Forum Modernes Theater
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0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0010
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2023
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BalmeMeer sollst du sein, und Wald werden
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2023
Johanna Zorn
Mit dem Begriff der Atmosphäre wird gemeinhin eine dyadische Wechselwirkung des Umgebenseins beschrieben, die durch Stimmung erzeugt wird. In dieser ökologischen Dimension widersetzt sich das ästhetische Konzept der Atmosphäre nicht nur seiner ontologischen Bestimmung, sondern steht paradigmatisch für ein egalitäres Denken in Relationen und Verstrickungen, wie es neumaterialistische und posthumanistische Ansätze entwerfen. Für das zeitgenössische Theater nun scheint eine Ästhetik des ‚Attunements‘ vor allem deshalb attraktiv zu sein, da sie intensives Erleben gegen ein klares Erkennen ausspielt. Ausgehend von Pınar Karabuluts Inszenierung La Mer Sombre (Münchner Kammerspiele, 2022) entwickelt der Beitrag eine kritische Perspektive auf die inklusive Atmosphäre eines umfassenden Erfahrens, die die Theoriefigur des ‚Entanglements‘ in Ästhetik übersetzt. An SIGNAs Die Ruhe (Schauspielhaus Hamburg, 2021/22) invertiert das Versprechen auf ein vollständiges ästhetisches Eintauchen schließlich in eine regelrechte Pathologie der Atmosphäre, mit der die quasi-mystische Praxis des Einswerdens als exzessive Mimesis thematisch wird.
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Meer sollst du sein, und Wald werden Über eine neue Ästhetik der Einswerdung Johanna Zorn (München) Mit dem Begriff der Atmosphäre wird gemeinhin eine dyadische Wechselwirkung des Umgebenseins beschrieben, die durch Stimmung erzeugt wird. In dieser ökologischen Dimension widersetzt sich das ästhetische Konzept der Atmosphäre nicht nur seiner ontologischen Bestimmung, sondern steht paradigmatisch für ein egalitäres Denken in Relationen und Verstrickungen, wie es neumaterialistische und posthumanistische Ansätze entwerfen. Für das zeitgenössische Theater nun scheint eine Ästhetik des ‚ Attunements ‘ vor allem deshalb attraktiv zu sein, da sie intensives Erleben gegen ein klares Erkennen ausspielt. Ausgehend von P ı nar Karabuluts Inszenierung La Mer Sombre (Münchner Kammerspiele, 2022) entwickelt der Beitrag eine kritische Perspektive auf die inklusive Atmosphäre eines umfassenden Erfahrens, die die Theoriefigur des ‚ Entanglements ‘ in Ästhetik übersetzt. An SIGNAs Die Ruhe (Schauspielhaus Hamburg, 2021/ 22) invertiert das Versprechen auf ein vollständiges ästhetisches Eintauchen schließlich in eine regelrechte Pathologie der Atmosphäre, mit der die quasi-mystische Praxis des Einswerdens als exzessive Mimesis thematisch wird. Die theatrale Sphäre der Verschmelzung La Mer Sombre (Das dunkle Meer) lautet der Titel einer szenischen Collage aus Texten und Gedanken der bislang im internationalen Spektrum weitgehend schwach rezipierten, surrealistischen Künstlerin Claude Cahun, die am 30. September 2022 unter der Regie von P ı nar Karabulut ihre Premiere an den Münchner Kammerspielen feierte. Drei Texte der zur queer avant la lettre deklarierten Autorin und Fotografin, die ebenso um die Überschreitung von Geschlechtergrenzen wie um die kritische Bestandsaufnahme eines subjektivistischen Verortungsgebots in der Welt zirkulieren, werden darin zum titelgebenden ‚ dunklen Meer ‘ und damit zur mäandernden Bewegung im weiten Land der Seele zusammengebunden. Als pluraler Körper dreier Schauspieler*innen spricht ein genderfluides Ich, das sich der erkenntnistheoretischen Zentrierungsmacht durch ein assoziatives Spiel kontrastierender Multiperspektivität widersetzen möchte. „ Die Macht der Drei “ , so heißt es einmal vulgärphilosophisch in der Inszenierung, „ kann nicht entzweit werden. “ Entsprechend trotzt ein vielgliedriges tentakuläres Denken und Agieren, wie es Donna Haraway in den posthumanistischen Diskurs eingebracht hat, der identitären Konzentration. 1 Die in schrilles Pink getauchte, von kitschigen wie ostentativ nutzlosen Trashobjekten gesäumte Bühne, die eine vom Boden bis zum Hintergrund reichende einzige Spiegelungsfläche für die feucht-ölig glänzenden, futuristisch kostümierten Körper der Figuren bietet - alles hier schreit nach einer Atmosphäre der Vervielfältigung und Übergänglichkeit. Der titelgebende, kulturgeschichtlich wirkungsreiche Topos des Meeres übernimmt dabei offenkundig nicht nur die Rolle, die Kehrseite des narzisstischen ‚ Wasserspiegels ‘ als eine flüssige, ausufernde Grenzenlosigkeit, Unbestimmtheit und Dislokation im Zeichen einer Ich-Entgrenzung zu chiffrieren, sondern öff- Forum Modernes Theater, 34/ 1, 111 - 126. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0010 net durch das Attribut des Dunkels ebenso das Programm einer Tiefe, das mit der Inszenierung als Raum der Sprengung von Festlegungen und Standorten zugunsten eines entterritorialisierten, abgründigen Zwischen-Seins beschworen wird (Abb. 1). Abb. 1: Auf der Spiegelungsfläche bilden die drei Figuren in La Mer Sombre ein tentakuläres Gefüge Geht es nach dem Produktionsteam von La Mer Sombre, soll die Inszenierung ihr Publikum in erster Linie sinnlich einhüllen. Ein mystisch gefärbtes ‚ ozeanisches Gefühl ‘ 2 wird überdeutlich gegen die erkenntnistheoretische Logik der Grenze aufgerufen. Es arbeitet der Verschmelzung von Subjekt und Umwelt, nicht aber der diskursiven Erörterung dieses Verhältnisses zu. In diesem Sinn lässt die an der Inszenierung beteiligte Schauspielerin Gro Swantje Kohlhof in einem kurzen Trailer auf muenchen.tv keinen Zweifel daran, dass das Dunkel des Meeres und die damit programmatisch evozierte Trübung des Blicks virulente Konsequenzen für die ästhetische Erfahrung mit sich bringen ‚ soll ‘ . Der dezidierten Abkehr von einem dialogisch vermittelten Handlungsgeschehen zugunsten einer ‚ Umarmung ästhetischer Uneindeutigkeit ‘ , wie es darin sinngemäß heißt, gewinnt sie die Überzeugung ab, dass man den Abend schlicht „ einatmen “ 3 solle. Mit der Akzentuierung des Atmens als Moment der sinnlichen Hingabe an die Umgebung wird die Wirkungsqualität des Abends expressis verbis an jenen virtuellen Übertragungsbereich übergeben, mit dem bereits Walter Benjamin der Aura im philosophischen und medientheoretischen Diskurs zu einiger Berühmtheit verhalf. An einer prägnanten Naturerfahrung schildert er bekanntlich, was Aura ihm bedeutete: Die Erscheinung einer einmaligen ‚ Nah-Ferne ‘ , die sich „ atmen “ 4 lässt. Diese Aura also kreiert eine spezifische Präsenz, die sie zugleich materiell unverfügbar hält. So ist „ die leere charakterlose Hülle [ihrer] Anwesenheit “ 5 nichts anderes als die Luft, die eine Situation umgibt. Das Haltlose dieser instantanen Erfahrung vermag diejenigen, die sich für die Umwelt öffnen, in eine so eindrückliche wie diffuse Stimmung zu versetzen. Der ästhetische Weltinnenraum der Atmosphäre La Mer Sombre bezieht ihre auratische Qualität ebenso aus einer Naturkraft, nur ist es hier anstelle der Luft das Meer, das symbolisch die Verbindung mit der Umgebung, die Hingabe an den Raum stiftet. Tief unten nun in der unermesslichen Dunkelheit, so verheißt es die titelgebende Metaphorik