eJournals Forum Modernes Theater 34/1

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0009
61
2023
341 Balme

Choreographien in/der Distanz

61
2023
Katja Schneider
Durch die Covid-19-Pandemie gerieten Konzepte von Nähe und Distanz im Spannungsfeld von Körper, Ökologie und Atmosphäre ebenso auf neue Weise ins Blickfeld wie partizipative und interventionistische choreographische Projekte. Indem in der Pandemie die Nutzung des städtischen Raums für die Bewohner*innen reduziert wurde, beeinflusste dies auf gravierende Weise speziell solche choreographischen Projekte, die etablierte Raumwahrnehmungen durchkreuzen, den Modus von Räumen verändern und zugleich die ordnenden Kräfte solcher Räume deutlich machen wollten. Am Beispiel von zwei Produktionen – trajectory – pictures of the fleeting world des Münchner Choreographen Micha Purucker sowie Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett der Gruppe Ligna – konturiert der Beitrag, wie sich Projekte im Kontext der Pandemie auf je besondere kinästhetische und atmosphärische Weise im öffentlichen Raum situieren. Außerdem fragt er danach, welche Affizierungsstrategien mit Bruno Latours Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown (2021) korrespondieren.
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Choreographien in/ der Distanz. Affizierung im Transit Katja Schneider (Frankfurt am Main) Durch die Covid-19-Pandemie gerieten Konzepte von Nähe und Distanz im Spannungsfeld von Körper, Ökologie und Atmosphäre ebenso auf neue Weise ins Blickfeld wie partizipative und interventionistische choreographische Projekte. Indem in der Pandemie die Nutzung des städtischen Raums für die Bewohner*innen reduziert wurde, beeinflusste dies auf gravierende Weise speziell solche choreographischen Projekte, die etablierte Raumwahrnehmungen durchkreuzen, den Modus von Räumen verändern und zugleich die ordnenden Kräfte solcher Räume deutlich machen wollten. Am Beispiel von zwei Produktionen - trajectory - pictures of the fleeting world des Münchner Choreographen Micha Purucker sowie Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett der Gruppe Ligna - konturiert der Beitrag, wie sich Projekte im Kontext der Pandemie auf je besondere kinästhetische und atmosphärische Weise im öffentlichen Raum situieren. Außerdem fragt er danach, welche Affizierungsstrategien mit Bruno Latours Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown (2021) korrespondieren. Ein Blick zurück in den April 2020: „ Künstler*innen laufen über das Gelände, Techniker*innen, tatsächlich auch ein klein wenig Publikum, obwohl das hier eigentlich gar nicht sein sollte. Und Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard gibt Handlungsanweisungen: ‚ Haltet Abstand, flaniert ein bisschen, es darf nicht aussehen wie eine Veranstaltung! ‘“ 1 So beschreibt der Kulturjournalist Falk Schreiber ein Event auf Kampnagel während des ersten Lockdowns, bei dem den erforderlichen Hygiene- und Abstandsregeln Folge geleistet werden sollte. Dem Gehen der Besucher*innen auf Distanz und in scheinbar zufälliger Kopräsenz, das generell auch eine „ gar nicht mal uninteressante Kontaktvermeidungsimprovisation “ 2 ergeben könne, gewann der Kritiker dabei über die pragmatische Dimension hinaus offensichtlich eine spezifisch ästhetische Qualität ab: „ Solche Choreographien werden überall eingeübt: Choreographien, in denen der öffentliche Raum durchstreift, jede Berührung aber vermieden wird. “ 3 Choreographie - und das weist sie sowohl im Gebrauch Schreibers im Hinblick auf das proxemische Verhalten der Besucher*innen auf Kampnagel als auch im Verständnis zeitgenössischen Tanzes aus - entsteht im konfligierenden Spannungsfeld aus ordnenden Vorgaben und individueller körperlicher Ausführung. In solch erweitertem, deutlich über ein Verständnis von organisierter Bewegung in Zeit und Raum 4 hinausgehendem Choreographiebegriff 5 sind auch Formate wie Walks, Parkour-Läufe, Gänge sowie nomadische und ‚ site-specific ‘ -Projekte enthalten und bilden Beispiele choreographischer Aktivität, die gleichermaßen (wenn auch unterschiedlich) von Akteur*innen und Publikum ausgeführt werden können. In einem spezifischen Umfeld auf besondere Weise propriozeptiv und kinästhetisch affiziert zu werden, ist kennzeichnend für choreographische Projekte im öffentlichen Raum. Solches „ practising place “ 6 geht einher mit einer temporären, atmosphärischen Aufladung eines Umfelds, die auf kinästhetischen Erfahrungen basiert und diese zugleich ermöglicht, und kann als Ausdruck von Handlungsmächtigkeit und Selbstwirksamkeit verstanden werden. 7 In meinem Beitrag wer- Forum Modernes Theater, 34/ 1, 97 - 110. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0009 de ich zwei choreographische Projekte im öffentlichen Raum näher untersuchen, die sich auf je besondere kinästhetische und atmosphärische Weise im öffentlichen Raum situieren und die beide von der Situation des Lockdowns betroffen waren. Um die Spezifik der beiden Arbeiten - es handelt sich um trajectory - pictures of the fleeting world des Münchner Choreographen Micha Purucker einerseits und Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett der Gruppe Ligna andererseits - zu verdeutlichen, möchte ich zunächst auf choreographische Konzepte eingehen, die mit einer spezifische Affizierung von Umwelt korrelieren. Permeable Relationen Die ökologische Überzeugung, dass wir immer von unserer Umwelt affiziert werden, weil wir einen Körper haben, und dass diese Affizierungen in Relation zur Umwelt im Tanz verkörpert werden können, ist ein Kennzeichen zeitgenössischen Tanzes. Insofern scheinen die auf aktuellen Covid-19- Pandemie-Erfahrungen basierenden „ Lektionen “ von Bruno Latour, die das Bewusstsein darüber schärfen, dass, „ einen Körper zu haben bedeutet, zu lernen affiziert zu werden “ 8 , auf ein Wissen zu verweisen, das dem Tanz bereits inhärent ist - wenn es auch in der Regel nicht in Latourscher Radikalität umgesetzt wird. Denn die Erweiterung zeitgenössischer Tanztechniken um somatische Ansätze 9 und Konzepte des Fluiden behält zumindest heuristisch die Idee von einem ‚ menschlichen Körper ‘ bei. Latour hingegen wirft die Frage auf: Was ist ein ‚ menschlicher ‘ Körper [ … ]? Die Ungewissheit über die genauen Grenzen eines Körpers ist so groß, dass Lynn Margulis vorgeschlagen hat, den allzu engen Begriff ‚ Organismus ‘ durch das zu ersetzen, was sie ‚ Holobionten ‘ (Gesamtlebewesen) nennt, eine wolkenartige, nur vage konturierte Gesamtheit von Agentien, die es relativ dauerhaften Membranen ermöglichen, dank der Hilfe fortzubestehen, die das Außerhalb dem bietet, was sich innerhalb befindet. 