eJournals Forum Modernes Theater 34/1

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0013
61
2023
341 Balme

Ulf Otto (Hg.): Algorithmen des Theaters. Ein Arbeitsbuch. Berlin: Alexander Verlag 2020, 326 Seiten

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2023
Karina Rocktäschel
fmth3410143
Darstellung der internationalen Vorgeschichte des Trends gewissermaßen kompensiert wird. Einer der großen Vorteile des Bandes ergibt sich daraus, dass die Beiträge bemüht sind, Modelle wissenschaftlicher Herangehensweisen an die prozessual erzeugten und oft ephemeren sprachlichen Artefakte zu entwerfen, über Textdokumentation, -autorisation und -analyse zu reflektieren und zumindest ansatzweise ein theoretisches wie methodologisches Instrumentarium zu liefern. Lobenswert ist auch, dass die besprochenen Textphänomene konsequent sowohl mit szenischen als auch gesellschaftlichen Kontexten in Verbindung gesetzt werden. So kreisen die Beiträge nicht nur um exakte künstlerische Inhalte, sondern nehmen rechtliche, wirtschaftliche, institutionelle und nicht zuletzt genderspezifische Aspekte ins Visier. Dies geht mit einer auffallenden Aufgeschlossenheit für gesellschaftliche Differenzierung einher. Die Multiperspektivität der Publikation in theoretisch-analytischer Reflexion korrespondiert gleichsam mit der Heterogenität der gegenwärtiger Lebensentwürfe. In dieser Hinsicht gestaltet sich der Band letztlich zu einem Plädoyer für die prozessual erzeugten Texte als Antidoton zum menschenverachtenden Gebrülle in unserer mediendominierten Realität. Mit dem sehr gut wissenschaftlich fundierten Band, der auf ein deutliches Forschungsdesiderat reagiert, wird im Großen und Ganzen ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der neuen Tendenzen im Gegenwartstheaters vorgelegt. Gerade vor dem Hintergrund des bisher eher bescheidenen Interesses an dem Phänomen und der daraus resultierenden sparsamen Forschungsliteratur avanciert das Buch zu einem relevanten wissenschaftlichen Wegweiser. Die Publikation erschöpft zwar keinesfalls die Problematik, aber die mit ihr initiierte ‚ Neuvermessung ‘ der Sprache im Theater und in der Performance verhilft mit Sicherheit zum Verständnis und zur Etablierung dieser neuen, bislang oft unterschätzten Textformen. Ł ód ź A RTUR P E Ł KA Ulf Otto (Hg.): Algorithmen des Theaters. Ein Arbeitsbuch. Berlin: Alexander Verlag 2020, 326 Seiten. Ein Arbeitsbuch ist ein Buch, das zu einem bestimmten Thema wesentliches Wissen versammelt. In diesem von Ulf Otto herausgegebenen Arbeitsbuch trifft das Thema Technologie - in Gestalt von Algorithmen - auf das Theater, dessen Ästhetik und Arbeitsweisen. 13 Beiträge gehen diesem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven nach. Theatertheoretische und -ästhetische Essays sowie Arbeitsberichte von Theatermacher*innen kommen hier gleichermaßen vor. Sie geben Einblicke in gegenwärtige Theorie und Praxis, in die vielfältigen Arten und Weisen, wie Algorithmen im Theater zur Anwendung kommen. Interessant erscheint mir hierbei, dass Algorithmen neue Formate hervorbringen, die sich weg von einer Stückentwicklung hin zu „ Prinzipien der Spielentwicklung “ (56) bewegen, wie der Arbeitsbericht von Georg Werner treffend beschreibt. Überraschenderweise interessiert sich der erste Beitrag des Bandes aber nicht für das Theater, sondern für eine Inszenierungsgeschichte von Algorithmen in Performances. Martina Leeker gibt hier einen blitzlichtartigen Abriss der Geschichte des Performens von und mit Algorithmen seit den 1960er Jahren und zeigt, wie diese verborgen, vermieden und - in der Gegenwart - verharmlost werden. Nur eine Rekonstruktion dieser Geschichte sowie eine gegenwärtige Standortbestimmung könne, so die Autorin, eine Kritik an der Wirkmacht algorithmischer Gouvernementalität ermöglichen. Sowohl in diesem Beitrag als auch dem gesamten Sammelband wird ersichtlich, dass Algorithmen und Big Data dominante Machtformen unserer Zeit sind. Dem geht der Beitrag von Ulf Otto tiefgründig nach. So skizziert er infolge von Technologisierung einen gesamtgesellschaftlichen Umbruch, der seine Auswirkungen auch im Theater zeigt. Der Autor beschreibt ein Theater der Kontrollgesellschaft, das ein Theater der Disziplinarmacht verabschiedet habe. Sein Referenzbeispiel hierfür ist die Performance Algorithmen von Turbo Pascal. Diese Forum Modernes Theater, 34/ 1, 143 - 145. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0013 143 Rezensionen analysiert er sowohl als Reflexion als auch Bestandteil der Kontrollgesellschaft und kann um dieses Beispiel herum eine grobe, aber interessante These zur Verwobenheit von Theater, Gesellschaft, Macht und Technologie erbringen. Mit den technologischen Veränderungen, die sich auf den Theaterapparat auswirken, kommen auch gängige Methoden der Theaterwissenschaft (Semiotik, Phänomenologie) an ihre Grenzen, wie Ulf Otto überzeugend argumentiert. Diesen Aspekt bedenkt auch der Sammelband mit. Die verschiedenen Arbeitsberichte der Theatermacher*innen des Sammelbandes sind daher notweniger Bestandteil sowohl einer inhaltlichen als auch methodischen Bestandsaufnahme der Transformation von Theater infolge der Technologisierung. Deutlich wird auch, dass ethnographische Methoden geeignet sind, neues Wissen zum Theaterapparat zu genieren. So zeigt der ethnographisch angelegte Beitrag von Anna Königshofer, dass Theaterpraxis vor allem eine Praxis des Organisierens sei, in der Technologie eine zentrale Rolle spielt und als „ gestaltende Akteurin “ (255) auftritt. Ein neues Verständnis von Arbeitsprozessen im Theater wird hier hervorgehoben. Künstlerische und nichtkünstlerische Arbeit haben beide einen ähnlichen Stellenwert, wodurch der Mythos des künstlerischen Schöpfers in Frage gestellt wird. Der Gleichrangigkeit von Technologie und Mensch geht auch der Beitrag von Jessica Hölzl und Jochen Lamb nach. Sie analysieren die Anwendung von Robotik im Figurentheater. Beide erläutern, dass Technologie zu einer eigenständigen Akteurin gerät, die neben und mit den Performer*innen eine handlungsmächtige Materialität in Performances besitzt. Hier zeigt sich eine bemerkenswerte Anschlussfähigkeit zum Wissensfeld Posthumanismus. Andere Beiträge des Sammelbandes wenden sich der dramaturgischen Verwendungen algorithmischer Modelle im Theater zu, was durchweg überzeugt und spannend zu lesen ist. So spricht Wolf-Dieter Ernst von einem „ algorithmisch orientierten Inszenierungsansatz “ (314) in seiner Betrachtung der Performance My Square Lady von Gob Squad. Zwar kommen Algorithmen in der Inszenierung in Form eines KI- Roboters vor. Allerdings untersucht der Essay die Nähe der von der Gruppe verwendeten Frage- und Kommunikationstechniken zu algorithmischen Regelsätzen. Ähnlich ist der Beitrag von Michael Bachmann gelagert. Er arbeitet die formalen Regeln heraus, die die Dramaturgie von Dries Verhoevens Wanna Play? und Ontroerend Goeds A Game of You bestimmen. Deutlich wird in diesen Beiträgen, dass Algorithmen zu neuen Performanceformaten führen, die auf bestimmten Spiel-Regeln aufbauen. Auch der ausführliche Beitrag von Nina Tecklenburg ist hier einzuordnen und gibt der Debatte zudem neue Akzente. Ihr Beitrag ist vielschichtig, da er eine Theorie der Narration im Theater als Reflexion auf die digitale Kultur erbringt und zusätzlich Einblicke in die Arbeiten ihres Performance- Kollektivs Interrobang gewährt. Sehr anschaulich kann sie hierbei erläutern, dass die Zuschauer*innen zum aktiven Teil der Erzählakte werden und das Narrative mit hervorbringen. Über die Beiträge hinweg wird deutlich, dass die besprochenen Theaterformate neue Weisen der Interaktion mit Zuschauer*innen und Modi der Publikums- Involvierung generieren. Die verschiedenen Arbeitsberichte akzentuieren zudem, welche Überlegungen und Technologien hierfür notwendig sind. Besonders das Format des Spiels wird in allen Beiträgen genannt und zeigt meiner Ansicht nach eine wichtige Neuerung gegenwärtiger Ästhetiken bei der Betrachtung von Theater und Technologie an. Dass Spiele auch in Form von Computerspielen mit performativen Formaten zusammenhängen, unterstreicht der Beitrag von Sascha Förster und Sabine Päsler. Beide analysieren die Londoner Produktion enter wonder.land und die Berliner Arbeit Filoxenia. Gezeigt wird hierbei, dass „ Strukturen, Praktiken und Erfahrungen “ (142) aus dem Bereich der digitalen Kultur in die performativen Künste fließen und dramaturgische Elemente von Open-World- und Explorative Games in sich aufnehmen. Mit diesem breiten Spektrum an Beobachtungen und Analysen zu neuen Formaten, Produktionsbedingungen und Ästhetiken scheint mir dieses Buch eine sehr gute Grundlage in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft für sowohl weitere Forschungen zu Theater und Technologie als auch darüber hinaus abzugeben. Schließlich wird durch die Beiträge