des dunklen Meeres, versagt die Klarheit des Blicks, jenes im Reich des Lichten verorteten sinnlichen wie sinnhaften Instruments, dessen epistemologische Verwerfung metonymisch und emblematisch mit derjenigen der cartesianischen Selbstbefestigung des erkennenden Subjekts zusammenfällt. In der Tat kratzt das Stück La Mer Sombre einmal mehr an längst überworfenen cartesischen Prämissen zum Verhältnis zwischen Subjekt und Umwelt und regt zum Nachdenken an: Der erkennende Mensch war schwerlich jemals jene autonome Instanz, die sich selbst genügt, das „ fundamentum inconcussum “ 6 , das sogar Umwelt als Objekt unterwirft. Eingebunden sind wir schließlich in eine Umgebung, der 112 Johanna Zorn wir ebenso angehören wie wir Beobachtende von ihr, Denkende über sie und Handelnde in und mit ihr sind. Wir sind in ihr und trennen uns zugleich von ihr. Diese Operation der Trennung zwischen Subjekt und Umwelt erfüllt dabei vor allem eine epistemische Funktion: Sie macht den heuristischen Befund einer komplementären Verschränkung von Subjekten, Organismen und Dingen in der Welt mit der Welt erst möglich. Von der Antike über die scholastische Tradition bis in die neuzeitliche Philosophie hinein und weit darüber hinaus scheinen erkenntnistheoretische Vereinnahmungen des im Bereich der Okularität verankerten Wahrheitskriteriums der Klarheit die passende Zauberformel gegen eine aus Unschärfe resultierende Fuzzy Logic, gegen die Unbestimmtheit ( ‚ obscuritas ‘ ) von Vieldeutigem und Vagem geliefert zu haben. Die Vorschrift zum klaren und deutlichen Erkennen ( ‚ clare et distincte ‘ ), die denkende Wesen auf die distinkte Verortung von Gegenständen der Anschauung verpflichtet, hat bis heute nicht nur die Konvergenz von Sehen und Erkennen erstaunlich stabil gehalten, sondern auch Subjekt und Objekt schroff voneinander getrennt. Kritische Sensibilität für diese philosophiegeschichtlich wirksame, brisante Teilungsgewalt zwischen Innen (Ich) und Außen (Welt) knüpfen neumaterialistische Ansätze demgegenüber an ein relationales Denken, das die ökologischen Dimensionen eines multipel verflochtenen Seins in und mit der Umwelt in den Graubereichen und Übergängen, im Diffusen und Vagen von sich wandelnden, wellenförmigen Gefügen zwischen Humanen und Nicht-Humanen aufsuchen soll. Entsprechend entschieden begegnet die Denkfigur des Entanglements dem erkenntniskritischen Korrelationismus Kants, der in der Formierung des Objekts als Gegenstand „ nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens “ 7 nicht nur die Grenze zwischen Subjekt und Objekt zementiert, sondern sie nachhaltig als subjektive Operation der Unterwerfung von Außenwelten konsolidiert hat. Bewusstsein dafür, dass wohl immer schon alles, „ was fanatisches Anschaun/ nicht durchdrang, [ … ] als Wall um uns “ 8 stand, das sehenden und erkennenden Auges eben nicht aufzulösen ist, regt sich auf grundsätzliche Art und Weise in der verworrenen ästhetischen Erfahrung, d. h. in der leiblich-sinnlichen Affizierung durch Umwelt. Die französische Umschrift des psychologischen wie theologisch-mystischen ‚ nescio quid ‘ 9 in die Formel des ‚ je ne sais quoi ‘ , die seit Ende des 17. Jahrhunderts das begrifflose Geheimnis, die unverort- und dennoch spürbare ‚ Anwesenheit von etwas ‘ poetisch verschlüsselt, verleiht den unerklärbaren wie unergründlichen Überschüssen von Erfahrungen prägnanten Ausdruck im Unsagbaren. So heißt es in Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/ 96) über die Schauspielerin Melina, sie habe „ ein ich weiß nicht was in ihrem Wesen, das sie interessanter machte “ 10 . Lautréamont wiederum bietet in seinen Chants de Maldoror (1868) das Vorstellungsbild von dichtem Nebel und Rauch, der die Dinge umhüllt, gegen die strenge Mathematik auf: „ Il y avait du vague dans mon esprit, un je ne sais quoi épais comme de la fumée “ 11 - , das Vage steht offenkundig quer zur erkenntnismäßigen Fetischisierung des Entbergens, zur definitorischen Fixierung von Objekten, zum pornografischen Blick auf die ‚ nackte Wahrheit ‘ im Außen. Als sinnliches Gebot zum Gefühl strukturiert es schließlich sogar das kontradefinitorische Selbstverständnis romantischer Poetik. „ On sent le romantique, on ne le définit pas “ 12 , lautet die dazu passende Formulierung der Ansteckung von Louis-Sébastien Mercier. Auf die Erfahrung von Unbestimmtheiten, die zunächst einmal schlicht Wirkung entfalten, antwortet wiederum explizit die 113 Meer sollst du sein, und Wald werden Über eine neue Ästhetik der Einswerdung Geburtsstunde der philosophischen Ästhetik. Schließlich konzipiert Alexander Gottlieb Baumgarten mit seiner unteren Erkenntnislehre ( „ gnoseologia inferior “ 13 ) Mitte des 18. Jahrhunderts nicht nur eine Theorie der Ästhetik, sondern argumentiert mit ihr für ein graduelles Differenzdenken, das ausdrücklich auf den nebulosen Zwischenbereich des Sinnlichen angewiesen ist und sich der Entbergung von fundamentalen Gegensatzpaaren deshalb radikal verschließt. Die semantisch eng geknüpfte Textur von ästhetischer Verworrenheit und Entdeckung verdeutlicht er, wie auch Benjamin später die Aura, an einem Naturereignis. Er begreift diese sogar als regelrechte Mimesis an die Natur, die ebensowenig aus der Nacht in den Tag einen „ Sprung macht aus der Dunkelheit in die Klarheit des Denkens [natura non facit saltum] “ 14 . Als sinnliche, sensitive Erkenntnis ( „ cognitionis sensitivae “ 15 ), die nur Wahrnehmungsübergänge kennt, nicht aber zu distinkten Einteilungen fähig ist, beansprucht die ‚ cognitio clara et confusa ‘ ihren Platz neben der kategorialen ‚ cognitio distincta ‘ . Dabei hält Baumgarten bei aller ästhetischen Aufwertung des Undeutlichen und Verworrenen dennoch an einem Erkenntnis- und Wahrheitsbegriff fest, der auf Totalität abzielt, insofern er sogar das Diffuse integriert. Zugleich lässt er keinen Zweifel daran, dass sich die ästhetische Erkenntnisleistung dem Unhaltbaren und Fluiden, auf das sinnliche Wahrnehmung notwendigerweise trifft, anpassen muss, indem sie auf Verwandlung mit einem ‚ Denken der Verwandlung ‘ antwortet. Epistemische Leerstellen erhalten in der Ästhetik Baumgartens demnach ebenso eine Aufwertung wie die Überzeugung an Raum gewinnt, dass das Zusammenfließen, die untrennbare Verschmelzung ( ‚ confusa ‘ ) der Erscheinungen in die sinnliche Erkenntnistätigkeit einbezogen werden müsse. Baumgartens zentraler Idee allerdings, dass ästhetische Erfahrung erkenntnisfähig ist, da multisensorische Erlebnisse und körperliche Affizierungen ihre spezifische Qualität nicht nur im Empfinden der eigenen Anwesenheit im Hier und Jetzt haben, sondern auch Reflexionen anstoßen, können zahlreiche Akteur*innen im zeitgenössischen Theatergeschehen offensichtlich nur mehr wenig abgewinnen. Der historische Aufruf Alan Kaprows zur ‚ happenistischen ‘ Einlassung in künstlerisch gestaltete Umwelten, „ Go IN instead of LOOK AT “ 16 , fand bereits in Nicolas Bourriauds Manifest einer ‚ relationalen Ästhetik ‘ 17 sein triviales Echo, in der es nur mehr um die Konvergenz zwischen Menschen und Umgebungen geht. Im Zeichen einer umfassenden „ experience economy “ 18 verkaufen auch Theaterinstitutionen unter dem Schlagwort der ‚ Immersion ‘ seit geraumer Zeit das Versprechen auf ein hautnahes und intensives