ The medium is the message “ 30 ist ohne den Einfluss dieses Informationsbegriffs kaum zu verstehen. Die immense kulturelle Transformationskraft eben nicht auf die übertragenen Inhalte bzw. Bedeutungen zurückzuführen, sondern auf die Medien selbst, basiert auf der Idee einer akzelerierten und reichweitenstarken Übertragung von Information, unabhängig von der Komplexität ihres Bedeutungsgehalts. Dementsprechend pointiert McLuhan: „ Societies have always been shaped more by the nature of the media by which men communicate than by the content of the communication. “ 31 Die Medien sind diejenige Größe, auf die der wissenschaftliche Blick daher zu richten sei. 32 Versteht man also Content als dasjenige, was um der Zirkulation willen zirkuliert, dann scheint es ratsam zu sein, auf die medienökonomischen Bedingungen zu blicken, die eine solche Entwicklung nicht nur befördern, sondern notwendig machen. Die Rede vom Content zeigt eine Wende an, die nicht mehr nur die Verteilung und Verwischung von Journalismus, Unterhaltung und Werbung betrifft, sondern die ubiquitäre Vermischung von Rezipient*innen als Produzent*innen. Der Content wird zur bevorzugten und ausschließlichen Partizipations(ober)fläche der User*innen. Diese investieren „ free labour “ 33 , um die ihnen kostenfrei angebotenen Dienste und Infrastrukturen zu ‚ nutzen ‘ . Terranova zufolge investieren Individuen in der Medienindustrie immer schon „ free affective and cultural labour “ , die nicht notwendig ausgebeutete Arbeit darstellt, aber über Anstellungsverhältnisse oder bezahlte Arbeit hinausgeht. 34 Mit dieser veränderten Form der Arbeit geht eine Transformation der Ware einher, die erst mit der Kommerzialisierung des Internets virulent wird. Die Ware verschwindet regelrecht, indem sie sich in einen offenen Prozess verschiebt, anstatt in ein fixes Endprodukt zu münden. Von hier aus lässt sich genauer fassen, was die Wende zum Content anzeigt: Im Design der digitalen Plattform markiert Content durch die unaufhörliche Aufforderung zur Partizipation eine Trendwende zum „ Ephemerwerden der Ware “ 35 . Arbeitsprozesse sind als solche weder markiert noch definiert, genauso wenig ist deutlich, was genau als Ware gilt und ob es sich bei Content überhaupt um Waren handelt. Denn dieser invisibilisiert Arbeitsprozesse eher, als dass er sie sichtbar macht. Im Kontext von Plattformen wie Instagram oder TikTok verbirgt sich die Arbeit hinter vermeintlichen Zufällen, natürlichen Talenten, mühelosen Einlagen, scheinbar authentischen Gesten und Schnappschüssen, die allerhand Vibes vermitteln. Wenn Gernot Böhme also anmerkt, dass „ Atmosphäre [ … ] nur dann zum Begriff “ werden kann, wenn es gelingt, „ sich über den eigentümlichen Zwischenstatus von Atmosphären zwischen Subjekt und Objekt Rechenschaft zu geben “ 36 , dann stellen die sozialen Einlassungen der digitalen Plattformen die beste Adresse dar. Denn die Sozialen Medien stellen für „ zwei oder mehr Gruppen “ eine digitale Infrastruktur zur Interaktion bereit. Dafür positionieren sie sich als Vermittlerinnen, die unterschiedliche Nutzer*innen zusammenbringen: Kund*innen, Werbetreibende, Dienstleister*innen, Produzent*in- 87 Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre nen, Lieferant*innen und sogar physische Objekte. Sehr häufig bieten die Plattformen auch eine Reihe von Werkzeugen, die ihre Nutzer*innen in die Lage versetzen, eigene Produkte, Dienstleistungen und Marktplätze aufzubauen. 37 Sie agieren damit in einem Zwischenraum, dessen Grenzen und Modi sie selbst gestalten. Denn digitale Plattformen schaffen erst einen Nutzen, nachdem sie eine kritische Masse an Nutzer*innen gewonnen haben, die die Vermittlerrolle der Plattformen ex post, und nicht ex ante, plausibilisiert: man spricht in diesem Fall von einem „ Netzwerkeffekt “ 38 . Erst wenn diese notwendige kritische Masse erreicht ist, entwickelt die Plattform nach und nach einen Einschlusseffekt. Sie wird als Standard unumgänglich, ihre Dienste haben sich gewissermaßen universalisiert. 