eJournals Forum Modernes Theater 34/1

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0012
61
2023
341 Balme

Karin Nissen-Rizvani, Martin Jörg Schäfer (Hg.): TogetherText. Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater. Recherchen 155. Berlin: Theater der Zeit 2020

61
2023
Artur Pelka
fmth3410142
Rezensionen Karin Nissen-Rizvani, Martin Jörg Schäfer (Hg.): TogetherText. Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater. Recherchen 155. Berlin: Theater der Zeit 2020. Das Gegenwartstheater zeichnet eine enorme Vielfalt an Stilen und Tendenzen aus. Trotz der Etablierung des postdramatischen Modells in Praxis und Theorie und der damit einhergehenden Enthierarchisierung der Sprache stützt sich das Gros der szenischen Kunstproduktionen weiterhin auf Texte, darunter auch immer häufiger auf solche, die nicht zu Beginn der Proben vorliegen, sondern von den Beteiligten kollektiv entwickelt oder gar erst während der Aufführung zusammen mit dem Publikum erzeugt werden. Diesem deutlichen Trend widmen sich die Autor*innen des Sammelbandes, der auf eine internationale Tagung zurückgeht, die im Januar 2019 in Hamburg stattfand. Mit dem Titel TogetherText erfand das Professor*innen-Duo Karin Nissen-Rizvani und Martin Jörg Schäfer, das für die Organisation der Tagung sowie die Herausgabe des Bandes zuständig war, eine für das Doppelprojekt treffende Bezeichnung, deren Bedeutungsspektrum im Übrigen in der äußerst plausiblen Einführung erläutert wird. In der scheinbar prätentiösen Fremdbzw. Neuwortschöpfung verbirgt sich letztlich das, was für die neuartige Formen der Textproduktion für Theater und Performance essentiell ist: Kollektivität, Vielstimmigkeit und Transnationalität. Subsumiert werden unter den Begriff allerdings höchst unterschiedliche Textphänomene, und zwar nicht nur solche die in kollektiven Probenprozessen, sondern auch in fiktiv sozialen Räumen unter Beteiligung des Publikums generiert werden, ferner auf Recherchearbeit fundierte oder exophon bzw. (post-)migrantisch vollzogene Stückentwicklungen. Diese Diversität wird in der gesamten Publikation ganz entschieden hervorgehoben, unterschiedliche Formen sehr differenziert ausgelotet, ohne in allzu pauschalisierende epistemologische Modi zu verfallen. Der Wert des Buches ist aber vor allem damit begründet, dass er ein bis dato sehr sparsam beachtetes Forschungsfeld mutig betritt und diese spürbare wissenschaftliche Lücke zumindest partiell schließt. Der Band ist interdisziplinär angelegt, denn die versammelten 16 Beiträge wurden sowohl von Vertreter*innen der Kunst bzw. der Dramaturgie als auch der Wissenschaft verfasst. So gestaltet sich das Buch in seiner Vielstimmigkeit selbst zu einem Quasi-TogetherText, zumal er nicht nur strikte wissenschaftliche Artikel, sondern auch dialogische, essayistische und künstlerisch angehauchte Texte zusammenbringt. Obwohl das Spektrum der voneinander inhaltlich, stilistisch - und teilweise auch qualitativ - sehr divergierenden Beiträgen sehr breit ist, liegt der Gesamtpublikation ein sehr durchdachtes redaktionelles Konzept zugrunde. Nach dem einleitenden Teil, in dem institutionelle und theatergeschichtliche Aspekte verhandelt werden, folgen drei Kapitel, die unterschiedliche Arten der gemeinsamen Texterzeugung fokussieren. Es handelt sich dabei zunächst um Texte, bei deren Entstehung das gesamte Produktionsteam während der Proben beteiligt ist, ferner um Texte, die entweder durch ein unabhängiges Kollektiv oder in der Zusammenarbeit zwischen Regie und Laien bzw. thematisch Beteiligten generiert werden. Während in diesen beiden Fällen das Publikum in den Entstehungsprozess nicht involviert ist, stützt sich die dritte Kategorie gerade auf dessen aktive Beteiligung an der Texterzeugung. Alle drei Tendenzen werden mit konkreten, meist deutschlandzentrierten künstlerischen Beispielen exemplifiziert, wobei besonderes Augenmerk dem Künstlerkollektiv SIGNA gilt, dessen Projekten insgesamt drei Beiträge gewidmet sind. Dieses Ungleichgewicht bzw. die Unvollständigkeit einschlägiger Beispiele bildet einen Schönheitsfehler des Bandes, der letztlich keinesfalls einen Anspruch auf Lückenlosigkeit erhebt. Dies betrifft auch die unterrepräsentierte Verortung des Phänomens in aktuelle internationale Kontexte, was allerdings mit einer ausführlichen Forum Modernes Theater, 34/ 1, 142 - 143. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023 - 0012 Darstellung der internationalen Vorgeschichte des Trends gewissermaßen kompensiert wird. Einer der großen Vorteile des Bandes ergibt sich daraus, dass die Beiträge bemüht sind, Modelle wissenschaftlicher Herangehensweisen an die prozessual erzeugten und oft ephemeren sprachlichen Artefakte zu entwerfen, über Textdokumentation, -autorisation und -analyse zu reflektieren und zumindest ansatzweise ein theoretisches wie methodologisches Instrumentarium zu liefern. Lobenswert ist auch, dass die besprochenen Textphänomene konsequent sowohl mit szenischen als auch gesellschaftlichen Kontexten in Verbindung gesetzt werden. So kreisen die Beiträge nicht nur um exakte künstlerische Inhalte, sondern nehmen rechtliche, wirtschaftliche, institutionelle und nicht zuletzt genderspezifische Aspekte ins Visier. Dies geht mit einer auffallenden Aufgeschlossenheit für gesellschaftliche Differenzierung einher. Die Multiperspektivität der Publikation in theoretisch-analytischer Reflexion korrespondiert gleichsam mit der Heterogenität der gegenwärtiger Lebensentwürfe. In dieser Hinsicht gestaltet sich der Band letztlich zu einem Plädoyer für die prozessual erzeugten Texte als Antidoton zum menschenverachtenden Gebrülle in unserer mediendominierten Realität. Mit dem sehr gut wissenschaftlich fundierten Band, der auf ein deutliches Forschungsdesiderat reagiert, wird im Großen und Ganzen ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der neuen Tendenzen im Gegenwartstheaters vorgelegt. Gerade vor dem Hintergrund des bisher eher bescheidenen Interesses an dem Phänomen und der daraus resultierenden sparsamen Forschungsliteratur avanciert das Buch zu einem relevanten wissenschaftlichen Wegweiser. Die Publikation erschöpft zwar keinesfalls die Problematik, aber die mit ihr initiierte ‚ Neuvermessung ‘ der Sprache im Theater und in der Performance verhilft mit Sicherheit zum Verständnis und zur Etablierung dieser neuen, bislang oft unterschätzten Textformen. Ł ód ź A RTUR P E Ł KA Ulf Otto (Hg.): Algorithmen des Theaters. Ein Arbeitsbuch. Berlin: Alexander Verlag 2020, 326 Seiten. Ein Arbeitsbuch ist ein Buch, das zu einem bestimmten Thema wesentliches Wissen versammelt. In diesem von Ulf Otto herausgegebenen Arbeitsbuch trifft das Thema Technologie - in Gestalt von Algorithmen - auf das Theater, dessen Ästhetik und Arbeitsweisen. 13 Beiträge gehen diesem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven nach. Theatertheoretische und -ästhetische Essays sowie Arbeitsberichte von Theatermacher*innen kommen hier gleichermaßen vor. Sie geben Einblicke in gegenwärtige Theorie und Praxis, in die vielfältigen Arten und Weisen, wie Algorithmen im Theater zur Anwendung kommen. Interessant erscheint mir hierbei, dass Algorithmen neue Formate hervorbringen, die sich weg von einer Stückentwicklung hin zu „ Prinzipien der Spielentwicklung “ (56) bewegen, wie der Arbeitsbericht von Georg Werner treffend beschreibt. Überraschenderweise interessiert sich der erste Beitrag des Bandes aber nicht für das Theater, sondern für eine Inszenierungsgeschichte von Algorithmen in Performances. Martina Leeker gibt hier einen blitzlichtartigen Abriss der Geschichte des Performens von und mit Algorithmen seit den 1960er Jahren und zeigt, wie diese verborgen, vermieden und - in der Gegenwart - verharmlost werden. Nur eine Rekonstruktion dieser Geschichte sowie eine gegenwärtige Standortbestimmung könne, so die Autorin, eine Kritik an der Wirkmacht algorithmischer Gouvernementalität ermöglichen. Sowohl in diesem Beitrag als auch dem gesamten Sammelband wird ersichtlich, dass Algorithmen und Big Data dominante Machtformen unserer Zeit sind. Dem geht der Beitrag von Ulf Otto tiefgründig nach. So skizziert er infolge von Technologisierung einen gesamtgesellschaftlichen Umbruch, der seine Auswirkungen auch im Theater zeigt. Der Autor beschreibt ein Theater der Kontrollgesellschaft, das ein Theater der Disziplinarmacht verabschiedet habe. Sein Referenzbeispiel hierfür ist die Performance Algorithmen von Turbo Pascal. Diese Forum Modernes Theater, 34/ 1, 143 - 145. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0013 143 Rezensionen