Erleben von Parallelwelten, denen nicht selten bewusstseinserweiterndes Potential zugeschrieben wird. Mit einer an Derivaten von einschlägigen Theoriesettings genährten Rhetorik wird in ästhetischen Bekenntnissen in auffallender Häufigkeit aber auch dann Erleben gegen Erkennen, Fühlen gegen Verstehen, Sein-mit gegen Sehen-von ausgespielt, wenn es weniger um ein partizipatives Eintauchen in durchgestaltete, installative Settings geht, sondern ein relativ klassisches Bühnendispositiv getrennter Orte des Darstellens und Rezipierens aufrechterhalten bleibt. Diese proklamierte Neigung künstlerischer Erfahrungswelten zum Gefühl ist Symptom einer soften Implementierung von aktuellen theoretischen Ansätzen einer epistemologischen Ökologie in theatrale Produktionsprozesse. Dabei zeigt sich, wie im Fall von La Mer Sombre, der Versuch einer Inversion von Theorie in ästhetische Anwendung, die weniger an einem Verhältnis kritischer und diskursiver Durchdringung interessiert zu sein scheint als vielmehr an einer künstlerischen Praxis der Korrelation, die Einverständnis zwi- 114 Johanna Zorn schen Theorie und Ästhetik produziert: Die emphatische Aussprache gilt dann paradoxerweise einem ästhetischen Sein im Moment, das sich selbst genügen und gerade nicht reflexiv eingeholt werden soll. Hinter solchem künstlerisch aufgefangenen, kulturwissenschaftlichen Interesse an der Frage, welche Gefühle, Emotionen und Affekte zwischen Körpern und Technologien operieren und welche Umwelten sich dadurch konfigurieren, das mit dem Affective Turn 19 einhergeht, steht letztlich der Begriff der Atmosphäre. In ästhetischen Diskursen bürgt er gemeinhin für eine Fokussierung auf die dyadische Wechselwirkung des Umgebenseins. Sein enges Verwandtschaftsverhältnis zu Konzepten der Aura, der Präsenz oder des ‚ je ne sais quoi ‘ zeigt sich daran, dass er keine Eigenschaften von Dingen benennt, sondern ‚ etwas ‘ , das sich im Zwischenraum medialer Kommunikation und Erfahrung als leiblich affektives Betroffensein, als sinnliche Erfahrung ‚ ereignet ‘ . Verben, die Atmosphäre signalisieren, sind deshalb weniger konstativ und systematisch, sondern dezidiert relational und projektiv. Ihre virtuellen Dimensionen entfalten sie im „ Versuch, die Weltspaltung zu überwinden “ 20 . Es sind sympathetische Zeitwörter wie ausstrahlen, heraustreten, steigern, ermöglichen, umgeben, zukommen, hineingeraten, beschwören, einfärben, die uns gewöhnlich anzeigen, dass wir von Atmosphären affiziert sind, uns in einer bestimmten Atmosphäre befinden, d. h. kein Sein von außen betrachten, sondern Ausdruck von etwas in einer spezifischen Umwelt unmittelbar spüren, dessen Teil wir bereits sind. Im Entwurf einer „ ökologischen Naturästhetik “ , die Gernot Böhme mit seinem Atmosphäre-Buch vorlegt, bezeichnet der Philosoph Atmosphären entsprechend als „ Sphären der Anwesenheit von etwas “ 21 , spezifischer als „ Räume, insofern sie durch die Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d. h. durch deren Ekstasen ‚ tingiert ‘ sind. “ 22 Diese atmosphärische Einfärbung kann so subtil wie aufdringlich sein. In der Einsicht, dass Atmosphäre, in die ich hineingeraten kann, weil sie ausstrahlt und mich aus sich heraus umhüllt, ebenso wenig Ding ist wie das Gefühl, das in ihr resoniert, hat wiederum Hermann Schmitz „ Gefühle als Halbdinge “ 23 bezeichnet. Sie bilden offensichtlich ein spätes Echo auf das ‚ je ne sais quoi ‘ der affektiven Diffusion. In seiner esoterischen Dimension ist der Fluchtpunkt des Atmosphäre-Begriffs dabei durchaus problematisch, weil er insofern im Reich der Homologie gefangen bleibt, als dass sein Ansteckungspotential sich nur als wechselseitiges Verbindungsgeschehen einer Einstimmung ( ‚ attunement ‘ ) entfalten kann. Die unübersehbar affirmative Qualität von Atmosphäre geht von ihrer Tendenz aus, die verschiedenen Umwelten im Modus der Deckungsgleichheit zu einem einzigen Weltinnenraum der Stimmungen zusammenzuschließen, so wie Rilke das in seinem Gedicht „ Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen “ (1914) paradigmatisch formuliert hat: „ Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum “ 24 . In einen solchen Weltinnenraum, der seine eigene Grenzenlosigkeit als Gefüge von allem mit allem austrägt, soll, um wieder auf die ästhetische Selbstdeklaration von La Mer Sombre zurückzukommen, die Inszenierung ihr Publikum offenbar einbinden. An der Aussage der Schauspielerin Gro Swantje Kohlhof verwundert nicht nur die späte Einsicht in die Uneindeutigkeit künstlerischer Kommunikations- und Erfahrungsangebote, jener zentralen Denkfigur autonomieästhetischer Diskurse der Ambiguität im 20. Jahrhundert, die nunmehr als strategisches Argument ins Kleid avantgardistischer, relationaler Progressivität gehüllt wird. Verblüffender ist der Umstand, dass der Eingriff in den skizzierten Erkenntnis- 115 Meer sollst du sein, und Wald werden Über eine neue Ästhetik der Einswerdung diskurs der Klarheit und Sichtbarkeit zwar deklarativ erfolgt, indem ein freies multimodales Zusammenspiel von taktilen, olfaktorischen und gustatorischen sinnlichen Qualitäten die Subjekte unterhalb der Reflexionsschwelle ansprechen soll. Doch in eigentümlicher Gegenwendigkeit zur proklamierten Uneindeutigkeit der Atmosphäre von La Mer Sombre steht die unverhohlen eindeutige, autoritäre Vorschrift, wie der Abend angemessen zu erfahren sei: Da soll man glaub ich nicht drinsitzen und krampfhaft versuchen, was zu verstehen. Alles, was man versteht, ist schön. Alles, was man nicht versteht, ist ok. Man darf den [Abend] spüren, man darf den riechen, man darf den schmecken. Es interessiert mich nicht, was Leute danach verstanden haben, sondern was sie gefühlt haben. 25 Kohlhofs Reserve gegen eine prosaische Enthüllung von Wahrheit, deren selbstbewusster Akteur einst das souveräne Subjekt des Verstandes war, nobilitiert die „ Selbsttechnik “ 26 des Fühlens, die nicht vom Versuch des Verstehens unterbrochen - und man möchte hinzufügen, verfälscht werden soll - zur einzig passenden ästhetischen Einstellung. Die Argumentation gerät dadurch so paradox wie holistisch: Die markant aufgerufene Praktik der Subjektivierung sichert sich über den Imperativ zum unmittelbaren Gefühl, das jegliche Operation der kritischen Distanzierung abstreifen soll, gegen eine fragende, intellektualisierende Perspektive radikal ab. Jede, die sich von ihrem puren Affiziertsein forttreiben lässt und für Momente reflektierend in ihr Gefühl eingreift, hat demnach schlicht nicht ‚ verstanden ‘ , dass es nur um ’ s Fühlen geht. Dem traditionellen auf Verstandesleistung basierenden philosophischen Subjektdiskurs soll durch ein neues, nunmehr vollständig atmosphärisch in Umwelt eingebundenes Subjekt offenbar kurzerhand der Garaus gemacht werden. Dafür transgrediert der Begriff der Atmosphäre, jenes komplizierte Konzept des ‚ Und ‘ und ‚ Zwischen ‘ , mit Paul Roquet in ein neoliberales Ambiente des Selbst, das „ self-creation “ 27 als vollständige Absorption von Umwelt betreibt. Theater wird mit La Mer Sombre zum ästhetischen Medium einer „ ambient subjectivation “ 28 , die die „ key technique of contemporary self-care “ 29 als vollständige Einlassung zelebriert. Die fühlende Einpassung in die vorgegebene Stimmung soll wohl