39 Die individuelle Nutzung durch die User*innen erhöht anschließend den Traffic auf den Plattformen, was ihren Wert steigert und es ihnen schließlich erlaubt, ihre „ Plattformmacht “ 40 zu bündeln. Kommerzielle Plattformen haben damit ein ökonomisches Interesse an der persistenten Aufforderung zur Generierung und zum Teilen von Content - oder präziser: Sie sind, da sie ja eigentlich gar keine Ware und keinen neuen Dienst anbieten, unmittelbar von der Partizipation der User*innen abhängig. Von hier aus lässt sich die Leistungsfähigkeit von Terranovas materiellem Informationsbegriff begreifen. Das informationstechnologische Setting hat die materiellen Grundlagen der Kommunikation folgenschwer verschoben und auf die Materialität der Kommunikation zurückgewirkt. Das Medium interferiert damit also in die Botschaft, nur dass das Medium, d. h. die Plattform, eben kein neutrales Medium ist, sondern über programmierte Constraints und Affordanzen reguliert wird, 41 die nicht primär - wie gerne von großen Unternehmen behauptet - auf Usability 42 angelegt sind, sondern vorrangig ökonomischen Rechnungen folgen. Dazu möchte ich noch knapp auf die Bedeutung des Interfaces im technoökonomischen Gesamtgefüge der kommerziellen Plattformen eingehen. Über das Interface erschließt sich die Verschiebung der Aura 2 zum Vibe als offene, unabgeschlossene, relationale Größe. In seiner Schrift The Stack beschreibt Benjamin Bratton das Interface als eine von sechs Schichten des Stacks. Ohne klar und deutlich auszubuchstabieren, worum es sich beim Stack eigentlich handelt, macht Bratton das Verständnis desselben als eine den Planeten umfassende Megastruktur von der Beschreibung der Funktionsweise der einzelnen Schichten und ihrer jeweiligen Vernetzung abhängig. Geht man zunächst von der Vorstellung aus, dass am obersten Ende, das heißt am User*innen-Ende, die Befehlseingabe steht, dann beinhaltet das unter informationstechnischen Gesichtspunkten erst einmal nicht mehr als den Umstand, dass ein Befehl eingegeben wird und sich damit ein Pfad von einem ‚ Sender ‘ zu einem ‚ Empfänger ‘ vertikal durch die Schichten des Stacks bildet. Stellt man sich die Übertragungsinfrastruktur als eine vor, die eine gewisse Materialität involviert, so erschließt sich die Aktualität von Brattons Modell, in dem die User*in über ein Interface ihre Informationseingabe tätigt. Diese wird als solche nur transportierbar, weil sie sich durch Empfangsadressen und Sendeadresse verallgemeinert (lesbar wird). Um aber einen entsprechenden Transport über Pfade zu ermöglichen, bedarf es einer realen Infrastruktur innerhalb von Städten oder quer durch das Territorium (alle Formen von Leitungen), Umschlagspunkte sowie Zwischenspeicher für den Transport und den Empfang der Information (Cloud Layer). Alle diese Schichten sind, obgleich sie immateriell erscheinen, wiederum auf Res- 88 Tanja Prokic´ sourcen angewiesen und wirken auf die Geosphäre (Earth Layer) zurück. Unter der Perspektive von Brattons Modell des Stacks gewinnt Terranovas Plädoyer für einen materiellen Informationsbegriff deutlich an Kontur. Nicht nur die Arbeit ( „ free labour “ ), die in der Information steckt, sondern auch die physischen Ressourcen werden sichtbar. Die idealen Positionen von ‚ Sender ‘ , ‚ Vermittlungsmedium ‘ und ‚ Empfänger ‘ lösen sich auf. Entsprechend unterscheidet Bratton in seiner Architektonik des Stacks diffiziler in Schichten. Auf der obersten Ebene des User*in-Layers ist nicht mehr zwischen Menschen, Tieren oder einer KI zu unterscheiden. 43 In der Logik des Stacks ist eine User*in jene Position, die über ein Interface-Layer Pfade in den Stack gibt, sie ist aber auch das Ergebnis, das Produkt dieses Pfades. 44 Die in Brattons Buch abgebildete Skizze des Stacks illustriert aber einmal mehr, dass die Vorstellung einer flachen Ontologie allenfalls Sinn ergibt, wenn man ausschließlich den User*in-Layer beobachtet, was nicht zuletzt durch das Interface-Design entsprechend befördert wird. Nach Bratton ist eine der Hauptfunktionen des Graphical-User*in-Interface-Designs die Vereinfachung und Zusammenfassung aller möglichen Interaktionen auf eine verständliche Menge von Op(era)tionen, die die User*innen leicht handhaben können. 45 Schnittstellen regen User*innen systematisch durch Affordanzen und Constraints zu entsprechenden Interaktionen an. Auf der Ebene des Designs werden Umgebungen gestaltet, die dazu beitragen, die User*innen nicht zu überfordern, ihre Aufmerksamkeiten in bestimmte Richtungen zu lenken, und die entscheidenden Operationen zu choreografieren. Wenn etwa bei der Gestaltung von Benutzeroberflächen Sensoren prädominant zum Einsatz kommen, entstehen Informationen durch abwesende oder fehlende Interaktion. 