10 Die Jahre der Covid-19-Pandemie waren (und sind) geprägt von Distanz und Distanzierung. Zugleich veranschaulichen sie in paradoxer Umkehrung und auf erschreckende Weise, wie nah und verbunden wir untereinander und mit unserer Umwelt sind. Als die Luft zum Atmen zu einem Risiko wurde, sollten wir uns separieren - „ einschließen “ in Bruno Latours Worten - , und uns „ Eingeschlossenen “ konnte deutlich werden, wie „ auf immer miteinander vermischt, unentwirrbar verquickt, ineinander verschachtelt “ 11 Mensch und Umwelt sind. Latours „ Lektionen aus dem Lockdown “ , wie der deutsche Untertitel seines 2021 publizierten Buches Wo bin ich? lautet, beziehen sich auf Wissensinhalte, die speziell (wenn auch partiell) im Tanz realisiert werden. Als ein frühes, prominentes und einflussreiches Beispiel sei hier die Arbeit von Anna Halprin genannt. Abb. 1: Eine der Explorationen Anna Halprins auf ihrem legendären „ Dance Deck “ . Die US-amerikanische Choreographin, Tänzerin, Lehrerin und Therapeutin entwickelte bereits in den 1950er Jahren eine 98 Katja Schneider somatisch orientierte Art und Weise zu arbeiten, in der die Aufmerksamkeit der Künstlerin auf den eigenen Körper in seiner Affizierung durch die Umwelt im Fokus steht. Eines dieser stark von der Natur beeinflussten Stücke ist The Branch Dance (1957), eine Gruppenchoreographie mit Zweigen und Ästen, die auf dem hölzernen „ Dance Deck “ ihres Hauses in Kalifornien open air gezeigt wurde (Abb. 1). Die in das Projekt involvierte Tänzerin und Choreographin Simone Forti betont den Stellenwert, den diese choreographische Praxis einer Relationierung von Körper und Umwelt im Schaffen Halprins einnahm: She taught the process of going into the woods and observing something for a period of time, and then coming back and somehow working from those impressions … . She led us to this awareness of somatic sensations in response to perceptions outside so that the inside and outside of each of us would be working together. 12 Künstlerische Explorationen in der kalifornischen Landschaft waren eine Konstante in Halprins Arbeit, die sich später auch in Still Dance with Anna Halprin (1998 - 2002) fotografisch materialisierte. Die bildende Künstlerin und Fotografin Eeo Stubblefield entwickelte einen Score für Halprin und inszenierte sie für ihre Fotos nackt, bedeckt von Schlamm und Blättern, überrollt von Wellen, in einem Strohkostüm im Feld, fast mimikryhaft verschwindend in ihrer Umgebung. Die Fotografie lenkt den distanzierten Blick des Betrachters auf Halprins inszenierten Körper, der sich mit seiner Umwelt verbindet. Die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Wittmann legt nahe, dass die von Stubblefield fotografisch beglaubigte Auflösung der Grenzen zwischen dem Körper der Tänzerin und ihrer Umgebung das choreographische Programm Halprins als ein wechselseitiges Affektionsgeschehen verkörpert: Das Leben in der Natur, für Jahrzehnte auch in den Wäldern, Bergen, Seen und am Pazifischen Ozean, war für Anna Halprin immer mehr als nur Inspiration. Es ist für sie ein Weg, Prozesse wahrzunehmen und zu erkunden, an denen der Mensch als biologische, kulturelle und soziale Spezies teilnimmt. Darin gründet, so könnte man vorsichtig formulieren, ihre Ästhetik. ‚ We are not the center of the universe. We are not in control. We are part of it. ‘ 13 Sich als Tänzer*in/ Choreograph*in permeabel für die Umwelt zu machen - sei es für die Natur wie bei Halprin, für die soziale Umwelt und ihren psycho-somatischen Niederschlag auf Körper wie bei Meg Stuart oder als Materie neben anderen Elementen wie bei Mette Ingvartsen - und sich als Künstler*in so zu destabilisieren und zu dezentrieren, bedeutet für die Rezeption, einem atmosphärischen ‚ Drängen ‘ nachzugeben, das in den entsprechenden Inszenierungen kinästhetisch und emotional wahrgenommen werden soll. Das Konzept einer solchen mutuellen Permeabilität zwischen der Körperlichkeit der Performenden mit ihrer sozio-biologischen Umwelt einerseits und zwischen Körpern von Zusehenden und Performenden andererseits, einer solchen Verwobenheit auf mehreren Ebenen, resoniert partiell mit neumaterialistischen Theorien. Anzuknüpfen wäre hier an Karen Barads „ intra-activity “ 14 , die Annahme von „ phenomena - dynamic topological reconfigurings/ entanglements, relationalities/ (re)articulations “ 15 in einer sich dyamisch prozessierenden Welt: This ongoing flow of agency through which ‚ part ‘ of the world makes itself differentially intelligible to another ‚ part ‘ of the world and through which local causal structures, boundaries, and properties are stabilized and destabilzed does not take place in space and time but in the making of spacetime itself. 16 99 Choreographien in/ der Distanz. Affizierung im Transit Entscheidend scheint mir jedoch, dass dieses Entanglement auf eine Weise gedacht wird, die eine Figur des ‚ Gegenüber ‘ radikal ausschließt, um wechselseitige Abhängigkeiten zu akzentuieren. 