hinweg gezeigt, dass Diskurse sowie Praktiken um Technologie und Theater neu zu bestimmende 144 Rezensionen Begrifflichkeiten (z. B. Spiel, Immersion, Narration) einfordern. Zudem heben sie den Grundkern der Theaterwissenschaft als interdisziplinäres Fach deutlich hervor. Was im Sammelband allerdings noch fehlt, ist die Verhandlung von ‚ race ‘ und ‚ disablility ‘ sowie queerfeministische Forschungsperspektiven. Schließlich eröffnen bspw. Arbeiten von Anna Fries, dgtl fmnsm, Hyphen-Labs oder Swoosh Lieu bisher noch ungenannte Aspekte des Ineinanderwirkens von Technologie, Gesellschaft und Theater. Überhaupt bleibt die Frage nach einer Begriffsbestimmung von Theater im Sammelband unbestimmt. Trotz dieser Unbestimmtheit demonstriert das von Ulf Otto herausgegebene Arbeitsbuch sehr anschaulich und durchweg überzeugend, dass Theater in der technologischen Bedingung der Gegenwart sowohl inhaltlich als auch methodisch neu verortet werden muss. Berlin K ARINA R OCKTÄSCHEL Lotte Schüßler: Theaterausstellungen. Spielräume der Geisteswissenschaften um 1900. Göttingen: Wallstein 2022, 289 Seiten. Hartnäckig hält sich das Bild von Geisteswissenschaftler*innen, die für ihre Arbeit einzig ihren Kopf benötigen. Entsprechend subsumierte man die Geschichte der Geisteswissenschaften lange Zeit unter die Geistes- und Ideengeschichte oder erzählte sie entlang der Biografien großer Denker [sic! ] und ehrwürdiger Institutionen. Seit einigen Jahren artikuliert sich allerdings ein Interesse an den institutionellen und materiellen Bedingungen geisteswissenschaftlichen Wissens. In diesem Kontext steht die Dissertation der Theater- und Medienwissenschaftlerin Lotte Schüßler, in der sie nicht nur eine neue Perspektive auf die Fachgeschichte der Theaterwissenschaft eröffnet, sondern Einblick in eine interdisziplinäre, praxis- und medienorientierte Geschichte der Geisteswissenschaften gewährt. Schüßler verlagert dafür den Schauplatz ihres Interesses aus dem Innern der Universitäten in die Hallen von Theaterausstellungen, einer Spielform der Welt- und Großausstellungen, die bekanntermaßen im Zeitraum von 1880 bis in die 1920er Jahre in Europa vielerorts florierten. Innerhalb dieser Ausstellungen, so die Kernüberlegung, konnten Diskurse und Praktiken der Geisteswissenschaften erprobt, in Frage gestellt und vor Fachpublikum sowie einer allgemeineren Öffentlichkeit popularisiert werden. Ausgangspunkt von Schüßlers Erzählung über die Entstehung der Theaterwissenschaft ist dementsprechend nicht die ‚ Entdeckung ‘ der Aufführung. Sie interessiert viel mehr, wie das Wissen über Theater im Zusammenspiel von Medien, Objekten und Praktiken sowie in der Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaften in den im Untertitel als „ Spielräume “ apostrophierten Ausstellungen hergestellt und vermittelt wurde. Der Aufbau des schön gestalteten (Umschlaggestaltung: Max Bartholl) Buchs ist so klar wie einleuchtend. Nach einer kurzen Einführung in historische Tiefendimensionen des Ausstellens von Theater führt jedes der Kapitel durch eine von drei Ausstellungen im deutschsprachigen Raum: Wien 1892, Berlin 1910 und Magdeburg 1927. Die Autorin stellt dabei keine spektakulären Inszenierungen von Wissen vor, sondern fokussiert Medien und deren Gebrauch, die sich „ durch ihre zugleich wissenschaftlichen, populären und pädagogischen Eigenschaften auszeichnen “ (21): Dazu gehören Exponatlisten, Fachsystematiken und Raumpläne (Wien), Ausstellungsberichte und -kataloge (Berlin), Bühnenmodelle, aber auch „ neue Medien “ wie Rundfunk, Film und Grammophon (Magdeburg). Eine diskursive Klammer bilden Überlegungen zu sich wandelnden Konzepten von „ Anschauung “ , die von Ausstellungsmacher*innen und Geisteswissenschaftlern unterschiedlich bewertet wurden: Während in Museums- und Ausstellungsdiskursen schon früh über (medien-)pädagogische Konzepte der Vermittlung qua Anschauung nachgedacht wurde, bewertet Schüßler, insbesondere im diskursgeschichtlich orientierten 2. Kapitel, philosophische Fakultäten demgegenüber vor allem als Orte durchaus elitärer Innerlichkeit. Beleuchtet werden zudem die Verhältnisse von Theaterwissenschaft und anderen geisteswissenschaftlichen Fächern: Geht es im ersten Kapitel um die Musikwissenschaft und im zweiten um die Literaturwissenschaft (ein Klassiker der Fach- Forum Modernes Theater, 34/ 1, 145 - 147. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0014 145 Rezensionen