dafür sorgen, dass die ästhetische Erfahrung in ein quasimystisches Einssein mit der Umgebung umschlagen kann. Eine reflexive Distanzierung zur Atmosphäre, mit der sich das Subjekt heuristisch und erkennend von seiner Umwelt trennt, wird deshalb nicht toleriert. Vielmehr passt sich das Ambiente idealiter mir als Rezipientin an. Auf diese Weise gerät die immersive Erfahrungsmetapher des ‚ Meer-seins ‘ sogar zu einer Metonymie für ein pluralistisches, environmentales ‚ Mehrals-Subjekt-Sein ‘ . Relationale Tilgungen von Unterschieden Mit einer Intervention in die hegemoniale anthropozentrische, insbesondere androzentrische philosophische Teilung in erkennendes Subjekt und erkanntes Objekt forcieren relationale Epistemologien im interdisziplinären geistes-, kultur- und medienwissenschaftlichen Umfeld ein apriorisches dynamisches Beziehungsdenken. In Reaktion auf den erdgeschichtlichen Zustand des Anthropozäns vollziehen Theorieprogramme, die ein ökologisches Denken für sich beanspruchen, zugleich mit der Abkehr von humaner, subjektivistischer Zentralität eine konzeptuelle Nichtung der Polarität zwischen „ vibrant life (us, beings) “ und „ dull matter (it, things) “ 30 . Im Zentrum der posthumanistischen Kritik an der Zentralität des humanen Subjekts steht die 116 Johanna Zorn Überzeugung eines humanen Eingebundensein in nicht-humane Umwelten, eines dynamischen Teilhabens an unterschiedlichen materiellen Kulturen und Teilseins der Welt der Dinge, Cyborgs und Mikroorganismen. Nicht-humanes Leben und nicht-humane Apparate besitzen demnach selbst eine Form von Agency. Der Mensch ist aus dieser Perspektive nicht mehr Effekt von diskursiven Praxen, die auf sprachlichen (symbolischen) Operationen beruhen, wie es poststrukturalistische Denkimpulse vorgaben, sondern durch materielle Affektionen verflochten mit seinen Umwelten. Agency ist keine Eigenschaft, die bestehenden Materialitäten aus dem humanen Standpunkt heraus zugesprochen wird, sondern beschreibt ein konkretes Tun, eine performative Praxis, die aus der Konfrontation unterschiedlicher Handlungsträger*innen emergiert, wie es Bruno Latour mit seiner Akteur-Netzwerk-Theorie vorgezeichnet hat. 31 Da keine statischen Einheiten mit spezifischen Wesensmerkmalen existieren, signifiziert der fortwährende Prozess wechselseitiger Modulation durch affektive Verknüpfungen einen dynamischen, notwendig offenen Modus des Werdens, dem Virtualität (lat. ‚ virtus ‘ , Wirkkraft) zukommt. Intramaterielles Werden wiederum realisiert sich nicht als distinktes Etwas - wird niemals abgeschlossen sein - , sondern knüpft in seiner virtuellen Dimension Gefüge, die nicht mehr in Ebenen aufteilbar und hierarchisch rubrizierbar sind (etwa vom Menschen nach unten bis zur Mikrobe), sondern im Gefolge Deleuzes und Guattaris als dislozierende Bewegungsmodalitäten wirken, die unterdessen „ das Denken selbst nomadisch “ 32 werden lassen. Entsprechend viel Sympathie entwickeln theoretische Ansätze eines relationalen, gestaltlosen Werdens für amorphe Lebewesen, Amöben, Pilze oder Korallen, für vielgliedrige Tiere wie Spinnen und Quallen. In der Radikalisierung von Bruno Latours zentralem Interaktionsbegriff hin zum Konzept einer fundamentalen Verschränkung qua „ intra-action “ , die Karen Barad als „ mutual constitution of entangled agencies “ 33 beschreibt, ist zugleich mit der Erosion von vorgängigen Entitäten, die miteinander in Beziehung treten könnten, die relationale Ausweitung vitaler Qualitäten verbunden, deren jeweilige ‚ Ichs ‘ sich gegenseitig durchdringen, nicht mehr jedoch von einer außenstehenden humanen Subjektivität distinkt ermittelt werden können. Die dahinter liegende Idee einer ‚ Flat Ontology ‘ - ein Begriff, den Roy Bhaskar im Programm seines kritischen Realismus zuerst als pejorative Bezeichnung eingebracht hat 34 - wendet die „ undifferentiated experience “ 35 nun zum positiven Kriterium einer environmentalen Verwobenheit sämtlicher Materialitäten. Diese Verwobenheit artikuliert eine antisubjektive, nichthumane, vordiskursive und vor allem gegensatzlose Hyperontologie, die perspektivisch selbst das hierarchische Prinzip der ‚ Verantwortungfür ‘ in ein inklusives Miteinander transzendiert. Die Denkfiguren der Situiertheit und des Sich-verwandt-machens 36 , der Intra-Aktionen 37 , der dynamisch lebendigen Materie 38 , aber auch des superontologischen Ansatzes von Hyperobjekten 39 bürgen für die Transversalität neumaterialistischen Denkens, die zugleich zum methodischen Problem wird: Um zum normativen Appell zu gelangen, dass wir als humane Wesen nicht mehr ‚ von außen erkennen ‘ sollen, ist schließlich eine ganze Menge an distinkter Erkenntnisleistung nötig. Die Pathologie der Atmosphäre in SIGNAs Die Ruhe Die kapitalistische Dimension von ökologischer „ self-mediation “ 40 koppelt den Kontakt mit dem eigenen Selbst an die Suche nach dem Einssein mit der Umwelt. Diese 117 Meer sollst du sein, und Wald werden Über eine neue Ästhetik der Einswerdung Selbstmediation ist durch Apparaturen oder Trainings käuflich zu erwerben und zeigt ihre Überreizung in jüngerer Zeit durch betont flache Wellnesstrends wie der Technik des ‚ Bäume Umarmens ‘ oder ‚ Waldbadens ‘ . Aus der warenförmigen Zurichtung von intensivem Naturerleben ergeht nicht nur das Versprechen, das Stresshormon Cortisol zu senken oder ganzheitliche Gesundheitsvorsorge durch Harmonisierung mit der Umwelt zu betreiben. Deutlich wird vor allem, dass eine zeitgenössisch achtsame Selbstsorge ( ‚ epimeleia heautou ‘ ) 41 die Begegnung mit der Natur idealiter als fühlende Selbstbefestigung im berühmten Einklang mit ihr zu praktizieren hat. Das dänisch-österreichische Theater- Kollektiv SIGNA, das Besucher*innen und Darsteller*innen ihrer akribisch durchgestalteten Performance-Installationen in obskure, mysteriöse Parallelwelten ein- und zu temporären Gesellschaften zusammenschließt, hat dieses Wellnessprogramm jüngst ins Groteske überspitzt und das zentrale Verkaufsargument einer ‚ Selbstbegegnung-als-Naturbegegnung ‘ zum intrikaten Spiel um Loslösung und Annäherung umgeformt: ‚ Wald werden ‘ sollten all diejenigen, die sich ab November 2021 über einen Zeitraum von fünfeinhalb Stunden in das vom Ensemble bewohnte, ansonsten leerstehende ehemalige Paketpostamt Hamburg Altona begaben, um die vom Schauspielhaus Hamburg produzierte Produktion Die Ruhe zu erleben. Die „ flight from nature “ 42 , die die römische Theaterarchitektur mit ihrem Einschluss in den gebauten Raum für die Geschichte des europäischen Theaters über Jahrhunderte hinweg besiegelte, weicht hier einem symbolisch ostentativen Einbruch der Natur, den zeitgenössische Theaterästhetiken insgesamt auffallend häufig zelebrieren, indem sie Ortsspezifik über den urbanen Raum hinaus vermehrt auch an Gärten, Parks und Wäldern binden. Die thematische Projektion intensiven und inklusiven Naturerfahrens in die performative Installation gerät dabei zur Überaffirmation eines In-Seins, die die Aussicht auf eine Praxis des Sich-verwandt-machens als pseudoreligiöse und psychotische Pathologie der Atmosphäre, als vollständiges ‚ Einswerden ‘ ausstellt. In einer Zeit, in der das Interaktions- und Einlassungsgebot im immersiven Setting durch die pandemischen Distanzierungspraktiken seltsam aus