17 Bis zu welchem Grad lässt sich in einem konventiollen theatralen Setting die Figuration des ‚ Gegenüber ‘ reduzieren, die, wie Latour formuliert, dazu führe, „ sich anstarren zu lassen “ 18 . Um an die erwähnten Beispiele von Anna Halprin anzuknüpfen: So verwoben mit der Umwelt sie ihre choreographische Arbeit konzeptualisiert, es handelt sich hier um ein Entanglement auf der Produktionsebene, insofern auf der Rezeptionsebene die Distanz bleibt, das Beobachten von Performenden und Betrachten von Fotografien. Diesem Dilemma inszenierter ‚ Intraaktion ‘ entkommen solche Veranstaltungen kaum, auch wenn sie auf gesteigerte Strategien der Immersion setzen; denn auch Instanzen wie Autor*innen, Werk, Publikum bleiben stabil. Für Inszenierungen dieser Art, die in Theaterräumen stattfinden, hielt das Eingeschlossen-Sein in Folge der Covid-19- Pandemie zwar auch eine „ Lektion “ bereit, deren existentielles Ausmaß sich aber weniger einer neuen Selbsterkenntnis im Sinne Latours verdankte, sondern dem Totalausfall von Präsentations- und Rezeptionsmöglichkeiten durch das Schließen der Theater, Galerien und Museen im Lockdown. Auf andere Weise betroffen von tatsächlichen Umkodierungen und einer zu lernenden Latourschen „ Lektion “ waren hingegen Performances und Choreographien im öffentlichen urbanen Raum. Die plötzliche „ virologische [ … ] Deutungshoheit über den Raum “ 19 hatte diesen nachhaltig verändert. Neue, die Räume materiell und symbolisch strukturierende Markierungen im „ Meer der Zeichen “ 20 tauchten sowohl in den gewohnten Innenräumen als auch im urbanen Stadtraum auf und differenzierten so den Raum semiotisch und atmosphärisch aus. Einbahnregelungen, Pfeilführungen, Absperrbänder kanalisierten die Navigation durch bekannte Territorien. Mit den neuen Hinweisen und der korporalen Aufführung der Hygiene- und Abstandsregeln wurde der Raum nicht nur neu markiert, ihm wurde nicht nur eine neue Lesart hinzugefügt, sondern er verwandelte sich tatsächlich, wenn man man sich auf das Konzept des ‚ practising place ‘ bezieht. Längeres Verweilen an einem Ort war nicht gestattet, Menschenansammlungen sollten unterlassen werden, allein deren Anschein war sogar zu vermeiden. Räume sollten so zu Durchgängen werden, wie sie aus Transitbereichen 21 zum Beispiel in Flughäfen bekannt sind, dazu geschaffen, sie zügig in einer Richtung zu passieren. Konfrontiert mit dem Herunterfahren des öffentlichen Lebens und der Reduzierung individueller Handlungsmöglichkeiten, machten wir während der Covid-19- Pandemie als Kollektiv die Erfahrung, dass Eingriffe in den menschlichen Aktionsradius im öffentlichen Raum die von uns ansonsten wie selbstverständlich bevölkerten Räume tatsächlich und nachhaltig modifizierten. Es zeigte sich, wie fragil habitualisiertes Verhalten im institutionalisierten öffentlichen Raum ist und wie schnell das gewohnte Umfeld seinen Modus konventioneller Alltäglichkeit verliert. Indem in der Pandemie der städtische Raum auf Durchgangsfunktionen reduziert wurde, wurden auf gravierende Weise speziell solche choreographischen Projekte beeinflusst, die etablierte Raumwahrnehmungen durchkreuzen, den Modus von Räumen verändern und zugleich die ordnenden Kräfte solcher Räume deutlich machen wollen. Konzeptuelle Bezugspunkte bilden dabei Praktiken der Situationistischen Internationale wie Dérive und Psychogeographie: Erstere bestand aus einem ‚ flüchtigen Durchstreifen verschiedener Umgebungen ‘ (d. h. zielloses, zufälliges Umherwandern in der 100 Katja Schneider Stadt, nur geleitet und gestoßen durch den unterbewußten ‚ Zug ‘ der Architektur); letztere bezeichnete das Studium und die Wechselbeziehungen des ‚ Driftens ‘ und das Herstellen neuer, emotional begründeter Stadtpläne, die als Grundlage zur Konstruktion neuer, utopischer Umgebungen dienen sollten. 22 Guy Debord und die Situationisten formulierten und erprobten auf Basis dieser Fortbewegungskonzepte in urbanen Umgebungen in den 1950er und 1960er Jahren ein Arsenal an Praktiken und theoretischen Begründungen, die bis heute für Arbeiten von Micha Purucker, Rimini Protokoll, Martin Nachbar oder Ligna virulent sind. Auf diesen Kontext städtischer Interventionen verweist explizit Hilke Berger: „ Es gibt eine Vielzahl unendlich spannender Projekte, die alle eint, was die Situationisten bereits [ … ] beabsichtigten: eine Wahrnehmungsschärfung und Veränderung des alltäglichen urbanen Raums. “ 23 Der Ausgriff ins Alltägliche, atmosphärische Irritationen und anschließende Neujustierung im Vertrauten, das Abweichen von angepassten Verhaltensweisen und die Aneignung von Stadtraum prägen diese Projekte. Gemeinsam ist ihnen auch die dezidierte Kritik an kapitalistischen und neoliberalen Strukturen sowie an daran angepasste Verhaltensnormierungen. Da stellt sich die Frage, was mit diesen Projekten passiert, wenn das habitualisierte Verhalten, gegen das angearbeitet wird, in Zeiten der Pandemie selbst gerade in einem spektakulären Umprägungsprozess begriffen ist. Was verändert sich, wenn Normierungen und Gebrauchsweisen urbaner Orte, die sich bislang als äußerst hartnäckig erwiesen haben, wenn die, von Ligna so bezeichnete, „ Homogenisierung innerstädtischer Räume zu Konsumzonen “ 24 Covid-19-bedingt zusammenbrechen? Was geschieht also, wenn sich die städtischen „ Konsumzonen “ zu Zonen des Nicht-Konsums wandeln, in denen normalisierte Gesten unfunktional werden - „ die Straße an den Schaufenstern in einem gewissen Abstand entlang gehen, an einem Schaufenster stehen bleiben, näher treten, schließlich den Laden betreten und das eigene Geld gegen eine begehrte Ware tauschen und die Ware zum Eigentum zu machen, das in einer Plastiktüte versteckt wird “ 25 ? Die Ökonomisierung des öffentlichen Raums, gegen die viele künstlerische Projekte im öffentlichen Raum gerichtet sind, verschwand nicht im Lockdown, aber sie ist in weiten Teilen dysfunktional geworden (auch weil sie sich in den virtuellen