46 Mediale Umgebungen verzichten dann auf kontaktbasierte Interaktion, d. h. auf die kognitive Verarbeitung und Selektion von Informationsprozessen, sondern nutzen die beteiligten Akteure eher als Informationsquelle. Menschliche Nutzer*innen agieren in medialen Umgebungen und Interfaces als Subjekte und reagieren gleichzeitig als Objekte vorgegebener Systeminteraktionen, in denen sie gelenkt und in die sie eingepasst werden. Ein solches, auch als persuasiv bezeichnetes Design verändert nicht nur singuläres Verhalten, sondern hat eine strukturelle Transformation der kulturellen Skripte und Erwartungshaltungen zur Folge. Es erzeugt, mit Star und Bowker formuliert, so etwas wie „ communities of everyday practice “ 47 . Damit verstricken digitale Plattformen notwendig das Soziale in ihre Funktionsweise, so dass man im Anschluss an Otfried Jarren und Renate Fischer durchaus von einer „ Plattformisierung von Öffentlichkeit “ 48 sprechen kann. Verteilungspraktiken und kulturelle Formen scheinen mobiler und flexibler denn je, denn weder komplexe Produktionsprozesse mit schwerfälligen, von Expert*innenwissen abhängigen Technologien noch hohe Investitionskosten stellen sich dem Content in den Weg. Ein in Echtzeit, und für ein anonymes Publikum zur Verfügung gestellter Content ist im digitalen Flow notwendig flüchtig und unverbindlich, da die Teilenden um die Logik der Anschlussdynamiken wissen, d. h. um die Abhängigkeit von freier, affektiver Arbeit, die den Content aufnimmt, weiterleitet, kommentiert, nachahmt oder gar korrigiert. Auf der Mikroebene einer „ network time “ 49 ist das Erstellen und Teilen von Content kaum mehr auseinanderdividierbar: mit dem Resultat, dass die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt zunehmend verwischen. Damit geht ein eigenwilliger und nachhaltiger Effekt auf das Erleben von Gegenwärtigkeit einher: im Internet ist das ‚ Jetzt ‘ 89 Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre des geteilten Contents immer zugleich auch Zeit der neuerlichen Bearbeitung. Das hat Konsequenzen für die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft, die zunehmend brüchig wird. Zeit wird unter den Bearbeitungsprozessen fluide. Diese zeitlichen Dynamiken hat Manuel Castells bereits zur Jahrtausendwende mit dem Stichwort einer „ timeless time “ 50 beschrieben. Neben der emergenten Form der Zeit kennzeichnet die Netzwerkgesellschaft Castells zufolge zudem eine emergente Form des Raums, die er im Gegensatz zu einem Raum der Orte, „ wo Bedeutung, Funktion und Örtlichkeit eng miteinander verwoben sind “ , als „ space of flows “ 51 bezeichnet: In diesem sind die „ dominierenden Funktionen in unseren Gesellschaften “ genauso wie „ eine wachsende Zahl alternativer sozialer Praktiken (wie etwa soziale Bewegungen) und persönliche Interaktions-Netzwerke “ 52 organisiert. Die „ Bedeutung und Funktion “ 53 der Interaktionen und Operationen, die Menschen an verschiedenen Standorten verbindet, hängt laut Castells von den Strömen ab, die im Netzwerk verarbeitet werden. Das hat zur Folge, dass Content, will er die „ Beachtung der Vielen “ 54 bzw. möglichst viele Aufmerksamkeitsressourcen bündeln, sich diesen medialen Dispositionen eines Raums der Ströme anpasst. Dieser Anpassungsprozess folgt der Logik des Ephemerwerdens des Contents zugunsten der Hervorhebung der Partizipation. Die Regeln und Operationen der Partizipation sind fluide und reichen von aktiv user*innengeneriertem Content 55 bis hin zu eher rezeptiv ausgerichtetem, affektivem Investment, das durch die mediale Erfahrung ‚ getätigt ‘ wird. Ein im Sinne der von Castells beschriebenen Netzwerkökonomie erfolgreicher Content hält den Anteil kognitiver Rezeption relativ flach und erhöht den Anteil des affektiven Investments. Denn während affektiven Investments sind die Übergänge fließend und offener für unterschiedliche Begehrensstrukturen, die Zugänge niedrigschwellig sowie der Selbst- und Fremdversicherungsanteil, der zum Weiterleiten und Teilen anregt, hoch. Wenn also zur abstrakten Beschreibung des Vibes immer wieder seine Unabgeschlossenheit, seine Unsagbarkeit oder das Dazwischen herangezogen werden, dann scheinen sich hier gleichermaßen Effekte und ein implizites Wissen der Netzwerkkultur zu verdichten. 