der Zeit gefallen ist, mache ich mich mit 29 weiteren Besucher*innen, denen etwa ebenso viele Performer*innen gegenüberstehen, auf den Weg in das ‚ Erholungsinstitut Hamburg ‘ , wie es das zugrunde liegende Narrativ verheißt. Beim Einlass, wo ich auf Menschen in grauen Jogginganzügen treffe, die mit Ästen in der Hand durch die spärlich ausgeleuchteten Flure streifen, muss ich angeben, ob ich Raucherin oder Nichtraucherin bin. Ich komme in einen Raum, in dem ich gemeinsam mit allen anderen Besucher*innen meine Verwandlung zur Patientin durchmachen soll. Zu diesem Zweck liegen wir zugedeckt und mit geschlossenen Augen auf Matratzen am Boden, während eine körperlose Stimme uns zur Therapie einlädt. Uns wird die Rolle von erholungsbedürftigen Präparand*innen nahegelegt, die in diesem Regenerationszentrum nunmehr darauf vorbereitet werden, loszulassen und Ruhe zu finden: Ich befinde mich also in einem Kuraufenthalt, der mich das ‚ Wald werden ‘ lehrt. Mit dem Sehnsuchtsort Natur, dem hochgradig symbolisch und mythisch aufgeladenen Wald als miniaturhaftem Spiegel des zyklischen Organismus und Elixier des Lebens, dessen Zerstörung keineswegs nur symbolisch für die drohende Klimakatastrophe steht, wird das fundamentale Verwandlungsgeschehen zunächst als Heilsversprechen ausgegeben. Zu Beginn erfahren wir, dass es tatsächlich eine rätselhafte Störung des ökologischen Gleichgewichts war, die die Verantwortlichen dereinst dazu veranlasste, die 118 Johanna Zorn Behandlungsmethoden des Instituts zu ändern. Insassen und Therapeut*innen folgten nämlich vor einiger Zeit dem Ruf der Aale in die Natur, als diese eines Tages aus dem Teich des Institutsgeländes davon schwammen. Die Unruhe der Tiere, die von der syrischen Baruch-Apokalypse, wo „ die wilden Tiere [ … ] aus dem Walde kommen “ (syr Bar 73.6), bis hin zu Lars von Triers Melancholia (2011) zum festen topologischen Bestand drohender apokalyptischer Szenarien gehört, fungiert als Mythos für den erforderlichen Einstellungswechsel. Seitdem, so besagt es das Narrativ der sensiblen Umweltverbundenheit in Die Ruhe weiter, lebt das Klinikpersonal gemeinsam mit Tieren im Fasanenwald in der Waldzweisamkeit, die die letzte Lebensphase vor dem entscheidenden Schritt in die Waldeinsamkeit markiert. Vom Trauma der Dislozierung scheinen unterdessen alle Anwesenden nach wie vor gezeichnet zu sein. Die Insassen des Sanatoriums, Therapeut*innen wie Patient*innen, strahlen paradoxerweise alles andere als Ruhe und Enthobenheit aus, sondern sind verstrickt in das schmerzhafte Verwandlungsgeschehen, scheinen selbst nicht zum letzten Schritt in die Ruhe bereit zu sein. Die Selbstauskunft, ob man rauche oder nicht, erfüllt die gleichermaßen pragmatische wie machtvolle Funktion einer Aufteilung in Gruppen. Im grauen Jogginganzug folge ich mit weiteren vier Personen unserem Bezugswanderer, Kaspar, der, wie alle anderen Bezugswanderer auch, ehemaliger Patient einer psychiatrischen Heilanstalt ist. Er trägt uns auf, Fürsorge für ihn zu übernehmen, schwört uns auf den unbedingten Zusammenhalt der Gruppe ein, deren Gleichgewicht nur allzu leicht gestört werden könne. Auf der Reise in den Wald spielen sich dann tatsächlich kleinere und größere Dramen ab, die das Selbstverständnis der Gruppe Prüfungen unterziehen und zugleich die gegenseitige Obhut als Gruppendynamik nach außen absichern. Im Verlauf dieses Zusammenseins gerate ich in unterschiedlichste Gefühlslagen. Ob der Einlassung meiner Gruppe empfinde ich über die Dauer der Aufführung vielfach Scham, aber ebenso Ver- und Bewunderung über die Bereitschaft zur Hingabe an diese Welt mit ihren Regeln. Ich spüre aggressiv gefärbte Stimmungen zwischen mir und manchen Performer*innen. Und ich ärgere mich manchmal leise, dass ich distanzierter bleibe, als es meine Mitstreiter*innen zu tun scheinen. Wir beginnen unseren Heilungsweg, der uns auf zwei Etagen durch unterschiedliche Stationen zur Waldwerdung führen soll. Durch die heruntergekommenen Gänge, die wir passieren, wandern seltsame, mitunter furchteinflößende Gestalten. Wir begegnen immer wieder anderen Gruppen, deren Wege einer je eigenen Dramaturgie folgen. Überall sind Häufen von Erde aufgeschüttet. Es riecht modrig. Die erste Anwendung, die wir zur Vorbereitung unserer Ankunft bei uns selbst durchmachen, ist eine Gedenkarbeit an diejenigen, die uns bereits vorausgegangen sind. In einer Art Museum bewahren Glaskästen Erinnerungsstücke von zu Wald Gewordenen als Beglaubigungen ihres Eingegangenseins auf. Ein nächster Raum ist bevölkert von großen Puppen. Befragt auf meine größte Angst muss ich eine der Puppen auswählen, ihr, unter Anleitung eines Arztes, als meinem anderen Ich meine Gefühle offenbaren, um mich mir selbst zu widmen. Peinlich daran ist weniger die Entblößung als vielmehr das stereotype Reenactment einer psychotherapeutischen Situation. Es folgen Stationen, in denen ich gemeinsam mit meiner Gruppe Gummiaale gegen eine Wand werfe, dabei ‚ Verwandlung! ‘ rufe und, wie noch einige Male mehr am Abend, billigen Schnaps trinke; so auch im Speisesaal, in dem ich die dazu servierte Suppe ablehne, um mich dem aufdringlichen Gespräch mit einer der 119 Meer sollst du sein, und Wald werden Über eine neue Ästhetik der Einswerdung Sängerinnen, die zuvor aufgetreten ist, konzentrierter stellen zu können. Ein anderes Mal befinde ich mich mitten in einem Kreis von Menschen. Ich soll mich seelisch fallen lassen. Eine Riesenschnecke lasse ich auch über meine Arme gleiten, sie soll beruhigende Wirkung haben. Der dunkle Wald, in den wir auf unserer Reise kommen, offenbart schließlich den Horror der fundamentalen Verwandlung: Da ist Ewald, der sich schon in die Waldeinsamkeit aufgemacht hat, um dort, zum kreatürlichen Wesen des Übergangs geraten, furchtbare Qualen auf seinem Weg zur Waldwerdung zu erleiden. Zurückgelassen aus der Waldzweisamkeit hat er Sandra, die mir und zwei anderen Präparand*innen ihren Schmerz des Verlustes zuvor eindringlich geschildert hat und dennoch an ihrem Weg festhält. Spätestens hier wird die paradoxe Programmatik, die Die Ruhe prägt, explizit spürbar: Das Waldwerden, das die Erlösung des übersättigten, depressiven Menschen verspricht, ist in Wahrheit die Kehrseite von relationalem, leiblich betroffenem, affektiv angesprochenem Sein-inder-Welt. Das als Waldwerden proklamierte Umweltwerden bedeutet nichts weniger als die Tilgung von Bindungen, d. h. von allen Verhältnismäßigkeiten, die ein Zwischen- Sein überhaupt erst konstituieren. Die letzte Verwandlung ist deshalb auch in diesem ironisch als Wellnessinstitut getarnten Horrorszenario nichts anderes als das Verlassen des humanen-nichthumanen Weltinnenraums: das Sterben. Die vorletzte Station des Abends, zu der sich alle Anwesenden, Performer*innen wie Besucher*innen, im Speisesaal versammeln, kommentiert diese Trennungsgewalt aus dem Geist der Einswerdung. In einem grausamen, nur schwer erträglichen, von Gesang grundierten, kollektivierenden Ritual, mit dem das Waldwerden abermals als Zielpunkt unsere Daseins beschworen wird, leistet Ewald Widerstand, löst sich aus der Gruppendynamik. Er allein weiß offensichtlich vom Grauen der Waldeinsamkeit, diesem letzten Zustand eines Lebens in Umgebung. Doch sein Schmerz findet in der gewaltförmigen