Raum verlagert hat). Neben dieser Zurückdrängung des normativen und habitualisierten Konsumverhaltens im öffentlichen Raum zeigt sich eine zweite pandemiebedingte Veränderung, die sich als nicht weniger tiefgreifend herausstellt. Denn erschwert wurden auch insbesondere Praktiken des Schweifens, der Vergemeinschaftung, des gemeinsamen Abhängens, die sich Verwertungslogiken widersetzen und durch künstlerische Interventionen und Strategien gezielt unterstützt werden können. Dazu muss es einzelnen in einer Gruppe ermöglicht werden, sich zu begegnen, aber dabei, zumindest punktuell, nicht zu assimilieren. Dieses abweichende Verhalten muss potentiell Aufmerksamkeit generieren können, es braucht die Möglichkeit des Verharrens in einer hektischen Umwelt 26 - oder der permanenten Motion in einer stillgestellten Umwelt. Letzteres manifestierte sich auch in Walks und Walking Pieces. Während der Pandemie verzeichnete das Fachmagazin tanz in seiner Spielplanübersicht neben unzähligen Online- und Video-on-Demand-Produktionen in den Monaten Juli und August 2020 fünf solcher Veranstaltungen, darunter auch von Ligna den Audio-Walk Ulysses 2.0 für Einzel- Gänger*innen auf Kampnagel. In Großbritannien wurden Walks unter dem Titel Wal- 101 Choreographien in/ der Distanz. Affizierung im Transit king Publics/ Walking Arts #WalkCreate Gathering im Netz gesammelt. Der britische Künstler Hamish Fulton - der als „ Walking Artist “ seit 1969 das Gehen zum Zentrum seines Werks gemacht hat - schuf während des ersten Lockdowns ein weiteres seiner typographischen Werke, in denen er seine konzeptualisierten Geherfahrungen mediatisiert. Das Wandbild The Quietest Day, 3 April 2020 reagiert auf das radikale Zurückfahren sozialer Aktivitäten während der Covid-19-Pandemie. 27 In roter Schrift und durchgehender Großschreibung nennt das Werk ein Datum (3. April 2020, während des Lockdowns in GB), einen Zeitraum (49 Tage), eine Jahreszeit (Frühling 2020), einen Ort (im Südosten Englands) und zwei Tätigkeiten: Zählen ( „ 49 barefoot paces “ ) und Gehen ( „ in every direction on grass each day “ ). In schwarzer Schrift steht am unteren Rand - mit einer Leerzeile vom Text in roter Schrift getrennt - „ Song of the Blackbird “ . Das Lied der Amsel erklingt am ruhigsten Tag. Man kann diesen Atmosphäre-Marker lesen als eine akustische Sensation am ruhigsten (stillsten) Tag oder als die Emphase gesteigerter Präsenz am ruhigsten (einsamsten) Tag beziehungsweise als eine Kombination von beidem, da die akustische Ruhe einhergeht mit Einsamkeit als Folge von einzuhaltenden Abstands- und Hygieneregeln. Fultons Wandbild übersetzt medial eine Folge von 49 Gängen, höchstwahrscheinlich von ihm allein unternommen, die eine kollektive Situationserfahrung (Quarantäne/ Lockdown) mit individuellen Erfahrungen gesteigerter Sensitivität (barfuß im Aprilgras, Gesang der Amsel), spezifischer Proxemik (Gehen) und spatiotemporaler Bestimmung (3. April 2020, 49 Tage, Südosten Englands) in einem typographischen Bild verdichtet. Gehen und Zählen behaupten sich hier als menschliche Aktivitäten in einer Zeit, in der solche Aktivitäten von Regularien generell beschnitten wurden ( „ during a reduction of human activity “ ). Distanz zu halten war bekanntermaßen die wichtigste Auflage in den ersten beiden Jahren der Pandemie. Gehen mit Abstand, Stehen mit Abstand, Agieren mit Abstand - als die ersten Lockerungen einsetzten, reduzierten Theater die Plätze, entzerrten die Reihen, ließen Sessel entfernen, um das Publikum auf Abstand zu halten und gaben Distanzen für die Interaktionen auf der Bühne vor, was zumeist den technischen Abteilungen oblag, während Choreograph*innen und Dramaturg*innen gemäß den Vorgaben bestehende Stücke umarbeiteten und neue erarbeiteten, um so die Auflagen zu erfüllen, die eine Öffnung der Theater erlaubten. Distanz auf der Bühne und im Zuschauerraum bedeutete auch, dass Zugänge zu Theatern klar geregelt wurden: Wollte man zum Beispiel eine Veranstaltung besuchen, dann hieß es: Warten in abgetrennten Bereichen unter Einhaltung des Abstands, Einlass in kleinen Gruppen nach Sitzplatznummer auf den im Vorfeld besorgten Tickets und Auslass in derjenigen Kohorte, in der man in einer Reihe zusammensortiert worden war. Die Steuerung dieser durchaus komplexen Choreographien der Besucher*innen oblag in der Regel den Platzanweiser*innen, die tunlichst den Überblick über Nähe und Distanz der Menschen behalten sollten. Situationen, in denen sich Menschen versammelten, waren stark reduziert, reglementiert sowie klar markiert. Die deutlich sichtbare Kennzeichnung als Veranstaltung erwies sich überhaupt als Voraussetzung zu deren Genehmigung. Zugleich allerdings, so verdeutlicht es die eingangs zitierte Beschreibung Falk Schreibers, durfte eine Veranstaltung paradoxerweise weder wie eine Versammlung aussehen noch eine sein. Ästhetik der Peripherie Die Arbeit trajectory - pictures of the fleeting world von Micha Purucker trägt die Dynamik 102 Katja Schneider des Instabilen bereits im Titel. Sie war im Münchner Stadtraum für die Zeit von 24. März bis 2. April 2020 anberaumt, geplant als Intervention, die sich an wechselnden Orten materialisieren, nur einer rudimentären Logik der Ankündigung und des Beginns der ‚ Aufführung ‘ folgen, und darin weder eine klare Blicknoch Publikumsführung etablieren sollte. Der Lockdown verunmöglichte die Live-Performance. Stattfinden konnte sie nur in ihrem medialen fotografischen Teil, großen Werbeflächen, die unterschiedliche Motive in spezifischen Farbschemata zeigen: etwa Reste von antik anmutenden Säulen, eine Funkstation, Menschen, die mit Laptop und Rucksack vor einer Wand sitzen. Die Bilder wurden zu Relikten. Denn was nicht stattfinden konnte, war die performative Aneignung der Orte. Geplant war: Acht Performer*innen tauchen vor diesen Wänden auf und führen