Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.24053/FMTh-2023-0014
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2023
341
BalmeLotte Schüßler: Theaterausstellungen. Spielräume der Geisteswissenschaften um 1900. Göttingen: Wallstein 2022, 289 Seiten
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2023
Thekla Sophie Neuß
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Begrifflichkeiten (z. B. Spiel, Immersion, Narration) einfordern. Zudem heben sie den Grundkern der Theaterwissenschaft als interdisziplinäres Fach deutlich hervor. Was im Sammelband allerdings noch fehlt, ist die Verhandlung von ‚ race ‘ und ‚ disablility ‘ sowie queerfeministische Forschungsperspektiven. Schließlich eröffnen bspw. Arbeiten von Anna Fries, dgtl fmnsm, Hyphen-Labs oder Swoosh Lieu bisher noch ungenannte Aspekte des Ineinanderwirkens von Technologie, Gesellschaft und Theater. Überhaupt bleibt die Frage nach einer Begriffsbestimmung von Theater im Sammelband unbestimmt. Trotz dieser Unbestimmtheit demonstriert das von Ulf Otto herausgegebene Arbeitsbuch sehr anschaulich und durchweg überzeugend, dass Theater in der technologischen Bedingung der Gegenwart sowohl inhaltlich als auch methodisch neu verortet werden muss. Berlin K ARINA R OCKTÄSCHEL Lotte Schüßler: Theaterausstellungen. Spielräume der Geisteswissenschaften um 1900. Göttingen: Wallstein 2022, 289 Seiten. Hartnäckig hält sich das Bild von Geisteswissenschaftler*innen, die für ihre Arbeit einzig ihren Kopf benötigen. Entsprechend subsumierte man die Geschichte der Geisteswissenschaften lange Zeit unter die Geistes- und Ideengeschichte oder erzählte sie entlang der Biografien großer Denker [sic! ] und ehrwürdiger Institutionen. Seit einigen Jahren artikuliert sich allerdings ein Interesse an den institutionellen und materiellen Bedingungen geisteswissenschaftlichen Wissens. In diesem Kontext steht die Dissertation der Theater- und Medienwissenschaftlerin Lotte Schüßler, in der sie nicht nur eine neue Perspektive auf die Fachgeschichte der Theaterwissenschaft eröffnet, sondern Einblick in eine interdisziplinäre, praxis- und medienorientierte Geschichte der Geisteswissenschaften gewährt. Schüßler verlagert dafür den Schauplatz ihres Interesses aus dem Innern der Universitäten in die Hallen von Theaterausstellungen, einer Spielform der Welt- und Großausstellungen, die bekanntermaßen im Zeitraum von 1880 bis in die 1920er Jahre in Europa vielerorts florierten. Innerhalb dieser Ausstellungen, so die Kernüberlegung, konnten Diskurse und Praktiken der Geisteswissenschaften erprobt, in Frage gestellt und vor Fachpublikum sowie einer allgemeineren Öffentlichkeit popularisiert werden. Ausgangspunkt von Schüßlers Erzählung über die Entstehung der Theaterwissenschaft ist dementsprechend nicht die ‚ Entdeckung ‘ der Aufführung. Sie interessiert viel mehr, wie das Wissen über Theater im Zusammenspiel von Medien, Objekten und Praktiken sowie in der Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaften in den im Untertitel als „ Spielräume “ apostrophierten Ausstellungen hergestellt und vermittelt wurde. Der Aufbau des schön gestalteten (Umschlaggestaltung: Max Bartholl) Buchs ist so klar wie einleuchtend. Nach einer kurzen Einführung in historische Tiefendimensionen des Ausstellens von Theater führt jedes der Kapitel durch eine von drei Ausstellungen im deutschsprachigen Raum: Wien 1892, Berlin 1910 und Magdeburg 1927. Die Autorin stellt dabei keine spektakulären Inszenierungen von Wissen vor, sondern fokussiert Medien und deren Gebrauch, die sich „ durch ihre zugleich wissenschaftlichen, populären und pädagogischen Eigenschaften auszeichnen “ (21): Dazu gehören Exponatlisten, Fachsystematiken und Raumpläne (Wien), Ausstellungsberichte und -kataloge (Berlin), Bühnenmodelle, aber auch „ neue Medien “ wie Rundfunk, Film und Grammophon (Magdeburg). Eine diskursive Klammer bilden Überlegungen zu sich wandelnden Konzepten von „ Anschauung “ , die von Ausstellungsmacher*innen und Geisteswissenschaftlern unterschiedlich bewertet wurden: Während in Museums- und Ausstellungsdiskursen schon früh über (medien-)pädagogische Konzepte der Vermittlung qua Anschauung nachgedacht wurde, bewertet Schüßler, insbesondere im diskursgeschichtlich orientierten 2. Kapitel, philosophische Fakultäten demgegenüber vor allem als Orte durchaus elitärer Innerlichkeit. Beleuchtet werden zudem die Verhältnisse von Theaterwissenschaft und anderen geisteswissenschaftlichen Fächern: Geht es im ersten Kapitel um die Musikwissenschaft und im zweiten um die Literaturwissenschaft (ein Klassiker der Fach- Forum Modernes Theater, 34/ 1, 145 - 147. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0014 145 Rezensionen geschiche, den Lotte Schüßler dank ihres Fokus auf Medien und Praktiken des Ausstellens jenseits der Konkurrenz von Theaterwissenschaft und Germanistik erzählen kann), konzentriert sich das dritte Kapitel auf die Beziehung der Theaterwissenschaft zu den im Entstehen begriffenen Wissenschaften der neuen Medien. Auch hier greift die Autorin einen bekannten Topos auf: den Ausschluss dieser neuen Medien aus dem Gegenstandsbereich der Theaterwissenschaft zum Zweck ihrer eigenständigen akademischen Etablierung. Schüßler rezipiert nicht nur Ansätze aus der Fachgeschichtsschreibung, die dies für einige Institute bereits problematisiert haben [1], sondern es zeigt sich auch ein Vorteil ihres gewissermaßen post-institutionellen Wissenschaftsverständnisses: Wissenschaft spielt sich eben nicht nur in der Universität ab; sie wird an unterschiedlichen Orten verhandelt, in Frage gestellt oder weiterentwickelt. Somit fragt die Autorin nicht, welche Wissensbereiche Einfluss auf im engeren Sinne wissenschaftliche Wissensproduktion hatten, sondern die Schauplätze dieser Produktion sind von vornherein deutlich weiter gefasst. Mit dem Verweis auf Ansätze einer wissen(schaft)shistorischen Performanzanalyse [2] geht es ihr ausdrücklich auch um (noch) ungesichertes Wissen oder sich nicht verwirklichende Bestrebungen. Dafür bleibt Schüßler stets nah an den historischen Objekten, Akteur*innen und Praktiken. An einigen Stellen hätte die Analyse der Übergänge zwischen inner- und außerakademischer Wissenschaft sowie deren Genealogien und prekären Beziehungen durch die Präzisierung von Wissens- und Wissenschaftsbegriffen vertieft werden können. Zudem hätten das erweiterte Wissenschaftsverständnis sowie die Untersuchungsgegenstände die stärkere Einbeziehung der bei den drei Ausstellungen unterschiedlich wichtigen Rolle von Theatergewerbe- und -technik zugelassen, z. B. im Hinblick auf die Frage der Wünschbarkeit einer wissenschaftlichen Ausbildung von Seiten unterschiedlicher Professionen sowie die Graubereiche von Wissenschaft, Gewerbe und Technik und die damit verbundenen Transferleistungen und Performanzen. Dies wäre sicherlich gelungen, da eine Stärke der Arbeit gerade darin besteht, Wissensbereiche und -praktiken in die Besprechung eingehen zu lassen, deren Anteil an der Herausbildung eines Wissens vom Theater bisher nicht beachtet wurde, wie etwa die Fertigkeiten und Kenntnisse der Bibliothekswissenschaft und -praxis (Kap. 1). Besonders interessant sind außerdem die Ausführungen zu den Sonderausstellungen in Magdeburg (Kap. 3). Hier argumentiert die Autorin überzeugend für eine (erneute) Historisierung medienbezogener Debatten in der Theaterwissenschaft und versammelt dafür eine Fülle anregender Denkanstöße in Wissen(schaft)sfelder wie Rundfunk- und Filmwissenschaften (in spe), denen vertiefend nachzugehen sich lohnen würde. Aktuelle Debatten um das Verhältnis von Theater und neuesten Medien könnten vor diesem Hintergrund nicht nur hinsichtlich des Gegenstandsverständnis nachvollzogen, sondern in Bezug auf die (historische) Wissenschaftspraxis justiert werden. Schüßlers Ausblick in die Öffnung des Faches bietet dann vielleicht auch Stoff für Diskussionen: Sicherlich ging die Umbenennung von Theaterin medienorientierte Institute einher mit Öffnungen des Faches, die die Autorin nicht erst in den 1960er Jahren situiert, sondern - und das ist eine gelungene Volte des Buches - durch ihren Fokus auf die Spielräume der Magdeburger Ausstellung in die Anfänge der Disziplin einschreibt. Gleichzeitig ließen sich an diese Überlegung aktuelle wissenschaftspolitische Fragen aber auch solche nach institutionellen Eigenheiten anschließen, die vielleicht nicht nur entlang der Unterscheidung in (progressive) Öffnung und (elitäre) Abgrenzung bewertet werden müssen. Das Buch schließt mit einem Ausblick in die Zeit nach dem Boom der Theaterausstellungen und deutet interessante Aspekte des Nachlebens dieser Großprojekte, die unter anderem in die Gründung der FIRT/ IFTR führen, an. Lotte Schüßlers Buch liest sich nicht nur als spannende wissenschaftsgeschichtliche Besprechung des Genres der „ Theaterausstellungen “ und als inspirierende Einleitung in eine interdisziplinäre Geschichte der Theaterwissenschaft, sondern lädt zum Nachdenken über das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften sowie die Modi ihrer Wissensproduktion und -vermittlung jenseits des gelehrten Diskurses ein. [1] Vgl. z. B. Corinna Kirschstein, Theater - Wissen - Historiographie. Studien zu den Anfängen theaterwissenschaftlicher Forsch- 146 Rezensionen ung in Leipzig, Leipzig 2009; Nora Probst, Objekte, die die Welt bedeuten. Carl Niessen und der Denkraum der Theaterwissenschaft, Stuttgart 2023. [2] Vgl. Viktoria Tkaczyk, „ Performativität und Wissen(schaft)sgeschichte “ , in: Klaus W. Hempfer/ Jörg Volbers (Hg.), Theorien des Performativen. Sprache - Wissen - Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2011, S. 115 - 139. Berlin T HEKLA S OPHIE N EU ß 147 Rezensionen