Sekte, deren Teil ich auch ohne aktive Beteiligung nolens volens bin, keine Resonanz. Mein Begleitwanderer hält diesen Riss in der Gemeinschaft nicht aus. Wir folgen ihm ein letztes Mal in das Zimmer, in dem unsere Bekanntschaft begann. Er gräbt sich zur Beruhigung in die Erde ein, die dort aufgeschüttet ist und bittet uns, ihn niemals zu vergessen, vor allem aber, ihn zu besuchen, wenn er irgendwann einmal Wald geworden sein wird. Mit diesem pathetischen Aufruf, der mehr Menetekel als flehende Einforderung eines Andenkens unter Lebenden ist, werden wir schließlich in die Nacht entlassen. SIGNA arbeitet in Die Ruhe mit jenen bekannten Erfolgsstrategien, durch die das Kollektiv der deutschsprachigen Theaterlandschaft in den letzten Jahren zu einem regelrechten Immersions-Boom verhalf: Verknappung des Publikums, aus der die triumphierende Gewissheit hervorgeht, dass ich zu den wenigen gehöre, die dabei waren; Adressierung einer Fangemeinde, die den Einschluss in fiktive Welten aktiv sucht; peinlich genaue Durchgestaltung der performativ-installativen Settings; die unentrinnbare Aufforderung zur Teilnahme, aber auch das intrikate Spiel mit Einlassung und Distanzierung, mit Einschwörung und Antagonisierung, das aus an- und übergriffigen Akten entsteht; der ästhetische Code, der ein Sprechen über eine spezifische SIG- NA-Arbeit fast nur durch eine geteilte Erfahrung ermöglicht, zumindest nur schwer an jene zu vermitteln ist, die mit Performances des Kollektivs noch nie in Berührung gekommen sind. Das unzureichend affirmativ als immersives Theater bezeichnete und jüngst von Theresa Schütz als „ Theater der Vereinnahmung “ 43 differenzierte Programm einer aufdringlichen At- 120 Johanna Zorn mosphäre gerät hier allerdings vollends thematisch. Denn Die Ruhe reflektiert über die Aufforderung des Einswerdens nichts weniger als eine maßlose Mimesis, die sich selbst invertiert. Der Aufruf zum Waldwerden führt, wie der folgende Gedankengang zeigen soll, nicht nur die Pathologie der Atmosphäre vor Augen, sondern zugleich auch die Paradoxie einer jeglichen Homomorphie. Entlebendigendes Gleichsein Mit seinem 1935 erschienenen Aufsatz „ Mimese und legendäre Psychasthenie “ liefert der französische Philosoph Roger Caillois einen Beitrag zur Tier-Umwelt-Mimese, für die die französische Sprache, im Unterschied zur Tier-Tier-Mimesis der Mimikry, den Begriff des ‚ mimétisme ‘ bereithält. Während Mimikry eine „ Ästhetik der Verwandlung “ 44 benennt, ist die Mimese mit Peter Geble insofern eine „ Ästhetik der Verschwindens “ 45 , als dass ihr Zielpunkt in der Einpassung in die Umwelt liegt. Für diese maßlose, sich über ihre konstitutive Relationalität selbst hinaustreibende Mimesis im Tier-Umweltreich, die Caillois als „ Gleichheitsmimese “ 46 bezeichnet, nennt der Philosoph eine Vielzahl an Beispielen. Im Rückgriff auf biologische Einsichten und entgegen der gängigen Meinung, wonach diese organische „ Angleichung an die Umgebung “ 47 , die Tiere als Kieselsteine, Schleim oder Flechten erscheinen lässt, der Immunisierung gegenüber Feinden und einem Überleben dient, sieht Caillois einen Zwang am Werk. Für das Verständnis der ins Extrem der Defiguration übersteigerten zwanghaften Mimese entscheidend ist, dass in ihr Homomorphie, Kontaktmagie und Psychose (Caillois bezeichnet letztere als legendäre Psychasthenie 48 ) in eins fallen. Allen drei Phänomenen ist nämlich gemein, dass sie die Trennung von Organismus und Umgebung einreißen: die morphologische Mimese in der physiologischen Anpassung an den Raum, die Kontaktmagie durch die Übertragung vom Ding auf das Symbol, das gleichermaßen als Beschwörungsobjekt fungiert, und die Psychose durch eine geistige Dislokation, die Betroffene als Zerstreuung im Raum erfahren. Die Umgebung, so die bewusstseinstheoretische Konsequenz, verschlingt den Organismus regelrecht, setzt sich an seine Stelle: „ ist gleich “ 49 . In diesem Gleich-Sein zwischen Organismus und Umwelt verwandelt sich der Trieb zur Selbsterhaltung in den „ Trieb zur Selbstaufgabe “ 50 . Denn „ [d]as Leben weicht um eine Stufe zurück “ 51 , wenn die „ Herausforderung durch den Raum “ 52 zu dessen Besessenheit wird. Die dem Text vorangestellte Mahnung, dass das Spielen eines Gespenstes dazu führen könne, selbst ein Gespenst zu werden, verschlüsselt die zentrale These Caillois ’ , wonach man in der exzessiven Verbindung mit der Umgebung tatsächlich zu verschwinden droht. Den Umschlag von Ökologie in eine quasi-mystische Situation des Einsseins, die Caillois mit seiner Analyse des ‚ mimétisme ‘ andeutet, verhandelt Die Ruhe im Setting der performativen Installation. Die Ausfaserung in den Raum, das Verlangen, die Umgebung so weit zu durchdringen, dass man sich in sie hineingibt - ‚ zur Umwelt wird ‘ - , führt nicht nur das virtuelle philosophische Konzept des Werdens ad absurdum, sondern brächte zugleich den Tod. Die hier thematisierte Praxis des ‚ Kon-figurierens ‘ , d. h. das Gestaltwerden in und mit der Umwelt soll der intrikaten ökologischen Idee nach in radikale ‚ Defiguration ‘ münden. Während Gestaltwerden auf das Aufrechterhalten eines Zwischen, auf eine Figur der Differenz angewiesen ist, 53 weicht das Komponieren (lat. ‚ componere ‘ , zusammenstellen, erbauen) in der ästhetischen Funktionalisierung des Waldwerdens tatsächlich jenem differenzlosen Zustand des ‚ Zusam- 121 Meer sollst du sein, und Wald werden Über eine neue Ästhetik der Einswerdung mengestelltseins ‘ , den Donna Haraway in ihrer Ökologie zum sympoietischen Vorgang des Kompostierens verklärt. 54 Aus dieser Perspektive exerziert die Arbeit die Schattenseite einer Theatralisierung relationaler ökologischer Positionen durch. Die im Waldwerden proklamierte Tilgung des Gefühls, „ sich von seiner Umgebung abzuheben “ 55 , die sich in der Atmosphäre einer Flat Ontology zugunsten einer Intensität der Umgebung zeigt, wird zum schmerzlichen Prozess des Abschneidens von Ver-Bindung, des Verlusts von Interesse, von Vitalität. Da sich in SIGNAs Produktion der geforderte Zustand, Umwelt zu werden, selbstredend nicht einstellen, sondern nur in Aussicht gestellt werden kann, artikuliert die Arbeit einen Kommentar zu relationalen Epistemologien, der ambivalent bleibt: Die strategische Kalkulation mit einer intensiven Umgebung, die die teilnehmenden Publika vereinnahmt, generiert Einschluss in eine Welt, in der die Ichlosigkeit als fühlende Verbindung mit Umwelt nunmehr im Zeichen einer neuen ökologischen Selbstbefestigung steht. Komplizierte Verhältnisse In ihrer Affektökologie macht die Medienwissenschaftlerin Marie-Luise Angerer die Ichlosigkeit zur Voraussetzung für ein Erleben von intensiven Milieus als „ eines durch Selbstaffizierung emergierenden emotionalen Selbst “ 56 . Sie greift damit implizit auf das Bild der ‚ unio mystica ‘ zurück. Aus dem Bedürfnis, die erhabene Dimension der göttlichen Ubiquität in das Innere des glaubenden Menschen einzulagern, hat die mittelalterliche Mystik Praktiken des Versenkens in den Glauben definiert, die Gott als Zielpunkt der Hingabe vorsehen und die individuelle Selbstaufhebung zur Voraussetzung einer geistigen Vereinigung deklarieren. So ruft der Prediger Johannes Tauler die Gläubigen dazu auf, ‚ Christus in ihren Herzen wohnen zu lassen ‘ ( „ Und gebe uch Christum ze wonende in úwerm herzen “ 57 ). Das mystische Ideal der Immersion, des Eintauchens in die göttliche Grenzenlosigkeit, das er darin zum Ausdruck bringt, soll idealiter einen Prozess der Enträumlichung und -zeitlichung auslösen. Die forcierte Ichlosigkeit tilgt in letzter Konsequenz die distinkten Pole von Ich und Gott und löst stattdessen einen wechselseitigen Prozess aus, der die Positionen desjenigen, der eintaucht und den- oder dasjenige, in das eingetaucht wird, ununterscheidbar werden lässt. Derart reziprok ergießen sich Ich und Gott ebenso in der Arie „ Ich will dir mein Herze schenken “ aus Bachs Matthäuspassion (BWV 244), in der es heißt: „ Senke dich, mein Heil, hinein! / Ich will mich in dir versenken “ . Entgegen der Anschmiegsamkeit environmentaler Theoriesettings an die virulenten ökologischen Herausforderungen der Gegenwart im Umfeld des New Materialism ereignet sich Kritik an der Zentralität des Humanen allerdings nicht durch eine Tilgung seiner Grenzmarkierung ‚ in der Welt ‘ . Das Denken jenseits des Menschlichen in einem atmosphärisch ergossenen Zwischen, in menschlich-nichtmenschlichen Netzwerkstrukturen oder apriorisch relationalen Hyperorganismen kann ohne die Benennung dieses Jenseits nicht konfiguriert werden. Wenn Hermann Broch etwa die Redefigur: „‚ Ich bin die Welt, weil sie in mich eingegangen ist ‘“ 58 der Position: „‚ Ich habe die Welt, weil sie mir unterjocht ist ‘“ 59 in seiner Massenwahntheorie (1948) als zwei verschiedene „ Bewußtwerdungsmöglichkeiten “ 60 menschlicher Individuen über die Einbindung in und die Gebundenheit an ihre Lebensumwelten diametral gegenüberstellt, pointiert er zu Recht die gewaltsame Dynamik der Einverleibung, die im Willen zur erkennenden Kontrolle über die Welt liegt. Der von der Umwelt sich bedroht fühlende 122 Johanna Zorn Mensch - so Brochs durchaus ökologisch anschlussfähiger analytischer Befund zum Ausbruch „ ekstatischen Massenwahnes “ 61 - wehrt nämlich „ die Angst vor der Außen- Unerforschlichkeit “ 62 , die in Wahrheit eine Projektion der Unergründlichkeit im Inneren ist, ab, indem er „ irgendeinen Gefahrenquell, dem er sich widersetzen kann, in der Fremdheitssphäre der Außenwelt lokalisier[t] “ 63 . Während sich im ersten Typus des in die Welt eingegangenen Ichs nun mit Broch das Individuum „ der Ur-Angst seiner Seele wahrhaft bewusst “ 64 wird, zeigt sich im zweiten, dem possessiven Weltaneignungstypus dessen Versuch, „ seine Angst von sich abzuschütteln und sie nach außen zu verlegen, um sie solcherart dort symbolisch in die Gewalt zu bekommen “ 65 . Es ist nicht schwer zu erkennen, welcher der beiden Positionen Broch den reflexiven Vorzug gibt. Allein, die Aussage, wonach die Welt in mich eingegangen ist, bleibt insofern eigentümlich unreflektiert, als dass dieses Eingehen schon von einem Riss zwischen mir und der Welt durchzogen sein muss. Der Ort, von dem aus ich bekennen kann, dass meine Angst mich leitet, geht aus der räumlichen Auflösung des Ich- Gefühls erst hervor. Eine Lösung der Angst bringt die Verlagerung nach außen selbstverständlich keine, vielmehr stiftet sie die Grundlage dessen, was ich als Angst benennen kann und steht in einem fortwährenden Austauschprozess mit dem Bewusstsein über Einschluss und Austritt. Die Trennung von Innen und Außen diskursiv werden zu lassen, um sich der Verbindung mit der Umwelt bewusst werden zu können, sie also reflexiv zu erleben, bedarf schlechthin der spekulativen Figur der gemeinsam geteilten Grenze. Dass die Zerrissenheit sowohl im Innen selbst als auch zwischen all den Dingen im Außen erst aus der Verbindung mit ihnen hervorgeht; dass die Diskrepanz zugleich aber die notwendige Grenze stiftet, die ich übertreten und auflösen möchte, vermittelt die österreichische Künstlerin Maria Lassnig mit ihren sogenannten ‚ Körperempfindungen ‘ . In Ihrem Selbstportrait Innerhalb + Außerhalb (1985), das wie jedes Selbstportrait immer auch Alloportrait ist, setzt sie die Ruptur bildlich in Szene. Sie malt sich innerhalb und außerhalb der Leinwand, teilt und verdoppelt sich in eine sehende und gesehene, darstellende und dargestellte Figur. Sie fügt der Leinwand, auf der sie als malendes Subjekt eine Aussage über ihr Verhältnis zur Welt tätigt, eine weitere Leinwand innerhalb des Bildes hinzu und vertieft durch diese weitere Ebene die komplizierte Konstellation von Innen und Außen. Die Schichtung, die eine Überschreitung der Sphären bildlich vorantreibt und sich an der Umkehrung von Innen und Außen versucht, verweist geradezu überdeutlich auf die Unmöglichkeit der Verschmelzung, sofern Verschmelzung bedeutet, keine Unterschiede mehr zu erfahren: eins zu werden. (Abb. 2). Abb. 2: Das Selbstporträt kombiniert unterschiedliche Perspektiven auf den gemalten Körper, der zugleich über den Bildraum hinausgeht. 123 Meer sollst du sein, und Wald werden Über eine neue Ästhetik der Einswerdung Problematisch an der ästhetischen Einpassung relationaler ökologischer Theorien, wie sie La Mer Sombre rhetorisch vollzieht und wie sie SIGNAs Die Ruhe ambivalent performativ zelebriert, ist also, um die Kritik zu verdeutlichen, keineswegs die gebotene Dezentrierung subjektiver Erhabenheit, die sich als objektive Instanz absolut setzt, jene Position also, die Donna Haraway pointiert als den „ Blick von Nirgendwo “ 66 bezeichnet hat. Paradox ist vielmehr die ästhetische Affirmation eines perspektivischen Verzichts auf Distanzierungsfähigkeit im Denken über die Welt, insofern diese Erkennenvon als hierarchische Operation durch Erleben-in, gar durch vollständiges Umschlossen-sein ersetzen wollte, um so an einer flachen Praxis der Vernetzung zu arbeiten, die unterschiedliche Ebenen nicht mehr zulässt. Würde ich die Erlebensstrukturen in meiner Umwelt, die mich auf der Gefühlsebene umfassend affizieren und mir sagen, dass ich immer in eine konkrete Situation eingebunden, mit ihr untrennbar verbunden bin, tatsächlich absolut setzen, bliebe mir jenseits meines In-seins nichts mehr, was ich betrachten, über das ich urteilen könnte. Um mein Unwohlsein in meiner Umgebung artikulieren zu können, muss ich aber aus ihr heraustreten. Denn die schmerzliche Erfahrung, dass meine Theoriebildung über die Welt immer damit einhergeht, dass ich sie mir vor-stelle, dass ich Umwelt für einen kurzen Moment in Welt auflöse, sie zu einem Ausschnitt verkürze, den ich in manchen Fällen sogar absolut setze und mich darüber spekulativ erhebe, kann ich schwerlich dadurch kompensieren, dass ich mich einig mit ihr ‚ fühle ‘ . Stattdessen eröffnet die Aufmerksamkeit und Sensibilität für die Ungeheuerlichkeit dieser situativen Verkürzung und Ausschnitthaftigkeit erst jenes endlose Spiel des Widerstreits, das unterschiedliche Perspektiven hervorbringt, die nicht ‚ ich allein ‘ in eine Totale überführen kann, die mir aber umgekehrt erst eine kritische Durchdringung meines Denkens qua Dialogizität mit Anderen ermöglicht. Es ist ein distribuiertes Spiel, das die Lust am Weiterdenken, an der Wiederaufnahme von Fallengelassenem und Nichtgedachtem vital hält, weil sie auf Leerstellen, Widersprüche und Verwerfungen stößt, statt sie im Alleingang zu tilgen - auch im ästhetischen Erleben von Atmosphäre. Abbildungen: Abb. 1: P ı nar Karabulut (R.), La Mer Sombre, Münchner Kammerspiele 2022, © Krafft Angerer/ Münchner Kammerspiele. Abb. 2: Maria Lassnig, Innerhalb + Außerhalb, 1985, Öl auf Leinwand, 125x100 cm, Wien, Maria Lassnig Sitftung, zit. in: Peter Assmann (et al.), Maria Lassnig. Die Zeichnung, Salzburg, Wien 2022, S. 103. Anmerkungen 1 Vgl. das entsprechende Kapitel in Donna J. Haraway, Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham/ London 2016, S. 30 - 57. 