signifikante Gesten und Handlungen aus - etwa aufs Handy blicken, die Bildfläche ansehen, an ihr vorbeigehen, vor ihr kauern, einen Ball festhaltend. Das flächige Plakatmotiv und die temporär auftauchenden Körper der Performer*innen etablieren so sich rasch konstituierende theatrale Situationen, „ gestimmte Räume “ 28 (Elisabeth Ströker), atmosphärische Teilräume in einem alltäglichen öffentlichen Raum. Die räumliche Nähe der Performer*innen zur Bildfläche, ein spezifisches Farbschema des Kostüms, das mit der Farbgebung der Bildfläche korrespondiert, und die dadurch gelenkte Aufmerksamkeit identifizieren den Moment als eine die alltägliche Atmosphäre des Stadtraums übersteigende Situation. Nach der rasch wieder de-stituierten Situation begeben sich die Performer*innen zu einer anderen Bildfläche. Das Spiel „ mit geführter und überraschender Wahrnehmung “ 29 , so Purucker, konnte wie gesagt wegen der Covid-19-Pandemie nicht stattfinden, die Bildflächen aber hingen. Abb. 2: Micha Purucker trajectory - pictures of the fleeting world, 2020. © Volker Derlath 103 Choreographien in/ der Distanz. Affizierung im Transit Für die unregulierte, unvorhergesehene Drift durch die Stadt, die sich hier ergeben sollte, gab es keine Möglichkeit - abgesehen davon, dass der Verkehr sowieso deutlich reduziert war. Die Gänge der U-Bahn, die Flächen in Untergeschossen wurden in ihrer Eigenschaft als Transitbereiche bekräftigt und vereindeutigt, die gerichtete Bewegung der Passant*innen sollte allenfalls nur durch punktuelle Aufmerksamkeit - der schnelle, streifende Blick auf das Plakat - abgelenkt werden (Abb. 2). Der hastende, zielorientierte Mensch sollte nicht in seinem Alltagsverhalten irritiert werden. Irritieren, vom Lateinischen irritare, bedeutet (auf)reizen, erregen, und damit eine Verunsicherung und Desorientierung, die in pandemischen Zeiten im öffentlichen Raum zu vermeiden war. Er sollte nicht in eine neue, ungewohnte Situation immergieren. Puruckers Arbeit - so wie sie geplant war - oszilliert zwischen einem verfremdenden Eingriff in den öffentlichen Raum (durch die Bildflächen), einer theatralen Aktion (der Performer*innen) und einem Walk (sowohl der Performer*innen als auch der Passant*innen, die den Performer*innen möglicherweise folgen wollten). Was genau passieren würde, war nicht zu kontrollieren. Möglicherweise hätte sie den Passant*innen erlaubt, sich im Latourschen Sinne „ verorten “ 30 zu lernen, also „ immer spezifischer, eigentümlicher “ 31 zu werden, als Netzwerk- Akteur*in, der*die sich in seinem*ihrem Verwobensein mit der Umwelt ‚ erkennt ‘ . Es scheint, als wäre diese individuelle Immersion mit unvorhergesehenem Resultat zu problematisch für die Pandemie-Situation gewesen, wohingegen regelgeleitete spielerische Aktivitäten, auch kollektive, zunehmend populärer wurden. Für die städtische Lebenssituation in Kopenhagen konstatiert David Sim etwa: Während wir also das Leben in öffentlichen Räumen betrachteten, stellten wir fest, dass es einen Rückgang bei den klassischen Aktivitäten im Stadtzentrum gab, aber an ihre Stelle vermehrt Erholung, Sport und Spiel getreten waren. Tatsächlich war die Nutzung der öffentlichen Plätze mehr oder weniger identisch mit der Zeit vor Corona, dagegen war die Mobilität stark zurückgegangen. Die Anzahl der Fußgänger*innen stieg in den Quartieren außerhalb des Stadtzentrums, während sich die Mobilität im Zentrum verringerte. Orte, die bereits eine öffentliche Aktivität wie Ballspielen ermöglichten, wurden sogar noch populärer als zuvor. 32 Während der Pandemie verloren Orte also ihre stabilen Zuordnungen und atmosphärischen Einlassungen. Stadtzentren entvölkerten sich und mit ihnen ihre kommerzielle Nutzung. Im Gegenzug wurden periphere Räume atmosphärisch neu aufgeladen. Ein Beispiel dafür bot die im Sommer 2020 in Koproduktion von Künstlerhaus Mousonturm, dem Hessischen Staatsballett und der Tanzplattform Rhein-Main entstandene Arbeit des Performance-Kollektivs Ligna 33 mit dem Titel Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett, das in expliziter Reaktion auf die Pandemie-Situation entstanden war. 34 Von vierzehn internationalen Choreograph*innen 35 bekamen die Teilnehmer*innen, zu denen viele Laien zählten, per Kopfhörer in einem gemeinsam geteilten Raum, auf einem städtischen Platz, unter Einhaltung der Abstandsregeln, gesprochene Anweisungen für choreographiertes Verhalten zu hören. Gemäß den unterschiedlichen Ansagen bewegten sich die nunmehrigen Performer*innen allein, individuell, zugleich aber auch gemeinsam. Die immersive, selbstbezügliche, in die Erfahrung der Einzelnen verlagerte Wahrnehmung ermöglichte Momente von gerichteter Aufmerksamkeit, wenn die Tanzenden hörten: „ Let ’ s think about ourselves and know the people around us “ . 36 Die verbale Aufforderung der gesprochenen Scores verband das tanzende Individuum mit den anderen 104 Katja Schneider räumlich distanzierten Individuen, da diese kinästhetisch erfahrbar wurden. Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett ermöglichte ein kollektives und zugleich immersives Erlebnis, das auf seine Art singulär war in der Zeit des Lockdowns. Affiziert durch die Stimmen im Ohr, ermöglichte der Tanz in einer Choreographie der Distanz Begegnungen, die körperlich waren, obwohl sie ohne körperliche Berührung auskamen (Abb. 3). Abb. 3: LIGNA, Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett von LIGNA, 2020. Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett wurde an unterschiedlichen Orten aufgeführt, von zwei Veranstaltungen existieren mediale Übersetzungen, auf die Lignas Homepage verlinkt: eine rund dreizehnminütige filmische „ Dokumentation “ 37 , die beim Berliner Festival Tanz im August 2020 aufgenommen wurde, sowie ein dreiminütiger „ Trailer “ 38 , der in einem Stadtraum gefilmt und nicht datiert wurde. Beide Mediatisierungen sind speziell im Hinblick auf das konkrete Umfeld interessant. Denn solche Interventionen in den öffentlichen Raum leben von der Irritation, der Affizierung nicht nur der Teilnehmenden, sondern auch der Passant*innen, die mit nicht-alltäglichen Verrichtungen im öffentlichen Raum konfrontiert werden. Nicht selten bleiben diese stehen und fragen das „ teilnehmende Publikum “ 39 - eigentlich: Akteur*innen im öffentlichen Raum - , was sie denn gerade dort machen würden, kommentieren untereinander, was sie sehen, oder nehmen ostentativ keine Notiz davon, was wiederum vom „ teilnehmenden Publikum “ registriert wird. Manchmal lagert sich um die Tanzenden auch ein Ring von nichttanzenden Menschen, die stehenbleiben, sich hinsetzen, Haufen bilden und so ein Publikum zweiter Ordnung darstellen, insofern man Lignas Bezeichnung des „ teilnehmenden Publikums “ - also der Tanzenden - als Publikum erster Ordnung übernimmt. In beiden filmischen Mediatisierungen von Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett sucht man nach diesem aktivierten Publikum zweiter Ordnung vergeblich. Die Interventionen durch das „ teilnehmende Publikum “ manifestieren sich als künstliches und künstlerisches Substitut für momentan nicht mögliche Praktiken an einem Ort der Begegnung. Künstlich, weil sie angemeldet und genehmigt, geplant und vorhersehbar sind. Substitut, weil sie einen Verlust deutlich machen - den der Unvorhersehbarkeit, der Irritation und Desorientierung im öffentlichen Raum. Wie nebenbei zeigt die mediatisierte Form des Balletts als Film, dass ein Blick für ein physisch nicht-teilnehmendes Publikum nur ein vorübergehender, streifender sein kann, deutlich abgegrenzt vom Vollzug der choreographischen Handlung im öffentlichen Raum. Die durch den Score vorgegebenen Verhaltensanweisungen resultierten in einer regelbasierten Performance, die den potentiell für alle offenen Umraum in ein Auditorium für diejenigen, die nicht „ teilnehmendes Publikum “ waren, umwandelte beziehungsweise dieses ganz ausschloss: die „ Dokumentation “ der Version bei Tanz im August etwa zeigt gar kein Publikum zweiter Ordnung mehr. Getanzt wurde auf einem durch eine Metallumrandung eingegrenzten Parkdeck. Die Youtube-User*innen, die das Video anklicken, übernehmen 105 Choreographien in/ der Distanz. Affizierung im Transit einerseits die Rolle des Publikums, indem sie den Tanzenden zusehen, und werden zugleich zu akustisch Teilnehmenden, insofern sie die choreographischen Anweisungen, die sonst nur den Tanzenden zugespielt werden, als Audiospur hören. Der Trailer hingegen zeigt, dass aber auch in einem belebteren Umfeld der Blick des Publikums zweiter Ordnung temporär ist, driftend, denn die Menschen sind klar abgegrenzt von den Tanzenden im öffentlichen Raum. Der Trailer inszeniert das Publikum zweiter Ordnung als Insass*innen einer vorüberfahrenden Tram, als Rollerfahrer*innen, als Vorübergehende. Jemand schiebt einen Kinderwagen. Es sind im wörtlichen Sinn Passant*innen, die quasi im Vorübergehen einen Blick auf das Ballett werfen. Ein höherer Grad an Affizierung scheint nicht vorgesehen zu sein. Die potentielle Intervention wandelt sich so in eine theatrale Performance im Freien, auf einem Platz im öffentlichen Raum. Das anarchische Potential, das typisch für Interventionen im öffentlichen Raum, auch für die von Ligna ist, ist hier nur noch ahnbar. Der Platz in der Stadt wie das Parkdeck transformierte sich in einen zugerichteten, geschlossenen, nach Regeln funktionierenden Spielplatz. Insofern ist der Begriff „ Ballett “ durchaus zutreffend, da die Tanzenden einen choreographischen Score ausführen, indem sie den gehörten Anweisungen folgen, und so ein - bei allen individuell möglichen Abweichungen und Verweigerungen - gemeinsames Stück aufführen. Das auditiv affizierte und motorisch aktivierte „ teilnehmende Publikum “ agiert auf einer Bühne, die sich selbst genug ist - was im Hinblick auf die Bedingungen, die in Zeiten der Pandemie herrschten, nicht despektierlich gemeint sein soll, es zeigt vielmehr, dass Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett den Teilnehmenden Raum und Möglichkeit gab, sich selbst als wirkmächtig und zu Begegnungen unter den Auflagen der Distanz fähig wahrzunehmen. Inszeniert wird so eine Gruppe „ Eingeschlossener “ , um Latours Begriff noch einmal zu belasten, die im öffentlichen, aber eingehegten Raum, durch Stimmen affiziert und kontrolliert, wieder Kontakt zu sich selbst, zum eigenen Körper und zur Umwelt aufnehmen, also sich ansatzweise als „ holobiontisch “ wahrnehmen kann. Wobei der Titel Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett bei Ligna eine Emphase formuliert, die topologisch nicht ganz widerspruchsfrei zur Performance wirkt: ‚ Zerstreuung ‘ im Sinne von ‚ Unterhaltung ‘ ließe sich ‚ überall! ‘ als Benefit einer Veranstaltung versprechen. Aber topologisch - im Sinne der Transformation von Nähe in Verstreutheit, von Konzentration in Dispersion - als Bewegung ins Entferntere, Unübersichtliche, Ungeplante, Freie, entspricht dies nicht der durch einen Score fix definierten Formation der Körper und ferngesteuerten Verhaltensanweisungen, wie oben beschrieben. ‚ Zerstreuung ‘ im Sinne von ‚ Verbreitung ‘ ( „ disseminaton “ ist die verwendete Übersetzung im Trailer) wiederum würde nur auf weit verbreitete Publikation (analog zu ‚ Sendung ‘ ) referieren. Aber auch hier ist ‚ überall! ‘ eine Übertreibung, auch im Blick etwa auf den im Trailer eingeschalteten Sprecher-Kommentar „ auf der Suche nach einem globalen Körper, der nicht einer ist, sondern viele “ 40 . Die Affizierung der Teilnehmenden erfolgt primär über Fremdsteuerung durch Stimmen, aber wie erwähnt in mediatisierter Form des Youtube-Videos (die live nicht öffentlich gehört werden können). Im Unterschied dazu lässt sich nicht voraussagen, wodurch und wohin