3. Zany, Cute, Interesting Sianne Ngai hat für diese affektive Sättigung ästhetischer Erfahrung ein Begriffsinventar zur Verfügung gestellt, das es ermöglicht, den Vibe unter den Gesichtspunkten der Ästhetik zu fassen. Our Aesthetic Categories lautet der Übertitel ihrer 2012 erschienen Studie: Ästhetische Kategorien, so Ngai, verlieren im Spätkapitalismus ihren autonomieästhetischen Anspruch und verwandeln sich historisch spezifisch den veränderten Arbeits-, Konsumptions- und Kommunikationsbedingungen an. 56 Dem Untertitel ihrer Studie gemäß korreliert mit jeder dieser Bedingungen eine ästhetische Kategorie: ‚ zany ‘ , ‚ cute ‘ , ‚ interesting ‘ . Die Kategorie des Interessanten steht in einem Relationsverhältnis zur kommunikativen Zirkulation: Durch selektive Operationen bündeln wir Aufmerksamkeit und legitimieren diese Operation und die aufgewendeten Aufmerksamkeitsressourcen kommunikativ. In dem Relationsmodus entsteht der Gegenstand erst - es ist, als ob er durch unsere Aufmerksamkeit ein zweites Mal hervorgebracht würde. Signifikant ist, dass das als interessant deklarierte Phänomen dies nicht aufgrund einer seiner materiellen oder funktionellen Eigenschaften ist. Ganz im Gegenteil: das Interessante ist immer im Werden und ergänzt das Phänomen durch die Praxis der Beobachtung und Selektion. 90 Tanja Prokic´ Damit ist es, so Ngai, niemals final, sondern „ in medias res, ‚ on its way ‘ to a ‚ there ‘ whose content or meaning is indeterminate “ 57 . Mit dem Niedlichen hingegen geht ein explizit physisch-affektiver Modus einher. Zur Deklaration eines Phänomens als niedlich wird immer auf die spezifische Materialität verwiesen werden. Fluide können allerdings die Affekte sein, die das Niedliche hervorruft. Die objektifizierende Praxis der Identifikation beruht auf einer primären Asymmetrie, die ein Changieren von zärtlichen bis aggressiven Gefühlen für das niedliche Objekt ermöglicht. 58 Das Niedliche und das Interessante verfahren „ semidescriptive or semijudgmental “ , 59 d. h. sie sind kommunikative Mittel, die unter dem Deckmantel des Beschreibens ein Urteil erlauben. 60 Das Verrückte ( ‚ the zany ‘ ) wiederum ist durch eine Ästhetik des Überschusses gekennzeichnet, die kein Urteil ermöglicht, sondern vielmehr eindeutig einen aktiven Beziehungsmodus verkörpert, der augenscheinlich ein Zuviel darstellt. „ Temporally as well as spatially unbounded and thus extremely difficult to quantify “ 61 , weist das Verrückte die expliziteste Verbindung zur „ free labour “ der Netzwerkkultur auf. Es sucht und findet einen Beziehungsmodus, innerhalb dessen anschließend obsessiv, physisch, affektiv und kognitiv ‚ überinvestiert ‘ wird. Eben weil es sich bei diesen ästhetischen Kategorien nicht um generative Abstrakta handelt, sondern vielmehr um konkrete Beziehungsweisen, funktionieren sie sowohl als „ subjective, feeling-based judgments as well as objective or formal styles “ ; sie sind „ double-sided in more ways than one: they are subjective and objective, evaluative and descriptive, conceptual and perceptual “ 62 . Ngai zeigt damit eine Tendenz zur Contentförmigkeit an. Inhalt und Bedeutung nähern sich ästhetischen Beziehungsweisen an. Diese stellen den affektiven Rahmen zur Verfügung, innerhalb dessen wir ästhetisch verarbeiten, erfahren oder mit anderen teilen. 63 All diese Kategorien verweisen auf die Emergenz eines neuen Subjekttypus, der sich nicht mehr über die Selbstreflexivität oder Ironiefähigkeit der Postmoderne auszeichnet, sondern sich vielmehr über einen unabschließbaren Prozess der Selbstvergewisserung definiert, der andere über entsprechend distanzlose Praktiken der Selbstversicherung permanent involviert. Ästhetische Erfahrungen, die eben diese Praktiken der Selbstversicherung reproduzieren, haben entsprechend Konjunktur. Mit der Umstellung auf Content, so lässt sich nun resümieren, geht sowohl eine Krise von Sinn und Bedeutung als auch eine Neukodierung von Arbeit einher, die treffender als eine Bearbeitung zu verstehen ist: Im Kontakt mit Content geht es häufig darum, diesen zu bearbeiten, oder für entsprechende Channels, Plattformen oder Publika aufzubereiten. Diese Bearbeitungsprozesse kalkulieren dabei vorauseilend-anpassend mit den impliziten Distributionsregeln der entsprechenden Plattformen sowie mit einem ästhetisch-affektiven Modus der Rezeption. Dabei ist genau der