2 Vgl. die entsprechende Formulierung Romain Rollands vom „ sentiment ‚ océanique ‘“ in seinem Brief an Sigmund Freud vom 5. Dezember 1927, in dem er die „ sensation religieuse “ als „ le fait simple et direct de la sensation de ‚ l'éternel ‘ (qui peut très bien n ’ être pas éternel, mais simplement sans bornes perceptibles, et comme océanique) “ beschreibt: Romain Rolland, Un beau visage à tous sens. Choix de lettres de Romain Rolland (1886 - 1944), Paris 1967, S. 264 - 266, hier S. 265. 3 Trailer, „‚ La mer sombre ‘ in den Münchner Kammerspielen “ , https: / / www.muenchen.tv/ mediathek/ video/ la-mer-sombre-in-den-mu enchner-kammerspielen/ [Zugriff am 06.10. 2022]. 124 Johanna Zorn 4 Walter Benjamin, „ Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [Dritte Fassung, 1939] “ , in: Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd. I. 2, Frankfurt a. M. 1991, S. 471 - 508, hier S. 479. 5 Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995, S. 26. 6 René Descartes, Meditationes de prima philosophia [1641], hg. C. Sigmund Barach, Wien 1866, S. 10 - 18 (II). 7 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft [1781/ 1787], hg. Raymund Schmidt, Hamburg 1956, S. 20 [= „ Vorrede zur zweiten Ausgabe “ ]. 8 Marion Poschmann, „ Taxonomie “ , in: Dies., Geistersehen, Frankfurt a. M. 2021, S. 35. 9 Vgl. exemplarisch die häufige Verwendung der Formulierung, mit der Augustinus in seinen Confessiones um seinen Glauben ringt: Augustinus, Confessiones. Bekenntnisse, übers. von Wilhelm Thimme, Zürich 2004; zur Begriffsgeschichte vgl. grundlegend Erich Köhler, „ Je ne sais quoi “ , in: Joachim Ritter et al. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel 1976, Sp. 640 - 644. 10 Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (= Nachdruck der „ Berliner Ausgabe “ , Bd. 10), München 1979, S. 356. 11 Lautréamont, Les Chants de Maldoror, in: Lautréamont, Germain Nouveau, Œ vres complètes, hg. Pierre-Olivier Walzer. Paris 1970, S. 41 - 252, hier S. 105. 12 Louis-Sébastien Mercier, Néologie, ou Vocabulaire de Mots Nouveaux, Bd. 2, Paris 1801, S. 230. 13 Alexander Gottlieb Baumgarten, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der „ Aesthetica “ (1750/ 58), Lateinisch/ Deutsch, hg. und übers. von Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1988, S. 2 (§ 1). 14 Ebd., S. 4 (§ 7). 15 Ebd., S. 2 (§ 1). 16 Allan Kaprow, „ Minutes of meeting with Allan Kaprow, 2 November, 1959 “ , Judson Memorial Church Archive, New York. Zit. in: Julie H. Reiss, From Margin to Center. The Spaces of Installation Art, Cambridge, Massachusetts/ London 1999, S. 24. 17 Vgl. Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics, Dijon 2002. 18 Vgl. B. Joseph Pine II, James H. Gilmore, The Experience Economy, Boston 2011. 19 Vgl. grundlegend Patricia Ticineto Clough/ Jean Heally (Hg.), The Affective Turn. Theorizing the Social, Durham 2007; Sara Ahmed, „ Affective Economies, “ in: Social Text 22.2 (2004), S. 117 - 139. 20 Hermann Schmitz, Atmosphären, München 2016, S. 9. 21 Böhme, Atmosphäre, S. 33. 22 Ebd. 23 Schmitz, Atmosphären, S. 9. 24 Rainer Maria Rilke, „ Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen “ [1914], in: Ders., Die Gedichte. Frankfurt a. M. 2006, S. 618 - 619, hier S. 619. 25 Trailer, „‚ La mer sombre ‘ in den Münchner Kammerspielen “ . 26 Vgl. hierzu Foucaults grundlegende Darlegung von „ Selbsttechniken “ als „‚ Künste der Existenz ‘ [ … ], mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewissen Stilkriterien entspricht “ ; Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2 [1984], übers. von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1986, S. 18. 27 Paul Roquet, Ambient Media. Japanese Atmosphere of Self, Minneapolis, London 2016, S. 5. 28 Ebd., S. 4. 29 Ebd., S. 5. 30 Jane Bennett, Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham/ London 2010, S. vii. 31 Vgl. grundlegend Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2007. 32 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus [1980], übers. von Gabriele Ricke und Ronald Vouillé, Berlin 1992, S. 40. 125 Meer sollst du sein, und Wald werden Über eine neue Ästhetik der Einswerdung 33 Karen Barad: ,Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham 2007, S. 34. 34 Vgl. Roy Bhaskar: A Realist Theory of Science [1975], London/ New York 2008; sowie die weiterführende Bezugnahme durch Ray Brassier, „ Deleveling: Against ‚ Flat Ontologies ‘“ , in: Channa van Dijk et al. (Hg.), Onder invloed - Wijsgerig festival Drift - 2014, Amsterdam 2015, S. 64 - 80. 35 Bhaskar, A Realist Theory, S. 57. 36 Vgl. Haraway, Staying with the Trouble. 37 Vgl. Karen Barad, „ Posthumanist Performativity: Toward an understanding of how matter comes into matter “ , in: Signs. Journal of Women in Culture and Society, 28/ 3 (2003), S. 802 - 831. 38 Vgl. Bennett, Vibrant Matter. 39 Vgl. Timothy Morton, Hyperobjects. Philosophy and Ecology after the End of the World, Minneapolis/ London 2013. 40 Roquet, Ambient Media, S. 5. 41 Vgl. Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a. M. 2009, S. 16 - 19. 42 David Wiles, A Short History of Western Performance Space, Cambridge 2003, S. 40. 43 Vgl. Theresa Schütz, Theater der Vereinnahmung. Publikumsinvolvierung im immersiven Theater, Berlin 2022. 44 Peter Geble, „ Der Mimese-Komplex “ , in: ilinx, 2 (2011), S. 185 - 195, hier S. 188. 45 Ebd. 46 Roger Caillois, „ Mimese und legendäre Psychasthenie “ , in: Ders., Méduse & Cie, Berlin 2007, S. 25 - 43, hier S. 29. 47 Ebd., S. 35. 48 Vgl. ebd., S. 36. 49 Ebd., S. 37. 50 Ebd. S. 39 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Vgl. hierzu grundlegend Erich Auerbach, „ Figura “ [1938], in: Friedrich Balke/ Hanna Engelmaier (Hg.), Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des „ Figura “ -Aufsatzes von Erich Auerbach, Paderborn 2016, S. 121 - 188. 54 Vgl. Haraway, Staying with the Trouble, S. 32. 55 Ebd., S. 36. 56 Marie-Luise Angerer, Affektökologie: Intensive Milieus und zufällige Begegnungen, Lüneburg 2017, S. 45. 57 Johannes Tauler, „ Predigt 67 “ , in: Die Predigten Taulers. Aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hg. Ferdinand Vetter, Berlin 1910, Nachdruck Dublin/ Zürich 1968, S. 364 - 372, hier S. 366. 58 Hermann Broch, Massenwahntheorie. Beiträge zu einer Psychologie der Politik, in: Ders., Kommentierte Werkausgabe. Bd. 12, hg. Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1979, S. 25. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 24. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 25. 65 Ebd. 66 Donna Haraway, „ Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive “ , in: Dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten Cyborgs und Frauen, hg. Carmen Hammer und Immanuel Stie, Frankfurt a. M./ New York 1995, S. 73 - 97, hier S. 80. 126 Johanna Zorn