sich die Passant*innen mit ihrer Wahrnehmung von Puruckers Interventionsprojekt in dessen Pandemie-Version, bei der nur die Wandflächen realisiert werden konnten, leiten lassen. Hier entscheidet keine akustische Fremdsteuerung, sondern das Erleben plötz- 106 Katja Schneider lich anders „ gestimmter Räume “ führt Passant*innen zu Entscheidungen: ob sie gar nicht darauf eingehen, sich den Wandflächen entziehen, nur einen flüchtigen Blick werfen im Vorbeigehen oder ob sie stehenbleiben, ob sie sich angesprochen und verbunden fühlen mit den Motiven auf den Bildflächen. Ob sie in der geplanten Performance mitlaufen, sich einklinken, die Aktionen der Performer*innen teilen in den sich schnell manifestierenden und wieder auflösenden Momenten. In Puruckers trajectory - pictures of the fleeting world wird die Berufung auf ‚ Flüchtigkeit/ Vergänglichkeit ‘ angewendet auf das Leben selbst und dessen Wahrnehmung, die unerfassbare Totalität mittels einzelner, wechselnder Bilder repräsentiert. Selbst in der Fragmentierung entfaltet die Affizierung im Transit Wirkungen im öffentlichen Raum, die unsere Beweglichkeit auf sanfte Art modifizieren. Lektionen wollen und sollen gelernt werden, erfordern also eine Erkenntnisleistung. Die achte Latoursche Lektion lautet „ Ein Territorium zu beschreiben - aber an Ort und Stelle “ 41 , die dreizehnte fordert „ Sich in alle Richtungen zerstreuen “ 42 , und hier nimmt Latour am Beispiel seiner Allegorie des Käfers Gregor Samsa aus Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung metaphorisch Bewegung und Tanz in Anspruch: Bewegungen seien neu zu erfinden, neu zu erlernen, „ nicht mehr ins Unendliche fortschreiten, sondern lernen, [ … ] zurückzuweichen, auszuscheren. Das ist eine andere Art, sich zu emanzipieren. “ 43 Die ähnliche Begriffsverwendung von ‚ Zerstreuen ‘ bei Latour und bei Ligna möchte ich hier nicht strapazieren, aber es scheint naheliegend zu konstatieren, dass sich die Projekte von Purucker und Ligna diesem Diskurs einschmiegen, indem sie Strategien anbieten, den „ an Ort und Stelle festgenagelten “ 44 in der (pandemiebedingten) Distanz, temporär und im Transit, Chancen eröffnen, physisch und mental in einer Weise zu reagieren, die emanzipierend wirkt - folgt man Latour: „ Wir müssen unsere Bewegungsfähigkeiten, ja unsere Wirkkräfte wiederfinden. [ … ] Im rhythmischen Kriechen meines Gregor liegt Schönheit, liegt Tanz. “ 45 Abbildungen Abb. 1: Anna Halprin, The Branch Dance, 1957, zit. in: Gabriele Wittmann, Ursula Schorn, Ronit Land, Anna Halprin. Tanzprozesser gestalten, München: K. Kieser 2013. Abb. 2: Micha Purucker trajectory - pictures of the fleeting world, 2020. © Volker Derlath. Abb. 3: LIGNA, Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett von LIGNA, 2020. Screenshot des Trailers, im Netz unter: https: / / www.youtube.com/ embed / U_w6Y5R_K-U Anmerkungen 1 Falk Schreiber, „ Ästhetik des Abstands. Kontaktvermeidungsimprovisation ist der prägende Trend - auch im Foyer “ , in: tanz. Zeitschrift für Ballett, Tanz und Performance. Jahrbuch 2020, S. 57 - 59, hier S. 57. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Raum wird hier im raumsoziologischen Sinn als relationaler Raum verstanden. 5 „ Körper spektralisieren sich in Vorstellungsbilder, Medienbilder, projizierte Stimm-Körper und anschauliche anwesende Körper, aufgezeichnete und physisch artikulierte Stimmen, in Licht und Schatten. Bewegung entsteht zwischen all diesen heterogenen Elementen als choreografierte Bewegung. Ein derart erweiterter Choreografiebegriff setzt verschiedene Elemente, Materialien, Körper zueinander in Beziehung. Choreografie ordnet sie an und ordnet ihren Bezug an, der je nach Interessenlage geschlossener 107 Choreographien in/ der Distanz. Affizierung im Transit oder offener gestaltet werden kann. “ Gerald Siegmund, Theater- und Tanzperformance zur Einführung, Hamburg 2020, S. 209. 6 Gretchen Schiller, Sarah Rubidge, „ Introduction “ , in: Dies. (Hg.), Choreographic Dwellings. Practising Place. Houndmills, Basingstoke/ New York, S. 1 - 10, hier S. 2 7 Ebd., „ Here the notion of kinaesthetic inhabitance and the role of the public as performative agents is central. Here constructed spaces become embodied places for the public. Here we slip outside of the traditional forms of choreographic practice. “ 8 Bruno Latour, Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown, Berlin 2022, S. 133 [kursiv im Original]. 9 Zur Definiton von „ somatisch “ : „ Somatic [ … ] refers to internal bodily reactions [ … ]. A somatic level of knowledge and reaction is deeply embedded in the body, it is frequently pre-reflective and pre-conscious, and makes itself known in a range of ways that are difficult to clarify in words [ … ]. “ Susan Kozel, „ Performing encryption “ in: Martina Leeker/ Imanuel Schipper/ Timon Beyes (Hg.), Performing the Digital. Performativity and Performance Studies in Digital Cultures, Bielefeld 2017, S. 116 - 134, hier S. 122, Fn. 10. 10 Latour, Wo bin ich? , S. 67 f. 11 Ebd., S. 65. 12 Die Tänzerin, Choreographin und eine der Protagonist*innen des Postmodern Dance Simone Forti über The Branch Dance, https: / / www.annahalprin.org/ performances [Zugriff am 15.08.2022]. 13 Gabriele Wittmann, „ Anna Halprin: Leben und Werk “ , in: Dies./ Ursula Schorn/ Ronit Land (Hg.): Anna Halprin. Tanz - Prozesse - Gestalten, München 2009, S. 15 - 47, hier S. 43. 14 Karen Barad, „ Posthumanist Performativity: Towards an Understanding of How Matter Comes to Matter “ , in: Signs. Journal of Women in Culture and Society, 28/ 3 (2003), https: / / www.jstor.org/ stable/ 10.086/ 345321 [Zugriff am 05.12 2022], S. 801 - 831, hier S. 817. 15 Ebd. S. 818. 16 Ebd. S. 817. 17 Vgl. Latour, Wo bin ich? , S. 113. 