Content, der einen affektiven Überschuss erzeugt, prädestiniert dazu, (erneut) geteilt zu werden, so als nutze er die ‚ Empfänger ‘ gleichzeitig auch als ‚ Sender ‘ / ‚ Verteiler ‘ . Die Prozesse der Zuteilung von Content tragen sich mehr und mehr algorithmisch vermittelt zu. Den Empfänger*innen bleibt meist nur mehr die reaktive Selektion: 64 Es handelt sich demnach um einen minimalen Graubereich, in dem Kontrollverlust in einer sonst hochgradig kontrollierten und automatisierten Umgebung möglich ist. As computation becomes more deeply ubiquitous and the agency of the User is shared by any addressable thing or event, then for many people, the world may become an increasingly alien environment in which 91 Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre the privileged position of everyday human intelligence is shifted off-center. 65 Der #vibe als ein digitales Rubrizierungsphänomen übersetzt dieses Zwischen von Enteignung und Entlastung, das mit einer ubiquitären Computisierung einhergeht, und objektifiziert es gleichermaßen. Seine Anziehungs- und Faszinationskraft steht - freilich in einem differenten historischen Zusammenhang - dem kantischen Erhabenen nahe, insofern auch hier ein Phänomen zur Anschauung gebracht werden soll, das „ über alle Vergleichung groß ist “ . 66 Allerdings verschiebt sich diese Inkommensurabilität, 67 die Kant dem Erhabenen attestierte, auf das für erlebende, rubrizierende Subjekte unverfügbare technoökonomische Gefüge. Eben dessen Beschreibung wäre Aufgabe der Theorie. 4. Vibrant Theories Umso erstaunlicher ist, dass sich jene Theorien, die eine populäre Rezeption erfahren, durch eine seltsame Verweigerung einer angemessenen Beschreibung des (Post-)Digitalen und seiner Subjekte auszeichnen. Im Gegenteil lässt sich sogar eine Affinität zwischen Theorien und ‚ atmosphärischen ‘ Kunstinstallationen bzw. relationalen Kunstwerken wie die eingangs beschriebenen von Shoplifter oder Fujiko Nakaya feststellen. Das Beschreibungsvokabular in den Ausstellungskatalogen, Ausstellungstexten oder Leporellos legt dementsprechend Zeugnis ab von dieser Affinität. Bemüht wird für die Beschreibung von Gegenwartskunst allerorts immer wieder die Theoriefigur des ‚ Entanglements ‘ . Mit dieser soll einerseits das relationale Verhältnis von Betrachter*in und Kunst signifiziert, andererseits die flache Ontologie betont werden, die Betrachter*in und Kunst auf gleicher Ebene mit der eigenen Umwelt verortet: Die Aussage der Kunst erhebt sich genauso wenig von einer gemachten oder zu machenden Erfahrung, wie die Kunst sich über die Umwelt erhebt. Allenfalls gibt sie einen Anstoß, diese anders und neu zu betrachten und unterstützt eine zu leistende Dezentrierung. Affekte zirkulieren gemeinsam mit den gestalteten Oberflächen und Materialitäten, die häufig nicht-humane Akteure wie Künstliche Intelligenzen, Apparaturen, Bakterien oder Tiere (mit Vorliebe Spinnen) oder Naturkräfte (Gezeiten, Luft, Wasser) involvieren. Meist zielen die zugrundeliegenden ästhetischen Programme auf eine unmittelbare, sinnliche Stimulation ohne zusätzliche Umwege über Geschichte, komplexe Narrative oder Dramaturgie. Sie zielen auf ein immersives Erleben, ein inklusives Gefühl oder eine affektive Überwältigung der Betrachtenden. Die Theoriefigur des ‚ Entanglements ‘ mag vielleicht schon bei der Konzeption besagter Installationen eine entscheidende Rolle gespielt haben, weshalb sie sich so affin für die Beschreibung zeigt. Entnommen ist sie den theoretischen Ansätzen des Neuen Materialismus von Donna Haraway, Jane Bennett, Anna Lowenhaupt Tsing oder Karen Barad und Bruno Latour. Ein ökologisches Umdenken, das die erdzeitliche Situation des Anthropozäns verlangt, wird hier als ein Denken des Anderen konzipiert, während der reflexive Diskurs als anthropo- oder androzentrisch identifiziert wird. Das Sich-verwandt-machen bei Haraway (Making Kin), 68 die Betonung der Kollaboration bei Tsing, des Mit-werdens und der agentiellen Verschränkung bei Barad, die Idee einer vibrierenden Materie bei Bennett sowie die offenen, flachen Netzwerke humaner und nicht-humaner Akteure bei Latour versprechen mit der Dezentrierung des Menschen aus der Mitte des Geschehens ein Gegenrezept insbesondere gegen eine Hierarchisierung von Wissen und theoretische Vor- 92 Tanja Prokic´ annahmen. Kunstrezeption wird damit graduell in ein „ kollaboratives Spiel “ und „ kollaborative Arbeit “ 69 verwandelt. Eine der populärsten Publikationen des Neuen Materialismus - Jane Bennetts Monografie Vibrant Matter: A Political Ecology of Things (2010) - trägt die Vibration, den Vibe im Titel, doch gerät hier das dringlich zu erklärende Phänomen der Gegenwart, nämlich die ubiquitäre Drift zu atmosphärischen Medien(um)welten, zum ästhetischen Programm der Theorie selbst. 