18 Ebd. S. 114. Latour erwähnt in diesem Zusammenhang das Theater: „ Es spielt übrigens keine Rolle, ob man ihm [dem Betrachter; K. S.] ein Meisterwerk vor Augen führt, den Entwurf einer Industrieanlage, einen Schlachtplan, eine Luftaufnahme, eine Theaterszene oder die Karte eines Gebiets, das ein Fürst sich unterwerfen möchte. “ , S. 116. 19 Carsten Ruhl, „ Zur gesellschaftlichen Lage der Architektur “ , in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 17/ 2, 2020, S. 25 - 42, hier S. 25. 20 Peter Stachel, „ Das Meer der Zeichen - Zur Lesbarkeit urbaner Räume als kollektive Gedächtnis-Texte “ , in: Zeitschrift für Semiotik, 36/ 1 - 2 (2016), S. 13 - 34. 21 Ich verwende hier den Begriff „ Transitraum “ funktional im Hinblick auf das zügige Passieren eines Raums und gehe nicht weiter auf die Begriffsprägung durch v. a. Marc Augé als „ Nicht-Orte “ (Marc Augé, Nicht- Orte, München 2011) ein, auch wenn dessen Attribuierung solcher Räume mit Regelhaftigkeit und Zweckhaftigkeit hier weiterführend wäre und gerade im Hinblick auf die Raumwahrnehmung während der Covid-19- Pandemie eine intensive Re-Lektüre lohnen würde: „ [ … ] der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit. “ Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a. M. 1994, S. 121. 22 George Robertson, „ Die Lettristische Internationale “ , in: Wolfgang Dressen (Hg.), Nilpferd des höllischen Urwalds - Spuren in eine unbekannte Stadt - Situationisten, Gruppe SPUR, Kommune I. Ein Ausstellungsgeflecht des Werkbund-Archivs Berlin zwischen Kreuzberg und Scheunenviertel, November 1991, Giessen 1991, S. 67 - 69, hier S. 67 f. 23 Hilke Berger, „‚ Und jetzt bitte alle: Intervention ‘ . Über die Kunst der Partizipation zwischen Instrumentalisierung und Aktivierung “ , in: Günter Jeschonnek (Hg.), Darstellende Künste im öffentlichen Raum. Transformationen von Unorten und ästhetische Interventionen, Ein Projekt vom Bundesver- 108 Katja Schneider band Theater im Öffentlichen Raum und Fonds Darstellende Künste, Berlin 2017, S. 376 - 382, hier: S. 382. 24 LIGNA, an alle! : Radio, Theater, Stadt. Mit einem Vorw. von Patrick Primavesi und einem Bildessay von Arthur Zalewski, hg. Anne König und Paul Feigelfeld in Zusammenarbeit mit LIGNA, Leipzig 2010, S. 135. 25 Ebd. 26 Vgl. etwa die Performance-Videos A Needle Woman (1999 - 2001) der südkoreanischen Künstlerin Kim Sooja. Zur Ausstellung im MoMA PS1: https: / / www.moma.org/ calendar/ exhibitions/ 4732; [Zugriff am 17.09.2022], sowie die prominente Aktion des „ Standing Man “ Erdem Günduz 2013 auf dem Taksim- Platz in Istanbul. Vgl. dazu Katja Schneider, „ Wie stehen? Ein Vorschlag zur Kombination von Tanz- und Bewegungsanalyse mit Kontextualisierungs- und Referenzialisierungsstrategien “ , in: Christopher Balme/ Berenika Szymanski-Düll (Hg.), Methoden der Theaterwissenschaft, Tübingen 2020, S. 199 - 220. 27 Fultons Arbeit war zu sehen in der Ausstellung der Schirn Kunsthalle Frankfurt und ist abgebildet im Katalog Walk! , hg. Matthias Ulrich und Fiona Hesse mit Marie Oucherif, Wien 2022, S. 89 - Abbildungen der Arbeit finden sich auch im Netz, z. B. https: / / www.artsy.net/ artwork/ hamish-fulton-thequietest-day-3-april-2020 [Zugriff am 17.09. 2022]. 28 Elisabeth Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a. M. 1977, S. 31. Vgl. auch Hermann Schmitz/ Matthias Bauer/ Institut für immersive Medien (ifim) der Fachhochschule Kiel (Hg.), Atmosphären: Gestimmte Räume und sinnliche Wahrnehmung (Jahrbuch immersiver Medien 2013), Marburg 2013. 29 http: / / www.micha-purucker.de/ files/ index_s ubmenuL.php? seite=4&folge=33 [Zugriff: 15.09.2022]. 30 Latour, Wo bin ich? , S. 120. 31 Ebd. 32 David Sim, „ Die Soft City in harten Zeiten. Wie sich der öffentliche Raum in Dänemark bewährt hat “ , in: Doris Kleilein/ Friederike Meyer (Hg.), Die Stadt nach Corona, Berlin 2021, S. 112 - 125, hier S. 113. 33 Das Kollektiv besteht aus den drei Künstlern Ole Frahm, Michael Hueners und Torsten Michaelsen. 34 Vgl. die Website von Ligna, https: / / www.lig na.org/ 2020/ 08/ zerstreuung-ueberall-ein-int ernationales-radioballett/ [Zugriff am 18.07. 2022]: „ Das Radioballett Zerstreuung überall! reagiert auf die internationale Pandemie des Covid-19-Virus: Die geschlossenen Grenzen und die Unmöglichkeit zu reisen führen zu einer Abwesenheit von choreographischen Positionen und Stimmen. In Zeiten der Abschottungspolitik und der Rückbesinnung auf das Nationale stellt das Stück eine neue Verbundenheit über Ländergrenzen und Kontinente hinweg her: ein Vorschlag für eine andere Art des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Sorge umeinander. “ 35 Alejandro Ahmed (Brasilien), Bebe Miller (USA), Bhenji Ra (Australien), Edna Jaime (Mosambik), Eisa Jocson (Phillippinen), Geumhyung Jeong (Südkorea), Mamela Nyamza (Südafrika), Maryam Bagheri Nesami & Mitra Ziaee Kia (Iran), Melati Suryodarmo (Indonesien), Nir Shauloff and Dana Yahalomi/ Public Movement (Israel), Raquel Meseguer (Großbritannien), Yuya Tsukahara + contact Gonzo (Japan), https: / / www.ligna. org/ 2020/ 08/ zerstreuung-ueberall-ein-intern ationales-radioballett/ [Zugriff am 18.07. 2022]. 36 Im Trailer „ Zerstreuung überall! / Dissemination everywhere “ , 1: 36 bis 1: 42, im Netz unter: https: / / www.youtube.com/ embed/ U_ w6Y5R_K-U [Zugriff am 17.09.2022]. 37 https: / / www.youtube.com/ embed/ Fb5zJglE07c [Zugriff am 18.07.2022]. 38 https: / / www.youtube.com/ embed/ U_w6Y5R _K-U [Zugriff am 18.07.2022]. 39 Ligna bezeichnet in der Beschreibung ihres Projekts die Tanzenden als teilnehmendes Publikum, https: / / www.ligna.org/ 2020/ 08/ zerstreuung-ueberall-ein-internationalesradioballett/ #more-2658 [Zugriff am 18.07.2022]. 40 https: / / www.youtube.com/ embed/ U_w6Y5R _K-U [Zugriff am 18.07.2022], 00: 44 - 00: 50. 41 Latour, Wo bin ich? , S. 97. 42 Ebd., S. 159. 109 Choreographien in/ der Distanz. Affizierung im Transit 43 Ebd., S. 161. 44 Ebd., S. 98. 45 Ebd., S. 161. 110 Katja Schneider