70 Eine einfache Fluktuationsbewegung von der Theorie in den Diskurs greift sicherlich zu kurz, um der hier vonstattengehenden Gesamtverschiebung gerecht zu werden. Die „ Theorieatmosphäre “ 71 , d. h. der inklusive, barrierefreie Charakter, der mit den neumaterialistischen Theorien und ihrer Absage an historisch überfrachtete und aufwendige Methodenkomplexe einhergeht, ist eher so einladend und so partizipativ gestaltet wie die Drift zum Content in den Sozialen Medien. Theorie droht hier zum Instrument von Einverständnis zu werden, anstatt zur Erkenntnis beizutragen. Eine solche Theorie reproduziert nicht nur die Grenzverwischung zwischen Erkenntnis und Erleben, sondern treibt diejenige zwischen Innen und Außen, Diskurs und Materialität, Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt systematisch voran. Sie optiert eher für einen antirationalen, gefühlsbasierten Zugang, 72 anstatt kritikfähige Konzepte zu entwickeln. Dass die Entwürfe des Neuen Materialismus so populär sind, könnte mit der gegenläufigen Drift der Ware zur Information zu tun haben. Wenn Waren, ihrem allgemeinen Ephemerwerden zur Folge unter den Kriterien der Wahrnehmung verarbeitet werden, müssen sie sich auch den entsprechenden Priorisierungs- und Selektionsprozessen anpassen. Damit gehen Verkürzung und inhaltliche Unterbestimmtheit auf der einen Seite und zunehmende Antirationalität und Emotionalisierung auf der anderen Seite einher. Das heißt je flacher eine Information gestaltet ist, desto schneller kann sie verarbeitet werden; je affektiver sie gestaltet ist, desto beliebiger sind die Anschlussmöglichkeiten. Der Entwertungsprozess, der mit dem Verständnis von Inhalt als Content einhergeht, bildet die entscheidende Voraussetzung der Entwicklung hin zur Ware als Emotion: Hermeneutik, Bedeutungsgehalt und Semantik werden zweitrangig, während gefühlsbasierte und kommunikative Selektionen in den Vordergrund treten. Es ist nur folgerichtig, dass damit die Ich-Instanz wieder in den Mittelpunkt rückt, ohne die zwar faktenbasiertes Sprechen auskommt, gefühlsbasiertes aber nicht. Während objektive Statements in der dritten Person oder Partizipialkonstruktionen auf diskursive Argumentation und Gegenargumentation angelegt sind, verschiebt sich das Verhältnis bei ichzentrierten Aussagen und subjektivierten Beobachtungen: Die diskursive Erörterung einer Erfahrung, die sich präsentiert, um Zustimmung oder Ablehnung hervorzurufen, gestaltet sich schwierig bis unmöglich. Gefühlsbasierte Urteile müssen damit rechnen, ihrerseits mit gefühlsbasierten Urteilen beantwortet zu werden. Das hat nicht nur Konsequenzen für die geltende Vorstellung von Objektivität, sondern wiederum auch für die ‚ Objekte ‘ , auf die sich die Urteile beziehen, bzw. die zu Urteilen Anlass geben. In Bezug auf jenen von Böhme adressierten Zwischenstatus von Subjekt und Objekt wird nun deutlich, dass die Nivellierung der Grenzen zwischen (Aussage-)Subjekt und (Aussage-)Objekt, sowie zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, aus den atmosphärischen Anreizen entsprechender Medienumwelten resultiert. Je unabgeschlossener die Informationen sind, desto stärker hängen sie von einer subjektiven Einfühlung ab. Je weniger die Subjekte allerdings in ihrer Ganzheit, sondern mehr und mehr als ‚ Dividuen ‘ angesprochen wer- 93 Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre den, die digitale Spuren hinterlassen, desto uninteressanter werden sie abseits von ihren ‚ Einfühlungen ‘ sein. Diese Entwicklung wiederum zeitigt Effekte auf allerlei Objekte. Insbesondere in der Kunst, im Film, in der Literatur und im Theater zeichnet sich seit ein paar Jahren eine Tendenz zum Atmosphärischen ab; vor nicht allzu langer Zeit wurde die dazugehörige Ästhetik noch als eine der Immersion gefeiert. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen dürfte nun aber deutlich werden, dass das Immersive einer allgemeinen Tendenz unseres Verhältnisses zum Ästhetischen Ausdruck verleiht. Unsere ästhetische Kategorie des Vibes zielt zweifellos ohne Umwege auf die Ebene einer gefühlsbasierten Rezeption und Beurteilung, indem sie auf die vorsubjektive Ebene von Stimmungen oder Atmosphären setzt. Damit wird zwar unsere Wahrnehmungsfähigkeit aktiviert, unsere Handlungsfähigkeit aber eben nicht notwendig. Vielmehr stellt sich die Frage, inwiefern Handlungsfähigkeit auf reaktive Einfühlungen verkürzt wird, und ob Wahrnehmungsfähigkeit schlichtweg mit Erkenntnisfähigkeit gleichzusetzen ist. Eine Änderung der individuellen Perspektive, zu der die ‚ Vibrant Theories ‘ zweifellos Anlass geben, produziert nicht notwendig Erkenntnisse. ‚ Vibrant Theories ‘ verkürzen vielmehr die Aufgabe der Theorie, Konzepte zu entwickeln, auf das Staunen, mit dem jede Theorie bloß beginnt. 73 Abbildungen Abb. 1 Shoplifter. Chromo Sapiens, Installationsansicht. Isländischer Pavillon. Biennale Venedig 2019, Foto: Tanja Prokic´ Abb. 2 Shoplifter. Chromo Sapiens, Installationsansicht. Isländischer Pavillon. Biennale Venedig 2019, Foto: Tanja Prokic´ Abb. 3 Fujiko Nakaya. Nebel Leben, Installationsansicht. Haus der Kunst 2022, Foto: Andrea Rossetti Anmerkungen 1 Robin James, „ What is a vibe? On vibez, moods, feels, and contemporary finance capitalism “ , https: / / itsherfactory.substack.com / p/ what-is-a-vibe [Zugriff am 10.06.2022]. 2 Ich referiere hier auf Vivian Sobchacks phänomenologische Beschreibung der Kinosituation in The Address of the Eye: A Phenomenology of Film Experience, Princeton 1992. 3 So die Künstlerin im Interview, siehe http: / / shoplifterart.com/ chromo-sapiens-venice-bi ennale TC: 03: 43 - 03: 52 [Zugriff am 04.08. 2022]. 4 Auf der Website der Künstlerin findet sich Bildmaterial und ein Video; http: / / shoplifter art.com/ chromo-sapiens-venice-biennale [Zugriff am 04.08.2022]. 5 Dass das nicht notwendig mit einer ‚ nur ‘ körperlich verifizierten Erfahrung enden muss, beweist das Theater-Kollektiv SIGNA. Vgl. dazu Tanja Prokic´, „ Wir Hunde “ , in: Dies./ Anna Häusler/ Elisabeth Heyne/ Lars Koch (Hg.), Verletzen und Beleidigen. Versuche einer theatralen Kritik der Herabsetzung, Berlin 2020, S. 37 - 96. 6 Paul Roquet, Ambient Media: Japanese Atmospheres of Self, Minneapolis 2016, S. 17. 7 Ebd., S. 4. 8 Die sogenannten ‚ liner notes ‘ sind der ersten amerikanischen Version der Platte Music for Airports/ Ambient 1, PVC 7908 (AMB 001) beigefügt; http: / / music.hyperreal.org/ artists/ brian_eno/ MFA-txt.html [Zugriff am 04.08. 2022]. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Roquet, Ambient Media, S. 3. 12 Vgl. zu relationaler Kunst: Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics, Dijon 1998. 13 Für weiterführende Informationen und zur digitalen Sammlung: Vgl. https: / / nakaya.ha usderkunst.de/ de [Zugriff am 08.08.2022]. 94 Tanja Prokic´ 14 https: / / www.instagram.com/ explore/ tags/ fui jkonakaya/ [Zugriff am 08.08.2022]. 15 Kyle Chayka, „ TikTok and the Vibes Revival “ , https: / / www.newyorker.com/ culture/ cultural -comment/ tiktok-and-the-vibes-revival [Zugriff am 10.06.2022]. 16 Ebd. 17 Gernot Böhme, Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Berlin 2013, S. 21. 18 Ebd., S. 22. 19 Walter Benjamin, „ Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [Dritte und letzte autorisierte Fassung, 1939] “ , in: Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Gesammelte Schriften I-2, Frankfurt a. M. 1980, S. 471 - 508, hier S. 479. 20 Ebd., S. 479. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 477. 23 Ebd., S. 479. 24 Ebd., S. 479 f. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 479. 27 Kate Eichhorn, Content, Cambridge/ Massachusetts 2022, S. 5. 28 Claude E. Shannon/ Warren Weaver, The Mathematical Theory of Communication, Indiana 1963 [1949]. 29 Tiziana Terranova, Network Culture: Politics for the Information Age, London/ Ann Arbor 2004, S. 13. 30 Marshall McLuhan, Das Medium ist die Botschaft, Dresden 2001. 31 Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964, S. 57. 32 McLuhan, Das Medium ist die Botschaft, S. 170. 33 Terranova, Network Culture, S. 74. 34 Ebd., S. 88, 91. 35 Ebd., S. 91. 36 Böhme, Atmosphäre, S. 22. 37 Nick Srnicek, Plattform-Kapitalismus, Hamburg 2018, S. 46, Gendering im Original mit Unterstrich. 38 Michael Seemann, Die Macht der Plattformen: Politik in Zeiten der Internetgiganten, Berlin 2021, S. 89 f. 39 David Singh Grewal, Network Power. The Social Dynamics of Globalization, New Haven 2008, S. 150 - 154. 40 Benjamin H. Bratton, The Stack: On Software and Sovereignty, Cambridge/ Massachusetts 2016; Vgl. Seemann, Die Macht der Plattformen, S. 93 - 95. 41 Vgl. Donald A. Norman, „ Affordance, Conventions, and Design “ , in: Interactions 3 (1999), S. 38 - 42. 42 Donald A. Norman, The Design of Everyday Things: Revised and Expanded Edition, New York 2013, S. 19. 43 Dass die K. I. letztlich auch im Prozess des Deep Learning eine User*in ist, lässt sich indirekt den Ausführungen von Peli Grietzer entnehmen, der sich - bemüht um eine mathematisch informierte Literaturwissenschaft - dem Entstehen von Vibes in automatisch generierten literarischen Texten oder Bildern widmet. Vgl. Peli Grietzer, „ Theory of Vibe, in: Site 1. Logic Gate: the Politics of the Artifactual Mind (2017), https: / / www.glass-bead. org/ article/ a-theory-of-vibe/ ? lang=enview [Zugriff am 10.08.2022]. 44 Bratton, The Stack, S. 254. 45 Vgl. ebd. S. 388. 46 Ebd., S. 342. 47 Geoffrey C. Bowker, Susan Leigh Star, Sorting Things Out: Classification and Its Consequences, Revised Edition, Cambridge 2000. 48 Otfried Jarren, Renate Fischer, „ Die Plattformisierung von Öffentlichkeit und der Relevanzverlust des Journalismus als demokratische Herausforderung “ , in: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit? Leviathan 37 (2021). S. 365 - 382. 49 Terranova, Network Culture, S. 39 f.; Geert Lovink, Dark Fiber: Tracking Critical Internet Culture, Cambridge 2003, S. 142 f. 50 Manuel Castells, „ Bausteine einer Theorie der Netzwerkgesellschaft “ , in: Berliner Journal für Soziologie 11(2001), 423 - 39. Auf Englisch liegt seine 3-bändige Untersuchung zum Informationszeitalter ab 1996 ff. vor. 51 Ebd., S. 430. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Jörg Döring et al., „ Was Bei Vielen Beachtung Findet: Zu Den Transformationen Des 95 Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre Populären “ , in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 6 2 (2022), S. 1 - 24. 55 Axel Bruns, „ Produsage: Towards a Broader Framework for User-Led Content Creation “ , in: B. Shneiderman (Hg.), Proceedings of 6th ACM SIGCHI Conference on Creativity and Cognition, Washington DC 2007, S. 99 - 105. 56 Sianne Ngai, Our Aesthetic Categories: Zany, Cute, Interesting, Cambridge/ London 2012, S. 238. 57 Sianne Ngai, „ Merely Interesting “ , in: Critical Inquiry 34 4 (2008), S. 777 - 817, hier S. 800. 58 Vgl. Ngai, Our Aesthetic Categories, S. 1. 59 Ebd., S. 92. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 200. 62 Ebd., S. 29. 63 Sianne Ngai, „ Our Aesthetic Categories “ , in: PMLA 125 4 (2010), S. 948 - 58, hier S. 952. 64 Vgl. dazu meine Ausführungen zur algorithmischen Subjektivität: Tanja Prokic´, „‚ The minimally satisfying solution at the lowest cost ‘- Hypervigilanz in der digitalen Gegenwart “ , in: Florian Mehltretter/ Arndt Brendecke et al. (Hg.), Sprachen der Wachsamkeit, Berlin/ Boston 2022. 65 Bratton, The Stack, S. 338. 66 Immanuel Kant, „ Kritik der Urteilskraft. II. Buch, § 25 (A 80, B 81) “ [1790], in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Bd. X., Frankfurt a. M. 1957, hier S. 333. 67 KU § 23, II 87 ff. 68 Donna Haraway, Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt a. M./ New York 2018, S. 141 f. 69 Haraway, Unruhig bleiben, S. 138. Siehe dazu etwa auch die Begeisterung Latours für die Kunst von Tómas Saraceno: Bruno Latour, „ Some Experiments in Art and Politics “ , ht tps: / / www.e-flux.com/ journal/ 23/ 67790/ so me-experiments-in-art-and-politics/ [Zugriff am 10.08.2022]. 70 Siehe meine Kritik an Bennett: Tanja Prokic ´, „ From Constellations to Assemblages: Benjamin, Deleuze, and the Question of Materialism “ , in: Deleuze and Guattari Studies (Special Issue: „ Deleuze and the Material Turn “ ) 15/ 4 (2021), S. 543 - 570. 71 Elena Beregow, „ Theorieatmosphären. Soziologische Denkstile als affektive Praxis “ , in: Berliner Journal für Soziologie 31, Nr. 2 (2021): 189 - 217, hier S. 200. 72 Ebd. 73 Vgl. dazu Mario Grizelj, Oliver Jahraus, Tanja Prokic´, Vor der Theorie. Immersion - Materialität - Intensität. Tagungsband, Würzburg 2014. 96 Tanja Prokic´